Zeichen/Momente. Vergegenwärtigungen in Kunst und Kulturanalyse 9783839442043

Artistic, cultural and social practices are spaces where complex structure of meaning and relationships are negotiated -

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Zeichen/Momente. Vergegenwärtigungen in Kunst und Kulturanalyse
 9783839442043

Table of contents :
Inhalt
Zeichen/Momente. Vergegenwärtigungen in Kunst und Kulturanalyse
I Kunstgeschichten – „Blick-Wechsel“, Bildwanderungen, Diskurskritik
ÜBERKREUZUNGEN und ANSCHLÜSSE, oder: wie sich ein gemeinsames Projekt entwickeln konnte
Bilder von Khoikhoi (und anderen) am Kap der Guten Hoffnung – visuelle Migrationen und transkulturelle Bilderrepertoires
Feministische Konzepte für die Geschichten der Kunst. Raffael nach der Shoah im virtuellen feministischen Museum – eine Fallstudie
II. Studien visueller Kultur – transdisziplinäre Erweiterungen
Für den Moment
Eine Art zuzuhören. Notizen aus einer interdisziplinären Praxis
Wohnen. Domestisches, Wohnwissen und Schau_Platz: Kulturanalysen zum Gesellschaftlichen des Ein_Richtens: Theoretische Prolegomena für eine kunstwissenschaftliche Wohnforschung
Schneewittchen, Kulturindustrie und die Stadt als Unternehmen und „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“
III. „Zu-sehen- Geben“ – institutionskritische Figuren in Analyse und Praxis
Kulturanalyse in Bewegung: Auf den Spuren von Lara Almarcegui
Feministische Perspektiven des Kuratorischen/ auf das Kuratieren
Die Bildung der Anderen durch Kunst. Eine postkoloniale Geschichte des Art-Education- Dispositivs im Spannungsfeld von Disziplinierung und gegenhegemonialer Intervention
Das „Unabgegoltene“ in den Blick nehmen: Politiken und Praktiken von Performance-Kunst in der Gegenwart
IV. „Politics of Transfer and Translation“ – Umfunktionierungen, Zeichenpraktiken, Sinnfragen
Chora/Choros. Körperkonstruktionen in der Musik – Roland Barthes’ „Rasch“
Wirklich nur eine Kleinigkeit. Über Abhub und weggeworfene Signifikate
Prothesen umfunktionieren. Roland Barthes liest Bertolt Brecht
Kurzbiografien

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Sigrid Adorf, Kathrin Heinz (Hg.) Zeichen/Momente. Vergegenwärtigungen in Kunst und Kulturanalyse

Studien zur visuellen Kultur | Band 24

Editorial Orte und Weisen des Zu-Sehen-Gebens, Inszenierungen von (Un-)Sichtbarem und die Machteffekte sowohl bewusster wie unbewusster visueller Strukturen – auch im historischen Kontext – bilden das Forschungsfeld der „visuellen Kultur“. Es geht damit auch um die Erzeugung, Re- und Umformulierung von Bedeutungen in den Repräsentationen von Geschlecht, von sozialen und ethnischen Differenzen. Studien zu visuellen Kulturen nehmen Fragestellungen von Cultural, Gender, Queer und Postcolonial Studies auf, und sie führen Diskurse fort, die etwa von avancierten theoretischen Positionen der (feministischen) Kunstwissenschaft, der Wahrnehmungsund Medientheorie angeregt wurden. Aus deren Perspektive ist „das Bild“ nur ein Element im Gefüge visueller Kulturen, das sich über Verhältnisse räumlicher und visueller Ordnungen, in den besonderen Verknüpfungen von Wort und Bild und in den je spezifischen ästhetischen und materialen Eigenschaften ihrer Medien herstellt. Dieses Gefüge wird als ein Feld gesehen, in das Ordnungen von Gemeinschaften mit ihren jeweiligen Ein- und Ausschlüssen eingeschrieben sind, und innerhalb dessen sich kulturelle Deutungsmacht als Ausdifferenzierung zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Globalisierung, Nationalisierung und Regionalisierung bestimmen lässt. Die Reihe Studien zur visuellen Kultur bietet wissenschaftlichen Untersuchungen Raum, die sich kritisch und transdisziplinär mit historischen und aktuellen Phänomenen visueller Kulturen auseinandersetzen. Gegenstandsfelder sind High und Low, die Künste und die Populärkultur, traditionelle und neue Medien in ihren Wechselwirkungen – ebenso wie Analysen von Strategien der Sichtbarmachung und Studien zur Visualität. Publiziert werden herausragende wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten, Monografien und auch Sammelbände. Die Reihe richtet sich an Kunst-, Medien-, Kulturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen sowie an Interessierte in angrenzenden Wissenschaftsdizplinen und Institutionen der Kunst- und Kulturvermittlung. Die Reihe wird herausgegeben von Sigrid Schade und Silke Wenk.

Sigrid Adorf, Kathrin Heinz (Hg.) Zeichen/Momente. Vergegenwärtigungen in Kunst und Kulturanalyse

Für Sigrid Schade

Die Veröffentlichung des Bandes wurde vom Institute for Cultural Studies in the Arts, Zürcher Hochschule der Künste, und dem Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender an der Universität Bremen ermöglicht.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept, Gestaltung & Satz: Christian Heinz Lektorat & Korrektorat: Ulf Heidel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4204-9 PDF-ISBN 978-3-8394-4204-3 https://doi.org/10.14361/9783839442043 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Sigrid Adorf, Kathrin Heinz

Zeichen/Momente. Vergegenwärtigungen in Kunst und Kulturanalyse

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I Kunstgeschichten – „Blick-Wechsel“, Bildwanderungen, Diskurskritik Silke Wenk

33

Kerstin Brandes

47

Griselda Pollock

71

ÜBERKREUZUNGEN und ANSCHLÜSSE, oder: wie sich ein gemeinsames Projekt entwickeln konnte Bilder von Khoikhoi (und anderen) am Kap der Guten Hoffnung – visuelle Migrationen und transkulturelle Bilderrepertoires Feministische Konzepte für die Geschichten der Kunst. Raffael nach der Shoah im virtuellen feministischen Museum – eine Fallstudie

II Studien visueller Kultur – transdisziplinäre Erweiterungen Mieke Bal

95

Vera Frenkel

113

Irene Nierhaus

131

Kornelia Imesch

149

Für den Moment Eine Art zuzuhören. Notizen aus einer interdisziplinären Praxis

Wohnen. Domestisches, Wohnwissen und Schau_Platz: Kulturanalysen zum Gesellschaftlichen des Ein_Richtens: Theoretische Prolegomena für eine kunstwissenschaftliche Wohnforschung Schneewittchen, Kulturindustrie und die Stadt als Unternehmen und „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“

III „Zu-sehen-Geben“ – institutionskritische Figuren in Analyse und Praxis Philip Ursprung

167

Dorothee Richter

183

Carmen Mörsch

203

Sabine Gebhardt Fink

217

Kulturanalyse in Bewegung: Auf den Spuren von Lara Almarcegui Feministische Perspektiven des Kuratorischen/  auf das Kuratieren Die Bildung der Anderen durch Kunst. Eine postkoloniale Geschichte des Art-EducationDispositivs im Spannungsfeld von Disziplinierung und gegenhegemonialer Intervention Das „Unabgegoltene“ in den Blick nehmen: Politiken und Praktiken von Performance-Kunst in der Gegenwart

IV „Politics of Transfer and Translation“ – Umfunktionierungen, Zeichenpraktiken, Sinnfragen Steffen A. Schmidt

233

Insa Härtel

247

Karin Harrasser

263

Kurzbiografien

279

Chora/Choros. Körperkonstruktionen in der Musik – Roland Barthes’ „Rasch“

Wirklich nur eine Kleinigkeit. Über Abhub und weggeworfene Signifikate Prothesen umfunktionieren. Roland Barthes liest Bertolt Brecht

Victor Burgin, aus UK 76, 1976

Sigrid Adorf, Kathrin Heinz

Zeichen/Momente.

Vergegenwärtigungen in Kunst und Kulturanalyse Für Sigrid, die uns gelehrt hat, Zeichen und Zeiten in ihrer Verschränkung zu erkennen.

„TODAY IS THE TOMORROW YOU WERE PROMISED YESTERDAY“ (Victor Burgin, UK 76) Der Satz, den Victor Burgin 1976 in Großbuchstaben als abschließende Zeile unter einen Text in ein Bild, genauer eine Fotografie, seiner Serie UK 76 setzte, klingt nach einer gewitzten Alltagsweisheit, einer Sentenz, wie sie einem Popsong entnommen sein könnte. Die unumstößliche Logik der zeitorientierenden Begriffe (heute, morgen, gestern) vermittelt einen zeitphilosophischen Impuls, der dazu auffordert, die politische Dimension zu erkennen: die Notwendigkeit, das Heute in seiner Verschränkung mit dem Gestern als Möglichkeit für das Morgen zu begreifen. Auf eine kürzere Formel ließe sich das, was jede Form kritischer Zeitgenossenschaft – und auch das intergenerationale Anliegen unseres Buches – motiviert, wohl nicht bringen. Als wir 2014 das Symposium Zeichen/Momente anlässlich von Sigrid Schades 60. Geburtstag und dem zehnjährigen Bestehen des Institute for Cultural Studies in the Arts an der Zürcher Hochschule der Künste veranstalteten, fragten wir nach den verbindenden Motiven in ihren wissenschaftlichen Fragestellungen und danach, wodurch sich ihr kulturwissenschaftlicher Blick auf Kunst und ihre Geschichte(n) sowie auf das damit verbundene Fach, die Kunstgeschichte, auszeichnet. Sigrid Schades entschiedener Einsatz für ein zeitgemäßes und vor allem zukunftsfähiges Wissenschaftsverständnis charakterisierte insbesondere ihre Tätigkeiten in

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Sigrid Adorf, Kathrin Heinz

Bremen und Zürich. An der Universität Bremen war sie von 1994 bis 2002 Professorin für Kunstwissenschaft und Ästhetische Theorie im Fachbereich Kulturwissenschaften, von 2002 bis 2019 war sie Professorin und Leiterin des Institute for Cultural Studies in the Arts an der Zürcher Hochschule der Künste (ehemals Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich). Ihr kritisches Denken und ihr Einfordern einer grundsätzlich reflexiven Haltung auch im Hinblick auf die eigene Situierung als Wissenschaftler_innen war für alle, die bei ihr studierten, promovierten und mit ihr zusammenarbeiteten, erkenntnisleitend und höchst anregend. Gemeinsam, kooperierend und kollaborierend mit anderen Wissenschaftler_innen, Institutionen und Vermittlungsinstanzen in Kunst und Kultur hat sie Zeichen gesetzt und wichtige Perspektiven über die Grenzen der Disziplin hinaus entwickelt. Der weitreichende und nachhaltig prägende Blick auf Wissensproduktionen – mit dem sich nicht nur die Analyse von Diskurspolitiken und narrativen Mustern des 1 Faches, sondern mithin die Initiierung von „Blick-Wechseln“ verknüpften, die eine repräsentationskritische und transdisziplinär verfasste Neuausrichtung der kunstwissenschaftlichen Forschung als Studien zur visuellen Kultur eröffnete – spiegelt sich auch in den Beiträgen zum Symposium, die in diesem Band publiziert sind. Das Vortragsprogramm damals wurde von einer Ausstellung mit Videoarbeiten von Vera Frenkel und Mieke Bal im Museum Bärengasse in Zürich begleitet. Sigrid Schades Forschungen zeichnen sich durch ihre intensive Auseinandersetzung mit Arbeiten zeitgenössischer Medien- und Konzeptkünstlerinnen aus und sind nicht selten auch von einem engen Austausch mit den Künstlerinnen geprägt. Insbesondere mit Vera Frenkel verbindet sie seit der documenta IX, auf der Frenkels Arbeit … from the Transit Bar gezeigt wurde, ein intensiver Dialog. So fand während des Symposiums die Buchvernissage der von Sigrid Schade herausgegebenen ersten großen zweisprachigen Monografie Vera Frenkel (2013) mit einer Einführung in das Werk durch Doina Popescu, Gründungsdirektorin und Kuratorin am Ryerson Image Center Toronto, statt. ‚Zeichen‘ und ‚Zeit‘ spielen in Sigrid Schades Fachinteresse eine wesentliche Rolle, wobei es nicht um die Zeit oder um das Zeichen, nicht einmal um die Zeichen (pl.) in ihrer Abstraktion geht, sondern um deren Verknüpfungen, um Fragen nach dem Konkreten – Fragen nach dem Gebrauch von Zeichen, nach ‚Zeitzeichen‘, nach Anzeichen oder Indizien für

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Lindner et al. 1989, siehe auch Wenk in diesem Band.

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Zeichen/Momente

bestimmte Auffassungen von Kultur, Geschlecht, Körper usw.; Fragen nach dem Transport von bestimmten Bedeutungen durch die Zeit in Form konstanter Zeichenverwendungen wie aber auch Fragen nach dem möglichen Bruch mit diesen Formen der Fortschreibung, wie ihn Künstler_innen der Avantgarde in ihrer Kritik am Bilderkanon generell und feministische Künstler_innen im Besonderen gesucht hatten. Ebenso rückten mit dem machtkritisch motivierten Interesse an konkreten, gesellschaftlich relevanten Zeichenpraktiken auch die Medien einer jeweiligen Zeit, ihre technische und kulturelle Spezifität, in den Blick. Wie Sigrid Schade in ihrem Beitrag zu Is it now? – Gegenwart in den Künsten (2007) hervorhebt, ist es unmöglich, Zeit außerhalb von Zeitformen/-bildern zu reflektieren: „Wenn wir über Gegenwart, Gegenwärtigkeit und Zeitgenossenschaft sprechen, sprechen wir über Zeit. Über Zeit zu sprechen, ist nicht anders möglich, als in der Zeit zu sprechen. Ein Satz wie ‚Die Zeichen der Zeit sind nur lesbar über die Zeit der Zeichen‘ macht uns auf das Dilemma aufmerksam, das die menschliche Kommunikation und Wahrnehmung prägt: Sie basieren auf Zeichenketten, die selbst der Zeitlichkeit und dem Entzug von Zeit unterliegen. […] Wir können nicht anders, als in Metaphern zu sprechen: von Zeitfluss, Zeitschnitt, Zeitsprung, Zeitfalle etc. Wenn wir über Zeit sprechen, sprechen wir in Zeitbildern. Die Gegenwart, das Jetzt, scheint sich der Bebilderung zu entziehen.“ (Schade 2007, S. 26) „TODAY IS THE TOMORROW YOU WERE PROMISED YESTERDAY“ – diese Formulierung lässt die Unverfügbarkeit von Zeit denken, erkennen, dass Zeit nur aus der Perspektive des ‚es war‘ oder ‚es soll werden‘, nicht aber als ‚es ist‘ erzählbar ist: Die Gegenwart entzieht sich, die Vergangenheit ist nicht mehr und die Zukunft ist noch nicht. Dass diese abstrakt anmutende Feststellung konkrete, politische Konsequenzen hat, auch oder sogar gerade für das Selbstverständnis von Kunst und die wissenschaftliche Beschäftigung damit, hat Sigrid Schade früh erkannt. Es ging (und geht) um nichts Geringeres als ein selbstkritisches Gegenwartsverständnis, das die grundsätzliche Haltlosigkeit zwischen Vergangenem und Zukünftigem als kritischen Ausgangspunkt annimmt und eher Fragen daran als Antworten darauf sucht. Kulturelle Tradierungen werden damit ihrer vermeintlichen Selbstverständlichkeit entbunden und als gegenwärtige Praktiken der Fort-, Zu- und Umschreibung erkenn- und verhandelbar, auch wenn die Beharrlichkeit bestimmter Formen und (Be-)Deutungen nicht zu leugnen ist und zahlreiche Forschungsanlässe bietet. Wie Sigrid Schade in Inszenierte Präsenz. Der Riß im Zeitkontinuum (Schade 1990)

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Sigrid Adorf, Kathrin Heinz

mit Bezug zu den impressionistischen Bilderfahrungen (in Produktion und Rezeption) erklärt, geht es um das Anerkennen einer konstitutiven Nachträglichkeit: „Subjektivität wurde von ihnen [den Impressionisten] bereits als den Wahrnehmungsakten nachträgliches Bewußtsein gesehen. Die Radikalität der in diesen Konzepten angelegten Reflexion über die Funktion der Wahrnehmung für die Konstitution von Subjektivität, die als solche in den Bildern Monets aufscheint, stößt bis heute auf massive Widerstände der Kunstkritik und -theorie“ (ebd., S. 224). Mehrfach hat sie auf die Kongruenzen zwischen den Selbst- und Wahrnehmungsexperimenten der historischen Avantgarde und den Konzepten der Freud'schen und Lacan'schen Psychoanalyse hingewiesen, hat die Bedeutung von Aby Warburgs Konzept vom Nachleben der Bilder für eine kulturwissenschaftliche Bildtheorie im Kontext von Konzepten zum sozialen Gedächtnis herausgestellt und Roland Barthesʼ semiologische Entmythologisierung des Alltags auf die Naturalisierungseffekte in Kunstkritik und -theorie bezogen. Die analytische Brisanz einer Auseinandersetzung mit den Verbindungen von Zeichen und Zeiten für die historische Forschung wurde in den 1980er Jahren in der Kunstgeschichte vor allem von der damals noch jungen Generation feministischer Kunsthistoriker_innen erkannt, die anfingen, kritische Fragen an das Selbstverständnis des Fachs zu stellen. Gegen die Vorstellung, dass mit der Wiederentdeckung von Künstlerinnen, deren Viten dem Kanon der Kunstgeschichte eingeschrieben werden konnten, die feministische Arbeit getan sei, wurden die Erzählmuster der Viten selbst, die Kategorien und Konzepte der Geschichtsschreibung zum 2 Gegenstand der Analyse: Künstler(innen)mythen, Konzepte von Autorschaft, Abstraktion, Autonomie, Avantgarde etc. Kritische Revisionen der eigenen Vorannahmen wurden als unabdingbar erkannt und das Feld der feministischen Kunstgeschichte wurde durch fachliche Bezüge zu Debatten und Konzepten der Visual Cultural Studies, der Queer und Postcolonial Studies entscheidend verändert und erweitert. Die Wende-Redefiguren, die das Mainstream-Feld der Disziplin mit dem ‚Pictorial Turn‘ erzeugte und die sich eher durch Leugnung, Verdrängung und verdeckte Aneignungen jener kritischen Ansätze auszeichneten, hat Sigrid Schade treffend als „Pirouetten der Kunstgeschichte“ bezeichnet (Schade 2001). 2 Vgl. hierzu auch Sigrid Schades luzide Kritik „Was im Verborgenen blieb. Zur Ausstellung ‚Das Verborgene Museum. Dokumentation der Kunst von Frauen in Berliner öffentlichen Sammlungen‘“ (1988).

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Zeichen/Momente

Kunstgeschichten – „Blick-Wechsel“, Bildwanderungen, Diskurskritik

Wie Silke Wenk in ihrem Rückblick auf die gemeinsamen wissenschaftlichen Stationen in diesem Band unterstreicht, war Barthes’ kulturanalytische Erweiterung des Zeichenbegriffs und dessen Übertragbarkeit auf das Feld des Visuellen – zusammen mit „anderen ‚Klassikern‘: de Saussure, Freud, Lacan und nicht zuletzt feministischen Filmtheoretikerinnen“ – einer der methodischen Eckpfeiler ihrer kritischen Befragung der Disziplin. Die mit der sogenannten linguistischen Wende verbundene repräsentationskritische Einsicht, dass das Bild in jeglicher Form als Zeichenhaftes zu betrachten ist, stellte einen wesentlichen Einspruch gegen verschiedenste Vorstellungen von Unmittelbarkeit und Präsenz im Umgang mit Bildern dar. Gemeinsam arbeiteten Schade und Wenk die Ein- und Ausschlussmechanismen der zugrunde liegenden Erzählungen in der Kunstgeschichte heraus („Inszenierungen des Sehens. Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz“ [1995], überarbeitet: „Strategien des ‚Zu-Sehen-Gebens‘: Geschlechterpositionen in Kunst und Kunstgeschichte“ [2005]), zu denen nicht nur die Künstlerviten als Matrix von Genialitäts- und Originalitätsvorstellungen zählen, sondern eben auch die Erzählungen vom zeitlosen Bild, vor dem sich der Betrachter (sic!) sammele und seiner selbst gewahr werde. Sigrid Schade problematisierte die phantasmatische Seite der Idealisierung von Präsenz in der Kunstbetrachtung als eine Form der Verkennung, wenn nicht Verleugnung künstlerischer Reflexionen zur Nachträglichkeit von Bewusstsein und Wahrnehmung, die erkennen ließen, „was es mit der Konstitution der Zeichen auf sich hat: die Uneinholbarkeit dessen, was sie zu bezeichnen wünschen. Die Differenz der Zeichen gibt sich als Feld zu erkennen, auf dem sich die Organisation der Wahrnehmung vollzieht, das Begehren des Subjekts ‚für wahr zu nehmen‘.“ (Schade 1989, S. 371) Zeichen/Momente – nicht Präsenz, sondern Unverfügbarkeit von Gegenwart, Vergegenwärtigungen. Wo also befinden wir uns heute? In Burgins Bild sehen wir uns einer Kreuzung leerer Straßen in einer typischen, eintönigen englischen Vorortsiedlung der 1970er Jahre gegenüber; der Himmel ist wolkenverhangen und der Blick nach oben von Hochspannungsleitungen durchkreuzt, die wie Fluchtlinien in die vermeintliche Bildtiefe führen. Ein Hund wechselt scheinbar herrenlos die Straßenseite, eine Frau mit Kinderwagen geht vorüber und nur ihr Kleinkind wirft einen Blick zurück, scheint den Fotografen, den Blick der Kamera gesehen zu haben, scheint uns, die Betrachtenden anzublicken. Das alles kontrastiert mit der im Text skizzier-

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Sigrid Adorf, Kathrin Heinz

ten Szenerie: der Stimmung eines frühen Morgens am kalifornischen Pazifik und einem Blick aufs offene Meer – „Total immersion. Ecstasy“. Wir treten in Relation zu dem, was uns das Gezeigte zu sehen gibt. Es ist eine Geste, die darauf zielt, dass wir uns angesprochen fühlen, affektiv – durch Bild und Text. Beides scheint uns mehrfach vertraut durch eine nicht näher definierbare Assoziationskette von Erfahrenem; wie ein Palmenstrand auf dem Plakat eines Reiseanbieters in einer Unterführung auf dem Weg zur Arbeit in einer großen Stadt erinnert der Kontrast an Sehnsuchtsmomente (vorausgesetzt, es handelt sich um eine nordeuropäische oder vergleichbare Betrachtungsposition). Was in Burgins Foto-Text-Arbeit aber fehlt, ist die Auflösung in Form einer klaren Botschaft. Das literarisch angesprochene koloniale Bild vom erhabenen Gefühl des spanischen Eroberers beim Anblick des Pazifiks zu seinen Füßen gepaart mit dem konkreten Ausblick auf eine nicht näher bestimmbare englische Vorortszenerie wird durch den aphoristischen Subtext, die buchstäblich unter dem Text hervorgehobene Aussage, zu einem Denkbild, das an René Magrittes Pfeifen-Lektion erinnert. Im Anschluss an Michel Foucault erklärt Sigrid Schade in „Die Kunst des Kommentars“ (1989) die epistemologische Provokation, die von einer solchen Bild-Text-Kombination ausgeht: „Das Bild läßt dem Betrachter gleichzeitig zwei Informationen zukommen; erstens über das figurative Element die Aussage ‚Dies ist eine Pfeife‘ und zweitens über das diskursive Element ‚Dies ist keine Pfeife‘. Beide Aussagen sind gleichzeitig richtig und falsch. Das Paradox, das den Betrachter in unentscheidbare Konflikte stürzt, funktioniert über den gegenseitigen immanenten Verweis auf die Medialität der Aussagen.“ (Schade 1989, S. 373) Bild und Text, so plausibel ihre Unterscheidbarkeit wirkt, konvergieren in ihrer Zeichenhaftigkeit, das heißt ihrer gleichzeitigen Konventionalität wie Arbitrarität, die aus ihnen kulturell lesbare Einheiten machen – wobei Lesbarkeit, wie die Pfeifen-Lektion lehrt, nicht mit einer abschließenden Verstehbarkeit oder gar Eindeutigkeit verwechselt werden darf (vgl. Schade 1990, S. 214). Vielmehr geht es um das stets offenbleibende Wechselspiel zwischen dem, was gezeigt wird, und dem, was darin wahrgenommen, was gesehen und interpretiert wird. Die hervorgehobene Aussage bei Burgin schlägt eine melancholische, dem Zweifel und der Kritik zugewandte Volte: Wenn heute die Zukunft von gestern ist, was lässt sich dann für morgen hoffen, wenn morgen schon die Zukunft von heute gewesen sein wird? In ihrem Text „Vom Wunsch der Kunstgeschichte, Leitwissenschaft zu sein. Pirouetten im sogenannten ‚pictorial turn‘“

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Zeichen/Momente

(2001) zeichnet Sigrid Schade die identitätsstiftende Dynamik von Wunsch und Versprechen für den kunsthistorischen Fachdiskurs nach. Hier wie in weiteren kritischen Kommentaren zur Einführung eines scheinbar neuen Paradigmas der Bildwissenschaften im deutschsprachigen Raum (z.B. Schade 2008) macht sie deutlich, dass sich die Versuche zur Restitution einer kunstgeschichtlichen Fachautorität für das Visuelle, die sich über die Rede von einer Dringlichkeit der Fragen angesichts aktueller Bildkulturen legitimieren, in Widersprüche verstricken. Besonders auffällig ist deren Ignoranz gegenüber den Erkenntnissen der Cultural und Gender Studies und der kulturwissenschaftlichen Medienwissenschaften; auch bleibt die für konstitutiv notwendig erklärte Beschäftigung mit aktuellen Bildkulturen in ihrem gesellschaftlichen Wandel in bemerkenswertem Widerspruch zur bildwissenschaftlichen Emphase für das ‚Zeitlose‘: für die ontologische Frage „Was ist ein Bild?“, gepaart mit der ahistorischen Rede von Körper und Mensch. Aus der Perspektive der Kritik aber unterliegen bildliche Zeitformeln einem Wandel, den es näher zu betrachten lohnt, um die Situiertheit von Wissen denken und anerkennen zu können. So weist etwa Kerstin Brandes in ihrer Analyse von Zeichnungen eines unbekannten niederländischen Künstlers, die als eines der frühesten visuellen Zeugnisse der indigenen Kultur der Khoikhoi am Kap der Guten Hoffnung um 1700 gelten, nach, dass das Wechselspiel zwischen Gezeigtem und Gesehenem zwar offen, aber nicht beliebig, sondern historisch spezifisch ist. Von vielen wird mit Blick auf weitere Reiseberichte und Darstellungen aus den Kolonien jener Zeit die Qualität dieser als realistisch betrachteten Zeichnungen hervorgehoben. Im Vergleich mit anderen Grafiken ihrer Zeit kann Brandes die zugrunde liegenden europäischen Bildkonventionen nachweisen. Die vermeintlich dokumentarische Qualität der Zeichnungen, d.h. die Idee, es handele sich um Abbildungen in einem ethnologischen Sinn, ist demzufolge eine wunschgemäße indexikalische Zuschreibung. Sie zeigt, wie durch Kopie und Übertragungen aus anderen Kontexten eine Ikonografie der als „Hottentotten“ verunglimpften Khoikhoi entstand, die durch Tropen und Stereotype der kolonialen Machtstrukturen bestimmt ist und sich auch in diesen Zeichnungen wiederfindet. Brandesʼ Beitrag zu den komplexen Bilderwanderungen und transkulturellen visuellen Übersetzungswegen verdeutlicht, dass kunsthistorisch etablierte Verfahren, wie das vergleichende Sehen, nicht als Methoden an sich interessant sind, sondern erst

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Sigrid Adorf, Kathrin Heinz

durch Fragen interessant werden, die sich damit aus der Perspektive kritischer Kulturanalyse verbinden lassen. Der transdisziplinäre Impuls der Kulturwissenschaften ist darauf zurückzuführen, dass hier nicht ein erklärter Gegenstandsbezug (Kunst, Literatur, Religion, Sprache etc.) zur Grenzeinhaltung diszipliniert, sondern im Gegenteil der Blick auf das diskursive Feld von Kulturen und ihre Verklammerung von Körpern, Technologien, Symbolpolitiken, normierenden Praktiken etc. dazu anregt, disziplinäre Grenzen zu befragen und zu überschreiten. Das macht, wie Griselda Pollock im Anschluss an Mieke Bal (Travelling Concepts) betont, notwendig, Anleihen bei verschiedenen kritischen Theorietraditionen, ihren Begriffen, Konzepten und Methoden zu nehmen und neue Kombinationen zu suchen. So zeichnet ihr Beitrag hier ihre eigene Neubetrachtung der Sixtinischen Madonna von Raffael nach, die sie in ihrem Virtual Feminist Museum ausgestellt sieht. Pollock erklärt im Rückblick auf die Etappen ihrer Arbeit, dass es ihr um die Geschichten von Kunst gehe, die die Idee einer Kunstgeschichte grundsätzlich anzweifelbar machen. Das ikonische Bild Raffaels steht so bei ihr für ein Bild, das verschiedene Zeiten und Deutungen durchlaufen hat, von denen weder die Betrachtung noch das Bild selbst unberührt blieben. So gesteht Pollock zu Beginn, dass sie die Bewunderung für das berühmte Gemälde nie ganz verstanden habe und dass sich ihr Blick darauf erst durch die Begegnung änderte, von der Wassili Grossmans Erzählungen zeugen, der das Bild 1955 in Moskau ausgestellt sah. Grossman erkennt in dem (An-)Blick der Mutter, die dem sicheren Tod ihres Kindes entgegensieht, nicht das theologische Zeugnis, sondern, wie Pollock hervorhebt, ein politisches, das die grundsätzliche Verwundbarkeit des Menschlichen erkennen lässt – und zwar, wie sie betont, gerade nicht als eine universelle, überzeitliche Formulierung, sondern eine im Kontext der eigenen Faschismuserfahrungen konkret an geschichtliche Zeit gebundene Frage, was der Unsterblichkeit dieses Pathosbildes eine andere Wendung verleiht. Mit Bracha L. Ettinger formuliert sie ein feministisches Konzept von mütterlichem Mitgefühl, das sich als ein transhistorisches politisches Konzept erweist. Politics of Transfer and Translation, Politics of Display, Politics of Site – als Sigrid Schade 2003 das Gründungskonzept für das Institute for Cultural Studies in the Arts an der Zürcher Hochschule der Künste (damals noch Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich) schrieb, definierte sie die drei genannten Schwerpunkte für das transdisziplinäre Selbstverständnis

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Zeichen/Momente

der kunst- und kulturwissenschaftlichen Forschung am Institut. Im Kontext der künstlerischen und gestalterischen Produktionen an der Hochschule – ob aus dem Feld der Kunst, der Musik, des Designs, des Theaters oder des Films – etablierte sich damit am Institut ein Forschungsinteresse, das sich an der Erweiterung des Gegenstandsfeldes durch einen Zeichenbegriff orientiert, der die Grenzen zwischen high & low, Visuellem & anderen Kommunikationsformen etc. in Hinsicht auf ihre Ein- und Ausschlussmechanismen befragbar macht. Was die transdisziplinären Erweiterungen zum Feld der Studien zur visuellen Kultur auszeichnet, sind Konzepte der Kulturanalyse, unter anderem Reflexionen des alltagskulturellen Raums, Übertragungen zwischen verschiedenen Wissenskulturen (etwa zwischen Kunst und Wissenschaft), Bezüge zwischen Theorie und Praxis in der ästhetisch-kulturanalytischen Forschung, kritische Befragungen kultureller Konstruktionen und ihrer Gebrauchsweisen, Infragestellungen von Kultur als Entität und Konzepte zu wandernden Bildern, Begriffen, Dingen etc. (Schade/Wenk 2011).

Studien visueller Kultur – transdisziplinäre Erweiterungen

In ihrem Beitrag „Für den Moment“ befasst sich Mieke Bal mit dem Konzept von Zeitgenossenschaft als dem, was uns angeht, und ihrem daraus resultierenden Interesse für die Denkfigur des Anachronismus. Wie sie mit Blick auf den ihr gemachten Vorwurf, alte Kunst anachronistisch zu interpretieren, herleitet, geht es ihr um eine Form der Vergegenwärtigung, das heißt um die Möglichkeit einer Begegnung mit einem Werk, die immer eine in der Gegenwart stattfindende ist. Im Unterschied zu historischer Werktreue einerseits und ahistorischer Ereignisphilosophie ästhetischer Präsenz andererseits definiert sie Kunst dabei als eine Handlung im „zeitgenössischen gesellschaftlich-kulturellen Feld“, durch die Vergangenheit weder betont noch geleugnet, sondern in Spannung mit der Gegenwart gebracht werde. Am Beispiel ihrer eigenen Video- und Film-Arbeit Madame B aus dem Jahr 2014, die sie gemeinsam mit der Filmemacherin Michelle Gamaker zu Flauberts Madame Bovary produzierte, zeichnet sie die Verwicklungen zwischen der historischen Vorlage und ihrer Befragung in der Gegenwart nach, durch die die Arbeit erneut zeitgenössisch werde – was keine einfache Form der Adaption und Aktualisierung sei, sondern eine eingehende Auseinandersetzung mit der Arbeit, die diese erneut zu einer Unruhestifterin machen könne. Fragen sollten dabei aufgeworfen statt

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Sigrid Adorf, Kathrin Heinz

beantwortet werden – eine erkenntnistheoretische Forderung, die ihre doppelte Praxis, kulturtheoretisch und künstlerisch zu arbeiten, leitet und ihr Interesse an kulturanalytischen Formen der künstlerischen Forschung bestimmt. Affekte als kulturelle Kraft betrachtend, setzt sie dabei auf die immersive Ästhetik von Videoinstallationen, die mit ihrer räumlichen wie zeitlichen, zugleich aber flexiblen Einbindung der Betrachtenden eine besondere Möglichkeitsform bieten, einen Moment in der Gegenwart zu erleben. Wichtig ist ihr, dass es um eine Form der Beziehungsarbeit, das heißt um die Herstellung einer Relation zwischen der überlieferten kulturellen Äußerung und dem erlebenden Subjekt gehe. Auch Vera Frenkel reflektiert ein Konzept von Intermedialität, das ein ethisches Prinzip trägt und von einer wesentlichen Verknüpfung zwischen der Ebene persönlicher Erfahrungen und den Möglichkeiten zur Übertragung und Sprachwerdung in der Medienpraxis ausgeht. Kommunikation lasse sich darin als Herstellung einer Mit-Teilbarkeit durch Mittelbarkeit (Medialität) erkennen. So geht es ihr um Aspekte des Erzählens und Bezeugens von etwas, das darin nicht zum Abschluss kommt und – ähnlich wie auch Pollock und Bal es betonen – eher fragend denn antwortend wirksam wird. Frenkel eröffnet ihren Text mit der Nacherzählung einer unverhofften Begegnung in der Cafeteria ihrer Hochschule: Ein ihr unbekannter Mann spricht sie an und warnt sie gleichsam vor der Vergeblichkeit ihrer Bemühungen an einer Institution, die ihr Anliegen eines „interdisziplinären Ateliers“ nicht verstehe. Die Irritation, die von dieser Begegnung ausging und ihr Anlass für ihre weitere Reflexion bot, erinnert nicht von ungefähr an die von Bal und Pollock theoretisierte ethische Qualität von Begegnungen mit Kunstwerken. Alle sprechen sie vom Angesprochen-Werden, vom Sich-Angesprochen und Bewegt-Fühlen, vom In-Bewegung-versetzt-Werden in einem umfassenderen, gesellschaftliche Bedingungen einbeziehenden Sinne, der sich von rein ästhetischen Konzepten – von stiller Einfühlung bis zur Überwältigung – deutlich unterscheidet. Rückblickend fragt sich Frenkel, welche Form der Desillusionierung sie aus der Hochschule herausgetrieben hatte, obgleich ihr die Arbeit mit Studierenden als eine Form der intergenerationalen Weitergabe so wichtig war. Sie macht es an dem damaligen Diskurs zu Multi-, Inter- oder Transmedialität und den grundverschiedenen Haltungen fest, die damit verbunden waren oder sind. Denn im Unterschied zu einem additiven Prinzip geht es ihr gerade um die Lücken und Zwischenräume, um das Unabschließbare und das Nichtverstehen. Das Fragmentarische interdis-

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Zeichen/Momente

ziplinärer Kunstpraxis verbindet Frenkel mit dem Fragmentarischen der Zeugenschaft und betont deren kulturethische Bedeutung für eine Grammatik des Disparaten und Hybriden, die sich gegen die Gemeinplätze der Gewissheiten und der Angst vor Unbestimmtheit positioniert. Irene Nierhaus stellt in ihrem Beitrag die Bedeutung kunst- und kulturwissenschaftlicher Forschung zum Wohnen heraus. Theoretische wie empirische Befragungen von Wohnformen, d.h. von vermeintlich rein privaten Raumnutzungspraktiken, fristen ganz zu Unrecht, wie sie erklärt, ein Schattendasein im Feld der Raum- und Architekturforschung. Aus der Perspektive der Studien visueller Kultur und in der Tradition der Cultural Studies ist das Politische des Wohnens ein geradezu paradigmatischer Forschungsanlass, dem Nierhaus mit eigens dafür geschärften konzeptuellen Begriffen – dem „Domestischen“, dem „Wohnwissen“, dem „Schau_ Platz“ und dem „Ein_Richten“ – nachgeht. Als Kreuzungspunkt zwischen gesellschaftlichen Normen und individuellen Vorlieben stellen Gewohnheiten einen Indikator dar, den es zu befragen lohnt. Dazu zeigt Nierhaus auf, wie Subjekt, Wohnung und Bevölkerung gleichzeitig eingerichtet werden, und betont, wie das Wohnen durch Zeigen oder Zu-sehen-Geben hergestellt wird. Sie wendet sich einerseits gegen die Verdeckung von Machtstrukturen im vermeintlich Privaten des oikos und andererseits gegen den anti-domestischen Impuls der Kritik dieser Machtstrukturen, der sich auf das Öffentliche fokussiere und das Politische im Wohnen unsichtbar mache. Stattdessen können Forschungen zum „Wohnwissen“ – als einem zentralen Macht-Wissens-Nexus der Moderne – herausstellen, wie im Wohnen Subjektivierungsprozesse und soziale Beziehungen hergestellt und verhandelt werden. Passend und doch gleichsam diametral zur These des im Architektur- und Stadtdiskurs negierten Wohnens verhält es sich mit Celebration City, jener „Stadt als Unternehmen und ‚Gesellschaft mit beschränkter Haftung‘“ des Disney-Konzerns, mit der sich Kornelia Imesch im Rahmen ihrer Kritik an den spätkapitalistischen Auswüchsen der Kulturindustrie (Adorno/Horkheimer) beschäftigt. Das gewohnte Verhältnis von privat und öffentlich wird im Versprechen einer unbedingt bewohnbaren Stadt, die Imesch mit Foucault als kompensationsheterotopischen Entwurf problematisiert, quasi invertiert. Die Disney-Welt bleibt nicht fiktional, so argumentiert sie, sondern wird globalisiertes Simulakrum (Baudrillard). Imesch verfolgt, wie die bereits als Stadt-Raum gedachte fiktive Heterotopie der Disney-Zeichentrickfilme nach dem Modell der Weltausstellungen

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und Themeparks zu gebauten Orten wird. Celebration ist, wie Imesch zeigt, entsprechend der Konzernstruktur und -ideologie frei von politischer Auseinandersetzung, undemokratisch, segregiert und vertraglich gebunden; eine autoritäre Utopie, die „das Scheitern der Aufklärung im globalen Spätkapitalismus“ in architektonische Form überführt. Ebenso verhält es sich, wie sie argumentiert, mit der standardisierten Generic City (Rem Koolhaas), die den „anthropologische[n] Ort in einen kompensationsheterotopischen Nicht-Ort überführt“, also Geschichte, Kultur, Identität und soziale Verantwortung, die die Stadt als Ort im Gegensatz zum Nicht-Ort (Augé) ausmachen, zugunsten der kommerziellen Verwertung aufgibt.

„Zu-sehen-Geben“ – institutionskritische Figuren in Analyse und Praxis

Neben dem extensiven Wandern kulturanalytischer Konzepte durch weite Diskursfelder, die als methodische Anlage bereits eine operative, sprich handelnde epistemologische Funktion übernehmen, schaffen einige transdisziplinäre (Denk-)Figuren einen konkreten Registerwechsel vom Konzept zur Praxis vor Ort. So stellt etwa Philip Ursprung ein kulturanalytisches Konzept an den Anfang, mit dem sich soziale, ökonomische, historische und gestalterische Aspekte in ihrer komplexen Verschränkung im städtischen Raum erfahren und erforschen lassen: die „Promenadologie“ oder auch Spaziergangswissenschaft von Lucius und Annemarie Burckhardt. Damit wird ein Konzept einer analytischen Praxis vorgestellt, die wesentlich auf situativen Wahrnehmungen basiert. Ursprung knüpft hier einerseits an eigene Erfahrungen und Übungen mit Studierenden während einer Exkursion nach Athen an, auf der sich die Teilnehmenden mit der Wahrnehmbarkeit der ökonomischen Krise im städtischen Raum beschäftigt haben, sowie andererseits an die Reihe der Guides der Künstlerin Lara Almarcegui, die zu ehemaligen Industriezonen jenseits ihrer Romantisierbarkeit und anderen von Globalisierungsprozessen gezeichneten Zonen führen. Was ihn hieran interessiert, ist die Verbindung von körperlicher Erfahrbarkeit und sozio-historischer Erkennbarkeit von Räumen – in diesem Beispiel konkret die Erfahr- und Erkennbarkeit aktueller spätkapitalistischer Gegebenheiten. Figuren wie die der Promenadologen oder die der Künstlerin als ‚Stadtrandführerin‘ und Entdeckerin zeitgenössischer Latenzen basieren

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auf institutionskritischen Haltungen. Solche Figuren sind Handlungskonzepte, handelnde Konzepte, Konzeption und Realisation in einem. Dabei geht es um ein aktives Verlassen der angestammten und disziplinierenden Ordnung, sei es die des Museums oder die der Hochschule, zugunsten erkundender, offener Bewegungen und der Suche nach Austausch und kritischem Dialog. In den folgenden drei Beiträgen wird es um weitere solcher Figuren gehen: Kurator_in, Vermittler_in, Performer_in. Dorothee Richter befasst sich mit der Praxis des Kuratierens und unterscheidet zwischen dem patriarchalen Erbe des „Künstler-Kurators“ à la Harald Szeemann und feministischen Alternativen. Sie stellt ihre eigene Figur „False Hearted Fanny“ als eine von ihr bei Auftritten genutzte alternative Persona vor, mit der sie Form und Erwartungen zu brechen versuche. Explizit möchte sie an vier feministischen Forderungen an das Kuratieren von Kunst festhalten: jene nach ausgewogenen Geschlechterverhältnissen, nach Gegenentwürfen zu tradierten (patriarchalen) Modellen, nach Verstörung und nach Institutionskritik. Richter versteht Kuratieren als eine Wissensproduktion, die auf ihren Nexus von Macht und Wissen befragt werden muss. Die Schwierigkeiten im Umgang mit tradierten Strukturen reflektiert sie am Beispiel des Magazins The Exhibitionist, das entgegen seinem kritischen Selbstverständnis zum einen dafür kritisiert werden müsse, Kuratieren auf die klassische Frage des Auswählen und Ausstellens zu reduzieren, und zum anderen dafür, an einer wenn auch ungewollten Fortschreibung bürgerlicher, voyeuristischer Blickordnungen beteiligt zu sein, was die Ansammlung von Covergestaltungen auf der Homepage unschwer erkennen lasse. Symptomatisch sei dabei, dass das Cover mit dem Bild des Crystal Palace (London 1851) das Zentrum der Cover-Anordnung bilde, was als gleichzeitig offensichtlicher wie versteckter Hinweis auf die Inauguration (welt-)bürgerlicher Sehkultur und ihr Fortbestehen verstanden werden müsse. Carmen Mörsch geht mit ihrem Interesse an der Figur und sozio-edukatorischen Funktion der Kunstvermittler_in, vor allem der artist educator, ebenfalls auf die Gründungsakte (groß-)bürgerlicher Kultur in London zurück. Mit einem Vergleich zwischen der Kontroverse um Alteritätsproduktion in einer Ausstellung der Whitechapel Art Gallery von 1992 und der Gründung des Foundling Hospital im 18. Jahrhundert als Ort bürgerlicher Wohltätigkeit und Erziehung der Armen thematisiert sie die post/kolonialen Kontinuitäten aber auch das Bemühen insbesondere der Kunstvermittlung, zu intervenieren und mit der Logik der Fortschreibung

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zu brechen. Ging es im Fall der Ausstellung 1992 um die verfälschende Darstellung und Indienstnahme von Schülerinnen mit sogenanntem Migrationshintergrund, gegen die sich die Missrepräsentierten öffentlich zur Wehr setzten, so ging es im Foundling Hospital darum, die Bewohner_innen des Kinderheims durch die sie umgebende Kunst zu erziehen und im Sinne der bürgerlichen Ordnung zu ‚vollwertigen‘, sprich arbeitsfähigen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. Hegemonie wird, so stellt Mörsch fest, in beiden Fällen aufrechterhalten, aber „die Projekte der artist educators von 1992 [weisen] darauf hin, dass die Geschichte der Schnittstelle von Kunst und Bildung auch als eine der gegenhegemonialen Interventionen erzählt werden kann“. Auch Performance-Kunst eignet seit ihren Anfängen in den 1970er Jahren ein widerständiges Moment und vielfach war in der Rezeption von situativen Interventionen in bestehende Verhältnisse die Rede. Sabine Gebhardt Fink unterstreicht mit Blick auf die Geschichtsschreibung aktueller Performance-Kunst die Notwendigkeit, die Frage dieser Widerständigkeit, neu zu stellen, und zwar gerade nicht, weil es eine ungebrochene Kontinuität gäbe, sondern weil gegen die problematische Kanonbildung und die wiederholte Produktion von Ausschlüssen nach aktuellen Ansätzen in der Theoriebildung zur Performance geschaut werden müsse. So sei angesichts der zum neoliberalen Grundwert erhobenen Flexibilisierung von Körpern sowie der kommerziellen Nutzbarkeit von Ereignissen, die sich nicht rasch als Werbestrategie enttarnen lassen, eine andere Logik für widerständige Performance-Strategien zu erwarten, die die Machtfrage anders stellen müssten als noch in den 1970er Jahren. Gebhardt Fink kritisiert die Abwesenheit der Machtfrage in der aktuellen Geschichtsschreibung der Performance-Kunst, nicht nur, aber vor allem in der Schweiz. Anders als noch von Peggy Phelan formuliert, kann die Performance heute nicht durch Ereignishaftigkeit und unvermittelte Präsenz die Logik von Produktionsbedingungen und Subjektivität in Frage stellen, denn im globalen Spätkapitalismus entsprechen diese der Ereignislogik der Performance selbst. Widerständigkeit ist nurmehr durch Unterbrechung oder ein Aufbrechen des Jetzt dieser Ereignislogik möglich, die „[d]as ‚Unabgegoltene‘ in den Blick nehmen“.

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„Politics of Transfer and Translation“ – Umfunktionierungen, Zeichenpraktiken, Sinnfragen

Den letzten Teil des Buches bilden drei Beiträge, denen eine Referenz gemeinsam ist: Sie alle beziehen sich auf Texte von Roland Barthes und seine Problematisierung von Referentialitätsvorstellungen in der Zeichentheorie. Steffen A. Schmidt fragt nach dem Verhältnis von (Wahrnehmungs-)Körper und Musik(-theorie). Er nimmt Roland Barthesʼ „Rasch“ zum Anlass, um über das Verhältnis einer Repräsentationslogik in der Sprach- und Zeichentheorie zu ihrem ‚Gegenüber‘ zu reflektieren, zu dem, was sich als Vor-Sprachliches und Vor-Subjektives durch Musik körperlich vermittele, denn „Musik als syntaktische Kunst reiner Signifikanz besitzt durch ihre Unmittelbarkeit einen privilegierten Zugang zum Körper“, wie er schreibt. Barthes zufolge lässt sich am Hören und Spielen der Kreisleriana von Schumann nachvollziehen, dass es hier nicht um „irgendeine intelligible Struktur des Werks“ gehe, sondern um das, was Schmidt als eine Musikerfahrung im „Modus der Intimität“ herausarbeitet und mit der Unlösbarkeit der Frage verbindet, um welchen bzw. wessen Körper es in der Rede vom „Körper der Musik“ tatsächlich gehe: den komponierten Körper des Stücks, den Klangkörper des Instruments, den spielenden Körper des Interpreten/der Interpretin oder den Resonanzkörper der Hörenden. Im „Schlagen“ der Musik – im Rhythmus und in der Betonung, die unmittelbar mit dem Herzschlag in Verbindung gebracht werden – verschwinden mögliche Grenzziehungen zwischen Subjekt und Objekt, was von Schmidt neben der von Barthes hergestellten Beziehung zu Kristevas Chora-Konzept (als dem Vor-Ort der Sprache) auch mit dem Konzept vom „organlosen Körper“, dem Körper der Intensitäten bei Deleuze und Guattari, in Verbindung gebracht wird. Schließlich aber bleibt Barthes, wie Schmidt kritisch nachvollzieht, einer sprachtheoretischen Auffassung von der Musik als reinem Signifikanzfeld verhaftet, die seine Musikästhetik in die Nähe von der Idee absoluter Musik rückt und dabei droht genau das, wovon die Rede ist, nämlich den bewegten Körper, erneut zu negieren. So endet der Text bei der musiktheoretischen Bedeutung der Geste und des Tanzes, die allein den ‚Körper der Musik‘ in seiner asignifikanten Form und eine „Logik der Evokation im Gegensatz zu der der Manifestation“ denken ließen, wie Schmidt mit Jean-Luc Nancy abschließend formuliert. Auch Insa Härtel wendet sich in ihrem Beitrag Roland Barthesʼ sprachtheoretischer Suche nach dem Feld reiner Signifikanz und dem damit

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verbundenen Begehren zu. Sie kontrastiert Freuds psychoanalytischen Sinn für die symptomatische Deutung von Kleinigkeiten, deren Bedeutsamkeit er in seiner Kunstbetrachtung Der Moses des Michelangelo (1914) unterstreicht, mit Barthes’ semiologischem Sinn für das Spiel mit der Form und der Lust am Aufschub, in der die zu entdeckende Kleinigkeit am Ende eher umbedeutsam wird. Die japanische Geschenktradition, in der das Verhältnis von Verpackung und Inhalt umgekehrt erscheint, wird von Barthes in Das Reich der Zeichen (frz. 1970/dt. 1981) paradigmatisch auf das Verhältnis von Signifikant und Signifikat übertragen und so zu einem sinnfälligen Bild für sein Genießen der Signifikanten, das die Signifikate zu unbedeutenden Kleinigkeiten, zu Abhub erklärt. Das Wegwerfen oder Verwerfen der Signifikate richtet sich gegen den von ihm kritisierten „Zwang zum Sinn“. Seine „japanischen Pakete“ sind eine fiktionale Gegen-Ordnung. In dieser Zuwendung durch Wegwerfen wird paradoxerweise die Sinnentleerung bedeutungsvoll. Härtel sucht zwischen Freuds „Deutungs-Zwang“ und Barthesʼ „Sinn-Entleerung“ den Blick zu schärfen für die übrig gelassenen, unbedeutenden Kleinigkeiten, den Abhub, der immer von kulturellen, inhärenten Widersprüchen zeugt. Karin Harrasser verfolgt eine Brecht-Lektüre Barthesʼ und interessiert sich für die Bedeutung des stillgestellten Bildes in der anti-illusionistischen Auffassung vom epischen Theater und seiner Absage an Naturalisierungseffekte. Zunächst schätzte Barthes den nicht-repräsentativen Umgang mit Unterbrechungen und Rahmungen, später problematisierte er darin eine dem fetischisierten Stillstand im Bild (Tableau) verhaftet bleibende Form im Unterschied zum Kontinuum von Musik und Text. Wie Harrasser herausstellt, bleibt der stillgestellte Moment in Brechts Inszenierungen jedoch konzentriert auf die zitierbare Geste. Er bleibt damit ein Ausschnitt, ein Fragment und wird nicht zur Idee einer neuen Ganzheit im Bild. Wenn es bei Brecht eine Totalität gäbe, so nicht als eine auf der Bühne, sondern als Idee von den zugrunde liegenden gesellschaftlichen Beziehungen, die durch Zergliederung und Stillstellung im Gestus erkennbar werden sollen. Dabei kommt der Prothese und dem versehrten Körper in seiner Alltagspräsenz nach dem Ersten Weltkrieg, eine ambivalente Rolle zu, nämlich durch eine „Umfunktionierung von Versehrtheit, Mangel und Schwäche in eine Allegorie der Gesellschaft, in ein Bild“. Wie Harrasser an den Beispielen von Peachums Bettlerladen in der Dreigroschenoper (1928), in der es um den schwunghaften Handel mit Prothesen zur mitleidserregenden Vortäuschung von Verkrüppelung geht, und der „Geschichte des Umbaus des

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unschuldigen Packers Galy Gay in eine martialische Kriegsmaschine“ in Mann ist Mann (1926) herausstellt, zielte die allegorische Umfunktionierung von Prothesen auf die Darstellung der gesellschaftlichen Verfertigung von Affekten und Subjektivitäten. An Brechts Zugang zur ideologischen Verwendung der körperlichen Versehrtheit und der Prothese in verschiedenen Kontexten, vom Problem der Repräsentation im London der 1920er Jahre über ihre Instrumentalisierung durch die Nazis bis zu der Verwendung als ironisch-kritische Metapher im US-amerikanischen Kontext des Zweiten Weltkriegs, zeigt Harrasser auf, dass es sich dabei stets um eine „schillernde“ oder, mit Barthes gesprochen, „wackelige“ Angelegenheit handelt. Zeichen/Momente – Fragmentierte Körper, Bruchstücke der Vergangenheit, Konstruktionen von Ganzheiten, mediale Versprechen ungeteilter Kontinuitäten … Sigrid Schades Interesse an der kritischen Lesbarkeit kultureller Formen, die als Zeichen/Momente, das heißt als zeitgebundene, historische Bedeutungsgefüge als kulturanalytische Momentaufnahmen im besten Sinn feststellbar sind, zieht sich durch ihre Schriften von „Der Mythos des ,ganzen Körpers‘“ (1987) bis zu „Migration, Sprache und Erinnerung in ‚… from the Transit Bar‘“ (2013). Mit Vera Frenkel verbindet sie die Aufmerksamkeit für das Mediale von Erinnerungen und die Befragung von Aufzeichnungsformen in ihrer Verknüpfung von Technik, Semantik und Politik: „Fragen nach der Verschränkung individueller Erinnerung und offizieller Gedächtniskultur, nach dem Status von historischer Zeugenschaft und Fiktion, mithin die Frage nach der ‚Wahrheit‘ von Geschichtskonstruktionen“ (Schade 2013, S. 162). Wenn heute das Morgen von gestern ist, wie wir es einleitend mit Victor Burgin formulierten, dann kommt dem Moment, so unfassbar er im Grunde bleibt, die wichtige Rolle zu, immer wieder aufs Neue Relationen zwischen gestern und morgen herzustellen. Der Moment ist ein Begriff, der die Flüchtigkeit und Bedeutsamkeit von einer sich ereignenden Zeit zu fassen scheint. Momente sind Dreh- und Angelpunkte, entscheidende Veränderungen, die etwas in Bewegung bringen – und sei es die Vorstellung, die sich Betrachtende von einer Zeit durch das machen, was Walter Benjamin als Momentaufnahme bezeichnet und fotografisch denkt. Aber der Moment ist, wie oben betont, nicht ohne Zeichen zu denken, die zugleich immer auch das Problem schaffen, ‚nur‘ ein Zeichen zu sein. Nicht zu verwechseln mit der Vorstellung von stiller Erhabenheit reiner Präsenz, betont der Moment das, was an der Zeit nicht aufzuhalten ist, was permanent zu verschwinden droht, wäre da nicht die Möglichkeit zu kommunizieren, Zeichen auszutauschen – mit all den damit verbundenen Aufzeichnungs-,

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Transkriptions- und Übersetzungsschwierigkeiten gleitender Signifikantenketten, kurz: den Schwierigkeiten mit dem nicht arretierbaren Sinn. Auch die Herausgabe dieses Buches war für uns, mit dem bekannten Titel Roland Barthesʼ gesprochen, bisweilen ein semiologisches Abenteuer – eine Entdeckungsreise. Vor eine große Herausforderung sahen wir uns vor allem durch unsere Entscheidung gestellt, die drei englischsprachigen Beiträge von Mieke Bal, Vera Frenkel und Griselda Pollock deutschsprachig aufnehmen zu wollen. Die Schreibstile der drei Autorinnen weichen stark voneinander ab und so war, was in dem einen Fall ein guter Umgang mit dem Übersetzen schien, im anderen ein schwieriger, wie etwa die Frage: Übersetzen wir Zitate anderer im Text (was im Fall der Zitate im Text von Frenkel für die Lesbarkeit unabdingbar schien) oder gehen unter Umständen auf das Original zurück (was im Fall der Zitate von Grossman im Text von Pollock essentiell schien) oder behalten wir die Zitate in der englischen Form bei (was im gleichen Text im Fall der Ettinger Zitate gegen die Suche nach dem möglicherweise französischen Ursprung sprach, weil Pollock diese und ähnliche Stellen in mehreren ihrer Texte zu Ettinger verwendet)? Wir mussten von Fall zu Fall abwägen und uns gegen eine für alle einheitliche editorische Handhabe entscheiden. Allen an dem genuin zeichen/momenthaften Übersetzungsprozess Beteiligten gilt daher ein ganz besonderer Dank: Marie Lottmann für die Übersetzung des Beitrags von Griselda Pollock und Otmar Lichtenwörther für die Übersetzung der Texte von Mieke Bal und Vera Frenkel sowie Sigrid Schade, deren Kenntnis der Diktionen der Künstlerin unverzichtbar war, für die redaktionelle Bearbeitung dieser Übersetzung. Ein ganz besonderer Dank geht auch an Julia Wolf, ihre großartige Mitwirkung war bei der Realisierung des Buches äußerst hilfreich. Für weitere Unterstützung während des Redaktionsprozesses danken wir Kerstin Brandes, Sarina Admaty, Julia Weiss und Mark Kyburz. Wir bedanken uns bei Ulf Heidel für das Lektorat und bei Christian Heinz für die Gestaltung. Unser Dank geht an Jennifer Niediek vom transcript-Verlag für die Betreuung der Publikation. Wir danken dem Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender an der Universität Bremen und dem Institute for Cultural Studies in the Arts an der Zürcher Hochschule der Künste, deren beider großzügige finanzielle und ideelle Unterstützung für die Realisierung dieser Publikation wesentlich war. Nicht zuletzt und allen voran danken wir sehr herzlich den Autorinnen und Autoren, die diese Zeichen/Momente erst ermöglicht haben.

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Literatur Lindner et al. 1989 Lindner, Ines; Sigrid Schade; Silke Wenk; Gabriele Werner (Hg.): Blick-Wechsel. Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunstgeschichte, Berlin: Reimer 1989. Schade 1987 Schade, Sigrid: Der Mythos des ‚ganzen Körpers‘. Das Fragmentarische in der Kunst des 20. Jahrhunderts als Dekonstruktion bürgerlicher Totalitätskonzepte, in: Ilsebill Barta et al. (Hg.): Frauen Bilder Männer Mythen, Berlin: Reimer 1987, S. 239–260. Schade 1988 Schade, Sigrid: Was im Verborgenen blieb. Zur Ausstellung „Das Verborgene Museum. Dokumentation der Kunst von Frauen in Berliner öffentlichen Sammlungen“. Berlin 18.12.1987–14.2.1988, in: kritische berichte, Heft 2, 1988, S. 91–96. Schade 1989 Schade, Sigrid: Die Kunst des Kommentars, in: Kunstforum International, Band 100, April/Mai 1989 (Kunst und Philosophie, S. 370–376. Schade 1990 Schade, Sigrid: Inszenierte Präsenz. Der Riß im Zeitkontinuum (Monet, Cézanne, Newman), in: Michael Scholl; Georg Christoph Tholen (Hg.): Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim: VCH 1990, S. 211–229. Schade 2001 Schade, Sigrid: Vom Wunsch der Kunstgeschichte, Leitwissenschaft zu sein. Pirouetten im so genannten „pictorial turn“, in: Albrecht Juerg; Kornelia Imesch (Hg.): Horizonte. Beiträge zu Kunst und Kunstwissenschaft, 50 Jahre Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft, Zürich, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2001, S. 369–378 (einschließlich engl. Zusammenfassung).

Schade 2007 Schade, Sigrid: Now – Gegenwart und unabgegoltene Vergangenheiten in den Künsten, in: Sigrid Adorf et al. (Hg.): Is it now? – Gegenwart in den Künsten, Zürich: Hochschule für Gestaltung und Kunst 2007, S. 24–30. Schade 2008 Schade, Sigrid: „Bildwissenschaft“ – Eine „neue“ Disziplin und die Abwesenheit von Frauen, in: Die Institute der Zürcher Hochschule der Künste, hg. von Hans-Peter Schwarz, Zürich: ZHdK 2008, S. 106–115. Schade 2013 Schade, Sigrid: Migration, Sprache und Erinnerung in „… from the Transit Bar“ auf der DOCUMENTA IX, in: dies. (Hg.): Vera Frenkel, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2013, S. 154–183. Schade/Wenk 1995 Schade, Sigrid; Silke Wenk: Inszenierungen des Sehens. Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz, in: Hadumod Bußmann; Renate Hof (Hg.): Genus. Zum Geschlechterverhältnis in den Kulturwissenschaften, Stuttgart: Kröner 1995, S. 341–407. Schade/Wenk 2005 Schade, Sigrid; Silke Wenk: Strategien des ‚Zu-Sehen-Gebens‘. Geschlechterpositionen in Kunst und Kunstgeschichte, in: Hadumod Bußmann; Renate Hof (Hg.): Genus. Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Stuttgart: Kröner 2005, S. 302–342. Schade/Wenk 2011 Schade, Sigrid; Silke Wenk: Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, (Studien zur visuellen Kultur, Bd. 8), Bielefeld: transcript 2011.

Abbildungsnachweis © Victor Burgin, courtesy Galerie Thomas Zander, Köln

Schade 2004 Schade, Sigrid: Kunstgeschichte als Erzählung. Narrative Muster einer Disziplin oder: Diskurspolitiken der Kunstgeschichte, in: Im Netz(werk): Kunst – Kunstgeschichte – Politik, hg. vom Verband österreichischer Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker, Wien 2003/04, S. 14–18.

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I  Kunstgeschichten – „Blick-Wechsel“, Bildwanderungen, Diskurskritik

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ÜBERKREUZUNGEN und ANSCHLÜSSE, oder: wie sich ein gemeinsames Projekt entwickeln konnte Der folgende Text sollte ein Geburtstagsgeschenk für Sigrid Schade sein: ein Rückblick auf die jahrelange gemeinsame Arbeit an einer Veränderung der Kunstgeschichte und ihrer Grundlagen – für eine kulturwissenschaftliche Grundlegung unter einer machtkritischen Perspektive und gegen Ausschlüsse unterschiedlicher Art. Mein Versuch der Rekonstruktion unserer gemeinsamen Anstrengungen gilt deren Bedingungen und Möglichkeiten: Was waren die spezifischen Situationen und Kontexte, aus denen der Wunsch der Kooperation entstand, wo waren die Anstöße zum gemeinsamen Weiterdenken und Schreiben? Dass diese Rekonstruktion weder vollständig noch „objektiv“ sein kann, brauche ich sicherlich nicht zu betonen. Anderes zu beanspruchen würde ja heißen, ich selbst hätte aus unseren gemeinsamen Texten nichts gelernt. Die Hommage an eine langjährige Kooperationspartnerin und Freundin lässt sich schließlich auch nicht verfassen unter Absehen der Position der Autorin, die versucht zu verstehen, was uns zusammenhielt – es handelt sich somit auch um ein Stück eigener Erinnerungsarbeit. Das Projekt, das uns mit Unterbrechungen, bedingt durch unterschiedliche Zeitfenster und Anforderungen unserer Universitäten, verband, nahm konkrete Gestalt an in zwei Aufsätzen zur Einführung in kunstwissenschaftliche Geschlechterforschung sowie in einem Buch. Unser erster gemeinsamer Aufsatz erschien 1995: „Inszenierungen des Sehens: Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz“, der zweite, eine gekürzte und zugleich erweiterte Fassung, 2005: „Strategien des ‚Zu-Sehen-Gebens‘: Geschlechterpositionen in Kunst und Kunstgeschichte“, und schließlich Ende 2011 das Buch Studien zur visuellen Kultur. Eine Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld. Schon die Titel zeigen Verschiebungen, die auf

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einen veränderten Bezug zur Disziplin Kunstgeschichte verweisen: Nicht zuletzt war „Geschlecht“ aus dem Titel verschwunden. Unsere Einsprüche richteten sich keineswegs mehr nur an eine kunsthistorische Leser_innenschaft, geschweige denn nur Genderforscher_innen. Unser Anliegen war zusammenzufassen, was aus den kunst- und kulturwissenschaftlichen Geschlechterstudien für das Studium visueller Kultur/en auch in anderen Disziplinen gelernt werden kann. Hatten wir zwischenzeitlich unsere Kritik 1 an der Disziplin einmal schlagwortartig als „contradisziplinär“ bezeichnet – gegen eine Disziplinierung des Wissens –, so war nun daraus ein Disziplinen-übergreifender, ein transdisziplinärer Anspruch geworden. Zugleich war unser Buch gegen alle jüngst ausgerufenen turns gerichtet. Wir wollten nicht nur versammeln und zur Verfügung stellen, was feministische Forschung und Gender Studies eingebracht hatten, sondern auch die Verbindungen zwischen Semiologie und Ikonologie aufzeigen. Nie zuvor hatten wir so viel Erwin Panofsky zitiert, ein erneuter Blick in seine Schriften ließ immer wieder Aufhebenswertes finden. Es ging uns um die „Macht der Bilder“, aber keineswegs im Sinne des vielfach beschworenen iconic turn, sondern um eine Analyse jenseits von Ikonophilie und Ikonoklasmus, es ging um ein Ernstnehmen des Visuellen, das nie jenseits der Deutung existiert, vielmehr immer im Verbund mit Text bzw. Sprache. Dabei ging es uns auch um die Verantwortung beim Zu-sehen-Geben, um Praktiken, in die wir auf unterschiedliche Weise – sei es als Kunsthistorikerin, Künstlerin oder Ausstellungsmacherin – involviert sind. Sich dieser Verantwortung zu stellen, ist gerade angesichts der Geschwindigkeit der globalen Zirkulation der Bilder immer dringlicher geworden. So ging es uns also um etwas, das wir in der feministischen und genderwissenschaftlichen Auseinandersetzung und deren Fortführungen in Postcolonial und Queer Studies gelernt hatten, Studien, die in den letzten Jahrzehnten auch zusehends institutionalisiert wurden.

Wie es anfing

Sigrid Schades und meine Wege kreuzten sich zum ersten Mal 1982 in Marburg. Dort fand die erste Kunsthistorikerinnen-Tagung im deutschsprachi-

1 So in der Einleitung zu dem von uns zusammen mit Ines Lindner und Gabriele Werner herausgegebenen Band der 4. Kunsthistorikerinnen-Tagung in Berlin (Lindner et al. 1989, S. 13).

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ÜBERKREUZUNGEN und ANSCHLÜSSE gen Raum statt, organisiert von einer Gruppe von Studierenden und Doktorandinnen der Kunstgeschichte. Dieses Forum gegen die Vereinzelung von insbesondere Nachwuchswissenschaftlerinnen und für die Sichtbarmachung von „Frauenforschung“ war im besten Sinne nachhaltig, insofern es bis Anfang der 2000er Jahre in einem Zwei-Jahres-Rhythmus und an verschiedenen Universitäten regelmäßig „Kunsthistorikerinnen-Tagungen“ gab, ausgerichtet von Arbeitsgruppen, in denen Studierende, Mittelbauvertreterinnen und später auch Hochschullehrerinnen zusammenarbeiteten. Im Vorwort der Herausgeberinnen des Marburger Tagungsbandes waren die Ziele folgendermaßen formuliert: „Wir stellen uns eine selbstreflektive Wissenschaft vor, die von unserer eigenen Betroffenheit, von unseren eigenen Fragen ausgeht und unsere Alltagserfahrungen in die Forschung einbezieht. […] es geht uns dabei […] um das Bewußtmachen der gesellschaftlichen Eingebundenheit der Betrachter, der Objekte und der Hersteller. […] Was uns an unserer Wissenschaft neugierig, ja Spaß macht […], möchten wir Betrachterinnen/ Leserinnen und Betrachtern/Lesern vermitteln […].“ (Bischoff et al. 1984, S. 11) Nach meiner mehrjährigen Flucht aus einer (langweilig gewordenen) Kunstgeschichte, die sich mehr für Meisterwerke, angesichts derer jedes Sprechen scheitern müsse, als für die Wirkungen derselben (geschweige denn für die ihrer eigenen Tätigkeit) interessierte, war die Marburger Tagung seit Jahren die erste kunsthistorische für mich. Durch die Frauenbewegung auf andere Weise neugierig geworden, war ich wieder zurückgekommen, um nun zu versuchen, die auf meinen Streifzügen in die Soziologie und Kulturund Ideologietheorie (einschließlich der Cultural Studies) entstandenen Einsichten mit der sich auch im deutschsprachigen Raum entwickelnden Frauenforschung in der Kunstgeschichte zu verknüpfen. Sigrid Schades Vortrag „Zur Genese des voyeuristischen Blicks. Das Erotische in den Hexenbildern Hans Baldung Griens“ bot mir einen aufregenden neuen Zugang (Schade 1984). Geschult in Kritischer Theorie und durch Studien Foucaults kritisierte Sigrid Schade die Verdrängungsmechanismen der Kunstgeschichte. Diese verkenne, „daß die Macht der abendländischen Wissenschaft eben in ihrer Verkettung mit dem Begehren, in der Diskursivierung des sexuellen Körpers besteht“ (ebd., S. 99). Sigrid Schade plädierte zugleich für die Historisierung des voyeuristischen Blicks. Am überraschendsten dürfte für mich dabei ihr Anspruch gewesen sein, ausgerechnet in den Arbeiten eines männlichen Künstlers – nämlich des von der tradierten Kunstgeschichte als Meister anerkannten Renaissance-Malers und Kupferstechers Hans Baldung – einen „subversiven Aufruf“ freizulegen: „[W]as uns Baldung mit

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entsprechenden Provokationen vorgeführt hat“, sei, dass der voyeuristische Blick einer ist, „mit dem gespielt werden darf“ (ebd., S. 108). Sigrid Schade hatte vor nicht allzu langer Zeit ihre Dissertation abgeschlossen, hatte in Tübingen nicht nur ein Studium der Kunstgeschichte, sondern auch der Empirischen Kulturwissenschaft absolviert, beides für mich, die ich in Berlin neben marxistischer Theorie auch Cultural Studies studiert hatte, keine schlechten „Adressen“. Wir unterhielten uns lange, worüber, weiß ich nicht mehr, ich erinnere mich nur noch, dass es anregend und vergnüglich war. Für mich, die ich in feministischen Arbeitszusammenhängen (z. B. „Frauengrundstudium“) engagiert war, mit anderen den Gefühlen auf die Spur zu kommen suchte, die uns an patriarchale Strukturen binden, war die Begegnung mit einer einige Jahre jüngeren Kollegin auf einer Tagung, in der es viel um „Betroffenheit“ ging, sehr wichtig. Die Anschlüsse waren klar: Diskurstheorie und Psychohistorie. Aus der Erfahrung, dass es in unserem Denken jeweils Anknüpfungsmöglichkeiten für die Andere gab, wurde das sichere Gefühl, wir sollten etwas zusammen machen. Ihre Dissertation Schadenzauber und die Magie des Körpers. Hexenbilder der frühen Neuzeit (1983) las ich einige Jahre später. Ein theoretisch und empirisch reichhaltiges und gutes kunsthistorisches Buch, immer noch lesenswert (vgl. auch meine Rezension, Wenk 1986). An unterschiedlichen Orten und mit unterschiedlicher Intensität studierten wir weiter, nicht nur feministische Theorie, sondern auch Foucault, Althusser, Lacan. In Bezug auf den Letztgenannten war Sigrid Schade immer vorneweg. Ich glaube, es war mein erster publizierter Text zur Analyse der weiblichen Allegorien im Berlin des 19. Jahrhunderts, den ich Sigrid Schade schickte und den sie mit einem Kommentar versah, von dem ich heute immer noch nicht weiß, ob er Kompliment oder Kritik sein sollte: Es sei mir gelungen, Lacans Thesen darzulegen, ohne ihn ein einziges Mal zu zitieren. Doch zurück zu den Kunsthistorikerinnen-Tagungen. Sie boten den Raum, von der Institution der Kunstgeschichte abgewehrtes Wissen gemeinsam weiterzuentwickeln und zugleich in der Reflexion umstrittenen Wissens eine, wie Sabine Hark es später auf den Begriff brachte, „dissonante Vielstimmigkeit“ zu entfalten (Hark 2005). Vier Jahre nach der ersten Kunsthistorikerinnen-Tagung, der kleinen, aber doch zentralen feministischen kunsthistorischen Gegenöffentlichkeit, sahen wir uns wieder, 1986 bei der dritten Kunsthistorikerinnen-Tagung in Wien. Gegen

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ÜBERKREUZUNGEN und ANSCHLÜSSE Tagungsende entschlossen wir uns sehr spontan – es reichte gewissermaßen ein kurzer Blickwechsel –, die nächste vierte Tagung zusammen mit Studierenden der beiden Berliner Universitäten zu organisieren. Die Bedingungen waren günstig: Wir beide hatten nach diversen kurzfristigen Beschäftigungen außerhalb der Universität just eine wissenschaftliche Mitarbeiterinnenstelle erhalten, Sigrid Schade an der TU Berlin, ich an der Hochschule der Künste Berlin, der heutigen UdK.

Repräsentationskritik

Auch auf der Wiener Tagung kreuzten sich unsere Vorstellungen. Wieder war es ein Einspruch gegen Betroffenheitspolitik oder auch, schon etwas klarer von uns erfasst, gegen Identifikationspolitiken feministischer Bewegung, der uns verband. Zugleich argumentierten wir beide gegen die Verwechslung von Bildern und Abbildern, für die Analyse von Re-Präsentation und ihrer Effekte. Die Kritik am „Mythos des ‚Ganzen 2 Körpers‘“ (1987) in Sigrid Schades Vortrag traf nicht mehr nur die dominante Kunstgeschichte in ihrer Verkennung ihres eigenen Begehrens, sondern auch frauenbewegte Kunsthistorikerinnen, die, insofern sie an der Auflösung des tradierten idealen Körperbildes arbeiteten, in der Kunst der Avantgarde nur Misogynie (oder gar Verletzung „weiblicher Integrität“) sehen konnten. In den Fokus rückte Sigrid Schade die Wünsche und Begehren, die Verwicklungen auch von Kunsthistorikerinnen und Künstlerinnen in die Tradition des Illusionismus und der mit ihm verschränkten Phantasmen. Die Kritik am „Mythos des ‚Ganzen Körpers‘“ und seines Gegenbilds des „zerstückelten Körpers“ berührte Prozesse der Identifikation, die stets von Wünschen nach bzw. Imaginationen von Intaktheit und Autonomie des Subjekts bestimmt sind. Es war wenig überraschend, dass dieser Vortrag heftige Kontroversen nach sich zog, ging es doch nun um unsere eigenen Wünsche und Verkennungen. Die folgende Konzeption der Berliner Tagung ging von diesen Kontroversen sowie von der Annahme aus, dass gegenseitiges kritisches Befragen nicht nur selbstverständlich sein sollte, sondern dass wir sie uns auch leisten konnten. Schließlich war zwei Jahre zuvor in die von Hans 2 Wieder abgedruckt wurde der Aufsatz zusammen mit der Gegenposition von Renate Berger (Berger 2006) in dem von Anja Zimmermann herausgegebenen Sammelband Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung. Siehe dazu auch Wenk (2006).

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Silke Wenk

Belting und anderen herausgegebene Einführung in die Kunstgeschichte auch ein Beitrag über den „feministischen Ansatz“ (Spickernagel 1986) aufgenommen worden. Das heißt, es gab Indizien, dass die Disziplin die Tür einen Spalt zu öffnen bereit war. In der Einleitung zum Tagungsband hielten wir – das waren außer Sigrid Schade und mir auch Ines Lindner und Gabriele Werner – als Herausgeberinnen selbstbewusst fest: „In der Frauenforschung hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden“ (Lindner et al. 1989, S. 12). Wir sprachen von feministischer Kunstwissenschaft, proklamierten deren methodische und theoretische Vielfalt. Unter dem Motto „Blick-Wechsel“ ging es um Radikalisierungen der Frage nach Geschlecht: um „Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunstgeschichte“, aber auch um „Spiegelungen“ und „Gewaltbilder“. Statt Künstlerinnengeschichte Radikalisierung der Frage nach den institutionellen und disziplinären Strukturen; statt identifikatorischer Lektüren der Kunstgeschichte Repräsentationskritik, gegen die Verwechslung von Bildern und „Abbildern“; statt disziplinärer Grenzziehungen eine kritische Befragung der Grenzen der Disziplin und ihrer Imperative. Die heftigste Kontroverse, in die ich meiner Erinnerung nach bei dieser Kunsthistorikerinnen-Tagung zusammen mit Sigrid Schade wie auch anderen Kunsthistorikerinnen involviert war, war die mit verdienten feministischen Künstlerinnen: Gegen ihre durchaus verständlichen Forderungen, uns mehr mit ihren Arbeiten auseinanderzusetzen und für deren Veröffentlichung zu sorgen und somit die Rolle einzunehmen, die männliche Kunsthistoriker für die männlichen Meister innehatten, positionierten wir uns als Historikerinnen und Repräsentationskritikerinnen. Klar wurde erneut, in welcher Weise das Fach der Kunstgeschichte von Ansprüchen und Begehren, und damit verbundenen Affekten und Emotionen, durchsetzt war und ist. Repräsentationskritik bedeutete mithin auch Auseinandersetzung mit Affekten – in ihrer Gewordenheit. Ein derartiges Projekt hat Sigrid Schade auch in der Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Künstlerinnen (vgl. Schade 1991 zum Projekt „Dialoge“) und in vielen folgenden Aufsätzen zu zeitgenössischen Künstlerin3 nen, aber auch in der theoretisch-methodischen Beschäftigung mit Aby 3 Siehe auch die Veröffentlichungsliste auf Sigrid Schades Seite auf der Webseite der Zürcher Hochschule der Künste, https://blog.zhdk.ch/sigridschade/publikationen-2/ (Stand: 1.4.2018).

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ÜBERKREUZUNGEN und ANSCHLÜSSE Warburg im Kontext der Mediengeschichte verfolgt. Darüber trug sie auf der Hamburger Kunsthistorikerinnen-Tagung von 1993 vor (Schade 1993), ein sehr produktiver, kultur- und medientheoretisch fundierter Blick auf Aby Warburg, einige Jahre bevor es auch außerhalb von Hamburg en vogue wurde, Warburg zu zitieren. Gegen institutionelle Zwänge, die es nicht erst seit den 90er Jahren gab, als wir beide Hochschullehrerinnen geworden waren – übrigens glücklicherweise wieder an benachbarten Universitäten, aber nun nicht mehr in der kommenden Hauptstadt, sondern in der nordwestlichen Peripherie –, hat Sigrid Schade immer wieder und durchaus effektiv und kreativ an der Erneuerung der Kunstgeschichte gearbeitet. Diese Bemühungen trafen dabei auch immer wieder auf neue Grenzen, was wiederum weitergehende Wünsche der Überschreitung anreizte. Pierre Bourdieu hat von der „illusio“ gesprochen, die Personen, die sich in bestimmte Felder begeben, seien sie bürokratisch, wissenschaftlich oder künstlerisch, bestimmt: „Sie mögen darauf aus sein, die Kräfteverhältnisse in diesem Feld umzustürzen, aber genau damit erweisen sie den Einsätzen ihre Anerkennung, sind sie nicht indifferent. In einem Feld Revolution machen zu wollen heißt, das Wesentliche anzuerkennen, das von diesem Feld stillschweigend vorausgesetzt wird, nämlich daß es wichtig ist, daß das, was dort auf dem Spiel steht, wichtig genug ist, um einem Lust auf Revolution zu machen.“ (Bourdieu 1998, S. 142) Eine „Revolution“ ist es bekanntlich nicht geworden, aber wir hörten nicht auf zu investieren, die Lust auf „Revolution“ blieb. Ebenso unsere Investition in das Feld, dessen Regeln einschließlich ihrer Verschiebungen wir so auch immer genauer kennenlernen sollten. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Sigrid Schade und mir setzte erneut einige Jahre später ein. Nun war sie die Initiatorin. Sie fragte mich, ob ich mit ihr zusammen einen Einführungstext zur feministischen Kunstgeschichte verfassen wolle. Trotz gewisser Ängste vor einer Beteiligung an Kanonisierung sagte ich zu. Damit komme ich zu den eingangs bereits erwähnten gemeinsamen Publikationen. Unser Antrieb war: festzuhalten und zu vermitteln, was Voraussetzung und Ergebnis unserer bisherigen Arbeiten war. Zum Ersten noch einmal ein Plädoyer für Institutionenkritik, für die Kritik an der „Zentralfigur des kunsthistorischen Diskurses“ – hier hatten uns Roszika Parker und Griselda Pollock (1981) schon vor Jahren entscheidend auf die Sprünge geholfen (siehe auch meine Rezension, Wenk 1985). Zum Zweiten eine Positionierung gegen die Trennung von Bild und Text – mit Roland Barthes und anderen „Klassikern“: de Saussure, Freud,

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Lacan und nicht zuletzt feministischen Filmtheoretikerinnen. Eine Kritik am Zu-sehen-Geben als Praxis der Bedeutungsproduktion – in Kunst, in Präsentation und in Interpretation von Kunst. Unsere beiden Aufsätze „Inszenierungen des Sehens“ und „Strategien des ‚Zu-sehen-Gebens‘“ waren adressiert an Kunstwissenschaftler_innen, die Geschlecht als Kategorie ernst nehmen wollten. Mit dem Buch, das 2011, sechs Jahre nach dem zweiten Artikel erschien, verbanden wir wie bereits erwähnt weitergehende Ambitionen. Angesichts generationeller Verschiebungen und einer gewissen Geschichtsvergessenheit nicht nur in unserer Disziplin wollten wir zusammenfassen, was aus der kunstwissenschaftlichen Geschlechterforschung und all ihren theoretischen Quellen – Semiologie, Cultural Studies, Filmtheorie und nicht zuletzt „klassische“ Kunstgeschichte – für die Analyse visueller Phänomene in einer machtkritischen Perspektive gelernt werden konnte. Verschiebungen in der Wissenschaftslandschaft, die auch die Kunstgeschichte nicht unberührt ließen, gaben einen weiteren Anlass: iconic turn, pictorial turn. Sigrid Schade hatte diesen Trend schon früh ins Visier genommen und seine theoretischen Grundlegungen und Inkonsistenzen problematisiert. In aller Klarheit und nötigen Schärfe analysierte sie 2001 den Wunsch der Kunstgeschichte, als „Bildwissenschaft“ Leitwissenschaft zu sein. Sie kontextualisierte dieses Begehren in der Zeit der Verknappung der Mittel und des verschärften Kampfes um Drittmittel. Wie recht sie hatte, zeigte sich wenige Jahre später. Mit der emphatischen Betonung der „Macht der Bilder“ in der sogenannten „Bilderzeit“ (Horst Bredekamp) waren in der Tat erhebliche Drittmittel akquiriert worden. Leider irrte sich Sigrid Schade auch nicht im Blick auf die von ihr diagnostizierte erneute Unsichtbarmachung von Frauenbzw. Genderforschung im Zuge des iconic turn (Schade 2001). Eine zentrale Intention unseres Buches war nicht nur gegen den zwischenzeitlich auch von anderen Disziplinen beanspruchten iconic turn gerichtet, sondern mehr noch gegen den darin wirksam werdenden Mythos „universaler Verständlichkeit“ von Bildern. Ein Mythos, der gerade in Zeiten der zunehmenden Globalisierung des Kunstbetriebs und der Be4 schwörung einer globalen contemporary art wieder fröhliche Urständ feiert.

4 So z.B. auch in der Rede über Affekte, etwa in einem Artikel von Friedrich Roeders: „Es ist die Fähigkeit großer Kunst, Menschen verschiedener Kulturen (und unterschiedlicher Zeitalter) emotional anzusprechen und ihnen über alle politischen und kulturellen Grenzen hinweg Sinn zu vermitteln.“ (Roeders 2013, S. 62)

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ÜBERKREUZUNGEN und ANSCHLÜSSE Was einige Leser_innen verwundert haben mag, ist, dass wir nicht nur Grundlagen der Semiologie und deren Verknüpfungen mit Psychoanalyse verständlich zu machen suchten, sondern auch die Ikonologie Erwin Panofskys verstärkt ins Gespräch brachten. 14 Jahre früher wären wir nicht auf die Idee gekommen. Doch nun schien es uns notwendig, neben den Grenzen kunsthistorischer Konzepte und Methoden auch deren möglichen Nutzen in den Blick zu nehmen, denn: „Heute werden sie häufig mit allzu schnellem, modischem Gestus u.a. von der Bildwissenschaft ad acta gelegt.“ (Schade/Wenk 2011, S. 11) Gerade aus der kritischen Distanz zur kunsthistorischen Disziplin, die wir in der und durch die feministische Bewegung und Genderforschung gewonnen hatten, schien es uns möglich und sinnvoll, die Potenziale zu „sichern“, auch gegen schematische „Anwendungen“ – ein fast konservativ zu nennendes Unterfangen. Selbstverständlich mussten wir zugleich für Panofsky und gegen ihn schreiben, ebendort, wo er mit dem Anspruch auf Objektivität die in seinem Konzept eingeschlossene Ebene der Selbstreflexion, das Befragen der eigenen Perspektive aufgab (vgl. ebd., S. 79ff.). Mit dem expliziten Rekurs auf poststrukturalistische Kulturtheorie gerieten schließlich auch die mit den Praktiken des Interpretierens und Deutens verbundenen Praktiken des Zu-sehen-Gebens verstärkt in den Fokus, mit denen wir, ob wir wollen oder nicht, immer auch Positionierungen vornehmen. Studien der visuellen Kultur war, so habe ich es an anderer Stelle ausgeführt, über ihre Verankerung in den Cultural Studies eine praxeologische Perspektive, wie sie nicht nur in den sozialwissenschaftlichen Diskursen diskutiert wird, inhärent – avant la lettre, also bevor der andere turn, der practical turn, ausgerufen wurde. Praktiken der Selbstbildung, der Subjektivierung sind mit dem Visuellen eng verknüpft (Wenk 2013), sie ins Blickfeld zu nehmen heißt, gegen eine Ontologisierung des Bildes zu argumentieren. Diese Position steht auch einer Vorstellung des „Bildaktes“ entgegen, die Bildern mit der Behauptung, ihnen komme ein Eigenleben oder gar ein Subjektstatus zu, „so viel Macht zugesteht, dass man schließlich selbst von ihnen gebannt wird“, wie Wolfgang Ullrich jüngst polemisch und treffend resümierte (Ullrich 2014). Letztlich kann mit der Behauptung vom Eigenleben der Bilder auch die eigene Identifikation mit dem Meisterkünstler unsichtbar gemacht werden.

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Tradierungen

Praktiken des Zeigens und Deutens sind immer auch bestimmt und strukturiert durch die den Individuen notwendigerweise vorgängigen Praktiken der Überlieferung bzw. der Tradierung. Sigrid Schade und ich sprechen von Tradierung, um den Fallen einer Theorie des Gedächtnisses zu entgehen, die Gefahr läuft, zu glauben bzw. glauben zu machen, dass Repräsentationen jeder Art etwas unhintergehbar Vergangenes wiedergeben könnten, die also kurz gesagt einer „Metaphysik der Präsenz“ (Derrida) Vorschub leistet. Erkennbar bleiben sollten dagegen die Prozesse der Überlagerung, des ständigen Umschreibens oder Umbildens in Erinnerungsprozessen. In Prozesse der Vergegenwärtigung sind wir schließlich selbst immer auch involviert. Nötig sind Konzepte, in denen Entstehung und Wirkung von kulturellen (Bilder-)Repertoires im Kontext von „Praktiken, Strukturen und Prozessen der Überlieferung“ thematisiert werden. Es geht um die „wechselseitige Beziehung, ein Verhältnis zwischen sozialen Konstruktionen und Produktionen von Erinnerungsbildern und subjektiver Partizipation; Identifikation und Umformulierung. In den Fokus der Aufmerksamkeit rücken so unbewusste und affektive Faktoren der Tradierung […].“ (Schade/ Wenk 2011, S. 133, s. auch S. 139) Spätestens hier sollte ich auf meinen eigenen Versuch der „Vergegenwärtigung“ unserer gemeinsamen Arbeit zurückkommen. Was treibt mich zu dieser Zusammenfassung, in der ich auch nicht davor zurückgeschreckt bin, von „wir“ zu sprechen? Ich habe vieles ausgelassen, was anderen, was auch Sigrid Schade vielleicht wichtiger erscheinen mag als mir. Ein Antrieb kam aus einem Unbehagen: Es ist das „Begehren nach dem Affekt“, das sich, wie Marie-Luise Angerer (2007) diagnostiziert hat, in Kultur- und Medienwissenschaften wie auch in der Neurowissenschaft und den Technikwissenschaften bemerkbar macht und als affective oder auch emotional turn gehandelt wird. Ein Begehren, das offenbar längst auch Teile der feministischen und queeren Bewegung erfasst hat und offensichtlich mit dem Wunsch nach Überwindung von Tendenzen der Passivierung verbunden ist und sich verbinden kann mit einer Suche nach Bildern, die affizieren, mit der Suche nach dem Unvermittelten/Unmittelbaren, nicht zuletzt auch neuen, anderen Bildern. Sigrid Schade hat sich auch damit bereits in ihrem Beitrag für den Band Sehen – Macht – Wissen auseinandergesetzt (Schade 2011). Sie hat zugleich darauf hingewiesen,

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ÜBERKREUZUNGEN und ANSCHLÜSSE dass sich eine neuerdings bemerkbar machende „Einfühlungsästhetik“ der „Kontinuität eines kunstgeschichtlichen Narrativs zu verdanken [ist], das sich als besonders resistent erweist, weil es immer schon narzisstische Gratifikationen, Spiegelungseffekt versprach“ (ebd., S. 144). In der Suche nach dem Affekt, wie sie neuerdings auch als „Politik der Gefühle“ artikuliert und bisweilen gegen „bloße Repräsentationskritik“ 5 gerichtet wird, droht die Geschichtlichkeit – auch des Körpers – aus dem Blick zu geraten. Anders formuliert, wenn die „Politik der Gefühle“ machtkritisch sein will, muss sie auch die Frage der Tradierung stellen. Diese Frage spielte bereits in der Kritik am „Mythos des ‚Ganzen Körpers‘“ eine Rolle, sie ist bedacht, wenn es um die semiologische Zerlegung der Bilder geht, um die gleichsam automatische Verknüpfung von bestimmten Signifikanten mit Signifikaten, mit Vorstellungsbildern, die wiederum mit Identifikationen, Selbst-Versicherungen verbunden sind. Es wird hier keineswegs dafür plädiert, Affekte, Affizierungen, Emo6 tionen nicht ernst zu nehmen. Neue Hoffnungen auf politische Bewegung (gegen Erstarrung, gegen Depression und Passivierung) auf sie zu projizieren, ist jedoch fragwürdig. Bilder können zweifelsohne affizieren. Aber die Beobachtung, dass manche es tun und manche nicht, ist nicht mehr als eine Aufforderung zur Analyse: Wen affizieren Bilder in welcher Situation, in welchem Kontext? Wie wirken welche Tradierungen? (Feministische) Repräsentationskritik bleibt relevant. Dass sie immer auch Wünsche, Identifikationsprozesse im Kontext der „imaginierten Konstitution des Subjekts“ ins Blickfeld nahm, daran wollte ich hier – insbesondere mit Rekursen auf Sigrid Schades Publikationen und ihre Interventionen in die Genderforschung – erinnern. Und ebenso daran, dass feministische Politik immer auch eine Kritik der Gefühle beinhalten muss. Nicht schließen will ich, ohne festzuhalten: Zusammen zu schreiben ist viel vergnüglicher, als es alleine zu tun.

5 Auch dies ein Aspekt, auf den Sigrid Schade in ihren Veröffentlichungen immer wieder zurückkommt. Zum „Körpergedächtnis“ vgl. auch Hahn (2007). 6 Ich übergehe hier bewusst die Frage nach der Unterscheidung der Begriffe „Emotion“, „Gefühl“ und „Affekt“, die auch in der vorliegenden Literatur häufig undeutlich bleibt.

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Literatur Angerer 2007 Angerer, Marie-Luise: Vom Begehren nach dem Affekt, Zürich u.a.: Diaphanes 2007. Berger 2006 Berger, Renate: Pars pro toto – Zum Verhältnis von künstlerischer Freiheit und sexueller Integrität, in: Anja Zimmermann (Hg.): Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung, Berlin: Reimer 2006, S. 115–157. Bischoff et al. 1984 Bischoff, Cordula; Brigitte Dinger; Irene Ewinkel; Ulla Merle (Hg.): Zu diesem Buch – „… ich mußte mir endlich zugestehen, ganz andere Fragen haben zu dürfen“, in: dies. (Hg.): FrauenKunstGeschichte. Zur Korrektur des herrschenden Blicks, Gießen: Anabas 1984, S. 7–12. Bourdieu 1998 Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998. Hahn 2007 Hahn, Alois: Habitus und Gedächtnis, in: Michael C. Frank; Gabriele Rippl (Hg.): Arbeit am Gedächtnis, München: Fink 2007, S. 31–46. Hark 2005 Hark, Sabine: Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005. Lindner et al. 1989 Lindner, Ines; Sigrid Schade; Silke Wenk; Gabriele Werner (Hg.): Vorwort, in: dies. (Hg.): Blick-Wechsel. Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunstgeschichte, Berlin: Reimer 1989, S. 10–13. Parker/Pollock 1981 Parker, Roszika; Griselda Pollock: Old Mistresses. Women, Art and Ideology, London: Routledge 1981. Roeders 2013 Roeders, Friedrich: Globalisierung und Weltkultur, in: Wolfgang Sohst (Hg.): Die Globalisierung der Affekte, Berlin: xenomoi 2013, S. 53–62.

Schade 1983 Schade, Sigrid: Schadenzauber und die Magie des Körpers. Hexenbilder der frühen Neuzeit, Worms: Werner’sche Verlagsgesellschaft 1983. Schade 1984 Schade, Sigrid: Zur Genese des voyeuristischen Blicks. Das Erotische in den Hexenbildern Hans Baldung Griens, in: Cordula Bischoff; Brigitte Dinger; Irene Ewinkel; Ulla Merle (Hg.): FrauenKunstGeschichte. Zur Korrektur des herrschenden Blicks, Gießen: Anabas 1984, S. 98–110. Schade 1987 Schade, Sigrid: Der Mythos des „Ganzen Körpers“. Das Fragmentarische in der Kunst des 20. Jahrhunderts als Dekonstruktion bürgerlicher Totalitätskonzepte, in: Ilsebill Barta; Zita Breu; Daniela Hammer-Tugendhat; Ulrike Jenni; Irene Nierhaus; Judith Schöbel (Hg.): Frauen – Bilder. Männer – Mythen, Berlin: Reimer 1987, S. 239–260. Schade 1991 Schade, Sigrid: Differenzen im Blick. Zum vielstimmigen Dialog von Künstlerinnen und Kunstvermittlerinnen, in: Theresa Georgen; Ines Lindner; Silke Radenhausen (Hg.): Ich bin nicht ich, wenn ich sehe … Dialoge – ästhetische Praxis in Kunst und Wissenschaft von Frauen, Berlin: Reimer 1991, S. 184–190. Schade 1993 Schade, Sigrid: Charcot und das Schauspiel des hysterischen Körpers. Die „Pathosformel“ als ästhetische Inszenierung des psychiatrischen Diskurses, in: Silvia Baumgart et al. (Hg.): Denkräume. Zwischen Kunst und Wissenschaft, Berlin: Reimer 1993, S. 461–484. Schade 2001 Schade, Sigrid: Vom Wunsch der Kunstgeschichte, Leitwissenschaft zu sein. Pirouetten im sogenannten „Pictorial Turn“, in: Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft (Hg.): Horizonte. Beiträge zu Kunst und Kunstwissenschaft, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2001, S. 369–378. Schade 2011 Schade, Sigrid: Zwischen Einfühlung und Analyse. Zur Tradierung von Affektgestaltung und einigen Motiven in der aktuellen Warburg-Rezeption, in: Angelika Bartl; Josch Hoenes; Patricia Mühr; Kea Wienand (Hg.): Sehen – Macht – Wissen. ReSaVoir. Bilder im Span-

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ÜBERKREUZUNGEN und ANSCHLÜSSE nungsfeld von Kultur, Politik und Erinnerung, Bielefeld: transcript 2011, S. 143–155. Schade/Wenk 1995 Schade, Sigrid; Silke Wenk: Inszenierungen des Sehens. Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz, in: Hadumod Bußmann; Renate Hof (Hg.): Genus. Zum Geschlechterverhältnis in den Kulturwissenschaften, Stuttgart: Kröner 1995, S. 341–407.

Wenk 2013 Wenk, Silke: Praktiken des Zu-sehen-Gebens aus der Perspektive der Studien der visuellen Kultur, in: Thomas Alkemeyer; Gunilla Budde; Dagmar Feist (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld: transcript 2013, S. 275–290.

Schade/Wenk 2005 Schade, Sigrid; Silke Wenk: Strategien des ‚Zu-Sehen-Gebens‘. Geschlechterpositionen in Kunst und Kunstgeschichte, in: Hadumod Bußmann; Renate Hof (Hg.): Genus. Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Stuttgart: Kröner 2005, S. 302–342. Schade/Wenk 2011 Schade, Sigrid; Silke Wenk: Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld: transcript 2011. Spickernagel 1986 Spickernagel, Ellen: Geschichte und Geschlecht: Der feministische Ansatz, in: Hans Belting; Heinrich Dilly; Wolfgang Kemp; Willibald Sauerländer; Martin Warnke (Hg.): Kunstgeschichte. Eine Einführung, Berlin: Reimer 1986, S. 264–282. Ullrich 2014 Ullrich, Wolfgang: Der gefälschte Mond, Teil 3, in: Die Zeit, Nr. 4 v. 16.1.2014, http://www.zeit.de/2014/04/galilei-faelschung-bredekamp-3/seite-2 (Stand: 13.9.2016). Wenk 1985 Wenk, Silke: Rezension von Roszika Parker; Griselda Pollock: Old Mistresses. Women, Art and Ideology, in: Das Argument, Nr. 152, 1985, S. 602–605. Wenk 1986 Wenk, Silke: Rezension von Sigrid Schade: Schadenzauber und die Magie des Körpers. Hexenbilder der frühen Neuzeit, in: Das Argument, Beiheft 1986, S. 114–117. Wenk 2006 Wenk, Silke: Repräsentation in Theorie und Kritik: Zur Kontroverse um den „Mythos des ganzen Körpers“, in: Anja Zimmermann (Hg.): Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung, Berlin: Reimer 2006, S. 99–113.

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Kerstin Brandes

Bilder von Khoikhoi (und anderen) am Kap der Guten Hoffnung – visuelle Migrationen und transkulturelle Bilderrepertoires Khoikhoi bedeutet übersetzt „die wahren Menschen“ und ist die historische Selbstbezeichnung einer im südlichen und südwestlichen Afrika ehemals als nomadische Viehhirten lebenden indigenen Bevölkerungsgruppe. Von den ersten europäischen Kolonisatoren im 17. Jahrhundert, den Niederländern, wurden die Khoikhoi wegen ihrer für jene völlig 1 unverständlichen Sprache und Kultur abwertend Hottentotten genannt. Ethnografisch werden sie unterschieden von den ebendort lebenden San 2 oder Buschmännern, die Jäger und Sammler waren. Im Archiv der South African Library in Cape Town, die heute Teil der Nationalbibliothek ist, wurde 1986 ein Umschlag entdeckt, der 15 Blätter mit insgesamt 27 Zeichnungen eines unbekannten Künstlers enthielt. Die von der Forschung auf die Zeit um 1700 datierten Blätter zeigen mehrheitlich Darstellungen von Khoikhoi. Zu sehen sind bildmäßig ausgearbeitete Szenen, Skizzen von Alltags- und Arbeitssituationen wie dem Hüten von Rindern und Schafen, dem Kuhmelken oder der Ernte; des

1 Die Etymologie des Wortes Hottentotten ist nicht eindeutig geklärt. Zum einen wird angenommen, dass es vom niederländischen Wort für Stottern oder Stammeln abgeleitet ist, weil die mit Klick- und Schnalzlauten durchsetzte Sprache der Khoikhoi von den Europäern als ebensolches wahrgenommen wurde; zum anderen wird vermutet, dass es sich um die Übertragung eines beim Singen und Tanzen oft gebrauchten Wortes der Khoikhoi handelt. Beiden Varianten gemein ist die Konnotation als „primitiv“, „unordentlich“, „chaotisch“ (vgl. Arndt/Hornscheidt 2009, S. 148f.). 2 Im (historischen) Sprachgebrauch wurden die Bezeichnungen Buschmänner und Hottentotten jedoch oft auch undifferenziert und synonym verwendet. In der Ethnologie wird der in den späten 1920er Jahren geprägte Sammelbegriff Khoisan benutzt.

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Kerstin Brandes

1 Anon.: Khoikhoi Drinking from Kaross, um 1700

2 Anon.: Khoikhoi Women & Dutch Colonist, um 1700

Weiteren Einzel-, Bewegungs- und Detailstudien von Menschen – in der Mehrzahl von Frauen, auch von Frau-Mann-Paaren mit Kindern – sowie von Artefakten des täglichen Lebens, etwa Kleidung, Musikinstrumenten, Jagdwaffen und Werkzeugen. Die Zeichnungen sind vorwiegend in Feder und Tinte angefertigt und vielfach mit zusätzlichen Erläuterun3 gen in bis zu drei verschiedenen Handschriften versehen (Abb. 1, 2).

3 Die Zeichnungen können online in der World Digital Library angesehen werden, http://www.wdl.org/en/search/?collection=the-khoikhoi-at-the-cape-of-good-hope (Stand: 28.03.2017).

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Bilder von Khoikhoi (und anderen) am Kap der Guten Hoffnung

Die (bild-)historische Relevanz der Blätter wird, wie in dem 1993 publizierten Dokumentationskatalog nachzulesen ist, darin gesehen, dass es sich um „the earliest realistic depictions of the original inhabitants of the Cape“ handele (Khoikhoi 1993, S. 7). Damit galten sie als wertvolle Ergänzung des lückenhaften historischen Wissens über die Khoikhoi; und sie wurden zum Gegenbild der zahlreichen, seit Beginn der Neuzeit in Europa erfolgreich zirkulierenden illustrierten Reiseberichte erklärt, welche die europäischen Vorstellungen von fremden Völkern und Kulturen – und so auch von Hottentotten und Buschmännern – nachhaltig geprägt haben. Vor allem wird in den Zeichnungen ein Korrektiv für das Bild der Khoikhoi gesehen, das in dem Reisebericht des Nürnberger Astronomen Peter Kolb (1675–1726), auf den auch einige der handschriftlichen Anmerkungen verweisen, hergestellt wird: „Caput Bonae Spei hodiernum, das ist: vollständige Beschreibung des africanischen Vorgebürges der Guten Hofnung“. Kolb hatte sich in den Jahren 1705 bis 1712, also etwa zur Zeit der Anfertigung der anonymen Zeichnungen, am Kap aufgehalten. Sein 1719 in Deutschland und unter anderem 1727 in holländischer Übersetzung erschienener Bericht gilt als der erste seiner Art, der in wissenschaftlicher Absicht geschrieben wurde, und ist für das europäische Bild der südafrikanischen Kap-Bewohner lange Zeit bestimmend gewesen 4 (Pratt 1992, S. 38–49; Smith 1993, S. 20; Strother 1998, S. 12). Den festgestellten oder behaupteten Unterschieden zwischen den anonymen Zeichnungen zum einen und Illustrationen in historischen europäischen Reiseberichten zum anderen soll hier exemplarisch genauer nachgegangen werden. Diese sind keineswegs in einer vermeintlich geringeren oder größeren Realitätsnähe zu suchen, insofern Bilder niemals Abbilder einer außerbildlichen Wirklichkeit sind, sondern das, was als solche anerkannt ist, immer schon mitgestaltet haben. Vielmehr scheint dieser Eindruck das Resultat einer von verdrängten (Vorstellungs-)Bildern geleiteten Interpretation visueller Übersetzungsvorgänge, in die verschiedene mediale Konstellationen involviert sind und die unterschiedlich situierte Nähe-Distanz-Verhältnisse, Zuschreibungen an das Medium als Bedeutungsträger und Diskurse um Kunst und Dokumentation spezifisch miteinander verknüpft.

4 „[…] Peter Kolb’s The Present State of the Cape of Good Hope […] became the standard reference tool of Diderot, Voltaire, the Marquis de Sade, and every travel writer.“ (Strother 1998, S. 12)

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Kerstin Brandes

Sowohl die anonymen Zeichnungen als auch die Illustrationen in den Reiseberichten sind gleichermaßen Teil eines heterogenen, kontingenten und bisweilen disparat erscheinenden Konglomerats von Bildern und Texten, sie sind temporäre Ergebnisse komplexer Bildfindungs- und Bildgebungsprozesse, über die das europäisch stämmige Subjekt ein mehr oder weniger weit entferntes Gegenüber am Kap der Guten Hoffnung fassbar zu machen gesucht hat. Sie sind als Schnittstellen sich kreuzender Wanderungsbewegungen zu analysieren, die Menschen und Bilder (oder allgemeiner: kulturelle Artefakte) gleichermaßen betreffen; im Ineinandergreifen und in der Korrespondenz von Migrations- und Bilddiskursen, 5 die ich als visuelle Migrationen konzeptualisiert habe (Brandes 2011). Im Sinne eines situierten Wissens (Harding 1991, S. 138–163) vollziehen sich diese Prozesse nicht völlig losgelöst von den jeweiligen Produzenten – oder besser: von der jeweiligen Situiertheit des Bild(er)-Machens und des Sich-ein-Bild-Machens. Zugleich referieren sie notwendigerweise auf ein bestehendes Bilderrepertoire (Schade/ 6 Wenk 2011) , auf das zugegriffen, an das sich angelehnt werden kann und in das die ‚neuen‘ Bilder dann auch mit eingespeist werden, sodass sich das Gesamtgefüge dieses Repertoires immer auch verschiebt, umschichtet oder gar umstrukturiert (Bartl et al. 2011). Gefragt wird insofern nach einem Agieren der Bilder auch untereinander und nach den korrespondierenden Voraussetzungsbedingungen, die ein Bild des ethnisch, ‚rassisch‘ und kulturell Anderen, das hier wie dort entstanden ist, generiert, stereotypisiert und modifiziert haben. Dieses Bilderrepertoire ist als transkulturell zu beschreiben in dem Sinn, dass es sich durch Austausch, Auseinandersetzung und wechselseitige Durchdringung über kulturell, geografisch, national, ethnisch codierte Grenzen hinweg ausgebildet hat und weiterhin ausbildet. Der Begriff des Transkulturellen geht von der Historizität, Kontingenz und Unabgeschlossenheit von Unterscheidungen aus und argumen-

5 „Migration“ ist hier als Sammelbegriff für Wanderungs- und Reisebewegungen allgemein eingesetzt, ob sie temporär oder dauerhaft, freiwillig oder erzwungen sind, sich auf Menschen oder Artefakte beziehen. Das von Schade/Wenk eingesetzte Konzept des „kulturellen Bilderrepertoires“ bezieht 6 sich auf Kaja Silvermans Begriff des – bei Jacques Lacan entlehnten – screen, der als „kulturelles Bildrepertoire“ ins Deutsche übersetzt worden ist (vgl. Silverman 1997). Die Rede von Bildern im Plural vereindeutigt, dass es hier nicht etwa um die Frage nach dem Bild-Begriff geht.

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Bilder von Khoikhoi (und anderen) am Kap der Guten Hoffnung

tiert gegen jedwede Vorstellung kultureller Homogenität und Essenzialität (Mae/Saal 2007, S. 10; Langenohl et al. 2015, S. 12f.). Allerdings ist damit keineswegs ausgeschlossen, dass hegemoniale Machtstrukturen weiterhin wirksam bleiben und Wanderungsbewegungen von Bildern und Menschen möglicherweise ebenso bestimmte Unterscheidungen kontinuierlich neu absichern – etwa die Unterscheidung nach Geschlecht – und 7 auf diese Weise eine vermeintliche Naturgegebenheit nahelegen.

Khoikhoi und andere am Kap der Guten Hoffnung

Mit Mary Louise Pratt kann die südafrikanische Kap-Region als Kontaktzone beschrieben werden; als ein Raum der Begegnung, die vornehmlich eine koloniale ist: Menschen, die geografisch und historisch getrennt waren, treffen aufeinander, kommen in Kontakt und etablieren Beziehungen, die durch bzw. als asymmetrische Machtverhältnisse strukturiert, durch Zwang und radikale Ungleichheit geprägt und konflikthaft sind (Pratt 1992, S. 6). Der erste Kontakt zwischen Khoikhoi und Europäern ist um 1500 belegt. Mitte des 17. Jahrhunderts begann die Kolonisierung damit, dass der niederländische Arzt und Kaufmann Jan van Riebeeck im Auftrag der niederländischen Vereinigten Ostindien-Kompanie (VOC) am Ort des heutigen Kapstadt eine Versorgungsstation für deren Handelsschiffe errichten ließ, die zwischen Europa und den niederländischen Kolonien in Südostasien unterwegs waren. Mit der einhergehenden fortschreitenden Landnahme durch einwandernde niederländische Siedler hatte sich um 1700 der angestammte Lebensraum der Khoikhoi am Westkap minimiert, waren ihre traditionelle nomadische Lebensweise und Kultur weitgehend nicht mehr existent. Obgleich sie „als Fremde zu behandeln [waren], die nicht der Kapkolonie angehörten und aus der Gesellschaft der niederländischen Siedlung ausgeschlossen bleiben sollten“ (Marx 2012, S. 33), wurden sie zunehmend als billige Arbeitskräfte in die Kolonialgesellschaft 8 hineingezwungen (ebd., S. 36f.).

7 Dies entspricht Roland Barthes’ Konzept des Mythos – der Naturalisierung durch den Entzug von Geschichte (Barthes 1964). 8 Ihre gesellschaftliche Stellung entsprach der Position von Sklaven, wobei die VOC eine Versklavung jedoch ausdrücklich verboten hatte, um potenziellen Widerstand der indigenen Mehrheitsbevölkerung zu vermeiden (Marx 2012, S. 33).

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Vor dem Hintergrund dieser historischen Situation liegt der Realismus, der den anonymen Blättern als Qualitätskriterium attestiert wird, in der begründeten Vermutung, dass sie vor Ort, in der direkten Anschauung entstanden seien. Anders als die Illustrationen in den europäischen Reiseberichten seien sie nicht durch die Hände europäischer Graveure und Kupferstecher gegangen, denen für die Anfertigung der Druckvorlagen oftmals nur schriftsprachliche Beschreibungen und grobe Skizzen der Reisenden zur Verfügung gestanden und die zudem das zu visualisierende Objekt – hier eben die Khoikhoi – niemals mit eigenen Augen gesehen hätten (Smith 1993, S. 19). Es besteht auch Einigkeit darüber, dass alle Zeichnungen von derselben Person angefertigt wurden. Als Produzent wird ein reisendes europäisches Subjekt angenommen – ein Niederländer, der in irgendeiner Form mit der VOC zu tun und auf seinem Weg von oder nach Niederländisch-Ostindien am Kap einen Zwischenaufenthalt eingelegt habe (ebd.). Und auch die Blätter selbst sind anscheinend gewandert. Die verschiedenen Handschriften und der Umstand, dass einige handschriftliche Anmerkungen wahrscheinlich erst nach 1730 vorgenommen wurden, wurden dahingehend interpretiert, dass die Bilder beachtet, begutachtet worden und im wörtlichen Sinn durch verschie9 dene Hände gegangen sind (ebd.). Gelobt werden die Zeichnungen für ihre Lebendigkeit und Genauigkeit; „though slightly stylised in the tradition of the seventeenth-century Dutch school of art“, seien sie „nonetheless spontaneous depictions“, zu Papier gebracht von einem Künstler oder kompetenten Amateur, der in der Lage gewesen sei, „[to] regard his subjects as ‚real‘ people, and not allow the pre-conditioned image of ‚savages‘ to colour his view“ (ebd., S. 20). Erkennbare Charakteristika eines zeitgenössischen Kunststils werden gegen zeitgleich kursierende negativ stereotypisierte Bilder ausgespielt, indem ein bewusster, vorurteilsfreier und reflektierter Künstlerblick behauptet wird, der über ein Unbewusstes der zeichnerischen Geste dominiert. In dieser Hinsicht wird den Zeichnungen ein dokumentarischer Wert zugesprochen, der sich vor allem auf die detaillierte Darstellung von Werkzeugen, Waffen und Kleidung bezieht. Weiterhin wird für die Zeichnungen positiv betont, dass die Khoikhoi, ebenfalls der historischen Situation entsprechend, nicht isoliert, sondern

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Ungeklärt ist, ob eine der Handschriften dem Zeichner selbst zuzuordnen ist.

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Bilder von Khoikhoi (und anderen) am Kap der Guten Hoffnung

in Interaktion mit den niederländischen Siedlern bzw. Kolonisatoren gezeigt würden – Pratts „Kontaktzone“ also in den Darstellungen selbst sichtbar wird bzw. die Bilder als „visuelle Kontaktzone“ (Küster 2011) fungieren. Dies ist allerdings nur in den beiden hier ausgewählten Blättern 10 deutlich hervorgehoben. So zeigt das Blatt Khoikhoi Drinking from Kaross (Abb. 1) einmal eine Gruppe von drei Erwachsenen, von denen einer aus dem als Gefäß verwendeten ledernen Umhang (kaross) trinkt, und einem Kind. Auf der zweiten Zeichnung sind fünf Personen mit einem Hund zu sehen, die von einer anders gekleideten Person, einem niederländischen Kolonisten, aus einem Krug etwas zu trinken ausgeschenkt bekommen. Auf dem Blatt Khoikhoi Women & Dutch Colonist (Abb. 2) sieht man vornehmlich skizzenhaft ausgeführte weibliche Figuren; Khoikhoi-Frauen, in verschiedenen Posen, die mit sich selbst beschäftigt scheinen: Sie stehen, liegen, sitzen, kümmern sich um ihre Kleidung, reichen einander die Pfeife. Der handschriftliche Text wirkt kommentierend. Er beschreibt die Kleidung und deren Machart, wobei ein besonderes Augenmerk der Beinbekleidung gilt – aus Fell- bzw. Lederstreifen oder Blattfasern gefertigte Strümpfe – und der Art, wie diese angelegt wird. In der linken Hälfte des Blattes ist prominent eine niederländische Kolonistin dargestellt, auch sie identifizierbar durch ihre andere Kleidung – die im Text jedoch nicht beschrieben wird. Zwei Khoikhoi sind ihr zugewandt, als würden sie sie um etwas zu trinken bitten. Beide Skizzenblätter werden als Darstellungen eines – bzw. des zeitgenössischen – kolonialen Machtgefüges lesbar, insofern die Kolonisten innerhalb der jeweiligen Szenerie in der Minderzahl sind, zugleich aber als Besitzende ausgewiesen werden, die etwas zu verteilen haben, während die als indigen markierten Figuren als abhängige Empfänger dargestellt sind. Mit dem Krug bzw. dem Ausschenken wird ein gängiges Motiv zeitgenössischer niederländischer Kunst aufgenommen, das nun in seiner Bedeutung mehrfach verschoben ist. So unterscheiden sich die hier skizzierten Alltagsszenen von solchen, wie sie beispielsweise die Federzeichnung Milchverkäuferin vor einem Haus des Rembrandt-Schülers Nicolaes Maes (1634–1693) zeigt:

10 Weitere Zeichnungen, auf denen ebenfalls europäisch codierte Figuren zu sehen sind, zeigen diese entweder allein (Khoi Arrows; Sketches of Farm Servants) oder nicht in direktem Kontakt bzw. als Randfiguren (Harvesting; Lion Hunt; Khoi Women). Auf einigen Zeichnungen ist die koloniale Situation bezeichnet durch die festen Häuser der Siedler im Bildhintergrund, teilweise auch kontrastiert mit den Hütten der Khoikhoi.

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3  Nicolaes Maes: Milchverkäuferin vor einem Haus, o.J.

4  Jan Vermeer: Dienstmagd mit Milchkrug, 1658–60

eine Verkaufssituation, bei der die Beteiligten sich auf Augenhöhe begegnen (Abb. 3). Und in der einzigen konkreten Referenz, die der Katalogtext in Bezug auf das Bild der Kolonistin zur niederländischen Kunst herstellt, nämlich zu Jan Vermeers Dienstmagd mit Milchkrug (1658–60) (Abb. 4), entfällt, dass es sich dort um ein anderes Medium – nämlich Malerei – handelt und die Bedeutung des Bildes sich nicht auf der denotativen Ebene der gezeigten Szene erschöpft. Wenn es in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts allgemein nicht um realistische, sondern um hochcodierte oder metaphorische Darstellungen ging, in denen an Alltagsszenen etwa die Malerei selbst

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Bilder von Khoikhoi (und anderen) am Kap der Guten Hoffnung

als Medium reflektiert wird, so stand Vermeers Dienstmagd dafür, dass sie „auf der Ebene des Sichtbaren das Ideal von innerer Ruhe und Ausgewogenheit“ verkörperte (Hammer-Tugendhat 2009, S. 218).

Europäische illustrierte Reiseberichte

Historische und kunsthistorische Forschungen haben in ihrer Analyse der Reiseberichte, die seit der Entdeckung des Kaps der Guten Hoffnung durch die Portugiesen Ende des 15. Jahrhunderts vielfach verfasst und publiziert worden sind, sowie der Nachverfolgung der darin enthaltenen Abbildungen – „their migration in space and time, their transformation into stereotypes“ (Bassani/Tedeschi 1990, S. 158) – die Entwicklung einer Ikonografie der Hottentotten herausgearbeitet. Diese vollzog sich, wie Ezio Bassani und Letizia Tedeschi exemplarisch gezeigt haben, in Europa vor allem entlang zweier zusammenwirkender Praktiken: durch die Übertragung tradierter Bildmuster und Darstellungsweisen auf das Unbekannte; und durch das fortlaufende Kopieren einmal veröffentlichter Illustrationen von einem Buch in ein anderes, von einer Ausgabe in die nächste. So zeigt der zu den frühesten bekannten Darstellungen gehörende Holzschnitt In Allago aus dem Jahr 1508 von Hans Burgkmair d. Ä., welcher auch die Reisen des Kaufmanns Balthasar Springer illustriert hat, ein Hottentotten-Paar, mit Kindern als Familie formiert, mit allen Attributen, die dieses als Nomaden und als für den europäischen Blick Fremde kennzeichnen: Fellumhang (kaross), Kopfbedeckung, eine Art Lendenschurz, Fußbe11 kleidung, Hirtenstab und ein Sammelbehälter (Abb. 5). Der Bildaufbau und die Pose der Figuren hingegen zitieren Albrecht Dürers Kupferstich Adam und Eva von 1504 (Abb. 6) (Bassani/Tedeschi 1990, S. 164f.; Strother 1998: 7f.), bei dem es sich wiederum um eine Übersetzung des klassisch-kanonischen Modells der heidnisch-antiken Götter Apoll und Venus handelt, mit der Dürer „das Adam-und-Eva-Sujet formal aus seinem traditionellen, 12 heilsgeschichtlichen Kontext herausgelöst“ hatte (Schoen 2001, S. 115).

11 Es handelt sich hier nicht um eine Illustration des Springer-Reiseberichts, sondern um eine Arbeit, die Burgkmair im Anschluss daran angefertigt hat. Siehe dazu auch Singer/Jopp 1967. 12 Eine Übertragung des Dürer-Bildes innerhalb eines europäischen Kontextes ist etwa Die Klagred der wilden Holzleut (um 1545) des Dürer-Schülers Hans Leonhardt Schäufelein; online einsehbar in der Verbunddatenbank Bildindex der Kunst & Architektur, http://www.bildindex.de/ document/obj00055126 (Stand: 11.04.2017).

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Diese Ikonografie der Hottentotten hat sich im historischen Verlauf modifiziert, und zwar immer auch korrespondierend mit den jeweiligen politischen und ökonomischen Umständen sowie den Wirkungen, die diese für den europäischen Blick auf die südafrikanischen Anderen mit sich brachten. Zoe Strother (1998) beschreibt eine Veränderung in den Darstellungsweisen, die von Fremdheit zu Beginn des 16. Jahrhunderts, wie es bei Burgkmair sichtbar wird, über Wildheit und Unzivilisiertheit verläuft und mit dem Attribut der Pfeife um 1700 Konnotationen des Lethargischen und Lasziven bekommt. Bezeichnend ist, wie Strother herausarbeitet, dass diese Veränderungen auf der Ebene der Geschlechterdifferenz, nämlich am Bild des Weiblichen, ausgetragen wurden. So behält etwa

5 Hans Burgkmair: In Allago, 1508

die in dem Reisebericht von Sir Thomas Herbert aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts abgebildete männliche Figur ihre klassisch codierte Erscheinungsweise – frontal, aufrecht stehend, in Stand-Spielbein-Pose. Über die weibliche Figur hingegen werden die Hottentotten als unzivilisierte Wilde zu sehen gegeben: Sie ist dabei, die rohen Gedärme, die sie in der Hand hält, zu verschlingen, während sie gleichzeitig ihr Kind mit über die Schulter geworfener Brust stillt (Strother 1998, S. 11) (Abb. 7); Letzteres

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Bilder von Khoikhoi (und anderen) am Kap der Guten Hoffnung

6  Albrecht Dürer: Adam und Eva, 1504 7  A man and woman at the Cape of Good Hope, London 1634

ein Zeichen monströser Körperlichkeit, auf das noch zurückzukommen sein wird. Dieses geschlechterdifferente Muster setzt sich auch in dem Reisebericht von Peter Kolb fort.

Peter Kolb am Kap der Guten Hoffnung

Den historischen Reiseberichten und diesbezüglichen Forschungen nach waren die Khoikhoi und auch die San aus europäischer Perspektive besonders interessant, weil ihre Kultur, Gebräuche, Rituale und Kleidungsgewohnheiten, vereinfacht gesagt, zu fremd waren. Vor allem die durch Klick- und Schnalzlaute charakterisierte Sprache der Khoikhoi wurde von Europäern nicht ohne Weiteres als solche erkannt und anerkannt, weswegen ihr Status als Menschen in den historischen Rassisierungsdiskursen wiederholt zur Disposition gestellt worden war 13 (Strother 1998, S. 2ff.). Kolbs Reisebericht unterschied sich davon letztlich nur bedingt, wie Pratt dargelegt hat. Ihre Argumentation bezieht sich dabei nicht so sehr auf eine Korrektheit einzelner Aussagen, sondern auf das eurozentrische

13 Dass ihre Hautfarbe, im Gegensatz zu den anderen Bevölkerungsgruppen der weiteren Kap-Region, nicht schwarz sei, wurde immer wieder angemerkt.

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8  Der Hottentotten täglicher Aufzug; wie sie ihre Kinder tragen und säugen, Nürnberg 1719

Schema, nach dem Kolb das Mensch-Sein beurteile. Durch Kategorien wie Regierungsform, Religion, Wirtschaftsweise, Tierhaltung, Medizin usw., entlang derer seine Aufzeichnungen strukturiert sind, habe Kolb gezeigt, dass die Khoikhoi als menschlich im europäischen Sinn gelten konnten, insoweit sie darin einordbar waren. Dies bedeute aber keineswegs, dass sie für ihn den Europäern gleichzustellende kultivierte Wesen gewesen wären. Bewiesen habe Kolb vor allem die Gültigkeit seines angelegten Schemas, insofern all das, was dort nicht eingepasst werden konnte, all das, was dennoch fremd blieb, ignoriert oder geleugnet worden sei (Pratt 1992, S. 38–49). Oder, so kann man den Bogen zurückschlagen, insofern bestimmte kulturelle Charakteristika eben gar nicht als solche erkannt werden konnten, weil das kulturelle Gesamtgefüge, das Codierungssystem und der Wertekanon, innerhalb dessen ihnen Bedeutung zukommt, aus europäischer Perspektive gar nicht erfasst oder verstanden wurde. In Bezug auf die Abbildungen in Kolbs Bericht, zu denen Pratt nichts äußert, haben Ezio Bassani und Letitia Tedeschi gezeigt, dass diese keineswegs in der direkten Beobachtung vor Ort entstanden, sondern gleichermaßen Resultat und Teil komplexer Bilderwanderungen sind und von daher keinen in diesem Sinn dokumentarischen Wert beanspruchen können. So seien die stehenden Figuren in der Abbildung mit dem beschreibenden Titel „Der Hottentotten täglicher Aufzug; wie sie ihre Kinder tragen und säugen“ (Abb. 8) aus dem 1668 erschienenen Buch Umbständliche und Eigentliche Beschreibung von Africa des Niederländers Olfert Dapper übernommen oder beruhten auf derselben Vorlage (Bas-

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Bilder von Khoikhoi (und anderen) am Kap der Guten Hoffnung

9  Ruhende junge Hexe zur Nachtfahrt geholt, Konturkopie nach Hans Baldung Grien, o.J.

10 Andrea Palladio: Villa Forni Cerato. Relief: Flussgöttin. Kopie aus dem 20. Jahrhundert, Montecchio Precalcino, 1541/42

14 sani/Tedeschi 1990, S. 180f.). Daran anschließend lassen sich weitere, geschlechterstereotypisierende Referenzen nachvollziehen – etwa in der Reihenanordnung der Figuren, die auch an Trachten- oder Kostümbücher erinnert. Hier scheinen die stehenden Frauenfiguren zunächst lediglich das Pendant zu den männlichen Figuren zu bilden, welche hinsichtlich Pose, Kleidung und Attributen weiterhin nur insignifikant verändert sind. Dass die Darstellung der beiden Dreiergruppen vor-

14 Die Übernahme der Figuren ist in der Kolb-Illustration am offensichtlichsten erkennbar bei der männlichen Figur ganz links sowie auch der linken stehenden Figur der Frauen-Gruppe. Auch der Bildaufbau ist bei Kolb übernommen. Von Dapper selbst wiederum ist bekannt, dass er nie in Afrika war, sondern seinerseits vorhandenes Material zu einer Gesamtbeschreibung zusammenfasste, welche als ein Standardwerk der historischen Afrika-Forschung gilt.

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nehmlich dazu dienen soll, ihren „täglichen Aufzug“ vorzuführen, wird bezeichnenderweise aber durch die mittlere Figur der Frauen-Gruppe bestärkt, indem deren Rückenansicht den Hottentotten-Umhang auch von hinten anschaubar macht. Zudem wird diese Anordnung von einer zweiten kompositorischen Struktur durchkreuzt, die kunsthistorische Bildformen zitiert. In der Pfeife rauchenden und ihr Kind mit über die Schulter geworfener Brust stillenden weiblichen Figur im rechten Vordergrund überlagern sich die Zuschreibungen des Lethargischen und Unzivilisierten mit der Ikonografie des liegenden weiblichen Aktes, der 15 Nymphe oder Venus. Diese Referenz wird durch den halb zur Seite gedrehten Oberkörper und nach hinten gewendeten Kopf wiederum auch irritiert. Vergleichbare Posen zeigen etwa die Ruhende junge Hexe nach Hans Baldung Grien (Abb. 9) oder die Figur einer Flussgöttin (Abb. 10); Personifizierungen also des Wollüstigen und Sinnlichen, des Wilden und Naturhaften, über die vor allem ein voyeuristischer (männlicher) Betrachterblick thematisiert ist (Schade 1983; auch Greve 2004, S. 167). Dieser Blick wird in der Kolb-Abbildung durch eine Feminisierung des Bildraums gedoppelt und bestätigt. Die zu sehen gegebenen Hottentotten sind vor dem Hintergrund einer Meeresbucht positioniert, die zur rechten Seite hin, verdeckt durch die Frauen-Gruppe, wohl den Blick auf das offene Wasser freigeben würde. Das Kind am rechten Bildrand wirkt als Assistenzfigur, die den betrachtenden Blick gleichsam in das Bild hineinführt. Es schaut auf das ihm zugewandte Gesicht der Liegenden und weiter in die Mitte der Bildfläche: auf eine zweite, sitzende Rückenfigur, die sich halb hinter der Frauen-Gruppe 16 befindet. Diese Rückenfigur fungiert als Perspektivöffner, indem sie anstelle des Betrachters/der Betrachterin auf das Meer, in eine unbestimmte Ferne zu schauen scheint; eine Ferne, die sie zugleich auch verstellt, wodurch wiederum der Betrachterblick auf ihr deutlich markiertes Gesäß gelenkt wird. Die Körperposition der Liegenden selbst formt in ihrer imaginären Fortführung eine dazu parallele Blickachse, die zwischen den beiden Figurengruppen hindurchgeht. Auf diese Weise wird dem betrachten-

15 Neben der sprachlichen Beschreibung gibt es in Kolbs Bericht eine weitere Abbildung, die dieses Motiv zeigt. 16

Für diesen Hinweis danke ich Kathrin Heinz.

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Bilder von Khoikhoi (und anderen) am Kap der Guten Hoffnung

den Subjekt zugleich auch eine imaginäre Position neben der Rückenfigur angeboten, die ihm ein Alles-mit-eigenen-Augen-Sehen verspricht. Wie Linda Hentschel gezeigt hat, geht die Konstruktion des zentralperspektivischen Tiefenraums seit der Frühen Neuzeit mit einer spezifischen Überlagerung von Geschlecht und Raum einher; der Blick in den Bildraum artikuliert sich, als wäre er auf einen weiblichen Körper gerichtet. Sehen wird als sexuelle Technik beschreibbar, mit der ein körperloser, männlich codierter Blick den feminisierten Bildraum penetriert (Hentschel 2001). Insofern führt die Ins-Bild-Setzung bei Kolb eine, mit Hentschel gesprochen, pornotopische Technik des Betrachtens vor, die hier mit einem Bild fremder Weiblichkeit verknüpft ist, welche ihrerseits durch körperliche Zeichen des Monströsen identifizierbar gemacht wird.

Die Hottentottin als Bild monströser Weiblichkeit

Das Motiv der über die Schulter geworfenen Brust hat eine europäische Referenz in der mittelalterlichen Figur der Faengge, „a colossal ogrish wild woman with matted hair, who exuded a foul odor and had breasts so large that she had to fling them over her shoulders when she ran through the woods, was thought to kidnap and devour small children“ (Husband 17 1980, S. 5, Herv. K.B.). Die (europäische) wilde Frau ist also – und das nicht erst bei Kolb – von der Kinderfresserin zur (südafrikanischen) wilden Mutter mutiert und aus dieser Perspektive nicht länger vernichtend und bedrohlich, sondern, bei aller Unzivilisiertheit, eher als fürsorglich, eben mütterlich zu deuten. In der anonymen Zeichnung Khoikhoi Drinking from Kaross (Abb. 1) beschreibt der beigefügte handschriftliche Text, ohne direkten inhaltlichen Bezug zu den skizzierten Szenarien, die Hütten der Khoikhoi, die Kleidung von Khoi-Männern und -Frauen und berichtet, Kolb zitierend, auch über die wilde Technik des Stillens. Genau das ist jedoch weder in dieser Zeichnung noch auf den anderen Blättern zu sehen, und es bleibt unentscheidbar, in welchem Bedeutungszusammenhang diese schriftlichen Informationen zum Zu-sehen-Gegebenen stehen sollten. Dass sie aber hinzugefügt wurden, spricht zumindest für

17 Zur Verknüpfung von Weiblichkeit, dem Monströsen und dem Fremden sowie den diesbezüglichen historischen Verschiebungen vgl. Sykora 1997.

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eine Faszination, die von ihnen ausgeht, und vielleicht auch für ihre zeitgenössische Anerkennung als Wissen. Strother schreibt in Bezug auf die historischen Verschiebungen in den visuellen Darstellungen: „Khoikhoi women are never routinely eroticized, as are women from other African societies, e.g., the Zulu. […] Instead the Khoikhoi woman, although graphically sexed, is not represented as an object of desire – in the travel literature. (The liaisons at the Cape tell a different story […].) Instead, an undercurrent of resentment periodically erupts into diatribes directed at face painting, at the use of body oil, and at the body itself of the Hottentot woman.“ (Strother 1998, S. 17) Diese unterschwellige Abneigung artikuliert sich in einem Körperbild, das, wie bereits angedeutet, zunehmend durch monströse Formen gekennzeichnet ist; Formen, die aus europäischer Sicht als hässlich galten und damit den Gegenpol zu einem weißen weiblichen Schönheitsideal bildeten, dessen Inbegriff die Figur der Venus ist (Gilman 1986). Waren es zunächst übergroße Brüste, so findet nachfolgend anscheinend eine Verschiebung statt hin zur Betonung eines steatopygischen Gesäßes, für das sich in der Kolb-Abbildung retrospektiv erste visuelle Hinweise finden, und hypertrophierter Genitalien. Zum Ende des 18. Jahrhunderts hat sich der Fokus von einer wilden Mütterlichkeit zu einer Fetischisierung fremder weiblicher Sexualität verlagert. Nicht die Khoikhoi-Frau ist als erotisiertes und begehrenswertes Objekt für einen weißen männlichen Blick ins Bild gesetzt, sondern die Leugnung ebendieses (begehrenden) Blicks findet sich im Zeichen des Hässlichen – und insofern Nicht-Erotischen – verkörpert, für welches das Bild der Hottentottin eingesetzt wird. Dieses monströse Körperbild kulminiert in der Figur der Hottentotten-Venus, und hier verweist bereits die ambivalente Benennung, die das europäische Ideal weiblicher Schönheit direkt mit seiner Abweichung verknüpft, auf das grundlegende Spannungsfeld, innerhalb dessen sie verortet ist. Die Hottentotten-Venus wurde personifiziert durch die Saartjie oder Sarah Baartman genannte Khoikhoi-Frau, die zwischen 1810 und 1814 in London und Paris öffentlich zur Schau gestellt und zum anthropologischen Forschungsobjekt gemacht worden war. Das historische Interesse an ihrer Person begründete sich genau in einer so diagnostizierten Steatopygie und der Annahme übergroßer Genitalien, an der Schnittstelle zeitgenössischer europäischer Sexualisierungs- und Rassisierungsdiskurse. Beide körperlichen Charakteristika wurden als Zeichen einer degenerierten Sexualität der Hottentotten-Frau diskutiert, worüber

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Bilder von Khoikhoi (und anderen) am Kap der Guten Hoffnung

wiederum eine rassische Minderwertigkeit der Hottentotten schlechthin 18 bewiesen werden sollte (Gilman 1986).

Der weibliche Akt als Repräsentation des Kolonialen

In den Zeichnungen des unbekannten Künstlers sind monströse Körper, oder genauer: Körper, die als solche gelesen werden können, nicht zu sehen. Stattdessen findet sich im Zentrum des mit Khoikhoi Women & Dutch Colonist (Abb. 2) betitelten Blattes die Figur einer Khoikhoi-Frau, die in der Konvention des weiblichen Aktes dargestellt und als Objekt des Begehrens für einen voyeuristischen Blick präsentiert ist. Mit ihren durchgezeichneten Formen tritt sie nahezu aus der Bildfläche hervor. Frontal zum Betrachter positioniert, den Kopf leicht zur Seite gewendet, wird sie zu sehen gegeben und scheint zugleich sich selbst zu zeigen. In der Art, wie sie ihren Umhang hält, artikuliert sich ein unentscheidbarer Moment des Umlegens oder Ablegens, des Verhüllens oder Enthüllens des Körpers. Diese Ambivalenz wird durch eine weitere weibliche Khoikhoi-Figur gedoppelt, die in einer um 45 Grad gedrehten Ansicht rechts neben ihr skizziert ist – womit zugleich auch mehr zu sehen gegeben wird. Auf der linken Seite wirkt die bereits erwähnte niederländische Kolonistin mit ihrem differenten Äußeren einerseits als Gegenfigur dazu; andererseits spiegelt oder doppelt ihre Pose aber auch die der Khoikhoi-Frau auf der rechten Seite, wobei deren ausladende Armgeste gewissermaßen durch das koloniale Machtzeichen des Kruges ersetzt ist. So sind diese drei Figuren über ihre äußere Erscheinung und ihre Posen hinsichtlich der Kennzeichnung ihrer kulturellen Zugehörigkeit einerseits ausdifferenziert und andererseits fließen sie auch ineinander. Obwohl es sich um ein Skizzenblatt mit mehreren Einzelstudien handelt, erscheint es als bildmäßige Komposition. Durch die Aufteilung in zwei Figurengruppen und die Einfügung des anderen Subjekts der niederländischen Kolonistin wird es auch lesbar als eine Gegenüberstellung

18 Für seine konkrete analytische Perspektive und Argumentation, die von feministischen Wissenschaftlerinnen mehrfach übernommen worden ist, wurde Gilman verschiedentlich als essenzialistisch und ahistorisch kritisiert; zudem wurde ihm psychologischer Determinismus vorgeworfen; vgl. u.a. Bal 1996, Magubane 2001. Zur Auseinandersetzung mit der Figur der Hottentotten-Venus als Frage nach den visuellen Migrationen vgl. zuletzt Brandes 2013.

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Kerstin Brandes 19 von kolonialer und vor- oder nichtkolonialer Situation , die jeweils über das Bild des Weiblichen repräsentiert werden und welche beide, wie gerade deutlich wurde, nicht ungebrochen sind. Die weibliche Khoikhoi-Figur dazwischen markiert die Trennung dieser beiden Szenen oder Situationen und zugleich deren Verbindung. Wenn der weibliche Akt „der paradigmatische Ort [ist], der die Abgrenzungsdiskurse zwischen Kunst und Pornographie verkörpert“ (Hentschel 2001, S. 53), so überlagert sich diese Funktion hier mit seiner Repräsentation als Verkörperung des Kolonialen.

Transkulturelle Bilderrepertoires

Sowohl in der Kolb-Illustration Der Hottentotten täglicher Aufzug; wie sie ihre Kinder tragen und säugen (Abb. 8) als auch in der anonymen Zeichnung Khoikhoi Women & Dutch Colonist (Abb. 2) greifen unterschiedliche Bild- und Blickstrukturen ineinander, die, so scheint es, nicht unerheblich an dem Versprechen eines Realistischen beteiligt sind. Hier wie dort geschieht das maßgeblich über die Inszenierung des Weiblichen. Bei Kolb wird die – wenn man so will – dokumentarisch konnotierte, horizontale Reihung der Figuren durch eine tiefenperspektivisch angelegte Achse durchbrochen, die das Wilde in die Muster des zeitgenössischen Kunstdiskurses integriert und auf diese Weise gewissermaßen zähmt, zugänglich macht. In der anonymen Zeichnung haben wir es mit einer perspektivischen Zentralisierung zu tun, die wesentlich den unterschiedlichen Darstellungsweisen der bildmittig platzierten Einzelfigur und der beiden Figurengruppen geschuldet ist, worüber auch der Eindruck von Vorder- und Hintergrund entsteht. Die proklamierte realistische – oder, wenn man so will, dokumentarische – Wirkung resultiert dabei nicht so sehr aus einem etwaigen detailgetreuen Äußeren, welches der direkten Anschauung durch das künstlerische Auge zu verdanken ist. Vielmehr ergibt sie sich daraus, dass die Bildherstellung selbst, das Bild-Werden vorstellbar und insofern sichtbar wird über den medialen Eindruck des Skizzierten, noch Unfertigen, der sich als zeichnerische Geste vermittelt. Die Spur des Zeichenstifts, der Feder, des Pinsels wird zum Verweis auf die Anwesenheit des Zeichners und, vor allem, wenn man den Fundort der Zeichnungen einbezieht, zum (nachträglichen) Beweis, dass er da/dort

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Wobei Letztere selbstverständlich nur retrospektiv als solche benennbar ist.

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Bilder von Khoikhoi (und anderen) am Kap der Guten Hoffnung 20 gewesen ist. Diese indexikalische Qualität der Zeichnungen dominiert hinsichtlich einer realistisch gedeuteten Wirkung über die auch medial bedingte Starre, die sich in der Kolb-Abbildung vermittelt. Die vergleichsweise durchmodellierte Präsenz der zentralen Einzelfigur wird damit lesbar als Sichtbarmachung des Zeichenakts selbst, auch hinsichtlich seiner zeitlichen Dimension, seiner Dauer, die wiederum die Artikulation eines voyeuristischen Blicks mit generiert hat. Während die Aktdarstellung den betrachtenden Blick auf sich zieht und in ihrer gewissermaßen nun zweifachen allegorischen Bedeutung – des Kolonialen und der Zeichnung – den zeitgenössischen Kunstdiskurs aufruft, wirken die übrigen Figuren im Gegensatz dazu weder einem solchen Blick ausgesetzt noch scheinen sie sich dem Betrachter, dem Zeichner explizit zu präsentieren. Suggeriert wird vielmehr ein Blick aus der Nähe, der aber auf Distanz bleibt, der nicht zu nahe kommt; ein beobachtend teilnehmender – und retrospektiv vielleicht als ethnografisch definierbarer – Blick, der ein korrektes Bild verspricht. Beide Linien sind eingebettet und wirken zusammen in dem einheitlichen Stil der Darstellung. Das Versprechen des Realistischen entsteht letztendlich nicht trotz, sondern gerade wegen der erkennbaren Tradition der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts. Wir stehen also vor dem Befund, dass die anonymen Zeichnungen von einem Bild sprechen, dessen Ähnlichkeit von einem Medienverbund garantiert wird, einem Verbund, in dem die illustrierten Reiseberichte, die zeitgenössische Kunst, die Geschichte der Aktdarstel21 lung u.a. die Muster liefern.

20 Damit erklärt sich auch, warum die anonymen Zeichnungen insgesamt mit der erst 150 Jahre später erfundenen Fotografie verglichen wurden: „The immediacy of the drawings and subject matter may be considered as ‚camera shots’ of events and people that delighted the artist.“ (Smith 1993, S. 20) 21 Diese Formulierung paraphrasiert, was Sigrid Schade in Bezug auf Fotografie herausgearbeitet hat: „Wir stehen also vor dem Befund, daß die Fotografien von einem Bild sprechen, dessen Ähnlichkeit von einem Medienverbund garantiert wird, einem Verbund, in dem nicht nur das traditionelle Adelsportrait, sondern auch das Theater, die Psychiatrie, die Werbung u.a. die Muster liefern.“ (Schade 1996, S. 75)

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Kerstin Brandes

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Abbildungsnachweis Abb. 1: Khoikhoi 1993, Plate 7, S. 36. Abb. 2 : Khoikhoi 1993, Plate 5, S. 33. Abb. 3: Bernt, Walther: Die Niederländischen Zeichner des 17. Jahrhunderts. Zwei Bände mit 705 Abbildungen, München: Bruckmann 1958, Bd. 2, Abb. 382. Abb. 4: Aillaud, Gilles; Albert Blankert; John Michael Montias: Vermeer, Genf: Weber 1987, Tafel VIII (Kat. 7), S. 99; PID: halle_kg-caf57f634a11b76f87c044a044b91e2041f1cd25; http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/ show/halle_kg-caf57f634a11b76f87c044a044b91e2041f1cd25 (zuletzt 12.06.2017). Abb. 5: Lindfors, Bernth (Hg.): Africans on Stage: Studies in Ethnological Show Business, Bloomington: Indiana University Press 1998, Fig. 1.1., S. 5. Abb. 6: Ausst.-Kat. Orte der Sehnsucht, Regensburg: Schnell und Steiner 2008, Abb. 14, S. 85; PID: artemis-199bfff411a08f6d0bdc7f12711fc4c14776434c; http://

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Kerstin Brandes prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/show/artemis-199bfff411a08f6d0bdc7f12711fc4c14776434c (zuletzt 12.06.2017). Abb. 7: Lindfors, Bernth (Hg.): Africans on Stage: Studies in Ethnological Show Business, Bloomington: Indiana University Press 1998, Fig. 1.4., S. 10. Abb. 8: Kolb, Peter: Caput Bonae Spei hodiernum. Reise zum Vorgebirge der Guten Hoffnung; bearbeitet von Dr. Paul Germann, 2. Auflage, Leipzig: F.A. Brockhaus 1926, S. 80/81 (Einschaltbild). Abb. 9: Schade 1983, Abb. 35, S. 92.  Abb. 10: Marton, Pablo; Thomas Pape; Manfred Wundram, Andrea Palladio 1508-1580. Architekt zwischen Renaissance und Barock, Köln: Taschen 1988, S. 30; PID: digidianeu-4106e45d8fae378b75c647d1feff9f879d63e3b8; http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/ show/digidianeu-4106e45d8fae378b75c647d1feff9f879d63e3b8 (zuletzt 15.09.2016).

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Griselda Pollock

Feministische Konzepte für die Geschichten der Kunst. Raffael nach der Shoah im virtuellen feministischen Museum – eine Fallstudie Für Sigrid und ihr feministisches Projekt mit Aby Warburg

Das feministische Denken hat seit den 1970er Jahren die Logik des kunstgeschichtlichen Wissens herausgefordert. Es hat möglicherweise den Diskurs der Kunstgeschichte gesprengt, ohne die Praxis der historisch-kritischen Untersuchung von Herstellung und Interpretation künstlerischer Praxen und ihrer Objekte aufzugeben. Meine eigene Praxis in der Geschichte der Kunst (als Feld) und gegen die „Kunstgeschichte“ (als der diskursiven Formation, die Rozsika Parker und ich in Old Mistresses: Women, Art & Ideology [2013] beschrieben haben) besteht seit 40 Jahren darin, neue „Konzepte“ zu entwickeln, mit denen die Geschichten der Kunst, wie ich seit 1988 im Plural formuliere (vgl. Pollock 2003), neu gedacht und somit auch neu analysiert werden können. Mein Verständnis von Konzept als Alternative zur Theorie ist von Mieke Bals Travelling Concepts inspiriert (Bal 2002). In diesem Buch argumentiert Bal, dass Kulturanalyse frei auf Konzepte zugreift, die aus unterschiedlichen theoretischen Feldern und Quellen stammen und „reisend“ zu methodischen Werkzeugen überall in den Geisteswissenschaften werden. Bal widmet sich dem Konzept selbst, als Konzept, und analysiert dann die Konzepte Bild, Mise en Scène, Rahmung, Performanz und Performativität, Tradition, Intention und Kritische Intimität. Ihre theoretische Heimat hinter sich lassend, bringen

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diese reisenden Konzepte einen transdisziplinären Raum hervor, der nicht länger von einzelnen theoretischen Ansätzen wie dem Strukturalismus oder dem Marxismus begrenzt ist, sondern durch die konzeptuelle Erneuerung kreativ geformt wird. Bals Denken mit Konzepten statt mit Theorien hat mir im Nachhinein ermöglicht, den spezifischen Charakter meines eigenen intellektuellen Projekts der feministischen Kulturanalyse zu begreifen. Wie sehr ich auch von Marxismus, Psychoanalyse, Semiotik und Literatur- und Filmtheorie geprägt war, habe ich eigentlich Konzepte erfunden, um jene Aspekte anzusprechen, die feministisches Denken und feministische Praxis im Nachdenken über kulturelle Formen und Praxen und in ihrer Analyse aufzeigen. Die Titel meiner Bücher kartieren diese konzeptuelle Landschaft des feministischen Denkens: Old Mistresses, Vision and Difference, Gender and the Colour of Art History, Generations and Geographies, Differencing the Canon, The Virtual Feminist Museum, Art as Compassion, Trauma and Aesthetic Transformation. Diese neuen Denkansätze bringen auch neue Fragen hervor. Wenn wir neue konzeptuelle Räume erschaffen und jene Logik nicht mehr akzeptieren, mit der das Paradigma der linearen historischen Entwicklung und das Studium der ikonografischen Themen die akademische Kunstgeschichte und das Kunstmuseum strukturiert haben, mit welcher Logik lassen sich ihre Elemente dann verbinden und zusammendenken? Zurzeit arbeite ich mit dem Konzept des Virtuellen Feministischen Museums (VFM). Virtuell steht hier nicht im kybernetischen, sondern im philosophischen Sinn. Der Feminismus ist virtuell, weil er ein kommender ist. Im Sinne von Deleuze würde ich also argumentieren, dass wir feministisch werden: Feminismus ist work in progress, ist Arbeit und Prozess. Ich möchte hier eine Installation für mein Virtuelles Feministisches Museum vorschlagen und analysieren, als Fallstudie einer Logik, die eine Form von Kritik ist, eine Form der feministischen Unvernunft. Ich lade die Leser_innen ein, neue Logiken der Verknüpfung zwischen den Werken und Texten zu erforschen, die in der virtuellen Ausstellung „gezeigt“ werden. Wie können wir ein neues Verstehen hervorbringen, das die Kunst nicht in ihrer kunstgeschichtlichen Vergangenheit einschließt und dennoch auf ihrer historischen Grundlage besteht? Durch das Zurückweisen der disziplinären Grenzen kann man das Feld, das einmal die Kunstgeschichte war, neu beleben und die Performativität neuer Formen untersuchen, die das kritische Denken und die affektive Transformation der Leser_innen zusammenbringen. Das Virtuelle Feministische Museum behandelt nicht

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Kunst oder Geschichte als Objekt, sondern ist selbst eine Form der experimentellen Arbeit mit Ästhetik und Zeitlichkeiten – und mit neuen Konzepten, die aus der Kunst selbst entstehen.

I

Im Zentrum der von mir vorgeschlagenen Installation im VFM steht ein kanonisches Werk der italienischen Hochrenaissance, die Sixtinische Madonna von Raffael (1483–1520), im Jahr 1512 von Papst Julius II. in Auftrag gegeben. Im Jahr 2012 gab es zu Ehren seines 500-jährigen Jubiläums eine Sonderausstellung in Dresden. Gezeigt wurden alle Dokumente, die mit der Entstehung und den Reisen des Werkes zu tun haben, wie auch mit der wachsenden Berühmtheit, die es durch den Umzug von Piacenza nach Dresden im 18. Jahrhundert erlangte (vgl. Henning/Schmidt 2012). Der Kurfürst von Sachsen kaufte die Sixtinische Madonna um 1753 von den Mönchen in Piacenza. Es war das einzige Werk Raffaels in ganz Deutschland, sozusagen der deutsche Raffael. Generationen von Schriftsteller_innen, Musiker_innen, Philosoph_innen und Künstler_innen haben es in Dresden ehrfürchtig bestaunt. Obwohl es als tief katholisches Marienbild entstanden ist, wurde es im protestantischen Sachsen als klassisches Werk der italienischen Hochrenaissance bewundert. Später wurde es zu einem Prüfstein der romantischen Idee der geistigen Erleuchtung durch die Kunst. Goethe sang davon, Wagner reiste zu regelmäßigen Betrachtungen, Nietzsche schrieb darüber, Prinzessin Auguste von Hessen-Kassel fertigte eine Kopie davon. Die englische Schriftstellerin George Eliot besuchte Dresden im Jahr 1854 und notierte über ihre Begegnung mit dem Gemälde: „Three mornings a week we went to the picture gallery from twelve to one. The first day we went was on a Sunday when there was always a crowd in the Madonna Cabinet. I sat down on the sofa opposite the picture for an instance: but a sort of awe, as if I were suddenly in the living presence of some glorious being, made my heart swell too much for me to remain comfortably, and we hurried out of the room.“ (Eliot 2010, S. 47) Sigmund Freud schrieb nach einem Besuch der Dresdener Galerie im Jahr 1883 in einem Brief an Martha Bernays, dass er in Raffaels Jungfrau nur ein 1 16-jähriges Kindermädchen erkennen könne – doch das Gemälde sollte

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später noch eine Rolle in seinem Werk spielen, denn es ist eben jenes Bild, vor dem eine gewisse Ida Bauer, die der psychoanalytischen Literatur als „Dora“ bekannt ist, zwei Stunden lang völlig verzückt gesessen hatte. Ich muss etwas beichten. Ich habe diese Ehrfurcht oder Faszination nie nachfühlen können, ich habe Raffael nie wirklich verstanden – möglicherweise ein beunruhigendes Eingeständnis für eine ernsthafte Kunsthistorikerin. Meine Reise zu seinem Werk ergab sich aus meiner durch Aby Warburg inspirierten Forschung zu Geste und Bild und wurde zum Teil notwendig durch meine Forschung zur Arbeit der zeitgenössischen israelisch-britischen Künstlerin Bracha L. Ettinger (geb. 1948). Während meiner langen Auseinandersetzung mit ihrer Arbeit und deren Korrespondenz mit Emmanuel Levinas (1906–1995) bin ich auf einen Text des sowjetischen Schriftstellers und Journalisten Wassili Grossman (1905–1964) über die Sixtinische Madonna gestoßen. Zwei Aspekte verbinden meine Studie zur Faszination für Raffael mit Ettinger, Levinas und Grossman. Der erste ist die These, dass durch die Geschichte der westlichen Kunst, die seit dem Ende des Römischen Reiches hegemonial christlich war, ein Riss geht, der durch die Katastrophen des Totalitarismus und des Genozids in der Mitte des 20. Jahrhunderts bedingt ist. Die Geschichte der westlichen Kunst wurde nicht durch eine neue Logik zeitgenössischer Kunst beendet, wie es Hans Belting vorschlägt, sondern sie wurde traumatisch zerrissen durch die politischen Ereignisse. Diese Ereignisse waren so einschneidend in ihrer Gewalttätigkeit gegenüber Körpern, Personen und Gesellschaften, dass die idealisierten Figuren von Leiden und Auferstehung, die durch ein christliches Imaginäres von Opfer und Erlösung getragen wurden, auf der anderen Seite dieser Lücke in der Geschichte zurückblieben, die von den totalitären Experimenten gerissen wurde, welche die Bedingungen von menschlichem Leben und Tod grundlegend änderten. Zu dieser ersten These kommt noch eine zweite. Durch die Auswirkungen dieses Bruchs für die Geschichte der Menschheit tritt die Figur von Mutter und Kind nun, vor der Frage von Tod und Leben, in einer neuen philosophischen und politischen Bedeutung hervor. Was ich also fragen möchte: Wenn das Gemälde von Raffael diesen entscheidenden Bruch in der Geschichte der Menschheit und der Kunst zwar physisch überlebt hat, ist es nach 1945 auch noch dasselbe Gemälde? Aus einer literarischen Studie des durch Zeit und Raum gereisten Bildes, die der russische Schriftsteller und Journalist Wassili Grossman im Jahr 1955 geschrieben hat, lässt sich, wie ich vorschlagen möchte, eine

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Feministische Konzepte für die Geschichten der Kunst

theoretische Verbindung zu der feministischen Auseinandersetzung mit diesem Bruch in der Geschichte gewinnen. Dies führt mich zu dem von Ettinger vorgeschlagenen Konzept von Kunst als Transport-Station für Trauma (Ettinger 2000; vgl. Pollock 2013). Im Zentrum dieser Auseinandersetzung steht das Problem des Diskurses der Mütterlichkeit in unserer post-totalitären Zeit; problematisch auch für das feministische Denken, das dem Mütterlichen gegenüber zutiefst ambivalent ist. Wenn es uns aber gelingt, Raffaels Bild nicht als „Bild von Mutter und Kind“, sondern im 2 Sinne Warburgs als Pathosformel zu verstehen, hört die Sixtinische Madonna auf, eine ikonische Materialisierung entweder der Marientheologie oder des Genies eines Raffael zu sein. Das Bild kann zu einem Raum für Fragen werden, wie ihn etwa die französisch-bulgarische Literaturtheoretikerin Julia Kristeva als „Zeit der Frauen“ gedacht hat: die monumentale Zeit der Vermittlung zwischen Körper und Bedeutung, für die das Mütterliche und das Kind als Signifikanten stehen, die viel älter und viel aufgeladener sind als ihre nachträgliche Aneignung durch moderne bürgerliche Gesellschaften und ihre Ideologie der Häuslichkeit und Mütterlichkeit (vgl. Kristeva 1981; vgl. Pollock/Turvey-Sauron 2007). Als die Rote Armee 1944/45 nach Deutschland kam, wurde Raffaels Gemälde als Trophäe aus Dresden mitgenommen. Im Jahr 1955 sollte es schließlich an seinen deutschen Heimatort zurückkehren. Vor der Rückgabe wurde es im Puschkin-Museum in Moskau ausgestellt. So können wir nun den sowjetisch-jüdischen Schriftsteller begleiten, der die Schlacht um Stalingrad gesehen hatte und mit der Roten Armee bis nach Berlin gekommen war, jenen Wassili Grossman, der am 30. Mai 1955 das Museum betrat, um das weltberühmte Gemälde zu sehen. Als er über seine Begegnung schreibt, nennt auch er das Gemälde „unsterblich“, aber er führt diese Aussage weiter aus: „Ich verstand, dass ich bis zu dem Moment, da ich die Sixtinische Madonna sah, das in seiner Stärke ungeheuerliche Wort ‚Unsterblichkeit‘ leichtfertig verwendet, das mächtige Leben einiger besonders großer menschlicher Werke mit Unsterblichkeit verwechselt hatte. Und voller Hochachtung für Rembrandt, Beethoven, Tolstoi verstand ich, dass von allem, was mit Pinsel, dem Meißel, der Feder geschaffen worden war und mein Herz, meinen Verstand erschüttert hatte – allein dieses Gemälde von Raffael nicht sterben würde, solange die Menschen

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leben. Aber es kann auch sein, dass, wenn die Menschen einmal aussterben, dann andere Lebewesen, die an ihrer statt auf Erden bleiben – Wölfe, Ratten und Bären, Schwalben –, angelaufen und angeflogen kommen und sich die Madonna ansehen werden.“ (Grossman 2009, S. 119f.) Grossmans Wertschätzung für das genial gemachte visuelle Bekenntnis zur Marientheologie beruht nicht auf einer Verehrung der Jungfrau Maria. Als atheistischer jüdischer Sowjetbürger, identifiziert mit dem sozialistischen Staat, erkennt er stattdessen in Raffaels Gemälde die Essenz der „eng mit dem irdischen Leben vernüpft[en]“, „demokratisch[en], menschlich[en]“ (ebd., S. 121) Schönheit, die jeder Frau zu eigen ist. „Sie ist die Seele und der menschliche Spiegel, und jeder, der die Madonna betrachtet, sieht in ihr das Menschliche – sie ist ein Bild der mütterlichen Seele […]. Mir scheint, dass diese Madonna der atheistischste Ausdruck des Lebens ist, des Menschlichen, ohne dass ein Gott daran Anteil hätte.“ (Ebd.) Dann widmet sich Grossman dem bangen Kind in Vorahnung seines zukünftigen Todes. Das Kind wird ebenfalls zu einer Figur der Verletzlichkeit der Jugend im 20. Jahrhundert: „Es gibt bittere und schwere Minuten, in denen es gerade die Kinder sind, die die Erwachsenen mit ihrer Vernunft, Ruhe, Versöhnlichkeit erstaunen. Eine solche Haltung legten sowohl Bauernkinder an den Tag, die in einem Jahr des Hungers und der Missernte starben, als auch jüdische Krämer- und Handwerkerkinder zu Zeiten des Pogroms von Kischinjow oder Kinder von Bergleuten, wenn das Geheule der Grubensirene eine unterirdische Explosion anzeigte und die Siedlung dabei war, den Verstand zu verlieren. Das Menschliche am Menschen tritt seinem Schicksal entgegen, und in jeder Epoche ist dieses Schicksal anders, unterscheidet sich von dem der vorangegangenen. Immer jedoch handelt es sich um ein schweres Schicksal.“ (Ebd., S. 123) Aber Grossman fügt an: „Die Madonna mit dem Kind auf dem Arm steht für das Menschliche am Menschen, darin liegt ihre Unsterblichkeit.“ Um es deutlich zu machen: Grossman sagt damit nicht, dass Raffaels Bild außerhalb der Zeit stünde oder dass es eine universelle menschliche Erfahrung gäbe. Er deutet aber an, dass es in diesem Gemälde eine Figuration der menschlichen Zeit gibt, die uns ein Bewusstsein unserer Unterworfenheit unter historische Umstände und Ereignisse vermittelt. Durch alle sich ändernden historischen Herausforderungen und Leiden hinweg kann ein Bild immer den Eindruck der jeweiligen Zeit tragen. Wie ist das möglich? Das Gemälde macht eine menschliche Verfasstheit sichtbar und spiegelt sie uns in Form eines Bildes zurück. Diese Verfasstheit besteht aus der konzep-

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tuellen Verbindung von mütterlicher Verletzlichkeit und Empfänglichkeit mit kindlichem Mitgefühl und Bestimmtheit, die wir, so fürchte ich, in unserer modernen bürgerlichen Kultur derart gezähmt und sentimentalisiert haben, dass wir ihre tiefere und symbolische Bedeutung gar nicht mehr hören oder sehen können. Die beiden Aspekte der Verbindung haben vorübergehend Gestalt angenommen in ihrer christlichen Form als Madonna mit Kind. Mutter und Kind sind (im metaphorischen Sinn) die Figuren der symbolischen und der traumatischen Begegnung mit Leben und Tod, mit Sterblichkeit und Verletzlichkeit. Übermäßig gebraucht in Gräuelbildern der zeitgenössischen Medien, von Wohltätigkeitsorganisationen benutzt, um Spenden für die Hungernden oder Geflüchteten einzuwerben, ikonisch verwendet, um vom Grauen der Shoah abzulenken, können wir die wahre Obszönität von hungernder Mutter und sterbendem Kind, von einer Frau, die ihr Kind sterben sieht, nicht mehr wahrnehmen, und sie berührt uns nicht mehr in der Weise, wie sie Grossman in der Mitte des 20. Jahrhunderts berührte. Er war Zeuge sowohl des völkermordenden Faschismus als auch des langjährigen stalinistischen Totalitarismus. Ich möchte Warburgs Konzept aufgreifen und übersetzen, um zu zeigen, dass Grossmans Deutung dieses Renaissancegemäldes, dem er nach 1945 und nach 1953 (Stalins Todesjahr) begegnete, die Verbindung von besorgter junger Mutter und bedrohtem kleinen Kind in eine neue Pathosformel verwandelt – auf der anderen Seite des historischen Bruchs und dieser beiden Ereignisse. Aber wie? Hannah Arendt hat gezeigt, wie der Totalitarismus die conditio humana angreift, und das menschliche Leben im wesentlichsten Sinn (vgl. Arendt 1960). Der Totalitarismus unternimmt die Zerstörung der wesentlichsten Züge der conditio humana: Natalität und Pluralität. Natalität steht für den Neubeginn der Menschheit mit jedem neuen Leben, sie führt in ihrer Spontaneität und Unvorhersehbarkeit zur Pluralität. Das Mütterliche muss daher, mit Arendt gesagt, außerhalb und jenseits der bürgerlichen Vorstellung der domestizierten Frau, der pflichtschuldigen Ehefrau oder der erschöpften Kindergebärerin verstanden werden. Auf der Ebene dessen, was Kristeva als „monumentale Zeit“ formuliert hat und Ettinger als das „Matrixiale“, ist die Mütterlichkeit jenes Subjekt, das neues Leben, Neu-Sein, vermacht, und sie ist jene, die neues Leben nicht nur erschaffen, sondern auch erhalten will, um selbst neben dem von ihr zum Leben verführten Leben zu leben (vgl. Kristeva 1981; Ettinger 2006a). Grossman löst Raffaels italienisch-katholische Darstellung einer

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Mutter in der bangen Gewissheit, dass ihr Kind zum Sterben geboren ist, aus politischen Motiven aus ihrem ursprünglich theologischen Rahmen heraus. Für Grossman als politischen Beobachter seines eigenen Jahrhunderts ist dieses Zum-Sterben-geboren-Sein zur gesellschaftlichen Realität geworden, einer grausamen Realität, die von politischen und ökonomischen Systemen erzeugt wird. Grossman schreibt den Antlitzen von Raffaels bäuerlicher Mutter und unruhigem Kind den Schrecken und das Trauma der Moderne des 20. Jahrhunderts ein – einer Moderne, die menschliches Leben politischer Auslöschung preisgegeben hat. So enden sein Besuch in der Kunstgalerie und die Meditation, zu der die Betrachtung des Gemäldes den Anlass gegeben hatte. Der zweite Teil des Essays führt uns mit Grossman auf die Straße, auf die er in einem Zustand emotionaler Verwirrung hinaustritt. Ist der heftige Effekt der Begegnung mit dem Gemälde zu vergleichen mit dem emotionalen Effekt, Tolstoi zu lesen oder Beethoven zu hören? Nein. Er erklärt, „dass der Anblick der jungen Mutter mit dem Kind auf dem Arm sich für mich nicht mit einem Buch und nicht mit Musik verband, sondern mit […] Treblinka“ (Grossman 2009, S. 124). Als ich in dem Essay-Band, aus dem ich hier zitiere, zurückblättere, stelle ich schockiert fest, das der vorhergehende Essay einer der quälendsten und historisch bedeutsamsten Augenzeugenberichte aus Treblinka ist, einer der ersten seltenen Berichte, lange bevor Lanzmann und sein Team in Polen ankamen (Lanzmann 1986), von Gesprächen mit Überlebenden und anderen Zeug_innen des Vernichtungslagers, als die Spuren der Ereignisse in ihren Gedächtnissen und Körpern noch frisch waren. Grossman war Kriegsberichterstatter. Sein Essay von 30 Seiten, mit Skizzen, die nach Beschreibungen entkommener Mitglieder des Sonderkommandos gemacht wurden, heißt Die Hölle von Treblinka (Grossman 1946). Der Bezug auf diese historischen Umstände durchdringt plötzlich das jahrhundertelange Lob des Gemäldes. Wenn ich diese beiden Essays zusammenbringe, kann ich zeigen, wie Grossmans Schreiben die Antlitze der jungen Mutter und des Kindes verändert. Sie sind nicht länger theologisch, sondern werden historisch, sie finden Nachhall in der Zeit des Politischen. Durch die Analogie des Vernichtungslagers sind sie für immer verwandelt. Grossmans Darstellung von Raffaels Wiedergabe der christlichen Bildsprache im 16. Jahrhundert schreibt weder deren christliche Deutung noch ihre Ikonografie fort. In seiner Sprache vollzieht er eine Bewegung, die dieses besondere Gemälde einer jungen Frau mit ihrem

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kleinen Sohn in die Geschichte des 20. Jahrhunderts transportiert, in die Geschichte der politischen und industriellen Traumata: als das Ringen um Leben und Kontinuität im Angesicht ihrer Missachtung. Grossman sah nicht die Madonna mit Kind, die Raffael dargestellt hatte, sondern das Bild einer jungen Frau in ungewisser Erwartung dessen, was da kommen möge, und das eines kleinen Jungen, der schon weiß, dass eine düstere Zukunft auf ihn wartet. So sieht er in dem Gesicht nicht mütterliche Gleichmut und auch nicht die Melancholie, die Kristeva in Bellinis entrückten Madonnen entdeckt. Die Gesichter vermitteln Ungewissheit und Erwartung mit Würde und Pathos. Grossmans Text vollzieht und verzeichnet auf diese Weise einen Bruch mit all den Erlösungsversprechen, die seit der christlichen Aneignung des altägyptischen Mutter-Sohn-Paares (Isis und Horus) mit der Opferung des Kindes verbunden sind. Das Ziel ist, uns mit einer Welt zu konfrontieren, die keine Erlösung kennt. Sein Schreiben sieht Gesellschaften ins Gesicht, die das sakrale Opfer ablehnen, aber einem (anti-)politischen Bösen gegenüberstehen, welches Formen von massenhaftem Tod und Leid (Hunger und Genozid) erzeugt hat, die nicht sakralisierbar sind. Grossmans Text wird so, durch seine Kontextualisierung, zu einem Kommentar zu den politischen Systemen, 3 die das nackte, „bloße Leben“ , vita nuda (vgl. Agamben 2002), preisgeben: Ein Leben ohne Kontinuität, ohne die komplexe Verhandlung von Zeitlichkeit und Selbst, die dem Bild der jungen Mutter, die das Kind noch hält, und des kleinen Kindes im Moment seiner Loslösung eingeschrieben sind.

II

Grossmanns Weg als Kriegsberichterstatter, der mit der Roten Armee westwärts zog, führte ihn auch zu den Schrecken von Treblinka. Er kam durch die Ukraine, wo spezielle Tötungskommandos der deutschen Armee und ihre ukrainischen Söldner systematisch die gesamte jüdische Bevölkerung erschossen hatten, Dorf für Dorf, Tausende am Tag. Grossman erreichte seine Heimatstadt Berdichev, ohne davon zu wissen. Von den 30.000 jüdischen Bewohner_innen war niemand mehr am Leben. Er erfuhr hier von den Umständen des Todes seiner eigenen Mutter durch betrunkene

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Mörderbanden, welche die im Ghetto zusammengetriebenen jüdischen Bewohner_innen täglich in kleinen Gruppen erschossen hatten. In Grossmans monumentalem Roman über diese Zeit, Leben und Schicksal, gibt es einen fiktionalen Brief der Figur, die für die ermordete Mutter des Autors steht. Der Roman wurde 1960 fertiggestellt, von den sowjetischen Autoritäten zunächst beschlagnahmt und schließlich 1980 im Westen veröffentlicht. Levinas’ Denken über Mitleid, Ethik und das Antlitz ist von diesem Roman inspiriert und auch besessen. In dem Brief-Kapitel legt Grossman ein fiktives Zeugnis ab von dem Ereignis, das er selbst nur noch als traumatische, entsetzliche Abwesenheit wahrnehmen konnte. Sein Text markiert den Ort seines Traumas, der zu frühen und unüberwindbaren Trennung des Sohns von der Mutter. Als Schriftsteller gibt er der Stimme seiner Mutter einen Raum, sie spricht zu ihm, dem überlebenden Sohn, und kann so sowohl ihre unerschöpfliche Liebe zu ihm beteuern als auch die Qualen ihres einsamen Todes benennen. Sein Schreiben zeugt auch von dem nicht linderbaren Schuldgefühl eines Sohns, der seine Mutter nicht vor ihrem entsetzlichen Schicksal gerettet hat. Grossmans Einfall, in der Stimme einer Mutter einen Brief an einen Sohn zu schreiben, spiegelt Raffaels Paar und kehrt es um. Er erfindet dabei ein neues historisches Bild, das der sprechenden Mutter, die ihrem tödlichen Schicksal entgegentritt. Grossman dreht hier die Figuration der Sixtinischen Madonna, der beschützenden Mutter, deren Sohn sterben muss, um. Gleichzeitig verwandelt sein Schreiben diese Mutter in eine Art Eurydike-Figur: Auf der Schwelle ihres eigenen unvorstellbaren Todes bleibt sie stehen, um Worte von unerträglichem Pathos zu sprechen. Als Sohn war Grossman gezwungen, um seine Mutter zu trauern, die einer politischen Entwicklung zum Opfer gefallen war, die das Töten von Frauen und Kindern zu ihrem Prinzip gemacht hatte. Der Genozid hat eine Geschlechterpolitik. Frauen tragen die Saat für die Zukunft des Volks; daher wurden erwachsene Frauen und Kinder massenhaft ermor4 det. Dies ist das düstere Prinzip des Genozids und seines Horrorismus (Cavarero 2011). Im Medium des Romans stellt Grossman das Sterben seiner Mutter noch in einer zweiten, etwas verschobenen Szene dar, wenn er es als Stille am Ende des imaginären Briefes erscheinen lässt, nachdem die Mutter

4 Cavarero entwickelt den Begriff „horrorism“ in Abgrenzung zu „terrorism“ als Konzept von Gewalt gegen Hilflose, die besonders auch geschlechtlich kodiert ist (A. d. Hg.).

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ihren Sohn anspornt: „Lebe! Lebe! Lebe!“ Er überträgt dieses schweigende Sterben auf jene andere Art, schweigend zu sterben, in der Gaskammer, mit der er in Zeugenberichten konfrontiert war, als er 1944 mit den Überlebenden des Aufstandes von Treblinka sprach. Er erschafft im Roman die Figur Sofja Ossipowna, eine Frau, die wie seine Mutter Ärztin ist. Sofja Ossipowna wird ins Vernichtungslager deportiert. Während des Transports nimmt sie sich eines verlassenen Jungen, David, an, hält ihn in ihren Armen und ersetzt so gleichzeitig seine fehlende Mutter wie – für diesen Moment – die ihr fehlende Erfahrung der Mutterschaft. Grossman beschreibt, wie sie gemeinsam dem Tod in der Gaskammer entgegengehen: „Die ganze Zeit hielten ihn kräftige, heiße Hände umschlungen, er begriff nicht, daß es dunkel wurde in seinen Augen, daß es im Herzen zu dröhnen begann, daß sein Gehirn stumpf wurde und blind. Man tötete ihn – er hörte auf zu sein. Sofja Ossipowna spürte, wie der Körper des Jungen in ihren Armen zusammensackte. Wieder war sie von ihm getrennt worden. In unterirdischen Stollen mit vergifteter Luft sterben Vögel und Mäuse als erste, sie haben nur kleine Körper, und so war auch der Junge mit seinem kleinen Vogelkörper vor ihr gegangen. ‚Ich bin Mutter geworden‘, dachte sie. Es war ihr letzter Gedanke. Aber in ihrem Herzen war noch Leben: Es zog sich zusammen, schmerzte, bedauerte alle, Lebende und Tote. Brechreiz stieg in ihr auf, Sofja Ossipowna drückte David an sich, eine Puppe. Die Puppe war nun auch tot.“ (Grossman 1984, S. 579) Grossmans Versuch, sich das Betreten dieses tödlichen Raums und das Sterben dort vorzustellen, kann dem Risiko des Voyeurismus entkommen. Auf Augenzeugenberichten Überlebender beruhend, erschafft sein Text für uns ein weiteres Bild gewählter Fürsorge einer Mutter für ein verletzliches Kind im Angesicht ihres schrecklichen Schicksals. Kommen wir nochmal zurück zu Grossman auf der Straße in Moskau, der nach der aufwühlenden Begegnung mit dem Gemälde von Raffael verwirrt herumläuft und sich fragt: Ist dies mit dem Effekt zu vergleichen, den es hat, Tolstoi zu lesen oder Beethoven zu hören? Nein. „Und ich verstand, dass der Anblick der jungen Mutter mit dem Kind auf dem Arm sich für mich nicht mit einem Buch und nicht mit Musik verband, sondern mit […] Treblinka.“ (Grossman 2009, S. 124) Hier fügt Grossman in seinen Essay über die Sixtinische Madonna ein Stück aus dem vorherigen Essay, Die Hölle von Treblinka, ein. Er beschreibt dort die Ruhe des ausgelöschten Lagers. Er bemerkt, wie unter den Füßen jener, die das verlassene und überwucherte Gelände betreten, die Samenkapseln der

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Lupinen aufbrechen, ein Geräusch wie von „einer wehmütigen leisen Melodie […], als ob aus der Tiefe der Erde das Grabgeläut […] hervordringe“ (Grossman 1946, S. 50). Im Weitergehen entdeckt er Haarsträhnen auf dem Boden: „Gelbe, kupferrote wellige, dichte Haare, feine, wunderbar zarte Mädchenhaare sind in die Erde getreten, und daneben liegen helle Locken […]. Offenbar ist das der Inhalt eines einzigen – nur eines einzigen! – nicht abgesandten, vergessenen Haarsacks.“ (Ebd., S. 51) Er schrieb dort weiter: „Also ist doch alles wahr! Die letzte wilde Hoffnung zerbricht, alles sei nur ein Traum. Und die platzenden Hülsen der Wolfsbohnen klingeln, klingeln, die Kerne rascheln, als ob wirklich aus der Tiefe das Grabgeläut unzähliger kleiner Glocken töne. Und es scheint, als höre das Herz gleich zu schlagen auf, Trauer, Bitterkeit und Schwermut verkrampfen es, wie sie der Mensch nicht zu ertragen vermag.“ (Ebd.) Im Essay über die Sixtinische Madonna, elf Jahre nach dem Ende des „großen patriotischen Krieges“, in Sicherheit in Moskau, fügt er hinzu: „Die Erinnerung an Treblinka stieg in meinem Herzen auf, und ich hatte es nicht gleich begriffen …“. Er fährt fort: „Sie war es, die mit ihren leichten, nackten Füßen von der Entladungsrampe des Transportzuges bis zur Gaskammer über die schwankende Erde von Treblinka lief. Ich erkannte sie an ihrem Gesichtsausdruck und an ihrem Blick. Ich sah ihren Sohn und erkannte ihn an seinem wunderschönen, erwachsenen Gesicht. So waren die Mütter und Kinder, wenn sie vor dem dunklen Grün der Kiefern die weißen Mauern der Gaskammern von Treblinka erblickten, so waren ihre Seelen.“ (Grossman 2009, S. 125, Herv. G.P.) Wie später Adorno fragt sich auch Grossman, wie diese zwei Welten der Kultur und der Barbarei zusammengehen. Er stellt sich den einst als Maler ambitionierten Adolf Hitler vor, wie er in Dresden der Sixtinischen Madonna gegenübersteht. Grossman ist überzeugt, dass Hitler, der Faschist, für den das Menschliche als Menschliches bedeutungslos wird, wie Arendt erklärt, sie nicht sehen kann, da er weder das Pathos noch die Menschlichkeit in dem Gemälde begreifen kann. Zwar „entschied [er] ihr Schicksal. Aber der Herr über Europa konnte ihr nicht in die Augen schauen, er konnte nicht dem Blick ihres Sohnes begegnen – denn sie waren Menschen. Ihre menschliche Kraft trug den Sieg über seine Gewalt davon – die Madonna lief mit ihren leichten, nackten Füßen zur Gaskammer, trug den Sohn über die schwankende Erde von Treblinka.“ (Grossman 2009, S. 126) Es ist mir wichtig zu betonen, dass ich Grossman hier nicht als romantischen Humanisten verstehe. Seine Prosa

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wurde im Anprangern der entmenschlichenden Effekte des Faschismus der Sowjets und der Nazis geschmiedet, in diesem herausfordernden Nebeneinander der Faschismen. Er erzählt uns, wie Raffaels Sixtinische Madonna mit den Soldaten über die zerstörten Straßen Richtung Norden reiste und in die russische Geschichte einging: in die Geschichte der Hungersnöte unter den Bauern nach der Kollektivierung ihrer Betriebe in den 1930ern, in die Geschichte der Mütter, die zusehen müssen, wie ihre Söhne in der Nacht von Männern in schwarzen Autos abgeholt werden, um in den Gulag gebracht zu werden, in die Geschichte der Mütter, die ihre Söhne ins Exil tragen, jenseits des Ural. Wir haben diese Mutter 1937 immer wieder getroffen, schreibt Grossman. „Was können wir, die Menschen aus der Epoche des Faschismus, vor dem Gericht der Vergangenheit und der Zukunft sagen? Es gibt für uns keine Rechtfertigung.“ (Ebd., S. 130) In diesem politischen Moment schreibt Grossman den Antlitzen des italienischen christlichen Malers Raffael, die dieser als Symbole für menschliche Liebe und Leben in einer vormodernen, präfaschistischen Zeit geschaffen hat, eine neue historische Bedeutung ein, eine Bedeutung für seine eigene Zeit. Raffael hätte sich nicht vorstellen können, was Grossman selbst gesehen und gehört hat und was er erlitten hat als der für immer trauernde Sohn einer Mutter, die zu alt gewesen war, um noch eine Kugel wert zu sein. Ich glaube nicht, dass es sich hier um ein Beispiel für „widersinnige Geschichte“ („preposterous history“) handelt, ein von Mieke Bal vorgeschlagenes Konzept, das die Momente bezeichnet, in denen chronologisch an sich ältere Werke wie Folgeerscheinungen später geschaffener Bilder wirken (vgl. Bal 1999). Das Beispiel ist eher von Benjamins Idee des Aufblitzens der Vergangenheit im Jetzt der Erkennbarkeit (vgl. Benjamin 1982, S. 591 f. [N 9, 7]) inspiriert, nach der im Bild der Vergangenheit vielleicht die Unschuld und die Unwiederbringlichkeit des Vergangenen sichtbar werden. Grossmans Gegenwart behält die Pathosformel, aber überschreibt das klassische Kunstwerk mit dem Trauma der katastrophalen modernen Geschichte; einer Geschichte, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart oszilliert, durch diese von Grossman gezogene Verbindung zwischen der schrecklichen Wahrheit von Treblinka und seiner Begegnung mit der Sixtinischen Madonna in der Sowjetunion, zwei Jahre nach Stalins Tod. Auch wenn er scheinbar von der Sprache der romantischen Ästhetik Gebrauch macht – tatsächlich politisiert er dieses Bild der Figuren, die symbolisch und politisch für Verletzlichkeit stehen, Mutter und Kind. Er benennt die katastrophalen Aus-

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wirkungen sowohl des sowjetischen als auch des nationalsozialistischen Faschismus im größeren Rahmen der menschlichen Verwundbarkeit in der Moderne. Grossmans Zeugenbericht und seine literarische Fiktion ermöglichen es mir, das Problem unseres schwierigen Bezugs zum Konzept des Mütterlichen sowohl in unser politisches wie unser ästhetisches Denken einzubringen, wenn wir uns mit der Geschichte und der conditio humana nach der Zeit der Konzentrationslager beschäftigen. Dies scheint mir speziell bedeutsam zu sein für die neuen Herausforderungen, die sich dem Feminismus in unserer „horroristischen“ (Cavarero 2011) Welt stellen (vgl. Pollock/Silverman 2011, 2013, 2015). In gewissem Sinne erschafft Grossmans Schreiben ein Bild für etwas, von dem es fast kein archivarisches Bild gibt. So könnte man sagen, dass 5 Grossmans Texte alle geltenden Bilderverbote brechen, die die Darstellung dessen verhindern, was außerhalb des Darstellbaren bleiben soll. Aus dem eingeprägten, sich wiederholenden, festen Bild entnimmt Grossman den leidenden Körper und jenes Bild von Zeit, Leben, Tod und Zukunft, das in dieser uralten Figuration der Generationen eingeschrieben ist: Mutter und Kind. Er erweckt sie zum Leben durch eine Stimme in seinem Text. Ich möchte das ausführlicher erklären und dazu die Debatte zwischen der Künstlerin Bracha Ettinger und dem Philosophen Emmanuel Levinas einbringen. Levinas las gegen Ende seines Lebens viel von Grossman, und er war gebannt von einer weiteren Szene und Geste in Grossmans Roman Leben und Schicksal (Grossman 1984, auf Französisch im Jahr 1980 erschienen). In dieser Szene geht es um Frauen, die vor einem Gefängnis in Moskau in der Kälte warten, um ihre Angehörigen zu besuchen. Levinas merkt an, dass in Grossmans Text alle „im Nacken der Person vor ihnen die Gefühle und Hoffnungen ihres Elends ablesen“ („reading on the nape of the person in front of them the feeling and hopes of his misery“, Levinas 2001, S. 208). Für Levinas zeigt sich hier, was er mit dem Konzept „Antlitz“ meint, ein wesentliches Konzept seiner post-totalitären Ethik. Antlitz ist nicht Erscheinung, nicht Gesichtszüge oder Struktur, es ist Pathos. Vor allem ist es „die Nacktheit des Anderen – Not und Elend unter der gewahrten Haltung“ („the nakedness of the other – destitution and misery beneath the adopted countenance“, ebd.). Ettinger sondierte das weibliche Potenzial von Levinas’ Ethik in jahrelangen Gesprächen. Sie

5

A. d. Ü.: Deutsch im Original.

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liest Levinas und gibt die Frage nach der sexuellen Differenz in seiner Ethik an uns zurück (vgl. Ettinger 1993, 2006b). Doch führt uns Ettinger über Levinas’ ständige Zurückweisung des Mütterlichen in den Zustand von aufopferungsvoller Bedeutungslosigkeit hinaus. Für Levinas ist die „Güte“ der mütterlichen Geste nur der Hintergrund, vor dem das Subjekt, und hier als Ergebnis logischerweise das Subjekt im Maskulinum, seine Ethik als Geste entwirft, als schwierige Verpflichtung gegenüber dem Anderen, der als Antlitz – und damit als ethische Aufforderung – vor ihm steht. Ettinger argumentiert dagegen, dass das Mitgefühl („compassion“) als primäres Moment verstanden werden kann, nicht als Ergebnis dieser Subjektwerdung vor dem Hintergrund des Nicht-Subjekts, des Mütterlichen. Mitgefühl ist das mütterliche Geschenk, das Geschenk unseres „zum Leben verführt Seins“, lange bevor sich Mutter und Kind nach der Geburt als Gegenüber treffen. Ettinger benennt diese verlängerte, nicht-bewusste, aber affizierende, subjektivierende Begegnung zwischen Vor-Mütterlichem und Vor-Kindlichem als das Matrixiale und erkennt darin den ursprünglichen und proto-ethischen Hintergrund menschlicher Subjektivität. Matrix, lateinisch für Gebärmutter, ist auch ein abstraktes Konzept für generative Logik und relationale Strukturen. Levinas verwendet den Begriff der Gebärmutter, auf Hebräisch rekhem, weil dieser auch die Wurzel des hebräischen Konzepts rakhamim ist, das für Gnade oder Mitgefühl steht. Wenn also Ettinger und Levinas in ihrem Austausch von „Gebärmutter“ sprechen, dann tun sie dies eher im metaphysischen als im physiologischen Sinn des Wortes. Der Unterschied zwischen ihnen liegt in der Grenzziehung zwischen Pränatalität und postnataler Subjektbildung, die Levinas aufrechterhält und die von Ettinger aufgehoben wird. Ettinger schreibt dazu: „Since for Levinas the womb finally represents the moment of birth, and the pick of the maternal womb-vulnerability is the dying in giving-life […], womb-misericordiality [rakhamim, G.P.] can’t stand for pregnancy where for the process of life-giving, the living of the m/Other and a living-with-in and beside must be articulated.“ (Ettinger 2006b, S. 103) Ettinger möchte das Mütterliche als ko-affizierendes Subjekt reformulieren, das an der menschlichen Subjektivität mitwirkt, statt verneint zu werden und bloß der nicht-subjekthafte Hintergrund der phallisch konstruierten männlichen Subjektivität zu sein. Sie führt weiter aus: „In my matrixial perspective, womb-misericordiality as pregnancy-emotion stands for com-passionate hospitality in living-inter-with-in the almost-Other. The matrixial principle works as long as the feminine-maternal agent lives in mental and psychic besided-

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ness to its non-I. The womb-misericord with-in the almost-m/Other does participate in subjectivity as transsubjectivity since it is precisely between conception and birth, in the real, imaginary and symbolic shareable psychic spaces that the I and non-I – pre-subject and becoming-m/Other – are forming and informing a psychic mental and affective continuity, and the womb (as psychic place of coemergence and invisible female corporeality) stands for a subjectivizing potentiality by transgression of affective and mental waves and by sharing in the same mental, affective and sensitive resonance time-space.“ (Ebd., S. 103f.) Wir kommen hier etwas ab und bewegen uns auf wahrscheinlich unvertrautem und auch verwirrendem psychoanalytisch-theoretischem Gelände, das ich schon länger (seit 1992) erkunde. Ich hoffe aber deutlich gemacht zu haben, dass uns das, was im historischen Archiv ist, bereits dazu führt, auf diesen Ebenen nach menschlichem Leben und Sterben unter diesen historischen und politischen Umständen zu fragen sowie nach dem Trauma, das der Faschismus im 20. Jahrhundert in so vielen Fällen verursacht hat. Feministisches Denken in der Kunst, in der Psychoanalyse oder der Kulturanalyse ist ein Teil der radikalen Antwort auf und des grundsätzlichen Widerstandes gegen den Versuch der Zerstörung der conditio humana, den mehrere totalitäre Experimente des 20. Jahrhunderts geplant und unternommen haben. Ettingers Beitrag zum feministischen Denken in Kunst und Theorie bringt den Vorschlag ein, das Menschliche als gemeinsames Werk von Empfänglichkeit und Mitgefühl zu verstehen. Sie bilden die Logik oder Matrix einer ko-affizierenden Begegnung, prä-maternale und prä-natale Erinnerungen, von den Geborenen ins Leben getragen, die nach unserer Geburt unser Seelenleben, unsere Vorstellung und unser Denken formen. Aber anders als bei Raffael, Grossman und Levinas braucht diese „Matrix“ kein Bild. Sie ist ein ästhetischer Affekt, den wir in der Malerei erahnen können, in der Malerei nach der Geschichte und nach der Malerei, wie ich Ettingers Arbeit beschrieben habe. Ein historisches Foto aus der Ukraine aus dem Jahr 1942 – ein „Fries“ von nackten Frauen, die in einer Reihe stehen und auf ihre Ermordung warten – ist seit 30 Jahren der wiederkehrende Ort und die Begleitung von Bracha Ettingers Meditation. Sie hat neben der fotografischen Spur 6 gemalt, in anhaltender Fascinance . Ihre Arbeit stellt die Frage: Wie lange

6

Zum Konzept der Fascinance vgl. Ettinger 2006a (A. d. Hg.).

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wird es dauern, um herauszufinden, was dieses Bild ist, was es bedeutet, was es mit uns macht, was unser Darauf-Zurückblicken in matrixialer Fascinance darin erkennen mag? Fascinance bezeichnet einen anhaltenden Prozess ästhetischer Betrachtung, der die Transformation des schauenden Subjekts ermöglicht. Es ist eine Form dessen, was Ettinger aus ihrer posttraumatischen Praxis der Malerei heraus als Theorie des matrixialen Blickes entwickelt. Dieser Blick ist weder voyeuristisch noch fetischistisch, weder gebietend noch sadistisch, er stellt eine trans-subjektive Begegnung her und erlaubt der Kunst damit, zu einer Transport-Station für Trauma zu werden (vgl. Ettinger 2000). Die dabei entstehenden Bilder brauchen viele Jahre – zwischen zwei und acht –, um fertiggestellt zu werden. Ettinger begann damit 1985, im Nachgang zu Lanzmanns wirkmächtigem Verbot, die Katastrophe der Shoah darzustellen. Sie suchte nach einer Methode, sich nicht von der Geschichte abzuwenden, sondern die Spuren der Geschichte zu transformieren. Sie hat diese Methode erfunden: Fotografische Reproduktionen aus dem Archiv des Grauens werden dem „blinden“ Licht und der Hitze des Fotokopiergeräts ausgesetzt. Die Maschine wird gestoppt, bevor die Hitze die Farbpartikel auf der Oberfläche der Reproduktion versiegelt. So wird die historische Bild-Spur pulverisiert und re-materialisiert. Eine Erscheinung der Geschichte wird übersetzt in die Verteilung aschfarbener Partikel, die das Versprechen der fotomechanischen Reproduktion außer Kraft setzen und die Entstehung eines Bildes stoppen. Materielle Farbschichten, die in Ettingers Malerei die Zeitlichkeit inszenieren, führten zu dem Konzept, das sie theoretisch als den matrixialen Blick ausarbeitet. Ettingers ästhetische Praxis, die von ihrer eigenen Ethik des Mitgefühls geprägt ist, bringt diesen Blick hervor, durch Berührung und sinnliche Wahrnehmung, ermöglicht durch Materialität, Farbe und durch das Licht, das die Farbe erschafft (nicht repräsentiert). Die Frage, die Ettinger in ihrer malenden Praxis als philosophische Erkundung des Ereignisses durch die abstrakte Malerei stellt, ist diese: Wie kann man mit dem historischen Trauma in Verbindung bleiben, ohne seine Gewalt zu wiederholen? Aus ihrem eigenen Arbeitsprozess entwickelt Ettinger das Konzept von Kunst als Mitgefühl. Es ist das Ergebnis ihrer lebenslangen Meditation neben den bildhaften Spuren des vergeschlechtlichten Angriffs auf das Leben, der in den Fotografien aus Mizocz aus dem Jahr 1942 festgehalten ist. Ich schließe hier mit ihrer eigenen Erklärung des Konzepts:

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„Compassion is not only a basis for responsibility. It is also the originary event of peace. Peace is a fragile encounter-eventing, an ever re-co-created and co-re-created fragile and fragilizing encounter-event in terms of the particular epistemological parameters of matrixiality. From the point of view of compassion peace is not in dialogue with war. I donʼt have to feel empathy for my perpetrators, nor do I have to understand them, but this does not mean that I will hand them the mandate to destroy my own compassion which is one of my channels for accessing the non-I. To suffocate my own compassion would be a kind of mental and affective paralysis, this would be a ‚second death‘ (Lacan), since primary compassion is a spontaneous way of trans-subjective knowing of/in the unknown Other before and beyond any possible economy of inter-subjective exchange. It is in that sense that in compassion one is always fragilizing one’s self and becomes vulnerable. As a resistance to bestiality as such, it has nothing to do with the perpetrators, since it is working-through on a dimension of no symmetrical exchange.“ (Ettinger 2006b, S. 124f.) Grossman hat erkannt, dass unser Lesen der Antlitze, die uns von Bildern aus der Vergangenheit entgegentreten, um unserer Gegenwart zu begegnen, zur Schnittstelle von Ästhetischem und Politischem wird. Ettinger fügt dieser antifaschistischen Erkenntnis, dass Mutter und Kind in unseren gefährdeten Zeiten zu Figuren der politischen Geschichte werden, eine psychoanalytische Prägung hinzu. Sie bietet in Malerei und Theorie eine feministische Lesart dessen an, was auf dem Spiel steht. Sie zeigt, was feministisches Denken und Bildermachen bewirken können, wenn wir uns trauen, uns menschliche Verletzlichkeit in dieser Pathosformel vorzustellen, die wir an so unwahrscheinlichen Orten wie Raffaels Gemälde einer bäuerlichen Mutter und ihres bangen Kindes finden können. Übersetzung: Marie Lottmann

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Literatur Agamben 2002 Agamben, Giorgio: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002.

Ettinger 2006b Ettinger, Bracha L.: From Proto-ethical Compassion to Responsibility: Besideness and the Three Primal Mother-Phantasies of Not-enoughness, Devouring and Abandonment, in: Athena, Nr. 2, 2006, S. 100–135.

Arendt 1960 Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart: Kohlhammer 1960.

Freud 1960 Freud, Sigmund: The Letters of Sigmund Freud, hg. v. Ernst L. Freud, New York: Basic Books 1960.

Bal 1999 Bal, Mieke: Quoting Caravaggio: Contemporary Art, Preposterous History, Chicago: University of Chicago Press 1999.

Grossman 1946 Grossmann, Wassilij: Die Hölle von Treblinka (1944), aus dem Russ. übers. v. L. Becher, Moskau: Verlag für fremdsprachige Literatur 1946.

Bal 2002 Bal, Mieke: Travelling Concepts: A Rough Guide, Toronto: University of Toronto Press 2002.

Grossman 1984 Grosman, Vasilij: Leben und Schicksal (1960), hg. von Efim Etkind; Simon Markish, München/Hamburg: Albrecht Knaus Verlag 1984.

Benjamin 1982 Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften, Bd. V, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982. Cavarero 2011 Cavarero, Adriana: Horrorism: Naming Contemporary Violence, New York: Columbia University Press 2011. Eliot 2010 Eliot, George: George Eliot’s Life As Related in Her Letters, Bd. 2 (1885), hg. v. John Walter Cross, New York: Harper & Brothers 2010. Ettinger 1993 Ettinger, Bracha L.: Time is the Breath of the Spirit: Conversation with Emmanuel Levinas, übers. v. Carolyn Ducker; Joseph Simas, Oxford: MOMA 1993. Ettinger 2000 Ettinger, Bracha L.: Art as the Transport-Station of Trauma, in: dies.: Artworking 1985–1999, Gent/Amsterdam: Ludion & Brüssel: Palais des Beaux-Arts Brüssel 2000, S. 91–115. Ettinger 2006a Ettinger, Bracha L.: Fascinance and the Girl-to-m/Other Matrixial Feminine Difference, in: Griselda Pollock (Hg.): Psychoanalysis and the Image, Boston/Oxford: Blackwell 2006, S. 60–93.

Grossman 2009 Grossman, Wassili: Die Sixtinische Madonna (1955), in: ders.: Tiergarten. Erzählungen, aus dem Russ. übers. v. Katharina Narbutovič, München: Claassen 2009, S. 119–130. Henning/Schmidt 2012 Henning, Andreas; Sandra Schmidt: The Sistine Madonna. Raphael’s Iconic Painting Turns 500, München: Prestel 2012. Kristeva 1981 Kristeva, Julia: Women’s Time, in: Signs, Nr. 1, Jg. 7, 1981, S. 13–35 (zuerst frz. erschienen als: Le temps des femmes, in: Cahiers de recherché de sciences des textes et des documents, Nr. 5, 1979, S. 5–19). Levinas 2001 Levinas, Emmanuel: The Other, Utopia, and Justive, in: ders.: Is it Righteous to Be? Interviews with Emmanuel Levinas, hg. v. Jill Robbins, Stanford: Stanford University Press 2001, S. 200–210. Parker/Pollock 2013 Parker, Rozsika; Griselda Pollock: Old Mistresses: Women, Art and Ideology (1981), London: Routledge/I.B. Tauris 2013.

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Griselda Pollock Pollock 2003 Pollock, Griselda: Vision and Difference: Feminism, Femininity and the Histories of Art (1988), London: Routledge 2003. Pollock 2007 Pollock, Griselda: Encounters in the Virtual Feminist Museum: Time, Space and the Archive, London: Routledge 2007. Pollock 2013 Pollock, Griselda: After-affects/After-images: Trauma and Aesthetic Transformation, Manchester: Manchester University Press 2013. Pollock/Silverman 2011 Pollock, Griselda; Max Silverman (Hg.): Concentrationary Cinema: Aesthetics as Political Resistance in Alain Resnais’s Night and Fog, London: Berghahn 2011. Pollock/Silverman 2013 Pollock, Griselda; Max Silverman (Hg.): Concentrationary Memories: Totalitarian Terror and Cultural Resistance, London: I.B. Tauris 2013. Pollock/Silverman 2015 Pollock, Griselda; Max Silverman (Hg.): Concentrationary Imaginaries: Totalitarian Violence in Popular Culture, London: I.B. Tauris 2015. Pollock/Turvey-Sauron 2007 Pollock, Griselda; Victoria Turvey-Sauron (Hg.): The Sacred and the Feminine: Imagination and Sexual Difference, London: I.B. Tauris 2007. de Zegher/Pollock 2011 de Zegher, Catherine; Griselda Pollock: Bracha Ettinger. Art as Compassion, Brüssel: ASA 2011.

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II  Studien visueller Kultur – transdisziplinäre Erweiterungen

Mieke Bal

Für den Moment1 Einleitung

In den Worten von Susan Suleiman ist das Zeitgenössische das, was „uns angeht“ (Suleiman 1990, S. XV, Herv. i. O.). Und das hat zur Folge, dass man, um den Titel ihres nächsten Buches zu zitieren, „riskiert, wer man ist“, indem man in der Gegenwart unterscheidet und auswählt. Suleimans Interesse am Zeitgenössischen (und an französischer Kultur) teilend und nachdem mir anachronistische Interpretationen alter Meistergemälde vorgeworfen wurden, habe ich darüber nachgedacht, was das bedeutet. Erstens kam ich zu dem Schluss, dass Anachronismus unverzichtbar ist, wenn wir kulturellen Äußerungen welcher Epoche auch immer Bedeutung beimessen wollen. Zweitens beinhaltet das die Position einer „ersten Person“, die das „uns“ in ihrem Satz konkretisiert. Ich teile dieses Interesse daran, was persönliche Erfahrung den aus veröffentlichten Dokumenten gewonnenen Einsichten hinzufügen kann, ohne in die Falle der Selbstgefälligkeit zu tappen. Ohne sie ist es kaum möglich zu erfassen, was es ist, das „uns angeht“, wer und was wir sind, wenn wir in unserer und für unsere Gegenwart Kritik schreiben. Jener persönliche Ton und Inhalt beim Schreiben (akademischer) Kritik kann etwas nahekommen, was man „kunstbasierte Forschung“ nennt. Das Zeitgenössische ist per definitionem undokumentiert, da es sich gleichzeitig mit unseren Reflexionen darüber ereignet. Ich fand heraus, dass Video eine Möglichkeit ist, mit Intensität die Nuancen und Komplexitäten der zeitgenössischen Kultur zu verstehen. Während ich zunächst Dokumentarfilme in Zusammenarbeit mit den darin Dargestellten („their ,subjects‘“) gemacht habe, damit sie aus versachlichten Subjekten zu Gesprächspartner_innen werden, habe ich enorm vom permanenten Dialog gelernt, den diese Kollaborationen ermöglicht haben, 1 In diesem Artikel recycle und überarbeite ich vor allem theoretische Reflexionen aus Bal 2016 und 2017. Der Titel (im Original: For Now) soll sowohl „im Namen der Gegenwart/des Gegenwärtigen“ als auch „vorläufig“ implizieren.

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Mieke Bal

mehr als von der Dokumentation. Ich habe in diesem Prozess realisiert, dass (Kunst-)Schaffen eine Form der Analyse sein kann. Vor 14 Jahren begannen die britische Künstlerin Michelle Williams Gamaker und ich in diesem Geist des Verstehens und der Analyse des 2 Zeitgenössischen zusammen das Medium Film zu nutzen. Die erste Werkgruppe bestand aus Dokumentarfilmen rund um Fragen der Migration. Von dort aus begannen wir uns der Frage der Psychose im gesellschaftlichen Bereich zu widmen, woraus ein Spielfilm, A Long History of Madness, der auf dem Buch Mère folle von der französischen Psychoanalytikerin Françoise Davoine beruht, sowie Video-Installationen entstanden sind. Obwohl diese Arbeit dokumentarische Elemente enthielt – insbesondere die als Dialog verwendeten Sitzungsnotizen über Patient_innen –, entstand sie im Grunde als „theoretische Fiktion“. Darüber hinaus habe ich vor kurzem einen Film über Descartes und Königin Kristina von Schweden gemacht, den ich gerne als sowohl „theoretische Fiktion“ als 3 auch eine Art „Doku-Drama“ betrachte. Wir setzen audiovisuelle Medien ein und rahmen unsere Arbeit als Kunst, wobei „Kunst“ als im zeitgenössischen gesellschaftlich-kulturellen Feld agierend gemeint ist. Die Frage, wie das funktioniert, hat uns dazu gebracht, eine Untersuchung der literarischen, philosophischen und kulturellen Zeitgenossenschaft von Flauberts Madame Bovary aus dem Jahr 1856 durchzuführen. Das Ergebnis sind eine Video-Ausstellung auf 19 Bildschirmen und ein Spielfilm (2014). Im Folgenden stelle ich einige theoretische, ästhetische und soziale Themen vor, die diese Projekte beinhalten und die die Transformationen von literarischen und philosophischen in audiovisuelle Medien betreffen, als eine Transformation von Vergangenem in Gegenwärtiges. Das Plädoyer für das intellektuelle Potenzial der zum Nachdenken anregenden Dialektik umfasst erstens Anachronismus als Denkweise oder -figur und zweitens das Konzept einer immersiven Ausstellung. Im Zentrum steht die Zeitgenossenschaft des Bildes. 2 Ursprünglich wirkten mit Zen Marie, Thomas Sykora und Gary Ward noch drei weitere Kunstschaffende vom Kollektiv Cinema Suitcase mit. 3 Zu Wahnsinn und warum er uns alle betrifft, siehe Suleiman 1990, Kap. 5. Zu den Dokumentarfilmen und Fiktionen siehe http://www.miekebal.org/artworks/films/. Zum Projekt über Wahnsinn siehe www.crazymothermovie.com; zu den davon abgeleiteten Ausstellungen sowie zu Ausstellungen der Dokumentarfilme siehe vor allem „Going the Distance“ und „Towards the Other“ (insbesondere die Dokumentarfilme) sowie „Landscapes of Madness“ auf http://www. miekebal.org/artworks/exhibitions/.

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Für den Moment

Die Zeitgenossenschaft der immersiven Ausstellung

Madame Bovary ist ein Dokument seiner Zeit und an diese adressiert. Um dem beinah obsessiv visuellen Wesen dieses Romans gerecht zu werden, drehten wir acht Videoszenen, die zusammen eine „immersive Ausstellung“ bilden. Das ist eine Kunstpraxis, in der Form, Bedeutung, Technik und Ambiente gemeinsam auf eine Einbeziehung der Betrachtenden hinarbeiten, im Sinne der Identifikation in Literatur oder Kino, doch ohne die sentimentalistischen und manipulativen Verlockungen, die sie mit sich bringt. Dominic LaCapra (2001) hat dazu den nützlichen Begriff 4 „empathic unsettlement“ (empathische Verunsicherung) vorgeschlagen. Für uns bedeutet „immersiv“ eine fiktionale Umgebung, in welche die Ausstellungsbesucher_innen für die Dauer ihres Besuchs versinken. Hier können sie in einer Welt der audiovisuellen Bilder umhergehen und selbst Inhalte konstruieren. Was jedoch wichtig ist: Sie sind nicht allein; der 5 immersive Raum ist nicht isoliert. Und die Zeit ist jetzt. Wir bemühten uns um die Schaffung eines sowohl sozialen als auch fiktionalen Raumes. Wir inszenierten die Ausstellung als einen Ort, in den die Besucher_innen eintauchen können, obwohl sie sich der Gegenwart anderer bewusst sind. Das unterscheidet den „Galeriefilm“ vom „Theaterfilm“: der konkrete und materielle Raum, in dem sich sowohl die Bilder als auch die Betrachter_innen bewegen. Diese Form hilft zu verstehen, wie auch Literatur funktioniert. Das Stimmengewirr der

4 Es gibt einen schmalen Grat zwischen Empathie und Identifikation. Jill Bennett (2005) diskutiert die Reflexionen von LaCapra und anderen in Bezug auf bildende Kunst in einer subtilen und zugänglichen Art und Weise. 5 Dagegen ist „Technische Interaktivität“ (manchmal immersiv genannt) unserer Meinung nach hochmanipulativ, an der Grenze zum Unethischen. Die Notwendigkeit, ihr Experiment zu limitieren, hat ein Forschungsteam in Großbritannien gezwungen, eine Episode auszuwählen; und es hat sich für sein Experiment die Liaison zwischen Emma und dem zynischen erotischen Geschäftemacher Rodolphe ausgesucht. Die Betrachter_innen sind eingeladen, die Rolle von Rodolphe (und nur diese) zu übernehmen. So können die Betrachter_innen, oder „User“ (ein auf unheimliche Weise passender Begriff), ausprobieren, wie man ein zynischer Mann sein kann, ein ausbeuterisches, dem Missbrauch zugeneigtes und auf seinen Vorteil bedachtes Raubtier … Möglichkeiten gibt es mehr als genug, auch wenn sie sich auf die „Benutzung“ von Emma beschränken. Die Rolle, die Wahl dieser bestimmten Episode und die beschränkten Möglichkeiten, die das Projekt vorschlägt, erscheinen nur in einem sehr begrenzten Sinne interaktiv; sie machen schon Vorschriften, bevor man eine destruktive Rolle einnimmt. Emma wird buchstäblich zu einem Spielzeug (frz.: „en-jeu“, im Spiel gefangen, von „enjeu“, Einsatz/Sache, die auf dem Spiel steht). Siehe Cavazza et al. 2007, S. 651–660.

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Gesellschaft, das unsere Alltagsumgebung ausmacht, schwingt in der einsamen Erfahrung des Lesens mit (vgl. Fowler 2004). Galeriefilme nutzen kinematografische Techniken und Ästhetiken, um das Hauptmerkmal des Kinos – seine Zeitlichkeit – zu verschieben, und machen es, auf Grundlage der Simultaneität, durch die sich das Zeitgenössische auszeichnet, räumlich. Statt im Dunkeln zu sitzen und geradeaus nach vorne zu schauen, gehen die Besucher_innen von Galeriefilmen herum, setzen sich hin und realisieren, dass sie nicht allein sind; die Ausstellung ist ein sozialer Raum. Und auch wenn die geloopten Werke eine bestimmte Zeitdauer haben, bevor sie wiederholt werden, ist die Zeitspanne, die Betrachter_innen mit ihnen verbringen, kürzer oder länger, der Moment, in dem die Installation betreten wird, frei wählbar und die Erzählung dementsprechend flexibel. Der Kontakt mit den Bildern vollzieht sich in der Gegenwart; das Betrachten von Installationen 6 ist konsequent zeitgenössisch. Den Videos und ihrer Installation ist der ihnen zugrunde liegende Prozess des Schnitts oder der Montage gemein, eine räumliche Form: Die Nebeneinanderstellung von Fragmenten, die zusammengenommen ein neues Ganzes bilden, das Lücken enthält. In Mehrkanal-Videoinstallationen wird die Montage zwischen den Clips von der Montage zwischen den Bildschirmen überdeterminiert. Während Erstere häufig durch „nahtlose“ Schnitte unsichtbar gemacht wird, soll Letztere sichtbar sein; sie ist ein Instrument zur Entwicklung einer Semiotik der lateralen Montage (Manovich 2001, S. 325). In dem, was die Besucher_innen von der Erfahrung mit nach Hause nehmen, vermischen sich Lese- und Lebenserfahrung und bilden eine Geschichte, die immer neu, immer anders ist, unberechenbar, doch nicht unbeeinflusst von dem, was sie im Moment ihres Ausstellungsbesuches sehen. Solche „Nach-Geschichten“ beinhalten, was Dauer und Konzentration ausgewählt haben; und was sie davontragen, das intellektuelle und affektive Gepäck, bezieht sich, aber beschränkt sich nicht auf den zugrunde liegenden Text („pre-text“) sowie die Stimmung der Besucher_innen im Moment. Eine immersive Ausstellung ruft Stimmungen, Emotionen und Affekte hervor, bevor sie den Intellekt überzeugt, was alles die Inhalte beeinflusst. Auch für 6 Für einige sehr wichtige Essays zu „gallery films“ vgl. Bellour 1999. Für einen Blick darauf, wie das in unserem Projekt funktioniert, siehe die Video-Führungen auf http://www.miekebal.org/ artworks/exhibitions/madame-b/ (4.4.2017).

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jene, die den literarischen Text gar nicht kennen, gilt, dass die Werke sie in 7 der Gegenwart dennoch ansprechen – und affizieren – müssen. Dasselbe gilt für die Beziehungen zwischen den Teilen. Jeder einzelne funktioniert für sich, während die Abfolge der Teile als narrativer, atmosphärischer, philosophischer oder künstlerischer Rahmen funktionieren kann. Die Teile müssen Performativität erlangen: etwas mit ihren Betrachter_innen tun – doch ohne maschinell gesteuerte Manipulation. Ein Beispiel für Immersion aus unserem Projekt ist die Inszenierung der Begegnung zwischen Emma (Marja Skaffari) und Charles (Thomas Germaine) in einer Zwei-Screen-Installation. Die Bildschirme stehen einander gegenüber und die Betrachterin muss sich selbst zwischen den Bildschirmen positionieren. Ihre Handlungsmöglichkeit („the visitor’s agency“) besteht darin, die Dauer ihrer Betrachtung zu wählen, eine Blickrichtung einzunehmen und auf die Bilder zu reagieren. Abgesehen von nur wenigen Ausnahmen beschränkt sich das Drehbuch von Madame B auf direkte Zitate aus dem Text und klammert aus, was nicht ohne plumpe Künstlichkeit aktualisiert werden kann. Der Großteil des Texts erforderte Alternativen anderer Natur. Nehmen wir erneut jenes narrative Element, das auch sehr visuell ist: die erste Wahrnehmung von Emma während Charles’ ärztlicher Visite auf dem Hof, auf dem sie lebt. Diese Wahrnehmung ist gleichzeitig ein gescheiterter Akt (acte manqué oder Lapsus) in dem Sinne, dass Charles sie nicht sofort sieht, und ein entscheidender Akt im engsten Sinne, insofern er sie – ebenso wie sich selbst – durch sein Sehen zum Leben erweckt. Der Akt des Sehens steht also im Mittelpunkt der ambivalenten Erzählung – ein Minus- und ein Plus-Akt. Wir bildeten den verzögerten und beiderseitig verspäteten Akt des Schauens ab.

Für die Gegenwart: Treue durch Verrat

Flaubert schrieb in, über und für die Gegenwart. Wir machten diese Arbeit für unsere Gegenwart. Dies zieht einen unvermeidlichen „Verrat“

7 Es würde zu weit führen, hier eine Unterscheidung zwischen Stimmungen, Emotionen und Affekten zu entwickeln. Ich verwende den Begriff Affekt im Sinne von Deleuze, wie er ihn schon in Differenz und Wiederholung entwickelt hat (Deleuze 2010). Für eine umfassendere Diskussion der Wirkungskraft von Video als einer Form des affekterzeugenden Bewegungs-Bildes siehe Bal 2013.

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am Roman als Geschichte, an seinen Anekdoten, seiner Sprache, seinen Beschreibungen der Umwelt und vielen Ereignissen nach sich. Ich stelle die Treue in den Vordergrund, um einen intertextuellen Dialog zwischen Flauberts Text und unserem Werk herzustellen. Die Aktivität des Lesens-Hörens-Sehens von Geschichten ist für sich notwendigerweise anachronistisch: Man liest für sich selbst und in der Gegenwart. Es ist ein wenig wie die Erinnerung: Wir vollziehen in der Gegenwart einen „Akt der Erinnerung“, auch wenn der Inhalt der Erinnerung in der Vergangenheit 8 stattgefunden hat. Das Bild entfaltet sich in der Geschwindigkeit derjenigen, die es sehen. Anachronismus ist nicht nur unvermeidlich und produktiv; er ist auch die einzige Möglichkeit, durch die Vergangenheit lebendig bleiben oder überhaupt erst werden kann. Er ist hinsichtlich der Gegenwart die einzige Möglichkeit zu verstehen, was uns die Kunst der Vergangenheit noch zu bieten hat. Auch wenn sich solch anachronistische Sichtweisen den Künstler_innen der Vergangenheit nicht erschließen würden, eignet sich ihr Werk für derartige „Remakes“, eine Wieder-Aufladung mit Energie, gewonnen aus der Begegnung zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Flauberts Roman, ein Produkt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, durchdrungen von der spätviktorianischen europäischen Kultur, steht im Einklang mit anderen „Ehebruch-Romanen“ wie Effie Briest (Deutschland), Anna Karenina (Russland) und La Regenta (Spanien). Von Männern geschrieben, erzählen sie von unglücklichen Frauenfiguren, die häufig für „hysterisch“ gehalten wurden und mit denen es ein schlechtes Ende 9 nimmt. Das Genre war damals sehr modern. Zugleich waren jene Romane prophetisch; sie nährten das aufkommende freudianische Denken, indem sie einen Schimmer vom weiblichen Begehren und dem Schrecken, den es in Männern hervorrief, vermittelten. Die betreffenden Romanciers gingen Freud voraus, als frühe „kunstbasierte Forscher“. Das Paradoxon

8 Für einen kritischen Überblick über die Themen der Adaptation Studies siehe Leitch 2003, 2007. Zum Verständnis von Erinnerung als Akt siehe Bal et al. 1999; zum unabdingbaren Wesen des Anachronismus siehe Bal 1999; aus der hier vorgestellten Perspektive wird in Bal 2010 die künstlerische Praxis der kolumbianischen Künstlerin Doris Salcedo untersucht. 9 Zum Genre der Ehebruch-Romane siehe Tanner 1979. Zur Art und Weise, wie das Thema des Ehebruchs unter dem Aspekt des weiblichen Begehrens in Freuds Werk „adaptiert“ wurde, siehe Felman 1993. Shoshana Felman fügte einen unbestimmten Artikel hinzu, wodurch sie sich dem verallgemeinernden Gebrauch von „Weib/Frau“ entledigte und die Frage umwandelte in: „Was will eine Frau?“

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dabei ist, dass Flauberts Roman so sehr auf seine eigene zeitgenössische Welt ausgerichtet ist, dass eine Inszenierung des Romans in der Vergangenheit gegen sein charakteristischstes Merkmal verstößt, seine rigorose Zeitgenossenschaft. Die Frage ist jene nach dem Bild in Bewegung, a priori visuell, auch wenn das Audio-Element essenziell ist: Wir haben erwartet, dass dieser Frage durch die Untersuchung einiger Merkmale begegnet werden könnte, die Flauberts Roman im Allgemeinen zugeschrieben werden. Hierzu zählt seine Visualität, die in der Dominanz von Beschreibungen und ihrem narrativ willkürlichen Auftreten deutlich wird; außerdem die Ersetzung von Dialogen, nicht nur durch Narration, sondern auch durch das mehrdeutige Verfahren der erlebten Rede (auch freie indirekte Rede). Erlebte Rede bringt vorsätzlich die Kategorie des „wer spricht?“ und jene des „wer nimmt wahr?“ durcheinander. Fokalisierung umfasst nicht nur das Sehen, sondern auch wesentlich das Hören. Erlebte Rede ermöglicht auch eine Vervielfachung der Subjektivitäten; also eine Identifikation zwischen Protagonist_in und Erzähler_in oder „Bildgeber_in“. Permanent zwischen narrativer und visueller Beschreibung wechselnd, tendiert Flauberts Text dazu, sich ohne Vorwarnung, Übergang oder klare Anhaltspunkte von Narration zu erlebter Rede, zu einem diffusen, nicht 10 identifizierbaren wahrnehmenden Subjekt zu bewegen. Vermittels solch unmotivierter Verschiebungen tendieren diese Formen dazu, durch Bilder zu erzählen, und lassen eine Dynamik zwischen der erklärten Objektivität und der grundlegenden Subjektivität zu, oder Solidarität mit Letzterer durch Erstere. Die politische Wirkung liegt in der Art und Weise, wie das Werk Menschen affizieren und sie „ins Nachdenken stoßen“ („shock them into thought“ [Massumi 1995]) kann. Weil sie Visualität mit konkreten Bildern verwechseln, konzentrieren sich die meisten Madame-Bovary-Adaptionen nur auf die spektakulärsten Szenen – den Vicomte auf dem Ball im Schloss Vaubyessard; wie Emmas Hochzeitskleid an Disteln hängen bleibt; die Kutschfahrt mit Léon. Die Verfilmungen, einschließlich der von Sophie Barthes aus dem Jahr 2014, sind tendenziell historische Kostümfilme. Paradoxerweise macht genau

10 Zur Verwendung der erlebten Rede zur Diffusion der Wahrnehmung siehe Culler 2006. Zu Flauberts Abneigung gegen Dialoge siehe Gothot-Mersch 1981. Übersetzung in die audiovisuelle Montage durch Christopher Wessels (Kamera); der Soundtrack unserer Arbeit ist ein Werk Sara Pinheiros.

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der Versuch, Anachronismen zu vermeiden, indem man sie „historisch“ macht, solche Filme auf eine unerkannte Art und Weise anachronistisch. Die Historizität der kinematografischen Bilder der meisten Madame-Bovary-Verfilmungen verwischt die ausgeprägte und kritische Zeitgenossenschaft, die dem Roman zu eigen ist, und ersetzt diese durch eine theatralische Maske, die alles in die Ferne rückt. Flaubert machte das Gegenteil. Die Sprachverwirrung, die die Frage „wer spricht“ unbeantwortbar macht, war auch eine Möglichkeit, nahe an den Worten zu bleiben, die die Leser_innen heute wahrnehmen, verstehen und vielleicht überhaupt hören. Folglich stellten wir uns ein Projekt vor, das so anachronistisch wie möglich war, sodass es Flauberts Schreiben so treu wie möglich bleiben konnte, im Namen der Gegenwart. Nicht aus Verehrung für einen großen Künstler, sondern aus Interesse an einer Erzählweise, die scheinbar unmöglich ist und somit wieder-erfunden werden muss; eine buchstäbliche Video-grafie; Schreiben (-grafie), um zu sehen (Video-), um die großartige und erschreckende Aktualität des Romans freizusetzen.

Liebe trifft Geld: In Richtung einer offenen Zukunft

Das Bild existiert, funktioniert und erreicht seine Performativität in der Gegenwart. Die Zeitgenossenschaft, die „uns angeht“, ermöglicht den Zugang zur Zukunft. Der Punkt hinsichtlich der Gegenwärtigkeit des Bildes ist, wie von Henri Bergson theoretisch ausgeführt, dass es die Vergangenheit „sammelt“ und somit die Gegenwart stark genug macht, um die Zukunft zu ermöglichen (vgl. Bergson 1960, 1983, 1991). Diese Zeitgenossenschaft lässt sich zunächst einmal in Flauberts Erforschung der kulturellen Verschwörung verorten, die Geschäftliches in eine emotionale Angelegenheit und Liebe in ein geschäftliches Unterfangen verwandelt. Laut der Soziologin Eva Illouz (2007, 2012) war um die Wende zum 20. Jahrhundert aus dem Kapitalismus ein emotional geführtes Unternehmen geworden. Mit der Wende zum nächsten Jahrhundert führte dies dann zu einer weltweiten Finanzkrise. Flaubert hat sie kommen sehen. Er hat auch deren tödliche Eigenschaften erkannt. Emmas fiebrige Verausgabung und ihr exzessives Verlangen nach Erregung erschöpften sie, lange bevor sie Selbstmord beging. Die Verantwortung dafür ist vielmehr kollektiv und systemisch als individuell. Die Verflechtung von Geld und Liebe wird bereits sehr früh im Roman angesprochen und deutet die Käuflichkeit aller Beteiligten an.

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Zum Teil unter dem Einfluss der heutigen ökonomischen Wirklichkeit experimentierten wir mit einer Installation, die die Besucher_innen in einem Quadrat aus vier Bildschirmen einschließt. Zwei Bildschirme der auf vier Bildschirmen gezeigten Szene 6, „Leidenschaft und Enttäuschung“, sind dem Thema Geld gewidmet: der Reiz des Kapitalismus und das Missfallen von sowohl der Schwiegermutter als auch Charles. Emmas Shopping-Ausflüge haben alle einen traumartigen Look, in dem sich Glückseligkeit und Albtraum nahe sind. In einer Shopping-Szene betritt Emma einen fantastischen Designer-Palast in Paris. Sie ist ein wenig unsicher und hilfsbedürftig und hat einen Verkäufer an ihrer Seite, der sie beruhigt und der weiß, wie man es anstellt, dass sich eine Frau bewundert, schön und geliebt fühlt – wenn sie teure Kleider kauft. Die Inneneinrichtung des Geschäfts sowie auch die Herzlichkeit des Verkäufers verleihen der Szene eine traumartige Qualität. Die Ausstattung ist architektonisch extravagant und eine Wand ist ganz aus Fernsehbildschirmen aufgebaut, auf denen die 11 angebotene Kleidung gezeigt wird. Emma ist mit einem reality check konfrontiert, als ihre Kreditkarte abgewiesen wird. Deprimiert verlässt sie das Geschäft. Draußen flüstert ihr eine zwielichtige Figur ins Ohr. Sie geht nach Hause, stiehlt Charles’ Kreditkarte und lernt seinen PIN-Code auswendig, während sie ihn mit einer Massage gegen seine Kopfschmerzen ablenkt. Vergnügt geht sie wieder in das Geschäft, bezahlt die Rechnung, und als sie geht, heben die zwielichtige Figur draußen und der Verkäufer den Daumen. Die Realität schlägt jedoch brutal zurück. Die Kleider sind so teuer, dass Charles Emmas Betrug auffällt. Er findet die Bankbelege, die Emma hinter einem Gemälde versteckt hat, und konfrontiert sie damit. Diese Bilder zeigen die Kurzlebigkeit der flüchtigen Erregung und die Leichtigkeit, mit der der Ennui wieder einsetzt. Emmas Mimik sagt alles. Der Erzählstrang der kapitalistischen Verlockungen, die in der Tat die eigentliche Ursache von Emmas Ruin und frühem Tod sind, zieht sich durch den gesamten Roman. Im Unterschied dazu wird das Thema auf nur einem Bildschirm des Teils „Leidenschaft und Enttäuschung“ herausgearbeitet, der sich aus vier Bildschirmen zusammensetzt, die in einem Würfel angeordnet sind, in dem die Betrachter_innen mehr oder weniger 11 Bei dem Geschäft handelt es sich um L’Eclaireur im Pariser Viertel Marais; der Schauspieler, der den Verkäufer bravourös verkörpert, Pierre Lassovski, ist auch im wirklichen Leben Verkäufer in dieser Boutique.

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eingesperrt sind. Auf Sitzen ohne Rückenlehne (Hockern oder Bänken) sitzend, kann man sich umdrehen, aber den Unwägbarkeiten zwischen den Episoden nicht entkommen, die sich auf diese Weise gleichzeitig entfalten. Aber, obwohl wir von allen vier Bildschirmen umgeben sind, können wir sie nicht alle gleichzeitig betrachten. In diesem Sinne konfrontiert diese Arbeit Besucher_innen mit dem eigentlichen Wesenszug der Installation: den Einschränkungen des Sehens, eingebunden in die Innen-heit („inside-ness“), die begrenzt.

Rettet die Männer

Das Casting als Instrument ermöglicht es dem Kino, den Dingen eine Form zu geben, die mit den Feinheiten der literarischen Prosa nicht gesagt, sondern nur angedeutet werden können. Dies ist eine Möglichkeit, das Potenzial des Machens zum Analysieren zu nutzen. Was alle Madame-Bovary-Filme machen, ist, die drei Männer in Emmas Leben als hässlich (Charles), nichts-sagend (Léon) und/oder hohlköpfig (Rodolphe) zu besetzen. Das beeinträchtigt das Gefühl, dass die Themen, die den Roman zeitgenössisch gemacht haben – damals wie heute –, gesellschaftlicher und nicht individueller Natur sind. Das Schreiben macht Ausflüchte, entzieht sich der Narrativität; es bleibt unmöglich, es im Akt des offenkundigen Geschichtenerzählens in flagranti zu ertappen. In diesem Sinne ist der Roman praktisch ein livre sur rien – ein Buch über nichts, trotz der dramatischen Wendung, die seine Handlung nimmt. Die Männer gleichen sich zu sehr, doch Flaubert sagt das nicht. Wir haben dieses Flaubert’sche „Unerzählbare“ – das Gérard Genette (1966) bekanntermaßen als „Flauberts Schweigen“ bezeichnet – auf der Grundlage zweier Besetzungsentscheidungen inszeniert: Erstens werden alle drei Männer vom selben Schauspieler verkörpert, zweitens sprechen Emma und ihre Männer nicht dieselbe Sprache (Abb. 1). Die erstere Entscheidung drückt aus, dass die junge Frau in niemand Bestimmten verliebt ist, sondern in die Liebe an sich – ihre Verlockungen, ihre Illusionen, ihr Drängen zu Passivität und Abhängigkeit. Die letztere Entscheidung wird der unerzählbaren Tatsache gerecht, dass Emma und ihre Männer einander nicht verstehen. Dieses sich aus der Besetzung ergebende sprachliche Nichtverstehen ist eine wohl erwogene Metapher für das Nichtverstehen auf einer tieferen Ebene. Die drei Männer in Emmas Leben werden somit davor bewahrt, zu Karikaturen zu verkommen, und zugleich werden sie zu einer Person verschmolzen.

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1 Thomas Germaine als die drei Männer, Madame B (2013)

Homais, der widerliche Apotheker, ist theatralisch in seiner Tirade gegen Justin und dem Wahnsinn nahe. Was wie die Spitze eines Eisbergs an die Oberfläche dringt, ist Homais’ Hysterie. Sogar als Karikatur ist die Hysterie – auch bei Léon zu sehen – nicht so sehr die neue Krankheit, die Jahrzehnte später durch Freud en vogue wurde. Für den Wiener war sie der Ausgangspunkt für seine Entdeckungsreise ins Unbewusste und schenkte der Kultur noch eine weitere Waffe gegen Frauen. Wie für Flaubert typisch, ist das auch etwas, das Emma und ihre Männer gemeinsam haben. Zwischen dem Klischee, über das sich allzu leicht spotten lässt, und der im Allgemeinen mit Frauen in Verbindung gebrachten Geisteskrankheit navigiert der Roman scharfsinnig und spricht die heutige 12 Gegenwart in ihrem „Postfeminismus“ an. Wir wissen, besonders seit Sartres Analyse, dass die Hysterie Flaubert selbst nicht fremd war (Sartre 1988, S. 1810f.). In genau diesem Sinne konnte er aus seinem tieferen Selbst die in dem kurzen (apokryphen) Satz ausgedrückte Idee konstruieren: „Madame Bovary, c’est moi.“ Ich zitiere ihn, um die kulturelle Bedeutung der Hysterie für Männer zu erklären, die Mathieu Montanier so trefflich erahnt und gespielt hat, sichtbar nur heute, in unserer zeitgenössischen Kultur. Jonathan Culler hat uns daran erinnert, dass Flaubert ein anderes Ende geplant hatte oder eines, das über jenes, das Homais’ Triumph markiert („Il vient de recevoir la croix d’honneur“), hinausgeht. Das kanonische Ende ist im Präsens geschrieben, so als würde es uns zu unserer

12 Mit „Postfeminismus“ spiele ich auf die Tatsache an, dass wir in der Gegenwart nicht ignorieren können, was wir bisher vom Feminismus gelernt haben.

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Suche nach aktueller Relevanz ermutigen. Doch wenn das Präsens relevant ist, dann ist es das alternative Ende, das daran anschließt, ebenso. In der geplanten Fortsetzung zu Homais’ Triumph schrieb Flaubert dieses erstaunliche Stück postmoderner Reflexion (Wortspiel beabsichtigt): „Doute de lui – regarde les bocaux – doute de son existence. [délire, effets fantastiques, la croix répété dans les glaces, pluie foudre du ruban rouge], – ,ne suis-je qu’un personnage de roman, le fruit d’une imagination en délire, l’invention d’un petit paltoquet que j’ai vu naître et qui m’a inventé pour 13 me faire croire que je n’existe pas.‘“ (Flaubert zit.n. Culler 2007, S. 686) Besonders der letzte Teil des Satzes, „der mich erfunden hat, um mich glauben zu machen, dass ich nicht existiere“, trifft genau zu: Flaubert hat ihn tatsächlich erfunden, obwohl der angegebene Grund – „um mich glauben zu machen, dass ich nicht existiere“ – „realistischerweise“ der selbstherrlichen Persönlichkeit des Apothekers entspricht. Gleichzeitig zeigt die Beschreibung einen Mann, der hysterisch wird, wenn er sich in (Selbst-) 14 Reflexionen verfängt. Ohne dieses geplante alternative Ende zu kennen, doch mit der Figur und ihrem diskursiven Status wohlvertraut, machte Montanier den Vorschlag, ein paar Hysterie-Performances zu machen, um ihr Wesen jenseits des häufig gegen Frauen gewendeten Klischees zu untersuchen. Als Charles und Emma auf einen Empfang in Paris eingeladen werden – unsere Version des Balls im Vaubyessard –, hat Homais einen nervösen Anfall in einem Wald und brüllt seine Frustration darüber heraus, dass er nicht eingeladen worden ist. Er dreht sich mit blutroten Fingern und Lippen um, was verschiedene mögliche Ursachen andeutet. Während Emmas Affäre mit Léon stalkt Homais sie in der Stadt. Doch die Anonymität, die normalerweise die moderne Stadt charakterisiert, wird gebrochen, als Homais sie plötzlich belästigt. Er fragt sie sarkastisch, was sie in der gefährlichen Stadt macht, und fügt hinzu: „Ah! Je sais! Les leçons de chant!“ Somit deutet er Emma an,

13 „Zweifelt an sich – betrachtet die Krüge – zweifelt an seiner Existenz. (Delirium, fantastische Effekte, das Kreuz wiederholt in den Spiegeln, ein Unwetter des roten Bandes), – ,ich bin bloße eine Romanfigur, die Frucht deliriöser Fantasie, die Erfindung eines kleinen Schreiberlings, den ich auf die Welt kommen sah und der mich erfunden hat, um mich glauben zu machen, dass ich nicht existiere.‘“ (Die Übersetzung ins Deutsche beruht auf der englischen Übersetzung der Verfasserin, Anm.d.Hg.) 14 Cullers (2007) Kommentar ist teilweise inspiriert von einem Text von Alain Raitt, der den letzten Satz „ein weiteres Durchdrehen der autoreflexiven Schraube“ nennt (Raitt 1986). Wir haben dieses Fragment als Epilog in den Spielfilm integriert, aber nicht in die Installationen.

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dass sie erpressbar ist. Emma entwickelt natürlich ihre eigene paranoide 15 Angst (Abb. 2). Dann, nach Emmas Selbstmord, hat Homais eine ernste hysterische Krise, in der ein Moment der Gefahr und des Scheiterns mitschwingt. Er wirft sich ins Meer, wäscht sich das Gesicht mit Algen und Schlamm, lacht, schreit und weint. Semantisch bleibt die Szene unentschieden. Auch wenn eine hysterische Krise nie schön anzusehen ist, so ist es auch nicht einfach, sie mit oberflächlicher Ironie abzutun. Somit ist die erfundene Szene eine Verkörperung der Flaubert’schen Unentscheidbarkeit, 16 die die Zuschauer_innen miteinbezieht.

2 Homais stalkt Emma, Madame B (2013)

15 Weil die Darstellerin der Emma eine erlesene Singstimme hat, verwandelten wir die Klavierstunden in Gesangsstunden. 16 Der Begriff „Unentscheidbarkeit“ („undecidability“) beschwört einen weiteren prophetischen Aspekt des Romans eher herauf als Cullers Begriff „Unsicherheit“ („uncertainty“): eine Derrida’sche Dekonstruktionsposition.

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Doch mithilfe des strahlenden nordischen Sommer-Abendlichts ist das Bild schön; das heißt nicht Homais, aber sein Abbild im Meer, mit dem er eine temporäre Einheit bildet, sodass ein wenig davon auf ihn abfärbt. Die Schönheit erzeugt Ambivalenz. Sie bringt uns die Figur näher, obwohl genau diese Nähe auch Schrecken einflößt. Er ist nass, schmutzig und schreit. Schönheit ist in der Tat ein Riesenthema für den Autor, aber auch für seine Leser_innen und Kritiker_innen sowie für uns Filmschaffende. Warum sonst hätte Flaubert fünf lange Jahre damit verbracht, seinen Roman zu polieren, wenn nicht leidenschaftlich um des „faire beau“ willen (Abb. 3)? Wir spekulieren, dass der Schriftsteller unterhalb seiner zynischen Verachtung für jedermann und jeden Satz der Ansicht war, der Reiz des Schönen sei die eindrucksvolle Macht der Schönheit; eine politische Waffe, wenn man so will. Für uns ist sie eine. Schönheit unterstützt unsere Ausstellung dabei, ihre immersive Kraft auszuüben. Das ist die richtige Stimmung, die wir Besucher_innen anbieten können, die sich fragen, was zu Emmas tragischem Ende geführt hat. Ist Homais schuldig; ist es Justin (beschuldigt von Homais)? Fühlt sich Homais schuldig, weil er weiß, dass er in seiner Hysterie zum Mörder geworden ist, oder hat er Angst vor den (juristischen) Konsequenzen? Noch einmal: Die Beantwortung dieser Fragen würde dem Roman wegnehmen, was er unbestimmt lässt, und würde die Komplexität dieser Figur verringern. Sie würde auch die Freiheit der Betrachter_innen einschränken, den von der Schönheit erzeugten Affekt mit ihren eigenen Emotionen auszugestalten (zu „fühlen“). Der springende Punkt von sowohl Montaniers Schauspiel als auch Schönheit ist die bloße Tatsache, dass sie sich ereignen. Und wieder ist man gezwungen sich zu fragen: Wer von diesen Figuren ist die verrückteste? Seltsamerweise ist es immer weniger wahrscheinlich, dass es sich dabei um Emma handelt. Und das geht uns an, jetzt. Das ist, warum Anachronismus notwendig ist, damit wir die Vergangenheit nicht auslöschen. In diesem Aufsatz habe ich meine eigene theoretische und filmische Arbeit nicht als deren Kritikerin vorgebracht, sondern als doppelte Praktikerin, um den unausgesprochenen Gegensatz zwischen Kunst und Kritik oder Theorie aufzubrechen. Mit diesem Schritt habe ich versucht, den intellektuellen Gewinn zu unterstreichen, der sich aus einer Subjektposition erzielen lässt, die ihre „erste Person“ in einem permanenten Dialog mit dem Gegenstand der Analyse anerkennt. Ob schreibend oder visuell arbeitend, jede_r Kritiker_in antwortet auch kreativ, anstatt die kulturellen Artefakte,

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3 Homais im Meer, Madame B (2013)

an denen uns etwas liegt, nur trocken zu analysieren. Auf diese Weise wurden literarische Ausdrucksmittel im Filmwerk Madame B klarer verständlich, behaupte ich, als dies eine literarische Analyse alleine bisher vermocht hat. In diesem Bestreben habe ich versucht, das Konzept des Zeitgenössischen zu verkomplizieren. Nicht nur benötigt das Zeitgenössische die Vergangenheit, wie Erinnerungsforscher_innen seit jeher argumentieren. Es braucht auch die Denkfigur eines Anachronismus, um die Vergangenheit nicht nur zu „tragen“, sondern um sie in eine Zeitgenössischheit („contemporaryness“) zu verwandeln, die es ihr ermöglicht, im Heute eine Wirkung („agency“) zu haben. Die Hoffnung darauf, dass vermieden werden kann, dass die endlosen Wiederholungen vergangener Übel uns in der Zukunft weiter verfolgen, und dass stattdessen jene Stagnation überwunden wird, ist abhängig von so einer Wirkung. In dieser Form habe ich argumentiert für die Verflechtung von Machen und Denken als eine mögliche Antwort auf Suleimans Frage, mit der ich begann: „Wie schafft man eine Zukunft, die die Vergangenheit anerkennen wird […], ohne sie zu wiederholen?“ Übersetzung: Otmar Lichtenwörther

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Für den Moment les romans de Flaubert, in: Revue d’Histoire Littéraire de la France, Nr. 4/5, Jg. 81, 1981, S. 542–562.

Abbildungsnachweis

Illouz 2007 Illouz, Eva: Cold Intimacies: The Making of Emotional Capitalism, Cambridge: Polity Press 2007.

Abb. 1-3: © Mieke Bal

Illouz 2012 Illouz, Eva: Why Love Hurts: A Sociological Explanation, Cambridge: Polity Press 2012. LaCapra 2001 LaCapra, Dominic: Writing History, Writing Trauma, Baltimore: The Johns Hopkins University Press 2001. Leitch 2003 Leitch, Thomas: Twelve Fallacies in Contemporary Adaptation Theory, in: Criticism, Nr. 2, Jg. 45, 2003, S. 149–171. Leitch 2007 Leitch, Thomas: Film Adaptation and Its Discontents: From Gone with the Wind to The Passion of the Christ, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2007. Manovich 2001 Manovich, Lev: The Language of New Media, Cambridge (MA): MIT Press 2001. Massumi 1995 Massumi, Brian: The Autonomy of Affect, in: Cultural Critique, Nr. 31, Herbst 1995, S. 83–109. Raitt 1986 Raitt, Alain: Nous étions à l’étude …, in: Revue des lettres modernes, Nr. 777–781, 1986, S. 132–51. Sartre 1988 Sartre, Jean-Paul: L’Idiot de la Famille. Gustave Flaubert de 1821 à 1857 (1971/72), Bd. 2, Paris: Gallimard 1988. Suleiman 1990 Suleiman, Susan Rubin: Subversive Intent: Gender, Politics and the Avant-Garde, Cambridge (MA): Harvard University Press 1990. Tanner 1979 Tanner, Tony: Adultery in the Novel: Contract and Transgression, Baltimore: The Johns Hopkins University Press 1979.

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Eine Art zuzuhören. Notizen aus einer interdisziplinären Praxis1 „[…] die Weigerung zu verstehen ist also auch ein fundamental kreativer Akt. Eben in diesem Ringen, dieser Weigerung einen Sinn zu geben, erwächst die Möglichkeit einer wirklich pädagogischen Begegnung.“ Cathy Caruth2 „[…] zu guter Letzt nähern wir uns Roland Barthes’ Beschreibung von Interdisziplinarität nicht als einem Einkreisen eines gewählten Gegenstands mit zahlreichen Arten wissenschaftlicher Information, sondern vielmehr als der Konstruktion eines neuen Erkenntnisgegenstands.“ Irit Rogoff 3

1. Eines grauen Morgens

Danke für die Nachfrage, aber ich kann nicht wirklich sagen, welcher Epiphanie ich mein Erwachen verdanke. So plötzlich es einzutreten schien, ließ es gleichwohl lange Zeit auf sich warten, mit nur einer seltsamen Begegnung währenddessen, die mich in Bezug auf den Status interdisziplinärer Atelierpraxis alarmierte, die dort, wo ich in jener Zeit arbeitete, umstritten war. Sie, die Begegnung, ereignete sich in der

1 Anm. d. Hg.: Beim vorliegenden Aufsatz handelt es sich um eine Übersetzung des Textes: Vera Frenkel: A kind of listening. Notes from an interdisciplinary practice, in: Lynn Hughes; Marie-Josée Lafortune (Hg.): Penser l’indiscipline. Recherches interdisciplinaires en art contemporain / Creative con/fusions: Interdisciplinary practices in contemporary art, Montreal:  Optica 2001, S 31–47. 2

Caruth 1995, S. 155.

3

Rogoff 2000, S. 29.

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Cafeteria, inmitten des Geklappers zur Mittagessenszeit. Während ich Schlange stand und geistig abwesend um mich blickte, wurde ich durch diese Worte aufgeschreckt, die wenige Zentimeter entfernt zu meiner Rechten von jemandem gesagt wurden, den ich kaum kannte, jemand aus einem anderen Department: „Die haben Ihr halbes Leben abgeräumt, nicht wahr?“, sagte er, meine Gedanken unterbrechend. Er hatte mich eine Zeit lang beobachtet, er ging beiläufig weiter, während er mit Tablett und Brieftasche jonglierte. Verwirrt ging ich gemeinsam mit ihm Richtung Kaffee-Automat und Kasse. Während er einen Styroporbecher füllte, fügte er hinzu: „… und jetzt, nehme ich an, bringen die sich in Stellung, um sich den Rest zu holen.“ Und, mit einem flüchtigen, traurigen Grinsen: „Folgen Sie meinem Rat: Lassen Sie sich nicht Ihren Elan nehmen, um für ein Programm zu kämpfen, das die nicht begreifen.“ Ich kannte den Mann nicht und es war überhaupt nicht klar, wer mit „die“ gemeint war. Ebenso unklar war, in welchem Ausmaß diese Bemerkungen meine Entscheidung beeinflussten. Wie auch immer: Innerhalb eines Monats war ich gegangen. Fünf Jahre später lädt mich Ihr Brief dazu ein zurückzuschauen und, weil es immer leichter ist, sich einer_m Fremden anzuvertrauen, bin 4 ich gewillt, Ihnen den Rest zu erzählen, einen Teil jedenfalls. Auf die eine oder andere Weise spielen Fremde in dieser Erzählung durchgehend eine Rolle, Sie sind einfach die vorerst Letzten in der Reihe. Einer der Hauptgründe zu gehen, sagte ich Freund_innen damals, war der Wunsch, mich aus der quasi-öffentlichen Arena der akademischen Lehre zurückzuziehen und mich völlig meiner privaten künstlerischen Praxis zu widmen. Das stimmt bis zu einem gewissen Grad. Aber, hätte ich die Worte zu finden gewusst, wäre es wohl zutreffender gewesen zu sagen: Unterrichten war mir immer als beides erschienen, sowohl als Vergnügen als auch als heilige Pflicht. Meine Entscheidung die Universität zu verlassen mag eher etwas damit zu tun gehabt haben, was zu jener Zeit wie ein profan hereinfallender Nebel wirkte – eine Wetterfront könnte man sagen, aus heißer Luft, moralischer Feigheit und politischem Unvermögen –, als mit irgendeinem übermächtigen Bedürfnis nach Privatheit. Wenn Nebel aufzieht, bleiben nur wenige Spalten verschont.

4 Anm. der Hrsg.: Vera Frenkel adressiert an dieser Stelle die Herausgeberinnen der Publikation Hughes/Lafortune 2001.

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Eine Art zuzuhören

Trotz sich häufender Beweise für die wachsende Bedeutung von Interdisziplinarität als Referenzrahmen in der Atelierpraxis der bildenden Kunst hatte ich eine sich beschleunigende Verschiebung hin zu einem geschlossenen Studienplan bemerkt, der sich massiv auf die Tropen und Auren der Spezialisierung gründete. Dort, wo ich arbeitete, hielt sich eine kleine Nische, die für fächerübergreifendes Denken und Praxis vorgesehen war, doch auch diese war nur dem Namen nach vorhanden, weil angemessener Raum, Ausstattung und Budget fehlten. Über Jahre haben es diejenigen, die in dieser Nische waren, durch Selbstverpflichtung und Erfindungsreichtum geschafft, Studierende anzuspornen, ihre Visionen zu verwirklichen. Aber das war wie der Versuch, Physik in einem Kirchenkeller ohne Laboreinrichtungen oder Wasseranschluss zu unterrichten. Ohne empirische Werkzeuge und Ausdrucksmittel läuft die Halbwertszeit der Energie zwangsläufig ab. Dies ist keine ungewöhnliche Geschichte. Auf dem ganzen Kontinent kämpften Kunstinstitute an den Universitäten darum, einige erfolgreicher als andere, den Abgrund zwischen ihren Wünschen und ihren Möglichkeiten zu überbrücken. Darüber hinaus herrschte in der Provinz Ontario gerade eine Ära, in der die Universitäten „auf Linie gebracht“, sprich bestraft wurden, von einer Provinzregierung, die stolz auf ihr Banausentum war. Die Welt der universitären Kunstausbildung litt damals unter einer Mutlosigkeit, die nun eine von Zynismus und Verzweiflung durchdrungene Malaise hervorzurufen begann. Ich beobachtete, wie jede sukzessive Budgetkürzung seitens der Regierung, an sich schon hinreichend entmutigend, immer stärkere Wellen der Job-Unsicherheit auslöste, bis Entscheidungsfindungen auf allen Ebenen einem Klangteppich von Euphemismen glichen und wirres Reden gegenüber dem Bedürfnis des Kunst-Machens den Vorrang erhielt. Mir wurde erzählt, dass sich dies seither entspannt habe, dass Verlagerungen beim Personal und den Ressourcen Verbesserungen gezeitigt hätten. Ich hoffe es. Doch jetzt ist jetzt, und Sie haben mich gefragt, was damals passiert ist. Eines grauen Novembermorgens im Jahr 1995 wachte ich früh auf und sah, dass es zu spät war. Der Traum, durch den ich zwei Jahrzehnte zuvor angeworben worden war, war vorüber, und was sich an seiner Stelle enthüllte, war äußerst ernüchternd. Es liegt in der Natur dysfunktionaler Beziehungen und deren notwendiger Selbsttäuschung, glauben zu wollen, besonders in dunklen Zeiten, dass Versprechen gehalten werden und sich die Dinge ganz gewiss zum Besseren entwickeln. Nach jenem grauen Morgen wartete ich

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eine Weile, arbeitete noch eine Runde Seite an Seite mit meinen Kolleg_innen und suchte nach wie vor nach vernünftigen Bedingungen für ein Atelierprogramm, das interdisziplinäre Praxis unterstützen könnte. Es wurde viel versprochen. Es gab Momente der Hoffnung. Nichts passierte. Hatte ich Lippenbekenntnissen erlaubt, mich Jahr für Jahr blinder für den wahren Kern der Situation zu machen? Konnte der Mann in der Cafeteria Recht gehabt haben? Was war er zu sehen imstande gewesen, was ich nicht sehen konnte? Darüber rätselte ich, während ich mich aufs Verabschieden vorbereitete.

2. Addieren, Multiplizieren, Bezeugen

In manchen Kreisen ist Interdisziplinarität eine simple Angelegenheit des Addierens, eine Kupplung kongruenter Funktionen, ganz wie bei dem legendären Hoover-Staubsauger: „it beats … as it sweeps … as it cleans“. Musik plus Bewegung plus Story, wobei jedes einzelne Element die jeweils anderen unterstreicht, so als ob mehr auch zugleich besser sei. Eine Strategie, die wir von der Oper bis hin zur Bierwerbung kennen. In anderen Kreisen ist Interdisziplinarität etwas komplexer, eine Multiplikation von Annahmen aus unterschiedlichen, sich gegenseitig überkreuzenden Feldern: Anthropologie mal Englische Literatur mal Biochemie zum Beispiel, oder Physik mal Architektur mal Soziologie, die Mischung ergibt eine Menge, die ergiebiger ist als bloße Hinzugabe. Anstatt in Richtung Übereinstimmung tastet sich diese ganze hybride Recherche wie eine einzige ungeschickte Kreatur seitwärts an ein gemeinsames Licht heran. Eine dritte Form der Interdisziplinarität, wenngleich sie Aspekte der sie konstituierenden Disziplinen sowohl addieren als auch multiplizieren kann (und dies auch tut), ist keine der oben genannten und unterscheidet sich von diesen durch die wechselseitige Befragung der beitragenden Teile, durch ihre Sprache der Fragmentierung und ihr Verhältnis zur Aussage/Bezeugung („testimony“). Das ist die Form, die mich am meisten interessiert. Gekennzeichnet von 5 etwas, das man im Deutschen „Medialität“ nennt (vgl. Tholen 2000) – ein Begriff, der sich auf die dynamische Beziehung zwischen verschiedenen Medien bezieht – oder „métissage“ im Französischen – ein von Édouard Glissant, einem Dichter und Essayisten aus Martinique, geprägter Begriff, der auf die Verflechtung von Kulturformen und auf den hybriden Elan der

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A. d. Ü.: Deutsch im Original.

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Eine Art zuzuhören 6 Kräfte der Kreolisierung verweist –, ist dies die Form von Kunst, die häufig als eine beschrieben wird, die eher Fragen stellt als Behauptungen aufstellt. Anders als eine Verschachtelung von sich addierenden übereinstimmenden Schichten oder ein 3D-Tic-Tac-Toe aus multiplizierten verflochtenen Weltansichten lässt sich ein intermediales Projekt oder Métissage-Werk als vielstimmiges Kraftfeld aus oszillierenden Widersprüchen sehen, als Forschungsreise oder, wie es der Medienkünstler David Rokeby ausdrückte, während er die Konturen eines großen Gefäßes mit den Händen in der Luft nachzeichnete, „ein Ort, um Ambiguität einzufassen, genau dort“. Sowohl den Text als auch die Randbemerkungen umfassend, vermeiden Projekte dieser Art ganz bewusst Endgültigkeit und laden Betrachtende zu folgender Frage ein: „Kann das wirklich wahr sein? Erwartet man von mir, dass ich glaube, was ich sehe?“, und bauen auf diese Art und Weise unerlässliche Skepsis auf. Dank seiner Kommentar- und Selbstreflexionsfähigkeit wird ein solches Werk, ob ernst gemeint oder verschmitzt, diagnostisch, womöglich sogar forensisch, wenn es von fragmentierten kulturellen Hinweisen auf Bedeutungen schließt. Angezogen von der Küche und nicht vom Wohnzimmer bewohnt es die Arena der Generalistin und des Amateurs, überzeugt davon, dass alles, was man zu wissen braucht, um ein Projekt zu realisieren, unterwegs erworben werden kann; im Dienste einer Praxis, die sich nach außen öffnet und Abgeschlossenheit ausschließt. In Bezug auf das Verhältnis zwischen Interdisziplinarität und Bezeugung und Aufschub oder Abwesenheit von Schlüssen verweist Shoshana Felman in ihrem Essay „Education and Crisis, or the Vicissitudes of Teaching“ auf „die eigentliche Geburt des Wissens durch den Prozess des Bezeugens“ und schreibt weiter: „Was die Bezeugung jedoch nicht bietet, ist eine abgeschlossene Aussage, eine totalisierbare Darstellung der Ereignisse. Bei der Bezeugung ist die Sprache in Bearbeitung und auf dem Prüfstand; sie verfügt nicht über sich selbst als Fazit […] [, sondern] sprengt dynamisch jedwede konzeptuelle Konkretion.“ (Felman 1995, S. 16f.) Dieser Gedanke wird von der Kulturtheoretikerin Irit Rogoff in der Einleitung zu ihrem Essay-Band Terra Infirma: Geography’s Visual Culture fortgeführt: „Ich bin ganz gewiss vom Argument überzeugt, dass historisches Zeugnis abzulegen bedeutet, dass man eine Verschiebung in genau jenem Paradigma bewirkt, das man

6 Vgl. hierzu Lionnet 1989, ich danke Barbara Warme van Gent dafür, mich auf diesen Text aufmerksam gemacht zu haben.

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wahrnimmt.“ (Rogoff 2000, S. 137) Was Gestalt anzunehmen beginnt, ist eine nichtlineare, ergebnisoffene, bezeugende, Paradigmen verändernde Praxis.

3. Revidierte Erzählungen …

In dieser Art von Praxis liegt eine Art von Hoffnung. Einst habe ich Folgendes geschrieben: „Wenn in den Tempeln der Kunst oder Wissenschaft Dinge getan werden, die die Frage aufwerfen, ob sie selbst wahr sind, könnte man daraus folgern, dass solch Hinterfragen selbst zur zweiten Natur, zur Maxime von Bürgerschaft werden könnte […].“ (Frenkel 2000a, S. 73f.) Und ein Jahrzehnt zuvor, bei Überlegungen zu Marketingstrategien und Simulakren: „Die hermetische Unterwasseratmosphäre des Einkaufszentrums erinnerte mich an einen Aspekt der Playboy Mansion (später Hefner Hall, Teil des Chicago Art Institute) […]. Ich hatte von Hefners Taktik erfahren, alle Fenster mit Verdunkelungsrollos auszustatten, sodass die Insassen nicht wissen würden, ob Tag oder Nacht ist. Orientierungsverlust war vorprogrammiert, um zu Enthemmung zu animieren; der Körper löste sich vom Takt seiner tageszyklischen Uhr. Ebenso wie beim Einkaufszentrum Metro Centre und seinem Metroland (einem Vergnügungspark), Simulation ist alles. Der Hammer und die Esse, von zentraler Bedeutung für die Geschichte dieser Region […], könnten nicht weiter weg sein. Es ist kein Zufall, dass Pornografie und Tourismus, Zwillings-Destillate aus Täuschung und Fragmentarisierung, die zwei größten multinationalen Branchen sind, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, uns von unseren Sinnen abzutrennen.“ (Frenkel 2000b, S. 183) Und noch früher über Wissen und Täuschung: „‚Iss diesen Apfel auf‘, sagte die Schlange, ‚und du wirst alles wissen, was Adam weiß. Vielleicht sogar mehr!‘ Nun, Eva war kein Dummchen. Den Apfel ganz schlucken? Sie macht wohl Witze, dachte sie sich. Ich würde daran ersticken! Adam hat vielleicht einen Kloß in seinem Hals, aber ich verwette alles von Pflaumen bis zu Papayas, dass er nicht auf diese Art dorthin gelangt ist. Die Schlange muss wohl langsam verblöden. Sie sah sich ihre alte Freundin ganz genau an und suchte nach Zeichen des Verfalls. Doch nichtsdestotrotz nahm sie die Frucht an, öffnete ihren Mund weit, um hineinzubeißen, lang7 sam zu kauen und den Saft über ihre Zunge rinnen zu lassen.“ 7 Aus „Lump in the Throat or the Adam’s Apple: A Revisionist History“, Erstaufnahme für „The Apple Connection“, STRUTS Gallery, Sackville (New Brunswick) 1979; neu gemastert für „Second Skin: Looking at the Garden Again“, Macdonald Stewart Art Gallery, Guelph (Ontario) 1996.

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Multidisziplinarität. Marketing. Mythos. Jeder Begriff eine Kraft der Erkenntnis und der Irreführung. Glaube ich heute an das, was ich damals geschrieben habe? Nicht ganz, doch die Worte finden für gewöhnlich ihren Weg; ganz egal, wie man später über sie denkt. Es ist tröstlich zu denken, man könne den Leser_innen vertrauen, dass sie wählen, welchen Teilen sie glauben. Fragen des Vertrauens und der Auswahl sind für eine künstlerische Praxis, der bewusst ist, dass die Erzählung häufiger der Lüge dient, den Unwahrheiten, die uns darüber erzählt wurden, wie es zu diesem oder jenem kam, von zentraler Bedeutung. Schweigen ist auch eine Folgeerscheinung. Das Unaussprechliche zu verschleiern, ist einfach nur eine weitere Art der Entstellung. Wenn Verrat im Herzen der Sprache selbst eingebettet ist und die Kunst zu ihren Dienerinnen zählt, wie beginnt Kunst dann, die Lüge im Kern der Geschichte zu thematisieren? Vielleicht indem sie in den von den Erzählungen und Leerstellen getragenen Unterstellungen Durchlässe eröffnet, indem sie durch das wechselseitige Befragen der beteiligten Elemente und des stockenden Sprechens ein fragiles Netz neuer Bedeutungen anbietet, die ersten unbeholfenen Sätze einer überarbeiteten Erzählung davon, wer wir sind und wie wir hierhergekommen sind. An dieser Stelle werden die Vorteile von Bruch und Widerspruch deutlich. Bei Paul Celan sind wir eingeladen, „der Schönheit zu misstrauen […]. Das Anliegen dieser (neuen) Sprache ist, bei aller unabdingbarer Multivalenz des Ausdrucks, Präzision. Sie verklärt nicht, sie ‚poetisiert‘ nicht, sie benennt und platziert“, seine Dichtkunst insistiert in der Tat „auf der riskanten Unvorhersehbarkeit der Aufgabe des Zeugen“ (Celan zit.n. Felman 1995, S. 46). Zögerndes, fragmentiertes, unvorhersagbares Zeugnis. Wovon?

4. Nomenklatura

Gehen wir zurück in die alten Zeiten, zu einem Meeting der Verantwortlichen an dem Tag, als sie beschlossen, dass alle „Interdisciplinary Studio“-Lehrangebote „New Media“ genannt werden sollten. Das bedeutete, dass wir dem Insistieren darauf – anlässlich eines ähnlichen Meetings im Jahr davor –, dass Interdisziplinarität ganz gewiss „Videoproduktion“ bedeuten müsse, entronnen waren. En passant wurde wie üblich darüber geredet, eine der drei Vorbühnen der Schauspielabteilung für eine gelegentliche Performancekunst-was-auch-im-

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mer-das-ist-Session zu nutzen, doch den Leuten aus unserer Nische war nur allzu bewusst, dass man das nicht ernst nehmen konnte. Das war reine Rhetorik, auf derselben Ebene wie die vertrauten, wenn auch flüchtigen Hinweise über die Jahre auf das Potenzial von Filmprojektionen als Bühnenbildern. (Schließlich war man ja der Auffassung, Film sei das urtypische interdisziplinäre Medium …? Sollte man es sich nicht zunutze machen …?) Ja, ja, selbstverständlich, würden wir sagen; gebt uns Zugang zu den Werkzeugen und Arbeitsräumen, würden wir müde wiederholen, bemüßigt, wenigstens einen Versuch zu machen, falls doch hinreichend Zuversicht im Raum war, irgendeines der wieder und wieder routinemäßig zum Ausdruck gebrachten Was-wäre-wenn und Wäre-es-nicht-großartig in die Tat umzusetzen. Zur Teestunde hin würden diese Fakultäts-Club-Spekulationen autoritativ werden und uns, die „experimentellen Typen“, lehren, wie wir das, was wir machen, besser machen könnten; auf die Notwendigkeit des Kommentars in allen unseren Unternehmungen zu sprechen kommen und für die Notwendigkeit von erläuternden Untertiteln oder von anerkannten Experten gesprochenem Voice-over zu werben, damit die Bedeutungen wirklich klar würden. Köpfe würden zustimmend nicken. Keine deiner Geheimbotschaften hier, meine Teure. Genug des Enigmatischen und Allegorischen. Besonnenheit muss siegen. Die Namensgebung blieb ein umstrittenes Thema. Es gab wiederholte Behauptungen und Drängen, befeuert vom Wunsch nach Definition, nach einer Heimmannschaft, nach einem Aushängeschild, während diese Dränger_innen gleichzeitig als Unterstützer_innen eines stylischen Gesamtkunstwerk-Konzeptes gesehen werden wollten. Da es für die involvierten Prozesse keine zufriedenstellende Bezeichnung gab, beschloss man in vielen solchen Situationen, dass alles hinreichend Vage genügen würde. Unter den Benennungsversuchen: Alternative Medien. Integratives Atelier. Produktion neuer Formen. Experimentelle Anweisungen. Integrierte Medien. Digitale Projekte. Ernsthaftes Spiel. Studio X … Und so, ohne etwas zu lösen, würde die einem untergeschobenen Kind ähnliche Praxis für ein weiteres Jahr irgendwie etikettiert in Schach gehalten werden. Es war ein ehrbares Dilemma, das Leute erfuhren, die weder böse noch dumm waren, bloß manchmal frei von Poesie, die, wie Cocteau es so simpel ausgedrückt hat, im Kern aller Kunst steckt. Doch sogar Cocteau, jener verhätschelte Verräter an Freund_innen, die er zunächst in Erstaunen versetzen wollte, hatte Celans Idee von der Aufgabe der Poesie nicht vorausgeahnt,

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die Felman wie folgt beschreibt: „ein Zusammenbrechen, ein Bruch und eine Verlagerung – des Traumes, des Verses, der Sprache und der offensichtlichen, doch irreführenden Einheiten der Syntax.“ Und sie unterstreicht dies, indem sie die Passage durch diese Fragmentierung als „eine Passage durch ein radikales Dunkel“ bezeichnet (Felman 1995, S. 41). Das Bedürfnis, diese radikale Undeutlichkeit des Dichters durch Benennung zu bedrängen und zu schieben, zu befragen und zu formen, das scheinbar polyvalente und ungebührliche Benehmen des Métisseurs zurechtzustutzen, ist eine vom Drang nach Klarheit und Kontrolle bewegte alte Geschichte. Aber, wie man so schön sagt: „In Abwesenheit von Zweifel kann es keine Kunst geben.“ Wie auch immer sie benannt wurde, die Aufgabe der Interdisziplinarität, so wie ich sie verstand, bestand darin, den Ort des Zweifels und der Unsicherheit innerhalb des kreativen Prozesses in Ehren zu halten und diese lebensnotwendige Unruhe vor Definitionen seitens der administrativen Führungsetage zu schützen. Und nicht zu vergessen, dass die heilenden Kräfte der Respektlosigkeit, die Sprengkraft des Humors und das Spiel mit Ironie wie auch deren jeweiliger Beitrag zu den Ausdrucksformen menschlicher Widerstandskraft zu ihren Strategien gezählt werden müssen. Mit den Anfängen des Kniefalls vor sämtlichen computergenerierten Bildern sprach es sich an meinem Arbeitsort herum, dass das alles schließlich in einer Art Mega-Festival kulminieren würde, von allem ein bisschen, wie in einer Phantasmagorie à la Cirque du Soleil. „Das ist die Richtung, in die die Förderungen heutzutage gehen“, sagte der derzeitige Dekan aufgeregt und wollte damit hilfsbereit sein.

5. Eine notwendige Blindheit

Jenseits der Tyrannei der Benennung beginnen schließlich doch interessante Dinge zu geschehen, wenn man mit jungen Leuten in einem Klima des Vertrauens und Forschens arbeitet. Studierende und das Vergnügen, der nächsten Generation zuzuhören und sie dabei zu beobachten, wie sie ihren Weg findet, waren das wichtigste Gegengift gegen den Nebel, doch glücklicherweise gab es noch ein, zwei andere Lichtblicke: eine_n visionäre_n Dekan_in da, eine_n idealistische_n Kollege_in dort, einen erwachsenen Elternteil, eine_n verständnisvolle_n Geldgeber_in oder Herausgeber_in …, die zusammen zu mutigen und fruchtbaren Entscheidungen kamen. Manchmal geschah das. Und schon immer gab es unter

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uns jene, die die enthüllende Kraft des Seitwärtsblickes reizvoll, die weiterhin die schräge Perspektive unwiderstehlich fanden – Duchamp, nicht Constable; Zen, nicht Orthodoxie; Wolken, nicht Kratzer. Jenseits des Seitwärtsblicks gibt es in einer Krisenzeit eine Art Blindheit. In den Worten des Filmemachers Claude Lanzmann: „Blindheit muss man als die reinste Sichtweise verstehen; als den reinsten Blick, die einzige Möglichkeit sich nicht von einer Wirklichkeit abzuwenden, die einem buchstäblich die Sicht nimmt.“ (Lanzmann 1995, S. 204) Oder, wie Françoise Lionnet im Hinblick auf eine solche Indirektheit schreibt: „Für Glissant [brachte] die Métissage, oder Verflechtung von Kulturformen, zeitgenössische Autoren und Kritiker zur Erkenntnis, dass Intransparenz und Undeutlichkeit zwangsläufig wertvolle Zutaten aller authentischer Kommunikation sind“ und im Fall der Sprache, Kultur und Kunstformen ein „multiples Ich, das durch Ambiguität und Multiplizität gedeiht“, aufrufen (Lionnet 1989, S. 4). Intransparenz, Undeutlichkeit, Multiplizität, Ambiguität ergeben möglicherweise wenig Sinn für jene, denen Intermedialität suspekt ist. Und so entwickelten sich weiterhin Bedingungen, die das ästhetische, intellektuelle und moralische Abenteuer, das uns einst zusammengebracht hatte, ausschlossen.

6. Lücken und Verbindungen: Erinnerung und das Dazwischen

Eine in der bildenden Kunst situierte interdisziplinäre Praxis umfasst ein breites und vielfältiges Formenspektrum, von Installation bis Performance, von Foto-Text-Kombinationen bis New-Media-Arbeiten, von Text- bis hin zu Klangerforschung, wobei jede Form auf ihre eigene Art die Lücken und Leerstellen anerkennt, die die Fragmentierung der Kultur kennzeichnen und, infolge der Traumata von Krieg, Migration und rasantem kulturellem Wandel, die Entleerung der Sprache. Mit der Vorstellung von Kunst als Reise anstatt als Eigentum erlaubt das paradoxe Konzept der Übertragung des Unübertragbaren die Einbindung von Erinnerung und Hoffnung, von Naht und Heilung (vgl. Eiblmayr 1994). Der Philosoph Avishai Margalit unterschied in einem Vortrag im Jahr 2000 zwischen kollektiver und geteilter Erinnerung. Erstere ist ein aggregierender Prozess, das umfassende Auftreten von persönlichen Erinnerungen an dasselbe Ereignis, das Margalit auch als gemeinschaftliche Erinnerung bezeichnet; und dem gegenüberstellt, was geschieht, wenn Menschen ihre getrennten und unterschiedlichen Versionen oder bruchstückhafte

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Erinnerungen an dasselbe Ereignis zu einem miteinander geteilten Gan8 zen verbinden, das er einen integrativen Prozess nennt. Eine dritte Option bildet sich heraus. Auf Grundlage dessen, was Margalit „dichte Beziehungen zur Welt“ nennt (sein Begriff für die tiefe gegenseitige Abhängigkeit, die sich aus der Zugehörigkeit zu einem permanenten Netzwerk von Beziehungen zu anderen ergibt), bereitet die integrative Kraft geteilter Erinnerung den Weg für eine ethische Erinnerungsgemeinschaft, eine geteilte moralische Verantwortung für die Kontinuität der Kultur durch Zeugnisablegen und die Schaffung eines Ortes für verbindende Zeugenschaft. Es ist vielleicht nicht so abwegig, dass diese Aufgabe, den roten Faden der Kontinuität in einer Kultur zu schützen, der künstlerischen Praxis zufällt, die am besten auf deren Lücken, Leerstellen und Abwesenheiten eingestellt ist. Angesichts der eingangs erwähnten Zugänge zu Interdisziplinarität suggeriert der erste in der sauberen Kongruenz seiner Bestandteile – ein Stapeln oder Zusammenzählen von Elementen aus separaten Disziplinen zur Schaffung einer geschichteten Einheit, in der jede Schicht in der anderen widerhallt – eine Welt in Harmonie, vergleichbar mit dem Phänomen, das Margalit gemeinsame oder kollektive Erinnerung nennt: Alle erinnern sich an dasselbe auf dieselbe Art und Weise und imaginieren, weil es keinen Austausch über Sichtweisen gibt, dass diese parallelen Erinnerungen eine Art des Teilens begründen und nicht ein Spiegelkabinett. Der zweite Ansatz, dessen Multiplikation von Faktoren Überraschungen und Entdeckungen zulässt, bleibt ein konsequentes Forschungsinstrument, das investigative Stärken und Einsichten vereint, die sich aus dem Vermischen von Sprachen ergeben. Jeder der beitragenden Referenzrahmen erhellt den anderen und funktioniert dabei eher ko-operativ und durch die Einbindung von Wahrnehmungen wie in der geteilten Erinnerung denn bloß als in unterschiedlichen Medien artikulierte, gesammelte Wiederbehauptung dessen, was bereits bekannt ist. Eine dritte Form der Interdisziplinarität, die ich in der Vergangenheit mit einer Art Kreolsprache verglichen habe (vgl. Frenkel 2000a), hat, so wie jedes Kreol oder sogenannte Pidgin, ihre eigene Grammatik, eine zugrunde liegende Struktur, die sich aus dem Bemühen um die Überbrückung unüberbrückbarer Lücken zwischen

8 Avishai Margalit: The Ethics of Memory, Harry-Crowe-Gedenkvorlesung, 3.2.2000, York University, Toronto.

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disparaten Teilen, Wirklichkeiten oder Sprachen herauskristallisiert. Die neue Struktur, entstanden aus der Spannung zwischen der Lücke und der Dringlichkeit, diese zu überwinden, findet bemerkenswerterweise Möglichkeiten, Bedeutungen zu erfinden, die sich vermitteln und verstehen lassen. Strang um Strang, Geste um Geste webt eine solche Arbeit in einer besonderen Art der Intermedialität die zerbrechlichen und prekären Verbindungen über die Räume zwischen verschlossenen Bedeutungen auf beiden Seiten hinweg. Dieser Prozess der Erfindung einer Grammatik aus Fragmenten, eine Art, die konstitutive Vergangenheit anzuerkennen und die hybride Zukunft zu strukturieren, unterscheidet die interdisziplinäre Praxis von geschichteten Wiederholungen oder Medienspektakeln (vgl. Frenkel 1999) und bildet die Grundlage dafür, was Margalit eine ethische Erinnerungsgemeinschaft genannt hat. Das bringt uns wieder zum Begriff pratique de métissage, den Édouard Glissant als ein Verfahren zur Beschreibung kultureller Kreolisierung vorschlug, „die Dilemmata all jener [erkennend], die im Zwischenraum zwischen verschiedenen Kulturen und 9 Sprachen überleben (und schreiben) müssen“ (Lionnet 1989, S. 1). Selbst in den friedlichsten Winkeln der Welt ist es nun Normalität, in einem Bewusstsein vom Abgrund oder Zwischenraum zwischen unterschiedlichen Kulturen und Sprachen zu leben. Die Krisen des 20. Jahrhunderts haben ihre Schatten auf jedes noch so homogene, friedliebende Milieu fallen lassen. In der Bindung zwischen den Generationen, die wir Lehre nennen, erfordert es nur eine Art Initiation, eine Einführung in bestimmte Denkgewohnheiten, die bereits angesprochene Schulung des Vertrauens, um eine Kunst zu schaffen, in der eine Welt voller widersprüchlicher Bedeutungen vom Kunstwerk getragen und vom Betrachter aufgenommen werden kann. Trotz der scheinbaren Abstraktion dieser Beschreibung ist sie ein höchst praktisches Unterfangen. Doch in der Hast, alles zu verstehen, und in der Abhängigkeit von fachspezifischen Praktiken, in welchen die Bedeutung eines Studiums in erster Linie an der Anzahl der Arbeitsplätze gemessen wird, die auf dessen Absolvent_innen warten, kann man sehen, wie ein Labor für interdisziplinäre Atelierpraxis als zerbrechliches Glied in der Lehrplankette betrachtet werden musste. In Leonard Cohens Gedicht „Nothing Has Been Broken“ ist ein Glied in einer gefährdeten Kette ein blauer Schmetterling, die Stelle, an der die

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Vgl. zum Métissage-Konzept bei Glissant: Lionnet 1989, S. 3ff.

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Kette am zerbrechlichsten erscheint. Gleichwohl sind in diesem Gedicht einige Angreifer_innen gezwungen sich zurückzuziehen, „verwirrt vom blauen Staub“, andere „wurden durch Stromschläge der blauen Fühler getötet“ oder „bluteten aus dem Mund, so als ob sie niedergestreckt worden wären“ (Cohen 1966, S. 22; vgl. Frenkel 1996); keine_r von ihnen fähig zu sehen, dass das scheinbar schwächste Glied in Wirklichkeit das stärkste war. Wäre das Leben ein Gedicht, könnte ich Ihnen sagen, dass die Universität zur Vernunft gekommen ist.

7. Die Obszönität des Verstehens

Eine grundlegende Prämisse einer interdisziplinären Atelierpraxis ist es, von Dingen auszugehen, die man nicht versteht. Diese Arbeitsmethode ist Traumaforscher_innen geläufig, deren Arbeit darin besteht, offenen Auges auf Dinge jenseits aller Erklärbarkeit zu blicken. „Ich bin genau von dieser Unmöglichkeit ausgegangen, diese Geschichte zu erzählen: […]. Ich habe eben diese Unmöglichkeit zu meinem Ausgangspunkt gemacht“ (Lanzmann zit. n. Caruth 1995, S. 154), sagte Claude Lanzmann 1990 über Shoa, seinen Film über Holocaust-Zeugenschaft. „Es liegt eine absolute Obszönität im Projekt des Verstehens selbst.“ (Lanzmann zit.n. ebd.) Über das Thema seines Films führt er weiter aus: „Nicht zu verstehen war mein eisernes Gebot während der ganzen elf Jahre der Produktion von Shoa. Ich hatte mich an diese Weigerung zu verstehen als die einzig mögliche ethische und zugleich einzig mögliche Arbeits-Haltung geklammert.“ (Lanzmann zit.n. ebd., S. 154f.) „Es herrschte eine absolute Diskrepanz zwischen dem Buchwissen, das ich erworben hatte, und dem, was mir diese Menschen (die Interviewpartner) erzählten“ (Lanzmann zit.n. ebd., S. 155), schreibt Lanzmann, worauf die Autorin und Herausgeberin Cathy Caruth folgenden Kommentar hinzufügt: „Die Weigerung zu verstehen ist so auch ein fundamental kreativer Akt […]. Eben in diesem Ringen, dieser Weigerung einen Sinn zu geben, erwächst die Möglichkeit einer wirklich pädagogischen Begegnung […].“ (Ebd.) Caruth kommentiert weiter: „Die Unmöglichkeit einer verständlichen Geschichte bedeutet jedoch nicht notwendigerweise die Leugnung einer vermittelbaren Wahrheit […]. Der Akt der Verweigerung ist daher keine Leugnung eines Wissens über die Vergangenheit, sondern vielmehr eine Möglichkeit, Zugang zu einem Wissen zu erlangen, das die Form eines ‚narrativen Gedächtnisses‘ noch nicht erlangt hat. In ihrem aktiven Wi-

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derstand gegen die Gemeinplätze des Wissens eröffnet diese Weigerung den Raum für Zeugenschaft, die über das hinaus sprechen kann, was bereits verstanden wird.“ (Ebd., S. 156) Wenn dieses Eröffnen eines Raumes für Zeugenschaft, durch welchen verschiedene gleichzeitige Widersprüche oszillieren können, typisch für eine interdisziplinäre Atelierpraxis innerhalb einer ethischen Erinnerungsgemeinschaft ist, warum haben die Menschen Angst? Wie konnte es geschehen, dass wir zwischen Anfang der 1970er Jahre und Mitte der 1990er Jahre Zeug_innen eines stetigen Entzugs von Möglichkeiten für vieldeutige künstlerische Forschung geworden sind? Mit einem aufschlussreichen Argument, in dem sie auf die Dilemmata eines vorangegangenen Jahrhunderts zurückgreift, lüftet Lionnet die Maske gerade weit genug, um das Gesicht der Angst darunter aufzudecken, wenn sie schreibt: „[…] die an poststrukturalistischen Erkenntnistheorien geübte Kritik hat beunruhigende Parallelen zum Polygenetik-Diskurs der rassischen Reinheit im 19. Jahrhundert […]. Unbestimmtheit, Hybridisierung und Fragmentierung werden gefürchtet wegen Gefahren der ‚Entartung‘ der Spezies Mensch, der Rasse und der ‚traditionellen‘ literarischen Kultur. Wenn métissage und Unbestimmtheit tatsächlich Metaphern für unsere eigene postmoderne Kondition sind, dann sollte der fundamentale Konservatismus jener, die beides bekämpfen, offensichtlich sein.“ (Lionnet 1989, S. 17) Wie also lässt sich dieses rätselhafte, vieldeutige und scheinbar bedrohliche Zeug tatsächlich unterrichten? In ihrer Beschreibung der pratique de métissage als „eine Gegenideologie zu den totalisierenden Sprachen des Rassismus durch Aufdeckung unserer rhetorischen Konventionen“ und durch Aufrufen von Darwins Divergenzprinzip (das von jenen, die dessen Gedanken vom Überleben der am besten angepassten Individuen – survival of the fittest – hörig waren, so oft unberücksichtigt gelassen wurde) liefert uns Lionnet einen weiteren Schlüssel, indem sie vorbringt, dass in „Darwins Divergenz […] ein vorgegebener Raum (Text) mehr Leben unterstützen (mehr Bedeutungen generieren) wird, wenn dieser von unterschiedlichen Lebensformen (Sprachen) besetzt ist […] und damit Zwischenräume privilegiert, in denen Grenzen ausgelöscht werden und manichäische Kategorien ineinanderfallen.“ (Ebd., S. 4, 16) In ihrer Beschreibung einer wirklich pädagogischen Begegnung betont Cathy Caruth, dass „es letztlich an der Art und Weise liegt, wie eine Rede, die im Kampf um die Vermittlung traumatischer Erfahrungen situiert ist, über einfaches Verstehen

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Eine Art zuzuhören

hinausgeht, ob sie die Möglichkeit dafür eröffnet, was eine wirklich historische Übertragung genannt werden könnte“. Caruth legt nahe, dass die schwierige Aufgabe dessen, was sie „historisches Zuhören“ nennt, nicht nur für eine noch nicht anerkannte traumatische Vergangenheit gilt, sondern auch „in Bezug auf eine Rede, die versucht, aus einer Krise heraus zu sprechen, die noch nicht vorbei ist“ (Caruth 1995, S. 156). In anderen Worten eine bezeugende, mehrdeutige Praxis des Nichtwissens, die versucht, aus einem fortlaufenden Krisenzustand heraus zu sprechen. Es ist eine Kunst, in der sich in Rogoffs Worten „zwischen den konstitutiven Bestandteilen ein Anflug von Gleichwertigkeit und Gegenseitigkeit vollziehen könnte […], durch die sich eine Form der Kulturpolitik aus dem Kunstwerk heraus entwickeln könnte, anstatt dass sie dessen Materialien aufgezwungen würde“ (Rogoff 2000, S. 8). Dies legt eine Redepraxis nahe, die „die Gemeinplätze des Wissens“ oder „die Obszönität des Verstehens“ ablegt und aus ihrer Position des bewussten Nichtwissens die Kluft zwischen einer imaginierten gütigen Welt und dem akkumulierten Trauma tatsächlicher Ereignisse anerkennt – nicht übertüncht, nicht überbrückt, nicht davor flieht, sondern sich dazusetzt und zuhört – und eine Art des Zuhörens begründet.

8. Keine Geschichte zu erzählen

„Gibt es eine Beziehung zwischen der Krise und dem Bildungsvorhaben an sich?“, fragt Felman (1995, S. 13) zu Beginn des Essays, aus dem ich oben zitiert habe. Ich glaube, an meinen bisherigen Aussagen können Sie ermessen, dass meiner Meinung nach eine besteht. Im Rückblick jedenfalls, als Antwort auf Ihre freundliche Anfrage, wird klar, dass eine bestimmte Form der Institution – jede Institution, die sich Berufsausbildung und Beschäftigungsperspektiven widmet und in gewisser Weise auch dazu verpflichtet ist – Anliegen wie jene, die Caruth, Felman, Lanzmann, Lionnet und Rogoff formuliert haben, beunruhigend finden muss. Und dennoch … Vielleicht sollte ich mich an dieser Stelle wieder zurück in die Gegenwart versetzen und Sie bitten, alles, was ich bislang gesagt habe, zu ignorieren, und stattdessen zu Ihnen sagen, wie man nach einer Scheidung bei Freund_innen oder Fremden darauf besteht: „Aber da gibt es nichts zu erzählen. Ja, ja, wir sind noch immer wirklich gute Freund_innen; selbstverständlich sind wir das. Kein Unglück ist passiert. Wir gin-

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gen bloß getrennte Wege, das ist alles.“ (Ein Achselzucken funktioniert hier vielleicht gut.) Doch insgeheim wissen Sie es besser. Nochmals danke der Nachfrage. Übersetzung: Otmar Lichtenwörther, Redaktion: Sigrid Schade

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Eine Art zuzuhören

Literatur Caruth 1995 Caruth, Cathy: Introduction (II. Recapturing the Past), in: dies. (Hg.): Trauma: Explorations in Memory, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1995, S. 151–157. Cohen 1966 Cohen, Leonard: Nothing Has Been Broken, in: ders.: Parasites of Heaven, Montréal: McClelland & Stewart 1966, S. 22. Eiblmayr 1994 Eiblmayr, Silvia (Hg.): Suture – Phantasmen der Vollkommenheit, Ausst.-Kat., Salzburg: Salzburger Kunstverein 1994. Felman 1995 Felman, Shoshana: Education and Crisis, or the Vicissitudes of Teaching, in: Cathy Caruth (Hg.): Trauma: Explorations in Memory, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1995, S. 13–60.

Lanzmann 1995 Lanzmann, Claude: The Obscenity of Understanding. An Evening with Claude Lanzmann (1991), in: Cathy Caruth (Hg.): Trauma: Explorations in Memory, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1995, S. 200–220. Lionnet 1989 Lionnet, Françoise: Introduction: The Politics and Aesthetics of Métissage, in: dies.: Autobiographical Voices: Race, Gender, Self-Portraiture, Ithaca: Cornell University Press 1989, S. 1–29. Rogoff 2000 Rogoff, Irit: Terra Infirma: Geography’s Visual Culture, London: Routledge 2000. Tholen 2000 Tholen, Georg Christoph: Metaphorologie der Medien, in: Zäsuren/Césures/Incisions. E-Journal für Philosophie, Medien, Kunst und Politik, Nr. 1, Jg. 1, 2000, S. 134–167.

Frenkel 1996 Frenkel, Vera: Almost Broken: A Stroll at the Edge of the Cliff, in: RACAR (Revue d’art canadienne/Canadian Art Review) Nr. 1/2, Jg. 21, 1996, S. 1–6. Frenkel 1999 Frenkel, Vera: Inside Exile: Überholte Voraussetzungen, neue Medien und die Produktion von Bedeutung, in: Sigrid Schade; Georg Christoph Tholen (Hg.): Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München: Fink 1999, S. 494–497. Frenkel 2000a Frenkel, Vera: Revisiting the Power of Absence: Silences, Shadows and Remembering, in: Christine Bernier et al. (Hg.): Mémoire et Archive. Définitions de la culture visuelle IV, Montréal: Musée d’art contemporain de Montréal 2000, S. 61–78. Frenkel 2000b Frenkel, Vera: This is your Messiah Speaking (1990), in: Jody Berland; Shelley Hornstein (Hg.): Capital Culture. A Reader on Modernist Legacies, State Institutions, and the Value(s) of Art, Montreal: McGill-Queen’s Press 2000, S. 177–199.

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Wohnen. Domestisches, Wohnwissen und Schau_Platz: Kulturanalysen zum Gesellschaftlichen des Ein_Richtens: Theoretische Prolegomena für eine kunstwissenschaftliche Wohnforschung Ein brodelnder Kochtopf, am Tisch sind ein paar halbleere Gläser stehen geblieben, ein SMS-Piepsen vom Sofa, das WC rauscht, die Bettdecke ist zurückgeschlagen … Wohnen ist einfach. Es organisiert – sofern man zu jenen Teilen der Weltbevölkerung gehört, die über einen intakten Wohnraum verfügen – alltägliche Lebensbedürfnisse, inklusive der Wünsche, doch auch der Ängste. Doch Wohnen ist nicht einfach einfach, sondern zweifach. Das heißt, Wohnen hat zwar mit Primärbedürfnissen zu tun, ist jedoch deswegen nicht unvermittelt, sondern immer vermittelt und mitnichten ein gesellschaftsfreier Raum. Finanzielle Bedingungen, Gesundheitspolitik, Körpervorstellungen, Geschlechterzuschreibungen, Gestaltungsideale, Moralbewertungen, mediale Wohnvorbilder, Familienmuster, sexuelle Normen, Raumaufteilungskonventionen etc. sind ständige Mitbewohner in den eigenen vier Wänden. Wohnen ist individueller und sozialer Aufenthalt inmitten des Gesellschaftlichen. Daher rührt auch die hier verwendete Schreibweise Ein_Richten (und nicht Einrichten): Sie markiert das Verhältnis zwischen der Einrichtung des Wohnens, der Wohnung und der Einrichtung des Subjekts in seinen sozialen Bedingungen. Es ist eine doppelte Ein_Richtung, die am Ort des Wohnens zusammentritt, da wesentliche Sozialisierungsprozesse im Rahmen des Wohnens und der Wohnprozesse stattfinden. Dieses doppelte Ein_Richten

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Irene Nierhaus 1 ist in verschiedensten Kulturen zu finden, wenn sich auch die folgende Darstellung im Wesentlichen auf die den europäischen Mittelschichten zugeschriebenen Wohnvorstellungen bezieht.

Das Domestische

Wohnen ist von sozial strukturierten Raumpolitiken geformt, die Vorstellungen und Realisierungen von Individualität, Gemeinschaft, Familialität etc. einem sozialen, temporären oder permanenten Verhäuslichungsprozess unterziehen. Damit konfiguriert Wohnen als komplexe und situative Ortsverfassung domestische Sinn- und Handlungsbeziehungen. Als das Domestische wird hier eine strukturell-systemische Agglomeration bezeichnet, die Wohnen in seinen Bedingtheiten, Repräsentationen und Potenzialen als dynamisches, unabschließbares Feld zu fassen versucht. Es zeigt kulturelle und soziale Verhäuslichungs- bzw. Häuslichkeitsprozesse, die Angelegenheiten des Wohnens ordnen, anordnen und regulieren und damit bestimmte ortsbezogene Subjekt- und Gemeinschaftsökonomien herstellen (z.B. Ehe- und Familienverständnis, Gefühlshaushalte etc.). Ökonomie im Sinn von oikonomia, die Haushaltung und Haltung des Hauses, die sich aus dem oikos, dem Haus und Hauswesen, und dem nomos, dem Verfahren, Gesetz und Brauch, bzw. dem nemein, dem Verwalten, Steuern und Lenken, zusammensetzt. Das Domestische produziert Wohnen als normativ geprägten Aufenthalt im Gesellschaftlichen, der das Wechselspiel zwischen Ein_Gerichtet-Werden und Sich-Ein_Richten, zwischen Fremd- und Selbstbestimmung enthält. Zum Domestischen und zum domestischen Narrativ der Moderne (verstanden als Epochenbegriff seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts) gehört die Selbsttätigkeit des Subjekts in seiner Individualität. So stellt sich das Ein_Gerichtet-Werden und das Sich-Ein_Richten nicht als einfache Opposition, sondern als Changieren zwischen Normierun-

1 Eine nicht-zentraleuropäische Ausformung dieses Verhältnisses zwischen der Einrichtung des Wohnens, der Wohnung und der Einrichtung des Subjekts stellt beispielsweise das System der „Mahala“ dar. Die Mahala ist eine vom Balkan bis nach Asien verbreitete Form der sozialen (Selbst‑)Regulierung von Nachbarschaften und Wohnquartieren, die z.B. in der usbekischen Gesellschaft Bereiche der Rechtsprechung und Verwaltung, aber auch Nachbarschaftshilfe, Lebensberatung sowie das Aushandeln sozialer Normen und Verhaltensweisen umfasst. Das System ist in den verschiedenen Regionen freilich unterschiedlich ausgestaltet und hat auch unterschiedliche Bezeichnungen in den verschiedenen Landessprachen.

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Wohnen. Domestisches, Wohnwissen und Schau_Platz

1 Privacy is not a crime

2 Home is for the heartless

gen, Begehren und porösen Öffnungen dar. Es ist ein Sich-Ein_Richten/ Ein_Gerichtet-Werden. Damit ist auch keine einfache Ethik fixierbar, wie Wohnideologien (Abb. 1 und 2) nahelegen, die Wohnen entweder als Sanktorum („gut“, da sich das Persönliche im Freiraum des Privaten fern des Staatlichen verwirklichen könne) oder als Apokalypse („schlecht“, da sich in den Dunkelzonen des Privaten Unterdrückung und Gewalt ungesehen einnisten können) aufrechterhalten oder verwerfen wollen. Das Domestische ist auch nicht sinnvoll auf einer Seite der klassischen Polarisierung von öffentlich und privat zu lokalisieren. Wir Weltbewohner_innen wohnen und bewohnen Vieles, viel Verschiedenes und auf verschiedene Weise: die Wohnung, das Zimmer, die Hütte, den Lieblingsplatz, das Auto, das Büro, den Obdachlosenkarton, das Zugabteil, die Parkbank, das Bricolage-Gehäuse der Barackensiedlung, das Feldbett und die Matratze im Asylbewerber_innenheim, das Hotel und Flüchtlingslager oder auch die durch Zerstörung in kriegerischen

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3 Paolo Pellegrin, Das zerbombte Viertel Sha’af nach den Luftangriffen 2014, im Norden von Schidschaia, einem Vorort von Gaza-Stadt

Konflikten entstandenen Wohnruinen und damit auch das verunmöglichte Wohnen (Abb. 3). Wohnen bzw. das Domestische lässt sich also nicht dem Öffentlichen gegenüber anordnen – etwas, das in architekturund kunstwissenschaftlichen Debatten zwar häufig als selbstredend vorausgesetzt wird, dann doch und dennoch hartnäckig selbst bei ausgewiesenen Kritiker_innen hervorlugt, wenn die Aufmerksamkeit vom unmittelbaren Widerspruch wegverlagert wird und man sich in den endlosen Diskursdeklinationen von privat und/versus öffentlich und ihren jeweils historisch zugeordneten Bedeutungsclustern bewegt. „Das Private erscheint, als triebe es in Pluralität, Dispersion, Teilung oder Fragmentierung“ (Teyssot 2002, S. 238), und wird zu den Sphären des Öffentlichen, des Staates, der Nation, der Produktion und des Allgemeinen in Gegensatz gesetzt. Wohnen wird als „kleiner“, partikulärer, unpolitischer – weil dem Privaten zugehöriger – Raum beschrieben, wie auch Foucault gegenüber den „großen Strategien der Geopolitik“ von den „kleinen Taktiken des Wohnens“ spricht (Foucault 2003, S. 253). Ziel kann weder die Tilgung noch die Fixierung der Differenz sein, vielmehr gilt es, sich dieses Doppelte zu vergegenwärtigen. Also das Doppelte in seinem Zusammenspiel von „großen Strategien“ und „kleinen Taktiken“ oder seiner Verschiedenheit in konkreten historischen Situationen und ihren politischen Interessenskonstellationen zu beachten – und das jeweils entstandene Verhältnis zwischen Macht, Ermächtigung und Selbstermächtigung zu analysieren.

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Wohnen. Domestisches, Wohnwissen und Schau_Platz

4 Bessere Zukunft? Auf der Suche nach den Räumen von Morgen, Buchcover, Buchhandlung

5 Inhaltsverzeichnis (Ausschnitt)

Mit Blick auf die urbane Öffentlichkeit hat Georges Teyssot von einer 2 „Phantomöffentlichkeit“ gesprochen (Teyssot 2002, S. 237), die auf der Fiktion von Stadt im Sinne des europäischen Stadtplatzes und seiner öffentlichkeitsbildenden Relevanz beruhe. Hinter dieser „Phantomöffentlichkeit“ des Städtischen verschwindet das Wohnen, degradiert zum politisch irrelevanten Raum der bloßen Erfüllung von Grundbedürfnissen. Auch wenn Städte im Wesentlichen Wohnstädte sind, gilt dieses Verschwinden des Wohnens hinter den Bildern der Stadt heute ebenso für das theoretische wie historische Nachdenken über Raum und Architektur im Allgemeinen. Dieses wird fast ausschließlich an Fragen der Stadt, des Städtebaus, öffentlicher oder als globalisiert imaginierbarer Bauaufgaben und Räume verhandelt bzw. Wohnen und Wohnbau wird selten zur diskursleitenden disziplinären Analysekategorie von Raum (und Rauminnovationen) gemacht 3 (vgl. Abb. 4 und 5 ). Fragt man in diesem Zusammenhang der Suche nach

2 Teyssot problematisiert damit auch das Konstrukt der bürgerlichen Öffentlichkeit, die Idealkonstruktion des weißen männlichen Bürgers, die in der Kritik steht, ethnische, geschlechtliche, rassistische und soziale Ausschlüsse zu produzieren. Die Abbildungen zeigen stellvertretend die Tendenz von Publikationen, die sich mit 3 allgemeinen Fragen des Raums und seiner Entwicklung beschäftigen, dass Wohnen als das

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6  Auslage zur Kategorie „Wohnen“ in einer Buchhandlung

neuen Raumstrategien nach dem Wohnen, macht sich zumeist Ratlosigkeit 4 breit, die letztendlich ihren Grund in der disziplinären Trennung und Gattungshierarchie der Architektur, ihrer Geschichte und Theorie hat. Dieser Konvention folgen auch die meisten Buchhandlungen, in denen unter der Kategorie „Wohnen“ zumeist Bildbände zu Interieur und Design zu finden sind, jedoch die entsprechende Theorie und Geschichte im Sortiment oft nicht existiert (Abb. 6). Einen Ansatz kann der von der Architekturgeschichtsschreibung selten bemerkte Tausch im Verhältnis zwischen Öffentlichkeit, Privatheit und Subjekt bilden: Im historisch Öffentlichen, als dem imaginär Allgemeinen der 5 Nation und des Staates, bleibt der einzelne Staatsbürger partikulär, also ein Teil, im privaten Wohnen hingegen soll er sich als „einheitliches“ Subjekt, als umfassende Ganzheit erfahren. Der Bewohner sollte mittels des Innen-

wesentlichste Raumsegment der bebauten Erdoberfläche, nicht als Entwicklungspotenzial verstanden wird. Nur innerhalb der disziplinären Beschäftigung mit Wohnen und Wohnbau kommen solche allgemeinen Fragen zum Zug. 4 In einer Debatte zur Entwicklung neuer Raumstrategien der Selbstorganisation im Rahmen der Schattenökonomie von globalen informellen Märkten, die ausgedehnte und dicht bevölkerte Flächen einnehmen, wurden Bezüge zwischen Architektur, Warenströmen und Kommunikation behandelt, doch die Aufenthaltsformen, das Wohnen der Marktbetreiber_innen wurden in der diskutierten Untersuchung nicht berücksichtigt (Wo wird gewohnt? Im Auto, im Wohnwagen, in einem Provisorium, im Hotel, im Warencontainer, in der Mietwohnung? Wer betreibt den Markt, einzelne Marktfahrer_innen, Familien?) – d.h., aus der Suche nach neuen Raumstrategien der Selbstorganisation war das Wohnen a priori ausgeschlossen worden, was die alte Raumschere im Kopf anzeigt. Die Debatte bezieht sich auf den Vortrag „Wohnen im Haushalt der Städte“ von Peter Mörtenböck am 9. April 2013 im Rahmen der studio-Vorträge des Forschungsfeldes wohnen +/– ausstellen in Bremen. 5

Hier steht die männliche Form, da das Prinzip auf das männliche Subjekt angelegt ist.

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raums als Interieur, d.h. dem ganzheitlich integrativen Ausstattungsensemble, eine identifikatorische, lebensweltliche Gesamtheit des Bürgertums eingehen. Diese in der Moderne über das Persönliche verschweißte Struktur der Identifikation zwischen Wohnausstattung und Bewohnerschaft wird in identitätspolitischen Strategien bis heute immer wieder neu transformiert, wie die aktuelle Fülle sogenannter Home-Stories und Wohnporträts ubiquitär über alle Medien hinweg belegt, die gleichsam das Prinzip des Selfies räumlich erweitert und Wohnen als (Selbst‑)Bestandssicherung und Maßeinheit in der gesellschaftlichen Umwelt ausgibt. Das Wechselspiel zwischen Wohnen und Identitätsprozessen kann eine Reihe von sozialen Raumbeziehungen sichtbar machen: So kulminierte die Ein_Richtung der Wohnung als Bezugssystem zur Ein_Richtung des modernen Subjekts zuerst um 1900 und wurde von Wohntheoretiker_innen und Wohnratgebern massenhaft thematisiert. In dieser doppelten Ein_Richtung wurde zwischen Innenraum und Innenleben ein Netz fluktuierender Identifikationen und Analogien entwickelt, was den im späten 19. Jahrhundert ausbrechenden Kampf um die Definitionsmacht des „guten Geschmacks“ und des „richtigen“ Einrichtens verständlich macht. 1908 analysierte Georg Simmel die Beziehung zwischen Stilisierung und Subjektivierung als Notwendigkeit, um „uns“ vom „Balancieren auf der Schmalheit der bloßen Individualität zu erlösen“ und um in die „befriedeten Schichten“ zu gelangen, in denen „man sich nicht mehr allein fühlt“ (Simmel 1993, S. 380). Stilisierung wird hier also zum Garanten eines Passepartouts des sozialen Subjektes. Durch Stilisierung, so Simmel weiter, werde das Subjekt Teil eines Sozialen, das es in seinem als ortlos und prekär verstandenen Treiben sichere, befriede und Sozialität ermögliche. Zugleich bedeutet diese „Sicherheit“ auch Kontrolle und Selbstkontrolle, mit der die als abgespalten definierte abjekte, kleine, graue, schmutzige, nie ganz passfähige Existenz mit Hausordnungen, auch ästhetischen Hausordnungen (Debatten um Wohnformen, -stile, -anordnungen etc.), konfligieren kann – etwas, das spätere Wohndenker_innen stärker in den Vordergrund gestellt haben. Das „richtige“ Wohnen ist also gesellschaftlicher Schau_Platz moderner Subjektivität, an dem diese sich fortwährend veräußern, ausstellen muss, um auch zu zeigen, dass sie nichts zu verbergen hat. Man könnte zuspitzend sagen: Wohnen wie Subjekt bringen sich im Zeigen erst gegenseitig hervor. Es ist sinnvoll, die Forschung zum Wohnen nicht allein auf die Faktizität der Objekte zu beziehen, sondern sich in Anlehnung an Teyssots „Phantomöffentlichkeit“ auf ein „Phantomwohnen“ einzulassen, das die

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Produktion der Mythen, Vorstellungen und Fiktionen des Domestischen mitreflektiert. Im Fokus dieses Beitrags steht dieses „Phantomwohnen“, das trotz des Wissens um weltweite Unterschiedlichkeiten im Domestischen hier wie gesagt im Wesentlichen auf dominante Vorstellungen europäischer Mittelschichten bezogen wird, die zugleich in Leitbilder globalisierter Mittelschichten eingehen, wie z.B. an den vom Einrichtungskonzern IKEA vertretenen Wohnvorstellungen nachzuvollziehen ist.

Wohnwissen

Das „Phantomwohnen“ ist ein Effekt des Wohnwissens – womit ein Argumentationsnetzwerk gemeint ist, das den diskursiven Haushalt des Wohnens reguliert und das Diskurse zu Lebensalltag, Lebensorganisation und Zusammenleben zu einer Art „cuisine du sens“, also der diesem Band zugrunde gelegten Barthes’schen Sinnküche, bzw. den „Machenschaften des Sinns“ verschaltet. Das Wohnwissen ist explizit und implizit sowie manifest, latent und plural, es versammelt und ordnet institutionelles, öffentliches, privates, persönliches und verschwiegenes Wissen. Es spricht uns oft per Du an und weiß Wohnen und Gewohnheit zu verschweißen. Das Wohnwissen ist damit nicht Ausdruck eines Gesellschaftlichen, sondern es ist dieses selbst, spricht es alltagstauglich und mutiert von den Aussagen des alten ständischen Wohnwissens am Beginn der Moderne im späten 18. Jahrhundert bis zur postfordistischen Gesellschaft permanent (vgl. Nierhaus/Nierhaus 2014). Im Wohnwissen, das die Bedeutungsbeziehungen im Domestischen verwaltet, wird Wohnen naturalisiert und als eigentlicher und selbstidentischer Ort des Individuums essenzialisiert, d.h. zur gesellschaftlichen Natur umgeschrieben. Dieses „natürliche“ Wissen ist freilich selbst Ergebnis eines langen historischen Prozesses. Mit der Moderne ist Wohnen zu einem vielumkämpften Schau_Platz gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Handelns geworden, in dessen Mitte Subjektivierungsprozesse bzw. die Verhandlung und die sozialen Beziehungskonfigurationen des Subjekts stehen – womit Wohnen auch als Raum der primären Erziehung von Kindern oder der Geschlechterzuschreibungen von Mütter- und Väterrollen bzw. der Aufteilung und Ordnung von Bevölkerung gemeint ist. Modernes Wohnen ist konkret mit der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft um das Modell des privaten Haushalts und der Kernfamilie als sozialer, ökonomischer, geschlechterdifferenziell durchdeklinierter

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Einheit entstanden. Die Ein_Richtung von Subjekt und Wohnen als vermeintlich „ganzheitlicher“ Raum der Reproduktion, Gesundheit und Krankheit, Einübung von Körper- und Sexualverhalten, medizinischer und ambientaler Hygiene etc. vollzieht sich seit dem frühen 19. Jahrhun6 dert und ist biopolitische Grundstruktur moderner Regulierungsmacht. Gesellschaftspolitisch gesehen ist der Wohnbau die räumlich-soziale Anordnungsform der biopolitischen Masse „Bevölkerung“, was sich in Aussagen der Wohnbaubetreiber, der kommunalen Planungsabteilungen und deren Direktiven sowie politischen Aussagen zum Wohnbau leicht nachvollziehen lässt. Wohnen, Bevölkerung und Subjekt wurden gleichermaßen ein_gerichtet (vgl. Nierhaus 2014).

Schau_Platz

Das Wohnwissen hat teil an der Organisation der Wohnbauten und Wohnräume wie des Wohnhandelns ebenso wie an den Bildwelten des Wohnens und an den Vorstellungen über – und auch von – Bewohner_innen. Das Wohnwissen, das die Bedeutungsbeziehungen des Domestischen in diskursiven Formen und Praktiken verwaltet, lenkt und formt, braucht die Repräsentationen vermittelnden Medien (vgl. dazu Nierhaus/Nierhaus 2014). Somit ist Wohnen auch als gesellschaftliches Zeigesystem ausgelegt. Das beinhaltet, dass die doppelte Ein_Richtung nicht „ist“, sondern durch Prozesse des Zu-sehen-Gebens und Zeigens erst und dauernd in Erscheinung treten muss. Im Zeigen entwickelt sich das Argumentationsnetzwerk als Schau_Platz, das Bildfindungen zum Selbst, zu Geschlecht, Familie und Heim in Variationen produziert und wiederholt. Wohnen wird so in sich ständig wiederholenden und mutierenden Wohnbildern produziert. Der Schau_Platz Wohnen ist dabei ein intermediales Geflecht aus Medien, Medienformen, Medienverbünden, Genres und Motiven. Ständig wird er produziert, modifiziert und reproduziert, in Wohnbau-Architektur, Innenraum-Ausstattung, Design, Ausstellungen, Inte-

6 Im von Michel Foucault ausgearbeiteten biopolitischen Bevölkerungsprinzip wird das ältere disziplinartechnische Zurichten des individuellen Körpers durch die biologischen Gesamtprozesse einer Bevölkerung erweitert (Geburten- oder Sterberaten, Alter, Geschlechternormen, Erblichkeit), wobei Sexualität die beiden Herrschaftstechniken von Körper/Disziplin und Bevölkerung/Regulierung koppelt. Historisch lässt sich das an Sexualpolitiken und Familien- und Eheparadigmen nachzeichnen, deren Aktionsraum ein Wohnen ist.

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rieurbildern in Kunst und Literatur, Fotografie oder Film, illustrierten Zeitschriften, TV-Sendeformaten, Internetportalen, Facebook-Seiten, Produktwerbung, Gewerbekatalogen, Reportagen etc. wie auch in der Bildproduktion von Bewohner_innen mit Fotos vom Freundes- und Familienleben, Festen, Wohn-Selfies etc. In dieser Vielfalt werden implizit oder explizit andauernd Reden übers Domizil geführt. Der Schau_Platz Wohnen wurde zugleich durch eine umfassende Wohndidaktik und eine pädagogische Anrede geleitet, z.B. in Wohnratgebern, Benimmbüchern, Wohnillustrierten oder Zeitschriftenkolumnen. Seit dem späten 19. Jahrhundert werden von Vermittlungsinstanzen, wie insbesondere den Werkbünden, in Schüben moralisch und ethisch aufgeladene Positionen zum Wohnhandeln entworfen, heute sind es auch TV-Formate wie Die Einrichter oder Besser wohnen. Dabei wurde/wird zumeist davon ausgegangen, dass Bewohner_innen zu einem vernünftigen und ästhetisch entsprechenden Wohnen erst erzogen werden müssten, was das Misstrauen gegenüber einem nicht-gelenkten Wohnhandeln der Bewohner_innen voraussetzt. Die Vermittlungsinstanzen der Wohndidaktik sind, neben der explizit verordnenden Rede, insbesondere auch implizit Integratives, das in andere Narrative (Do-it-yourself, Familienglück etc.) eingebaut ist, doch zugleich wohndidaktisch agiert, wie z.B. die als fröhliches Basteln oder weihnachtliches Schmücken daherkommenden Vorschläge zu Wohnaccessoires. Im Sinn der Selbstregulierung ist Wohndidaktik heute mehrheitlich in unterhaltenden Formaten als soft skills zu finden, etwa in den Kolumnen von Wohn-, Mode- sowie Frauen- und Männermagazinen. In Society- und Lifestyle-Magazinen, Entwicklungs- oder Liebesromanen, Familienfilmen, TV-Serien werden Geschichten vom glücklichen oder falschen Wohnen, von guten oder schlechten, „normalen“ oder „devianten“ Bewohner_innen erzählt. Mit der Warenwerbung und Katalogen wandern narrativ aufgeladene Produkte und die an sie geknüpften Erwartungen ins Haus. In den im 19. Jahrhundert aufkommenden und sich seit den 1980er Jahren explosionsartig vermehrenden Wohnzeitschriften werden diese Produkte vorgeführt und heizen Begehrlichkeiten an. Computerspiele wie SIMS oder TV-Sendeformate wie Frauentausch oder Promi-Dinner sind Freizeitvergnügen und vervielfältigen die Lust am Hinein-Äugen ins Private und am Abgleich mit den „anderen“. Dieses Begehren des „Ins-Private-Hineinschauen“ ist Teil der Differenzproduktion von öffentlich und privat. Und dazu gehört auch das Ausstellen des „Eigenen“ in Fotos, Videos und Texten der Bewohner_innen in den Sozialen Medien.

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Und noch einmal: Die Paradoxie als Problematik und Impuls

Wohnen ist also Schau_Platz von Zuschreibungen der Entwicklung von Subjektformen samt deren Vernunfts-, Affekt- und Gefühlsökonomien und -kulturen, die im Austausch mit Dingen und Erzählversionen hervorgebracht und vorgeführt werden. Im Wohnen wird die Privatsphäre als Raum der Präsenz projektiert. Doch diese dem Wohnen zugeschriebene Positivität, sein „In-der-Welt-Sein“ mit Subjekt, existenziellen Lebensfunktionen und Privatem, produziert – wie bereits erläutert – zugleich seine Nachrangigkeit in Diskursen zum „großen“ Allgemeinen der Öffentlichkeit und des Staates. Der Ort des Politischen, des Fortschritts und der Wahrheit liegt jenseits eines in den Alltag verwickelten Da-Seins. Im öffentlichen Wohnwissen wird Wohnen als Raum der Freiheit eines „Eigensten und Eigenen“ und eines Abstands vom gesellschaftlichen Regelwerk gedacht, der gleichwohl nur aufgrund dieses Regelwerks zustande kommt. Dies konstituiert das Paradoxon des Privaten und Häuslichen. Es ist ein hoch politisierter Raum, der als privater Raum des Individuums versprochen, begehrt und fantasiert und somit auch gelebt wird und Häuslichkeit als Präsenz jenseits des Symbolischen und damit jenseits des Mangels vorstellt. Diese mit der Moderne zur weitgefächerten Differenzkultur entwickelte Paradoxie bildet zugleich die Paradoxie des Subjekts selbst, wie sie von Künstler_innen vielfach thematisiert worden ist. Gegen die Doppelstrategie des regulierten Wohnraums, dessen Regulierung jedoch verschwiegen wird, richteten sich viele soziale Bewegungen des 20. Jahrhunderts, insbesondere der 1960er und 70er Jahre. Mit der Parole „Das Private ist politisch“ rückten sie das vermeintlich nur Private als Schau_Platz des Gesellschaftspolitischen ins Licht. Gegen die mythische Gründlichkeit des Wohnens haben sich insbesondere auch die Frauenbewegung und feministische Diskurse gewendet, die Wohnen als Raum von sozialer, geschlechtlicher und ökonomischer Ungleichheit, von häuslicher und sexualisierter Gewalt in den Vordergrund gerückt haben. Eine Reihe von Arbeiten von Künstler_innen wie Birgit Jürgenssen, Martha Rosler oder Vito Acconci sowie Filme wie Rosemaries Baby (Roman Polanski, USA 1968) oder Themroc (Claude Faraldo, F 1973) markieren Stationen solcher Kritik. Die kritischen Arbeiten der 1960er und 70er Jahre rieben sich vor allem am Abschließen des Wohnens (cocooning) von der Gesellschaft und somit war das zentrale Motiv der Kritik, dass das Wohnen zur Gesellschaft hin „aufgebrochen“ werden müsse. Christo-

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pher Reed attestierte dabei der Avantgarde des 20. Jahrhunderts eine generelle „antidomestic rhetoric“ (Reed 1996, S. 12). Doch nicht nur die Kritik im 20. Jahrhundert vertraut der Erfolgsstory des Wohnens nicht ganz. So zeigt die Herstellungsgeschichte modernen Wohnens seit Anbeginn ein Sprechen über Störungen, Irritationen, Unfälle, Missgeschicke und das Hineingleiten eines Unbewussten und Nicht-Kontrollierbaren in den mühsam geordneten Raum: etwa in den Horror- oder Kriminalgeschichten, in den Künsten unter anderem in surrealistischen Arbeiten oder in der Psychoanalyse, in der das Verdrängte bei Freud im Unheim des Unheimlichen auftaucht. Wohnen also auch als Raum des Schreckens, der Angst, des Übergriffs. Zudem sind – wie vorher gezeigt – Wohnen und Privatheit Transferzentren der Logistik des Sozialen und ihrer Regulatur und somit ist eigentlich die Flucht aus dem Privaten geboten. – Hinaus aus dem Schauergemach! Dieses Verlassen-Müssen des Hauses ist ein immer wiederkehrendes Motiv in Philosophie, Politik, Kultur und Kritik. So ist auch das zentrale und fundamentale Ereignis des Christentums, die Geburt des „Erlösers“, ohne Domizil: Die heilige Vorzeigefamilie ist unterwegs und in jedem Fall unbehaust, findet nur provisorisch und temporär in Ställen oder Ruinen Unterschlupf, wie die bildende Kunst in vielen Varianten ausgeführt hat. Dieser ersten Unbehaustheit folgt sogleich eine zweite, die Flucht vor Herodes nach Ägypten. Die christliche Ikonografie hat dafür Bildsujets wie „Flucht nach Ägypten“ oder „Ruhe auf der Flucht“ entwickelt. Und auch die abendländische Philosophie verwirft das merkwürdige Refugium des Subjekts, in dem es sich frei von Staat und Gesellschaft wähnt. Es ist ein dem Logos der Politik verpflichtetes Paradigma, den Ort des Politischen, des Fortschritts und der Wahrheit jenseits von Domizil und „kleinem“ Alltag zu suchen. In der politischen Philosophie lässt sich wohl kaum eine Abhandlung finden, die glaubhaft versichern wollte, im Haus sei Freiheit zu machen (außer in der Vorstellung von „innerer Emigration“ – wenn aus Gründen politischer Restriktion Äußerungen nicht im Öffentlichen artikuliert werden können; doch auch das wäre nur ein beschnittener Diskurs von Freiheit). „Freiheit“ bleibt an das Öffentliche gekoppelt, jene Raumkonstellation, in der sich „Freiheit“ gesellschaftlich legitimiert herstellen ließe – wie auch bei Hannah Arendt der Bürger der „Vita activa“ aus dem Privaten, dem opaken, dunklen Gemach des oikos, in die politische und kulturelle Öffentlichkeit der strahlenden polis emigrieren muss. Das politische Handeln bringt einen „Erscheinungsraum“ hervor, der jenseits des Domiziliaren verortet wird, um

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„zu verhindern, daß sich seine Wirklichkeit wie eine Fata Morgana in der 7 Zerstreuung der Heimkehr auflöse“ (Arendt 2010, S. 249). Die Erfahrung nationalistischer Politiken, faschistischer und nationalsozialistischer Diktaturen und der Shoah – die Mord und Vertreibung aufgrund von (Nicht‑) Zugehörigkeit zu einer Heimat legitimierten – ließ Heim in der Kritik umso mehr zum Ausgangspunkt der Flucht werden. „Not to be at home“ postuliert Irit Rogoff in ihren politisch-ästhetischen Überlegungen zum Raum und fordert gegenüber modernen Versprechen von Zugehörigkeit und Heimisch-Sein Positionen der „unhomed geographies“ (Rogoff 2000, S. 18). Im Anti-Domestischen bleibt das Haus zurück als Figur des Mangels und der an den Bedürfnissen entlangschrammenden Existenzen, über die eher Disziplinen wie Medizin oder Psychologie denn Philosophie nachdenken. Dieser Status charakterisiert auch die architekturhistorische Forschung, so werden Wohnen, Wohnbau und angewandte Kunst im Verhältnis zu Stadt, Städtebau und Urbanität deutlich nachgeordnet behandelt. Die diskursive Beschäftigung mit Stadt als das dem gesellschaftlich Allgemeinen Zugeordnete „adelt“ die Forschenden selbst noch immer mehr als jegliche Beschäftigung mit dem Wohnen (außer es ist Teil eines Meisterdiskurses oder lässt sich als Meisterwerk klassifizieren). Forschung zeigt sich also einmal mehr von den Wertigkeiten ihres Gegenstandes mitbestimmt. Und die kunsthistorische Wohnforschung produziert die Reklusion ihres Gegenstandes in weiten Teilen selbst mit, da sie die notwendige Grundlagenarbeit oft kaum überschreitet und keine kritischen Fragen im Zusammenhang mit der „bewohnten Welt“ (Hannah Arendt) zu stellen vermag und/oder mag. Das Verlassen des Hauses als Mangel ist mit dem eigentlich schrecklichen Votum der notwendigen Ablöse „von der Sorge um das Leben“ zur 8 Voraussetzung politischer Freiheit geworden. Doch der idiotes (griechisch 9 „Privatmann“) ist nicht einfach Idiot. Mit Jacques Rancière lässt sich der gängige Entwurf eines politischen Subjekts „entgegengesetzt zur Welt des Privaten oder Häuslichen der Bedürfnisse und Interessen“ proble-

7 Arendt spricht hier von den aus Troja heimkehrenden Griechen, die metaphorisch gesprochen aus der Ferne das Prinzip der polis mitbrachten. 8

Vgl. dazu mit Bezug zu Arendt Lorey 2010, S. 13.

9 1829 schreibt Wilhelm Traugott Krug zum Begriff des Idioten: „[…] dieses Wort, welches ursprünglich einen Privatmann (im Gegensatz zum öffentlichen Beamten) bezeichnet, bedeutet jetzt gewöhnlich einen gemeinen und unwissenden Menschen, einen Ignoranten“ (Allgemeines Handwörterbuch 1829, S. 439).

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matisieren. „Man setzt als Fundament der Politik diese Aufteilung, die in Wirklichkeit ihr Gegenstand ist.“ (Rancière 2008, S. 9). Es ist also weder Differenz in Indifferenz aufzulösen noch ist der Politik damit Genüge getan, das Öffentliche im Privaten zu benennen, sondern vielmehr gilt es, das Wechselspiel von Politiken als zivilgesellschaftlichen und domizivilen Artikulationen wahrzunehmen. Diese sind Teil des Wohnwissens, das ein verschiedene Medien durchziehendes gesellschafts- und subjektpolitisches Geflecht ist, das zudem kein fest umrissener, einem Logos verpflichteter Apparat ist, sondern ein latentes, fluides, sich vielfach verzweigendes und nach Lagen und Fragen sich anpassendes und modifizierbares Gefüge, das zugleich nicht nur Vollzug und Übereinstimmung ist, sondern auch Unterbrechung, Überschuss, Leerlauf, Auslassen und Intervention in das Sag- und Sichtbare des Wohnwissens birgt von demjenigen, „der nicht zählt, der keine zu vernehmende Sprache hat[,] […] der an etwas teilnimmt, woran er keinen Anteil hat“ (ebd., S. 20f.). Ein Beispiel für solche Artikulationsstrategien sind die Seven lucky Episodes regarding Resistance der serbischen Regisseurin und Performerin Sanja Mitrovic aus dem Jahr 2012. Das Video zeigt, wie sie ihren neugeborenen Sohn mit sieben Gute-Nacht-Geschichten in Möglichkeiten des Widerstands einhüllt. Die Geschichten stammen aus ihrer eigenen Kindheit im Jugoslawienkrieg und handeln von alltäglichen Interventionen in den Kriegsalltag. Eine Geschichte handelt davon, wie bei TV-Auftritten von Slobodan Milošević zunächst spontan auf dem Balkon auf Kochtöpfen getrommelt und so ein großer Lärm veranstaltet wurde, der von den Nachbarbalkonen vervielfältigt zum Getöse gegen die Kriegspropaganda wurde. In einer anderen Geschichte erzählt Mitrovic, dass ihre Familie bei Fliegeralarm irgendwann nicht mehr in den Bunker gehen wollte, stattdessen in der Wohnung Musik auf volle Lautstärke drehte und wilde Partys feierte. Das heißt, die Unterbrechung, Verrückung, De-Platzierung im Vorgesehenen verlangt nicht nur eine bereits von Politik legitimierte Praktik (z.B. Transparente tragen), sondern kann ebenso in Artikulationen des Ausweichens, des Umwege-Suchens, der Nachlässigkeit, der Übertreibung und des Verdeckens zustande kommen oder auch Wohnen als Zu-Flucht artikulieren. Die Flucht aus dem Haus kann sich da – zur Zu-Flucht mutierend – zum Schutzraum umdrehen, zum Schutzraum der Person, die bei Simmel das noch in seinen „Erregungen“ am Abgrund treibende Individuum ist, das „in den stilisierten Formgebungen, von denen des Benehmens bis zur Wohnungseinrichtung, […] eine Milderung und Abtönung [der …] akuten Persönlichkeit“ erhält

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(Simmel 1993, S. 382) und ins soziale Subjekt hinübergerettet werden kann. Vielleicht kann heute anstelle der „Abtönung“ – die so nahe an der „Abtötung“ steht – Wohnen auch als Schutzraum und bewohnbare Möglichkeit unbewohnbarer Zonen des Subjekts gelten, wie es Judith Butler in ihrer geschlechterbezogenen Subjekttheorie im Hinblick auf das „Verworfene“ formuliert hat: „[…] genau jene ‚nicht lebbaren‘ und ‚unbewohnbaren‘ Zonen des sozialen Lebens, die dennoch dicht bevölkert sind von denjenigen, die nicht den Status des Subjekts genießen, deren Leben im Zeichen des ,Nicht-Lebbaren‘ jedoch benötigt wird, um den Bereich des Subjekts einzugrenzen. Diese Zone der Unbewohnbarkeit wird die definitorische Grenze für den Bereich des Subjekts abgeben; sie wird jenen Ort gefürchteter Identifizierung bilden, gegen den – und kraft dessen – der Bereich des Subjekts seinen eigenen Anspruch auf Autonomie und Leben eingrenzen wird.“ (Butler 1995, S. 23) Und es geht nicht um ein Ankommen im Privatraum als Selbstidentischem, das mit Figuren der Nähe, des Körperlichen, des Affektiven und des Nicht-Regulierten operiert und mit dem Genuss der Heimkehr als Rückkehr „zum Ort der versperrten jouissance“ winkt (ebd., S. 263). Ein solches Heimkehren ist in der Rede vom Wohnen als „glücklichem Raum“ von Gaston Bachelard (vgl. dazu Bachelard 1987) und anderen Wohnphänomenolog_innen phantasmiert, der den fundamentalen Bruch verdrängt und Häuslichkeit als Präsenz und Reales jenseits des Symbolischen und damit jenseits des Mangels vorstellt. In der Beschäftigung mit dem Wohnen ist man nicht auf der „guten“, weil dem Individuum nahen Seite der Raumdebatte. Doch ginge es um den Versuch, Wohnen als Politisches zu lesen, das nicht in die Auflösung im Öffentlichen gezwungen wird und auch nicht „das große Andere“, die Präsenz des Selbstidentischen ist – wie es in den Reden der meisten Phänomenolog_innen des Wohnens wabert und von denen selbst kritische Denker_innen wie z.B. Gert Selle gestreift werden (z.B. Selle 2011) –, sondern in der Differenz nach Differenzstrukturen und ‑kulturen zu fragen und im Konzeptiven Blickpositionen auf das Wohnen umzuräumen.

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Literatur Allgemeines Handwörterbuch 1829 Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaft nebst ihrer Literatur und Geschichte, nach heutigem Standpunkt der Wissenschaft bearb. und hg. von Wilhelm Traugott Krug, Bd. 5, Leipzig: Brockhaus 1829. Arendt 2010 Arendt, Hannah: Vita Activa oder Vom tätigen Leben (1958), München/Zürich: Piper 2010. Bachelard 1987 Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes (1957), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1987. Butler 1995 Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin: Berlin Verlag 1995. Foucault 2003 Foucault, Michel: Das Auge der Macht (Gespräch) (1977), in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 3: 1976–1979, übers. v. Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek, Hermann Kocyba und Jürgen Schröder, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 250–271. Lorey 2010 Lorey, Isabell: Virtuosität zwischen Dienstbarkeit und Exodus. Postfordistische Öffentlichkeit, soziale Produktion und politisches Handeln, in: FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, H. 49, 2010, S. 11–23. Nierhaus 2014 Nierhaus, Irene: Störrisches Wohnen. Kollisionen von Bewohnerschaft in Kommentaren zum Neuen Bauen um 1930, in: dies.; Andreas Nierhaus (Hg.): Wohnen Zeigen. Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur (wohnen +/− ausstellen, Bd. 1), Bielefeld: transcript 2014, S. 163–182. Nierhaus/Nierhaus 2014 Nierhaus, Irene; Andreas Nierhaus (Hg.): Wohnen Zeigen. Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur (wohnen +/− ausstellen, Bd. 1), Bielefeld: transcript 2014.

Reed 1996 Reed, Christopher: Introduction, in: ders. (Hg.): Not at home. The Suppression of Domesticity in Modern Art and Architecture, London: Thames and Hudson 1996, S. 7–17. Rancière 2008 Rancière, Jacques: Zehn Thesen zur Politik, Zürich: Diaphanes 2008. Rogoff 2000 Rogoff, Irit: Terra Infirma. Geography’s visual culture, London/New York: Routledge 2000. Selle 2011 Selle, Gert: Die eigenen vier Wände. Wohnen als Erinnern, Berlin: Form + Zweck 2011. Simmel 1993 Simmel, Georg: Das Problem des Stils, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 8: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, hg. v. Alessandro Cavalli; Volkhard Krech, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 374–384. Teyssot 2002 Teyssot, Georges: Innenräume und die Phantasmagorie der Dinge, in: Peter Döllmann; Robert Temel (Hg.): Lebenslandschaften. Zukünftiges Wohnen im Schnittpunkt von privat und öffentlich, Frankfurt a. M./New York: Campus 2002, S. 229–239.

Abbildungsnachweis Abb. 1: Archiv der Autorin Abb. 2 : ©Antonio Volonnino 2013 Abb. 3: Zeit-Magazin vom 04.12.2014, © Paolo Pellegrin/ Magnum Photos/Agentur Focus Abb. 4–6: © Irene Nierhaus

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Schneewittchen, Kulturindustrie und die Stadt als Unternehmen und „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ Als Walt Disneys Schneewittchen und die sieben Zwerge am 21. Dezember 1937 in Los Angeles seine Uraufführung erlebte, durfte das ausgewählte Publikum den weltweit ersten abendfüllenden Zeichentrickfilm bestaunen. Schneewittchen revolutionierte das damals noch junge filmische Medium und machte seine titelgebende Hauptfigur aus den Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen von 1812 zur Kulturikone; zur Kulturikone einer Kulturindustrie, die über Architektur als „machine for the production of entertainment“ (Walt Disney) zur Stadt als Unternehmen und zur „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ führt, zu einer Stadt als Themenpark, wie sie der Disney-Konzern in den 1990er Jahren nach Plänen seines 1966 verstorbenen Mitbegründers mit der Planstadt Celebration in Florida tatsächlich realisierte. Hier wird die Stadt zum Unternehmensprodukt, zur Kompensationsheterotopie und zum Nicht-Ort, der seine Bewohner in ein privatwirtschaftliches Vertragsverhältnis stellt, dessen Logik jene der Kulturindustrie ist. Als Phänomen der „Übermoderne“ (Marc Augé) und des Spätkapitalismus findet dieser das „Scheitern der Aufklärung“ versinnbildlichende Stadttypus in Rem Koolhaas’ Generic City (1995) seine theoretische Fundierung und Apologie.

Schneewittchen und die Kulturindustrie

Nachdem Walt Disney und Ub Iwerks mit Steamboat Willie 1928 den ersten vertonten Kurz-Zeichentrickfilm in die Kinos gebracht hatten, der ein breiteres Publikum erreichte, sah Disney in den 1930er Jahren die Zeit für den ersten Langfilm dieser Art gekommen, der zudem in Ton und Farbe produziert werden sollte. Schneewittchen setzte dann auch in technischer

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und künstlerischer Hinsicht neue Standards und wurde minutiös vorbereitet, unter anderem durch eine Europareise im Jahr 1935, auf der sich die Firmengründer Walt und Roy Disney eine umfassende Sammlung von Märchenbüchern anlegten, illustriert von Gustave Doré, Heinrich Kley, Moritz von Schwind, Franz von Stuck, Arthur Rackham, Marianne Stokes, Moritz von Schwind und anderen mehr (Allan 1999; Allan 2006, S. 99–170). Diese Werke standen in der Folge dem Zeichnerteam der Disney-Studios, das von Don Graham vom Chouinard Art Institute in Los Angeles sowie von Eugène Fleury, Palmer Schoppe, Jean Charlot und Rico Lebrun künstlerisch angeleitet wurde (Solomon 2006), als Studienund Inspirationsmaterial zur Verfügung. Die Märchenbuch-Sammlung befindet sich noch heute in der Bibliothek des Konzerns, der Animation Research Library der Disney Foundation. Angeregt durch die europäischen Vorbilder, die es ins bewegte Bild zu übertragen galt, entwickelte Walt Disney parallel zu den 75 Episoden der Silly Symphonies (1929–39) neue Animationstechniken, neuartige Darstellungsprinzipien wie das sogenannte „follow through“ und die „overlapping 1 action“ (Canemaker 2001; Solomon 2006, S. 84, 89). Sie sollten sich als zentrale künstlerische Novitäten im Kontext des jungen filmischen Genres erweisen und mit zur außergewöhnlichen ästhetischen Qualität von Schneewittchen als frühe Pionierleistung im Zeichentrickfilm beitragen. Mit Schneewittchen kam Walt Disney nicht nur erneut zu Oscar-Ehren und auf die Titelseiten der wichtigsten amerikanischen Zeitschriften wie dem Time Magazine (Abb. 1). Dem unerwarteten kommerziellen Erfolg des Zeichentrickfilms verdankte die im kalifornischen Burbank ansässige Disney Company ihren Ausbau zu einem umfassenden Medienbetrieb, der mit seinen vielfältigen Kultur- und Konsumangeboten in weiten Bereichen der Gesellschaft präsent war. Die Filme und ihre zen1 Siehe dazu die Aussage des ebenfalls für Disney tätigen Künstlers Dick Huemer: „Cette idée – une action qui en chevauche une autre, le mouvement à l’intérieur de la figure – était quelque chose sur quoi Disney fut le premier à attirer notre attention. Cela ne se faisait pas autrefois, quand tout ressemblait à un découpage, bougeant d’un seul tenant. Personne ne pensait au vêtement du personnage, qui poursuivait le mouvement, voltigeait, puis retombait quelques plans plus loin, ce qu’il fait naturellement. Voilà pourquoi l’animation de Disney était si différente.“ (Solomon 2006, S. 89). Siehe zudem das achtseitige Unterrichtsprogramm, datiert auf den 23. Dezember 1935, das Walt Disney an Don Graham verschickte und in dem diese und andere Darstellungsanweisungen, die nebst Schneewittchen auch andere Disney-Produktionen dieser Jahre revolutionieren sollten, festgehalten sind (ebd., S. 84f.). Die Zeichner arbeiteten gleichzeitig an Schneewittchen (1937), Pinocchio (1940) und Fantasia (1940) (Allan 2006, S. 140).

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Schneewittchen, Kulturindustrie und die Stadt als Unternehmen

1 Walt Disney, Titelseite Time Magazine, 27. Dezember 1937

2 Walt Disney präsentiert Disneyland im Fernsehsender ABC, 1954

tralen Charaktere wie Mickey Mouse, Donald Duck oder die Märchenfiguren wurden auf vielfältige Weise kommerzialisiert und schon früh durch Walt Disney persönlich in eigenen Radioproduktionen – und seit 1955 in Zusammenarbeit mit ABC auch im Fernsehen – vorgestellt bzw. beworben. Insbesondere wurde dem amerikanischen Publikum dabei die Planung und etappenweise Realisierung von Disneyland präsentiert (Anderson 1994, S. 133–155; Abb. 2). ABC wiederum wurde Teilaktionär von Disneyland. Stanislaus von Moos spricht in diesem Zusammenhang von einer Medienkoalition, welche die Eröffnung dieses ersten Disney-Themenparks im Jahr 1955 überhaupt ermöglichte (Moos 2004, S. 39); eine Koalition, mit der zugleich das Prinzip des Co-Branding aus der Taufe gehoben wurde.

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Der als Vaterfigur, Lehrmeister der amerikanischen Jugend und Apologet konservativer Familienideale auftretende Konzerngründer, der politisch wie charakterlich stets umstritten war (Gabler 2006; Watts 1995), verkörperte und propagierte wie kaum jemand anders das Konstrukt des American Dream und das Ideal des „rechtschaffenen“ amerikanischen Bürgers mit Slogans wie „If you can dream it, you can do it“ oder „Get a good idea, and stay with it“. Medial omnipräsent, schrieb er sich in Kultur und Mentalität der amerikanischen Gesellschaft ein (Watts 2001). Disneys sich stetig vergrößernder Konzern für Familienunterhaltung mit seiner kommerziellen Umtriebigkeit und den unter der Dachmarke versammelten unzähligen „Untermarken“, wie Mickey, Dagobert, Schneewittchen oder Dornröschen, hatte damit wesentlichen Anteil an jenem Phänomen, das die unweit der Burbanker Disney-Zentrale in Los Angeles lebenden Exilanten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung (1944) mit dem Begriff der Kulturindustrie analysierten (Horkheimer/Adorno 2004, S. 128–176): Kunst und Kultur als Ware, wobei beide außerhalb ihres kommerziellen Erfolges nicht oder nicht mehr 2 von Bedeutung sind. Das Disney-Universum, seine kulturindustriellen Mechanismen und die ihm zugrunde liegende Ideologie wurden im frühen 21. Jahrhundert durch die Computeranimationen des Konkurrenzunternehmens DreamWorks mit den Abenteuern des Ogers Shrek und seiner holden Gemahlin parodiert und dekonstruiert (Lacassagne et al. 2011). Schon der erste Teil von Shrek (Andrew Adamson/Vicky Jensen, USA 2001), beruhend auf der Buchvorlage von William Steig, macht deutlich, dass wir es hier mit einem Ende der „großen westlichen Erzählungen“ nach Walt Disney zu tun haben: Die im Disney-Stil illustrierten Grimm’schen Märchenbücher dienen dem gutmütigen Monster als Klopapier. Seine Welt ist nicht das Märchenschloss, sondern der Sumpf, seine Verehrte, die kampferprobte Prinzessin Fiona, mutiert selbst zum Monster, und sein Reich wird bevölkert von entfesselten Figuren des Disney-Kosmos. Shrek erweist sich als witziger Gegenangriff auf den Disney-Konzern einerseits, für den Jeffrey Katzenberg vor seinem Abgang und der Mitgründung von DreamWorks die Zeichentrickabteilung sanierte, andererseits als postmodernistische Abrechnung mit der Kul2 Allerdings geht man davon aus, dass Adorno sich nicht erst in den USA, sondern bereits in Deutschland in den 1920er und 1930er Jahren mit dem Phänomen der Kulturindustrie auseinandergesetzt hat (Paetzel 2001).

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Schneewittchen, Kulturindustrie und die Stadt als Unternehmen

3  Shrek 2, „Far Far Away“, 2004, Filmstill

turindustrie, in die sich allerdings der Film und seine drei Sequels bestens gelaunt und zugleich im Wissen um die Ideologiekritik einschreiben. Besonders Shrek 2 zitiert, appropriiert und unterläuft munter das ganze Alphabet der Disney- und Hollywood-Welten. Aus der Prinzessin wird das Monster, das zu echter Liebe fähig ist, aus der guten Fee die hinterlistige Geschäftsinhaberin eines Großkonzerns, einer Fabrik für das Käufliche, für wundersame Verwandlungen und flüchtige Träume, und aus dem Märchenreich von Schneewittchen und Dornröschen bzw. den Disney-Themenparks wird das hollywoodsche „Far Far Away“ (Abb. 3), in dem nichts läuft, ohne dass zuvor die Kassen klingeln. Die Kolonialisierung der amerikanischen, schon bald auch der europäischen und außerwestlichen Gesellschaften über diese Kulturindustrie 3 à la Disney erwies sich als eminent sozialisierender Faktor, obwohl oder auch gerade weil in dieser medial konstruierten, einerseits heilen und realitätsfernen, andererseits höchst kommerzialisierten Welt Sein und Schein austauschbar, ja ununterscheidbar geworden sind, was diese Welt zur Simulation und zum Simulakrum im Sinne Baudrillards macht, der diese „Agonie des Realen“ verschiedentlich im Kontext von Disney und Disney3 Schneewittchen und mit ihm sämtliche Disney-Produkte wurden nach dem Zweiten Weltkrieg früh exportiert, in Europa gewissermaßen als Teil des Marschallplans, und kulturell adaptiert vertrieben, so beispielsweise in Japan.

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land diskutiert hat (u.a. Baudrillard 1978, 1981, 1986). Disneys Kommerzwelt, in der Schneewittchen einen Prototyp darstellt und eine initiierende Funktion hatte, kann darüber hinaus als Heterotopie verstanden werden, als „anderer Raum“ (Foucault 1992, S. 34–46), der die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse insofern reflektiert, als er sie negiert und umkehrt und in eine Zeitlosigkeit überführt, die heterochronisch ist – der Fluss der Zeit ist in ihm gleichsam ausgesetzt (ebd., S. 43; Zintl 2008, 4 S. 2). Angetrieben durch die persönlichen Interessen und Ambitionen Walt Disneys wurde die Entwicklung des auf die Schaffung von Simulakren und Heterotopien spezialisierten Konzerns denn auch früh als Stadt gedacht und konzipiert, die mit künstlich und künstlerisch geschaffener Architektur im Film – sie spielt in allen Disney-Zeichentrickfilmen eine bedeutende Rolle (Girveau 2006) – und seit 1955 in den Themenparks als „machine for the production of entertainment“ (Walt Disney) funktionierte. Diese Architektur, die Werte vermitteln will, kann und soll im Betrachter Gefühle auslösen (Angélil 2006a, S. 109). Diese wiederum eignen sich dazu, in einem größeren, d.h. wirtschaftlichen Zusammenhang optimal vermarktet zu werden. Architektur und Stadt werden damit zum integralen Bestandteil der Kulturindustrie und der ihr eigenen Logik und Kommerzialisierungsmechanismen.

Kulturindustrie und die Stadt als Kompensationsheterotopie

In ihrer Eigenschaft als Simulakrum funktioniert die mit dem Disney-Universum erschaffene Heterotopie insofern als „Kompensationsheterotopie“, als in ihr der Raum „so vollkommen, so sorgfältig, so wohlgeordnet ist wie 5 der unsrige ungeordnet, missraten und irr ist“ (Foucault 1992, S. 45). Diese Kompensationsheterotopie, in den Zeichentrickfilmen künstlerisch-fiktiv realisiert, findet mit der Idee und Verwirklichung des Themenparks ihre künstlich geschaffene Realität. Bei beiden in den USA errichteten Resorts, Disneyland (1955) und dem Walt Disney World Resort (1971), werden von der zum Konzern gehörigen Abteilung Walt Disney Parks and Resorts ver-

4 Dies bedeutet allerdings nicht, dass eine Heterotopie nicht sozialem Wandel unterläge (Foucault 2005, S. 11). 5 Foucault denkt bei dieser Kompensationsheterotopie auch an Kolonien (Foucault 1992, S. 45), was insofern interessant ist, als in ihnen Öffentlichkeit und Demokratie für die Kolonisierten nicht-existent, aufgehoben sind – dazu unten noch mehr.

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Schneewittchen, Kulturindustrie und die Stadt als Unternehmen

waltet und verfügen über ihre konzerneigene Währung, den Disney-Dollar, was ihr quasi-staatliches Selbstverständnis unterstreicht. Die Idee und die finanziellen Möglichkeiten zur Planung und Umsetzung des ersten dieser Themenparks, Disneyland im kalifornischen Anaheim, ergaben sich implizit durch den kommerziellen Erfolg von Schneewittchen. Das Konzept zu beiden Anlagen, von Walt Disney etappenweise ausgearbeitet, speiste sich aus verschiedenen Inspirationsquellen, zu denen die temporären Vergnügungsparks der ab 1851 abgehaltenen Weltausstellungen und die Parks auf Coney Island zählten, in denen wiederum so manche Attraktion der Weltausstellungen ein permanentes Zuhause fand. Aber auch der 1952 unweit der niederländisch-deutschen Grenze eröffnete, doch schon seit den 1930er Jahren geplante Themenpark De Efteling mit seinem Märchenwald ist als wichtige Referenz zu nennen. Demgegenüber verwiesen die futuristischen bzw. utopischen Elemente, die für Tomorrowland und Fantasyland als Teile von Disneyland und vor allem für Epcot (Experimental Protoype Community/City of Tomorrow) in Disneyworld charakteristisch sind (Beard 1982), direkt auf die Weltausstellung von New York 1939, von der sich Walt Disney sehr beeindruckt zeigte, oder auf jene von 1964, ebenfalls in New York, in deren Konzeption und Realisation der Konzerngründer persönlich involviert war (L’architecture du réconfort 1997; Merlock Jackson/West 2011). Um Tomorrowland, Fantasyland oder Epcot als Teile der Resorts finanzieren zu können, wurde wiederum mit Großkonzernen zusammengearbeitet, wie dies damals auch bei Weltausstellungen üblich war (Roost 2000, S. 73–75). Was sich nun in den Disney-Zeichentrickfilmen als heile und imaginäre Welt einer angeblichen Kommerzlosigkeit darbot, wurde in Disneyland und Disneyworld in Disney Incorporated überführt, ein durch den Konzern ökonomisch wie politisch besetztes Territorium (Krause Night 2014), an dessen Eingang sich der Konzerngründer jeweils in einer monumentalen Statue – ästhetisch auf ähnliche Weise wie mancher Diktator der Weltgeschichte – in Szene setzen ließ. Trickfilme und Themenparks bilden dabei in ihrer Komplementarität ein System, das von der Imagination im Film in die fingierte Realität des Themenparks überleitet und umgekehrt. Man kann nun tatsächlich ins Haus der Zwerge aus Schneewittchen oder jenes von Mickey eintreten und realiter Teil ihrer inszenierten Lebenswelten werden. Manche dieser Gebäude rezipieren dabei das von Robert Venturi für Las Vegas analysierte Gebäudekonzept der „Ente“ (Venturi et al. 1972). Es sind somit

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4 Celebration, Florida, Luftbild

Gebäude, die – unter architekturrhetorischen Gesichtspunkten – Form und Aussage, Funktion und Symbolik miteinander vereinen. Disneyland und Disneyworld finden deshalb nicht von ungefähr im kommerzialisierten Stadtraum von Las Vegas ihre Entsprechung, was erklärt, weshalb die Entdeckung von Las Vegas als wissenschaftlichem und architektonischem Sujet in den 1960er Jahren auch die Erforschung der Disney-Themenparks nach sich zog. Für deren Weiterausbau in und außerhalb der USA engagierte der Disney-Konzern unter seinem neuen CEO Michael Eisner seit den 1980er und 1990er Jahren denn auch Architekten der Postmoderne und des Dekonstruktivismus wie Michael Graves, Robert A. M. Stern, Frank Gehry, Charles Moore und andere mehr, die sich von dieser Themenpark- und Unterhaltungsarchitektur nachweislich inspiriert zeigten (Jencks 1992; L’architecture du réconfort 1997; Steiner 1996). Dies verweist auf einen interessanten Widerspruch innerhalb mancher Ausrichtungen der Postmoderne: die Verabschiedung der „großen Erzählungen“ wird über ein Revival von Nostalgie als Emotionswert kompensiert. Der Funktionalität und Einfachheit der Moderne wird dergestalt das Narrative und Emotionale entgegengesetzt. Was Walt Disney getreu seinen städtebaulichen und gesellschaftlichen 6 Interessen und Ambitionen mit Epcot ursprünglich geplant hatte, sollte schließlich mit der Gründung von Celebration rund 20 Kilometer südlich von Orlando (Florida) auf konzerneigenem Boden realisiert werden: der Bau einer realen Stadt für 20.000 Einwohner, die sich als Nachbau einer 6 Epcot wurde erst 1982, also 16 Jahre nach Disneys Tod, und lediglich als Themenpark mit Hotels und Feriensiedlungen für die Besucher geöffnet, wobei einige Attraktionen dieses Parks wiederum von verschiedenen amerikanischen Konzernen finanziert wurden.

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Schneewittchen, Kulturindustrie und die Stadt als Unternehmen

historischen amerikanischen Stadt versteht (Lampugnani 2010, S. 803–807; Roost 2000; Abb. 4). Ihr Grundriss und städtebaulicher Plan, für den Robert A.M. Stern und Jaquelin T. Robertson beauftragt wurden, orientieren sich einerseits an den Disney-Themenparks, andererseits an postmodernen amerikanischen Retortenstädten wie Seaside (Florida), Schauplatz des Films The Truman Show (Peter Weir, USA 1998), die in den 1980er Jahren nach einem Masterplan von Andrés Duany und Elizabeth Plater-Zyberk erbaut worden war. Eine Reihe öffentlicher Gebäude in Celebration stammt wiederum von postmodernen Architekten wie Charles Moore, Michael Graves, Robert Venturi, Philip Johnson oder Aldo Rossi, die wie schon erwähnt teilweise auch für die Disney-Themenparks tätig waren. Celebration erregte bei der Eröffnung 1996 großes architekturhistorisches und ‑theoretisches Interesse: Wie Seaside rasch als Beispiel des New Urbanism gefeiert, wurde Celebration als Planstadt in einer Sondernummer der renommierten Architekturzeitschrift Domus und als Projekt im amerikanischen Pavillon der Architekturbiennale von Venedig vorgestellt (Steiner 1996). In Celebration nun erscheint die Kompensationsheterotopie vollkommen: Die normierten Häuser sind in verschiedenen standardisierten Typen, Stilen und Farben erhältlich, die Häuserpreise, die Rasenhöhe, die Lebensstile – alles ist geregelt über ein Verhaltens-Dispositiv mit 70-seitigem Regelwerk, den „Convenants, Codes and Restrictions“ (Lampugnani 2010, S. 804), zu dem sich die Bewohner bei einem Hauskauf vertraglich verpflichten müssen. Als Fußgänger-Stadt konzipiert, erweist sich Celebration als ein in eine Stadt verwandelter Themenpark, dessen Bewohner, ein Teil davon Mitarbeiter des Disney-Konzerns, zu über 90 Prozent dem gehobenen weißen Mittelstand angehören. Politische Gremien und Institutionen existieren nicht. Denn wie die Themenparks wird Celebration vom Disney-Konzern verwaltet und kontrolliert, 7 dem selbst das stadteigene Schulwesen untersteht. Wie auch in den Disney-Themenparks ist in Celebration nicht ein bestimmter Ort innerhalb der Stadt als Kompensationsheterotopie zu begreifen, die alle anderen Räume außerhalb ihrer selbst infrage stellt, sondern vielmehr die Stadt selbst (Foucault 2005, S. 19–21). Als Kompensationshetero7 In den letzten Jahren hat sich der Disney-Konzern allerdings aus finanziellen Erwägungen teilweise aus Celebration zurückgezogen und Stadtbereiche und Gebäude an andere privatwirtschaftliche Unternehmen verkauft.

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topie ist sie zugleich, wie die Themenparks, ein Nicht-Ort im Sinne Marc Augés, auch wenn es im absoluten Sinne solche Nicht-Orte natürlich nicht gibt (Augé 2014, S. 124): Denn Celebration ist als Stadt nicht das Resultat eines gesellschaftlichen und politischen Prozesses, der einen anthropologischen Ort als historisch gewachsenen und sozial ausgehandelten definiert. Celebration ist vielmehr ein künstlich geschaffener Stadtraum, der sich als Produkt eines Unternehmens erweist, der den Bewohner oder Benutzer dieses Nicht-Ortes in ein Vertragsverhältnis stellt (ebd., S. 102, 110), das im Falle von Celebration durch das erwähnte Verhaltens-Dispositiv geregelt wird. Die Stadt, welche die Unternehmensideologie verkörpert, ist damit eine „Dissuasionsmaschine, eine Inszenierung zur Wiederbelebung der Fiktion des Realen“ (Baudrillard 1978, S. 25). Wie das benachbarte Walt Disney World Resort oder Disneyland präsentiert sich Celebration somit als „Digest des American Way of Life, eine feierliche Lobrede auf die amerikanischen Werte“, als idealisierte Übertragung „einer widersprüchlichen Realität“ (ebd.). Während Celebration bei der Einweihung von Disney-CEO Eisner als Modell gepriesen wurde, „nach dem man Gemeinschaften bauen kann“, als Ort, der Menschen zurückbringt „in eine Zeit der Unschuld“ (Eisner zit. n. Lampugnani 2010, S. 806), wird die künstliche Stadt durch das Fehlen eines demokratischen öffentlichen Raums zur negativen, da autoritären Utopie, die gesellschaftliche Segregation voraussetzt (auch wenn dies das vom New Urbanism angeleitete Stadtkonzept ursprünglich nicht 8 vorsah). In ihr werden Stadt und Staat zum Unternehmen, zur „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“, ja zu einem urbanen Modell, welches das „Scheitern der Aufklärung“ verkörpert.

Die „Stadt ohne Eigenschaften“

Der totalitäre urbane Zugriff eines Konzerns auf die res publica ist allerdings kein Disney-spezifisches Phänomen, sondern verweist vielmehr auf den durch Luc Boltanski und Ève Chiapello analysierten „new spirit of capitalism“ (Boltanski/Chiapello 2007). Dieser neue Geist des Spätkapitalismus hat in Rem Koolhaas’ architektonischem Schaffen (vgl. Dunham-Jones 2014) sowie in seinem in den 1990er Jahren entworfenen Konzept der

8 Mördinger (1999/2000, S. 5, 14–16) vergleicht das Konzept, das hinter Celebration steht, denn auch mit Thomas Hobbes Leviathan.

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Schneewittchen, Kulturindustrie und die Stadt als Unternehmen

5 Dubai Downtown mit Burj Khalifa, Luftbild

„Generic City“ seine städtebauliche und theoretische Apologie und Überhöhung gefunden. Rem Koolhaas kann denn auch als zeitgenössischer Exponent einer Kontext, Kontextualisierung und geschichtliche Verankerung ablehnenden Ausrichtung der Architektur betrachtet werden. 1995 erschien das Traktat Generic City als Programmschrift zur „standardisierten Stadt“ bzw. zur „Stadt ohne Eigenschaften“ (Koolhaas), zunächst im Rahmen von S,M,L,XL, einer von Jennifer Sigler herausgegebenen Publikation des Office of Metropolitan Architecture mit Beiträgen von Koolhaas 9 und Bruce Mau (Koolhaas/Mau 1995). S,M,L,XL referiert auf einen Artikel Aldo Rossis über den Architekten und Designer Ettore Sottsass, „Large, medium and small size private houses“ (vgl. Gargiani 2011, S. 223). Die von Koolhaas dem antiken rhetorischen Dreiersystem der Redegattungen hinzugefügte Kategorie des Kolossalen, des extra-large (Abb. 5), ist dabei symptomatisch für den „Zeitgeist“ der Übermoderne nach Marc Augé 9 Bei S,M,L,XL handelt es sich um ein über 1.300 Seiten umfassendes Kompendium von ganz unterschiedlichen Gattungen angehörigen Texten, in dem auch Architekturprojekte des Büros Koolhaas diskutiert werden.

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(2014), in dem sich die ideologische Botschaft des Traktats und Koolhaas’ urbanistische und architektonische Tätigkeit verorten. Was nachfolgend jedoch interessiert, ist nicht so sehr das Kolossale als quasi Hyperbel der Sakralität des großen, männlich konnotierten rhetorischen Stils der Magnificenza, sondern das Kolossale der „Generic City“ in ihrer Megalomanie der Identitäts-, Geschichts- und sozialen Verantwortungslosigkeit. Entsprechend wird in Koolhaas’ standardisierter Stadt der anthropologische Ort in einen kompensationsheterotopischen Nicht-Ort überführt, dessen Benutzer im erwähnten privatwirtschaftlichen Vertragsverhältnis stehen. Koolhaas definiert das Wesen der „Generic City“ denn auch als „transparent like a logo“ (Koolhaas 1995, S. 3), sie ist ein Logo, das überall und nirgendwo ist. Als Stadt ohne Geschichte, Identität und Zentrum, als „post-city“ der Übermoderne ist sie „‚superficial‘ – like a Hollywood studio lot, it can produce a new identity every Monday morning“ (ebd., S. 6). Es ist eine postmoderne Stadt, deren identitätsstiftendes Element – soweit es Identität in ihr denn doch noch gibt – in ihrem Flughafen besteht. Die Stadt selbst funktioniert wie ein Flughafen oder eine überdimensionierte Shopping-Mall, deren öffentlicher Raum „gebrandet“ ist, vereinnahmt durch die Privatwirtschaft (Klein 2001; Angélil 2006a). Und schließlich ist es eine Stadt, der „a (sometimes distant) relationship with a more or less authoritarian regime – local or national“ – eignet, so Koolhaas; ein zentraler Aspekt dieses totalitären Stadt-Phänomens, dem er allerdings nicht weiter nachgeht. Koolhaas’ Konzept der „Generic City“ erweist sich damit als Theorie des Themenparks im Sinne Disneys und als autoritäre Utopie. In ihrer Eigenschaft der Eigenschaftslosigkeit und des Spektakulären, in der sich die Stadt als gemeinschaftliches und öffentliches sowie als politisch gewachsenes Gebilde selbst auslöscht, ist die „Generic City“ auch die Stadt der Privatisierung und Entpolitisierung des öffentlichen Raums. Eine ihrer konsequentesten Realisierungen ist denn auch Dubai (Kanna 2011; Angélil 2006b), in dem die zentralen gesellschaftlichen Begegnungsstätten überdimensionierte Einkaufszentren sind. Hervorgegangen aus ganz spezifischen gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Vorbedingungen, ist für diesen Stadtstaat der Vereinigten Arabischen Emirate die Aufklärung nicht nur keine Vorbedingung: Vielmehr ist das Scheitern der Aufklärung im globalen Spätkapitalismus deren conditio sine qua non.

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Abbildungsnachweis Abb. 1: Filmic Light, Snow White Archive (URL: http:// filmic-light.blogspot.ch/2013/11/1937-time-magazine. html, zuletzt aufgerufen: 27.03.2017) Abb. 2: Disney Chicks (URL: http://www.disneychicks. nl/disneyland-onder-constructie-in-1954/, zuletzt aufgerufen: 27.03.2017) Abb. 3: Screenshot aus Shrek 2, © DreamWorks Animation Abb. 4: Archiv der Autorin Abb. 5: fotop.net photo sharing network © Department of Tourism and Commerce Marketing, The Goverment of Dubai (URL: http://www.fotop.net/dubaihk/Burj_Dubai/ Downtown_Burj_Dubai?set_fullOnly=on, zuletzt aufgerufen: 27.03.2017)

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III  „Zu-sehen Geben“ – institutionskritische Figuren in Analyse und Praxis

Philip Ursprung

Kulturanalyse in Bewegung: Auf den Spuren von 1 Lara Almarcegui „Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen.“ Walter Benjamin (1982, S. 1030 [Oº, 36])

In den 1980er Jahren entwickelten der Soziologie Lucius Burckhardt und seine Frau Annemarie Burckhardt an der Gesamthochschule Kassel die „Promenadologie“ oder „Spaziergangswissenschaft“. Gemeinsam führten sie bis 1997 Seminare in Form von Spaziergängen durch. Die Promenadologie verbindet Elemente der Stadtanalyse, der Landschaftsarchitektur und der Soziologie, um die Wahrnehmung der urbanen Umgebung zu verbessern. Als Methode war die Promenadologie eine Fortsetzung der partizipatorischen Lehre, die Burckhardt in seiner Lehre an der Abteilung für Architektur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich von 1969 bis 1973 durchgeführt hatte, als er dort vorübergehend eine Gastprofessur zusammen mit Rolf Gutmann und später mit Rainer Senn hatte (Blumenthal 2010). Es war ungewöhnlich, dass ein Soziologe im Studiengang Architektur Entwurf lehrte, und Burckhardt ergriff die Chance, um eine neue Form der Lehre im Experiment zu erkunden. „Ein Lehrstuhl ist für einen, ein Lehrcanapé mindestens für zwei“, lautete sinngemäß die Devise. Die Veranstaltungen standen im Zeichen der kulturellen Reformen von 1968 und Burckhardt befand sich im Brennpunkt der hochschulpolitischen Auseinandersetzungen. Als Co-Autor des 1955

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Zu früheren Versionen dieses Texts siehe Ursprung 2013, 2015.

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zusammen mit Max Frisch und Markus Kutter publizierten urbanistischen Manifests achtung: die Schweiz und als Dozent für Soziologie vertrat er eine politisch engagierte Auffassung von Architektur (Burckhardt et al. 1955). Er plädierte für Partizipation und kritisierte vehement die damalige Fortschrittsideologie. Sein spielerisch-experimenteller Zugang war allerdings nicht mehrheitsfähig, und die Professoren stuften ihn 1973 wieder zum Dozenten herab. Burckhardt verließ die ETH und folgte einem Ruf an die Gesamthochschule Kassel, wo er im Laufe einer langen Lehrtätigkeit als Professor für Sozioökonomie urbaner Systeme im Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung zu einer prägenden Figur der Planungstheorie werden sollte. Wie können wir heute diese Methode in Forschung und Lehre einsetzen? Wie kann der Zusammenhang zwischen Gehen, Denken und Sprechen zur aktuellen Theorieproduktion beitragen? Als ich mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Lehre an der ETH 2011 begann, haben wir sowohl das legendäre Lehrcanapé wie auch die Spaziergangswissenschaft wieder aufgegriffen. Jede Woche kommen im Anschluss an die Vorlesung Gäste zu Wort, auch die Studierenden, wenn sie es wünschen, und in manchen Fällen verlassen wir den Hörsaal, um auf kurzen Mikroexkursionen gemeinsam neue Perspektiven zu schaffen. Wir haben die Methodik des gemeinsamen Handelns und Gehens außerdem einfließen lassen in die obligatorischen Seminarwochen, die an der Hochschule seit den 1970er Jahren in jedem Semester durchgeführt werden. Es sind Schlüsselmomente des Semesters. Nirgendwo sonst können wir Lehre und Forschung enger verknüpfen. Die Seminarwochen haben viele Inspirationsquellen, darunter Mieke Bals Travelling Concepts in the Humanities: A Rough Guide. Sie haben uns an diverse Orte geführt, wie die Titel der dokumentierten Reisen bekunden: „Landna(h)me: Eine Exkursion nach Israel und in die Palästinensischen Autonomiegebiete“ (2011), „Earthworks: Kunst, Krieg und Energie im Amerikanischen Westen“ (2012), „Napoli: Notes from Underground“ (2012), „Ec(h)o-Logy: Greek Returns“ (2013), „Poland: After Nature“ (2013), „Coastlines: Marseille to Genova“ (2014), „St. Petersburg: Out of Focus“ (2014), „Debalkanize! A Journey to Macedonia and Kosovo“ (2015), „Footnotes from Central Java“ (2015) und „Harz bricht aus! A Journey to Germany’s Empty Center“ (2016). Im März 2013 reisten wir im Rahmen von „Ec(h)o-Logy: Greek Returns“ nach Griechenland. Als unsere Reiseführer uns das Zentrum von Athen zeigten, war ich bestürzt, mehr noch als über die offensichtlichen

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Zeichen der Wirtschaftskrise – die geschlossenen Geschäfte, die leeren Büros und das Fehlen von neuen Autos – über den Eindruck der Depression der Menschen. Im Vergleich zu früheren Reisen erschienen mir die Stimmen gedämpft, die Bewegungen verlangsamt. Unsere Führer erklärten uns, dass die neuen Steuern auf Wohneigentum das Vertrauen der Griechen in die Zukunft erschüttert hätten. Es waren nicht nur die vielen jungen Menschen, die ihre Arbeit verloren, und die vielen alten Menschen, deren Pension sich auflöste. Mit den neuen Steuern war das Rückgrat der sozialen Stabilität gebrochen worden. Was der Mittelschicht seit den 1950er Jahren eine Garantie für Wohlstand gewesen war, die Wohnung oder das Haus in Familieneigentum, war zu einer untragbaren Hypothek geworden. Manche Menschen konnten es sich nicht mehr leisten, die darauf erhobenen Steuern zu zahlen, doch weil gerade niemand Immobilien kaufte, konnten sie die Wohnungen auch nicht loswerden. Durch den Wertverfall ihrer Immobilien hatten die Griechen buchstäblich den Boden unter den Füßen verloren. Außerhalb der Stadt besuchten wir den alten Flughafen Hellenikon, der 2001 geschlossen worden war. Auf diesem enormen Gelände, das für die Öffentlichkeit unzugänglich ist, sahen wir rostige Hangars, leere Parkplätze, Landebahnen und auch einige bereits zerfallende Stadionbauten, die für die Olympischen Spiele 2004 errichtet worden waren. Die griechische Regierung hat das gesamte Areal dem Hellenic Republic Asset Development Fund übergeben, einer Art Treuhand, welche die öffentlichen Güter privatisiert und Investoren sucht. Direkt an der Meeresküste gelegen, ist die Lage des ehemaligen Flughafengeländes ideal. Aber falls ein Käufer gefunden wird, wie kann man verhindern, dass das ganze Gelände privatisiert wird und die Stadt – wie schon durch den Bau des Flughafens – vom Zugang zum Meer abgeschottet bleibt und um den dringend benötigten Strand und Park gebracht wird? Was die Wohnung für den einzelnen Bürger ist, bedeutet dieses Stück Land für die ganze Gesellschaft: ein möglicher Rückzugsort und zugleich eine Hypothek, ein Hindernis, das die Zukunft verbaut. Das private Heim und der einst öffentliche Grund haben sich gegen ihre Benutzer gewandt, wurden Räume der Ausweglosigkeit. Die einzigen Lichtblicke, die unsere kleine Reisegruppe auf dem Flughafengelände ausmachen konnte, waren die Flecken besetzten Landes, die Nachbarn und Aktivisten in kleinen Gruppen gemeinsam kultivierten, um dort Blumen und Gemüse zu ziehen. In dieser verzweifelten Umgebung war das Stückchen Land ein Ort

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von Hoffnung und Stolz. Es evozierte Arkadien und die mythische Vergangenheit des antiken Griechenlands ebenso wie die landwirtschaftliche Identität des Landes. Es schien, als wollten die Menschen einerseits eine Verbindung zu ihrem historischen Erbe schaffen, andererseits symbolisch den psychologischen Schaden reparieren, den die Abholzung der alten Olivenhaine auf Geheiß der Europäischen Union seit dem Millennium dem nationalen Selbstverständnis zugefügt hatte. Bald allerdings erfuhren wir, dass die Besetzer bereits einen Räumungsbefehl erhalten hatten. Die Bulldozer warteten. Während meiner Reise nach Athen musste ich an die Kunstwerke von Lara Almarcegui denken. Sie gehört zu den Künstlern, die in den letzten Jahren dazu beigetragen haben, unseren Blick für die Prozesse der urbanen Transformation zu schärfen. In ihren Ausstellungen, beispielsweise „Bauschutt Hauptraum Secession“ in der Wiener Secession im Jahr 2010, präsentiert sie meistens Materialien, aus denen Gebäude errichtet werden oder aus denen sie bestanden, oft in Form von Bauschutt. Neben diesen spektakulären, großformatigen Installationen erinnerte ich mich an ihren Guide to Al Khan, den Guide to the Wastelands of the Lea Valley, und den Guide to the Wastelands of the River Tevere (Almarcegui 2007, 2009, 2011), schmale Büchlein, welche die Leser zu vergessenen Orten in den Vereinigten Arabischen Emiraten, in London und Rom führen, durchaus vergleichbar dem Gelände, das ich in Athen gesehen hatte. Im Unterschied zu gewöhnlichen Reiseführern fokussieren diese Guides die Peripherie. Sie werfen Licht auf Orte, die der Veränderung unterworfen sind; Orte, die noch die Spuren einer industriellen Vergangenheit tragen, denen aber schon eine neue Nutzung zugewiesen worden ist (Abb. 1). Jedes der Büchlein besteht aus einem Plan, der es den Lesern erlaubt, Almarceguis Erkundungen zu folgen, die sie in einfachen Schwarz-Weiß-Fotografien und kurzen Erklärungen festhält. Ihre Führer zur Peripherie von Rom und London zeigen Gebiete, die für bereits geplante Olympische Spiele reserviert sind (Abb. 2). Ich hatte den Eindruck, dass das Terrain, das ich in Athen sah, eine Art Spiegelbild dieser Landschaften war. Hier waren die Olympischen Spiele bereits vorüber und die Gegend dabei, wieder zu Niemandsland zu verfallen. Ich dachte auch an Robert Smithson, den Pionier der Land Art, der Ende der 1960er Jahre Exkursionen nach New Jersey, ins Hinterland von New York unternahm. Smithson machte Schnappschüsse von Parkplätzen, Baustellen, alten Steinbrüchen und interpretierte diese, als handle es sich dabei um malerische Ruinen, die ein aristokratischer

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1 Lara Almarcegui, Guide to the Wastelands of the River Tevere, Rom 2011

2 Lara Almarcegui, Guide to the Wastelands of the Lea Valley, London 2009

Reisender des 18. Jahrhunderts auf seiner Grand Tour entdeckte. In seinem Aufsatz „The Monuments of Passaic“ von 1967 spricht Smithson von der spezifischen Zeitlichkeit dieser Gebiete. Er stellt fest, dass die von ihm betrachteten Baustellen „umgekehrte Ruinen“ enthielten, Gegenstücke zur „romantischen Ruine“, denn, wie er schreibt, „diese Bauten zerfallen nicht in Trümmer, nachdem sie gebaut wurden, sondern erheben sich zu Trümmern, bevor sie gebaut wurden“ (Smithson 2000, S. 100). Es gibt viele Bezeichnungen für solche Gebiete, wie beispielsweise „Niemandsland“, „Unort“ oder „Nicht-Ort“. Am zutreffendsten ist vielleicht der Begriff „Terrain vague“. Er geht zurück auf den gleichnamigen Film von Marcel Carné aus dem Jahre 1960, der am Rande von Paris, an der Schnittstelle zwischen einer verfallenden Industriezone und einem Projekt für sozialen Wohnbau spielt. Der katalanische Architekt und Theoretiker Ignasi de Solà-Morales Rubió griff den Terminus 1995 in seinem Essay „Terrain vague“ auf, um zu beschreiben, wie in den 1980er und frühen 1990er Jahren Fotografen wie John Davies, Thomas Struth, Manolo Laguillo oder Jannes Linders die Metropolen nicht durch die Abbildung einer Skyline oder einzelner baulicher Wahrzeichen darstellten, sondern mit dem Fokus auf leere, verlassene Orte (Solà-Morales 1995). Solà-Morales unterstreicht die spannungsreiche Kombination zwischen dem französische Begriff vague, der die Bedeutungen von „leer“, „unsicher“ und „Welle“ verbindet, mit dem Begriff terrain, der eine urbanere Qualität bezeichne als etwa das englische land. Die Bedeutung des Begriffs, so Solà-Morales, sei nicht fixiert und

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könne gleichermaßen positiv wie negativ konnotiert verwendet werden. Er evoziere „Leere, Abwesenheit, aber auch Versprechen, den Raum des Möglichen, der Erwartung“ (ebd., S. 120, Übers. d. Verf.). Seine Gründe für die Faszination dieses widersprüchlichen Konzepts erscheinen allerdings nicht recht schlüssig. Das Terrain vague interessiere uns deshalb, stellt er fest, weil es dem inneren Konflikt der Subjekte entspreche: „Die Begeisterung für diese leeren Orte – erwartungsvoll, undeutlich, wechselnd – […] spiegelt unsere Fremdheit gegenüber der Welt, gegenüber der Stadt, uns selbst gegenüber.“ (Ebd., S. 122, Übers. d. Verf.) Gleichzeitig enthält das Terrain vague in seiner Sicht ein Versprechen. Wer allerdings das Wir ist, das einem inneren Konflikt unterworfen sei, und worin das Versprechen besteht, das er im Terrain vague sieht, lässt er offen. In den Jahren, seit Solà-Morales den Text veröffentlichte, hat der Begriff seine Anziehungskraft nicht verloren. Trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Unbestimmtheit bleibt das Terrain vague eine beliebte Metapher in den Bereichen der Kunst, der Architektur und der Stadtplanung. Sie trifft die Erfahrung der De-Industrialisierung und kann auf schrumpfende Städte wie Detroit ebenso angewendet werden wie auf Fälle rapiden Wachstums in urbanen Zonen wie beispielsweise Dubai. Sie eignet sich auch zur Beschreibung trister Industrielandschaften wie in Michelangelo Antonionis Film Die rote Wüste (I 1964) oder Andrei Tarkovskis Stalker (UdSSR 1979). Aber können wir den Begriff auch im Sinne von Solà-Morales verwenden, wenn wir uns den Folgen der Krise in Südeuropa zuwenden? Wenn wir das Konzept des Terrain vague für ökonomische Umwälzungen wie beispielweise den bevorstehenden Verkauf des Flughafens Hellenikon nutzbar machen wollen, plädiere ich dafür, es neu zu diskutieren. Und gerade die Guides von Lara Almarcegui können dabei äußerst hilfreich sein. Für Solà-Morales ist das Terrain vague letztlich ein ästhetisches Phänomen. Er erklärt die Faszination lose mit psychologischen Gründen, evoziert Entfremdung und den inneren Widerspruch. Was er vernachlässigt, sind ökonomische Aspekte sowie die Frage nach dem historischen Kontext. Während der Boom-Jahre der 1980er und frühen 1990er war ganz Europa eine Baustelle. Städte wie Paris, London, Berlin und Barcelona erholten sich von der De-Industrialisierung und Rezession der 1970er Jahre. Die Transformation von riesigen leeren Flächen – etwa des Parc de la Villette in Paris, der Docklands in London, des Potsdamer Platzes in Berlin und des Parc Diagonal Mar in Barcelona – war ein Schlüsselthema der architektonischen Debatte dieser Zeit. Es war ein Eldorado für Architekten, und die

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leeren Flächen waren wie Goldminen, voller ästhetischer und wirtschaftlicher Versprechen. Im Zuge der damals ausgelobten Wettbewerbe ahnten die Architekten allerdings auch, dass sie vielleicht zum letzten Mal die Möglichkeit hatten, die Form der europäischen Städte mitzubestimmen und zu verhindern, dass diese ganz in die Hände von Investoren fallen würden. (Das städtebauliche Debakel vom Potsdamer Platz zeugt heute davon, wie berechtigt in diesem Zusammenhang die vergebliche Forderung nach architektonischer Autonomie war.) Vor diesem Hintergrund lässt sich also nachvollziehen, warum Solà-Morales als Architekt das Terrain vague als Versprechen auffasste und zugleich beobachtete, dass seine Zeitgenossen im Konflikt mit sich und ihrer urbanen Umgebung standen. Solà-Morales war sich der ambivalenten Rolle der Architekten bewusst, also der Rolle derjenigen, die zwar die Leere schätzen, sie aber zugleich neu ordnen, eingrenzen und mit gebauten Strukturen füllen. Er war jedoch nicht in der Lage, auch die Rolle der Fotografie innerhalb des von ihm beschriebenen Szenarios kritisch zu beleuchten. Die Stadt als Terrain vague darzustellen, bedeutet noch keine Analyse der Kräfte, welche die Gentrifizierung antreiben. Vielmehr hat sich die Fotografie an der Naturalisierung des Urbanisierungsprozesses beteiligt, indem sie ihn in ein ästhetisches Phänomen verwandelte, das sich aus gebührender Distanz betrachten lässt. Die Fotografie hat damit, sicherlich ohne es zu wollen, den Weg für die von Solà-Morales benannte Kolonisierung und Ausbeutung des „Leeren“ oder „Unberührten“ gebahnt. Landschaftsmaler wie William Turner ästhetisierten im 19. Jahrhundert die Gefahr der Meere, zu einer Zeit, als die einst gefährlichen Handelsrouten durch den technischen Fortschritt – namentlich die Dampfschifffahrt – domestiziert wurden. Ebenso haben auch die Fotografen des 20. Jahrhunderts, Bernd und Hilla Becher etwa, die Rohheit der Schwerindustrie gerade in dem Moment ästhetisiert, als sie im Verlauf der 1960er und 1970er Jahre von der Informationsindustrie domestiziert wurde. Diese Künstler waren somit, ob sie es wollten oder nicht, auf der Seite derjenigen, die vom Prozess der Transformation profitierten, seien es die Industriellen des 19. Jahrhunderts oder die postfordistischen Unternehmer des späten 20. Jahrhunderts. Die ästhetische Sublimierung der verfallenden Industriezone verhüllte zugleich die Mechanismen der Macht. So wie die Gemälde der stürmischen See ein natürlich Erhabenes hervorbrachten, so ließ die Fotografie des Terrain vague ein industriell Erhabenes entstehen, ohne dass die Perspektive der von den Veränderungen Betroffenen beachtet worden wäre.

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Ich würde deshalb behaupten, dass das Konzept des Terrain vague im Sinne von Solà-Morales, das heißt als Bezeichnung einer ambivalenten Situation zwischen Leere und Versprechen, mit der ästhetischen Tradition des Erhabenen verwoben ist. Es sublimiert einen ökonomischen Konflikt. Dass in der Geschichte des Kapitalismus auch der Landbesitz häufig verklärt dargestellt wurde, hat Karl Marx in einer frühen Notiz aus dem Jahre 1844 treffend bemerkt. Ursache, so kritisiert er, sei die romantisierende Vorstellung einer Identifikation des Subjekts mit dem Grund, die in der feudalen Tradition wurzelt, nach der „das feudale Grundeigentum den Namen seinem Herrn“ gibt, während dieser umgekehrt den Grundbesitz individualisiert, es „förmlich zu seinem Haus, zu einer Person“ macht (Marx 1844, S. 506). Diese Personifikation des Eigentums, so argumentiert er, umfasst auch die Beziehung derjenigen, die auf dem Gut arbeiten und die sich eins wähnen mit dem Land: „Es ist notwendig, daß, was die Wurzel des Grundeigentums ist, der schmutzige Eigennutz, auch in seiner zynischen Gestalt erscheint. Es ist notwendig, daß das ruhende Monopol in das bewegte und beunruhigte Monopol, die Konkurrenz, der nichtstuende Genuß des fremden Blutschweißes in den des geschäftigen Handels mit demselben umschlägt. Es ist endlich notwendig, daß in dieser Konkurrenz das Grundeigentum unter der Gestalt des Kapitals seine Herrschaft sowohl über die Arbeiterklasse als über die Eigentümer selbst zeigt, indem die Gesetze der Bewegung des Kapitals sie ruinieren oder erheben. Damit tritt dann an die Stelle des mittelaltrigen Sprichworts: nulle terre sans seigneur, das moderne Sprichwort: l’argent n’a pas de maître, worin die ganze Herrschaft der totgeschlagnen Materie über die Menschen ausgesprochen ist.“ (Ebd., S. 507.) Dieser Gegenentwurf zu einer Ästhetisierung der ökonomischen Verhältnisse führt uns noch einmal zurück zu Lara Almarcegui. Wofür Marx plädierte, nämlich die De-Romantisierung der Beziehung des Subjekts und Grundbesitzers zu „seinem“ Land, entspricht der De-Sublimierung des Terrain vague in Almarceguis Werk. In ihren Guides treffen wir nicht einfach auf ein Ödland. Wir lernen auch viel über die Situation der Menschen, die dort lebten und arbeiteten und dann gezwungen waren wegzuziehen. Im Büchlein zum verlassenen arabischen Dorf Al Khan zum Beispiel, wo die meisten der verfallenen Häuser noch Namen haben, hören wir von einem pakistanischen Händler und von einem Platz, wo am Morgen den Taxifahrern Tee angeboten wurde (Almarcegui 2007, o. S.). Im Londoner Lea Valley, so erfahren wir, wohnte 42 Jahre lang ein „früherer Feuerwehrmann

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und Veteran der Royal Navy“, bevor er 2007 zur „ersten Person wurde, die wegen der Bauprojekte für die Olympischen Spiele zwangsgeräumt wurde“ (Almarcegui 2009, o. S., Übers. d. Verf.). Indem sie singuläre Situationen präzise lokalisiert, schneidet die Künstlerin durch die diffuse Oberfläche des Sublimen und überwindet die ästhetische Distanz. Sie verwandelt das Terrain vague in einen konkreten Ort, wo wir realen Menschen begegnen und mit ihnen mitfühlen können. Almarcegui führt einen menschlichen Maßstab in die Landschaftsdarstellung ein. Sie beutet die Geschichten von Verlust und Vertreibung nicht einfach aus, indem sie Daten und Bilder konfisziert, sondern gibt symbolisch denjenigen, die verschwunden sind, etwas zurück, indem sie ihre Geschichten weitererzählt und sie so vor dem Vergessen schützt. Almarceguis Guides ziehen eine zusätzliche Ebene in die kolonialistische Perspektive ein, die zum Tourismus und im Grunde zu jeder Art des Reisens gehört. Wenn sie ihre Leser durch ein Geisterdorf neben einer boomenden Stadt am Golf oder durch die Unorte in den römischen Vororten führt, ist sie Robert Smithsons Expeditionen näher als beispielsweise der Flânerie des 19. Jahrhunderts oder auch den dérives der Situationisten. Beide Praktiken waren mehr oder weniger ziellose Arten des Umherschweifens, entlang der neu gepflasterten Straßen einer reibungslos funktionierenden Großstadt. Dass sie damit in die Welt des Konsums eingebettet sind, macht Walter Benjamin klar, wenn er schreibt: „Der Flaneur ist der Beobachter des Marktes. Sein Wissen steht der Geheimwissenschaft von der Konjunktur nahe. Er ist der in das Reich des Konsumenten ausgeschickte Kundschafter des Kapitalisten.“ (Benjamin 1982, S. 537f. [M 5, 6]) Almarceguis Kunstwerke, seien es die Guides oder ihre skulpturalen Installationen, führen uns zwar durch dysfunktionale Zonen und berühren das Unscharfe, aber sie selbst sind alles andere als diffus. Kurze Zeit nach meiner Athen-Reise stellte Almarcegui 2013 im Spanischen Pavillon der Kunstbiennale von Venedig aus. Im Pavillon türmten sich Zementbrocken, Betonfragmente, Dachziegel, Ziegelsteine, Holzschnipsel und Metallschrott. Almarcegui hatte die Baumaterialien, aus denen der Pavillon in den 1920er Jahren errichtet worden war, in ihren jeweiligen Mengen berechnet und ließ die entsprechenden Volumen aus lokalem Bauschutt in den Räumen des Pavillons verteilen (Abb. 3). Der Hauptraum war nicht mehr zugänglich, weil der Trümmerberg die Eingänge verstopfte. In den anderen Räumen konnten die Besucher sich zwischen dem Schutt bewegen, der, weil er in Venedig auf Booten transportiert werden musste, sehr stark zerkleinert war.

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3 Lara Almarcegui, Spanischer Pavillon, 55. Internationale Kunstausstellung der Kunstbiennale von Venedig, 2013

Die abgestuften Farbtöne der Materialien – vom Rotbraun der Ziegel über das Schwarzgrau des Erdreichs bis zum Hellblau der Glasscherben – unterstrichen die malerische Wirkung. Aber zugleich ging der Pavillon weit über die konventionelle Präsentation von Skulpturen und Installationen hinaus. Der Pavillon war Ausstellungsort und Exponat in einem, das heißt, er war doppelt anwesend, als geordnete Struktur und als ungeordnetes Material. Die Ausstellung machte nicht nur deutlich, wie untrennbar Bauen und Material miteinander verbunden sind. Sie zeigte auch, dass Architektur ohne das Formlose nicht denkbar ist. Und sie führte uns die Produktionsverhältnisse vor Augen, fokussierte die menschliche Arbeit und die Art und Weise, wie die Dinge gemacht und wieder zerstört werden. Der Pavillon nahm quasi seine eigene Zukunft vorweg, denn eines Tages wird von ihm vielleicht nichts übrig bleiben als ein Haufen Schutt. Dass aus dem Schutt etwas Neues entstehen könnte, war im Obergeschoss zu sehen. Hier projizierte die Künstlerin Aufnahmen der Sacca San Mattia, einer künstlichen Insel, die im Laufe von Jahrzehnten aus dem Schutt der Glasindustrie von Murano entstanden ist. Sie ist übersät von Bruchstücken, ähnlich denjenigen in der Ausstellung, und inzwischen von Gestrüpp und Bäumchen überwachsen. Es ist ein Ödland, von dem niemand weiß, wie es sich verändern oder ob es in der Zukunft von

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Menschen genutzt werden wird. Auch für diesen Teil der Ausstellung hatte die Künstlerin wieder ein Büchlein geschaffen, den Guide to Sacca San Mattia, the Abandoned Island of Murano, Venice. Abermals berührt die fast forensische, quasi-wissenschaftliche Struktur spielerisch die Disziplinen der Geografie, der Historiografie und der Archäologie. Und wie in den anderen Kunstwerken versucht Almarcegui auch hier, die diskontinuierlichen Strukturen der Orte und ihrer Geschichte nicht zu verbergen, sondern gerade zu artikulieren. Almarceguis Guides können als Anleitung zum Besuch einer Gegend betrachtet werden und dementsprechend auch als Appell zum Handeln. Sie rücken damit in die Nähe der performativen Lehre, die Annemarie und Lucius Burckhardt mit der Spaziergangswissenschaft verwirklichten. Auch für unsere Seminarwoche in Griechenland stellte sich die Frage, ob die gemeinsame Beobachtung auch zu einer gemeinsamen Handlung führen konnte. Wir hatten deshalb entschieden, zum Abschluss der Reise gemeinsam eine activity von Allan Kaprow wiederaufzuführen, die unserer Reise auch ihren Titel gab. Echo-Logy war ursprünglich von der Merrieworld West Gallery – einer Galerie, die sich in Far Hills, New Jersey, durch ihre Freilichtausstellungen einen Namen gemacht hatte – in Auftrag gegeben worden und wurde erstmals am Wochenende des 3./4. Mai 1975 von Kaprow und einer Gruppe von Mitwirkenden durchgeführt. In einer Broschüre wurde die Anleitung publiziert: 1 carrying some downstream water a distance upstream bucket-by-bucket pouring it into stream transferring a mouthful of upstream water a distance downstream mouth-to-mouth spitting it into the stream 2 sending a mouthed silent word a distance upstream person-by-person saying it aloud to the trees propelling a shouted word a distance downstream

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person-by-person mouthing it to the sky 3 transporting a gas-soaked cloth a distance upstream (waving it gently in the air) person-to-person waving it gently dry carrying a bagged breath a distance downstream each adding a breath opening the bag to the wind (Kaprow 1975, o. S.) Am Schluss der Broschüre erläutert Kaprow das Werk: „Water flowing downstream is carried mechanically upstream, is dumped and flows back. Some is lost among the way. More water is transferred downstream mouth-by-mouth, loses oxygen, is mixed with saliva and is given back to the stream to be altered again.“ (Kaprow 1975, o.S.) Am Nachmittag des 21. März 2013 führten wir die activity in einem kleinen Bach vor den Toren des Ruinenfelds von Olympia wieder auf (Abb. 4). Unser Reenactment dauerte etwa eine Stunde. Wir übten das Score und diskutierten, wie wir die Details lösen sollten. So war zum Beispiel die Mehrheit der Teilnehmer dagegen, dass wir buchstäblich das Wasser von Mund zu Mund gehen lassen. Eine Studierende schlug vor, dass wir stattdessen einen Becher mit Bachwasser füllen sollten und dann diesen Becher weitergeben sollten, ohne die Hände zu benutzen. So musste nur die erste und letzte Person der Kette das Wasser aus dem Bach in den Mund zu nehmen, und die körperliche Nähe reduzierte sich auf die Übergabe des Bechers von Mund zu Mund. Während ich im Bach stand und auf den Becher wartete, hatte ich Zeit, über die Seminarwoche nachzudenken. Indem wir die Metapher des Echos verwendeten, demonstrierten wir das Interesse an der Resonanz der Vergangenheit in der heutigen Gegenwart. Wir bezogen uns auch auf die antike Legende von Echo und Narziss. Nachdem sie von Narziss, dessen Liebe sie gewinnen möchte, abgewiesen wird, löst sich die Wassernymphe Echo auf und wird zu einer Stimme ohne Körper. Kann man Europa mit dem in sich selbst verliebten Narziss vergleichen und Griechenland mit der

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4 Reenactment von Allan Kaprows Echo-Logy durch Studierende der ETH Zürich, Olympia, 2013

verschmähten Nymphe Echo, ihrem Schicksal überlassen? Würde diese Metapher uns helfen, unsere eigene Position innerhalb der Seminarwoche zu klären, und erlauben, die stattfindenden Prozesse besser zu verstehen? Der Becher kam, und ich reichte ihn der nächsten Person, vorsichtig, um nichts zu verschütten. Bald würde das Wasser in den Bach gespuckt sein, aufgelöst im Bach. Ich erinnerte mich, was wir die Tage zuvor in Athen über die verlorenen Pensionen erfahren hatten. Stellten wir mit unserer Performance im kalten Wasser – darauf bedacht, nicht auszurutschen, uns um kleinste Mengen Wasser sorgend – dar, was im Land in viel größerem Maßstab vorging? Half uns die Performance, zu fokussieren, war sie der Beginn einer Handlung, oder würde sie symbolisch bleiben? Nun kam der nächste Becher. Mit dem Becher zwischen den Zähnen konnte ich nicht sprechen. Die arme Wassernymphe Echo kam mir in den Sinn, die nur stammeln und die Laute imitieren konnte, die andere sagten. Welche Stimmen hatten wir auf unserer Reise gehört? Waren es die Beobachter aus dem Norden – wir inbegriffen –, die über Griechenland sprachen und den Griechen rieten, was sie tun sollten? Wie stand es um die Stimme der Griechen? Als die Gruppe begann, die geflüsterten Worte von einem zum Nächsten zu schicken, erinnerte ich mich an meine letzte Reise mit Studierenden nach Athen. 2004, unmittelbar vor Beginn der Olympischen Spiele, waren wir beeindruckt von den theatralischen Sze-

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nen auf der Straße, wo die Menschen sich bewegten und sprachen, also ob sie auf einer Bühne stünden, laut rufend, gestikulierend. Nun waren die Stimmen in Athen gedämpft und die Bewegungen hatten sich verlangsamt. Sie waren Schatten, ein Echo der Vergangenheit, aus besseren Zeiten. Die Plastiktüte kam, und jeder fügte einen Atemzug hinzu. Die Tüte wurde größer, und die größte Sorge von uns war, dass die Luft entweichen könnte. Die Schlagzeilen der Zeitungen kamen mir in den Sinn, die von „Inflation“ und „Deflation“, ja von „Stagflation“ sprachen, vom Kapital, das vom Land abfloss nach Berlin und London. Aber der Inhalt der Plastiktüte war nicht nur ein Bild für die Ökonomie, er enthielt auch unseren Atem – griechisch „Psyche“ – und zeigte damit, wie die Studierenden und Dozierenden für einen Moment zu einer Gemeinschaft geworden waren. Wir hatten in Athen eine optimistische Gruppe von Architekten und Designern getroffen, die ein ruiniertes Bürogebäude in der Altstadt reaktivierten. In der hierarchisch strukturierten Welt der Akademia waren wir, zumindest vorübergehend, gleichberechtigte Teilnehmer eines Spiels. Vielleicht würden die Studierenden dies mehr als alles andere in Erinnerung behalten. Vielleicht würde es eines Tages, wenn sie als Architekten praktizierten, nachhallen in der Art, wie sie an Projekte herangehen und wie sie das Gebaute auf die Tätigkeit der Menschen, der Benutzer, der Betrachter beziehen würden. Vielleicht werden sie geprägt durch die Teilhabe an einem Kunstwerk, das zeigt, wie schwer jene Werte auszubeuten sind, die sofort mit anderen geteilt und allgemein verfügbar gemacht werden. Lange diskutierten wir über die Beziehung unserer Tätigkeit zur activity von 1975. Ich verstehe unser Reenactment nicht als ein Kunstwerk, sondern als Teil der akademischen Praxis, der Verbindung von Forschung und Lehre. Es handelt sich um eine durchaus pädagogische Tätigkeit, die sowohl das, was wir bereits wissen, aufzeigen und vermitteln will als auch auf das, was wir nicht wissen, hinführt. Die Studierenden sind in diesem Zusammenhang keine passiven Rezipienten, sondern aktiv Mitwirkende, von deren Ideen und Engagement der Erfolg des Werkes abhängt. Ohne die historische Tatsache von Kaprows Werk wäre die Wiederaufführung in der beschriebenen Form nicht denkbar. Aber ohne die Wiederaufführung wiederum wäre das Kunstwerk ein Dokument der Kunstgeschichte, nicht ein Teil der Gegenwart. Das Reenactment erlaubte mir und meinen Studierenden, etwas Vergangenes zu vergegenwärtigen und dadurch sowohl die Geschichte wie auch das Heute besser zu sehen.

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Literatur

hg. v. Eva Schmidt; Kai Vöckler, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2000, S. 97–102.

Almarcegui 2007 Almarcegui Laura: Guide to Al Khan. An Empty Village in the City of Sharjah, Sharjah Biennal 8: Still Life, Art, Ecology and the Politics of Change, 2007.

Solà-Morales 1995 Solà-Morales Rubió, Ignasi de: Terrain vague, in: Cynthia E. Davidson (Hg.): Anyplace, Cambridge (MA): MIT Press 1995, S. 118–123.

Almarcegui 2009 Almarcegui Laura: Guide to the Wastelands of the Lea Valley. 12 Empty Spaces Await the 2012 Olympics, London: Barbican Art Gallery 2009.

Ursprung 2013 Ursprung, Philip: Beyond the Terrain Vague: Following Lara Almarcegui, in: Lara Almarcegui, hg. v. Octavio Zaya, Katalog zum Spanischen Pavillon, 55. Internationale Kunstausstellung der Biennale von Venedig, Ministerio de Asuntes Exteriores y Cooperacion 2013, S. 49–53.

Almarcegui 2011 Almarcegui Laura: Guide to the Wastelands of the River Tevere. 12 Empty Spaces Await the 2020 Rome Olympics, Rom: Fondazione Pastificio Cerere 2011. Bal 2002 Bal, Mieke: Travelling Concepts in the Humanities: A Rough Guide, Toronto: University of Toronto Press 2002. Benjamin 1982 Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften, Bd. V.1/2, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982. Blumenthal 2010 Blumenthal, Silvan: Das Lehrcanapé: Lucius Burckhardt und das Architektenbild an der ETH Zürich 1970–1973, Basel: Standpunkte 2010 (Standpunkte Dokumente Nr. 2).

Ursprung 2015 Ursprung, Philip: „Echo-Logy“: Arbeiten mit Allan Kaprow, in: Marc Caduff, Stefanie Heine, Michael Steiner (Hg.): Die Kunst der Rezeption, Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 97–109.

Abbildungsnachweis Abb. 1: © Lara Almarcegui, Foto: Sonja Flury Abb. 2: © Lara Almarcegui, Foto: Sonja Flury Abb. 3: © Lara Almarcegui, Foto: Philip Ursprung Abb. 4: Foto: Berit Seidel

Burckhardt et al. 1955 Burckhardt, Lucius; Max Frisch; Markus Kutter: achtung: die Schweiz, Basel: F. Handschin 1955 (Baseler Politische Schriften Nr. 2). Kaprow 1975 Kaprow, Allan: Echo-Logy, New York: D’Arc Press 1975. Marx 1844 Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: Marx-Engels-Werke (MEW 40), Bd. 40, Ergänzungsband: Schriften bis 1844, Erster Teil, Berlin: Dietz 1968, S. 465-568. Smithson 2000 Smithson, Robert: Fahrt zu den Monumenten von Passaic, New Jersey (1967), in: ders.: Gesammelte Schriften,

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Feministische Perspektiven des Kuratorischen/ auf das Kuratieren Kuratieren sehe ich als eine Form der Wissensproduktion. Dies bedeutet gleichzeitig, dass es immer eine Form der Wissensproduktion ist, die von Effekten der Geschlechterdifferenz durchzogen ist und diese mitproduziert. Kuratorische Praxis macht gewissermaßen Vorschläge für Subjektkonstruktionen, für die Konstruktion von Gemeinschaft, für Zugänge zum Repräsentationsraum und zu Konnotationen von Geschlechterrollen. Dies geschieht sowohl mit praktischen kuratorischen Projekten als auch mit dem Schreiben (und Sprechen) darüber, sei dies in Form von Rezensionen oder von sogenannten kuratorischen Texte. Effekte hat dies auf das gesamte diskursive Feld, sowohl auf konkrete Ausstellungen als auch auf das Berufsbild Kurator_in oder auch auf die Situierung und die Inhalte von kuratorischer Lehre im akademischen Feld. Ich möchte daher in diesem Artikel zwei Fragen anreißen. Erstens: Was macht ein kuratorisches Projekt zu einem feministischen? Und zweitens: Wie lässt sich eine bestimmte Publikation auf die darin gemachten Vorschläge zur Situierung von Geschlecht hin befragen? Diese Fragen möchte ich am Fallbeispiel der Zeitschrift The Exhibitionist diskutieren. Im ersten Teil des Artikels werde ich ein wenig verkürzt über Forderungen sprechen, da ich diese auch an anderer Stelle diskutiert habe (Richter 2013). Die Forderung nach einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis im Bereich des Kuratierens muss aus meiner Perspektive erhalten bleiben, auch wenn wir als Feministinnen immer für ein Kaleidoskop von möglichen sexuellen „Identitäten“ argumentiert haben, jenseits des reduktionistischen binären Systems und jenseits einer identitären Festlegung. Gender Equality fasse ich als ein strategisches Instrument auf.

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Zudem ist es für eine feministische, durch Jacques Lacans Konzepte geschulte Perspektive wichtig, sich der Positionierung von Frauen im Patriarchat bewusst zu sein: „Frau“ wird per se eine Subjektposition verwehrt, die einzige existierende Subjektposition ist diejenige dessen, der den Phallus hat. Egal wie kreativ wir mit Attributen einer männlich konnotierten Subjektposition spielen, indem wir „männliche“ Attribute und Verhaltensweisen nachahmen, sollten wir uns dieser Mimikry bewusst sein und nichtsdestotrotz unsere Forderungen aus der Perspektive des Mangels, aus der Position des durchkreuzten Subjekts formulieren. Als politische Forderung schlage ich vor, die Politik der Quoten weiterzuverfolgen, jedenfalls solange die Ungleichheit noch überall fest verankert ist und die Top-Positionen in Ausstellungshäusern, Universitäten, Kunstakademien, auf den Ranking-Listen des Kunstmarktes von weißen westlichen Männern besetzt werden. Wir sollten die Forderung nach Geschlechterparität beibehalten, auch wenn wir dies auf dem Weg zur Geschlechtervielfalt und multiethnischen, vielfältigen, differenzierten „Multitude“ eher als eine Behelfsstruktur verstehen. Die zweite Forderung wäre, einen Gegenentwurf zu tradierten (patriarchalen) Modellen der Autorschaft, Produktion und Gemeinschaft zu formulieren bzw. tradierte Muster aufzudecken. Gegenwärtig ist die Figur des Kurators (begriffen als eine strukturelle Folie) aus verschiedenen Gründen als Entwurf einer neuen, postfordistisch akzentuierten (patriarchalen) Autorschaft zu verstehen. Diese Figur übernimmt, wie ich an anderer Stelle formuliert habe (Richter 2007, 2012, 2015), in vielerlei Hinsicht die paradigmatische Zuschreibung der männlichen Genialität des Künstlermythos, wofür Harald Szeemann als paradigmatische Figur zu nennen wäre. In den letzten zehn Jahren wurde diese Zuschreibung mit den Aspekten Mobilität und Vernetzung angereichert – fertig ist die neue Sehnsuchtsfigur westlich-postindustrieller Lebensverhältnisse. Die Immaterialität der kuratorischen Tätigkeit verweist auf den gesamtgesellschaftlichen Umbau eines fordistischen Produktionsmodells in den westlichen Industriestaaten, auf sogenannte immaterielle Arbeitsweisen in einem System, das Antonio Negri und Michael Hardt als „gesellschaftliche Fabrik“ bezeichnet haben (Negri/Hardt 1997, S. 21). Die Merkmale der sogenannten postindustriellen Ökonomie (eines global zirkulierenden Kapitals sowie einer Dezentralisierung der Produktion) finden sich, folgt man Maurizio Lazzarato, „verdichtet in den gleichsam klassischen Formen ‚immaterieller‘ Produktion: also etwa in den Berei-

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chen der audiovisuellen Industrien, der Werbung und des Marketing, der Mode, der Computersoftware, der Fotografie, künstlerisch-kultureller Betätigung im allgemeinen“ (Lazzarato 1998, S. 46). Offensichtlich ist, dass seit den 1960er Jahren die Arbeit in der direkten Produktion zunehmend automatisiert und inzwischen auch in die Trikont-Länder ausgelagert worden ist, während Management-Aufgaben und die Gewinnabschöpfung in den westlichen Staaten verbleiben. Aus diesem Grund ist es in unserem Zusammenhang wichtig, das Konzept der ‚immateriellen Arbeit‘ (Lazzarato) oder der ‚projektbasierten Polis‘ (Boltanski/Chiapello) auf das Kuratieren zu beziehen. Dabei ist von verschiedenen Autor_innen (Fernández 2011) die Ähnlichkeit der Konzepte neoliberaler Management-Anforderungen zu projektorientierter künstlerischer/kultureller Arbeit unterstrichen worden. So beklagen Luc Boltanski und Ève Chiapello in Der neue Geist des Kapitalismus (2006), dass Experimente mit neuen Lebens- und Arbeitsformen, Netzwerkstrukturen und Kooperationen vom kapitalistischen System quasi aufgesogen und in dessen Dienst gestellt wurden. In der postfordistischen Ära ist das klassische Subjekt der Zentralperspektive auf dem Rückzug, wie Felix Ensslin angemerkt hat, dank einer intensiven, in die Subjektkonstruktion eingreifenden digitalen Ver1 netzung und allumfassenden Medienkonnektivität. Netzwerke, Freundschaften, das sogenannte „Curating as Care“, das Konzepte traditioneller Weiblichkeit mit Konzepten immaterieller Arbeit im Postfordismus verbindet, bieten allerdings eine Reihe von weiteren Problemen. Paradigmatisch hat Carolyn Christov-Bakargiev, genannt CCB, vorgeführt, welch unheimliche Verbindung eine angebliche Zurückhaltung bei der Inanspruchnahme kuratorischer Autorschaft mit der Performance internationaler Netzwerke eingehen kann. Unter dem Deckmantel eines kuratorischen Nicht-Konzeptes, das den künstlerischen Arbeiten den Vorzug gäbe, wird die Facebook-Persona der Kuratorin als Netzwerkerin bis in den Documenta-Katalog (Logbook) zelebriert, wie dies Nanne Buurman (2016) ausführlich analysiert hat. Der Rückbezug auf eine beglaubigende Autorität heißt in diesem Fall, honi soit qui mal y pense, Harald Szeemann, die Verschleierung der Hierarchie lässt diese nicht verschwinden, sondern macht diese umso undurchdringlicher und nebulöser. Das lässt im Um-

1 Felix Ensslin anlässlich meines Vortrags zu künstlerischer Autorschaft an der Kunstakademie Stuttgart, Dezember 2015.

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kehrschluss folgern: Eine feministische kuratorische Arbeit existiert im Verbund mit gesellschaftspolitischen feministischen Anliegen, sie bedeutet, zu einer eigenen Positionierung zu stehen und damit auch zu dem speziellen kuratorischen Konzept, sei dies ein nichtrepräsentativer, kollaborativer, partizipativer oder auch ein dezidiert auktorialer Ansatz. Dementsprechend gilt es auch, historische Referenzen ernst zu nehmen, historisch genau zu sein, Komplexität nicht zu unterschlagen. Bezogen auf revolutionäre Kunstbewegungen wie Womanhouse oder Fluxus bedeutet dies, deren Anliegen, das Ringen um neue Formen der Zusammenarbeit, der Gemeinschaft, neue Formen von Bedeutungsproduktion, neue Formen multipler Autorschaft ernst zu nehmen und dabei zu bleiben, immer wieder aufs Neue alle Paradigmen des Kunstbetriebs in Bezug auf Produktion, Distribution, Rezeption in Frage zu stellen. Letztlich hieße dies auch die Machtfrage im kuratorischen Prozess zu stellen. Für zeitgenössisches Kuratieren wäre eine Schlussfolgerung, sich in die Tradition transgressiver Praktiken zu stellen und somit in Anknüpfung an feministische Praxis, in Anknüpfung an die „Sorge um sich“ jede identitäre Zuschreibung in einer Selbst-Erforschung aufzulösen. Foucault meint mit der Sorge um sich die Produktion neu zu entwerfender Subjektivierungsweisen, anderer Sexualitäten, neuer Beziehungsformen und Gemeinschaften. Im Unterschied zu der oben beschriebenen neoliberalen, affirmativen Subjektivierungsform, die CCB erfolgreich performiert, nämlich eine Facebook-Persona mit der Kuratorin als (geleugnetem) autoritärem Mittelpunkt, sollen Arten und Weisen der Subjektivierung und der Untermauerung hegemonialer Ansprüche verunsichert und damit geöffnet werden. Die dritte Forderung wäre die nach einer gewissen Verstörung, die eine Ausstellung, ein kuratorisches Projekt auslöst. Ich werde hier nicht ausführlich darauf eingehen können, nur so viel, diese Forderung ist abgeleitet von der Diskussion, die Jacqueline Rose in Sexuality in the Field of Vision führt. Sie bezieht sich auf Freud und Lacan, wenn sie argumentiert, Freud „relates – quite explicitly – a failure to depict the sexual act to bisexuality and to a problem of representational space. […] A confusion at the level of sexuality brings with it a disturbance of the visual field.“ (Rose 2005, S. 226) Jacques Lacan geht noch weiter, wenn er Bildern entweder ein pazifizierendes Moment zuspricht (der gezähmte Blick) oder jedoch ein Moment der Verstörung, wenn sich das Subjekt durch das Bild „erblickt“ fühlt, wie er dies anhand der berühmten Anamorphose im Bild Die Gesandten von Hans Holbein dem Jüngeren (1533)

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1 False Hearted Fanny und Dorothee Richter beim Vortag an der HfG Karlsruhe, „Nachdenken statt Herrschen. Dorothee Richter fordert feministische Gesten beim Konzipieren von Ausstellungen“

beschreibt (Lacan 1978, S. 95). Dieses Moment der Verstörung kann auch auf andere kulturelle Praktiken wie das Ausstellungsmachen oder auf Vorträge übertragen werden. Übertragen auf das Kuratieren bestünde dies darin, ein Moment der kritischen Selbstreflexion in die Ausstellung, in das kuratorische Projekt, zu installieren. Wie dies im Einzelnen geschehen kann, wäre jedes Mal neu auszuloten. Radikal vorgeführt haben dies Andrea Fraser als Künstlerin und Helmut Draxler als Kurator mit dem Projekt Eine Gesellschaft des Geschmacks (2003) im Kunstverein München, da die Mitglieder und der Vorstand des Kunstvereins als kleinbürgerliche, prätentiöse weiße Mittelstandsgesellschaft zu sehen gegeben wurden (vgl. Richter 2013). In meiner eigenen Vortragspraxis entstand somit ein Spiel mit einer Persona, False Hearted Fanny (Abb. 1), die ich ist und nicht ich ist, drückt sie doch häufig ein Aufbegehren gegen habituelle Anordnungen aus, indem sie beispielsweise lasziv und provokant ihre Zunge herausstreckt und das Publikum 2 als einer weißen Mittelklasse angehörig adressiert. Die vierte Forderung ist die nach Institutionskritik: Institutionskritik, institutional critique, auf kuratorische Projekte und Ausstellungen zu übertragen meint, jeweils auch den Kontext der Ausstellung sowie ihren Wahrheitsdiskurs in Frage zu stellen. Aus einer feministischen Perspektive wäre 2 „False Hearted“ spielt auf die Behinderung an, mit der ich geboren wurde, ein Herzfehler, der hier eben von der einschränkenden Vorstellung einer körperlichen Behinderung umgedeutet wird zu einer Möglichkeit, hier der Möglichkeit, „falsch“ zu sein, sich zu verstellen.

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2, 3 „Materialien“, Archiv/Ausstellung zu feministischen Positionen, kuratiert von Dorothee Richter, Künstlerhaus Bremen 1999

Institutionskritik immer Teil des Projektes. Das heißt selbstverständlich, dass jede hierarchische Position, wie diejenige zwischen Kurator_in und Künstler_in, hinterfragt wird. Als paradigmatische Naturalisierungseffekte von Kunstinstitutionen nennt Oliver Marchart vier Komponenten, die jeweils einen genderspezifischen Aspekt haben: Erstens die Definitionsmacht, die behauptet, dass die Institution ein neutrales Instrument des Urteilens und Vermittelns sei; zweitens die Präsentation von Aus- und Einschlüssen als natürlich; drittens die Beschränkungen der Institution durch Kulturpolitik, Budgets und ähnliche Faktoren, die die Institution als nur einen Faktor einer politischen Maschine zeigen; und viertens ihr klassenspezifischer Charakter (Marchart 2005, S. 39f.). Die Verhaltensnormen strukturieren als Subtext die Kunst als Institution (hier Institution im Sinne Peter Bürgers und Verhalten im Sinne Pierre Bourdieus als schichtspezifischer Habitus); dies geschieht im Interesse einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, deren paradigmatischer Repräsentant das weiße männliche Mittelklasse-Subjekt ist. Institutionskritik aus einer feministischen Perspektive beinhaltet also, alle Konventionen und Strukturen aufzubrechen. Wenn man die materielle und strukturelle Seite des Kuratierens bedenkt, folgt daraus, dass man feministisches Kuratieren als Teil eines größeren politischen und ökonomischen Kampfes sieht. Kuratieren als eine Form von Wissensproduktion zu sehen, oder anders ausgedrückt als eine Form der Anrufung, bedeutet, sehr bewusst eine Position in einem ideologisch umkämpften Raum einzunehmen.

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4 „Im (Be)Griff des Bildes“, Vortragsreihe konzipiert von Sigrid Adorf, Kathrin Heinz, Dorothee Richter, hier in der Ausstellung von De Geuzen, Künstlerhaus Bremen, 2001

Einzelne museale Präsentationen und deren ideologische Rahmung wurden beispielsweise schon ausführlich aus einer feministischen Perspektive diskutiert von Mieke Bal (1992), Jana Scholze (2004), Anna Schober (1994) sowie gemeinsam von Gerlinde Hauer, Roswitha Muttenthaler, Anna Schober und Regina Wonisch (1997), um nur einige zu nennen. Da noch immer alle Teilbereiche des Kuratierens von einer patriarchalen Anordnung infiziert sind, bedeutet feministisches Kuratieren auch eine Art Wiederholungszwang, immer wieder geht es darum, neue Formate 3 und sogenannte nicht-repräsentationale Formen zu finden, die neue Räume kreieren, um einen kuratierten Raum wortwörtlich zu beleben, in diesem zu leben, zu diskutieren, zu informieren, zu lachen, zu teilen, sich zu widersprechen, sich mit einer Haltung anzustecken. Als Beispiel aus meiner Praxis, die eben meist nicht im eigentlichen Sinne „meine“ Praxis ist, sondern meist eine kollaborative Praxis, möchte ich zwei Projekte nennen: Erstens „Materialien“, ein Archiv (1999), bestehend aus Dossiers von 30 feministischen Künstlerinnen, Theoretikerinnen und Kuratorinnen. Ich habe dabei zehn Referentinnen eingeladen, die auf dem Symposium Dialoge und Debatten, feministische Positionen in der zeitgenössischen Kunst (1999) gesprochen haben, jeweils weitere Positionen vorzuschlagen. Das Archiv als ein lebendiger Diskursraum stieß auf großes Interesse (Abb. 2 und 3). Und zweitens die Vortragsreihe Im (Be)Griff des Bildes (2001–2003), konzipiert von Sigrid Adorf, Kathrin Heinz und mir. Die Vorträge fanden häufig in Ausstellungssituationen statt, zum Beispiel der von De Geuzen (Abb. 4).

3 Nicht-repräsentationale Formen des Kuratierens – das ist offensichtlich ein Widerspruch in sich, weil auch die sogenannten nicht-repräsentationalen Formen etwas repräsentieren, aber es lohnt sich dennoch, danach zu fragen, was tatsächlich in einem Ausstellungsraum passiert und wovon ein Projekt handelt.

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Fallstudie: The Exhibitionist

Im Folgenden werde ich ein Beispiel analysieren, um zu zeigen, auf welche Weise die Anordnung tradierter Geschlechterrollen in die neue diskursive Formation „Kuratieren“ eingeschrieben ist. Die Geburt des Museums ist eng verbunden mit dem Aufkommen einer bürgerlichen Klasse, dies wiederum ist historisch gesehen eng verbunden mit zeitgenössischem Kuratieren. Der Crystal Palace in London ist als paradigmatischer Schauplatz beschrieben worden, an dem ein neues skopisches Regime institutionalisiert wurde. Tony Bennett beschreibt dies in seiner grundlegenden Veröffentlichung The Birth of the Museum wie folgt: „Just as, in the festivals of the absolutist court, an ideal and ordered world unfolds before and emanates from the privileged and controlling perspective of the prince, so, in the museum, an ideal and ordered world unfolds before and emanates from a controlling position of knowledge and vision: one, however, which has been democratized in that, at least in principle, occupancy of that position – the position of Man – is openly and freely available to all.“ (Bennett 1995, S. 97) Er fährt jedoch mit der entscheidenden Wendung fort: „It is, however, around that phrase ‚at least in principle‘ that the key issues lie. For in practice, of course, the space of representation shaped into being by the public museum was hijacked by all sorts of particular social ideologies: it was sexist in the gendered patterns of its exclusions, racist in its assignation of the aboriginal populations of conquered territories to the lowest rungs of human evolution, and bourgeois in the respect that it was clearly articulated to bourgeois rhetorics of progress.“ (Ebd.) Die neue Subjektkonstruktion, die mit diesem skopischen Regime einsetzt, nämlich einerseits als Subjekt der Zentralperspektive kontrollierend zu sehen und sich andererseits gleichzeitig von allen Seiten gesehen zu wähnen, hat das bürgerliche Subjekt als Instanz der Selbstkontrolle in sich selbst installiert, es kontrolliert sich selbst effektiv. In vieler Hinsicht hat das Kuratieren bestimmte Ausschlüsse geerbt und umgedeutet. Auch Olga Fernández beschreibt dies: „Curators’ expertise is usually defined by a set of procedural skills and organisational abilities, and intellectual production“ (Fernández 2011, S. 40). Sie argumentiert, dass diese Kombination von Fähigkeiten spezifisch sei für die Anforderungen einer postfordistischen Ökonomie. „The entrepreneurial abilities of the curator and the expanded exhibitions formats are symptomatic of the new economic

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5 Crystal Palace, Cover in der Mitte, Website The Exhibitionist, Screenshot

conditions that require new contexts of collaboration and interaction“ (ebd.). In dieser erneuten Umdeutung wird an die Figur des Kurators, heute wie schon beschrieben weltumspannend vernetzt und in Metropolen international arbeitend, die Illusion einer Beherrschbarkeit der neuen postfordistischen Weltordnung und ihrer neuen Infrastrukturen geheftet. Als Fallbeispiel möchte ich The Exhibitionist diskutieren, ein Magazin, das seit 2009 von Jens Hoffmann, manchmal zusammen mit Kooperationspartner_innen, veröffentlicht wird. In einem Screenshot von der Website (Abb. 5) sieht man das Bild des Crystal Palace auf dem zentral angeordneten Titelblatt. Die neuen Ausgaben wurden noch um einen Blog ergänzt. Von Anfang an war nur ein kleiner Teil dessen, was man unter kuratorischer Praxis verstehen kann, Gegenstand des Journals: „The Exhibitionist does not intend to occupy itself with all forms of curatorial practice. Rather, it is specifically concerned with the act of exhibition making: the creation of a display, within a particular socio-political context, based on a carefully formulated argument, presented through the meticulous selection and methodical installation of artworks, related objects from the sphere of art, and objects from other areas of visual culture.“ (Hoffmann 2009) Nur um es in Erinnerung zu rufen, mit „Kuratieren“ kann man eine sehr viel größere Bandbreite von Aktivitäten meinen: publizieren, Sym-

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6 „Wooden Door“, Cover 1. Ausgabe, Website The Exhibitionist, Screenshot

posien organisieren, digitale Plattformen ins Leben rufen, Workshops veranstalten, in Archive oder Radiostationen intervenieren, Editionen herausgeben, sozialen Raum herstellen oder eine soziale Plastik mit Künstler_innen entwickeln oder auch im öffentlichen Raum Projekte machen sowie die Verknüpfung all dessen. Beim Exhibitionist ist allerdings infolge des Fokus auf Ausstellungen auch Folgendes zu lesen: „We concur that the curatorial process is indeed a selection process, an act of choosing from a number of possibilities, an imposition of order within a field of multiple (and multiplying) artistic concerns. A curator’s role is precisely to limit, exclude, and create meaning using existing signs, codes, and materials“ (ebd.). Aus meiner Sicht ist dies, der Fokus auf Ausschluss und Selektion, eine unendlich reduktionistische Sicht auf die Arbeit von Kurator_innen. Vielleicht hat auch der Name des Journals mit diesem eingeschränkten Konzept zu tun, das zentrale Thema ist auch auf eine sehr spezifische Subjektposition beschränkt, die mehr oder weniger den Anspruch erhebt, exhibitionistisch zu sein. Exhibitionismus bezeichnet dem Eintrag in der deutschen Wikipedia zufolge „eine Sexualpräferenz, bei der die betreffende Person es als lustvoll erlebt, von anderen (meist fremden) Personen nackt oder bei sexuellen Aktivitäten beobachtet zu werden“ (Stand 2016). Die deutsche und die englische Version des Wikipedia-Eintrags unterscheiden sich jedoch: Während in der englischen an exhibitionist theoretisch sowohl männlich als auch weiblich sein könnte, meint die deutsche Version dazu: „Ein Exhibitionist ist in der Regel eine

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männliche Person, die sexuelle Stimulation erfährt, wenn dieser seine Erregung einer, normalerweise weiblichen Person zeigt.“ (Ebd.) Ich vermute nun, dass diese Beziehung zu einer klinischen sexuellen Störung, die das Patriarchat hervorbringt, programmatisch in das Konzept des kuratorischen Subjekts eingeschrieben ist. Dies mag erklären, warum ich mich so seltsam berührt fühlte, als ich auf die Website des Exhibitionist stieß und die Anordnung der Titelblätter wahrnahm. Welches Narrativ produziert diese Anordnung? Man sieht hier sehr prominent in der Mitte das historische Beispiel des Crystal Palace, um das sich die anderen Titel gewissermaßen drehen. Wie oben ausgeführt, ist dies die Referenz für ein neues Konzept eines bürgerlichen Subjekts, das sieht und gesehen wird. Ein Subjekt, das ein wohlerzogener Staatsbürger sein wird, die Instanz der Kontrolle ist in seine Subjektivität eingesenkt. Wir sehen das Titelblatt der ersten Ausgabe (Abb. 6) mit einem sehr spezifischen, etwas mysteriösen Bild, das im Editorial des Herausgebers besondere Erwähnung findet: „In homage to Marcel Duchamp we have chosen an image of his final work, Étant donnés (1946–66), for the cover of our first issue. Anyone familiar with the piece knows that what is shown here, an old wooden door with two peepholes, is only a small part of the full experience of the work. Behind the doors there is an illuminated landscape and a naked woman; the exhibitionism of the scene invites us to look but it also exposes us, standing at the door in the midst of our voyeurism, to the gazes of others just entering the room. The pun of this publication’s title speaks to that doubling, to the way in which the curator is not only an exhibition maker but also one who publicly exposes his or her arguments and commitments in a vehemently visual fashion.“ (Hoffmann 2009) Ich zeige hier ein Bild von der Website des Philadelphia Museum of Art, wo diese Arbeit aufgebaut ist (Abb. 7). An diesem Werk (Abb. 8) arbeitete Duchamp während der letzten Jahre seines Lebens, als die Kunstgemeinde annahm, er befinde sich jenseits jeder materiellen Produktion. Wie Sotirios Bahtsetzis beschreibt, wird es häufig als Überblendung des als weiblich konnotierten Körpers mit dem Feld des Visuellen antizipiert. Linda Hentschel (2001) zeigt, dass es genau diese Transaktion ist, die einen bestimmten visuellen Raum produziert, der einen geschlechtsspezifisch konnotierten Raum hervorbringt. Ihr zufolge ruht die Grundstruktur einer westlich geprägten Bildproduktion auf diesem skopischen Regime, auf dieser Institutionalisierung einer Begehrensstruktur. Hentschel zeigt weiter, dass die historische Kon-

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7 „Wooden Door“, Philadelphia Museum of Art

8 Marcel Duchmanp, Étant donnés (1946–66), Philadelphia Museum of Art

struktion von Geschlecht, das Verhältnis zwischen einem optischen Apparat, dem visuellen Feld und der Anordnung eines als feminin konnotierten Raums, Hand in Hand geht mit der Umdeutung des Sehens zu einer sexualisierten Aktivität, sozusagen eine Erziehung im Paradigma eines skopisch motivierten Begehrens. Der historische Moment wurde paradigmatisch initialisiert durch Dürers Der Zeichner des liegenden Weibes (1538) (Abb. 9). Bezeichnenderweise ist dieser Druck auch Teil einer durchaus erzieherisch gemeinten Veröffentlichung. In dem Traktat zur Erlernung der Zentralperspektive

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9 Albrecht Dürer, Der Zeichner des liegenden Weibes (1538), Kupferstichkabinett Berlin

sind die „männliche“ und die „weibliche“ Position klar hierarchisch angeordnet. Aus einer feministischen Perspektive haben Sigrid Schade und Linda Hentschel gezeigt, dass der Effekt dieser Anordnung nicht nur auf der Sexualisierung des visuellen Feldes beruht, sondern dies auch ein voyeuristisches Muster ist, das mit einer binären Kodierung aufgeladen ist: Das Weibliche wird assoziiert mit Natur, das Männliche mit Wissenschaft und Kontrolle, das Weibliche mit einer wilden Landschaft, das Männliche mit kultivierten Anpflanzungen. Die Demonstration einer kontrollierten und unterdrückten weiblichen Sexualität ist offensichtlich. Interessanterweise ist den Betrachter_innen dieses Holzschnitts der volle Blick auf die weiblichen Genitalien („beaver shot“) im Gegensatz zum männlichen Zeichner verwehrt. Insofern ist der Moment einer repräsentationalen Aufreizung und des Verweigerns in diese Abbildung eingeschrieben. Um nun auf Duchamps Étant donnés (1946–66), mit vollständigem Titel Étant donnés 1. La chute d’eau 2. Le gaz d’éclairage (Gegeben sei: 1. Der Wasserfall, 2. Das Leuchtgas), zurückzukommen: In dem oben erwähnten Artikel argumentiert Bahtsetzis, dass Duchamp sich der „Sexualität im Feld der Anschauung“ (um das gleichnamige Buch von Jacqueline Rose in Erinnerung zu rufen) bewusst sei und genau diesen beschriebenen Raum mit der Arbeit kritisieren wolle. Für meine Argumentation kondensiere ich Bahtsetzis Gedankengang auf seine Schlussfolgerung, dass Étant donnés einen speziellen Fall einer anamorphotischen Gestalt darstellt, weil die Betrachter_innen des Bildes aus der Position des vollen Blicks ausgeschlos-

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10 Kommentare auf Screenshot der Website The Exhibitionist

sen und so laut Bahtsetzis zu Zeug_innen der phallischen Konstruktion des skopischen Regimes der Moderne würden. Aber, um die Diskussion abzukürzen, der zerstückelte Körper, den Duchamp zu sehen gibt, wurde aus Abgüssen seiner heimlichen Geliebten Maria Martins und dem Abguss des Arms seiner letzten, späteren Ehefrau zusammengesetzt. Außerdem verstärkt die Positionierung in dem reichlich bürgerlichen Setting von geheimen, der Pornografie verdächtigten Bildern aus meiner Perspektive das phallische Regime eher, als es zu kritisieren. Der zerstückelte Körper wird nicht nur in seiner Fragmentierung gezeigt, sie sieht gewalttätig zugerichtet aus und hält gleichzeitig eine phallisch geformte Lampe hoch, die – honi soit qui mal y pense – vom Arm der rechtmäßigen Ehefrau hochgehalten wird. Die Arbeit insgesamt zeigt eher eine Ungewissheit in Bezug auf das, was „real“ ist, eine Unsicherheit bezogen auf das, was Lacan „jouissance“ nennt, das weibliche, sexuelle Genießen, sie zeigt die Anstrengung dabei, eine phallische Position aufrechtzuerhalten. Gehen wir zurück zur Präsentation der diese Szene verbergenden Tür, hier als Titelbild der ersten Ausgabe des Exhibitionist. Wir sehen diese Tür, die das skopische Regime der Moderne entweder verdoppelt

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oder kritisiert: den geschlechtlich konnotierten Raum initialisiert, einen hierarchischen Raum, dem das Verhältnis einer Subjektposition, das mit allen Rechten ausgestattet ist, gegenüber einer objekthaften Position eingeschrieben ist. Was initiiert dieses Cover in der Reihe der Titelblätter (Abb. 10), die sich um das bürgerliche Setting des Crystal Palace drehen? Wir sehen hier die Repräsentation einer Sekretärin (eine Arbeit von Cindy Sherman) und einen weiteren „beaver shot“, wenn frau so will, eine Skulptur von Niki de Saint Phalle, die als feministische Arbeit gemeint war. Wir sehen als männliche Repräsentationsfigur einen gefährlichen Graf Dracula sowie einen wunderschönen Narziss, verliebt in sein gespiegeltes Gesicht, einen starken Boxchampion und eine wunderschöne, überlebensgroße Skulptur des David von Michelangelo. Ich bin mir sehr bewusst, dass man all diese Titelbilder detailliert analysieren könnte, mit all ihren vielfältigen Konnotationen, aber in diesem Fall möchte ich mich auf einen Überblick der männlichen und weiblichen Stereotype konzentrieren, die mit dieser Auswahl vorgeschlagen werden. Diese Stereotype definieren gewissermaßen die Rahmung eines kuratorischen Subjekts, das schon durch die Namensgebung, Exhibitionist, vorformuliert wurde. Die Wiederholung dieser Stereotype verdoppeln die traditionellen Geschlechterrollen, auch wenn das ursprüngliche Werk als Kritik eines geschlechtsspezifischen Raumes gemeint war. Die leicht sarkastische Haltung, die auch zum Ausdruck gebracht wird, kritisiert dies nicht, ganz im Gegenteil, traditionelle Geschlechterrollen werden mit einem subtilen Grinsen präsentiert. Auf diese Weise präsentiert The Exhibitionist das, wofür er steht, ein traditionelles Konzept vom Ausstellungsmachen, das selbstverständlich Hand in Hand geht mit einem konservativen, geschlechtlich konnotierten visuellen Feld. Dementsprechend dreht sich der Inhalt der Hefte auch häufig um das Ausstellungsmachen als assoziatives visuelles Format, das nicht allzu viel theoretische Einsichten benötigt. Hier nur als kurzer Einschub zu der Frage, wie ein Titelbild funktioniert, das geschlechtlich konnotierten Raum kritisiert. Es ist also wichtig sich im Klaren darüber zu sein, wo, wie und für wen ein Bild Bedeutung produziert. Ein Abbild kann immer, wie Roland Barthes dies ausführlich beschrieben hat, jederzeit enthistorisiert werden und zu neuen (gegenteiligen) Bedeutungsproduktionen kombiniert werden, als Mythos, als ideologische Konstruktion. Das in der Abb. 11 zu sehen gegebene Titelbild gehört zu dem berühmten Journal NEID, herausgegeben von der Künstlerin und DJane

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11  NEID #7, 1998/99, Cover

Ina Wutdke. Es zeigt eine Arbeit von Claudia Reinhardt, ein verletzter Körper, der die heimliche Angst des Patriarchats offen anspricht: die 4 Kastration. Das Bild zeigt den Blick des anderen, der das Feld des Sehens zu desorganisieren vermag, zeigt es doch keine Kastration, sondern eine Narbe, die vielleicht von einer Blinddarmoperation stammt, der Abgebildete hat den Penis versteckt zwischen die Beine geklemmt. Kastration als Angst ist jedoch so übermächtig eingeschrieben in das Patriarchat, dass es schwerfällt, diese harmlosere Bedeutung des Bildes zu sehen. Margarete Iversen hat demonstriert, wie Barthes’ Konzept des „Punctum“ als eine Referenz zu Lacans Konzept des Blicks aufgefasst werden kann, durch die Verwendung der Ausdrücke Stich, Wunde, Verletzung, Trennung („split“) kann dies als Ergebnis einer Angst vor Kastration gelesen werden, die auf den verstörenden Moment des Einbruchs des Realen ins Bewusstsein des Subjekts hinweist (Iversen 1994). Dieses Titelbild nützt gewissermaßen die eingeschriebene Struktur des skopischen Regimes der Moderne, um ein Bild zu sehen zu geben, das genau diese Struktur erschüttert. Übertragen auf das Kuratieren aus einer feministischen Perspektive bedeutet dies, dass sowohl Bilder anti-patriarchalen Inhalts in

4 NEID wurde 1992 von Ina Wudtke, Heiko Wichmann, Hans Christian Dany und Claudia Reinhardt gegründet und 1995–2004 von Wudtke allein herausgegeben, siehe http://www. inawudtke.com/html/arbeiten/neid.html (09.04.2016).

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Umlauf gebracht als auch die Starrheit einer reinen Repräsentationsausstellung aufgegeben und neue Formen, jenseits des Displays, jenseits der Repräsentation, initiiert werden müssen.

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Literatur

schweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion, Berlin: ID-Verlag 1998, S. 39–52.

Bal 1992 Bal, Mieke: Telling, Showing, Showing off, in: Critical inquiry, Nr. 18, 1992, S. 556–594.

Marchart 2005 Marchart, Oliver: Die Institution spricht, in: Beatrice Jaschke; Charlotte Martinez-Turek; Nora Sternfeld (Hg.): Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen, Wien: Turia + Kant 2005, S. 34–59.

Bennett 1995 Bennett, Tony: The Birth of the Museum. History, Theory, Politics, London/New York: Routledge 1995. Boltanski/Chiapello 2006 Boltanski, Luc; Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus (1999), Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2006. Buurman 2016 Buurman, Nanne: CCB with … Displaying Curatorial Relationality in dOCUMENTA (13)’s The Logbook, in: Journal of Curatorial Studies, Nr. 1, Jg. 5, 2016, S. 76–99. Fernández 2011 Fernández, Olga: Just what is it, that makes ‚Curating‘ so different, so appealing?, in: OnCurating, Nr. 8, 2011 (Themenheft: Institution as Medium. Curating as Institutional Critique, Part 1), S. 40–42. Hauer et al. 1997 Hauer, Gerlind; Roswitha Muttenthaler; Anna Schober; Regina Wonisch: Das inszenierte Geschlecht. Feministische Strategien im Museum, Wien u. a.: Böhlau 1997. Hoffmann 2009 Hoffmann, Jens: An overture, in: The Exhibitionist, Nr. 1, 2009, http://the-exhibitionist.com/archive/exhibitionist-1/ (Stand: 09.03.2015). Iversen 1994 Iversen, Margret: What Is a Photograph?, in: Art History, Nr. 3, Jg. 17, 1994. Lacan 1978 Lacan, Jacques: Das Seminar, Buch XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (1964), übers. v. Norbert Haas, Olten u.a.: Walter-Verlag 1978, S. 79–83, 86–109. Lazzarato 1998 Lazzarato, Maurizio: Immaterielle Arbeit. Gesellschaftliche Tätigkeit unter den Bedingungen des Postfordismus, in: Toni Negri; Maurizio Lazzarato; Paolo Virno: Umher-

Negri/Hardt 1997 Negri, Antonio; Michael Hardt: Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne, Berlin: ID-Verlag 1997. Richter 2007 Richter, Dorothee, Künstlerische und kuratorische Autorschaft, in: Corina Caduff; Tan Wächli (Hg.): Autorschaft in den Künsten. Konzepte, Praktiken, Medien, Zürich: Zürcher Hochschule der Künste 2007, S. 110–127. Richter 2012 Richter, Dorothee: Artists and Curators as Authors. Competitors, Collaborators, or Teamworkers?, in: Beatrice von Bismarck (Hg.): Cultures of the Curatorial, Berlin: Sternberg Pr. 2012, S. 229–250. Richter 2013 Richter, Dorothee: In Conversation with False Hearted Fanny. Feminist Demands on Curating, in: Elke Krasny; Frauenmuseum Meran (Hg.): Women’s:Museum. Curatorial Politics in Feminism, Education, History, and Art/ Frauen:Museum. Politiken des Kuratorischen in Feminismus, Bildung, Geschichte und Kunst, Wien: Löcker 2013, S. 75–83. Richter 2015 Richter, Dorothee: Künstlerische und kuratorische Autorschaft, in: Kai-Uwe Hemken (Hg.): Kritische Szenografie: Die Kunstausstellung im 21. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2015, S. 67–88. Rose 2005 Rose, Jacqueline: Sexuality in the field of vision (1986), London: Verso 2005. Schober 1994 Schober, Anna: Montierte Geschichten. Programmatisch inszenierte historische Ausstellungen, Wien: Dachs Verlag 1994.

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Feministische Perspektiven des Kuratorischen/auf das Kuratieren Scholze 2004 Scholze, Jana: Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin, Bielefeld: transcript 2004.

Abbildungsnachweis Abb. 1: Karlsruher Nachrichten, Ausgabe Nr. 121, 29.5.2015, S. 23 Abb. 2–4: © Künstlerhaus Bremen Abb. 5 und 6: Website The Exhibitionist (URL: http:// the-exhibitionist.com, abgerufen: Juli 2015), Screenshots: Dorothee Richter Abb. 7 und 8: Website Philadelphia Museum of Art (URL: http://www.philamuseum.org, abgerufen: Juli 2015), Screenshots: Dorothee Richter Abb. 9: Foto: Dorothee Richter Abb. 10: Website The Exhibitionist (URL: http://the-exhibitionist.com, abgerufen: Juli 2015), Kommentare und Screenshot: Dorothee Richter Abb. 11: Foto: Claudia Reinhardt, Ezikiel, 1996, Los Angeles; Grafik: Nina Rühmkorf; © NEID

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Die Bildung der Anderen durch Kunst. Eine postkoloniale Geschichte des Art-Education-Dispositivs im Spannungsfeld von Disziplinierung und gegenhegemonialer Intervention Im Jahr 1992 eröffnete eine Einzelausstellung von Alfredo Jaar in der Whitechapel Art Gallery (WAG) im Londoner East End mit dem Titel 1 „Two or Three Things I Imagine about Them“. De Jaar untersuchte darin die „unentwirrbaren Verbindungen“ zwischen der sogenannten „Ersten Welt“ und der „Dritten Welt“ und deren „von Ungleichheit geprägte 2 Beziehungen“. Die Ausstellung war nach einer Arbeit benannt, die Jaar bereits zuvor in Brasilien, Hongkong und Nigeria realisiert hatte und nun für London neu und wiederum ortsspezifisch gestaltete (vgl. Jaar 1992), und behandelte den Rassismus gegenüber Einwanderinnen aus Bangladesch und deren Ausbeutung in der Textilindustrie des East End. Jaar führte dafür ein Fotoshooting mit Schülerinnen aus der Nachbarschaft der WAG durch. Teil der Installation waren Leuchtkästen mit Fotos von den Gesichtern der jungen Frauen. Sie waren mit diskriminierenden Aussagen des Betreibers einer Textilfabrik überschrieben, unter anderem, die bei ihm arbeitenden Frauen aus Bangladesch seien alle Analphabetinnen. Bei der Eröffnung protestierten die abgebildeten Schülerinnen, die sich als Individuen und auch als Gruppe falsch

1 Der Titel bezog sich auf den Film Deux ou trois choses que je sais d’elle von Jean-Luc Godard aus dem Jahr 1967. 2 Ankündigungsflyer zur Ausstellung der Whitechapel Art Gallery von 1992, WAG Archiv, WAG/PUB/5/13 (Übers. d. Verf.).

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Carmen Mörsch 3 repräsentiert und erneut diskriminiert sahen. Nach Diskussionen zwischen dem Künstler, den Abgebildeten und der begleitenden Lehrerin wurde die Installation verändert: Einige der Fotos mit Schriftzügen wurden ganz entfernt, die Leuchtkästen blieben leer hängen. Bei anderen Porträts wurden die Schriftzüge entfernt. Jaar hatte bei der Produktion in der WAG mit der postkolonialen Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak zusammengearbeitet. Deren Gesicht war am Eingang zur Ausstellung in einem Video zu sehen: Es stand auf dem Kopf und spiegelte sich in einem Wasserbecken vor der Leinwand. Sie sprach die Sätze: „How to make the street visible. How to learn to see differently. To learn to see differently is to see broader. […] You are innocent, they are not? They are innocent, you are not? […] Who makes visible? Who sees? How do we see? How do we make the street visible? How to make the street visible?“ (Zit.n. Keith 2000, S. 524). Spivak distanzierte sich nach den Protesten der Schülerinnen von der Ausstellung. „I am concerned not about the ,invisibility‘ of Bangladeshi women in the East End, but about the invisibility of super-exploited women, homeworkers and sweatshop workers. These facts are well-documented photographically by various homeworkers’ activist groups, but Jaar found these images unsatisfactory for his purposes, a decision which I believe perpetrates the invisibility of the ethnicisation of super-exploited women’s labour. […] I objected to the placement of the ,insulting text‘ across the faces of the young Bangladeshi women well before the exhibition opened. The intended ,irony‘ seems to me misplaced and naïve, and my reservations were confirmed by subsequent events.“ (Spivak 1992) Wie der Soziologe Michael Keith im Jahr 2000 herausstellte, kann die Komplexität von Identitäts- und Repräsentationspolitiken in einer „multi-racist“ Gesellschaft wie der britischen anhand dieses Konfliktes um die Ausstellung aufgezeigt werden. Anspruch von Jaar und Spivak sei es gewesen, „to make the grand institution of the Whitechapel Gallery a truly public space that was open to all, a site specific installation that […] ‚raises the possibility of an aesthetic dimension that can contribute to 4 change across the terrain of the social formation‘.“ (Keith 2000, S. 524) 3 Im Guardian teilte David Widgery (1992) die Kritik. Eine weitere kritische Besprechung erschien am 29. Februar 1992 in der Financial Times. 4 Keith bezieht sich zuerst auf eine Präsentation von Jaar und Spivak im ICA kurz vor der Eröffnung der Ausstellung.

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Keith beurteilte die Installation als auf der visuellen Ebene „clearly very clever, highlighting the practices of representation, the aesthetics of the gaze“ (ebd.). Nichtsdestotrotz hätte in Bezug auf die Repräsentation der abgelichteten Schülerinnen als in die Produktion involvierte Akteurinnen 5 Genauigkeit gefehlt. 2006 rekurrierte auch der Kulturwissenschaftler Sarat Maharaj auf den Fall, um darzulegen, dass die Verschiebung von Machtverhältnissen bei der Arbeit an Repräsentationen zwangsläufig von Fehlern und Momenten des Scheiterns durchzogen sei, da die Produktion 6 von weißen Flecken dabei konstitutiv sei. Daher müssten Zeit und Raum für die Konfrontation widerstreitender Interessen und Perspektiven in einem Projekt, das sich eine solche Verschiebung vornimmt, mit eingeplant sein. Dem hätte das Konzept der Ausstellung als terminiertes und vermarktbares Produkt entgegengestanden (Stanley/Maharaj 2006, S. 30). Um eine bessere Vorstellung des Konflikts um die Ausstellung zu gewinnen, sollen im Folgenden aus Dokumenten im Archiv der WAG Aktivitäten rekonstruiert werden, die bisher unbeachtet geblieben sind: In die Ausstellung waren sechs weitere Künstler_innen als artist educators involviert, namentlich David Griffiths, Rosmond Kinsey-Milner, Ben Luxmore, 7 Alistair Raphael, Rachel Withers und Lucy Dawe Lane. Sie arbeiteten im Rahmen der Vermittlungsaktivitäten der WAG zusammen mit den direkt und indirekt betroffenen Schüler_innen aus Schulen des East End in ver8 schiedenen Workshops und residencies. Diese waren schon im Vorfeld der Ausstellung angekündigt gewesen, doch nun eröffneten sie die Möglichkeit einer Bearbeitung des Konflikts. Die Künstler_innen analysierten und verarbeiteten mit den Schüler_innen, was geschehen war, und entwickelten

5 Keith homogenisiert allerdings in seinem Artikel die eigentlich konfliktiven Positionen von Spivak und Jaar und weist diese als die der „curators“ aus. 6 Ich schreibe den Begriff „weiß“ als identitäre Zuweisung kursiv, um auf die historischen, sozialen und kulturellen Konstruktionsprozesse, welche dieser Kategorie innewohnen, hinzudeuten. „Schwarz“ schreibe ich groß, um auf die gleichlautende Selbstbezeichnung von Emanzipationsbewegungen zu verweisen. „People of Color“ verwende ich als Bezeichnung für Menschen, die aufgrund ihrer ethnisch konnotierten äußeren Erscheinung in die Kolonialgeschichte eingeschriebene Diskriminierung erleben. 7 Lucy Dawe Lane hatte zu diesem Zeitpunkt die Position der Community Education Organiser an der WAG inne. 8 Artist in School Residencies waren zu diesem Zeitpunkt Projekte der WAG, die künstlerische und pädagogische Arbeit verbinden sollten und die von den Künstler_innen über einen Zeitraum von einer Woche bis zu mehreren Jahren an einer Schule durchgeführt wurden.

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mit ihnen Vorschläge für eigene Visualisierungen. Ihr methodischer Zugang war die Repräsentationskritik, die im Rahmen der Cultural Studies insbesondere durch den afrokaribisch-britischen Kulturwissenschaftler Stuart Hall entwickelt worden war (vgl. Hall 1997). Es ging darum zu lernen, wie man dominante Codes in Bildern erkennt und diese mittels der Frage „Who 9 represents whom, and how?“ analysiert, des Weiteren, wie man über künstlerische Verfahren zu eigenen Bildern im Sinne von Gegenerzählungen kommen kann (vgl. Hall 1992, S. 274–316). Konkret ging es darum, „[t]o offer the girls participating in the project an opportunity to develop their own response to the exhibition both in written and practical form, assuming the role of representer rather than represented. To examine constructed meanings behind apparently value-free, ,truthful‘ photographic representations and the authoritative effect of the addition of text. […] To offer the 10 possibility of a wider audience for their work and ,voices‘“. In einem Workshop fotografierten die Jugendlichen im Londoner Regierungsviertel Herrschaftsarchitektur und die auf der Straße sichtbaren Angestellten und Beamt_innen. Der Repräsentation von Benachteiligung in der Ausstellung, welche die Jugendlichen als entmächtigend und diskriminierend wahrgenommen hatten, wurde mit der Umarbeitung der Repräsentation von Macht begegnet: Weiße Männer mit bowler hats und Zylindern lasteten als Projektion auf dem Rücken eines Teilnehmers, während eine andere Teilnehmerin den Turm des Londoner Parlamentsgebäudes mit selbstironischer Leichtigkeit auf den Händen und Schultern balancierte. Mithilfe von Projektionen, Fragmentierung und Collage wurden die Selbstporträts wiederum verfremdet und mit mehrdeutigen Beschriftungen versehen. Eine der jungen Frauen zeigte sich, auf mehreren Leinwänden und in Überblendungen mit anderen Bildern, bei der Arbeit am Computer. So stellte sie der in der Installation von Jaar wahrgenommenen Viktimisierung von Frauen aus Bangladesch die von ihr behauptete Wirklichkeit entgegen: Im Jahr 1992 hatten bei Weitem nicht so viele Menschen wie heute in Europa Zugang zu einem Computer und dieser war für Mädchen in der Regel zusätzlich erschwert (Barbieri/Light 1992). Die Schülerin repräsentierte sich also selbst als cutting edge – jedoch in einer fragmentierten Weise, projiziert auf 9

Konzept für GCSE Saturday Workshops, o. S., WAG-Archiv.

10 Rosmond Kinsey-Milner: Project Proposal, Mulberry School Project with the Whitechapel Art Gallery on Alfredo Jaar’s Exhibition „Two or Three Things I Imagine about Them“, Febr./März 1992, WAG-Archiv, WAG/EDUC/433/1.

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bewegliches Material, wodurch einer möglichen neuen Essentialisierung und Festschreibung visuell entgegengearbeitet wurde. Alle artist educators waren von der WAG auf Grundlage ihrer eigenen künstlerischen Praxis eingeladen worden, die in Vorgehensweisen und Inhalten mit der Arbeit von Jaar korrespondierte. Die Schüler_innen befassten sich daher nicht nur mit den in der Ausstellung gezeigten Werken, sondern zentral auch mit den künstlerischen Positionen der artist educators, die sich mit Repräsentationskritik und Installation beschäf11 tigten. Diese Auseinandersetzung implizierte eine Kontextualisierung und De-Zentrierung der Einzelschau von Jaar: Sie wurde zu einem „point 12 for discussing and dissecting the work“. Die beteiligten Schüler_innen lernten sowohl etwas über Verfahren und Techniken als auch darüber, inwiefern Kunst im Ringen um selbstbestimmte Formen von Sichtbarkeit als Mittel genutzt werden kann, solche Bestrebungen aber auch unterminieren kann. Sie lernten, Bilder analytisch zu betrachten und nicht als gegeben hinzunehmen sowie über Kunst zu sprechen, zu streiten und zu schreiben. Auf diese Weise leisteten die artist educators an der WAG kritische Kunstvermittlung: Sie zeigten auf, warum theoretisches und praktisches Wissen über Kunst und visuelle Kultur nützlich sein kann, und vermittelten dieses; sie bezogen im Zuge dessen eine kritische Position zur Ausstellung, in deren Kontext ihre Arbeit angesiedelt war. Gleichzeitig trugen sie dazu bei, die WAG als Institution zu (re‑)stabilisieren. Die WAG arbeitet seit den 1880er Jahren mit ihrem lokalen Umfeld und seit der Etablierung öffentlicher Schulen im East End auch mit diesen. Für sie stand bei dem Konflikt um die Ausstellung ihre Integrität in der Nachbarschaft auf dem Spiel und damit ein konstitutiver Teil ihres Selbstverständnisses. Die artist educators agierten daher quasi als Reparaturwerkstatt der Kunstinstitution. Eine weitere Dimension der hegemonialen Stabilisierung im Wirken der artist educators betrifft die Anrufung, in citizenship ein- und nicht ausgeschlossen zu sein. Das Bild des Mädchens am Computer genauso wie die Aneignungen von Repräsentationen der Macht könnten hegemoniekritisch nicht nur als ein selbstermächtigtes

11 „During my introductory talk with them I would like to show them my work […]. My own work aims to address, inform and respond to issues relating to representation, race and sexuality.“ (Alistair Raphael: Konzeptpapier „Six day GCSE residency at George Green School“, WAG-Archiv, Folder WAG/EDUC/433/2). 12

Ebd.

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Statement, sondern gleichzeitig als Beispiel für die Unterwerfung unter eine zentrale Anrufung interpretiert werden: Das Bild zeigt eine perfekt „integrierte“ britisch-bengalische Staatsbürgerin, die sich nicht nur anpasst, sondern ihre Zeitgenossinnen überflügelt und ihnen den Weg in die technologische Zukunft weist. Staatsbürgerliche Teilhabe, das Recht auf Selbstrepräsentation – kurz zivilgesellschaftliche Bürger_innenrechte – wurden durch die Aktivitäten der artist educators auf der symbolischen Ebene denjenigen zugesprochen, die davon in vielen 13 Bereichen weitgehend ausgeschlossen sind. Die Schüler_innen wurden im Rahmen der Vermittlung der WAG gleichzeitig als Andere und als Gleiche entworfen: Sie erschienen als von der weißen bürgerlichen Subjektposition Abweichende, als von Ausgrenzung und Missrepräsentation Betroffene, deren Der-Mehrheitsgesellschaft-ähnlich-Werden von der Kunstinstitution unterstützt wird. Sie sollen aber auch gleich sein – sie sollen an den Workshops der WAG teilnehmen, anstatt auf den Straßen riots zu veranstalten, welche eine andere, jedoch nicht mit einem hegemonialen Konzept von citizenship vereinbare Form der Selbstartikula14 tion wären. Und sie sollen gleichzeitig anders sein – um die cultural diversity, ein um diese Zeit noch neues gesellschaftliches Paradigma, zu repräsentieren: das Anerkennen von Differenz als Bereicherung für die Gesellschaft, ohne dass sich dadurch zwangsläufig auch Ressourcen wesentlich umverteilten. Aus dieser Perspektive können die WAG und die beteiligten Schulen mit Althusser als „Staatsapparate“ interpretiert werden (Althusser 1970), die ihre Subjekte als diejenigen anrufen, welche sie sein wollen sollen. Im Zusammenhang damit stellt sich die Frage nach den Anrufungsszenarios für die artist educators selbst. Im Verhältnis zum arrivierten Künstler Jaar repräsentieren sie als Kunstschaffende aus dem East End die Position des Lokalen. Die Arbeit in den Workshops stellte für sie einerseits eine Verdienstmöglichkeit dar. Andererseits bedeutete die Tä13 Ressourcen wie Bildung, Arbeit, Geld und die damit verbundenen Möglichkeiten des Erlangens von gesellschaftlichem Status, sozialer Sicherheit und Konsummöglichkeiten. Der Protest gegen die Bilder kam, wohlgemerkt, von einer Gruppe Schüler_innen, die sich auf ihre Prüfung zur Erlangung der Hochschulreife vorbereiteten. Gleichzeitig herrschten am selben Ort massenhaft ethnisierte und feminisierte Ausbeutungsverhältnisse, die von aktivistischen Gruppen dokumentiert und bekämpft wurden. 14 Bereits mehr als 100 Jahre zuvor wurden in London riots dadurch verhindert, dass am Tag der Demonstration die Vergnügungsparks, Museen und Bibliotheken frei zugänglich waren.

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tigkeit in der Vermittlung der WAG auch die Anerkennung ihrer künstle15 rischen Arbeit und barg das Potenzial, größere Sichtbarkeit zu erlangen. Aus der residency von Rosmond Kinsey-Milner war eine Ausstellung entstanden: Unter anderem präsentierten die Schülerinnen, welche gegen die Verwendung ihrer Bilder protestiert hatten, zwei Installationen mit den Titeln „Speaking for Ourselves“ und „Making our Mark“, die – wenn auch mit deutlich bescheideneren Mitteln produziert – der Vielschichtigkeit und Informiertheit der Installation von Jaar kaum nachstanden. Allerdings waren sie nur einen Nachmittag lang im Education Room der WAG zu sehen. Die künstlerisch-edukative Arbeit wurde also innerhalb der Kunstinstitution allenfalls halb sichtbar und blieb darüber hinaus öffentlich unsichtbar. Der einzige Autor, der die Vermittlung im Kontext der Rezeption von Jaars Ausstellung überhaupt erwähnte, war Eddie Chambers, Künstler, Kurator und Koordinator des African and Asian Visual Artists Archive. In einem Verriss der Ausstellung in Art Monthly kritisierte er, dass die zu Gallery Talks eingeladenen Künstler_innen Zarina Bhimji, Keith Piper und Alistair Raphael von Seiten der WAG zu ethnifizierten niederen Dienstbot_innen degradiert worden seien: „I was intrigued to see that three highly accomplished Black artists, Zarina Bhimji, Keith Piper and Alistair Raphael, had somehow accepted the unenviable task of justifying, or otherwise explaining, this work. Talk about marginalization […]. If the Whitechapel was ever serious about using England’s Black artists as anything more than errand boys and message-carriers, it would surely give Bhimji, Piper, Raphael and a host of other Black artists one-person exhibitions. Their work easily made this Jaar Exhibition look superficial. 16 But then again, it looked superficial anyway.“ (Chambers 1992, o. S.) Chambers reproduzierte diskursiv die Hierarchie zwischen den Bereichen Ausstellung und Vermittlung und die Zuordnung der Letzteren zum gegenüber der Produktion massiv abgewerteten, feminisierten Bereich der Distribution („message carriers“). Als Kurator folgte er der Logik

15 Dass der Wechsel aus dem Bereich der Vermittlung in den hierarchisch übergeordneten des Kuratierens möglich ist, hatte ein Jahr zuvor die Leiterin des Education Department der WAG, Jenni Lomax, demonstriert: Die ausgebildete Kunstpädagogin war 1991 als Direktorin ans Camden Art Centre gewechselt. 16 Chambers’ 2014 erschienene Publikation Black Artists in British Art: A History Since the 1950s ist eines der historischen Überblickswerke, von denen der vorliegende Artikel wesentlich profitiert hat.

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seines Feldes, welches zentral die Anrufung produziert, als Künstler_in mit einer Einzelausstellung zu reüssieren, weshalb ihn nicht wirklich interessieren konnte, dass dieses Insistieren auf Kosten des Vermittlungsbereichs ging, von dem die Künstler_innen, für die er Anerkennung einforderte, in diesem Moment anerkannt und eingeladen wurden. Zumindest Alistair Raphael und Rosmond Kinsey-Milner, deren künstlerische Arbeit repräsentationskritisch verfasst war, betrachteten dagegen die Vermittlungsprojekte an der WAG offenbar als Feld, das sie wie das Ausstellungswesen dazu anrief, als Künstler_innen zu handeln. Zusammenfassend waren die artist educators ihrerseits vielfach und widersprüchlich als Andere adressiert, die gleich werden wollen sollten: Sie sollten die akuten Konflikte der hegemonialen Kunstinstitution versöhnen und gleichzeitig den Bildungsauftrag der Vermittlungsabteilung professionell erfüllen, von der sie dabei als „junge“, lokale und gleichzeitig vielversprechende Künstler_innen entworfen wurden. Sie sollten sich mit den in gegenhegemoniale Kämpfe involvierten marginalisierten Gruppen im Kunstfeld aufgrund ihrer identitären Position solidarisieren, während sie diese gleichzeitig als „message carriers“ kompromittierten. Mit dem System der Schulen sollten sie sich kompatibel erweisen und sich, um so einen symbolischen Mehrwert zu erzeugen bzw. abzusichern, gleichzeitig von ihm unterscheiden. Den Schüler_innen (deren Akzeptanz sie erst einmal gewinnen und mit deren Repräsentationsanliegen sie sich ebenfalls solidarisieren mussten) sollten sie die Kunstinstitution als Handlungsraum eröffnen und diesen für sie attraktiv machen, ohne dabei aber die Exklusivität der Galerie zu beeinträchtigen. Im Halbschatten der institutionellen Sichtbarkeit (in der Schule wie auch in der Kunstinstitution) agierten sie vielleicht am ehesten in Richtung einer Beantwortung der von Spivak im Video gestellten Fragen, wie „die Straße“ in der Kunstinstitution sichtbar zu machen und wie „sehen zu lernen“ sei – nämlich in vielfach gebrochener, selbst wiederum von Widersprüchen durchzogener, unheroischer Weise. Es liegt auf der Hand, dass mit „der Straße“ nicht zuvorderst die über die Installation von Jaar empörten Schülerinnen gemeint waren, sondern zuallererst die dem öffentlichen Blick entzogenen sweat shop workers respektive deren Ausbeutung. Ebenso ist offenkundig, dass sich in Spivaks Brief an den Guardian bereits eine andere Antwort auf ihre Fragen andeutet – diese hätte in der engen Kooperation der WAG (und/oder ihres Education Departments) mit den aktivistischen Organisationen gelegen, die für deren Arbeitsrechte kämpfen und über deren Lage informieren.

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Dennoch bieten sich Spivaks Fragen als Einstieg in eine Reflexion über historisch gewachsene Machtverhältnisse im Kunstraum an. Denn die Metapher der „Straße“ einerseits und des „Sehen-Lernens“ andererseits sowie Versuche, die „Straße“ durch Kunst und im Kunstraum „sichtbar“ zu machen und die Fähigkeit zu vermitteln, die „Straße“ „anders zu sehen“, tauchen bereits in den ersten Kunstinstitutionen auf. Die post‑/koloniale Verstricktheit und die edukative Adressierung von als unterlegen entworfenen Anderen – je nach historischem Moment und auch simultan als verarmt, ohne Bildung, kolonisiert oder migrantisch – bilden Konstituenten des künstlerischen Feldes in Europa. Dies soll im Folgenden mit einem Blick zurück in das 18. Jahrhundert veranschaulicht werden. Das Engagement von Künstler_innen in der Bildungsarbeit in England lässt sich bis in das Jahr 1730 zurückverfolgen. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Britannien im Zustand kolonialer Expansion. Außenpolitisch dominierten Konflikte mit Frankreich und anderen europäischen Ländern um koloniale und ökonomische Vorherrschaft. Innenpolitisch emanzipierte sich eine bürgerliche Oberschicht von Adel und Kirche. Beide Bewegungen führten zu einem Bedürfnis nach nationaler Identitätsbildung im Sinne einer „imaginierten Gemeinschaft“ (Anderson 1991). Dieses artikulierte sich unter anderem in Diskussionen zur Frage nach einer typisch britischen bürgerlichen Haltung und auch einer typisch britischen Kunst. Während zunehmend Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs entstanden, kam es doch gleichzeitig zu einer wachsenden Verelendung in den Städten, bedingt durch Kapitalakkumulation und Ausbeutung sowie durch innere und aus den Kolonien kommende Migration. Die Anderen, verarmte Weiße (working poor) wie auch People of Color (z.B. entlaufene Sklav_innen, Seeleute), wurden von den Eliten als Bedrohung ihres Besit17 zes wahrgenommen. Sie bildeten eine Kontrastfolie und waren als solche konstitutiv für die hegemoniale, national-identitäre Subjektkonstruktion des weißen, bürgerlichen Gentlemans. In diesem Kontext fand eine von dem Moralphilosophen Shaftesbury 1711 veröffentlichte Ästhetik Verbreitung (Shaftesbury 1999). Im Kern verknüpfte sie moralische Werte und Kunst als innere und äußere Artikulationen von Wahrheit und Schönheit. Im Imperativ, das Subjekt habe durch einen Bildungsprozess zu polite17 Einerseits indirekt, insofern die hohe Kindersterblichkeit als Risiko für die Nationalökonomie galt, und andererseits direkt, insofern die Gefahr von Aufständen drohte, die insbesondere in den Kolonien, aber auch in den britischen Städten als Erfahrung bereits vorhanden war.

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ness (moralischer Perfektion) zu gelangen, wurden taste (Kennerschaft in einem moralisch erweiterten Sinn) und common sense (eine Ausrichtung der eigenen Interessen am Gemeinwohl) zu Insignien eines britischen bürgerlichen Habitus. Kunst verknüpfte sich in ihnen mit moralischen, ökonomischen und erzieherischen Anliegen. Zu dem Set von Praktiken der politeness gehörte neben der Entwicklung von Kunstkennerschaft auch karitatives Engagement, die philanthropy. Zur gleichen Zeit begann sich in Britannien auch das künstlerische Feld zu formieren. Die verglichen mit Kontinentaleuropa besonderen Umstände – das Hegemonialwerden des Liberalismus englischer Ausprägung, in dem die Entwicklung der Demokratie an den Markt geknüpft wurde (anstatt an Revolutionen), das Fehlen eines staatlichen Kunstpatronats wie auch einer Öffentlichkeit für eine britisch-nationale Kunst – waren Gründe dafür, dass sich dieses Feld ausgehend vom karitativen Engagement von Künstlern im Foundling Hospital, einer in den 1730er Jahren in London gegründeten Erziehungsanstalt, entwickelte. Das Foundling Hospital wurde gegründet als Auffangstätte für die Kinder aus verarmten Familien, die von diesen nicht mehr ernährt werden konnten, aber auch für Kinder von Dienstmädchen, die von ihren Hausherren sexuell ausgebeutet wurden. Es war gleichzeitig die erste öffentlich zugängliche Kunstausstellung in London. Künstler, insbesondere William Hogarth, der als erster wirklich „englischer“ Künstler in die offizielle Kunstgeschichtsschreibung eingegangen ist, waren aktive Unterstützer der Einrichtung. Sie nutzten den quasi-öffentlichen Ort zum Erringen von Sichtbarkeit für ihre Werke und von sozialem Status. William Hogarth gehörte zu den führenden sogenannten artist-governors des Foundling Hospital. Er entwarf die Uniformen für die Insassen und das Wappen für die Einrichtung und übernahm gemeinsam mit seiner Frau die Verantwortung für die Betreuung der in dem Waisenhaus tätigen Ammen. In allen Räumen wurden Werke der artist-governors aufgehängt und zur öffentlichen Besichtigung freigegeben. Ein Ausflug in das Foundling Hospital gehörte bald zu den beliebten Freizeitaktivitäten in London. Das Foundling Hospital ist ein anschauliches Beispiel für die Produktion von und den Umgang mit Alterität, welche für die bürgerliche und nationale Identitätskonstruktion konstitutiv war: Im Rahmen einer öffentlich zu sehen gegebenen Aufführung wurden die Insass_innen zu nützlichen Arbeitskräften herangezogen. Sie stammten zu einem wesentlichen Teil aus den Elendsvierteln von London, die in der zeitge-

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nössischen Literatur als „Dschungel“, deren Bewohner_innen als „Wilde“ und mit weiteren kolonialen Metaphern beschrieben sowie mit Kindern verglichen wurden – Tropen, die sich im Folgenden als persistent erweisen würden. Von ihnen ging, davon sprechen die Vergleiche, prinzipiell Gefahr aus. Das Foundling Hospital erschien als Beweis, dass es möglich war, diese Gefahr durch Bildungs- und Zivilisierungspraktiken, bei denen Künstler und Kunst eine zentrale Rolle spielten, nicht nur zu bannen, sondern sie in eine Ressource für das nationale und koloniale Projekt zu verwandeln. Die Gegenüberstellung der Praxis des Foundling Hospital mit einem Beispiel von Kunstvermittlung aus dem Jahr 1992 sollte verdeutlichen, dass die im 18. Jahrhundert entstandenen Konzepte auch noch in der Gegenwart virulent sind. Sie antworten in der Industrialisierung, im Sozialstaat der Nachkriegszeit, im Neoliberalismus und im kognitiven Kapitalismus jeweils auf die für westliche Gesellschaften demokratischer Prägung bestehende Dringlichkeit der Sicherung der Hegemonie durch die Versöhnung sozialer Konflikte unter Beibehaltung bürgerlicher Privilegien. Um eine bisher weitgehend ausstehende postkoloniale Geschichte dieses Dispositivs zu schreiben, bietet sich Großbritannien als Ausgangspunkt an. Denn die dort seit der frühen Aufklärung entstandenen Konzepte sind in der Gegenwart auf globaler Ebene hegemonial geworden. Ein Symptom dafür sind Verlautbarungen der UNESCO, insbesondere die UNESCO Road Map for Arts Education (URAE) von 2006. Die „Wichtigkeit und essentielle Rolle der Künste für die Bildung“ darlegend, will dieses Papier weltweit gültige Empfehlungen für die Implementierung von 18 „Education through the Arts“ in den Bildungssystemen leisten (UNESCO 2006). In der URAE stellen Künstler_innen die wichtigsten Lehrenden dar: Ihre Positionierung als role models für das kreative, unternehmerische Subjekt in der Wissensgesellschaft unterstütze die Persönlichkeitsentwicklung, trage bei zu gesellschaftlicher Kohäsion im Zeitalter der Globalisierung sowie zur Bildung von anpassungsfähigen human resources und von florierenden cultural industries als Grundlage für ökonomischen Fortschritt im globalen Wettbewerb. Dabei wird kein Zusammenhang zwischen kultureller Teilhabe und politischer Mitbestimmung oder ökonomischer Verteilungsgerechtigkeit hergestellt. Obwohl in der 2010 auf

18

Mit unverkennbarer Bezugnahme auf Sir Herbert Edward Read (1947).

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die Road Map folgenden Seoul Agenda immerhin erwähnt wird, dass Arts Education in verschiedenen geopolitischen Kontexten sehr unterschiedlich verstanden wird, betreibt das Papier dennoch die Universalisierung dessen, was im vorliegenden Text als Diskurs der „Bildung der Anderen durch Kunst“ beispielhaft rekonstruiert wurde (vgl. UNESCO 2010). Gleichzeitig weisen die Projekte der artist educators von 1992 darauf hin, dass die Geschichte der Schnittstelle von Kunst und Bildung auch als eine der gegenhegemonialen Interventionen erzählt werden kann. Der Kunstraum und die darin ausgeübten Praktiken des Ausstellens und Vermittelns sind nicht nur Resultat von konfligierenden und konkurrierenden Diskursen, sondern selbst von diesen durchdrungen. Sie bedeuten nicht (nur) Versöhnung, sondern in ihnen materialisieren sich (auch) die Konflikte. Sie tragen für diejenigen, die sie ausfüllen und gestalten, die Notwendigkeit in sich, Position zu beziehen, und das Potenzial, neben Versöhnung und Erhalt von Privilegien auch andere Praktiken und 19 Effekte wie Subversion, Widerstand im Sinne eines „talking back“ und Umverteilung von Privilegien hervorzubringen.

19 bell hooks (2015) versteht unter „talking back“ die Produktion und das Öffentlichmachen von minorisiertem Wissen als Widerstand gegenüber einer dominierenden, strukturierten Weise zu wissen – konkret geht es hooks dabei um das durch Schwarze Emanzipationskämpfe produzierte Wissen gegen ein durch Rassismus strukturiertes Wissen.

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Keith 2000 Keith, Michael: Identity and the Spaces of Authenticity, in: Les Back; John Solomos (Hg.): Theories of Race and Racism. A Reader, New York: Oxon 2000, S. 521–538. Shaftesbury 1999 Shaftesbury, Ashley Cooper, Anthony, Third Earl of: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times (1711), hg.v. Lawrence E. Klein, Cambridge: Cambridge University Press 1999. Read 1947 Read, Herbert Edward: Education through Art, London: Faber and Faber 1947. Spivak 1992 Spivak, Gayatri Chakravorty: Invisibility of the Sweatshop Worker, in: The Guardian v. 29.2.1992. Stanley/Maharaj 2006 Stanley, Nick; Sarat Maharaj: A Discussion, in: Tom Hardy (Hg.): Art Education in a Postmodern World, Bristol: Intellect 2006, Kindle Edition, Position 458–590. UNESCO 2006 UNESCO Roadmap for Arts Education, Lissabon 2006, http://www.unesco.org/new/en/culture/themes/creativity/arts-education/official-texts/road-map/ (Stand: 1.3.2017). UNESCO 2010 UNESOC Seoul Agenda, Seoul 2010, http://www.unesco.org/new/en/culture/themes/creativity/arts-education/world-conferences/2010-seoul/outcomes/ (Stand: 1.3.2017). Widgery 1992 Widgery, David: Journey of a Good Man Fallen, in: The Guardian v. 19.2.1992.

Jaar 1992 Alfredo Jaar: Talking Art, Vortrag im Rahmen der Reihe ICA Talks am Institute of Contemporary Arts, London, am 2. November 1992, Vortragsmitschnitt auf http:// sounds.bl.uk/Arts-literature-and-performance/ICAtalks/024M-C0095X0826XX-0100V0 (Stand: 10.8.2015).

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Das „Unabgegoltene“ in den Blick nehmen: Politiken und Praktiken von Performance-Kunst in der Gegenwart „Benjamin hat ‚Zeit‘ als sich ereignende Zeit aufgefasst. Ereignis als Er-Äugnis, als Schock, als Unterbrechung, welches Benjamin als ‚dialektisches Bild‘ bezeichnet – eine Ermöglichung des Aufblitzens von Vergangenheit, dessen Zeitmoment sich nur mittels der Konfrontation mit dem Begriff des ‚Jetzt der Erkennbarkeit‘ ermitteln lasse.“ (Schade 2007, S. 25) Praktiken der Performance-Kunst diffundieren aktuell wieder in die unterschiedlichsten Felder künstlerischer Produktion: in den Bereich Art in Public Spheres wie bei der Ausstellung „Le Mouvement – Performing the 1 City“ mit Kunst-Performances in der Stadt Biel im Jahr 2014 , in partizipative und kollaborative Aktionen wie diejenige von Alexander Tuchaçek im selben Jahr in Zürich mit dem Titel „Temporaere Praesenzen – was sind 2 wir bereit zu teilen?“ oder in theatrale Inszenierungen wie diejenigen von 3 raumlaborberlin . In Anbetracht dessen scheint es mir wichtig, die Historie von und die Theorien zu Performance-Kunst von den 1990er Jahren bis heute kritisch zu überdenken und im Anschluss an diese Überlegungen eine Performance-Theorie, die auf gegenwärtige Praktiken in der Performance-Kunst Bezug nimmt, zu formulieren.

1

http://www.lemouvement.ch (Stand: 17.2.1017).

2

http://www.stromereien.org/kunstler-innen/alexander-tuchacek-chat/ (Stand: 10.2.2016).

3

Siehe z.B. http://raumlabor.net/building-the-city-together-book/ (Stand: 27.2.2016).

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Politiken der Tradierung von Performance–Kunst

Der Historie von Performance-Kunst nehmen sich gegenwärtig eine Reihe von Ausstellungs- und Rechercheprojekten an. So haben Olivier Kaeser und Jean-Paul Felley 2015 im Centre Culturel Suisse in Paris eine Ausstellung mit dem Titel „PerformanceProcess“ zur Performance-Kunst in der Schweiz erarbeitet. Diese wurde begleitet von einem engagierten Performance-Programm und einer Tagung. Anhand von „PerformanceProcess“ lässt sich anschaulich verdeutlichen, wie sich Macht-Narrationen in die Geschichtsschreibung einprägen, wenn diese keine kritische Theorie zur jeweils gegenwärtigen künstlerischen Produktion entwickelt. Dies zeigt sich am Fehlen – sowohl in der Ausstellung als auch in der Performance-Reihe – von künstlerischen Schlüsselpositionen, welche sich dezidiert mit feministischen und/oder queeren Perspektiven der Performance-Kunst auseinandersetzen. Exemplarisch wären hierfür Arbeiten der Performance-Künstlerinnen Muda Mathis, Chris Regn oder Andrea Saemann zu nennen. Obwohl diese künstlerischen Strategien die gesamte Performance-Kunst der Schweiz vorangetrieben haben, Andrea Saemann leitet im Moment den Performancepreis Schweiz und Chris Regn den Kaskadenkondensator Basel als einzige öffentliche Galerie für Performance-Art in der Schweiz, fallen diese Künstlerinnen offensichtlich einer Repräsentations-„Tilgung“ anheim, indem ihre Arbeiten nicht 4 in den Kanon der „40 Jahre Performance-Kunst Schweiz“ inkludiert werden. Auffällig ist auch die Absenz von Positionen der Performance-Kunst, die für ihre Zeit wichtig waren, aber nicht im Kunstbetrieb „verwertet“ werden konnten – etwa performative und diskursorientierte Arbeiten von Dorothea Rust oder Daniel Hänis Aktionen als Mitglied der Gruppe Zone oder im partizipativen Projekt der Gedankenbank. Diese Form struktureller Exkludierung aus Macht-Wissens-Narrativen hat ihre modernen Vorläufer. So fragt Griselda Pollock: „Why has modernist culture been so unable imaginatively to integrate women’s creativity into its narratives?“ (Pollock 2010, S. 795). Und mit Sigrid Schade lässt sich die Frage umgehend folgendermaßen beantworten: „Diese offensichtlichen Widersprüche lassen sich implizit auf die Verdrängung ‚weiblicher‘ Einflüsse – sei

4 http://www.prohelvetia.ch/Medienmitteilungen.1466.0.html?&action=detail&muid=1172&cHash=c49b9663cd254fec78d1917aad2af61d (Stand: 10.2.2016).

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Das „Unabgegoltene“ in den Blick nehmen

es des weiblich konnotierten Kunsthandwerks und des Ornaments, sei es der Künstlerinnen selbst […] – zurückführen.“ (Schade 2008, S. 37) Natürlich gibt es auch Beispiele von Performance-Geschichtsschreibung, welche diesen Repräsentationsmechanismen und Machtpolitiken entgegenzuwirken suchen. Etwa die Performance Saga, von Andrea Saemann und Katrin Grögel herausgegebene Video-Interviews mit wichtigen Vertreterinnen der Performance-Kunst. Performance Saga ist aus meiner Sicht vorbildlich, folgt sie doch einem feministischen und (selbst‑)ermächtigenden Anliegen in ihrer „Vermittlung und Aktualisierung von Performance5 geschichte“. Zur Erinnerung: Performance-Kunst als eigenständiges Medium hat sich seit den 1960er Jahren etabliert. Dabei ist deren Medialität, nämlich die Ereignishaftigkeit im Sinne Benjamins, nicht mit formalistischen – wie dies Rosalind Krauss (2000) Medientheorie nahelegen könnte – oder mit Materialaspekten zu verwechseln, die in der Performance-Kunst eine schier unendliche Vielfalt annehmen können: reichen sie doch von Klang über Alltags- und Ambient-Sound, Tanz, Sprache, Text bis zu Video und Fotografie etc. Mit dieser „Unreinheit“ des Materials im Medium Performance waren wir als Herausgeberinnen in unserer Recherche für den zweiten Band der Performance Chronik Basel – Aufzeichnen und Erinnern in positivem Sinne konfrontiert (Gebhardt et al. 2016). Im Verlauf der 1990er und 2000er Jahre wurden von der Performance-Kunst Art School Pop, Alltagshandlungen, politisch-feministische Anliegen, das Besetzen der von Privatisierung bedrohten öffentlichen Zonen ebenso adressiert wie Kontextwechsel, Dokumentarisches oder eine kritische Bildproduktion in unterschiedlichsten Verfahren realisiert. Im Bewusstsein, dass sich in lokale Prozesse auch „translokale Strategien“ im Sinne Saskia Sassens einschreiben können, porträtiert die Performance Chronik Basel in kollaborativer Weise die Historie von Performance-Kunst exemplarisch für Basel. Dafür sammeln wir in kollektiver Herausgeberinnenschaft Performance-Erinnerungstexte, Bild- und Quellenmaterial und führen laufend Interviews zur Performance-Art von 1960 bis – vorläufig – 2006. Dies in der Absicht, bisher marginalisierten Positionen Aufmerksamkeit zu schenken und einer hegemonialen History of Performance Art entgegen-

5

http://www.performancesaga.ch (Stand: 17.2.2017).

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zuwirken, die nach wie vor Künstlerinnen durch die Tradierung immer wieder aufs Neue löscht. Methodisch orientieren wir uns am narrativen Interview der Oral History. Das in der feministischen Kunstwissenschaft (vgl. Pollock 2015) formulierte Anliegen des künstlerisch-wissenschaftlichen Netzwerks hat eine Form der Forschung im Blick, die mittels kollektiver Schreib- und Witness-Workshops eine Aufarbeitung von Performance-Kunst seit den 1960er Jahren ermöglicht und dabei zahlreiche Künstler_innen-Positionen erstmals einer größeren Öffentlichkeit zugänglich macht. Das Zentrale – und aus unserer Sicht Wesentliche – an der Performance Chronik ist ihr Versuch, über Aufzeichnungen und Interviews sowie geschriebene „Erinnerungstexte“ eine „kommunikative Erinnerung“ von Performance‑Art – entsprechend Jan Assmanns Definition des „kommunikativen Gedächtnisses“ – etablieren zu können. Diese Form der memoria wird von Assmann wie folgt definiert: „Das kommunikative Gedächtnis umfasst Erinnerungen, die sich auf die rezente Vergangenheit beziehen. Es sind dies Erinnerungen, die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt. Der typische Fall ist das Generationen-Gedächtnis. Dieses Gedächtnis wächst der Gruppe historisch zu; es entsteht in der Zeit und vergeht mit ihr, genauer: mit seinen Trägern.“ (Assmann 2007, S. 50) Ich sehe dabei diese kollaborative Form von Geschichtsschreibung in einem größeren Kontext der Recherche zur Performance-Kunst und möchte stellvertretend für viele Projekte die langjährige Arbeit im Themenfeld der Wiener Kolleginnen Felicitas Thun-Hohenstein und Carola Dertnig nennen, die in den Sammelband Performing the Sentence eingeflossen ist (Dertnig/Thun-Hohenstein 2014).

Eine Performance-Theorie des „Unabgegoltenen“

Vergleichsweise zurückhaltend erscheint im Vergleich zur Aufarbeitung der Performance-Geschichte in der Gegenwart die Theoriebildung zu aktuellen Performance-Praktiken. Nach einer breiten Auseinandersetzung mit der „representation without reproduction“, die Peggy Phelan noch in den 1990er Jahren als ontologisches Wesensmerkmal der Performance-Kunst postulierte (Phelan 2006, S. 146–166), und heftigen Debatten zu Philip Auslanders umfassenden Analysen zu Mediatisierung und Performance (Auslander 2008), werden Performance-Theorien aktuell nur in kleinen

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Das „Unabgegoltene“ in den Blick nehmen 6 Expert_innenkreisen und Unterrichtskontexten wie ACT thematisiert – obwohl in der Praxis durchaus Anke Hoffmann zuzustimmen ist, die von einem „Performance-Effekt“ innerhalb der Kunst der Gegenwart spricht. So erläutert sie in ihrem Konzeptpapier zu einer Vermittlungsreihe am Theater Gessnerallee in Zürich im Frühjahr 2016 Folgendes: „Theaterhäuser [verstehen sich] immer öfter als wandelbare und disziplinoffene Plattformen für ein breites Feld von Aufführungsformaten, wie begehbaren Installationen, Ausstellungen, kuratierte Festivals bis hin zum Muse7 ums-Kurator, der als Theaterintendant eingeführt wird“, und verbreiten so, wie zu ergänzen wäre, performative Praktiken in unterschiedlichste Felder der Kunst. Deshalb möchte ich nachfolgend einen ersten Versuch zu einer Performance-Theorie unternehmen, welche aktuelle Praktiken in ihrer Theoriebildung berücksichtigt und im Sinne Benjamins das „Unabgegoltene“ in den Blick nehmen kann. Ich schätze Phelans Versuch, Performance politisch zu situieren, sehr und knüpfe meine Überlegungen deshalb an ihre Theorie an. Zur Erinnerung – Phelan konstatiert: „Performance’s only live is in the present. Performance cannot be saved, recorded, documented or otherwise participate in the circulation of representations of representations, once it does so, it betrays and lessens to promise of its own ontology.“ (Phelan 1993, S. 146) Phelan beschreibt als Wesen der Performance-Kunst, dass sie sich durch permanentes Verschwinden auszeichne und allein via Erscheinen im Hier und Jetzt existieren könne. Die Zeit der Performance könne nicht wiederholt werden, sondern nur die Aktion, die dadurch aber schon zu etwas Abweichendem/Differentem werde. Genau darin sieht Phelan das politische Moment der Performance-Kunst: dass sie – qua ihrer medialen Verfasstheit in der Gegenwärtigkeit und im Handlungsakt – sich der Ökonomie der Verwertbarkeit und der Reprodu8 zierbarkeit grundsätzlich entzieht.

6 ACT wurde 2003 als eine von mehreren Schweizer Kunsthochschulen getragene Plattform zur Lehre von Performance-Kunst gegründet. Initiiert wurde sie unter anderem von Linda Cassens Stoian, Pascale Grau und Heinrich Lüber. Jedes Jahr finden seither Performance-Veranstaltungen in Basel, Bern, Zürich, Luzern, Sierre und Genf statt, siehe www.act-perform.net. 7

http://www.gessnerallee.ch/begegnung/performanceeffekt/ (Stand:21.9.2016).

8 Phelan ist in der Zwischenzeit von zahlreichen Autor_innen hinsichtlich der Annahme der Nichtreproduzierbarkeit von Performance kritisiert worden – am pointiertesten von Amelia Jones in „Presence in Absentia“ (Jones 1997).

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Ich habe bereits früher in Bezugnahme auf Sigrid Schades Artikel „Now – Gegenwart und unabgegoltene Vergangenheit in den Künsten“ dahingehend argumentiert, dass Gegenwart – von dieser spricht Phelan im Zitat, wenn sie den Begriff Zeit nennt – nicht per se Präsenz bedeutet, sondern eine Überkreuzung unterschiedlicher „Gegenwärtigkeiten“ immer mit adressieren muss. Denn, so konstatiert Sigrid Schade zu Recht: „Zugleich ist zu beobachten, dass ein Aspekt des Gegenwärtigseins oder -machens, die Inszenierung oder Erzeugung von Präsenz, das Anwesendsein oder Anwesendmachen von etwas […] ebenfalls etwas äusserst Unterschiedliches meint und an mediale und materielle Qualitäten der jeweiligen Ausdrucksmittel geknüpft ist […].“ (Schade 2004, S. 25) Diese Überlegungen lassen sich meiner Meinung nach auch auf Performance-Theorie übertragen: das Jetzt der Akteur_innen, der Performer_innen ist nicht „unvermittelt“ und „unmittelbar“ und das Jetzt der Wahrnehmung der Partizipierenden einer Performance sind diejenigen Brüche, welche in die Aktion absichtlich eingefügt sind. Die Bild- und Handlungsräume, welche Akteur_innen in Performances produzieren, sind bereits Symbolisierungen, welche – mit Sigrid Schade gesprochen – „gerade nicht die Präsenz des Gemeinten, sondern dessen Abwesenheit“ bezeichnen. Sie verhalten sich wie „eine nachträgliche Beschriftung und ein Aufschub zugleich“ (ebd., S. 26). In diesem Sinne habe ich in dem zusammen mit Anna Schürch und Nora Landkammer verfassten Artikel „Quergelesen und zurückgesprochen“ zu bedenken gegeben, dass „Körper“ in der Performance in einem „doppelten performativen Akt“ laufend hergestellt wird (Gebhardt Fink et al. 2010, S. 1). Dies einerseits im Sinne der „corporeal styles“ nach Judith Butler (Butler 1988, S. 522) und andererseits als Körper-Material im Medium Performance (Export 1987). Zur Erinnerung sei an dieser Stelle nochmals Judith Butler zitiert: „That gender reality is created through sustained social performances means that the very notions of an essential sex, a true or abiding masculinity or femininity, are also constituted as a part of the strategy by which the performative aspect of gender is concealed.“ (Butler 1988, S. 528) Diese soziale Performance der Körper als Style wird in Performances oft schockartig aufgebrochen, sichtbar markiert, zum Vorschein gebracht und mit artifiziellen Körperkonstruktionen überlagert, z. B. mit der Aktion innerhalb der Performance und dem Geschehen in der Zeit sowie der Wahrnehmung der Exponiertheit anderer Körper in der Performance – nämlich derjenigen ihrer Adressat_innen.

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Das „Unabgegoltene“ in den Blick nehmen

Schon dadurch sind eine Gegebenheit von einheitlicher Präsenz und eine Einheit in der Wahrnehmung bezüglich jeglicher Performance unbegründbar. Dies bedeutet, Performance ist nicht mehr ein „Sich-Entziehendes“ als jegliche andere Form von kultureller Produktion auch, was übrigens Amelia Jones als Erste festgestellt hat. Eine Generation jüngerer Performer_innen wie Lilo Nein folgert daraus: „Wenn performative und mediale Praxen als gleichwertig und nicht nachträglich […] gedacht werden, entsteht das Paradox, in welchem Performance als Live-Art gefangen bleibt, nicht mehr“ (Nein 2016, S. 57). Meine These zu Performance-Theorie lautet im Anschluss an diese Überlegungen, dass das Spezifikum der Performance-Kunst heute sich genau in ihrem Sich-als-Divergenz-Produzieren ausmachen lässt. Einerseits bringt dieses Sich-in-Divergenz-Produzieren Unabgegoltenes in zeitlicher Hinsicht zur Geltung, und zwar exakt im Sinne Walter Benjamins als „Jetzt der Erkennbarkeit“, das unvermittelt und unvorhersehbar Anderes, Vorgängiges in ein subjektives Blickfeld rückt. Andererseits kommen Formen des Unabgegoltenen im Handlungsraum der Performance Art als Gemeinsames wie auch als Konfrontatives zur Erscheinung – hier wäre eher an Körper und Körperstyle zu denken, die in einem „normierenden“ Wahrnehmen ausgegrenzt oder als bedrohlich abgewertet werden. Eva Egermann spricht mit Frederic Jameson vom „politisch Unbewussten“, welches „diese Formen und Entwürfe“ von Körpern bestimme (Egermann 2015, S. 175). Wenn man die Analyse der Aktionen der Teilnehmer_innen/ Adressat_innen einer Performance und deren Körper-Konstruktionen auf diese Weise betrachtet, kreuzen sich die Divergenzen in einer gemeinsamen Situation, aber in unterschiedlich wahrgenommenen Präsenzen und zugleich in diesem Unvorhersehbaren eines Körperstyle als ganz wesentlichen Elementen. Es ist nicht ein spezifischer, sondern gerade ein unbestimmter Körper, der das zentrale Moment im „Jetzt der Erkennbarkeit“ ausmacht. Dies scheint mir ein Schlüsselmoment theoretischer Anliegen aktueller Performance-Praktiken, nicht nur in den Arbeiten der Künstlerin Eva Egermann etwa, sondern auch in Aktionen von Johannes Paul Raether, der in seinen kollektiven Performances offensichtlich Personae aus einem postdigitalen Kontext in Alltagssituationen intervenieren lässt (vgl. Discoteca Flaming Star/Raether 2013). Schließlich stellen auch Dorothea Rusts aktuelle Performance-Arbeiten Gender Render (Kanada 2015) (Abb. 1–3) genau diese Erzeugung eines Momentes der Unbestimmbarkeit im „Jetzt der Erkennbarkeit“ in den Mittelpunkt.

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Abschließend möchte ich nochmals auf das „Sein des Seienden der Performance“, von dem Phelan spricht, zurückkommen. Diese konstatiert: „Performance clogs the smooth machinery of reproductive representation necessary to the circulation of capital.“ (Phelan 1993, S. 148) Entgegen der Behauptung Phelans, dass Performance als „Nicht-Repräsentierbares“ auch die Zirkulation von Kapital im Betriebssystem Kunst unterbrechen könne, betonen Theoretiker_innen wie Maurizio Lazzarato gerade die Abkehr von Repräsentationslogik und -kritik sowohl in künstlerischen Produktionen seit den 90er Jahren als auch in der Zirkulation des Kapitals im entfesselten globalen Kapitalismus. Dieser bedürfe keiner Wertrepräsentation mehr, denn Fragen der Repräsentation wären auf das Paradigma Subjekt – Arbeit gegründet gewesen. Im aktuellen Produktionsparadigma komme diese Rolle aber dem Ereignis zu (Lazzarato 2003). Damit wird zwangsläufig eine Ästhetik des „Erscheinens“ und des „Ereignens der Objekte“ irrelevant, wie sie noch 2000 Martin Seel zu erkennen glaubte: „Und es sind nicht allein ruhende Dinge, sondern gleichermaßen Ereignisse – und wiederum Konstellationen von Ereignissen –, die Anlässe der ästhetischen Wahrnehmung sind.“ (Seel 2003, S. 98) War Repräsentation auf das Paradigma Subjekt – Arbeit gegründet, so komme im aktuellen Produktionsparadigma diese Rolle dem Ereignis zu, betont Lazzarato. Aktuelle Produktionsbedingungen würden Bilder, Zeichen und Aussagen nutzen, um dazu beizutragen, die Welt sich ereignen zu lassen. Denn „[d]as Unternehmen erzeugt nicht das Objekt (die Ware), sondern die Welt, in der das Objekt existiert. Ebenso wenig erzeugt es das Subjekt (ArbeiterIn und KonsumentIn), sondern die Welt, in der das Subjekt existiert“ (Lazzarato 2003). Diese aktuellen Produktionsbedingungen verschieben die Rolle der Produktionsstätte von der Fabrik zum Unternehmen. Sie verschieben aber auch den Umgang mit Bildern, Zeichen und Aussagen – sie intervenieren und realisieren. Ebenso tragen sie zur Metamorphose der Subjektivität bei (vgl. ebd.). Einer kritischen künstlerischen Position der Performance-Kunst kann es also nicht länger ausschließlich um Fragen der Repräsentation (und der Repräsentationskritik) gehen. Vielmehr muss sie Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Produktionsbedingungen im aktuellen Kapitalismus und Kritiken der „Ereignis-Verwertung“ durch künstlerische Produktionen berücksichtigen. Dass dieser Form von Ereignis-Verwertung auch unreflektierte performative Praktiken anheimfallen können, bedeutet aber nicht, das Widerständige am Ereignen von bestimmten Performances

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Das „Unabgegoltene“ in den Blick nehmen

1–3 Dorothea Rust, ÜBUNG/ EXERCISE No. 8 – Gender Render Glacier, Performance, 9. Okt. 2015, VIVA! Art Action, Montréal

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nicht anerkennen zu können. Ich sehe dies in Formen von Performances, welche eine Unterbrechung im Sinne Benjamins inszenieren, das „Unabgegoltene“ zum Vorschein bringen, sich schockartig in die Wahrnehmung der Teilnehmer_innen einer Performance einfügen. Diese Zäsur bedeutet eine Unterbrechung jener Mechanismen, mittels derer Ökonomie durch Kultur ersetzt wird, wie Phelan so treffend bemerkt. Zugleich präsentieren sie die Unterbrechung der sozialen und theatralen Inszenierungen eines normativen Körperstyle, wie Butler ihn kritisiert. Wenn Performance im Gegensatz dazu der reinen Präsenz- und Ereignisästhetik unterworfen wird, dann löst sich das Widerständig-Gedachte von Peggy Phelans Performance-Ontologie auf. Sie fällt als Medium einer affirmativen Ästhetik anheim, welche kapitalistische Produktionsbedingungen repetiert und zugleich die Machtgefüge des Kapitalismus – wie bereits in der Ära des 9 Postkolonialen (vgl. Hal 1996) – laufend weiter camoufliert. Besonders das Verfahren der Performance-Kunst scheint in kritischer Weise geeignet zu sein, ein Unsichtbar-Machen von Machtverhältnissen aufzubrechen, welche sich ansonsten in die ökonomischen und künstlerischen Praktiken in der Gegegnwart einprägen. Bedingung für eine gegenläufige Performance-Kunst ist allerdings, dass in der aktuellen Performance ein „Er-Äugnis“ im Sinne Walter Benjamins eintritt. Dies lässt sich mit Sigrid Schade als „Aufbrechen des Jetzt der Betrachtenden“ beschreiben. Indem durch die Aktion der Performer_innen das Unabgegoltene blitzartig zum Vorschein kommt, zeigen sich eben auch die verdrängten Symbolisierungsmechanismen einer Ökonomisierung von Produktionsbedingungen. Die Methoden einer kritischen Kartografie im Kontext aktueller Performance-Produktion, wie sie etwa von Elke Krasny verwendet werden, scheinen mir dafür ebenso geeignet wie Ansätze einer jüngeren Generation von Künstler_innen. Das Kollektiv Marsie, das von Simone Etter und Marianne Papst initiiert wurde, versucht „Un(Strukturen)“ zu produzieren, einen „antiautoritären Kunstbegriff“ zu lancieren und eine „transforma-

9 Vor diesen Überdeckungen hat bereits Philip Auslander gewarnt, als er schrieb: „A fundamental aspect of postmodern culture may be described as a collapse of the distinction between the economic and cultural realms within capitalism, the ‚breakdown‘ of the old structural opposition of the cultural and the economic in the simultaneous commodification of the former and the symbolization of the latter.“ (Auslander 1992, S. 10)

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Das „Unabgegoltene“ in den Blick nehmen 10 tive[ ] Kunstproduktion“ ins Zentrum seiner Arbeit zu stellen. Genau durch diese künstlerische Strategie ermöglichen beide Arbeiten, das Unabgegoltene zum Vorschein kommen zu lassen.

10

http://www.marsie.ch/kuenstlerinnen/ (Stand: 22.9.2016).

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Abbildungsnachweis Abb. 1–3: Foto: Paul Litherland, © Paul Litherland

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IV  „Politics of Transfer and Translation“ – Umfunktionierungen, Zeichenpraktiken, Sinnfragen

Steffen A. Schmidt

Chora/Choros. Körperkonstruktionen in der Musik – Roland Barthes’ „Rasch“ I

Ausgerechnet ein Sprachwissenschaftler vernachlässigt die literarischen Bezüge eines Musikstücks. Damit markiert Barthes die Art seiner Lektüre geradezu provozierend in Richtung absolute Musik. Er möchte die Kreisleriana, Robert Schumanns berühmten Klavierzyklus, nicht programmatisch verstanden wissen als Text- oder Sinnausdeutung. Er möchte der Signifikanz auf die Schliche kommen, dem Bezeichnenden, dem „[U]nmittelbare[n]“, wie er in seinem Text „Rasch“ schreibt (die Musik trifft unmittelbar auf den Körper) (Barthes 1993a), womit er sich schon in guter musikästhetischer Gesellschaft befindet. Hier stellte sich die Frage nach dem Sprachcharakter von Musik, die die Wortsprache unter- bzw. überschreitet. Wie Carl Dahlhaus in Die Idee der absoluten Musik deutlich herausgearbeitet hat, erreicht der Terminus der absoluten Musik seine Konsistenz im 19. Jahrhundert in Überschneidung und Abgrenzung zur Wortsprache: Das Unbestimmte der Musik dient einerseits der Überhöhung ins romantisch Unsagbare, andererseits als defizitäre Unterschreitung von Bestimmtheit. Stets aber ist sie vom Sprachcharakter abgeleitet. Wie aber lässt sich die Bedeutung von Musik, ihre enorme Wirkung auf den Menschen bestimmen? Wie Dahlhaus schreibt, entsteht musikalische Bedeutung nach Adorno in einem Aufblitzen, das „dem Leerlauf des Strukturellen ebenso zu entgehen trachtet wie der Abhängigkeit von außermusikalisch Programmatischem“ (Dahlhaus 1978, S. 117). Musik als syntaktische Kunst reiner Signifikanz besitzt durch ihre Unmittelbarkeit einen privilegierten Zugang zum Körper. Und gerade dieser Zugang kann, wie ich am Ende meiner Ausführungen zeigen möchte, mit der „Triebauflage“ der platonischen Chora im Sinne Julia Kristevas gelesen werden. Ziel meiner Betrachtung ist es, dem musikästhetischen

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Paradigma des Sprachcharakters von Musik entgegenzuwirken und ein weiteres an die Seite zu stellen, das den Zugang zum Körperlichen durch diskursanalytische Argumentation begründet. In meinen weiteren folgenden Ausführungen werde ich die „zweite Semiologie“ (Barthes 1993a, S. 311) behandeln in Hinblick auf das Postulat der Chora, das Barthes im Anschluss an Kristeva aufstellt. In dieser Argumentation zeigt sich m.E. sehr deutlich eine – womöglich unbeabsichtigte – ästhetische Politik des Autors, der zwar richtig eine kritische Lektüre der Musikwissenschaft und des Musikbetriebs etabliert, jedoch fragwürdige Schlussfolgerungen zieht; dies aufgrund einer kulturellen Einschreibung, die Barthes selbst – vielleicht bedingt durch seine Perspektive als Sprachwissenschaftler – nicht reflektiert. Um das Problem bereits an dieser Stelle anzudeuten, das sich im Titel seiner Essaysammlung ankündigt: Der Körper der Musik – was ist das? Ist es der eigene Körper unter dem Eindruck der Musik, der Klang als Klangkörper, als Instrument verstanden, oder die Bedeutung von Musik, die einen Körper repräsentiert? Was mit Sicherheit nicht gemeint ist, obwohl es nahegelegen hätte, dies zu denken, wäre der Bezug zum Tanz. Doch genau an dieser Stelle ereignet sich eine Ausschließung, der ich weiter unten auf die Spur kommen möchte. Worum es hier geht, ist die Sichtung einer Hörpolitik unter den Voraussetzungen aktueller Hörregime (Böhme 2013 sowie Nancy 2014 „zum Gehör“ im Vergleich zu Barthes) und ihrer historischen Bezüge zum Begriff der absoluten Musik, wie ihn Dahlhaus herausgearbeitet hat, mit einer weiterführenden Kritik meinerseits, die ich durch Kristevas Begriff der Chora einführe, um abschließend die Dimension des Tanzes im ästhetischen Hören einzuholen – und damit einem schon längst an Gestalt gewonnenen Hörregime seit Beginn des 20. Jahrhunderts einen Begriff geben möchte, der vielleicht durch ein immer noch vorhandenes Gattungsdenken bisher nicht wirklich erkennbar werden konnte.

II

Barthes’ Ausführungen zu Stimme und Körper in der Musik sind auf breite Resonanz gestoßen. Sie bilden Meilensteine in der Landschaft des Poststrukturalismus, stehen in Verbindung zum organlosen Körper in Deleuze’ und Guattaris Tausend Plateaus und profilieren auf musikalischer Ebene Theoreme von Julia Kristeva, wie den „Phäno‑“ und den „Genotext“, die Barthes in „Phäno- und Genogesang“ umschrieb (Barthes 1993b, S. 272).

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Chora/Choros. Körperkonstruktionen in der Musik

Er lieferte in Bezug auf die Musik eine Interpretation des Chora-Begriffs, auf die weiter unten zurückzukommen sein wird. Als zentrales Motiv geht es Barthes in den zwei wohl wichtigsten Texten in Der Körper der Musik, „Die Rauheit der Stimme“ und „Rasch“, um den Nachweis eines Körperlichen, das er einerseits am Beispiel des Gesangs („Rauheit“), andererseits am Paradigma der Instrumentalmusik („Rasch“) entwickelte. Die revolutionäre Forderung des Textes „Rasch“, eine „zweite Semiologie der Musik“ zu etablieren, um der Musik damit ihren Körper zurückzuerstatten, der ihr im akademischen Training genommen wurde, stieß in der Musikwissenschaft nicht auf einheitlich positives Echo. Für semiotische Strukturalisten der Musikwissenschaft galt der Text ohnehin nicht als wissenschaftlich. Zu rhapsodisch gibt er sich in seiner vielschichtigen Argumentation, die – wie so oft im poststrukturalen Diskurs der 70er Jahre – eine andere Lektüre nahelegt. Tatsächlich verlangt „Rasch“ dem Rezipienten einiges ab, zumal eben der Anspruch, den der Text erhebt, ein sehr hoher ist, denn nichts weniger wird gefordert, als die Musik neu zu denken, ihre Parameter und Grundlagentheorie umzustellen. Dies geschieht weniger in einer stringenten Argumentation als vielmehr in Gestalt eines subjektiv schweifenden Spaziergangs durch Robert Schumanns Kreisleriana (op. 16) – ein Champagnertext, der spritzig brillant die strukturalen Korken der Musiktheorie knallen lässt. Nicht unbescheiden wird mit der herrschenden Theorie des Musikbetriebs gebrochen und ihr eine Ideologie unterstellt, die als Kommunikation von Stil und Interpretation gerade dasjenige auslöscht, worum es in der Musik – nach Barthes – eigentlich geht: um das Intime, um Privatheit, um die Mitteilung körperlicher Geheimnisse, generell um eine Kulturarbeit am Körper. Der Körper der Musik, veröffentlicht in einem Band mit Schriften zu Bild, Fotografie und Film, umfasst eine Reihe von Texten, die die Funktion eines Finales aufweist, Rausschmeißer-Charakter also, pompös auf der einen Seite, leichten Inhalts auf der anderen. Aber die Musikgeschichte hat uns auch anderes gelehrt über die Gestalt des Finales, zu erinnern ist an Beethovens Neunte oder an Mozarts Jupiter-Sinfonie. Das Finale kann auch als Höhepunkt verstanden werden, bei dem die Fäden zusammenlaufen (Götterdämmerung) und wo benannt wird, worum es eigentlich die ganze Zeit schon ging. Nehmen wir für einen Moment genau dies an, so wäre „Rasch“ jener Text, bei dem der Körper der Musik zur Sprache kommt. Jener Körper, den Barthes in Fragmente einer Sprache der Liebe

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Steffen A. Schmidt

gedeutet hatte. Und auch wie in dem genannten Buch positioniert sich Barthes als erkennendes Subjekt bewusst als private Person und folgt der Musik als ein Liebender, als Amateur, der seinen Verstand – ähnlich wie Ariosts rasender Roland – vorübergehend einsperrt und ausschaltet. Anlass dieser Ausschaltung ist Schumanns Spielanweisung „rasch“, sodass Barthes hier vom rasenden Roland zum raschen Roland mutiert, der unter dem Eindruck des raschen Robert (Schumann) mit ihm und dem Interpreten Yves Nat verschmilzt. Ich möchte diese einleitenden Betrachtungen zum raschen Roland anhand der Lektüre des Textes vertiefen, seiner Argumentation kommentierend und kontextualisierend folgen und auf diese Weise einige Bedeutungen erschließen, die der rasche Roland womöglich wie Spuren ausgelegt hat, damit sie mittels allmählicher Spurensicherung das Projekt herrschender Musikkultur dekonstruieren können. Die Spurensicherung möchte ich anhand einiger Widersprüche, die die Texte vom raschen Roland durchziehen, entwickeln: Dies betrifft vor allem seinen Ansatz zur zweiten Semiologie der Musik, die ich als Chora-Praxis bezeichnen werde – ein Ansatz, der mir ebenso fruchtbar wie zaghaft erscheint. Dies zielt ab auf eine Klärung hinsichtlich der Musik als Wissensform der Signifikanz, hinsichtlich einer Arbeit am Hören und am hörenden Körper.

III

In „Musica practica“ postuliert Barthes, dass Beethovens Musik ein „Unbehagen[ ] in der Zivilisation“ zu eigen sei (Barthes 1993c, S. 265), von dem er Schumanns Werke frei wähnt. Dieser frühe Text erweist sich in vielem als wenig stichhaltig, aber er deutet schon auf den Versuch hin, neben Beethovens Genialität ein alternatives Paradigma zu etablieren, um Schumann zu seinem Recht kommen zu lassen. Hier werden zwei unterschiedliche Konstruktionen des Körper-Hörens vorgeführt, die wichtige Voraussetzungen für die späteren Ausführungen in „Rasch“ bilden. Schumann verortet Barthes bei einer ausübenden Musik, bei der der Körper des Spielers – des Amateurs, Barthes’ selbst – hört und die Musik während der Entzifferung „schreibt“. Beethoven hingegen fordere einen Interpreten und verdamme den Hörer zum reinen Hören. Das reine Hören sei nicht mehr dem intimen Klang des Klaviers und der der Melodie innewohnenden Nähe zum Gesang geschuldet, sondern dem Orchestralen: „Der Leib will total sein“ (hier Adornos Deutung Beethoven’scher

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Chora/Choros. Körperkonstruktionen in der Musik

Sinfonien nahe). Der brüchige Text muss Beethoven den zentralen musikgeschichtlichen Ort dennoch attestieren – als eine Verbindung von Sinnlichem und Intelligiblem, als Beginn dessen, dass Musik Struktur, Gliederung und Analyse vom Interpreten und damit eine Semiotik der Musik erfordert. Schumann dagegen, das wird in „Rasch“ betont, passe nicht ins Schema des Intelligiblen: „Aus den Kreisleriana […] höre ich eigentlich keine Note, kein Motiv, keine Zeichnung, keine Grammatik und keinen Sinn heraus, nichts, anhand dessen sich irgendeine intelligible Struktur des Werks rekonstruieren ließe. […] Ich höre das im Körper Schlagende, das den Körper Schlagende oder besser: diesen schlagenden Körper.“ (Barthes 1993a, S. 299) Dieses Argument, diese Abweisung der musikalischen Semiotik, von Kommunikation und Stil, Interpretation und Intelligiblem sollte prominent in „Die Rauheit der Stimme“ wiederkehren, hier gewendet gegen den Phänogesang Dietrich Fischer-Dieskaus, dem der Genogesang von Rolands Gesangslehrer Charles Panzera gegenübergestellt wird, bei dem die Stimme die Sprache selbst, ihre Diktion, bearbeitet und den Körper hörbar macht. Dieser Körper – so lautet Rolands großes kulturkritisches Projekt – wird durch den professionalisierten Gesang, durch das akademische Klavierspiel unhörbar, also zunichte gemacht. Dadurch entstehe Ideologie, entstünden Seele und Romantik abgetrennt vom Körper, oder als Resultat eines dressierten Körpers. Das, was in der Stimme als Rauheit auf den Körper hindeutet, oder besser: der Körper ist, ist in der Instrumentalmusik, im „Rasch“ der Kreisleriana, der Schlag, der Anschlag des Pianisten. Aus dem Schlagenden, das eine Gemeinsamkeit von Komponist, Interpret (Yves Nat) und Hörer herstellt, leitet Barthes die zentrale Kategorie der Musik ab als ein Netz von Betonungen: „Die Betonung ist die Wahrheit der Musik“ (ebd., S. 302). Alle anderen sonst zentralen Ebenen musikalischer Materialität – Melodik, Harmonik, Rhythmik – sind diesem Betonungsnetz des Schlagens untergeordnet. Und es ist entscheidend, dass diese Betonung nicht ein rhetorischer Akzent ist, sondern ein Schlagen des Körpers, wie es sich im Herzschlag kundtut, als dreifache Instanz, wie sie zu Beginn des Textes eingeführt wird: im Körper schlagen, den Körper schlagen, der schlagende Körper. Die drei Instanzen sind zugleich jene nicht abgrenzbaren Regionen von Komponist, Interpret und Hörer, die im performativen Hörprozess verschmelzen. Das Schlagen ist das Begehren schlechthin, als ein semiotischer Vor-Ort, oder auch zwischen den Orten, wie der rasche Roland auf der Ebene der Form analog

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das Intermezzo als den zentralen Ort der Schumann’schen Schlagpraxis annimmt und diesen aber bewusst an den Rand des musikalischen Diskurses positioniert. In poststrukturaler Manier tritt der Versuch hervor, für diesen Vor-Ort, weitab vom Zentrum der geschäftig-intelligiblen Metropolen Beethovens und Bachs, als wichtigen Ort einer „kleinen Musik“ (analog Deleuze’ Einsatz für die kleine Literatur Kafkas) zu plädieren; als einen Ort, bei dem die „erste Semiologie“ versagt und die Musik, generell eigentlich alle Musik, aber besonders die Schumanns, als Wahnsinn apostrophiert wird und einen genaueren Einblick „in den Text als Signifikanz“ gewährt (ebd., S. 311).

IV

Und hier kommen wir zur Bestimmung von Musik. Nach Barthes (und vielen anderen) fällt das Signifikat beim musikalischen Zeichen aus, Musik ist ein Signifikanzfeld, das direkt auf den Referenten, den Körper, Rolands Körper, trifft. In ihrer rein syntagmatischen Ausdehnung erzeugt die Musik dieses Netz der Schläge als Betonungen, das so stark von der Sprache abweicht und doch ihr vorausgeht und zugleich nachfolgt. Barthes folgt hier, wie oben beschrieben, den Argumentationen des 19. Jahrhunderts zum Begriff der absoluten Musik. Dieser verschobene Sprachort der Musik kann in Verbindung gesehen werden mit dem Begriff der Chora, den Julia Kristeva aus Platons Timaios abgeleitet und in Die Revolution der poetischen Sprache ins Spiel gebracht hat: „[…] gleichgültig gegenüber der Sprache, rätselhaft und weiblich, ist dieser dem Schreiben zugrunde liegende Bereich rhythmisch, entfesselt und nicht auf seine intelligible, verbale Übersetzung reduzierbar; er ist musikalisch, geht dem Urteilen voraus, und nur eine einzige Gewähr gibt es, die ihn zu mäßigen vermag – die Syntax“ (Kristeva 1978, S. 41). Mit Bezug auf Mallarmé liegen ein Lied oder Gesang unter dem (rein sprachlichen, nicht gesungenen) Text, die sich der Chora annähern. Kristeva zwingt diese unfassbare Anfänglichkeit der Chora in eine theoretische Beschreibung, „um sie überhaupt intelligibel zu machen; doch an sich geht die chora als Einschnitt und als Artikulation – als Rhythmus – der Evidenz und Wahrscheinlichkeit, der Räumlichkeit und Zeitlichkeit voraus. Unser Diskurs – der Diskurs ganz allgemein – läuft ihr zuwider, das heißt, er beruht auf ihr, doch gleichzeitig setzt er sich von ihr ab. […] Ohne schon Stellung zu sein, die für jemanden etwas vor-stellt, das heißt ohne Zeichen zu sein, ist die chora ebensowenig eine Stellung, die jemanden an seiner Stelle vorstellt, das

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Chora/Choros. Körperkonstruktionen in der Musik

heißt, sie ist noch kein Signifikant: doch erzeugt sie sich in Hinblick auf eine solche Signifikantensetzung. Weder Modell noch Abbild geht sie der Gestaltgebung […] voraus […] und sie duldet keine andere Analogie als den Rhythmus von Stimme und Geste. Erst wenn man diese Beweglichkeit wieder im Lichte des Gebärden- und Stimmspiels sieht […], eines Spiels, das sie [die chora] auf dem Register des sozialisierten Körpers vollführt, wird dieser Körper von der Ontologie und der Leblosigkeit befreit […].“ (Ebd., S. 37f.) Mutet nicht der Versuch vom raschen Roland an wie eine Chora-Praxis, die er auf die Musik überträgt und anwendet? Zunächst erscheint dieser Zusammenhang vielleicht nicht so evident, wie ich ihn sehe. Denn schließlich besitzt die Musik beim raschen Roland einen festen Spielort und dies ist der Körper. Aber um welchen Körper handelt es sich eigentlich? Bei genauerer Betrachtung der musikalischen Körperkonstruktion wird erkennbar, dass der einzelne Körper nicht existiert, sondern nur eine Zirkulation von musikalischen Figuren, die wechselweise den einzelnen Instanzen Komponist, Interpret und Hörer zugeschrieben werden. Zudem heißt es: „Auf der Ebene der Schläge (des anagrammatischen Netzes) führt jeder Zuhörer aus, was er hört. Es gibt folglich einen Ort im musikalischen Text, an dem jede Unterscheidung zwischen dem Komponisten, dem Interpreten und dem Zuhörer aufgehoben wird.“ (Barthes, 1993a, S. 303) Auch das, was der Körper musikalisch tut, besitzt beim raschen Roland den Charakter des Vor-Ortes: „[E]s rollt sich ein“ (ebd., S. 308) – wer ist „es“? Schumanns Körper, den er immer wieder hört, um ihn im nächsten Moment zu negieren, da es ja „musikalische Figuren“ sind und er nur mit Yves Nat (dem Interpreten) die gewaltigen Schläge hört? Die Gegensätze von Subjekt und Objekt, von Senden und Empfangen sind nicht einmal eingestürzt, sie sind noch gar nicht aufgebaut. (Genau hier mag die Parallele zum „organlosen Körper“ von Deleuze und Guattari aufzusuchen sein, einem Körper von Intensitäten). Der Körper, den Barthes hört, ist ein Phantasma, angesiedelt im Dazwischen, im Intermezzo, energetische Einritzungen von Spuren im Text, ein Spiel, das die Chora „auf dem Register des sozialisierten Körpers vollführt“, um nochmals Kristeva aufzunehmen. Umso mehr muss erstaunen, wenn am Ende von „Rasch“ der Muttersprache die Rolle der Chora zugewiesen wird: „[…] das Eindringen der Muttersprache [gegenüber dem italienischen mechanischen Code der Vortragsbezeichnung] in das musikalische Schreiben [ist] wahrhaftig die erklärte Wiederherstellung des Körpers, als ob sich der Körper an der Schwelle zur Melodie entdeckte, als ob er sich in der doppelten Tiefe des

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Schlages und der Sprache akzeptierte, als ob die Muttersprache hinsichtlich der Musik die Stelle der Chora einnähme […]: Das zur Angabe verwendete Wort ist das Sammelbecken der Signifikanz.“ (Ebd., S. 309) Diese Wendung muss erstaunen. Die Muttersprache als Angabe für die Musik („rasch“) ist als „Sammelbecken der Signifikanz“ der Musik vorgelagert. Hatte der rasche Roland die zweite Semiologie gefordert, die Musik all ihrer intelligiblen Eigenschaften entledigt, um ihr schlussendlich die Mutter-Sprache als Sprach-Mutter überzuordnen? Tatsächlich ging es ihm in anderen Texten auch um eine Kritik an der Sprache über Musik, die er als adjektivisches Urteilen ad acta legte, um sie durch ein „Tun“ der Musik zu ersetzen. Roland wird nicht müde, die musikalischen Figuren des Körpers in der Kreisleriana mit Verben zu bezeichnen, als ein „es rollt“, „es webt“, und dies nicht als Rhetorik zu verbuchen, sondern als dieses rhythmische Schlagen, das sich am analogen Ort der Chora befindet. Erweist sich seine Argumentation hier nicht als die eines Literaturwissenschaftlers, der die eigene metonymische Mutter Sprache, für die sein Herz schlägt, auf die Musik überträgt? Hier gelangt der Diskurs des raschen Roland an eine Grenze, die zu überschreiten ihm nicht gelingt, ja die er geradezu im Zuge des Überschreitens wieder zurücknimmt. Indem die Musik ein Netz von Schlägen und Betonungen anbietet, von rhythmisierten Einritzungen und Explosionen, nistet sich die Praxis der Signifikanz ein, ohne zu einer abschließenden Bedeutung vorzudringen. Die Bedeutung bleibt flüssig, bleibt ein Vor-Ort von Bedeutung. Gerade das Schlagen und seine Ununterscheidbarkeit zwischen einem Subjekt und Objekt verweisen auf eine vorsubjektive, eine das Subjekt erst erzeugende oder schon verlassende, auf eine „anachronistische“ (Derrida 2013, S. 18) Praxis. So müsste die Frage nach einer konsequent fortgeführten Chora-Praxis weiterentwickelt werden, an einem Ort, an dem der Körper diese Schläge, oder mit Mallarmé und Kristeva gesprochen, diesen Gesang unter der Sprache ausführt.

V

Ich möchte abschließend versuchen, diesen Ort, den Gesang unter der Sprache zu zeigen, den ich im Tanz aufsuche. An jenem Ort, an dem auch das Wort Chora eine neue Bedeutung erfährt, wenn der Chor ins Spiel gebracht wird. Chora bezeichnet einen ortlosen Ort, eine „Anachronie des Seins“ (Derrida 2013), ein „Aufnehmen“: „Chora darf nicht aufnehmen

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Chora/Choros. Körperkonstruktionen in der Musik

für sich / um ihrer selbst willen, sie darf also nicht aufnehmen, sondern sich allein die Eigenschaften darbieten lassen, die sie aufnimmt / von dem, was sie aufnimmt“ (ebd., S. 23), wie Choros auch zunächst den Tanzplatz meint, auf dem sich noch nichts ereignet, aber mit Sicherheit etwas ereignen wird, und das er „aufnimmt“. Geht man von Nietzsches Begriff des antiken Tragödienchors aus, ist es die dionysisch erregte Menge, die Gesellschaft (bei Kristeva die Triebauflage der Chora), die den Akteur aus sich heraus erzeugt (Nietzsche 2005, S. 78). Demnach wäre dieser „aufnehmende“ Choros das männliche Pendant zur weiblich empfangenden Chora, der Schauplatz, auf dem die Bedeutung/der Akteur/das Subjekt erzeugt wird und ihnen vorausgeht. In einer Szene zu Chormusik von Wagners Lohengrin hat Alain Platel mit der Kompanie les ballets C de la B im Projekt C(h)œurs (Madrid 2012) einen Moment kreiert, der auf diesen Vor-Ort der Bedeutung hinweist. Das Projekt, das anlässlich des 200. Geburtstages von Wagner und Verdi Chormusiken der beiden Komponisten choreografierte, ist aus verschiedenen Gründen für den hier betrachteten Zusammenhang interessant. Platel spielt mit dem Projektnamen damit, dass die Wörter Chor und Herz im Französischen bei leicht unterschiedlicher Orthografie – chœur und cœur – gleich ausgesprochen werden. Das Herz ist den „Kostümen“ der Chormitglieder aufgemalt, als Wunde auf einem DIN-A4-Blatt aufgeklebt. Die Tänzer_innen wiederum weisen sich durch Unterhemdbekleidung aus. Beide Gruppen befinden sich im Modus der Intimität auf verschiedenen Ebenen. Der Prozess der Szene ist so gebaut, dass sich Chor und Tanz während des „Hebräerchors“ aus Verdis Nabucco allmählich angleichen, in einem mit Geräuschcollage begleiteten Tumult vereinigen und gleichermaßen eine dionysisch erregte Menge repräsentieren, aus der die Choreuten übrig bleiben, um dann mit dem Einsatz Wagners nach und nach zu verschwinden. Die Riesenbühne bleibt leer, der leere Tanzplatz. Zurück bleibt ein Häufchen, ein liegendes Männlein in historischer Unterwäsche, das auf der grandios beleuchteten Riesenbühne auf den – nun unsichtbaren, abwesenden – Chor antwortet. Es ist die Dankesrede König Heinrichs an sein Volk beim Auszug in den Krieg gegen Ungarn aus Wagners Lohengrin. Meine Auslegung wird unvollständig und vorläufig bleiben. Vielleicht wäre hier einzugehen auf die tendenziell faschistoiden Anklänge des „Heil König Heinrich“, das der Chor schmettert und der König kläglich erwidert. Und man könnte auch fragen, was die äußerst repräsentative Musikszene mit dem privaten Raum Roland Barthes’ zu tun hat. Ich

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meine, dass es sich hier um die Konfrontation von Repräsentation und Privatem handelt und in dieser Konfrontation der musikalische Vor-Ort der Chora sich offenbart. Der unsichtbare Chor nimmt an dieser Stelle die Triebauflage der Chora von Gesellschaft und Biologie ein, der Gesang des Königs unterschreitet das Repräsentative und antwortet mit einem textlosen Singen, das noch kein Singen ist, noch kein musikalisches Subjekt repräsentiert. Nur die Melodie wird gesungen, die Haltung des Sängers ist schutzlos und gebeugt, sein Gesang löst den von Barthes geforderten Genogesang vollständig ein, er ist vom Körper nicht trennbar, ja, der Gesang ist nichts als ein skandierender „Sing-Klangkörper“. Allein auf grell erleuchteter Bühne wird der Gesang als Erwiderung zum Chor geplärrt. Ohne Text. Aber bereits mit jenen dynamischen Markierungen, die auf den interpretierten Gesang hindeuten, so die Modulation im Crescendo/Decrescendo. Musikalisch, als Vor-Ort der Signifikanz. Wie frisch geschlüpft und frei von Interpretation, aber durchaus schon mit Markierungen und Betonungen versehen. Diese Szene, so versuche ich zu zeigen, inszeniert durch Musik und Tanz jene Chora-Praxis, die von Kristeva nahegelegt und am Beispiel der französischen Literatur Mallarmés und Lautréamonts durchgespielt, vom raschen Roland auf die Muttersprache verschoben wurde. Hier, im C(h)œur-Projekt, ereignet sich die Chora-Praxis zwischen Musik und Tanz. Überhaupt unternimmt der zeitgenössische Tanz in Form einer Chora-Praxis eine kritische Reise durch die repräsentativen Regime von Sprache, Musik und Bewegung, indem er deren gestische Qualitäten untersucht. Auch die Chormusik nimmt per se einen vollständigen – repräsentativen – Zeichencharakter ein, die Antwort aber, das ungeschützte Singen, verwirft diesen und legt den Gesang und mit ihm die Gebärde unter der Rede, unter der Bedeutung frei. In der oben skizzierten Szene im Anschluss an den „Hebräerchor“, die dem Lohengrin vorausgeht, wurde dem steril-steifen – körperlosen – Konzertchor seine Signatur des dionysischen Ursprungs zurückerstattet, im Sinne Nietzsches, um dort jene Urszene nachzuspielen, die den Choros, den Tanzplatz markiert, der wiederum den Raum für den Akteur, für die Sinngebung im Subjekt schafft. Die Erwiderung des gebeugten Tänzers ist die Musik als Sinngebung in ihrer rein syntagmatischen und gestischen Ausdehnung. Die Szene steht nicht am Anfang von C(h)œur. Sie soll auch kein Anfang sein, sondern eher ein Empfang oder eine „Präambel“ (Derrida 2013, S. 40), eher das Durchspielen einer Urszene im abgelegenen Vor-Ort des Subjekts zwischen Empfang und Erwartung.

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Chora/Choros. Körperkonstruktionen in der Musik

Musik und Tanz spielen im Theater der Philosophie die Rolle der Chora, um aufgenommen, aber nicht ausgeführt zu werden – ohne ausgeführt werden zu dürfen, da sie sonst ihre Rolle des Vor-Orts verlieren würden. Müsste daher nicht – abschließend und auf die anfänglich geäußerte Perspektive aktueller Hörregime zurückkommend – mit Nancy gefragt werden, ob Musik, oder allgemeiner Klang, mit dem Tanz, oder der Geste, in Nachbarschaft des Vor-Ortes nicht eine andere Logik aufscheinen lässt, eine Logik der Evokation im Gegensatz zu der der Manifestation: „Sie (die Logik der Evokation) antizipiert ihr Kommen und hält ihr Gehen zurück, bleibt selbst gespannt in der Schwebe zwischen den beiden ... als eine Disposition zur Resonanz.“ (Nancy 2014, S. 35 f.)

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Literatur Adorno 1981 Adorno, Theodor W.: Typen musikalischen Verhaltens, in: Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 14–34.

Nietzsche 2005 Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie (1872), Leipzig: Reclam 2005. Schmidt 2012 Schmidt, Steffen A.: Musik der Schwerkraft, Berlin: Kadmos 2012.

Barthes 1993a Barthes, Roland: Rasch (1975), in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn (Kritische Essays, Bd. 3), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 299–311. Barthes 1993b Barthes, Roland: Die Rauheit der Stimme (1972), in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn (Kritische Essays, Bd. 3), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 269–278. Barthes 1993c Barthes, Roland: Musica practica (1970), in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn (Kritische Essays, Bd. 3), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 264–268. Böhme 2013 Böhme, Gernot: Atmosphären, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013. Dahlhaus 1978 Dahlhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik, Kassel: Bärenreiter 1978. Deleuze/Guattari 1993 Deleuze, Gilles; Félix Guattari: Tausend Plateaus, Berlin: Merve 1993. Derrida 2013 Derrida, Jacques: Chora, 3. Aufl., Wien: Passagen 2013. Kristeva 1978: Kristeva, Julia: Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978. Merleau-Ponty 1974 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung (1945), Berlin: de Gruyter 1974. Nancy 2014 Nancy, Jean-Luc: Zum Gehör, 3. Aufl., Berlin: Diaphanes 2014.

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Wirklich nur eine Kleinigkeit. Über Abhub und weggeworfene Signifikate In Der Moses des Michelangelo kommt Freud auf jenen „russische[n] Kunstkenner“ zu sprechen, der „eine Umwälzung in den Galerien Europas“ hervorgerufen habe, indem er etwa „die Zuteilung vieler Bilder an die einzel1 nen Maler revidierte“ (Freud 1999b [1914b], S. 185). Dies sei ihm durch Hervorhebung der „charakteristische[n] Bedeutung von untergeordneten Details“ gelungen – unter Absehung „vom Gesamteindruck und von den großen Zügen eines Gemäldes“ (ebd.). Lag das Gewicht entsprechend auf „solchen Kleinigkeiten wie [der] Bildung der Fingernägel, der Ohrläppchen, des Heiligenscheines und anderer unbeachteter Dinge“, so sei es auf ihrem Feld auch die Psychoanalyse „gewöhnt, aus gering geschätzten oder nicht beachteten Zügen, aus dem Abhub – dem ‚refuse‘ – der Beobachtung, Geheimes und Verborgenes zu erraten“ (ebd.). Im Folgenden werde ich von diesem Abhub ausgehen, der „ursprünglich das [ist], was auf der Tafel stehengeblieben ist und dann ungegessen weggeräumt wird“, wie es bei Prasse, dem Grimm’schen Wörterbuch folgend, heißt (Prasse 2004, S. 108f.). Vom Freud’schen Drang zur Deutung des Unbeachteten gehe ich dann über zu Barthes’ „Reich der Signifikanten“ (Barthes 1981, S. 22f.) und widme mich anschließend einer Verschaltung beider Ansätze: Welcher Status des Geringgeschätzten, Geringfügigen lässt sich in diesen Herangehensweisen erkennen?

1 Bei dem Kunstkenner handelte es sich um den unter dem Pseudonym Ivan Lermolieff auftretenden italienischen Arzt Giovanni Morelli.

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1. Bedeutungsfülle

Über Michelangelos Moses-Statue schreibt Freud, um auf den eingangs genannten Text zurückzukommen, er habe „von keinem Bildwerk je eine stärkere Wirkung erfahren“ (Freud 1999b, S. 174). Gleichsam von dessen Rätselhaftigkeit zu seinen Betrachtungen bewegt, befasst Freud sich mit einer gegebenen Zusammenstellung bisheriger Auffassungen und stößt darin auf Unstimmigkeiten. Ohne hier darauf näher eingehen zu kön2 nen, ist festzuhalten, dass Freud die vorgefundenen Erklärungen der Figur – nach denen es beispielsweise um eine „Ruhe vor dem Sturm“ ginge (bevor Moses zornig aufspringt und die Gesetzestafeln zerstört) oder aber um ein ‚zeitloses Charakterbild‘ – nicht zufriedenstellen; nicht zuletzt, weil er etwas vermisst (ebd., S. 177f. und S. 183f. bezogen auf H. Thode). Man könnte sagen, es ist dieses Missen oder die Unstimmigkeit, die Freud zunächst zu den Kleinigkeiten führt: Als solche stellen sich hier nun nicht die Fingernägel oder Ohrläppchen dar, sondern un3 ter anderem die Haltung der rechten Hand (ebd., S. 185). Was Freud etwa anhand der „Bartguirlande“, welche von dem von der Hand zurückgelegten Weg zeugt, sorgfältig ausführt (ebd., S. 188). Dies geschieht auf eine Schreib-Art, die auch hier den Abhub, das „Ungenossene“, durch „Stil“ oder „Sprachkraft“ „ungemein genießbar“ macht (in anderem Kontext: Prasse 2004, S. 109). Auf diesem Wege wird schließlich ein Sinnzusammenhang hergestellt; es sind unter anderem die Details der Anordnung von Hand/Bart/Gesetzestafeln, die Freud zu dem Schluss führen, Moses werde am Ende nicht aufspringen und die Gesetzestafeln „nicht von sich schleudern“ (Freud 1999b, S. 194), sondern er halte dieser Versuchung zugunsten einer Rettung der Tafeln stand. Bei aller Strittigkeit seiner Ergebnisse könnte man sagen, dass Freud in seinem Aufsatz dem starken und rätselvollen Eindruck eines Objekts durch eine Lektüre bislang vernachlässigter Züge desselben auf die Spur zu kommen sucht. Ausgehend also von einer Betrachtung eher formaler Besonderheiten (worin – das sei hier vorweggenommen – auch ein Genießen des Signifikanten liegt) wird Freud gleichsam zum ‚Sinn‘ getrieben. Woraus eine Text-Spannung resultiert.

2

Zu Freuds Der Moses des Michelangelo vgl. auch Härtel 2006.

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Das andere Detail betrifft die Stellung der beiden Gesetzestafeln.

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Wirklich nur eine Kleinigkeit

Von Abhub ist auch in den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse die Rede; und ging es eben um nicht beachtete Details eines ‚großen Kunstwerks‘, so verweisen hier „schwache Anzeichen“ auf bedeutsame Begebenheiten. Auf den von Freud quasi selbst vorweggenommenen Einwand, dass es angesichts derart vieler „großartige[r] Rätsel“ in Welt und Seelenleben „mutwillig“ erscheine, „Arbeit und Interesse an […] Kleinigkeiten“ wie etwa Fehlleistungen zu „vergeuden“ (Freud 1999c [1916–17a], S. 18ff.), steht die entkräftende Antwort gleich parat: „Es ist wahr, die Psychoanalyse kann nicht von sich rühmen, daß sie sich nie mit Kleinigkeiten abgegeben hat. Im Gegenteil, ihren Beobachtungsstoff bilden gewöhnlich jene unscheinbaren Vorkommnisse, die von den anderen Wissenschaften als allzu geringfügig bei Seite geworfen werden, sozusagen der Abhub der Erscheinungswelt.“ (Ebd., S. 20) Doch was ist hier eigentlich groß oder klein, könnte man weiter fragen. Denn verwechselt die Kritik, so Freud, „nicht die Großartigkeit der Probleme mit der Auffälligkeit der Anzeichen“? Können sich nicht „sehr bedeutungsvolle Dinge“ unter bestimmten Umständen „nur durch ganz schwache Anzeichen verraten“? Um etwa auf die „Neigung einer Dame“ zu schließen, würden junge Männer doch wohl kaum auf eine „ausdrückliche Liebeserklärung, eine stürmische Umarmung“ warten; vermutlich reiche ihnen z. B. „ein von anderen kaum bemerkter Blick“ oder Ähnliches aus. Ebenso erwarte ein „an der Untersuchung einer Mordtat“ beteiligter Kriminalbeamter wohl kaum „zu finden, daß der Mörder seine Photographie samt beigefügter Adresse an dem Tatorte zurückgelassen hat“. Eine Unterschätzung der „kleinen Anzeichen“ ist Freud zufolge also fehl am Platz (ebd.). Mit ihnen geht es immerhin um gewichtige Dinge wie Liebe und Mord – oder schließlich, wie bei den Fehlleistungen als bedeutsamen (Kompromiss-)Bildungen, um unbewussten Sinn. Solche Fehlleistungen wiederum würde jemand, „dem die Psychoanalyse fremd ist“, zunächst gewiss für „keiner Erklärung 4 wert“ und sie selbst für „kleine Zufälligkeiten“ halten (ebd., S. 21). In Zur Psychopathologie des Alltagslebens wird deutlich, inwiefern Freud zumindest nicht an psychische Zufälligkeit glaubt (Freud 1999a [1901b], S. 286f.). Auf der Suche nach Hinweisen auf eine unbewusste, verschobene Kenntnis von der Motivierung der Fehlleistungen stößt Freud etwa auf den auffälligen „Zug im Verhalten der Paranoiker“, welche „den kleinen, sonst von uns

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Im Folgenden setzt sich Freud u.a. mit anderen Erklärungsansätzen auseinander.

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vernachlässigten Details im Benehmen der anderen die größte Bedeutung beilegen, dieselben ausdeuten und zur Grundlage weitgehender Schlüsse machen“ (ebd., S. 284). Der Hang zur Be-Deutung geringfügigster Kleinigkeiten wird hier gewissermaßen selbst thematisch und eine ‚verfolgende‘ Nähe zur psychoanalytischen Detail-Lektüre kündigt sich an. – Wenn der Paranoiker etwa „auf ein allgemeines Einverständnis in seiner Umgebung“ schließt, „weil die Leute bei seiner Abreise auf dem Bahnhof eine gewisse Bewegung mit der einen Hand gemacht haben“ (ebd.), so erscheine letztlich alles, was an anderen bemerkt wird, bedeutungsvoll, alles deutbar (vgl. ebd.). Die Kategorie dessen, was keiner Motivierung bedarf, werde dann (im Hinblick auf psychische Äußerungen anderer) verworfen. Unbewusst Vorhandenes, das sich gewissermaßen zum Bewusstsein durchdrängt, werde wohl „in das Seelenleben der anderen“ projiziert. Demnach wäre die paranoide Sicht „schärfer als das normale Denkvermögen“; zugleich ist die Erkenntnis wegen der „Verschiebung“ des „erkannten Sachverhalts auf andere“ aber „wertlos“ zu nennen (ebd.). – Doch sei an dieser „Auffassung der Zufallshandlungen“ eben „etwas Wahres daran“; an einer Auffassung also, die die „Kategorie des Zufälligen“ (ebd., S. 284f.) für die psychischen Äußerungen zugunsten einer Motiviertheit gerade verwirft (wenn eben auch anderswo lokalisiert). Eine verwandte Verschiebung bzw. verschobene Motivierungs-Kenntnis ergibt sich für Freud im Phänomen des Aberglaubens (vgl. ebd., S. 285, 288). Dabei werde in Zufälligkeiten „ohne weiteren Sinn“ quasi ein „Fingerzeig des Schicksals“ erblickt (wenn etwa der Kutscher irrtümlich nicht vor dem Haus der alten Dame hält, zu dem man eigentlich will, und dies als Zeichen ihres absehbaren Ablebens gedeutet wird) (ebd., S. 285f.). Er hingegen glaube nicht, so Freud, „daß ein Ereignis, an dessen Zustandekommen mein Seelenleben unbeteiligt ist, mir etwas Verborgenes über die zukünftige Gestaltung der Realität lehren kann“; wohl aber glaube er, „daß eine unbeabsichtigte Äußerung meiner eigenen Seelentätigkeit mir allerdings etwas Verborgenes enthüllt, was wiederum nur meinem Seelenleben angehört“ (wenn ich etwa zu der mir bekannten alten Dame gehen will und dann ‚zerstreut‘ selbst an falscher Stelle lande; sodass ich dann wohl die alte Dame „bald nicht mehr anzutreffen erwarte“) (ebd., S. 286). In dem einen (abergläubischen) Fall wird eine Motivierung also nach außen projiziert, die Freud selbst „innen suche“. Und dort wird der Zufall „durch ein Geschehen“ gedeutet, „den ich auf einen Gedanken zurückführe“ (ebd.).

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Wirklich nur eine Kleinigkeit

Freud versucht hier, eine Trennung wie die zwischen Innen und Außen, ich und anderen, aufrechtzuerhalten – auch wenn er anderenorts die Grenzen zwischen dem Drinnen und dem Draußen durchaus ins Wanken 5 bringt (vgl. Derrida 1994). Und Freud erkennt hier auch den Psychoanalyse wie Aberglauben gemeinsamen „hermeneutische[n] zwang“, um eine Formulierung Derridas aufzugreifen (ebd., fol. 18): „[D]as Verborgene bei ihm [dem Abergläubischen] entspricht dem Unbewußten bei mir, und der Zwang, den Zufall nicht als Zufall gelten zu lassen, sondern ihn zu deuten, ist uns beiden gemeinsam“ (Freud 1999a, S. 286f.). Weiter gedacht liegt der Unterschied, ohne dass es Freud konsequent eingesteht, „erst im augenblick des schließens, im moment des urteils und mitnichten während der deutung“ (Derrida 1994, fol. 17).

2. Sinnentleerung

Im Folgenden soll nun ein Sprung erfolgen: von den bedeutungsvollen Kleinigkeiten zur Geringfügigkeit des Bedeuteten. „Wenn ich mir ein fiktives Volk ausdenken will“, so Barthes durchaus herausfordernd in Das Reich der Zeichen, kann ich ihm unter anderem „einen erfundenen Namen geben“ (Barthes 1981, S. 13). Oder: „Ich kann auch ohne jeden Anspruch, eine Realität darzustellen oder zu analysieren (gerade dies tut der westliche Diskurs mit Vorliebe), irgendwo in der Welt (dort) eine gewisse Anzahl von Zügen […] aufnehmen und aus diesen Zügen ganz nach Belieben ein System bilden. Und dieses System werde ich Japan nennen.“ Es ließe sich also ein „Vorrat von Zügen“ des ‚Ostens‘ in Stellung bringen „und, wenn das Spiel erfunden ist, dazu nutzen […], mit der Idee eines unerhörten und von dem unsrigen gänzlich verschiedenen Symbolsystem zu ‚liebäugeln‘“ (ebd.). Wenn sich uns – so beginnt etwa der Abschnitt „Pakete“, dessen Kleinigkeiten mich jetzt interessieren – japanische Gegenstände, Gesichter, Dinge und Sitten oder Ähnliches „klein“ darstellten, so sei dies nicht deren Größe, sondern eher einer Art von „Präzision“ geschuldet; es liege daran, „daß jeder Gegenstand, jede Geste […] uns eingerahmt erscheint“ (ebd., S. 61). Wieder geht es um groß bzw. klein und was als solches 5 Auch für die Textpassagen in Zur Psychopathologie des Alltagslebens kann man sagen, dass sich die Grenzen zwischen abergläubischem, paranoidem und ‚gesundem‘ Benehmen manchmal verunklaren. Vgl. auch Härtel 2009.

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in Erscheinung treten kann; und gerade für das Paket ließe sich gleich nach dem Verhältnis von Gegenstand/Rahmung fragen. – Beginnend mit dem Spiel japanischer Kästchen, „deren eines im anderen liegt bis hin zur Leere“, kann man nach Barthes „schon im geringsten japanischen Paket eine wirkliche semantische Meditation erblicken“ (ebd., 6 S. 63). „Geometrisch, streng gezeichnet und dennoch stets irgendwo mit einer asymmetrischen Falte oder einem Knoten signiert, durch die Sorgfalt, die Technik seiner Machart, das Spiel des Kartons, des Holzes, des Papiers und der Bänder“ sei das japanische Paket „nicht länger vergängliches Beiwerk“, sondern werde selbst zum (Geschenk-)Gegenstand (ebd., S. 63f.): Die gleichsam als „kostbare, wenngleich wertlose Sache“ geweihte und „oft wiederholte“ Hülle (ebd., S. 64) erfährt Barthes’ Aufmerksamkeit. Sie schiebt die Entdeckung des umhüllten Objekts auf, welches „oft ganz unbedeutend ist“; es sei „gerade eine Besonderheit des japanischen Pakets, daß die Geringfügigkeit der Sache in keinem Verhältnis zur Aufwendigkeit der Verpackung steht: Ein paar Süßigkeiten, etwas gezuckerte Bohnenpaste, ein vulgäres ‚Souvenir‘ (wie Japan sie leider herzustellen versteht)“ seien „ebenso aufwendig eingepackt wie ein kostbares Schmuckstück“ (ebd.). Es erfolgt also ein langer Aufschub dessen, was die Schachtel „umschließt und bezeichnet“, auf später; der Gegenstand werde „zur Täuschung: von Hülle zu Hülle flüchtet das Signifikat“. Und hat man „es endlich erreicht […] (es ist stets irgendeine Kleinigkeit in dem Paket), erscheint es unbedeutend, spöttisch, verächtlich“, so Barthes. Es wäre gewissermaßen zu entsorgen: „[D]en Gegenstand, der im Paket, oder das Signifikat, das im Zeichen ist, auffinden“, heißt nach Barthes: „sie wegwerfen“ (ebd., S. 65). Das mittels Weg-Wurf geleerte Paket wird zum leeren Zeichen, Mittel zum Transport – auf dem Weg zur Ablösung „[v]om Reichtum des Dings und von der Tiefe des Sinns“. Und die „Wollust“ erscheint eher auf Seiten des Pakets bzw. das Vergnügen als „Feld des Signifikanten“ (ebd., S. 65f.). Womit wir uns quasi im dezentrierten Zentrum der Barthes’schen ‚Liebäugelei‘ befinden. Es geht offenbar um eine Art sinnlicher ‚Befreiung‘ vom Sinn. Im Japan genannten Reich der Zeichen erscheint das „Reich der Signifi-

6 An anderer Stelle heißt es: Die „semantische Ebene“, die sich in Japan „durch eine außergewöhnliche Feinheit der Behandlung des Signifikanten darstellt, bedeutet nichts, sagt gewissermaßen nichts: verweist auf kein Signifikat und vor allem auf kein letztes Signifikat […]“ (Barthes 2002, S. 94).

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kanten“ weit ausgedehnt; wohingegen „[d]er Westen […] alle Dinge mit 7 Sinn“ tränke (ebd., S. 22f., S. 95). Auch Robert Pfaller liebäugelt in Die Illusionen der anderen mit jenem sich als „theoretische Fiktion“ verstehenden Gesellschaftsentwurf (Pfaller 2002, S. 312) und interessiert sich im Reich der Zeichen vor allem für die dortige Auffassung der Höflichkeit. – Aufgrund „einer bestimmten Mythologie der ‚Person‘“ gebe es, so Barthes unter der Überschrift „Verbeugungen“, im Westen eine Art Vorbehalt gegenüber der Höflichkeit, ja: eine „Unhöflichkeit“ (Barthes 1981, S. 87), die, quasi ‚formlos‘, als wahrhaftig gilt (vgl. ebd., S. 89). Höfliches Benehmen hingegen gelte als „Distanziertheit“, als „Heuchelei“. Die (falsche) gesellschaftlich-weltliche Hülle werde (sozusagen ganz im Unterschied zum japanischen Paket) geringgeschätzt bzw. das Interesse an dieser zugunsten der ‚Person‘ und ihres (echten) 8 ‚achtenswerten Inneren‘ negiert (ebd., S. 87). Bei Pfaller ist dann auch die Rede von einem „Kult um die eigene Person“ bzw. einem „Begehren ‚jemand zu sein‘“, basierend auf akkumulierter Ich-Libido. Die „Lust an Formen“ wäre damit „zerstört und letztere [wären] zu bloßen Äußerlichkeiten herabqualifiziert“ (Pfaller 2002, S. 313). In ähnliche Richtung heißt es bei Barthes: „Irgendwann einmal müßte man […] die Zähigkeit unseres Narzißmus ans Licht bringen.“ (Barthes 1981, S. 14) Hinwiederum stellt die „andere Höflichkeit“ in Barthes’ Japan „mit ihren präzisen Codes und der graphischen Klarheit ihrer Gesten“ eine Art „Übung des Leeren“ dar gemäß einem „starken“, gleichwohl ‚nichts‘ bedeutenden Code (ebd., S. 89f.); Züge eines Formengeflechts treten gewissermaßen an die Stelle von Zeichen einer „Kommunikation“ zwischen autark-persönlichen Reichen, „in denen jeder über sein Ich regiert“ (ebd., S. 92). Bei der Übergabe eines Geschenks etwa folgt auf das Niederknien und Verbeugen des Überreichenden „fast bis zum Boden“ eine entsprechende Antwort des Gegenübers: „Eine einzige flach verlaufende Linie verbindet den Gebenden, den Empfänger und den Einsatz dieser Etikette, die Schachtel, die vielleicht nichts oder nur eine Kleinigkeit enthält“ (ebd., S. 90ff.). Wo wir schon waren. Ob nun dieses von Barthes entworfene ‚System‘ – aus aufeinander bezo-

7 Es sei zu wenig, „Inhalte ändern zu wollen“. Vielmehr gelte es vor allem, „in das System des Sinns selbst Risse zu schlagen: herauszukommen aus dem abendländische Gehege“ (Barthes 1988, S. 12). 8 „Wie einfach bin ich doch, wie liebenswürdig, wie offen, wie sehr bin ich doch jemand – eben dies sagt die Höflichkeit des Westens“, so Barthes (1981, S. 89).

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genen kulturellen Zügen, Phänomenen, Formen, Praxen oder Ähnlichem – „die japanische Realität zutreffend beschreibt“, erscheine ihm „ebenso gleichgültig“ wie Barthes selbst, so Pfaller (Pfaller 2002, S. 313). – Die an Barthes’ Text zu richtende Frage sei weniger, ob Japan der Beschreibung tatsächlich entspricht, sondern „vielmehr, ob nach Barthes’ eigenen Annahmen überhaupt eine Gesellschaft existieren kann, die so beschaffen ist, wie er sie beschreibt“. Beschaffen etwa im Sinne einer Form „lustvolle[r] Formalität und ‚bloße[r] Äußerlichkeit‘ ohne jegliche Subjektwerdung“ (ebd., S. 315f.), ohne die eigene Dezentriertheit verkennende Subjekte; wie mit Signifikanten und eben ohne Signifikate. In diesem Verständnis erscheint Japan auch nicht einfach als eine Wahrheit, „deren Verkennung die westliche Kultur ausmacht“, sondern bezeichnet vielmehr „eine andere Organisationsform gesellschaftlicher Einbildung“ (ebd., S. 314f.) – verglichen mit der ‚unsere eigenen‘ (gleichsam lustunfähigen) Gesellschaften geradezu als „barbarisch“ erscheinen und die sozusagen eine „brauchbare Zielvorgabe“ etwa für den Bruch mit narzisstischen Vorherrschaften liefert (was durchaus Pfallers Anliegen ist) (ebd., S. 317).

3. Lektürereste

In der auf diese Weise pointierend vorgenommenen Zusammenstellung entsteht zwischen den Freud’schen und den Barthes’schen Überlegungen ein Kontrast: Bei Freud erscheint hier – in einem teils geradezu abergläubischen oder auch paranoiden Zug der Psychoanalyse – alles bedeutungsvoll. Jede Kleinigkeit wird (freilich auf differente Art, aber kaum nicht) mit Bedeutung versehen. Der, wie Freud selbst es wie schon erwähnt nennt, „Zwang, den Zufall nicht als Zufall gelten zu lassen“, wird auch zu einer Art Deutungs-Zwang. Bei Barthes setzt gerade keine Bedeutungssuche ein, sondern diese eher aus. Wird also bei Freud das gewöhnlich als „allzu geringfügig“ Beiseite-Geworfene besonders bedeutsam, so scheint Barthes bestrebt, das Bedeuten beiseitezuwerfen bzw. die Kleinigkeit des Signifikats. Eine Entleerung von Sinn gewissermaßen, ein Fest bedeutungsloser Signifikanten, leerer Zeichen und sozusagen eine Positionierung geläufi9 gen kulturellen ‚Sinnmachenschaften‘ entgegen.

9 Zu den „Machenschaften des Sinns“ vgl. Barthes 1988, S. 165ff. – Weiter zu denken wäre auch, dass das Signifikat „noch kein Sinn“ ist (in anderem Zusammenhang Pfaller 2002, S. 314, Fn. 86).

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Erscheint die Leere der Form bzw. „le vide“ dabei als eine Art Leitmotiv (Krüger 1997, S. 2), so umhüllt das von Barthes geschnürte Paket Japan eben eine Nichtigkeit – gerade das enthaltene ‚Nichts‘ scheint die Skizzierung einer anderen kulturellen Organisationsform möglich zu machen. Doch ist die Leere im Paket vielmehr ein Geleertsein (vgl. Barthes 1981, S. 65) – von dem, was in ihm aufzufinden sein kann: etwa „irgendeine 10 Kleinigkeit“. Was ist dann mit diesem Weggeworfenen, das potenziell zurückbleibt? Was mit den „paar Süßigkeiten“, der „gezuckerte[n] Bohnenpaste“, von denen Barthes ja unter anderem schreibt? Ausgehend von diesen Fragen ließe sich vielleicht sagen: Wenn Freuds hingebungsvolle Zuwendung zur Kleinigkeit in diesem Rahmen partiell in eine Nähe zur zwingenden Suche nach einem wie auch immer ‚verborgenen‘ Sinn zu geraten scheint, so führt die Abwendung von der ‚Tiefe des Sinns‘ bei Barthes hier potenziell zum Vernachlässigen der Kleinigkeit. Hat Barthes an dieser Stelle eine Kleinigkeit vergessen? Oder anders gefragt: Könnte man mit Barthes eine Differenz zu jenem ‚Freud’schen 11 Deutungszwang‘ etablieren und dann wiederum mit Freud das dabei 12 als allzu geringfügig Beiseite-Geworfene fokussieren? Ist also der Abhub, den Freud am Wickel hat, zunächst auch das „ungegessen“ Weggeräumte, „ein Rest“ (Prasse 1995, S. 108f.; s. o.), dann wäre dies bei Barthes wohl das zuckersüße Zeug. – Wird die von Barthes geringgeschätzte, weggeworfene Süßigkeit des Signifikats, des ‚vulgären‘ Imaginären, so könnte man vielleicht sagen, zum Abhub im Freud’schen Sinn der Sache? Vulgär nennt Barthes jenes (potenziell ebenso in der Verpackung zu findende) ‚Souvenir‘, wie es Japan demnach „leider“ auch „herzustellen versteht“. Ein ‚Mitbringsel‘, offenbar aufgeladen mit dem, was hier nun gewöhnlich, verächtlich, ausgestoßen erscheint. Ein Fund- und Erinnerungsstück von einem japanischen Anderswo, das für Barthes möglicherweise nicht so recht ins Paket passt. Heißt es aufzufinden nicht auch hier: es 10 Die Schachtel enthält „vielleicht nichts oder nur eine Kleinigkeit“, heißt es auch im Abschnitt „Verbeugungen“ (Barthes 1981, S. 92, siehe auch S. 65). 11 Barthes attestiert der Psychoanalyse wiederum, sich „zumindest in ihrer jüngsten Entwicklung“ u. -a. „von einer bloßen Hermeneutik“ zu entfernen (Barthes 1990, S. 261). 12 Mit dieser ‚Positionszuweisung‘ nehme ich insgesamt natürlich auch eine Zuspitzung vor. Barthes interessiert sich auf seine Weise auch für das ‚Detail‘, wie in Die helle Kammer bzgl. des punctum (dessen Stellenwert sich im Verlaufe des Buches dann auch wieder ändert) (Barthes 1985). – Und auch Freud macht nach Pfaller einen Entwurf einer „lustfähigen“ Gesellschaft denkbar (vgl. Pfaller 2002, S. 316f., 307ff.).

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wegzuwerfen? Was ergibt sich dann daraus? Vielleicht zunächst, dass sich die Situation – bei allem, was Barthes, wie hier für Pfaller, durch das Symbolsystem Japan über jede Sinnfixierung hinaus aufregend denkbar macht – potenziell noch verwickelter darstellt als gedacht. Lässt sich formulieren, dass sich im Freud’schen Unterfangen bisweilen ein hermeneutischer Zwang einnisten kann – und bei der Barthes’schen ‚Liebäugelei‘ potenziell ein dichotomer Zug? Das könnte passieren, auch wenn sich Barthes ausdrücklich gegen Versuche verwahrt, Osten und Westen als ‚Realitäten‘ einander „anzunähern oder entgegenzusetzen“ bzw. „mit verliebten Augen auf ein ‚Wesen des Ostens‘“ zu blicken (Barthes 1981, S. 13). Bei allen Befragungen westlicher Gegenüberstellungen (vgl. Ette 1998, S. 282) wurde an anderer Stelle einmal von einer Art Barthes’scher „Märchenwelt der Begriffe“ gesprochen, in der gutartige und bösartige Ausdrücke durchaus miteinander stritten (Meyer-Kalkus 2001, S. 432 mit 13 Bezug auf Henk Hillenaar). Man könnte dies hier, bei allem, eben beziehen auf jene Idee eines „von dem unsrigen gänzlich verschiedenen Symbolsystems“ (Barthes 1981, S. 13). Er lehne seine „Zivilisation zutiefst ab, bis zum Ekel“, so Barthes 1970 in einem Gespräch (Barthes 2002, S. 94). Demnach formuliert Das Reich der Zeichen „die absolute Forderung nach einer totalen Andersheit […], die mir notwendig geworden ist und die allein das Aufreißen des Symbolischen, unseres Symbolischen, hervorrufen kann“ (ebd.). Und so ist dieses Buch nach Ette eine sich insbesondere an die ‚eigene Kultur‘ (bzw. dortige Leser/innen) wendende „Lektüre des kulturell Anderen“ (Ette 1998, S. 277); dieses findet sich wie funktionalisiert hinsichtlich ei14 nes zu verändernden Eigenen (vgl. ebd., S. 282). Wenn nun Barthes’ Text selbst solchen einteilenden Tendenzen potenziell auch entgegenwirkt, ja Das Reich der Zeichen, hier unter der Überschrift „Pakete“, dieses Entgegenwirken teils beinah vorführt, dann 15 betrifft dies meines Erachtens – und nicht zufällig – den Stellenwert

13 Meyer-Kalkus spricht an einer Stelle auch von einem „dichotomischen Grundzug“ (Meyer-Kalkus 2001, S. 432). 14 Auch wenn Barthes’ ‚Textualisierung‘ Japans ihm möglicherweise erlaubt, „sich üblicher Exotismen zu entledigen, die sich des anderen als fast schon eigenen bemächtigen, oder aber es als gänzlich unverständlich anderes von sich weisen“ (Krüger 1997, S. 5). – Bhabha folgend wird dieses Japan auch zum „Anti-Westen“ (Bhabha 2000, S. 103, Fn. 6). 15

Da haben wir wieder Freud.

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der in ihm enthaltenen Kleinigkeit. Es ist, als würde der Text hier irisierend Bedeutungsverschiebungen vor Augen führen, von denen er im zeitlichen Sinn (als Verschiebung des Schachtel-‚Inhalts‘ auf später) auch spricht; der Sinn erscheint beim ‚Auspacken‘ immer wieder flüchtig, insofern man (so zumindest meine Lektüre-Erfahrung) verschiedentlich leicht durcheinandergerät. Zunächst: In der aufwendigen Verpackung des Pakets kann sich nach Barthes etwa jenes Gezuckerte oder Vulgäre, aber auch „ein kostbares Schmuckstück“ befinden. Letzteres, einmal im Textpaket aufgetaucht, scheint schnell wieder aus der Barthes’schen Rede zu verschwinden. Richtet sich diese doch gewissermaßen auf ein Loskommen vom „Reichtum des Dings“ wie „von der Tiefe des Sinns“. Das möglicherweise Kostbare geht anscheinend im Geringfügigen auf; doch kann dann nicht dieses umgekehrt auch das auftauchende kostbare Schmuckstück sein – so wie die „Hülle an sich“ in Barthes’ Japan als jene „kostbare, wenngleich wertlose Sache“ ‚geweiht‘ ist? Und wenn die „Dinge und Sitten Japans“, die Barthes offenbar interessieren, ‚uns‘ womöglich als klein erscheinen, insofern, wie es heißt, „unsere Mythologie […] das Große, Weite, Ausgedehnte, Offene“ feiert (Barthes 1981, S. 61), was bedeutet das dann für die eben als verächtlich erscheinende Kleinigkeit im Paket? Ebenso interferiert das geringste japanische Paket, in dem man schon „eine wirkliche semantische Meditation erblicken“ kann, mit jener Geringfügigkeit der Sache, die „in keinem Verhältnis zur Aufwendigkeit der Verpackung steht“, und diese wiederum auch mit der Geringschätzung, mit der die (gesellschaftliche) Hülle im Westen bedacht wird, wie es dann im Abschnitt „Verbeugungen“ heißt (ebd., S. 87). Der Status des Kleinen, 16 Unbedeutenden, Geringen kippt und flimmert. Und so, wie das Wertlos-Geringfügige zum Wertvollen hin changiert, kann auch dem Wegwerfen selbst eine ‚Zuwendung‘ innewohnen. Denn – gleichsam ‚gelesen‘ in jenem Symbolsystem, von dem aus Barthes, sich abstoßend, als dem ‚unsrigen‘ schreibt – das Ausgestoßene, Weggeworfene ist offenbar nicht einfach nur das Geringgeschätzte. Nach Ecker z. B. stellt sich ‚Wegwerfen‘ als eine „Kehrseite von ‚Sammeln‘“ dar (so wie sich wohl auch ‚Souvenirs‘ sammeln lassen), und in weiterem Kontext kann

16 Dies funktioniert an dieser Stelle so wohl nur für die hier zugrunde gelegte deutsche Übersetzung (durch Michael Bischoff). Der französische Text (der diesbezüglich von „moindre“, „futilité“ und „peu estimée“ spricht [Barthes 2007, S. 63f., 87]) wäre gesondert auf seine Eigenarten zu untersuchen.

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„‚Verwerfen‘ als Kehrseite von ‚Wertschätzen‘“ fungieren (Ecker 2001, S. 171). – Vielleicht vergleichbar verhält es sich beim Abhub, für den „Abschaum“ nach Prasse ein Synonym darstellt; „und wir wissen, wie ganz entgegen unseren Idealvorstellungen wir alle am Abschaum hängen […]“ 17 (Prasse 1995, S. 109). Der Abhub wäre durchaus etwas, woran man hängt. Auf andere Weise ‚hängt‘ der kleine Ernst im berühmt gewordenen Fortda-Spiel (Freud 1999d [1920g]) – das eine Art Wegwerfspiel ist – gewissermaßen am Faden der ‚fort‘-geworfenen Spule. Wobei es darum geht, dass Dinge nicht nur an-, sondern auch abwesend sein können; das abwesende Objekt wird denkbar und es scheint, als eigne sich das Kind in diesem 18 Spiel „die Fähigkeit an, ‚bedeuten‘ zu lassen“. Ließe sich in so einem durchaus gewagten Gedankensprung nun sagen, auch Barthes’ Text hängt möglicherweise am ‚Weggeworfenen‘, dem Signifikat, oder anders gefragt: Bezieht er die Möglichkeit seiner ‚Bedeutung‘ gerade aus dem Wegwerfen von etwas, was immer auch wiederkehrt? Barthes, so könnte man formulieren, setzt gewissermaßen die widersprüchliche Situation in Szene, in einem ‚Symbolsystem‘ über ein denkbar anderes zu schreiben. Was nicht nur ein Verhaken der Aufladungen und Bewertungen nach sich zieht, sondern hiesig überdies zur paradoxen Situation führt, gerade eine Sinnentleerung belangreich werden zu lassen. Diese Entleerung erscheint, das wurde bemerkt, potenziell 19 sinnhaltig – quasi durch das Entsorgte hindurch. – Dabei betrifft das auftretende Changieren im Text über kulturelle Systeme nicht nur die Verstrickung des Schreibens und seiner Verortungen, sondern, damit einhergehend, auch die jeweiligen symbolischen (An-)Ordnungen selbst, die in sich nicht widerspruchsfrei erscheinen (wenn eben das in Richtung

17 Weiter heißt es: „Das durch die Existenz des unbewußten Denkens und Begehrens beleidigte Ideal ist der Stoff, mit dem die Psychoanalyse sich abzugeben hat.“ (Prasse 1995, S. 109) 18 Eine Fähigkeit, die „die prinzipielle Unausschöpfbarkeit sprachlicher Bedeutung eröffnet“ (insgesamt: Löchel 2000, S. 87ff.). „Die Sinnentleerung durch Dezentrierung, die Barthes auch in der fragmentarischen 19 Struktur seines Buches zu verwirklichen sucht, erscheint paradoxerweise gerade dem westlichen Leser sinnvoll“, schreibt Gnam (2004, in einer Rezension zu Landmann 2003). – Und nach Ette kann der ‚Sinnverlust‘ selbst durchaus „wieder sinnhaltig“ sein, „zumindest für den abendländischen Leser“ (Ette 1998, S. 277). – Auf anderer Ebene schreibt Barthes selbst wiederum schillernd von einer „Erschütterung des Sinns“; „ohne daß freilich das Objekt jemals aufhörte, bedeutsam [signifiant] und begehrenswert zu sein“ (Barthes 1981, S. 16). – Auf das Feld Sinn/ Bedeutung/Bedeutsamkeit … gehe ich hier nicht weiter ein.

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Sinn-Erschütterung wirkende Japan nach Barthes unter anderem „leider“ auch das vulgäre ‚Souvenir‘ „herzustellen versteht“, oder wenn man im ‚eigenen System‘ „durch die Jahrhunderte hindurch“ – wenige – „Rufe nach Differenz“ gelegentlich hat hören können [Barthes 1981, S. 64, 14]; auch hier kann ein ‚Außen‘ im ‚Innen‘ wirken). Wenn also der Text mit der Kleinigkeit, dem Geringen auch das an 20 seine Oberfläche bringt, was sich – im Ekel vor der eigenen Zivilisation – einer eindeutigen Ausrichtung entzieht, dann wirkt die Hinwendung zu diesem Geringen auch der ‚Diagnose‘ einer kulturellen Situation entgegen, insofern sie Reiche folgend dazu neigt, „eine Tendenz“ zu verdichten und „das zu ihr gehörende Paradox, die zu ihr gehörende Gegenbewegung“ zu unterschlagen (Reiche 2004, S. 180). Und so kann es zusammengezogen auch kaum einfach um eine ‚gänzliche‘ Verschiedenheit zum konstatierten ‚zähen‘, ‚lustunfähigen‘ Narzissmus gehen, so sehr es diesen kulturell zu bestimmen gilt. Weiter noch gilt es auch, und damit möchte ich schließen, in der Lektüre jene Ambivalenzen und Mehrdimensionalitäten, die widersprüchlichen Reste, ja den ‚Abhub‘ im Was und Wie des jeweiligen Schreibens aufzuspüren und aufzugreifen, ohne ihnen gleich den einen oder anderen Sinn zuzuweisen. So kann sich eine Kulturanalyse möglicherweise auf die Spuren dessen begeben, was weder in unbedingten Ausdeutungen des gewöhnlich für unbedeutend Gehaltenen noch in einer Sinn-Entleerung aufgeht. Vielmehr kann mit dem ungegessen Stehengebliebenen dann zunächst einmal das in den Blick geraten, was einer kulturellen Situation oft unbeachtet anhängen kann und von inhärenten Gegenwirkungen zeugt. Und damit von den Dynamiken, die eine kulturellen Verfasstheit – auch die ‚eigene‘ – allererst ausmachen.

20 Ekel kann auch als Äußerungsform von ‚Verwerfung‘ gelesen werden – wiederum als „Kehrseite von ‚Wertschätzen‘“ (Ecker 2001, S. 171, siehe auch oben).

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Literatur Barthes 1981 Barthes, Roland: Das Reich der Zeichen, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981. Barthes 1988 Barthes, Roland: Das semiologische Abenteuer, übers. v. Dieter Hornig, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988. Barthes 1985 Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, übers. v. Dietrich Leube, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985. Barthes 1990 Barthes, Roland: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, übers. v. Dieter Hornig, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990. Barthes 2002 Barthes, Roland: „Über ‚S/Z‘ und ‚Das Reich der Zeichen‘“. Gespräch mit Roland Barthes, geführt von Raymond Bellow, in: Les Lettres françaises, 20. Mai 1970, in: ders.: Die Körnung der Stimme. Interviews 1962–1980 (1981), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 78–98. Barthes 2007 Barthes, Roland: L’Empire des signes (1970), Paris: Éditions du Seuil 2007. Bhabha 2000 Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, übers. v. Michael Schiffmann; Jürgen Freudl, Tübingen: Stauffenburg Verlag 2000. Derrida 1994 Derrida, Jacques: Meine Chancen, übers. v. Elisabeth Weber, Berlin: Brinkmann & Bose 1994. Ecker 2001 Ecker, Gisela: Verwerfungen, in: dies.; Martina Stange; Ulrike Vedder (Hg.): Sammeln – Ausstellen – Wegwerfen, Königstein i. Ts.: Ulrike Helmer Verlag 2001, S. 171–185. Ette 1998 Ette, Ottmar: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998.

Freud 1999a Freud, Sigmund: Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901b). Gesammelte Werke, Bd. 4, Frankfurt a. M.: Fischer 1999. Freud 1999b Freud, Sigmund: Der Moses des Michelangelo (1914b), in: Gesammelte Werke, Bd. 10, Frankfurt a. M.: Fischer 1999, S. 172–201. Freud 1999c Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916-17a). Gesammelte Werke, Bd. 11, Frankfurt a. M.: Fischer 1999. Freud 1999d Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips (1920f), in: Gesammelte Werke, Bd. 13, Frankfurt a. M.: Fischer 1999, S. 1–69. Gnam 2004 Gnam, Steffen: Tokio als Ideogramm. Antje Landmann über Roland Barthes’ orientalistische Fallgruben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 16.2.2004, www.faz. net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/ tokio-als-ideogramm-1149041.html (Stand: 6.2.2016). Härtel 2006 Härtel, Insa: Ergriffensein, ergreifen, begreifen. Freuds ‚Der Moses des Michelangelo‘, in: Elfriede Löchel; Insa Härtel (Hg.): Verwicklungen. Psychoanalyse und Wissenschaft, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 123–149. Härtel 2009 Härtel, Insa: Symbolische Ordnungen umschreiben. Autorität, Autorschaft und Handlungsmacht, Bielefeld: transcript 2009. Krüger 1997 Krüger, Bettina: Sehnsucht nach dem ganz anderen. Roland Barthes’ L’Empire des signes – eine Japan-Reise? in: parapluie, Nr. 2, 1997, S. 1–6, http://parapluie.de/ archiv/sehnsucht/japan/parapluie-sehnsucht_japan. pdf (Stand: 6.2.2016). Landmann 2003 Landmann, Antje: Zeichenleere. Roland Barthes’ interkultureller Dialog in Japan, München: Iudicium Verlag 2003.

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Wirklich nur eine Kleinigkeit Löchel 2000 Löchel, Elfriede: Symbolisierung und Verneinung, in: dies. (Hg.): Aggression, Symbolisierung, Geschlecht, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000 (Psychoanalytische Blätter, Bd. 17), S. 85–109. Meyer-Kalkus 2001 Meyer-Kalkus, Reinhart: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin: Akademie-Verlag 2001. Pfaller 2002 Pfaller, Robert: Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002. Prasse 2004 Prasse, Jutta: Der Abhub der Erscheinungswelt und die Sprache unserer Wahrnehmungen, in: Claus-Dieter Rath (Hg.): Sprache und Fremdsprache. Psychoanalytische Aufsätze, Bielefeld: transcript 2004, S. 101–110. Reiche 2004 Reiche, Reimut: Triebschicksal der Gesellschaft. Über den Strukturwandel der Psyche, Frankfurt a. M./New York: Campus 2004.

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Prothesen umfunktionieren.

Roland Barthes liest Bertolt Brecht1

Bertolt Brechts Verständnis des „Umfunktionierens“ als kritisches Kernelement des epischen Theaters wird meist mit dem V-Effekt, also dem Exponieren der bürgerlichen Theatermaschine als Teil der Inszenierungsstrategie, in Verbindung gebracht. In meinem Beitrag möchte ich zeigen, wie Brecht in diesem Sinn Prothesen „umfunktioniert“ hat: Um ihre biopolitische Funktion auszustellen, werden sie motivisch und figurativ. Mit Blick auf die Dreigroschenoper und Mann ist Mann frage ich, wie sich die ästhetische Programmatik Brechts im Umgang mit dem versehrten Körper auf der Bühne darstellt und welche Funktion dabei der figurativen Darstellung von Prothesen zukommt. In der Dreigroschenoper lässt sich an die Szenen in Jonathan Peachums Bettlerausstattungsladen anknüpfen, in Mann ist Mann an eine Operation, die im Zentrum der Bühnenhandlung steht: an die Ummontage des Packers Galy Gay in eine menschliche Kampfmaschine. In beiden Fällen – das ist hier die Ausgangsthese – ist die Umfunktionierung von Versehrtheit, Mangel und Schwäche in eine Allegorie der Gesellschaft, in ein Bild, der eigentliche Vorgang. Die These, dass Versehrtheit bei Brecht eine allegorische Funktion zukam, lässt sich anhand eines Negativbeweises stützen: So modifizierte Brecht die sogenannten Krüppelszenen 1949 für eine Aufführung der Dreigroschenoper, weil er sie angesichts der Kriegsversehrten des Zweiten Weltkriegs im Publikum nunmehr für unangebracht hielt. In einem Brief an Kurt Weill – der die Neufassung nicht autorisierte – schrieb er: „Die Krüppelkopien des Herrn Peachum sind im Augenblick in Deutschland nicht attraktiv, da im Zuschauerraum selbst zu viele echte (Kriegs‑)Krüppel

1 Beim vorliegenden Text handelt es sich um die kondensierte Version zweier Kapitel aus meinem Buch Prothesen. Figuren einer lädierten Moderne (Harrasser 2016).

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Karin Harrasser

oder Anverwandte von Krüppeln sitzen. Es musste da einfach ein Ersatz gefunden werden.“ (Brecht 2004, S. 129) Im Umkehrschluss heißt das, dass solche Pietät ursprünglich nicht notwendig schien. Die Dreigroschenoper war zur Zeit ihrer Erstaufführung im Jahr 1928 ein äußerst populäres Stück. Niemand scheint sich damals an der ironischen Entkernung der Figur des Kriegsversehrten gestoßen zu haben. In der Tat setzte Brechts Verwendung des Bildarsenals des „Kriegskrüppels“ da ein, wo die Debatte Mitte der 20er Jahre stehen geblieben war: bei der wirtschaftlichen Verwertbarkeit von Versehrtheit, Behinderung und Arbeit. Die öffentliche Debatte kreiste nach dem Ende des Ersten Weltkrieges um zwei Themen: erstens um die „Rentenangst“ der Kriegsversehrten, also um angeblich nicht gerechtfertigte finanzielle Ansprüche der Kriegsversehrten, denen Sozialschmarotzertum vorgeworfen wurde. Zweitens die öffentliche Präsenz der Veteranen, die im Kontext der Erinnerungspolitik und der Neudefinition der Nation als Unruhefaktoren wahrgenommen wurden. Öffentlich sichtbar waren die Kriegsversehrten vor allem in zwei Varianten: als Betreiber einer informellen Ökonomie (Betteln, Straßenmusik und Kleinkriminalität) und als Teilnehmer großer Demonstrationszüge der Verbände für Kriegsbeschädigte. In Jonathan Jeremiah Peachums Geschäftsmodell fließen beide Aspekte zusammen. Er bietet den Londoner Bettlern ein Art Franchise-Modell an, das ihre Einnahmen maximiert. Er selbst stellt sich als zynischer Spezialist für die Produktivmachung des Elends vor, als einer, der aus der „furchtbaren Fähigkeit, sich gleichsam nach eigenem Belieben gefühllos zu machen“ (ebd., S. 12), Kapital schlägt, indem er die Bettler mit Geschäftsbedarf – künstlichen Verwundungen, Krücken, Prothesen etc. – ausstattet. Die Herstellung von Bettlertypen ist ein Theater im Theater: Frau Peachum bügelt Flecken in die „Uniformen“ der Bettler und an einer Stelle beschwert sich ein „Angestellter“ darüber, dass sein falscher Armstumpf nicht genügend Einnahmen bringt: BETTLER: Ich muß mir ganz energisch beschweren, indem das ein Saustall ist, indem es überhaupt kein richtiger Stumpf ist, sondern eine Stümperei, wofür ich nicht mein Geld hinausschmeiße. PEACHUM: Was willst du, das ist ein ebenso guter Stumpf wie alle anderen.

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Prothesen umfunktionieren

BETTLER: So, und warum verdiene ich nicht ebensoviel, wie alle anderen? Ne, das könne Sie mit mir nich machen. (Schmeißt den Stumpf hin) Da kann ich mir ja mein richtiges Bein abhacken, wenn ich so einen Schunde wie – PEACHUM: Ja, was wollt ihr denn eigentlich? Was kann denn ich dafür, daß die Leute ein Herz haben wie Kieselstein. Ich kann euch doch nicht fünf Stümpfe machen! Ich mache aus jedem Mann in fünf Minuten ein so bejammernswertes Wrack, daß ein Hund weinen würde, wenn er ihn sieht. Was kann ich dafür, wenn ein Mensch nicht weint! Da hast du noch einen Stumpf, wenn dir der eine nicht ausreicht. (Ebd., S. 41f.) Die Idee der Prothese wird damit invertiert oder pervertiert. Es ist nicht die Prothese, die Produktivität gewährleistet, sondern der intakte Körper muss als ein amputierter maskiert werden, um die Einnahmen zu maximieren. Selbst die drastische Androhung einer Selbstamputation ist nichts als Rhetorik zur Erzwingung besserer ökonomischer Ausgangsbedingungen. Peachums Bettlerladen ist als verkehrte Welt der Nachkriegssituation eingerichtet. So ist die vom Ladeninhaber organisierte Bettler-Demonstration am Tag der Krönungsfeierlichkeiten ein Reflex auf die Großdemonstrationen der Kriegsversehrtenverbände und deren Forderung nach einem angemessenen Ort in der Erinnerungskultur der Nachkriegszeit. Den Zug der versehrten bzw. als versehrt ausstaffierten Bettler unterfüttert Peachum mit einer historischen Erzählung, wenn er den Londoner Polizeichef Brown auf die Störung des Krönungszugs der Semiramis durch „allzu lebhafte Beteiligung der unteren Schichten“ hinweist (ebd., S. 65). Er spielt damit auf Ereignisse der Nachkriegszeit an, wenn er Brown die negativen öffentlichen Reaktionen auf Bilder einer gewaltsamen Niederschlagung der Bettler-Demonstration vor Augen stellt: „Aber wie wird es aussehen, wenn anläßlich der Krönung sechshundert arme Krüppel mit Knütteln niedergehauen werden müssen? Schlecht würde es aussehen. Ekelhaft sieht es aus. Zum Übelwerden ist es.“ (Ebd., S. 12) Peachum geht es mit seinen „Krüppelkopien“ nicht um die versehrten Körper, die lassen sich „herrichten“, sondern um das Bedienen einer Aufmerksamkeitsökonomie der Bilder und um Affektsteuerung. Peachums Geschäftsmodell definiert seine Aufgabe als die eines Produzenten von effektvollen Bildern. Aus dem realen Elend der Bettler

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formt er Figuren, die Mitleid erregen. Filch, einer von Peachums Kunden, fragt an einer Stelle, warum er nicht sein reales Elend „darstellen“ dürfe und stattdessen ein fremdes verkörpern müsse. Peachum antwortet: „Weil einem niemand sein eigenes Elend glaubt, mein Sohn.“ (Ebd., S. 16) Das ist nicht nur Einsicht in die Verfasstheit eines ausdifferenzierten affektkapitalistischen Gemeinwesens, sondern auch die Programmatik des epischen Theaters: Es sollte keinen kunstvollen Ausdruck von „natürlichen“ Affekten zeigen, sondern wie Affekte gemacht werden. Peachum ist der Modell-Regisseur des epischen Theaters. Er baut seine Figuren so zusammen, wie auch Brecht seine Typen gebaut hat. Sie entstehen auf Basis einer quasi-wissenschaftlichen Arbeit an Gestik und Mimik, an der Ausstattung, an den einzelnen Vorgängen auf der Bühne. Während der Probenarbeit zur Dreigroschenoper in Paris 1937 zeigte Brecht sich beispielsweise erfreut, dass ein Schauspieler sich stundenlang mit der Auswahl seines Hutes beschäftigte, weil dies ihn zu einem Schauspieler des wissenschaftlichen Zeitalters mache (ebd., S. 109). In seinen Anmerkungen zur Aufführungspraxis ist das Geschäft Peachums der Modellraum des verweisenden Zeigens: „5) Die Schauspieler brauchen sich bei dem Zeigen solcher Dinge wie des Peachumgeschäftes nicht allzu sehr um den gewöhnlichen Fortgang der Handlung zu kümmern. Allerdings dürfen sie nicht ein Milieu, sondern müssen sie einen Vorgang geben. Der Darsteller eines dieser Bettler muß das Auswählen eines passenden und effektvollen Holzbeines (er prüft ein solches, legt es wieder beiseite, prüft ein anderes und greift dann zum ersten zurück) so zeigen wollen, daß eigens dieser Nummer wegen Leute sich vornehmen […], noch einmal das Theater aufzusuchen […].“ (Ebd., S. 100) Brecht dachte das Theater als Abfolge von Bildern, von Tableaus. Roland Barthes hat dies in „Diderot, Brecht, Eisenstein“ als Brechts „dioptrische Kunst“ bezeichnet, als Kunst, fein säuberliche Rahmen zu setzen. Von daher stamme die Verwandtschaft des epischen Theaters zum Film. Bei Brecht sei – und das mache ihn zum Erben Diderots – „das perfekte Stück […] eine Abfolge von Bildern, das heißt eine Galerie, eine Ausstellung“ (Barthes 1990, S. 95). Brecht forcierte in Zusammenarbeit mit seinem Szenografen Caspar Neher dieses Vorgehen, indem er die Bühne in zwei oder mehr Bühnenbilder aufteilte: Im Vordergrund fand sich ein – häufig mit leichten Wänden oder einem Flattervorhang begrenzter – Raum, im Hintergrund brachte Neher seine berühmten großflächigen, gemalten oder projizierten Bilder an, die

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Prothesen umfunktionieren 2 als Kommentar des Bühnengeschehens fungierten. Zur Uraufführung der Dreigroschenoper bildete eine riesige Jahrmarktsorgel, in deren Inneren sich die Musiker befanden und die buntleuchtend zum Leben erwachte, sobald ein Song gespielt wurde, den Bühnenhintergrund. Flankiert wurde die Orgel von zwei „riesigen Leinwandtafeln in roten Samtrahmen aufgestellt, auf welchen die Neherschen Bilder projiziert waren“ (Brecht 2004, S. 106). In der Peachum-Szene wurde zudem der Eindruck einer Ausstellung durch die Vitrinen (oder Schaufenster) mit den fünf Grundtypen des Elends genährt. Brecht bemerkte zur Pariser Aufführung: „Auf einer kleinen, flachen Staffelei standen einzelne zerlumpte Schuhe, ebenfalls nummeriert wie Modelle, die man sonst in Museen unter Vitrinen sieht.“ (Ebd., S. 107) Barthes’ spätere Zweifel an Brechts Einsatz des „Zeigens des Zeigens“, den er in früheren Texten als „Verwackelung der Zeichen“ beschrieben und als vorbildlich für eine nicht-repräsentative Kunst eingeschätzt hatte (vgl. Neumann 2003), entzünden sich genau an dieser Verwandlung eines Kontinuums in ein Bild. Als Ausschnitt sei das Bild ein Fetisch, der der abendländischen Tendenz zur Geometrisierung und Diskretisierung des Erlebens entspreche. Dem setzt Barthes das Kontinuum der Musik und des Texts entgegen. Das Einrichten des Bildes mit auszustellen bewirke zwar einen Bruch mit der Selbstverständlichkeit des eingerichteten und codierten Sichtraums, Brecht verbleibe aber dennoch in der Welt der diskreten Bildfolgen. Anders gesagt: Die Kritik des Tableaus durch mediale Selbstthematisierung ist noch keine andere Welt, entspricht auch nicht dem Anspruch an die Künste, aisthetisch Grundstürzendes zu provozieren. Was macht diese Tendenz zum Tableau mit dem Körper auf der Bühne? Sie ordnet ihn nach dem Modell der porträtierten Gestalt. Das gilt auch noch für die Montage. Barthes schreibt: „Die durch die Montage angeordneten und gleichsam magnetisch aufgeladenen Organe funktionieren im Namen einer Transzendenz, der der Gestalt.“ (Barthes 1990, S. 96) Diese ordnet den Körper auf eine Ganzheit hin, die wiederum Diderot als diejenige der organisch geordneten „Gliedmaßen bei einem Tierkörper“ beschrieben hat (Diderot zit. n. ebd.). Trifft dies aber auf die Körper Brechts zu? Finden sich in der Dreigroschenoper nicht viele jener von Barthes so favorisierten „Teilorgane“, die eine „Eindämmung des metaphysischen Sinns des Werks“ gewährleisten

2

Zu Nehers zentraler Rolle für das Brecht’sche Theater vgl. Tretow 1997.

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(ebd.)? Das Ausstellen unversehrter, ganzer, souveräner Körper ist Brechts Sache nicht. Seine Zerlegungsarbeit und die anschließende Synthetisierung von möglichst prägnanten gestischen Chiffren zielt jedoch auf eine Totalität, nämlich die von sozialen Beziehungen. Brechts „Gestus“ (Brecht 1967, S. 752f.) knüpft an Lessings „prägnanten Augenblick“ an; er bleibt didaktisch und auf ein soziales Ganzes bezogen. Diese Geste sei jedoch – so Barthes – so lange erforderlich, wie die Gesellschaft noch unfertig sei. Das Ganze der Gesellschaft ist eben genau das Unfertige, das Fragment, die Durchgangsstation. Erst nach der Aufhebung sozialer Widersprüche – ein seltener messianischer Zug bei Barthes – komme die Zeit ohne Fetische, ohne Bilder, ohne Geometrie, ohne Tableaus, ohne Gestalten: eine utopische Zeit des Sounds und des textuellen Kontinuums. Die analytische Zersplitterung und Montage von Körpern ist demnach ein notwendiges Übergangsmodell. Es ist ein Indiz für die Notwendigkeit der Arbeit am Gesellschaftskörper, ein Symptom unabgeschlossener Geschichtsprozesse. Die Körper der Kriegsversehrten rumoren in der Originalfassung der Dreigroschenoper von 1928, sie sind aber halbwegs stabilisiert als Bilder. Sind die realen Körper jedoch im Publikum zu präsent – wie 1949 –, erscheint ihre Bild-Werdung unangemessen. In der Dreigroschenoper werden den Schauspielerkörpern künstliche Gliedmaßen an die Seite gestellt, um ihre Körperlichkeit zu denaturieren, besser gesagt: um jeden Naturalisierungseffekt zu unterbinden. Das heißt auch, die schauspielerische Verkörperung von Rollen zu verhindern und einen Gestus statt einer Rolle zu entwickeln. Die Prothesen und Krücken sollten die Artifizialität und Gemachtheit von Körperlichkeit herausstellen. Die Methoden des Ausstellens der Gemachtheit körperlicher Habitualisierungen werden in Brechts Theaterschriften unter dem Stichwort „Arbeit am Gestus“ verhandelt. Es geht darum, einen Gestus zu isolieren, zu formalisieren und vorzuführen. In Mann ist Mann (Uraufführung 1926) wird nun das Ummontieren eines Menschen praktisch und thematisch. Erzählt wird die Geschichte des Umbaus des unschuldigen Packers Galy Gay in eine martialische Kriegsmaschine. In der ersten Berliner Aufführung von 1931 wurde er von Peter Lorre gespielt, der noch im selben Jahr mit Fritz Langs M seinen Durchbruch als Filmschauspieler feierte. Die Rahmenhandlung ist in einem Camp der englischen Armee in Indien angesiedelt, knapp vor dem Abmarsch in Richtung der tibetanischen Bergfestung El Dchowr. Galy Gay wird im Verlauf des Stücks mittels diverser Tricks zu einem Soldaten

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umgebaut. In einem Zwischenspruch der Witwe Begbick wird die Programmatik des Stücks kurz und bündig dargelegt: Herr Bertolt Brecht behauptet: Mann ist Mann. Und das ist etwas, was jeder behaupten kann. Aber Herr Bertolt Brecht beweist auch dann Daß man mit einem Menschen beliebig viel machen kann. Hier wird heute abend ein Mensch wie ein Auto ummontiert Ohne daß er irgend etwas dabei verliert. […] Herr Bertolt Brecht hofft, Sie werden den Boden, auf dem Sie stehen Wie Schnee unter Ihren Füßen vergehen sehen. (Brecht 1968, S. 44f.) Das abendländische Subjekt verschwindet hier nicht im Sand am Meeresstrand, sondern seine Voraussetzungen schmelzen unter den Füßen weg. Und wie bei Michel Foucault ist deshalb nicht unbedingt Trauerarbeit angesagt, denn es geht nichts sonderlich Wertvolles verloren. Die Transformation Galy Gays durchläuft verschiedene Phasen und findet in einer fingierten Verkaufsszene ihren Höhepunkt, die wiederum als Theater im Theater inszeniert ist: Galy Gay wird von der Maschinengewehr-Abteilung dazu verführt, einen gefälschten weißen Elefanten aus Armeebeständen zu verkaufen. Der Elefant ist eine wirklich schlechte Fälschung: Er besteht aus mit Leintüchern verkleideten Soldaten, die mit einem Eimer Wasser Körperfunktionen imitieren. Das Kalkül geht dennoch auf, da Galy Gay „jede Bierflasche für einen Elefanten halten würde, wenn einer mit dem Finger darauf deutet und sagt: ich bin Käufer für diesen Elefanten“ (ebd., S. 47). Wie die Logik des Mehrwerts aus dem gefälschten Elefanten eine echte Ware macht, wird aus dem gefälschten Jeraiah Jip (jener Soldat, den Galy Gay verkörpert) ein echter, einer, der Galy Gay eigenhändig begräbt und am Ende zu einer menschlichen Kampfmaschine mutiert, die im Alleingang eine tibetanische Bergfestung einnimmt. Die Frage nach der Herstellung von Subjektivität und Identität verlagert das Stück an die Körpergrenzen. Statt vorgeführter Introspektion wird die Verwunderung Galy Gays ob seiner neuen Identität mittels Selbstbesichtigung aufgeführt. Als zukünftiger Teilnehmer seines eigenen Leichenzugs wird Galy Gay als Jip adressiert und akzeptiert die neue Identität ohne Widerrede. Ich-Schrumpfung ist das Programm.

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JESSE: Ist das nicht Jip? Jip, du mußt gleich aufstehen und bei dem Begräbnis dieses Galy Gay die Leichenrede halten, denn du hast ihn doch gekannt, besser als wir vielleicht. GALY GAY: Hallo, seht ihr mich denn überhaupt, wo ich bin? Jesse zeigt auf ihn. Ja, das stimmt. Was mache ich denn jetzt? Er beugt den Arm. JESSE: Du beugst den Arm. GALY GAY: Jetzt habe ich also zweimal den Arm gebeugt. Und jetzt? JESSE: Jetzt gehst du wie ein Soldat. GALY GAY: Geht ihr auch so? JESSE: Genau so. (Ebd., S. 66) In dieser Szene wird Subjektivierung als Anrufung und Performanz inszeniert. In seiner Leichenrede auf sich selbst behandelt Galy Gay das Problem der Selbstgewissheit im Bild der Frage nach der Zugehörigkeit von Körperteilen, der Zugehörigkeit eines abgehackten Arms: Woran erkennt der Galy Gay, daß er selber Der Galy Gay ist? Würd abgehackt sein Arm ihm Und fände er ihn in einem Mauerloch Würd Galy Gays Aug erkennen Galy Gays Arm Und Galy Gays Fuß ausrufen: dieser ist’s? (Ebd., S. 68) Das Ich gewährleistet keine interne Referenz. Wie der Körper zerfällt das Bewusstsein in Teile, die nichts voneinander wissen. Im Umkehrschluss heißt das aber: Nur in Sprachspielen und wechselseitiger Besichtigung entsteht dieses Ich, nur diese garantieren den Zusammenhalt. Nun braucht es nur noch die Blechmarke mit Namen und Nummer und fertig ist der „Neue Mensch“, mit dem sich trefflich Schlachten gewinnen lassen. Mann ist Mann ist typisch für die in der Zwischenkriegszeit wachsenden Zweifel am bürgerlichen Subjektivierungsmodell und weist diesbezüglich

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Ähnlichkeit zu aktuellen, dekonstruktivistischen Subjekttheorien auf. Der neue „Ichbautyp“ (Robert Musil) der Außensteuerung wird in Brechts Stück fein säuberlich zubereitet und in einem puppenhaften Körper ins Bild gesetzt (vgl. Lethen 1994). Mann ist Mann ist eine Groteske, eine Art Marionettentheater mit Menschen. Die Geschichte der Austauschbarkeit des einen durch den anderen wird eingerahmt durch Slapstick, übertriebene Kostüme, Schlager etc. Die Aufführungsdokumentation der Berliner Inszenierung von 1931 zeigt die karikaturistische Kostümierung der Soldaten, die wie aus einer Schmierenkomödie oder dem Kasperletheater wirken. Die überzeichneten Konturen der Körper auf der Bühne verkünstlichen die Bewegungen der Schauspieler. Ihre Oberkörper und Schultern sind aufgepolstert, zwei gehen auf Stelzen, sie tragen falsche Bärte und Nasen. Einzig die von Peter Lorre gespielte Doppelfigur Galy Gay/Jeraiah Jip bekommt keine Körperextensionen und wirkt daher besonders klein, ja mickrig. Das Stück führt damit eine Einschrumpfung jener Ich-Anteile vor, die an der alltäglichen Aufführung von Gruppenidentität nicht teilhaben, und betreibt eine Aufplusterung der sozialen Geste: Alles ist hier Kostüm, Schminke, Außenwirkung. Als Teil seiner Transformation zu Jeraiah Jip schminkt sich Lorre auf offener Bühne um, erst als Maskenträger wird er zum Mitspieler. Günther Heeg hat eine Lesart des Körpers in Brechts Theater vorgeschlagen, die mir mit Blick auf eine prothetische Logik von Mann ist Mann plausibel scheint und mit Barthes’ Lesart kompatibel ist. Seine These ist, dass Brechts Ästhetik auf der Auszehrung des biologischen Körpers beruht. Der „Entwurf eines theatralen Ersatzkörpers“ diene ausschließlich der Hervorbringung von Bildern. Dabei führe Brecht eine „Attacke gegen den naturalistisch in seine Textrolle sich einfühlenden Schauspieler“ (Heeg 2003, S. 142), die auch eine Attacke gegen die Theologie („Das Wort ist Fleisch geworden“) des bürgerlichen Theaters sei. Die Verdopplung von Sinn in Wort und Geste, die Übertreibung, die Wiederholung, das Ausstellen des Köpers als Bild – das alles seien Mittel, um den zeigenden Körper als kritischen Impulsgeber zu kreieren. Gleichzeitig betreibe Brecht in seiner Bildmachung des Körpers eine „Abtötung des Lebendigen“ (ebd., S. 145). Von der Bühne verschwinde alles, was der lebendige Leib in seiner Präsenz an überdiskursiven Regungen produziere, alles, was nicht zur Gesamtkomposition beitrage. Deshalb gehe in die Arbeit am Gestus „eine verdeckte Geste schamhafter Bedeckung ein“, die Geste

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des Bedeckens all jener Körperregungen, die sich nicht in die Gesamtkonzeption integrieren lassen (ebd., S. 144). Mann ist Mann lässt sich so als eine Moritat auf die Abtötung des Unerwarteten und Spontanen in der Theaterarbeit lesen. Diese Arbeit am Stillstand lässt sich für Mann ist Mann gut nachvollziehen. Denn im Bertolt-Brecht-Archiv existiert ein Film, mit dem Brecht die Aufführung (vermutlich eine späte Probe) dokumentieren 3 ließ. Ein gesamter Durchlauf wurde in Einzelbildschaltungen festgehalten. Die überlieferte Fassung zeigt das Stück aus einer einzigen Perspektive. Es wird nicht geschnitten und es werden keine filmischen Mittel im engeren Sinn verwendet. Festgehalten wird der prototypische Blick eines Zusehers auf die Bühne. Die Einzelbilder wurden im Anschluss auf 4 Papier abgezogen und in einem Modellbuch sequenziell angeordnet. Das Modellbuch sollte als Anleitung für zukünftige Aufführungen verwendet werden, sollte visuelle Passformen für zukünftige Inszenierungen zur Verfügung stellen. Es ging Brecht also nicht um eine Dokumentation der Theaterarbeit mit ihren Kapriolen und Volten, sondern um die Isolierung von exemplarischen Tableaus. Die Körper fielen in diesem Fall zweifach einer Mortifikation anheim: Zuerst wurden sie auf der Bühne zu Bildern angeordnet und dann wurden sie auf Fotofilm gebannt, um zukünftigen Aufführungen als Muster zu dienen (vgl. ebd., S. 145). Was auf der Ebene der Narration von Mann ist Mann stattfindet, verdoppelt sich in der Probenarbeit Brechts. Es findet die Umwandlung eines sinnlichen Körpers (Galy Gay zieht zu Beginn aus, um einen Fisch zu kaufen) in eine der Vorführung von Bedeutung dienende „Maschine“ statt. Es ist wahrscheinlich dem Bühnenbildner Caspar Neher zu verdanken, dass das epische Theater mehr war als eine Maschine zum Dirigieren von Ersatzkörpern. Seine Szenenskizzen aus feinen, zerrinnenden Tuschestrichen, seine Vorliebe fürs Improvisierte und Vorläufige – die Gestelle und Zeltstädte auf der Bühne – erinnerten in Brechts rigidem Theater der Typen und Gesten daran, dass das, was zu sehen ist, auch anders sein könnte. Durch die Art und Weise seines Bühnenbaus wurde wahrnehmbar, dass das jeweilige Tableau gebaut worden war und dass es jederzeit wieder abgebaut werden konnte. Die Funktion, die in der 3 Davon existiert eine Filmkopie auf DVD, Akademie der Künste, Bertolt-Brecht-Archiv Berlin, Signatur: BBA AVM (DVD) 040. 4 Modellbuch zu Mann ist Mann (1931), Akademie der Künste, Bertolt-Brecht-Archiv Berlin, Signatur: BBA 2008 B 654.

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1 Bertolt Brecht, Seite vom 22. November 1941 aus dem Arbeitsjournal

Dreigroschenoper von Peachums Krüppelladen, den exponierten Krücken und Prothesen erfüllt wurde, übernahm in späteren Aufführungen das Neher’sche Proszenium: ein Marker für den stets wackligen Charakter der Konstruktionen (Barthes’ „verwackelte Zeichen“) zu sein. Die Tableau-Werdung des Körpers, die Umwandlung des sinnlichen, des leidenden Prothesenkörpers in eine Allegorie der künstlichen, der außengeleiteten Existenz, die Verzeichnung des Kriegsversehrten zum sozialen Gestus: Dies alles wollte – wie eingangs erwähnt – in Brechts Wahrnehmung nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr so recht passen. Das Misstrauen den Kriegsversehrten-Bildern gegenüber hatte wohl auch mit der politischen Recodierung des Kriegsversehrten im Nationalsozialismus zu tun. Die NSDAP adressierte bekanntlich die Veteranen als diejenigen, die sich für die Nation geopfert hatten, und konnte viele von ihnen als Unterstützer gewinnen. Brecht hatte eine klare Sichtweise auf diese „Umfunktionierung“ von Verwundungen in Ehrenzeichen. Akkurat unter einem Eintrag zu Clarence Muses Bearbeitung der Dreigroschenoper vom 22. November 1941 ist im Arbeitsjournal (Brecht 1977) der in der Abb. 1 abgedruckte Zeitungsausschnitt eingeklebt. Gezeigt wird eine Ansprache Hitlers an die „alten Kameraden“. Die Krücken sind deutlich als Ehrenzeichen ins Bild gerückt. Es ist gut vorstellbar, wie Brecht im Exil beim Anblick solcher Bilder Zweifel an der eigenen allegorisch-ironischen Verwendung von Prothesen und Krücken kamen. Bereits im Februar 1942 ist aber wiederum eine solche Verwendung dokumentiert. Eine Strecke von mehreren Seiten des Arbeitsjournals füllt Brecht mit Bildern von einer pazifistischen Protestaktion gegen eine als zynisch wahrgenommene Geste des US-Kongresses. Dieser hatte, um

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2 Bertolt Brecht, Seite vom 25. Februar 1942 aus dem Arbeitsjournal

sich mit der unter Kriegsentbehrungen leidenden Bevölkerung solidarisch zu zeigen, auf eine Monatspension verzichtet. Bürger packten daraufhin Care-Pakete mit Nahrungsmitteln und Kleidung für die „armen Abgeordneten“ und versahen die Gaben mit bissigen Kommentaren. Eines der Bilder (Abb. 2) zeigt eine Prothese und ein Schild, das den Volksvertretern bescheinigte: „They haven’t a leg to Stand On!“ Im (durch den Ausschnitt etwas verstümmelten) Untertitel „gifts were not very subtle. Even a congressman could catch on to this one“ mag sich 5 Brechts eigene, von Walter Benjamin im positiven Sinn „plump“ genannte Vorgehensweise spiegeln, die einen direkten Durchgriff ästhetischer Formen auf eine politische Praxis vor Augen hatte. Die Arbeit am Gestus war eine der zentralen Strategien Brechts in dieser Hinsicht. Das ostentative Vorzeigen von Krücken und Prothesen, das nach dem Ersten Weltkrieg noch Teil des Repertoires des Kampfes um Anerkennung der Veteranen des ganzen politischen Spektrums war, ihre Indienstnahme als Ehrenzei-

5 Die viel kommentierte Stelle stammt aus einem Kommentar zum Dreigroschenroman: „Es gibt viele Leute, die unter einem Dialektiker einen Liebhaber von Subtilitäten verstehen. Da ist es ungemein nützlich, daß Brecht auf das ‚plumpe Denken‘ den Finger legt, welches die Dialektik als ihren Gegensatz produziert, in sich einschließt und nötig hat. Plumpe Gedanken gehören gerade in den Haushalt des dialektischen Denkens, weil sie gar nichts anderes darstellen als die Anweisung der Theorie auf die Praxis. Auf die Praxis, nicht an sie: Handeln kann natürlich so fein ausfallen wie Denken. Aber ein Gedanke muß plump sein, um im Handeln zu seinem Recht zu kommen.“ (Benjamin 1971, S. 90f.).

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chen der „alten Kameraden“ seitens der NSDAP sowie das ironische Spiel mit Bedeutungen in der US-Protestaktion: Zwischen diesen drei Einsätzen von Prothesen spannen sich die theatralen Instrumentalisierungen des versehrten Körpers in der Dreigroschenoper auf. Gerade weil die Prothese ein tragischer „Restbestand des Kältepanzers der soldatischen Persona“ ist (Lethen 1994, S. 246), das Symptom eines unerledigten Traumas, lässt sie sich nicht zum eindeutigen ideologischen Gebrauch umfunktionieren, sondern schillert endlos zwischen Ressentiment und Emanzipation, zwischen rechts und links, zwischen Einspruch und Affirmation.

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Literatur Barthes 1990 Barthes, Roland: Diderot, Brecht, Eisenstein (1973), in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, übers. v. Dieter Horning, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 94–110. Benjamin 1971 Benjamin, Walter: Brechts Dreigroschenroman: Plumpes Denken (1960), in: ders.: Versuche über Brecht, hg. und mit einem Nachwort versehen von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971, S. 90–91. Brecht 1967 Brecht, Bertolt: Neue Technik der Schauspielkunst: Gestik (1940), in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 16: Schriften zum Theater II, hg. in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967, S. 752–753.

Neumann 2003 Neumann, Gerhard: Roland Barthes’ Theorie des Deiktischen, in: Dieter Mersch (Hg.): Die Medien der Künste. Beiträge zu einer Theorie des Darstellens, München: Fink 2003, S. 53–74. Tretow 1997 Tretow, Christine: ‚Geschärfter Blick‘ und ‚Innere Schau‘. Grundlagen der Entwicklung der Neherschen Bühne, in: dies.; Helmut Gier (Hg.): Caspar Neher – Der größte Bühnenbauer der Welt, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1997, S. 36–60.

Abbildungsnachweis Abb. 1: Brecht 1977, S. 322 Abb. 2: Brecht 1977, S. 377

Brecht 1968 Brecht, Bertolt: Mann ist Mann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968. Brecht 1977 Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal 1938–1955, Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag 1977. Brecht 2004 Brecht, Bertolt: Die Dreigroschenoper. Der Erstdruck 1928, mit einem Kommentar von Joachim Lucchesi, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004. Harrasser 2016 Harrasser, Karin: Prothesen. Figuren einer lädierten Moderne, Berlin: Vorkwerk 8 2016. Heeg 2003 Heeg, Günther: ‚Jeder Blick für die Bühne muss ein sehenswertes Bild fassen.‘ Der Körper der Brecht-Szene zwischen Text und Tableau, in: Dieter Mersch (Hg.): Die Medien der Künste. Beiträge zu einer Theorie des Darstellens, München: Fink 2003, S. 139–150. Lethen 1994 Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994.

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Kurzbiografien Sigrid Adorf ist Professorin für Zeitgenössische Kunst und Kulturanalyse an der Zürcher Hochschule der Künste und leitet zus. mit Sigrid Schade das Institute for Cultural Studies in the Arts. Forschungsschwerpunkte: Kunst als Kulturanalyse/Visual Cultural Studies; Repräsentationstheorie/-kritik, Bild- und Medientheorie; Gegenwartskunst. Sie ist Mitherausgeberin von FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur (fkw-journal.de); Publikationen (Auswahl): Is it now? Gegenwart in den Künsten, hg. zus. mit Sabine Gebhardt Fink, Steffen Schmidt und Sigrid Schade, hgkz Zürich 2006; Operation Video. Eine Technik des Nahsehens und ihr spezifisches Subjekt: die Videokünstlerin der 1970er Jahre, Bielefeld: transcript 2008; Adorf, Sigrid: „Übersetzen“, in: Badura, Jens et  al. (Hg.): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin: Diaphanes 2015, S. 215–218; „‚[E]ine echte, erfahrene Metapher‘ – ‚in welchem Medium oder welcher Form auch immer‘. Denkbilder zur Verschränkung von Erzählung und Erfahrung und ihre politische Bedeutsamkeit“, in: figurationen, Nr. 1, 2017, S. 32–51; „Offscreen – Wenn Bilder jenseits ihrer Ränder zurückblicken“, in: Christiane Kruse; Birgit Mersmann (Hg.): Images as Agents, München: Fink (im Erscheinen). Mieke Bal ist Kulturtheoretikerin, Kritikerin und Videokünstlerin. Von 1987 bis 1996 hatte sie verschiedene Professuren an der University of Rochester inne (Visual and Cultural Studies, Semiotics and Women’s Studies u. a.) und von 1991 bis 2011 war sie Professorin für Literaturtheorie an der Universität von Amsterdam sowie seit 2005 an der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften (KNAW). Sie war Gründungsdirektorin der Amsterdam School for Cultural Analysis (ASCA), 1993–1998, deren Mitglied sie noch immer ist. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Konzepte („travelling concepts“) in den Kunst- und Kulturwissenschaften (wie Performativität und Subjektivität, Semiotik, Psychoanalyse, „preposterous history“ u.  a.), politische Kunst und die ästhetische Frage von Film als Analyse. Publikationen (Auswahl): Trilogie zu politischer Kunst: Endless Andness.The Politics of Abstraction According to Ann Veronica Janssens und Thinking in Film. The Politics of Video Installation According to Elija-Liisa Ahtila, beide London/New York: Bloomsbury 2013; Of What One Cannot Speak. Doris

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Salcedo’s Political Art, Chicago/London: The University of Chicago Press 2010. Darüber hinaus: A Mieke Bal Reader, Chicago/London: The University of Chicago Press 2006. Ihr Videoprojekt Madame B mit Michelle Williams Gamaker wurde mehrfach international ausgestellt. Ihr jüngster Film Reasonable Doubt zu René Descartes und Christina von Schweden hatte 2016 Premiere in Krakau. Weitere Informationen: www.miekebal.org. Kerstin Brandes verwaltet seit 2016 die Professur für Kunstgeschichte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; zuvor ebendort Verwaltung der Professur für Theorie und Geschichte gegenwärtiger Medien; Gastprofessur Universität der Künste Berlin; Vertretung Juniorprofessur für Mediengeschichte Universität Paderborn; Arbeitsschwerpunkte: Kunstwissenschaften des 19. bis 21. Jahrhunderts; Geschichte und Theorie der Fotografie; Interdependenzen von Kunst- und Medienwissenschaft; Bildmigrationen und Transkulturalität; kulturwissenschaftliche Gender und Queer Studies, Postcolonial Studies, Animal Studies. Seit 2005 ist sie Mitherausgeberin von FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur. Publikationen u. a.: Fotografie und „Identität“ – Visuelle Repräsentationspolitiken in künstlerischen Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre, Bielefeld: transcript 2010; Visuelle Migrationen der Hottentotten-Venus – Zum Entwurf einer Forschungsperspektive, in: Annika McPherson et al. (Hg.): Wanderungen. Migrationen und Transformationen aus geschlechterwissenschaftlichen Perspektiven, Bielefeld: transcript 2013; „You thrive on mistaken identity“ – Bilderpolitik, visuelle Handlungsfähigkeit und die Ent/Fixierung des Anderen, in: Ilka Becker et  al. (Hg.): Fotografisches Handeln, Marburg: Jonas 2016. Vera Frenkel ist multidisziplinäre Künstlerin, sie lebt und arbeitet in Toronto. Ihre Installationen, Performances, Videos und Multimedia-Projekte wurden an zahlreichen Orten gezeigt, darunter an der documenta IX, Kassel; der Biennale Venedig; im Offenen Kulturhaus Linz, im Museum of Modern Art, New York; im Setagaya Art Museum, Tokyo; auf einer Ausstellungstour des Riksutställningar in mehreren Museen in Skandinavien und Polen, in der Gesellschaft für aktuelle Kunst Bremen, der Power Plant Contemporary Art Gallery, Toronto; der National Gallery of Canada, Ottawa und im Salzbergwerk in Altaussee. Sie wurde vielfach mit Preisen ausgezeichnet, wie dem Governor General’s Award in Visual and Media Arts, Canada Council for the Arts’ Molson Prize, Gershon Iskowitz Prize, Toronto Arts Foundation Visual Arts Award und Bell Canada Award in Video Art. Sie ist emeritierte

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Professorin an der York University, Faculty of Fine Arts, in Toronto. Darüber hinaus war sie Gastprofessorin, Artist in Residence und Visiting Speaker an Universitäten und Museen in Europa und Nordamerika. Vera Frenkels Arbeiten – darunter: …from the Transit Bar 1992 ff., Body Missing 1994, die Body Missing Website 1995 und The Blue Train 2011ff. – beschäftigen sich mit Fragen von Macht, politischer Gewalt und Migration, mit dem Lernen und Verlernen kultureller Erinnerung sowie mit der zunehmenden Bürokratisierung von Erfahrung. Arbeiten im Internet: http://www.yorku.ca/BodyMissing und https://www.bodymissing-altaussee.org Publikationen u. a.: Vera Frenkel (dt./engl.), hg. v. Sigrid Schade, Ostfildern: Hatje Cantz 2013; Points of Departure: Vera Frenkel: Words and Works, hg. v. Jonathan Shaughnessy und David Liss, Black Dog Publishing London UK 2016. Sabine Gebhardt Fink ist Professorin für Gegenwartskunst an der Hochschule Luzern – Design & Kunst und Leiterin des Master of Arts in Fine Arts (Art in Public Spheres, Critical Image Practices und Art Teaching). Studium der Kunstwissenschaft, Philosophie und Neueren deutschen Literaturwissenschaft an den Universitäten München und Basel, Promotion an der Universität Basel (2003) zu „Transformation der Aktion“. Sie war Post-Doc am Institute for Cultural Studies in the Arts an der Zürcher Hochschule der Künste und Dozentin für Gegenwartskunst an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Performance-Kunst und -theorie, Gegenwartskunst, Intermedialitätskonzepte, Ausstellungsdisplays. Mit Muda Mathis und Margarit von Büren ist sie Co-Herausgeberin der Webpublikation Performance Chronik Basel. Seit 2018 ist sie Mitglied der Forschungsgruppe „Networking Histories of Performance Art“ mit Heike Roms u.a. Publikationen (Auswahl): Process – Embodiment – Site, Wien: Passagen Verlag 2012; „Floating Gaps“, in: Carola Dertnig et al. (Hg.): Performing the Sentence, Wien: Sternberg Press 2014; „Art Teaching als kritische Praxis“, Co-Autorschaft mit Peter Spillmann u. a., in: Gila Kolb; Torsten Meyer (Hg.): What’s Next. Art Education. Ein Reader, München: kopaed 2015; Performance Chronik Basel, Aufzeichnen und Erinnern, hg. mit Muda Mathis und Margarit von Büren, Zürich/Berlin: Diaphanes 2016; „Queer and feminist strategies in performance/art today“, in: Muda Mathis; Andrea Saemann; Chris Regn (Hg.): Performance Art Roll On, Basel 2018; Artistic Education, hg. zus. mit Wolfgang Brückle, Luzern. Insa Härtel ist Professorin für Kulturwissenschaft mit Schwerpunkt Kulturtheorie und Psychoanalyse an der International Psychoanalytic Uni-

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versity Berlin (IPU). Forschungsschwerpunkte: Konzeptionen kultureller Produktionen, Transformationen, Konflikte; Raum/Phantasmen; psychoanalytische Kunst- und Kulturtheorie; Geschlechter- und Sexualitätsforschung. Publikationen (Auswahl): B – Blickfänger (zu Gerhard Richter, Betty, 1977), zus. mit Karl-Josef Pazzini, Hamburg: Textem 2017 (Reihe Kleiner Stimmungs-Atlas in Einzelbänden); Kinder der Erregung. „Übergriffe“ und „Objekte“ in kulturellen Konstellationen kindlich-jugendlicher Sexualität, unter Mitarbeit von Sonja Witte, Bielefeld: transcript 2014; Symbolische Ordnungen umschreiben. Autorität, Autorschaft und Handlungsmacht (Habilitationsschrift), Bielefeld: transcript 2009. Weitere Informationen: https:// www.ipu-berlin.de/hochschule/wissenschaftler/profil/haertel-insa.html. Karin Harrasser ist Professorin für Kulturwissenschaft an der Kunstuniversität Linz. Nach einem Studium der Geschichte und der Germanistik erfolgte die Dissertation an der Universität Wien und die Habilitation an der Humboldt-Universität zu Berlin. Neben ihren wissenschaftlichen Tätigkeiten war sie an verschiedenen kuratorischen Projekten beteiligt, z. B. nGbK neue Gesellschaft für bildende Kunst Berlin, Kampnagel Hamburg, TQ Wien. Forschungsschwerpunkte: Körper-, Selbst- und Medientechniken; Wissen und Evidenz; Prozesse der Verzeitlichung; Theorien des Subjekts/der Objekte; Populärkultur/Science Fiction; Geschlecht und Agency; Genres und Methoden der Kulturwissenschaft. Mit Elisabeth Timm gibt sie die Zeitschrift für Kulturwissenschaften heraus. Publikationen (Auswahl): Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen, Bielefeld: transcript 2013; Prothesen. Figuren einer lädierten Moderne, Berlin: Vorwerk 8 2016; Auf Tuchfühlung. Eine Wissensgeschichte des Tastsinns, Frankfurt a. M.: Campus 2017. Kathrin Heinz ist Kunstwissenschaftlerin. Sie ist Leiterin und Geschäftsführerin des Mariann Steegmann Instituts. Kunst & Gender (MSI) und Leiterin des Forschungsfeldes wohnen +/– ausstellen und Mitherausgeberin der gleichnamigen Schriftenreihe (transcript) in der Kooperation des Instituts für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik an der Universität Bremen mit dem MSI. Forschungsschwerpunkte: Kunst- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Konzeptionen von Künstler- und Autorschaft in der Moderne, Geschlechterforschung. Seit 2005 ist sie Mitherausgeberin der Fachzeitschrift FKW// Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur. Publikationen (Aus-

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Kurzbiografien

wahl): Heldische Konstruktionen. Von Wassily Kandinskys Reitern, Rittern und heiligem Georg, Bielefeld: transcript 2015; Matratze/Matrize. Möblierung von Subjekt und Gesellschaft. Konzepte in Kunst und Architektur, hg. zus. mit Irene Nierhaus, Bielefeld: transcript 2016 (wohnen+/–ausstellen, Bd. 3). Kornelia Imesch ist Professorin für moderne und zeitgenössische Kunst und Architektur an der Universität Lausanne. 2009–2012 führte sie zusammen mit Sigrid Schade das dreijährige SNF-Forschungsprojekt zu „Kunst, Kunstbetrieb und Wissensgesellschaft Schweiz. Konstruktionen kultureller Identität in der Schweizer Filmwochenschau 1940–1975“ durch. Ihr kürzlich abgeschlossenes SNF-Sinergia-Forschungsprojekt widmet sich den in Entstehung befindlichen neuen Kunstzentren in Dubai, Abu Dhabi und Doha. Publikationen (Auswahl): Mit Klios Augen. Das Bild als historische Quelle (Artificium, 45), hg. zus. mit Alfred Messerli, Oberhausen: Athena 2013; 56; Utopia and the Reality of Urbanism. La Chaux-de-Fonds – Chandigarh – Brasilia, Gollion: Infolio 2014; 永恒的瞬间 Hannes Schmid. Momentous, Ausst.-Kat., Today Art Museum Bejing, hg. zus. mit Juerg Wey, Shijiazhuang/Bejing: Hebei Fine Arts Publishing House 2014; Constructions of Cultural Identities in Newsreel Cinema and Television after 1945, hg. zus. mit Sigrid Schade und Samuel Sieber, Bielefeld: transcript 2016; Transdisziplinarität in Kunst, Design, Architektur und Kunstgeschichte, hg. zus. mit Karin Daguet, Jessica Dieffenbacher und Deborah Strebel, Oberhausen: Athena, 2017; Authenticity and Cultural Translation in the Global City and Community: the Case oft he Greater Middle East (in Druckvorbereitung). Carmen Mörsch ist Professorin für Kunstdidaktik an der Kunsthochschule Mainz. Forschungsschwerpunkte: Kulturvermittlung als hegemoniekritische und künstlerische Praxis sowie Geschichte der Bildung in den Künsten in einer postkolonialen und queer-feministischen Perspektive. 2008–2019 Professorin für Kunst- und Kulturvermittlung und Leiterin des Institute for Art Education (IAE) an der Zürcher Hochschule der Künste. 2004–2008 Juniorprofessorin für Materielle Kultur und ihre Didaktik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Mitglied des internationalen Netzwerks Another Roadmap for Arts Education. Publikationen (Auswahl): Die Bildung der A_n_d_e_r_e_n mit Kunst: eine postkoloniale und feministische historische Kartierung der Kunstvermittlung. Wien: zaglogssus 2019; bis Frühjahr 2019 Herausgeberin des E-Journals Art Education Research (https://www.zhdk.ch/ forschung/iae/e-journal-art-education-research-975); KUNSTVERMITT-

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LUNG 1, hg. zus. mit Ayse Güleç u.  a. und KUNSTVERMITTLUNG 2, hg. zus. mit dem Forschungsteam der documenta 12, beide Berlin: diaphanes 2009; Kunstvermittlung in Transformation, hg. zus. mit Bernadett Settele, Zürich: Scheidegger & Spiess 2012; Ausstellen und Vermitteln im Museum der Gegenwart, hg. zus. mit Angeli Sachs und Thomas Sieber, Bielefeld: transcript 2016; Kunstvermittlung zeigen/Representing Art Education, hg. zus. mit Sigrid Schade und Sophie Vögele, Wien: zaglossus 2017. Irene Nierhaus ist Professorin für Kunstwissenschaft und Ästhetische Theorie an der Universität Bremen. Sie ist Leiterin des Forschungsfeldes wohnen+/–ausstellen und des Mariann Steegmann Instituts. Kunst & Gender in Kooperation mit dem Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik. Forschungsschwerpunkte zur visuellen und räumlichen Kultur, insbesondere zu Beziehungen zwischen Kunst, Architektur und bildnerischen Medien des 19. und 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Mitherausgeberin der Schriftenreihe wohnen+/–ausstellen bei transcript, Bielefeld, und seit 2013 Beirat FKW//Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur. Publikationen (Auswahl): Landschaftlichkeit zwischen Kunst, Architektur und Theorie, hg. mit Josch Hoenes und Annette Urban, Berlin: Reimer 2010; Wohnen Zeigen. Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur, hg. mit Andreas Nierhaus, Bielefeld, transcript 2014 (wohnen+/–ausstellen, Bd. 1); Matratze/Matrize. Möblierung von Subjekt und Gesellschaft. Konzepte in Kunst und Architektur, hg. zus. mit Kathrin Heinz, Bielefeld: transcript 2016 (wohnen+/–ausstellen, Bd. 3). Griselda Pollock ist Professorin für Social and Critical Histories of Art und Direktorin des Centre for Cultural Analysis, Theory and History an der University of Leeds. Forschungsschwerpunkte: Postkoloniale und queer-feministische Analyse der Visuellen Künste und Kulturen. Derzeit forscht sie zu den Themen Trauma und Ästhetik, Aby Warburgs Vermächtnissen und concentrationary memory. Publikationen (Auswahl): Bracha Ettinger: Art as Compassion, hg. mit Catherine de Zegher, Brüssel: ASA 2011; After-affects I After-images: Trauma and Aesthetic Transformation in the Virtual Feminist Museum (mit Studien zu Ana Mendieta, Louise Bourgeois, Anna Maria Maiolino, Alina Szapocznikow, Vera Frenkel, Sarah Kofman und Chantal Akerman), Manchester: Manchester University Press 2013; Concentrationary Memories. Totalitarian Terror and Culture of Resistance, hg. mit Max Silverman, London: I. B. Tauris 2013; Visual Politics and Psychoanalysis: Art & the Image in Post-Trau-

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matic Cultures, London: I. B. Tauris 2013; Charlotte Salomon and the Theatre of Memory, London: Yale University Press 2018. Dorothee Richter ist Professorin für Contemporary Curating am Department of Art der University of Reading und Co-Leiterin des Promotionsprogramms PhD in Practice in Curating (ebenda) in Kooperation mit dem Institute for Cultural Studies in the Arts der Zürcher Hochschule der Künste. Sie ist Kuratorin, Autorin und Filmemacherin. Sie lehrte an der Universität Bremen, Universität Lüneburg, Ecole des Beaux Arts in Genf, Merz Akademie Stuttgart und Zürcher Hochschule der Künste, wo sie 2005 das Postgraduate Programme in Curating und 2008 das Webjournal OnCurating.org gründete, die sie beide bis heute leitet. Sie veranstaltete zahlreiche Symposien (u. a. Work, Migration, Personal Geopolitics als Parallel Event der Manifesta 2016 zus. mit Tanja Trampe und Eleonora Stassi) und kuratierte Ausstellungen. Basierend auf ihrer Dissertation veröffentlichte sie 2014 den Film Flux Us Now! Fluxus explored with a camera (zus. mit Ronald Kolb). 2012 initiierte sie mit Prof. Susanne Clausen die Research Platform for Curatorial and Cross-disciplinary Cultural Studies, Practice-Based Doctoral Programme, University of Reading. Als Kooperationsprojekt mit dem ZKM entsteht (zus. mit Ronald Kolb) derzeit ein Video-Archiv zur kuratorischen Praxis. Weitere Informationen: www.curating.org, www. on-curating.org, www.fluxusnow.net. Steffen A. Schmidt ist Musikwissenschaftler und freischaffender Komponist. Derzeit ist er Dozent für Filmmusik und Musikanalyse an der Zürcher Hochschule der Künste. Er leitete ebenda zwischen 2008 und 2016 den Weiterbildungsmaster Cultural Media Studies am Institute for Cultural Studies in the Arts. Nach seiner Promotion zum Rhythmus in der neuen Musik an der TU Berlin arbeitete Schmidt als freischaffender Komponist, Projektleiter und musikalischer Performer sowie als Konzertredakteur an der Berliner Staatsoper. Die Habilitation (Musik der Schwerkraft: Komposition und Choreographie im 20. Jahrhundert, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2013) absolvierte er an der Universität Witten/Herdecke zur intermedialen Beziehung von Musik und Tanz. Neuere Forschungsprojekte befassen sich mit Herztönen, künstlerischer Forschung und Musik im Film noir. Philip Ursprung ist Professor Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH Zürich. Er studierte Kunstgeschichte, Allgemeine Geschichte und Germa-

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nistik in Genf, Wien und Berlin. Er wurde 1993 an der FU Berlin bei Werner Busch promoviert und habilitierte sich 1999 an der ETH Zürich. Er unterrichtete u. a. an der Universität der Künste Berlin, der ETH Zürich, der Graduate School of Architecture, Planning and Preservation der Columbia University New York, der Universität Zürich und dem Barcelona Institute of Architecture. Er ist Leiter des Forschungsprojekts „Tourism and Cultural Heritage“ am Future Cities Laboratory in Singapur sowie Leiter von Forschungsprojekten zu Gottfried Semper, Peter Zumthor und zum Massenwohnungsbau der Nachkriegszeit. Publikationen (Auswahl): Allan Kaprow, Robert Smithson, and the Limits to Art, Berkeley: University of California Press 2013; Brexas y conexiones, Barcelona: Puente Editores 2016; Der Wert der Oberfläche: Essays zu Kunst, Architektur und Ökonomie, Zürich: gta Verlag 2017. Silke Wenk ist Professorin (i. R.) für Kunstwissenschaft mit Schwerpunkt Geschlechterforschung am Institut für Kunst und visuelle Kultur der Universität Oldenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen u. a. Allegorien in der Moderne, Nationalsozialismus, Gedächtnis und Geschlecht, visuelle Vergangenheitspolitiken. Sie ist zus. mit Sigrid Schade Herausgeberin der Schriftenreihe Studien zur visuellen Kultur im transcript-Verlag. Publikationen (Auswahl): Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, hg. zus. mit Sigrid Schade, Bielefeld: transcript 2011; Praktiken des Zu-sehen-Gebens, in: Thomas Alkemeyer; Gunilla Budde; Dagmar Freist (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld: transcript 2013; Myths, Gender and the Military Conquest of Air and Sea, hg. zus. mit Katharina Hoffmann und Herbert Mehrtens, Oldenburg: BIS-Verlag der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg 2015.

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Kunst- und Bildwissenschaft Artur R. Boelderl, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)

»Die Zukunft gehört den Phantomen« Kunst und Politik nach Derrida 2018, 430 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4222-3 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4222-7

Chris Goldie, Darcy White (eds.)

Northern Light Landscape, Photography and Evocations of the North

2018, 174 p., hardcover, numerous ill. 79,99 € (DE), 978-3-8376-3975-9 E-Book: 79,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3975-3

Julia Allerstorfer, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)

»Global Art History« Transkulturelle Verortungen von Kunst und Kunstwissenschaft 2017, 304 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4061-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4061-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kunst- und Bildwissenschaft Julia Mia Stirnemann

Über Projektionen: Weltkarten und Weltanschauungen Von der Rekonstruktion zur Dekonstruktion, von der Konvention zur Alternative 2018, 300 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4611-5 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4611-9

Annerose Keßler, Isabelle Schwarz (Hg.)

Objektivität und Imagination Naturgeschichte in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts 2018, 472 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3865-3 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3865-7

Alexandra Vinzenz

Vision ›Gesamtkunstwerk‹ Performative Interaktion als künstlerische Form 2018, 456 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4138-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4138-1

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