Zeichen in Umberto Ecos Roman Der Name der Rose 3446148825

Aufsätze aus Europa und Amerika - Ausgewählt und herausgegeben von Burkhart Kroeber - Die Auswahl fußt auf dem Sammelban

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Zeichen in Umberto Ecos Roman Der Name der Rose
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Zeichen in Umberto Ecos Roman Der Name der Rose Aufsätze aus Europa und Amerika . Ausgewählt und herausgegeben von Burkhart Kroeber

Carl Hanser Verlag

Die Auswahl fußt auf dem Sammelband Saggi su ll Nome della rosa, hrsg. von Renato Giovannoli, Bompiani, Mailand 1985. Die Rechte der deutschsprachi­ gen Beiträge liegen bei den jeweiligen Autoren. Wir danken für die freundliche Abdruckgenehmigung. Die englischsprachigen Beiträge hat Michael Walter übersetzt, alle übrigen der Herausgeber.

ISBN 3-446-14882-5 Alle Rechte vorbehalten © 1987 Carl Hanser Verlag München Wien Schutzumschlag: Klaus Detjen unter Verwendung einer Miniatur aus der Apokalypsen-Handschrift MS Escorial E. Vitr. V Satz: Fotosatz Otto Gutfreund, Darmstadt Druck und Bindung: Kösel, Kempten Printed in Germany

Inhalt

Einleitung........................................................................................ Alfredo Giuliani Die Rose von Babel....................................... Raul Mordenti Eine Sirene, ein Echo... Wer war Adson von Melk? ....................................................................... Teresa De Tauretis Die semiotische Phantasie ..................... Massimo Parodi Schweigen oder Lachen................................ 'Elena Kostjukovic Der unbegrenzte Zeichenprozeß als Grundlage der Kultur............................................................... Leonardo Lattarulo Zwischen Mystizismus und Logik . . . Mireille Calle-Gruber Die Zaubereien der Bibliothek oder das dilatorische Erzählen ........................................................ Harald Weinrich Unser Mann im Mittelalter......................... Ulrich Wyss Die Urgeschichte der Intellektualität und das Gelächter......................................................................... Ursula Schick Erzählte Semiotik oder intertextuelles Verwirrspiel? .............................................................................. Walter E. Stephens Ec(h)o in fabula .......................................... Renata Haas De Humberti Eco fabula ................................... Jürgen Wertheimer Im Labyrinth der (Zeit-)Zeichen: Chronik eines Bestsellers ........................................................ ... Dietmar Kamper Das Ende der Unbescheidenheit. Umberto Ecos Siebentagewerk einer Geschichte, die sich selbst erzählt ................................................................................. Patrick Imbert Von der semiotischen »Intrige* zum »Suspense* der Semantik............................................................... Augusto Abelaira Der Name der Rose wäre Rose, wenn es die Rose gäbe................................................................... Gerd Kruse Transpiration und Inspiration. Beobachtungen x zu Ecos Bauplan und Erzählweise ............................................. Hans-Jürgen Bachorski Diese klägliche Allegorie der Ohnmacht. William als Vorbild ?................................................. Philippe Renard Ecos große Herausforderung ........................ Theo van Velthoven Zeichen, Wahrheit, Macht........................ Carl A. Rubino Der unsichtbare Wurm: Klassiker und Moderne im »Namen der Rose* .................................................

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Louis Mackey Der Name des Buches....................................... Douglass Parker Die merkwürdige Sache mit Pharaos Polypen und Artverwandtes................................................. Leonardo Boff Die beiden Sackgassen des Bewahrens und des Erschaffens ...................................................................... Alberto Asor Rosa Anatomie eines Echos................................

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Quellenverzeichnis ...................................................................... Bibliographie zu Umberto Eco.....................................................

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Einleitung

»Wie ich Umberto Eco umgebracht habe«, beschrieb 1981 der Bolo­ gneser Entomologe Giorgio Celli, Freund des angeblich Umgebrachten und Autor des Buches Der letzte Alchemist (mit einem Vorwort des Mordopfers)1, in einem aufsehenerregenden Bekenntnisschreiben, das kürzlich auch deutsch erschienen ist.2 Eine Hommage ganz besonderer Art, gesteht doch Celli da einen wahrhaft perfekten Mord, so perfekt, daß ihn nur der berechtigte Stolz des Täters auf seine Tat ans Licht zu bringen vermochte. Motiv: Der Name der Rose. »Dieser kryptothomystische Krimi, dieses Vom Winde verweht mit Latein anstelle von Clark Gable«, schrieb Celli, »dieses Delirium einer kulturellen Ökumene, diese Collage aus längst verstaubten Erzählstrategien des 19. Jahrhun­ derts hat in mir zunächst nichts als dumpfen Ärger, dann eine Art schmerzlichen und glühenden Haß und schließlich ein befreiendes Verlangen nach Gerechtigkeit hervorgerufen.« Um dieses Verlangen zu stillen, ersann er die befreiende Tat, und sie war »perfekt und mustergültig wie in einer Erzählung von Borges«. Eine extreme, aber nicht untypische Reaktion. Denn in der Tat vermag Der Name der Rose, wiewohl vom Autor geschrieben, um sich »von zahllosen uralten Obsessionen« zu befreien, im Leser nachhaltige Obsessionen, ja Mordgelüste hervorzurufen — Gelüste zum Vatermord sozusagen, wenn nämlich der so massiv die Phantasie besetzende Autor dem Leser als »Vater« erscheint. Zumal wenn der Leser dann auch noch feststellen muß, daß er durchaus nicht der einzige »Sohn« dieses Vaters ist. Seit Jahren lautet die meistgestellte Frage in nahezu jedem privaten oder öffentlichen Gespräch über den Namen der Rose, wie denn der »ungeheure« Erfolg zu erklären sei, und manchen erscheint das Phänomen in der Tat nicht mehr ganz geheuer. Was ist das für ein Buch, das wider alle Prognosen der Markt- und Medienexperten, der professionellen Macher, Kritiker und Chronisten des internationalen Literaturbetriebs überall, wo es erscheint, ob in seinem Ursprungsland Italien oder in deutschen Landen (inklusive DDR), ob in Nordamerika oder Brasilien, in Norwegen oder Rumänien oder in Japan, sofort zum Bestseller wird, ja neue Maßstäbe des »Erfolgsbuches« setzt und im gleichen Zuge die Geister scheidet? Die Vielzahl der Antworten, Mutmaßungen, Spekulationen steht in direktem Verhältnis zu der (oft 7

selber als Hauptgrund genannten) Vielschichtigkeit des Romans, und nicht selten verraten die Stellungnahmen mehr über den Sprecher als über das, wovon er spricht. Der Name der Rose hat - lange vor seiner Verfilmung — die Grenzen des üblichen Literaturbetriebs weit überschritten und »wirkt« inzwi­ schen an den verschiedensten Orten »im Leben«, unabhängig von den ursprünglichen Intentionen des Autors (und sicher auch manchmal zu dessen Beklemmung). Das Buch funktioniert sozusagen wie ein Kataly­ sator oder ein Lackmuspapier: Man tauche es in ein beliebiges kulturelles Ambiente, und schon treten dessen Charakterzüge und inneren Widersprüche zutage — von Debatten über Wert und Unwert der »Postmoderne« (was immer das sein soll) in literarischen Avant­ gardezirkeln bis zu blasierten Jeremiaden über den nivellierenden »Zeitgeist« in flott verallgemeinernden Feuilletons, von rationalismus­ kritischen Spekulationen über die Aufklärung und ihre Folgen bis zu naturwissenschaftlichen Reflexionen über Thermodynamik und En­ tropie als Evolutionsmodelle, von gelehrten Disputen der Mediävisten über ockhamistischen Nominalismus und thomistische Universalia bis zur kaum verschleierten Formulierung von aktuellen Kampfparolen lateinamerikanischer Theologen der Befreiung und ihrer päpstlichromkatholischen Gegner... Die vorliegende Sammlung von Aufsätzen über Umberto Ecos Roman soll diese Spannweite dokumentieren. Sie enthält die meines Erachtens interessantesten Texte aus der Fülle des mir bekannten Materials (dessen Kenntnis ich zum überwiegenden Teil dem 1985 bei Bompiani in Mailand erschienenen Sammelband Saggi su Il nome della rosa, herausgegeben von Renato Giovannoli, verdanke).3 Am Anfang steht eine der allerersten Rezensionen, geschrieben von einem promi­ nenten italienischen Literaturkritiker, am Ende der bis zur Druck­ legung letzte Beitrag zum Thema, gleichfalls von einem renommierten langjährigen Kenner der italienischen Kulturszene und der Rolle, die Eco darin spielt. Dazwischen reihen sich, chronologisch geordnet, Beiträge aus verschiedensten Ländern, Kulturbereichen, Disziplinen, Erfahrungszusammenhängen und Erkenntnisinteressen, die je nach­ dem Teilaspekte oder den Sinn des Ganzen aus ihrer Sicht zu bestim­ men (oder auch für ihre Sicht zu benutzen) versuchen. Die chronologische Ordnung der Aufsätze nach Entstehungsdaten (soweit eruierbar) war eine Notlösung, da jedes andere Ordnungsprin­ zip sich als nicht praktikabel erwies: Die kritische Auseinandersetzung 8

mit dem Namen der Rose ist, wie schon Renato Giovannoli in seiner Einleitung schrieb, ein endloses work in progress, worin jeder Beitrag, quer durch alle Länder und Disziplinen, an die vorausgegangenen anknüpft und die folgenden inspiriert. Man könnte auch sagen, sie ist eine kollektive Erkundung des Labyrinths, das der Roman beschreibt und zugleich selber darstellt (und in dem sich mancher auch, wie es bei Labyrinthen vorkommt, verirrt). Immerhin gibt es verschiedene »Einstiege«, je nachdem, durch welche Tür man das Labyrinth betritt. Zum Beispiel betreten es manche Autor(inn)en durch die Tür mit der Aufschrift »Historiker, Mediävisten« (Parodi, Abelaira, van Velthoven, Parker, Boff), andere nähern sich ihm als vergleichende Literaturwissenschaftler (Giuliani, Lattarulo, Weinrich, Wyss, Schick, Haas, Wertheimer, Kruse, Bachor­ ski, Asor Rosa), wieder andere suchen es mit den Mitteln der Textse­ miotik und der »diskurstheoretischen« Semiologie zu durchdringen (Mordenti, De Lauretis, Kostjukovič, Calle-Gruber, Stephens, Imbert) oder mit literatursoziologischem Blick (Renard, Wertheimer) oder auch schließlich — und hier verschwimmt die klassifizierende Ordnung schon wieder, denn es müssen zum Teil dieselben Namen genannt werden - allgemein als Kultur- und Zeitkritiker unterschiedlicher Provenienz mit mehr oder weniger deutlich artikulierten, auch politi­ schen Interessen (Kostjukovič, Lattarulo, Wyss, Kamper, Bachorski, Rubino, Mackey, Boff, Asor Rosa). So ergeben sich einige Leitlinien oder »Lektürewege«, die einander zwar immer wieder begegnen und überkreuzen, aber zumindest im Ansatz eine thematische Orientierung erlauben: Mediävistisch-philosophiehistorischer Weg: Parodi — Abelaira — Bachorski — van Velthoven — Rubino — Mackey — Parker — Boff. Literaturkritisch-literarhistorischer Weg: Giuliani — Kostjukovič — Lattarulo - Weinrich - Wyss - Schick - Haas - Wertheimer - Kruse Renard. Textsemiotischer Weg: Mordenti - De Lauretis - Kostjukovic Calle-Gruber — Stephens — Imbert — Kruse. Ethisch-zeitgeistkritischer Weg: Lattarulo — Wyss — Wertheimer — Kamper — Bachorski — Renard — Rubino — Mackey — Boff—Asor Rosa.

Einige Labyrinth-Erforscher, die sich eher auf Seitenwege begeben, fördern auch höchst überraschende Dinge zutage, Erkenntnisse oder Vermutungen, die allerdings, so plausibel sie klingen, schwerlich miteinander vereinbar erscheinen. So findet der italienische Mediävist 9

Massimo Parodi (Parodi?) recht eindrucksvolle Indizien für die Annah­ me, daß William von Baskerville im 14. Jahrhundert als reale Person existiert hat, ja den Gelehrten seiner Zeit als doctor extremus bekannt war, obwohl er, soweit man weiß, nichts Schriftliches hinterlassen hat, sondern sich offenbar auf die mündliche Lehre seines extremen Nominalismus beschränkte. Der portugiesische Kritiker und Roman­ cier Augusto Abelaira behauptet indessen, daß die Handschrift des Adson von Melk — also das, was wir als den Roman Der Name der Rose kennen - in Wirklichkeit ein bisher verschollen gewesener und nun glücklich wiedergefundener Text des großen Wilhelm von Ock­ ham sei (womit sich die schwierige Frage stellen würde, welcher der beiden Williams dann wen inspiriert hat: der doctor invincibilis den doctor extremus oder umgekehrt?). Noch einen Schritt weiter geht der amerikanische Forscher Louis Mackey, der den Namen der Rose als das »wahr und wahrhaftig« wiedergefundene zweite Buch der Poetik des Aristoteles identifiziert (womit sich, hält man diese Behauptung neben diejenigen von Parodi und Abelaira, wahrhaft verwirrende Anciennitätsprobleme ergäben). Doch nicht genug der Überraschungen. Im Handschriftenkatalog eines renommierten Londoner Antiquariats (Bookhands of the Middle Ages No. 1036, Bernard Quaritch Ltd., London 1984) findet sich zum bescheidenen Preis von $ 950 angezeigt: »eines der membra disiecta einer piemontesischen Klosterbibliothek, die im Winter 1327 durch einen Brand zerstört wurde«, und zwar augenscheinlich genau ein Fragment einer auf charta lintea geschriebenen Kopie des verlorenen zweiten Buches der Poetik des Aristoteles. Hier ein Faksimile: ARISTOTLE. Small fragment of text from the second book of the Poetics in which Aristotle argues that the tendency to laughter is a force for the good which can have an instructive value; in Greek, on a charta lintea (or cloth-parchment) of Silos or Burgos manufacture, written in brown ink in an archaistic square minuscule by an Arab or Spanish scribe; approx. 55x116 mm, one outer edge coated with a yellowish pigment, perhaps a size or similar strengthening agent, other edges charred and now very fragile; preserved within a bifolium from a 14th-century monk’s personal notebook of miscellenea containing abecedarian sentences, several quotations from Albertus Magnus, and a curious 6 II. verse warning or anathema beginning “Pagina . . . /Quam si quis tanget, morietur morte suprema/ . . 185 x 136 mm Spain, mid-12th century/Germany, mid-14th century.

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One of a handful of fugitive membra disiecta from a Piedmont monastic library destroyed by fire in the winter of 1327. Shortly thereafter the surviving fragments reached Melk where they were apparently seen and identified by Mabillon in the late 17th century. See Abbé Vallet, Le Manuscrit de Dom Adson de Melk, traduit en français d'après l'édition de Dom J. Mabillon (Paris, Aux Presses de l’Abbaye de la Source, 1842) and Professor U. Eco’s introduction to the recent English edition, trans. William Weaver (London, Secker & Warburg, 1983). The only evidence of recent provenance is an accompanying letter from a Buenos Aires antiquarian bookseller or librarian in the early 1970’s discussing the rarity of the Castilian version of a treatise by Milo Temesvar, and referring his correspondent to Silas Haslam’s History of the Land called Uqbar and A General History ofLabyrinths.

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Wer’s nicht glauben will, vergleiche dazu die auch bei Theo van Velthoven zitierte Arbeit von Richard Janko: Aristotle on Comedy. Towards a reconstruction of Poetics II, University of California, Berkeley/Los Angeles 1984, die mit einem Motto des William von Baskerville anhebt. Auch die Wissenschaft und zumal die philologische hat - durchaus nicht zu ihrem Schaden - von Borges gelernt: Realität & Fiktion sind längst zu einem tiefernsten Verwirrspiel verwoben.4 Leider habe ich unter den Texten über den Namen der Rose kaum »Verrisse« gefunden, die mir den Aufwand einer Übersetzung wert schienen. Zwar gibt es unter den zahllosen Rezensionen natürlich auch viele negative, ja schroff verurteilende, aber die meisten begnügen sich mit sehr allgemeinen Urteilsbegründungen, denen hauptsächlich zu entnehmen ist, daß der/die betreffende Kritiker/in den Roman nicht mag, weil ihr/ihm »die ganze Richtung« mißfällt. Statt solche Kritiken zu dokumentieren, schien es mir sinnvoller, den verfügbaren Platz mit Texten zu füllen, aus denen auch etwas über das Buch oder über die Welt zu lernen ist oder die zumindest ein interessantes Schlaglicht auf kulturelle Milieus oder »Rezeptionsweisen« werfen. Zwei besonders scharfe Verrisse hätte ich allerdings unter diesem Aspekt gern mit aufgenommen, wenn der Platz gereicht hätte. Der eine stammt von dem deutschen Benediktiner Paulus Gordan und ist in der benediktinischen Monatsschrift Erbe und Auftrag erschienen (Jg. 59, 1983, H. 3, Beuroner Kunstverlag GmbH, Beuron). Er kommt zu folgender Konklusion: »Der Bestseller entpuppt sich als ein schlechtes, durch und durch verlogenes Buch. Auch »dichterischer Freiheit« ist es nicht erlaubt, eine so völlig unglaubwürdige Benediktinerabtei mitten in eine historisch genau bekannte Epoche einzuschmuggeln. (...) Schauplatz und »dramatis personae« sind total verzeichnet. Das Klima des Ganzen ist drückend, ein mephitischer Hauch von Satanismus durchzieht die Buchseiten. Rätselhaft bleibt bis zum Schluß der Buchtitel: »Der Name der Rose*. Sollte es sich auch hier um eine Mystifikation handeln und sollte man — abermals in Zeichensprache — gar auf die Vermutung geführt werden, der sichtlich antikirchlich eingestellte Autor gehöre selbst einer späten, ebenfalls spiritualisti­ schen Sekte an, die den »Namen der Rose* im Titel trägt?« Der andere Verriß kommt aus Spanien, wo er etwa zur selben Zeit (am 9. März 1983) in der Tageszeitung El Alcázar erschien. Als Autor zeichnet ein gewisser Vintila Horia, der unter dem Titel »Der Name der Rose ist Polytheismus« ebenfalls eine häretische Sekte, allerdings eine 11

antispiritualistische, hinter Eco vermutet: die aus dem Nominalismus hervorgegangene, von Hobbes und Hume genährte diabolische Welt­ verschwörung der Materialisten, Sozialisten, Freudianisten, Nihilisten und Atheisten, die uns den leviathanischen Gulag bescheren wollen. Konklusion: »Ein schreckliches Buch, dieser Roman von Umberto Eco, nicht nur antikatholisch, sondern auch entschieden antihuman, wie jeder nominalistische und leviathanische Polytheismus.« — Man möch­ te fast meinen, so gespenstisch es klingt, daß offenbar nicht nur William von Baskerville in seiner Zeit real existiert hat, sondern daß auch — und zwar heute in Spanien — Jorge von Burgos immer noch lebt...

Daß ein Werk der erzählenden Literatur so viele Kreise ziehen, Interessen aufrühren und Diskussionen auslösen kann, ist schon bemerkenswert. Zyniker sagen, das sei eben typisch für Bestseller und bestätigte nur deren affirmative Funktion: Jeder finde darin, was er suche, und wenn es nicht explizit gesagt werde, um so besser für Dr. Lieschen Müllers Reputationsbedürfnis... Zyniker haben nicht immer unrecht (es sei denn, sie verkommen zu jenen ebenso arroganten wie albernen Möchtegern-Aristokraten, die meinen, wahre Literatur sei entweder für winzige Minderheiten oder sei keine), und als Kyniker sind sie sogar notwendige, in unseren Biedermännergesellschaften viel zu seltene Subversionskräfte, darin ist Peter Sloterdijk sicher recht zu geben. Aber es fällt ihnen manchmal schwer, ihresgleichen zu erken­ nen, zumal wenn ihresgleichen — oder zumindest jene, die mit ihnen auf anderen Feldern am gleichen Strang ziehen — eben kynisch operieren. »Die Ordnung verlacht man entweder von innen, oder man schmäht sie von außen«, schrieb Eco 1962 in einer frühen Studie über das Lachen5, »entweder man gibt vor, sie zu akzeptieren, um sie auseinan­ derzusprengen, oder man gibt vor, sie abzulehnen, um sie in anderen Formen wiedererstehen zu lassen; entweder man ist Rabelais oder man ist Descartes.« Voilà. B. K., Dezember 1986

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1 ComMedia & Arte, Stuttgart 1986, übersetzt von Sigrid Vagt. 2 In Schreibheft 28, Nov. 1986, übersetzt von Jürgen Ritte. 3 Aus Platzgründen mußten einige ebenfalls interessante Texte entfallen; zur naturwissenschaftlichen Evolutionstheorie, hier mit dem Beitrag von Carl A. Rubino vertreten, vgl. auch den lesenswerten Essay von Robert Artigiani: »The »Model Reader« and the Thermodynamic Model«, in Substance 47,1985 (Milwaukee, Univ, of Wisconsin, Akten des interdisziplinären Kolloquiums über den Namen der Rose in Austin, Texas, 20.-22. Sept. 1984); zur innerkatholischen Kontroverse vgl. außer den beiden unten genannten »Verrissen« auch Huguette Hatem in Esprit (Paris) 69, September 1982. (NB: der Beitrag des brasilianischen Theologen Leonardo Boff ist eine der letzten Publikationen jenes Franziskanerpaters, der 1985 vom Vatikan, auf Betreiben von Kardinal Ratzinger, mit einem Publikationsverbot belegt wurde.) 4 Ein weiterer manchen Leser vielleicht verwirrender Umstand, nämlich daß im zweiten Motto des Aufsatzes von Rubino neben der »Rose« das ebenfalls aus einem Bestsellertitel bekannte »Parfum« auftaucht, ist indessen wohl doch wer weiß? — nur ein blanker Zufall, denn natürlich heißt die Stelle korrekt übersetzt: »kein Duft«. 5 »Lob des Franti«, s. u. S. 30

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Alfredo Giuliani Die Rose von Babel

Wann meint Umberto Eco es ernst und wann scherzt er? Ich kenne ihn nun bald zwanzig Jahre und weiß es immer noch nicht genau. Ein Meister in teuflisch gewandter Rhetorik, ist er anscheinend mehr daran interessiert, die Mechanismen der Kommunikation auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, als der ungreifbaren Poesie der »Botschaft« nachzujagen. Dennoch frage ich mich zuweilen, ob die brillanten Desillusionierungen des Semiologen nicht metaphysische Ängste und Nostalgien verbergen. Vielleicht handelt es sich um eine literarische Metaphysik, an den Fäden des Pastiche inszeniert, à la Borges. Nun hat er einen Roman geschrieben, da er »in reifem Alter entdeckt« haben will, so jedenfalls behauptet der Klappentext: »Wo­ von man nicht theoretisch sprechen kann, darüber muß man erzäh­ len.« Die Behauptung ist eine ironisch Paraphrase des berühmten Schlußsatzes von Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus: »Wo­ von man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen. « Sehr gut, wir Leser bewundern das Ingenium und lassen uns gern an der Nase herumführen. Dazu sind wir da. Der Name der Rose ist der Name der Rose, und der Name der Rose ist eine Rose. Und ich, der ich das Ingenium bewundere, das Eco in die Konstruktion seines Namens der Rose investiert hat, bringe hier gleich eine These vor: Der Titel des Romans und das schöne Zitat »Stat rosa pristina nomine, nomina nuda tenemus«, das ihn in der allerletzten Zeile »erklärt«, indem es auf ambivalente Weise Mystik und Semiologie verschränkt, sollen in uns den Verdacht wecken, daß die Regeln des Spiels diesmal ernst gemeint sind. Im übrigen, und das zeigt sich am Ende (über das ich hier nichts weiter sagen will, um die Spannung nicht zu zerstören), spielt der Autor gern mit dem Feuer. Der Name der Rose ist ein theologischer Krimi. Die Handlung spielt anno 1327 in einem Kloster; Mönche und Prälaten der Kurie, letztere als gefürchtete Teilnehmer eines diplomatischen Treffens, hüten Ge­ heimnisse und tragen Machtkämpfe aus, verborgen unter erbitterten Diskussionen über Logik und Apokalypse. Kaum in die Erzählung eingetreten, werden wir von der unbeirrbaren und luziden Pedanterie

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der mittelalterlichen Scholastik umfangen. Eine öde und ferne, fast unverständliche Welt — nicht die letzte List des Autors — wird plötzlich interessant, faszinierend und auf perfide Weise der Gegenwart ähnlich. Auf eines können wir uns getrost verlassen: daß Eco sich selbst und uns eine Reihe von Herausforderungen gestellt hat. Von all den Erzähler­ tricks, Leserfallen, Funktionen und Kategorien, die seine Kollegen »Narratologen« analysiert haben (Greimas, Todorov, Barthes), hat Eco nur die evidenteste und traditionellste Idee beibehalten, derzufolge es »das Erzählen« ist, was in der Erzählung erzählt wird. Uralter Kunstgriff: die Methode Boccaccios oder des Autors, der vorgibt, das Manuskript eines anderen zu publizieren, in diesem Falle sogar nur die Übersetzung einer Übersetzung des verlorenen Originals. Im übrigen hat Eco die »Poetik des Zitats« mit der Poetik des Kitschs« kombi­ niert — will sagen, es geht um die Verwendung des Altbekannten und der Stereotypen zu »anderen« Zwecken. Der Name der Rose ist kein Essay-Roman, kein Anti-Roman. Er ist nicht einmal ein Kunstwerk mit unverwechselbar eigenem Ton. Eco hat einen Roman-Roman schreiben wollen gestützt auf den Gang der Handlung, auf die Suggestion der Ereignisse und auf ein Personal, das bei aller Ungewöhnlichkeit durch und durch konventionell erscheint. Sein Protagonist, der philosophische Franziskanerbruder William von Baskerville (der Zuname stammt aus Conan Doyles Hund von Basker­ ville) ist genau der »charismatische« Held des populären Romans, den Eco selber vor einigen Jahren in seiner Studie über den »MassenSupermann«1 sozusagen entlarvt hatte. Und der Adlatus jenes William, der Novize Adson von Melk, der auch als Erzähler-Ich der Geschichte fungiert, hat die gleiche Funktion wie der Doktor Watson in den Abenteuern des Sherlock Holmes (man beachte die nicht zufällige Namensähnlichkeit Adson-Watson). Vom Typ des englischen Meister­ detektivs hat Eco nicht nur die allgemeinen Charakterzüge übernom­ men, sondern auch gewisse Einzelheiten. Bekanntlich nimmt Holmes (und Watson spricht darüber stets nur zurückhaltend und verlegen) ab und zu Kokain und vergnügt sich mit chemischen Experimenten - und siehe da, Bruder William von Baskerville, der sich als ziemlich erfahren in Botanik sowie in den halluzinogenen Wirkungen gewisser Kräuter erweist, wird von Adson ein paarmal dabei erwischt, wie er anregende Blätter einer geheimnisvollen Pflanze kaut. Doch die rege Betriebsamkeit der Zitate produziert das ganze Handlungsgeflecht des Romans, ein großes Knäuel gebrauchter Fäden. Die Lust am Nachschreiben zeigt sich in jeder Episode, in jeder Figur 16

und Gegenfigur und noch in den langen enzyklopädischen Aufzählun­ gen. Der mönchische Bibliothekar Malachias wird bei seinem ersten Auftritt nahezu mit denselben Worten beschrieben, die in Ann Radclif­ fes »gotischem« Schauerroman The Italian or The Confessional of the Black Penitents2 dem heimtückischen Schedoni kennzeichnen (und die schon Mario Praz in seiner klassischen Abhandlung Liebe, Tod und Teufel: Die schwarze Romantik3 zitiert). Desgleichen, um noch ein weiteres Beispiel zu nennen, entstammt die ganze Geschichte des in Florenz als Ketzer verbrannten »Fratizellen« (299-307) in voller Länge der spätlateinisch-frühitalienischen Storia di fra Michele Minorita, einem anonymen Text aus dem 14. Jahrhundert. Es wäre steril und würde auch meine bescheidenen Kenntnisse weit übersteigen, wollte ich hier auf die Jagd nach sämtlichen Quellen des Romans gehen, um jeweils festzustellen, was von Richard de St. Victoire und was von Boethius oder von Augustinus stammt, was auf Ockham, auf Abaelard, auf Thomas von Aquin oder auf Etienne Gilson zurückgeht, was aus Makrobius entnommen ist oder aus den Geschichten der Mönchsorden, der Ketzerbewegungen, der Eschatologien und so weiter. Auch was den Ort der Handlung betrifft, hat Eco so gut wie nichts erfunden: die nebelverhangene Abtei auf steilem Berges­ hang ist ein klassischer Topos des »gotischen« Schauerromans. Ecos Abtei wird so pedantisch genau beschrieben, daß sie phantastisch anmutet (und wie in den alten Kriminalromanen ist ihr Lageplan beigegeben); ihr originellster Teil ist das massige »Aedificium«, ein hochsymbolischer Bau, der im Erdgeschoß die Küche und das Refekto­ rium beherbergt und in den oberen Stockwerken das Skriptorium sowie eine monumentale, als Labyrinth angelegte Bibliothek. Obwohl dieses Aedificium, wie ich vermute, aus einer Kreuzung mehrerer »Zitate« hervorgegangen ist, denkt man als erstes sofort an Jorge Luis Borges’ berühmte Erzählung Die Bibliothek von Babel.4 Erinnern wir uns an ihren Beginn: »Das Universum (das andere die Bibliothek nennen) setzt sich aus einer unbegrenzten und vielleicht unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen...«; und erinnern wir uns, daß dem Aberglauben zufolge an einem geheimen Ort dieser Bibliothek ein Buch existiert, das der Schlüssel und das »perfekte Kompendium« aller anderen ist. Ecos Parodie will nun, daß dieses Buch in seinem Aedifi­ cium real existiert, und der ehrwürdige blinde Mönch, der auf den Antichrist wartet und derweil die Bibliothek der Abtei hütet, heißt ganz zufällig Jorge von Burgos... Nur hat unser possenreißender Semiologe in ein und demselben allegorischen Bauwerk die Küche und die Bücher 17

untergebracht, den Bauch und den Kopf, den Abfall und das Labyrinth, die tierischen Eingeweide und die Fetzen der Weisheit... Das Buch, das die Funktion aller anderen Bücher erfüllt und erledigt, das Buch, das über die Wahrheit zum Lachen bringen, ja die Wahrheit zum Lachen bringen könnte, existiert so real und wirklich, daß wir fast meinen, wir hätten es gelesen, aber es ist verboten und unerreichbar. Um seine Lektüre zu verhindern, geschehen in sieben Tagen sieben Verbrechen. Die Siebenzahl ist eine weitere strukturelle Teufelei des Romans, der hier einmal mehr die mittelalterliche Manie parodiert: sieben sind die Sakramente und die Seligpreisungen, sieben die kanoni­ schen Stunden des Tages (von der Mette bis zur Komplet), sieben die Stationen der mystischen Wanderung des Augustinus, sieben die Stadien der inneren Erleuchtung nach Roger Bacon (dem Lehrmeister Williams von Baskerville). Wir könnten noch lange fortfahren, uns zu fragen, wie weit Eco uns an der Nase herumgeführt hat. Ich schlage abschließend ein paar Antwor­ ten vor. Eco hat sich ein großes Vergnügen daraus gemacht, erfolgreich fünf Strukturen oder Gattungen des Romans ineinander zu verschrän­ ken: den Krimi, den Schauerroman, den historischen, den philosophi­ schen und den allegorischen oder »Schlüsselroman«. Er hat seine Quellen der hohen und der niederen Literatur so benutzt, daß sie einander wechselseitig kontaminieren und verlagern; wie der Autor von Trivialromanen das Repertoire der klassischen Situationen und der Archetypen benutzt, die der Leser erwartet, hat Eco die Inhalte der hohen Kultur in die Formen der niederen eingefüllt. Er hat sich einen spannenden Plot ausgedacht, denn das war die notwendige und hinreichende Bedingung für einen handwerklich guten Roman. Er hat nicht sein Schreiben problematisiert; haben das etwa Leute wie Dumas oder Conan Doyle getan? Aber er hat darauf geachtet, eine problemati­ sche Botschaft zu suggerieren. Leider ist auch diese Botschaft schon bekannt: Die Apokalypse ist nahe, unsere Zeit gleicht jenem Spätmit­ telalter, in welchem die Häresien blühten, die Fanatismen, die Scheiter­ haufen, als das scholastische Denken zwar noch herrschte, aber schon brüchig zu werden begann, als Kirche und Reich einander mit allen Mitteln bekämpften (wenn heute der Kampf zwischen Reich und Reich geführt wird, ändert das nichts am Ergebnis). Doch diese Analogie ziehen wir Leser, der Autor verbirgt sich hinter seiner Erzählung und würde nie zugeben, eine so triviale »Botschaft« übermittelt zu haben. Und in gewissem Sinne hätte er recht.

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Sein tiefster Gedanke ist ein anderer: Er steckt in der von Bruder William schmerzlich empfundenen Einsicht in die Unmöglichkeit, auf rational-logischem Wege zu einer Unterscheidung zwischen Zufall und Notwendigkeit zu gelangen, zwischen Erscheinungsweise der Zei­ chen und ihrer Bedeutung, zwischen Ordnung und Chaos. Perplexi­ täten und Niederlagen begleiten William, solange er sich an das syllogistische Räsonnement hält und das empirisch Vorgefundene in aristotelischem Geiste interpretiert. Als er die Realität der Fakten schließlich ermittelt, indem er die intuitiv-semiotische Logik seines Freundes Ockham anwendet, enthüllt sich ihm das Geheimnis, aber da ist es zu spät. Während uns Eco vom schließlichen Scheitern seines mönchischen Aufklärers erzählt, scheint er sich selbst ein bißchen an der Nase herumzuführen. Am Ende verstehen wir, warum auch wir uns bei der Lektüre des Namens der Rose so gut amüsiert haben. Durch das ganze Buch zieht sich das Thema des Lachens, exakt kalkuliert, aber stets gelehrt abgehandelt. Auch hier sind wir im Klima des Zitats. Obwohl das Mittelalter bewiesenermaßen sehr gut zu lachen verstand, war sein Lachen stets etwas Körperliches, Ungeistig-Niedriges, »Demokrati­ sches«, das sich von Zeit zu Zeit in befohlenen (Volks-)Festen Luft machen durfte, doch aus der herrschenden Ideologie verbannt blieb. Hier hat Eco ein Thema von Michail Bachtin verwendet (aus dessen Studie über Rabelais5): »Die offizielle Kultur des Mittelalters ist gekennzeichnet durch einen exklusiv ernsten Ton.« Das mittelalter­ liche Lachen verbreitet sich unterirdisch, bis es bei Rabelais in der Hochrenaissance voll ausbricht. Was aber wäre im Mittelalter ge­ schehen, wenn eine angesehene Philosophie des Lachens die Grundlage der Sünde, der Vorsehung, der Hierarchien, der Heiligkeit und der Wahrheit erschüttert hätte? Was wäre geschehen, wenn man das nicht erhaltene zweite Buch der Poetik des Aristoteles hätte lesen können, das die Kunst des Lachens, ja dessen Theologie behandelte? Man hätte entdeckt, daß besagtes Lachen, statt eine niedere Form von Bewußtsein zu sein, ein geistiges Privileg ist, die Offenbarung des Göttlichen... Die Theologie ist ein Kriminalroman. Ob wir Visionäre sind wie Jorge von Burgos oder Logiker wie William von Baskerville oder einfach bloß schlichte Leser, der Autor stellt uns frei, an die unendli­ chen Folgen eines Buches zu glauben — wenn es denn je existiert hätte. Aber das Buch, das die Wahrheit zum Lachen bringt, existiert wirklich, und es ist nicht die verlorene Hälfte der Poetik des Aristoteles: Es ist 19

genau der Roman von Rabelais, der über die Welt in der Sprache lacht. Bleibt die Frage, wie lange wir Heutigen noch zu warten haben, bis es die Sprache gelernt hat, über unser Jahrhundert zu lachen? Bis nach der Apokalypse.

(1980)

1 Il superuomo di massa, Mailand 1976, bisher nicht ins Deutsche übersetzt. 2 Deutsch: Die Italienerin oder der Beichtstuhl der schwarzen Büßenden, übersetzt von M. Liebeskind, Königsberg 1797-99. 3 Mailand 1930, deutsch von L. Rüdiger, München 1963. 4 Ficciones, Buenos Aires 1944, deutsch in Gesammelte Werke 3/I, übersetzt von K. A. Horst u. G. Haefs, Hanser, München 1981. 5 Deutsch: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, übersetzt von A. Kaempfe, Ullstein-TB 35218.

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Raul Mordenti Eine Sirene, ein Echo... Wer war Adson von Melk?

Ein Kriminalroman? Ein politisches Gleichnis über die Christdemokra­ tie? Oder über die drohende Apokalypse der Welt von Reagan und Breschnew? Ein »gotischer« Roman? Oder bloß ein Privatvergnügen des Autors, womöglich ein Anzeichen vorzeitiger Vergreisung? In Wirklichkeit trägt Der Name der Rose, wie jeder kabbalistische Text, der auf sich hält, seinen Schlüssel gut sichtbar zur Schau, allerdings an einer ungewöhnlichen, unerwarteten und daher für die meisten unzugänglichen Stelle. In diesem Fall ist der Ort des Geheim­ nisses der Waschzettel, den bekanntlich niemand liest (außer den professionellen Rezensenten). Die letzten Worte auf der hinteren Umschlagklappe lauten: »Wovon man nicht theoretisch sprechen kann, muß man erzählen.« Also ein erzählendes Werk, das auf eine undurchführbar gewordene Theorie verweist, ein Roman im Anschluß an Ecos letzte theoretische Arbeit, die 1979 erschienene Abhandlung Lector in fabula', als wäre der Autor gezwungen gewesen, einen Roman zu schreiben, um den Diskurs fortzusetzen, mit dem er zu analysieren versucht hatte, wie Romane geschrieben werden. Und wirklich scheint mir die These, die in der streng begrifflichen Studie über die »Rolle des Lesers« theore­ tisch dargelegt worden ist, im Namen der Rose, gleichsam experimen­ tell, praktisch durchgespielt worden zu sein. Die These von Lector in fabula, die schon im Titel der Untersuchung zum Ausdruck kommt (und noch klarer im Untertitel: »Die interpre­ tative Kooperation des Lesers in narrativen Texten«), besagt im wesentlichen, daß narrative Texte den Charakter einer offenen Maschi­ ne haben, einer recht sonderbaren Maschine, die nur funktionieren kann, wenn der Leser in sie eingreift: »Ein Text will«, schreibt Eco, »daß jemand ihm hilft, zu funktionieren.« Das Bild einer offenen, intelligenten und doch ohne Anstoß von außen nicht funktionierenden Maschine suggeriert nicht zufällig das der Falle, und in der Tat begnügt sich der narrative Text wie die Falle nicht damit, auf den Eingriff des Lesers zu warten, sondern er sieht ihn vor (im aktiven Sinne des Wortes), das heißt, er zielt darauf ab, die Reaktion des Lesers durch eine komplexe und wohlkalkulierte Reihe 21

von »Zwängen« zu provozieren und auf Kooperation festzulegen; ja, mehr noch, es ist genau diese Strategie zur Erzeugung einer Koopera­ tionsbereitschaft des Lesers, die — sei sich der Autor dessen bewußt oder nicht — einen Text als solchen konstituiert. »Ein Text ist ein syntaktisch-semantischer Mechanismus, in dem die vorgesehene Inter­ pretation Bestandteil des eigenen generativen Projekts ist«, schreibt Eco in der etwas steifen Sprache seiner Wissenschaft, und »einen Text generieren heißt eine Strategie aktualisieren, zu der die Prognosen der Schritte anderer gehören.« Im Unterschied zu anderen Strategien (militärischen, solchen beim Schach etc.) will nun jedoch »in einem Text gewöhnlich der Autor seinen Gegner nicht verlieren, sondern gewinnen lassen«. Was sich beim Lesen ereignet, ist also eine Art Spiel zwischen Autor und Leser, bei welchem ersterer einen bestimmten Weg vorzeichnet und ihn mit allerlei Irreführungen, falschen Zielen, optischen Täuschungen usw. versieht, um schließlich ein regelrechtes Labyrinth für seinen Leser zu schaffen, wodurch letzterer vor eine obligatorische Wahl gestellt wird: Entweder er verzichtet auf den Gang durch das Labyrinth (womöglich durch den einfachen, aber definitiven Akt der Schließung des Buches) und besiegelt damit das Scheitern der »textuellen Kooperation«, oder er kollaboriert, das heißt er aktiviert und mobilisiert das Universum seiner Kompetenzen, die der Autor für den Erfolg seiner Textstrategie schon eingeplant hatte. Man versteht nun, warum der so angelegte Diskurs die Grenzen der Semiotik tendenziell überschreitet oder zumindest ihr traditionelles Feld beträchtlich erweitert. Labyrinth, Strategie, Spiel - all das ver­ weist offenbar auf eine tiefere oder jedenfalls schwerer formalisierbare Frage: auf die des Verhältnisses zwischen Autor und Leser, das heißt der besonderen neuen Formen, welche die uralte Macht des Wortes in unserer Zeit angenommen hat. Was treibt einen Autor dazu, einen narrativen Text zu komponieren, ohne sich darum zu kümmern, daß die zeitgenössische Kultur neben anderen Göttern auch den gottähnlichen Autor lächerlich gemacht hat, den Erzähler, der sich gegenüber seiner Geschichte und seinen Figuren als allwissender, allgegenwärtiger und allmächtiger Schöpfer geriert? Wenn die traditionellen Formen des Erzählens heute obsolet gewor­ den sind (nur noch das Hündchen Snoopy und ein paar wenige andere können sich weiter darauf versteifen, Romane zu schreiben, die mit den Worten beginnen: »Es war eine dunkle und stürmische Nacht...«), in welchen neuen und anderen Formen kann sich dann der fortbestehende 22

mysteriöse »Wille zum Erzählen« artikulieren, den manche für einen Grundzug des menschlichen Wesens halten? Welche tatsächlich gemeinsamen Codes und Subcodes kann ein Autor mit hinreichend großer Wahrscheinlichkeit bei seinem anvisier­ ten Modell- oder Idealleser voraussetzen, um sich autorisiert zu fühlen, seine Kommunikationsoperation wenigstens zu versuchen? Und schließlich, welcher Art ist das Band (erotisch? sadomasochi­ stisch?) zwischen Autor und Leser, das beide nach wie vor dazu drängt, miteinander das große Katz-und-Maus-Spiel der Literatur zu treiben, zumal seit beiden bewußt geworden ist, daß in diesem Spiel der Leser als Maus nicht nur weglaufen, sondern auch die Spielregeln ändern und zum Gegenangriff übergehen kann, indem er eine »verkehrte« Lektüre des Textes vornimmt, eine Lesung gegen den Strich, die der Autor ganz und gar nicht vorgesehen hatte (zum Beispiel die heute sehr beliebten Comic-Versionen von Feuilleton-Romanen des 19. Jahrhunderts oder von Lebensgeschichten berühmter Heiliger). Für all diese Fragen stellt nun Ecos Roman zwar gewiß nicht schon die Lösung dar, wohl aber die Reaktualisierung, provozierend und ganz auf der Linie von Lector in fabula. Diese Reaktualisierung erfolgt auf eine sehr klare und einfache Weise: durch systematische Hervorhebung all jener Elemente, die einen Text zu einer »narrativen Maschine« machen, also gerade seiner me­ chanischen Elemente (nicht zufällig war »mechanisch« das schlimm­ ste Schimpfwort der idealistischen Literaturkritik und weckt immer noch den Abscheu derer, die sich bewußt oder nicht in ihrer Tradition bewegen). Wir könnten sogar sagen, daß Ecos Buch ein regelrechtes Kompen­ dium all jener erzähltechnischen Verfahren und Kunstgriffe darstellt, die »normale« Autoren gewöhnlich nur verstohlen benutzen (da sie besser funktionieren, wenn der Leser sie nicht bemerkt), während Eco sie hier so deutlich wie irgend möglich ins Blickfeld rückt—ungefähr so, als würde jemand in seiner Wohnung die Heizungs- oder WC-Rohre knallrot anstreichen. Das erklärt, weshalb uns praktisch alles in Ecos Roman immer schon bekannt vorkommt (was durchaus nicht heißt, daß wir es immer schon kennen) : nicht weil es kopiert worden wäre, sondern weil es zitiert wird. Angefangen mit der Fiktion von der wiedergefundenen alten Handschrift: Genauso beginnt, wie man weiß, auch der alte Manzoni seinen Roman, indem er gerade soviel von einer »vergilbten Handschrift« erfindet/kopiert, wie nötig ist, um seinen Leser und sich selbst von der Unerträglichkeit jener barocken Prosa zu

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überzeugen und mithin von der Notwendigkeit, ihre »Diktion« umzu­ schreiben. Doch die Liste der Romanciers, die diesen Kunstgriff angewandt haben, ist reich an illustren Namen, angefangen bei dem, der vielleicht der erste von allen war — und der sich nicht mit dem Hinweis begnügte, die wahre Geschichte seines Don Quijote sei in einem arabischen »Dokument« zu finden, sondern noch präzisierte, die Übersetzung sei mit Hilfe eines »Mauren« zustande gekommen und man möge beden­ ken, daß »jene Nation berüchtigt ist für ihren Hang zur Lüge«. Ähnliches ließe sich auch über andere Strukturelemente des Namens der Rose sagen, von der Kapiteleinteilung in Tage über den Aufbau des Spannungsbogens durch eine Aneinanderreihung von Morden nach den klassischsten Regeln des Kriminalromans (unter den Opfern befindet sich jeweils auch der zuletzt Verdächtigte) bis zu dem Schluß­ satz, der den Titel enthält, mit einer Anspielung auf die Rose, die seit der genialen Banalität von Gertrude Stein per se ein Zitat ist. Die Zitate enden jedoch nicht bei der Verwendung bestimmter Erzählstrukturen, sondern erfassen und durchdringen auch die sprach­ liche Ebene des Romans, seinen Erzählstil im eigentlichen Sinne. Ganze Seiten sind mit fremden Federn geschrieben: Um sein erstes und letztes Liebesabenteuer zu erzählen, benutzt der junge Adson Verse aus dem Hohelied Salomonis, sein Bericht von der Verurteilung und Verban­ nung des Fra Michele entstammt (wie Alfredo Giuliani angemerkt hat) in voller Länge einem Text aus dem 14. Jahrhundert, und die Gestalt des Bibliothekars Malachias wird mit Worten der Radcliffe beschrie­ ben. Doch es gelingt Eco sogar, ein paar Seiten aus jenem Großen Buch zu zitieren, das bis heute als definitiv verloren galt und das nun erstmals dem Publikum und den nicht minder fieberhaft wartenden Philologen vorgelegt wird (wir hüten uns aus naheliegenden Gründen, hier seinen Titel zu nennen). Selbst noch die Namen der Protagonisten sind Zitate und Anspielun­ gen: Der mönchische Detektiv (gewiß nicht zufällig ein Engländer) heißt William von Baskerville und erinnert mithin an Conan Doyles Hund von Baskerville, sein Adjutant und Chronist heißt Adson in unverkennbarer Anlehnung an den naivsten aller Adjutanten, den Doktor Watson des Sherlock Holmes (aber könnte der Name — lateinisch Adso — nicht auch auf Tadzio anspielen, den faszinierenden Jungen im Tod in Venedig?), und der blinde alte Jorge von Burgos evoziert den blinden alten Jorge Luis Borges (fand sich nicht auch ein Fragment der verlorenen Handschrift in Buenos Aires?)...

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Man könnte die Liste noch lange fortsetzen, aber das wäre nicht nur ein ödes und endloses Unterfangen, sondern auch fehl am Platze — wie jene unsinnigen Fußnoten-Apparate, die unsere Klassikerausgaben zieren, um uns zu belehren, daß Petrarcas »klare frische und süße Wasser« in Wirklichkeit die des Flüßchens Sorga waren, als hätte das irgendeine Bedeutung und als gäbe es nicht vor allem präzise Gründe, aus denen der Dichter sich entschieden hatte, uns diese Information nicht mitzuteilen. Doch besteht nicht überhaupt — scheint Eco zu suggerieren — im Grunde die ganze Literatur aus impliziten Zitaten, also aus solchen, die sich eben nicht in Fußnoten zu erkennen geben? Beim Namen der Rose ist überdies zu bedenken, daß ein großer Teil des Vergnügens (für Eco wohlgemerkt) gerade darin besteht, daß der Normale Leser Mittlerer Bildung nie weiß, ob ein Zitat nun echt oder falsch ist—ob zum Beispiel das Buch von Milo Temeswar, Vom Gebrauch der Spiegel beim Schachspiel, Tbilissi 1934 (aber »inzwischen unauffindbar«, wie Eco hinzufügt), wirklich existiert, oder auch das Werk von Edouard Schneider, Les heures bénédictines, Grasset, Paris 1925; desgleichen weiß er nicht, ob die Epistygen auch Blemmyen genannt werden können, ob die Scinopoden wirklich auf ihrem einen Bein so schnell rennen können und, wenn ihnen die Sonne zu heiß brennt, ihren großen Entenfuß wie einen Schirm über sich ausbreiten, noch ob es die Ketzersekte der sodomitischen Bogomilen des bulgarischen und des drygonthischen Ordens je wirklich gab. Um sein sadistisches Spiel mit dem Leser funktionieren zu lassen, brauchte der Autor Umberto Eco nur seine Geschichte im Mittelalter und in dessen Kultur anzusiedeln — sozusagen im Hic sunt Leones unserer Mittelkultur (besteht doch Ecos und seines Kollegen Gianni Baget Bozzo enormer Vorsprung vor dem Rest der Menschheit darin, daß sie, soweit wir sehen, die beiden einzigen sind, die es geschafft haben, nach ausgiebigen ThomismusStudien in der Jugend heil in unsere Welt zurückzukehren). Und man wird zugeben müssen, daß sein sadistisches Spiel perfekt funktioniert. Denn der Normale Leser Mittlerer Bildung zweifelt an der Existenz der sodomitischen Bogomilen, da er in Wirklichkeit (ehrlich gesagt) auch keinen Schimmer von Patarenern, Katharern und Waldensern hat, die ihm doch fraglos zu existieren scheinen; so wie er an den Scinopoden und Epistygen zweifelt, da er sich (offen gestanden) auch in Sachen Zentauren und Sirenen nicht eben sattelfest fühlt; und da schließlich auch der »teure und unvergeßliche Etienne Gilson«, den Eco so ungeniert selbstverständlich erwähnt, für den Normalen Leser

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Mittlerer Bildung im besten Falle dem weiten und schrecklichen Reich des Hab-ich-doch-irgendwo-schon-mal-gehört angehört, könnte im Grunde auch der nicht weniger unbekannte Milo Temeswar durchaus der größte Kurzromanschreiber sein, den Georgien in diesem Jahrhun­ dert hervorgebracht hat. Und doch, müßten wir ein abschließendes Urteil über die von Eco durchgeführte Operation abgeben, so wären wir zu sagen versucht: Am Ende nimmt die Literatur eine unerwartete und paradoxe Revan­ che. Das Buch endet nicht mit der luziden und fast triumphierenden Ironie, mit der es begonnen hatte, im Gegenteil, es endet in mehrfachem Sinne »übel«. Als hätte sich Eco beim Schreiben zunehmend in seinen eigenen »alten Fäden« verheddert, als hätten ihm diese mehr und mehr seine Freiheit beschnitten, sein Spiel durchkreuzt und es schließlich brüsk beendet. Der Geruch von Tod und Trauer, der im Roman immer stärker wird, bis er am Ende alles in wahrhaft angsterregender Weise durchdringt, ist nicht Zitat, ist nicht Spiel, ist nicht nur herausgekehrte und dem Leser vorgezeigte Erzählmaschine, sondern vielleicht ein Spalt, der einen Blick auf den Menschen Umberto Eco und seine innere Wahrheit zu werfen erlaubt, auf seine Vergangenheit und seine Gegenwart, eine Enthüllung, die vermutlich über die Intentionen des Autors hinausgeht. Als wäre die narrative Falle, die er für die anderen aufgestellt hatte, einmal mehr über dem Fallensteller selbst zugeschnappt.

(1980)

1 Deutsch jetzt unter dem gleichen Titel bei Hanser, übersetzt von Heinz Georg Held, München 1987.

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Teresa De Lauretis Die semiotische Phantasie

Denken wir uns Adam und Eva im Paradies, nackt, schuldlos und ohne Sprache. Oder besser mit einer sehr rudimentären Art von Sprache, die nur aus zwei Lauten besteht, A und B, mit denen sie ihre Haltungen zu der üppigen Natur um sie her ausdrücken. Sie führen ein glückliches Leben, frei von Ungewißheiten und Konflikten, in einer Welt mit einfachen und beständigen Werten. Die Dinge sind eßbar oder nicht eßbar, schön oder häßlich, rot oder blau, gut oder böse (mit anderen Worten, die semantischen Einheiten, aus denen die Enzyklopädie des Paradieses besteht, strukturieren sich in binären Oppositionen: ja/nein, positiv/negativ). Doch eines Tages spricht Gott der Herr und sagt: »BAAAB.BAB - BAAAB.BAAB« (Apfel nicht eßbar, Apfel böse)

das heißt, er deklariert den Apfel, den Adam und Eva für schön, eßbar, gut (weil rot) und somit für positiv hielten, kraft seines Wortes für negativ und stiftet damit den ersten Widerspruch in ihrem semanti­ schen Universum, der das Gleichgewicht der paradiesischen Welt in die Krise bringt. Denn in diesem Moment entdecken Adam und Eva, die am Wahrheitsgehalt der Aussage Gottes nicht zweifeln können (Gott ist das Positive schlechthin), daß die Denotation in einem Gegensatz zur Konotation stehen kann und, was nun wirklich verblüffend ist, daß der Widerspruch oder die Zweideutigkeit auf semantischer Ebene es ermöglicht, neue Ausdrucksformen zu bilden, beispielsweise >blaurot< zu sagen und zu schreiben (ABBBBBABAAAAAB). Sie sind fasziniert von dem ungewohnten Klang der neuen Sequenz, »Adam sagt »blau­ rot«, und statt den Apfel zu betrachten, wiederholt er für sich, ein bißchen versonnen und mit kindlicher Miene, das kuriose Lautgebilde. Er betrachtet, vielleicht zum ersten Mal, die Worte anstatt der Dinge.« So kommt es, daß Adam und Eva den ästhetischen Genuß kosten, das Verlangen nach der Apfel-Erfahrung, die Passion der Sprache und die Lust am Text. Und schon beginnen sie zu erfinden: Sie schreiben rot« auf den Saft von blauen Beeren, sie komponieren die Worte mit graphischer Emphase oder reihen sie in Kolonnen, sie finden den

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Rhythmus, den Reim, die Anapher, den Singsang, die freien Wörter, die konkrete Poesie — kurzum, sie entdecken mit der Willkürlichkeit des Zeichens zugleich die Struktur des Codes und durchlaufen blitzar­ tig die Geschichte der Poetiken: Adam entdeckt die poetische Funktion der Sprache nach Jakobson, empfindet mit Derrida den »heideggerischen Gusto der falschen Ethymologie«, kommt auf die »reaktionäre« Idee, in den Worten sprächen die Götter, nomina sunt numina, die Sprache sei natürlich, »ikonisch, analogisch, entstanden aus obskuren Onomatopöien des Geistes«, und »fühlt sich ein bißchen auf Seiten Gottes und der ewigen Gesetze. Schon beginnt er zu glauben, er hätte damit einen Vorsprung vor Eva gewonnen. Er meint, dies sei die entscheidende Differenz.« Eva ihrerseits hat andere Motivationen, die sie zur sprachwissenschaftlich-ästhetischen Forschung treiben: Die Begegnung mit der Schlange hat sie die Existenz »vorsprachlicher Faktoren« spüren lassen, und so macht sie sich an die Analyse der poetischen Sprache à la Julia Kristeva. Doch da die Semiotik bei den vorsprachlichen Faktoren nicht greift, fällt Eva von nun an ins Schweigen. Adam indes, der homo semioticus, macht sich nun auf, nachdem er die Struktur des Codes entdeckt hat, ihn zu zerstören, indem er mit Eco nach Hjelmslev die Formen des Inhalts untersucht: »Adam resegmentiert den Inhalt und entdeckt neue kulturelle Katego­ rien (und damit neue perzeptive Realitäten), denen er zwangsläufig neue Namen zuweisen muß (die sich leicht erfinden lassen). Er stellt komplexe Sequenzen zusammen, um die neuen Kategorien zu denotieren, und formuliert Sentenzen, um in sachrelevanten Urteilen die Entdeckung von Erfahrungen auszudrücken, die er dann durch semiotische Urteile dem expandierenden Code zuschreibt. Die Sprache bläht sich ihm auf, die Welt erweitert sich ihm.« Daß Adam dann schließlich, von Eva ermuntert, den Apfel ißt, spielt nun keine Rolle mehr. Er hatte das Paradies schon in dem Moment verlassen, als er mit dem Code zu spielen begann und dabei entdeckte, daß die Ordnung, die eindeutige Entsprechung von Signifikanten und Signifikaten, die von der paradiesischen Sprache behauptet wurde, nicht existiert. In jenem Moment hatte faktisch die Geschichte begon­ nen. Denn mit dem Wunsch, seine Geschöpfe durch ein Verbot auf die Probe zu stellen, mit der Affirmation seiner gesetzgebenden Autorität und der Positivität seiner Aussage (ich bin AA, ich bin, der ich bin), hatte Gott einen Fehler begangen: Indem er einen Widerspruch in die natürliche Ordnung der Dinge einführte, hatte er die Voraussetzung zu einer anhaltenden Zerrüttung der semiotischen Ordnung geschaffen. 28

Es sei denn, Gott hätte Lévi-Strauss gelesen und das Verbot absichtlich als universales Tabu formuliert (»BAAAB.BAB — BAAAB. BAAB«), um so die Kultur in Gang zu bringen. Aber es könnte auch sein, andere Hypothese, daß Gott nicht existiert und daß der Mythos des Verbots als Rationalisierung oder als Erklärung für die Nachgeborenen von Adam oder von anderen eingesetzt worden ist. Und so weiter. Dies ist in groben Zügen der Sinn eines Textes, den Eco 1971 unter dem Titel Generazione di messaggi estetici in una lingua edenica (Erzeugung ästhetischer Botschaften in einer paradiesischen Sprache) in seinem Buch Le forme del contenuto veröffentlicht hat1 und der meines Erachtens in exemplarischer Weise die besondere Form der semiotischen Phantasie verdeutlicht, die in Ecos Schriften seit jeher am Werk ist, von den frühen Parodien des Diario minimo (1963) über die Glossen zu heimischen Sitten und Bräuchen bis zu den politisch­ polemischen Zeitungsartikeln, und nun erst recht in den über 600 Seiten seines ersten Romans. Wenn ich den kleinen Text hier noch vor dem Roman als Beispiel für die von semiotischer Sensibilität durch­ drungene literarische Form zitiert habe, so um die Kontinuität be­ stimmter imaginativer und affektiver Grundmuster zu unterstreichen, die Ecos kritisch-theoretische Schriften mit seinen erklärtermaßen literarischen verbindet. Dabei gehört die zitierte Genesis sub specie semiotica strenggenommen weder zu der einen noch zu der anderen Gattung, sondern bildet wie viele seiner »Gelegenheitsschriften« eine Spezies für sich. Es handelt sich nach den Worten des Autors um ein Modell, das im Laboratorium konstruiert worden ist, um gleichsam praktisch zu demonstrieren, wie die Semiose funktioniert, das Getriebe des offenen Kunstwerks, die Behandlung der Codes zu ästhetischen Zwecken und die Invention als Modalität der Zeichenproduktion; zugleich demonstriert es auch die semiotische Arbeit (wie Eco sie versteht) und ihr kritisches, entmystifizierendes Potential gegenüber den Ideologien. Doch vor allem demonstriert es das Vergnügen beider, das der Semiose wie das der Semiotik, das erste als reines Spiel, ästhetischer Genuß, Wunder, Entdeckung neuer Wahrnehmungen, unerhörter sinnlicher oder intellektueller Erkenntniserfahrungen, das' zweite als Revanche und Rückforderung eines Ich, das durch die semiotische Aktivität in die Lage versetzt wird, Gott zu verkleinern, indem es ihn nicht mit Beschimpfungen und Blasphemien überzieht, sondern lächerlich macht, ihn auf menschliches Maß reduziert und zum Beispiel »BAAAB.BAB« sagen läßt. Nicht zufällig ist die Semiotik nach Eco eine Theorie der Lüge und der Mensch das einzige Tier, das

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lügen und lachen kann. Mithin ist ein Text stets eine Lüge, eine wohlbedachte und — im Falle von Eco — vorsätzliche Lüge, und deren größte Kraft ist das Lachen. Sollte es Zufall sein, daß die mysteriöse Handschrift, um derentwillen Mönche und Prälaten, Apokalyptiker und Integrierte in den labyrinthi­ schen Gängen der babylonischen Bibliothek des Namens der Rose einander abschlachten, auf den Scheiterhaufen bringen und sodomisieren, ausgerechnet jenes zweite Buch der Poetik des Aristoteles ist, dessen Thema der Tradition zufolge das Komische war? Oder daß Jesus, wie im Roman erörtert wird, niemals gelacht hat? Oder auch, daß die Bosheit des Jungen Franti in Edmondo De Amicis berühmtem Jugendbuch Cuore2 ihre ganze diabolische Gräßlichkeit in jenem infamen Lachen enthüllt, dessen »Lob« derselbe Eco vor zwanzig Jahren in seinem Diario minimo3 sang? Franti ist eine Nebenfigur in Cuore, vom Autor wie von seinem Ich-Erzähler Enrico nur grob skizziert, doch in seinem alles entweihenden Lachen (er lacht beim Bericht über die Beisetzung des Königs, er lacht über die Schwachen und Kranken, er lacht über die verletzten Arbeiter, ja er lacht sogar über die eigene weinende Mutter, was ihm die schwerste und lapidarste Verurteilung einbringt, den manzonianischen Satz »Und jener Infame grinste«4, mit welchem ihn De Amicis direkt ins Zuchthaus schickt) — in diesem Lachen sieht Eco ein metaphysisches Grundprinzip aufschei­ nen: das Böse. Wie die Schlange das absolute und unanfechtbare Nein der paradiesischen Welt, so ist Frantis Lachen das Nein der Welt von Cuore, die Negation schlechthin, die dialektische Antithese der bieder­ sentimentalen bürgerlichen Ordnung — eine Negation, die der Text freilich einzudämmen und zu verdrängen sucht, weshalb das »Prinzip Franti«, wie Eco notiert, sich bei De Amicis nicht in der vollendeten Form des Komischen auflöst: »Der Infame bleibt, statt Priester der ironischen epoché zu werden, bloß ein Nicht-Integrierter und Schizo­ ider (...), denn um zu reüssieren, hätte er in die Rolle Enricos schlüpfen und selbst das Buch Cuore schreiben müssen, mit Hohngelächter statt mit sentimentalem Geschluchze (...). Denn die Ordnung verlacht man entweder von innen oder man schmäht sie von außen, entweder man gibt vor, sie zu akzeptieren, um sie auseinanderzusprengen, oder man gibt vor, sie abzulehnen, um sie in anderen Formen wiedererstehen zu lassen; entweder man ist Rabelais oder man ist Descartes.« Das schrieb Eco 1962, und er beschloß sein »Lob des Franti« mit einer Versetzung der gelobten Romanfigur in das, was man in der

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Science-fiction ein Paralleluniversum nennt, d. h. er stellte sich vor, was Franti, dem Roman entstiegen, in der realen Welt heute anstellen würde. Doch die Anarchie ist nur eine der beiden Entwicklungsmög­ lichkeiten des »Prinzips Franti«, die der Schmähung von außen, der kategorischen, undialektischen Ablehnung jeder Ordnung. Die andere, die Lösung à la Rabelais, die der Komik, der ironischen epoché, die vorgibt, die Ordnung zu akzeptieren, um sie dann von innen zu sprengen, probiert Eco in seinem Roman, einem anderen Paralleluni­ versum, in dem der Enrico, der da erzählt (der Mönch Adson als Autor eines Erinnerungs- statt eines Tagebuches, aber der Unterschied ist gering), nun dialektisch und darüber hinaus semiotisch zu denken gelernt hat von einem Franti, der sich aus einem respektlos lachenden bösen Schuljungen in einen Lehrer und franziskanischen Ex-Inquisitor verwandelt hat und mit bitterer Ironie, aber ohne Schmäh, nun wirklich »von innen« über die Ordnung lacht. Und Eco lacht mit ihm. Wenn es einen Text gibt, für den die oben gegebene Definition zutrifft und bei dem man von wohlbedachter, vorsätzlicher Lüge sprechen kann, so ist es Der Name der Rose, ein Roman aus dem großen Laboratorium der kritisch-theoretischen Studien und der über zwan­ zigjährigen politisch-kulturellen Aktivitäten des Autors. Als wahrhafte Summa einer bestimmten epistemologischen Sicht, einer genauen Kenntnis der Welt und der kognitiven und kreativen Prozesse, die sich aus der Gesamtheit seiner Arbeit ergeben, will dieses Werk zugleich auch eine narrative Summa sein — der romanhafteste Roman, der krimihafteste Krimi, der bildungsmächtigste Bildungsroman, der Text mit der größten Intertextualität, das Manuskript als Trouvaille, gefun­ den nicht in einer Flasche, sondern in einer chinesischen Schachtel. Und doch ist Der Name der Rose auch Ecos »persönlichstes« Werk, so persönlich, wie es nur die erzählerische Fiktion oder die Erzählung als Fiktion sein kann. So gut die emotionale Investition auch verschleiert wird durch die kühle Befolgung der Gattungsregeln, so fest sie verpackt ist in einem hochkomplexen Gerüst narrativer Codes, so unverkennbar scheint sie doch überall durch, und im romanesken Szenario zeichnet sich das phantastische ab. Denn hier, im Roman, verbinden sich die historische und die persönliche Forschung im literarischen Topos der Reise, der éducation sentimentale, der Höllenfahrt, der Suche nach der verlorenen Zeit; die politische investigation und die mythische quest verflechten sich mit dem sokratischen Dialog, mit der Abenteuerge­ schichte à la Voltaire und mit dem Kriminalroman à la Conan Doyle. 31

Lesen wir den Anfang — aber welchen ? Es gibt drei Anfänge, auf drei verschiedenen Registern, drei ineinandergesteckte chinesische Schach­ teln. Jemand erklärt: »Am 16. August 1968 fiel mir ein Buch aus der Feder eines gewissen Abbé Vallet in die Hände: Le manuscript de Dom Adson de Melk, traduit en français d’après l’édition de Dom J. Mabillon...« Der da spricht, ist »der Autor«, eine historisch datierte Person (vermutlich Eco), der mit präzisen bibliographischen Angaben seine italienische Übersetzung eines französischen Buches aus dem Jahre 1842 präsentiert, das seinerseits die getreue Wiedergabe einer lateinischen Edition aus dem 17. Jahrhundert gewesen sein will, die ihrerseits angeblich die gedruckte Ausgabe einer lateinischen Hand­ schrift aus dem 14. Jahrhundert war, die sich im Kloster Melk an der Donau befunden haben soll. Die Handschrift, die sich als unauffindbar erweist (aber unauffindbar sind auch die anderen erwähnten Editio­ nen), stammt angeblich von einem gewissen Adson, einem greisen Benediktiner, der darin gewisse Ereignisse aus seiner Jugend berichtet, die sich im Jahre des Herrn 1327 zugetragen haben sollen. Dem Bericht jenes deutschen Mönches geht ein Prolog voran, der mit den Worten beginnt: »Im Anfang war das Wort« - unschwer erkennbar die Eingangsworte des Johannes-Evangeliums. Der Bericht selbst, in der ersten Person erzählt und in sieben Tage (Kapitel) eingeteilt, beginnt mit dem Satz: »Es war ein klarer spätherbstlicher Morgen gegen Ende November« — ein Romananfang par excellence, den wir in seiner geläufigsten Variante nicht zufällig als Beginn des Romans von Snoopy in den Peanuts von Charles Schultz wiederfinden. Drei Vortragsregister also, drei »Zitate«, die sofort die Zielrichtung dieses semiotischen Romans angeben, der ähnlich dem Don Quijote des Pierre Menard in der bekannten Erzählung von Borges ausschließ­ lich (oder fast) aus schon geschriebenen Worten besteht, aus schon gehörten Namen und schon gelesenen Geschichten, vorgestanzten Sätzen und vorgegebenen, altbekannten und neuaufgewärmten Situa­ tionen. Doch während die Erzählung von Borges mit ihrer knappen Sprache und ihrem akademisch-trockenen Ton als reine meta-narrative Spekulation daherkommt, ist Der Name der Rose nicht so sehr ein Meta-Roman als vielmehr ein Pop-Roman, überbordend von Ereig­ nissen, grellen Farben, diversen Sprachen und Sprechweisen, narrati­ ven, ikonographischen, architektonischen, bibliographischen Codes und Subcodes, ein Pastiche aus Fachvokabularien, Nomenklaturen, Deskriptionen, Dialogen, gelehrten Debatten und einem Personal, das direkt aus den Bilderstreifen einer Universalenzyklopädie in 32

Comic-Form entsprungen scheint. Sehen wir uns einige der dramatis personae an. Da gibt es einen würdigen Abt namens Abbo sowie einen englischen Franziskaner Mitte fünfzig namens William von Bascavilla (vulgo Baskerville), der früher einmal Inquisitor war und in Momenten höchster Anspannung Kräuter kaut, und sein Adlatus ist ein junger Benediktiner namens Adson, den er gern mit den Worten »mein lieber Adson « anspricht, die unweigerlich an das bekannte »My dear Wat­ son« von Sherlock Holmes erinnern. So angeregt wird der Leser, wenn er den Hund von Baskerville wiederliest, dort nicht nur die gleiche detektivische Untersuchungs- und Kombinationsstruktur wiederfin­ den, nicht nur den gleichen sarkastischen Humor und das gleiche ambivalente Verhältnis einer homoerotisch getönten Herr-DienerDialektik, das Holmes mit Watson wie William mit Adson verbindet, sondern sogar die physische Beschreibung einzelner Personen (den Doktor Mortimer) und Milieus (das finstere Schloß der Baskervilles). Steht im Hund von Baskerville eine alte Handschrift (aus dem 18. Jahrhundert) für den Fluch, der über den Bewohnern des Schlosses liegt, so scheint im Namen der Rose eine mysteriöse altgriechische Handschrift die Ursache jener Verbrechen und Morde zu sein, deren Zahl so groß ist wie die der Tage des erzählten Geschehens. Watson beginnt seine Geschichte mit der Beschreibung des Sherlock Holmes und des Doktor Mortimer, Adson beschreibt seinen verehrten Meister fast mit denselben Worten und gewiß mit derselben liebevollen Auf­ merksamkeit (für seine Gestalt, seine Hände, seinen Blick). Beide Romane beginnen mit einer höchst eindrucksvollen Probe der außerge­ wöhnlichen Deduktionsfähigkeit ihrer jeweiligen Helden: Den zahlrei­ chen Informationen, die Sherlock Holmes dem Spazierstock des Dok­ tor Mortimer entnimmt, entspricht die genaue Beschreibung des aus dem Stall des Abtes entlaufenen Pferdes, die William allein anhand der Spuren, die es im Wald hinterlassen hat, zu geben vermag. Hier macht sich Eco jenes bekannte Beispiel semiotischer Schlußfolgerung zu eigen, das die Episode mit dem Hund der Königin und dem Pferd des Königs in Voltaires Zadig darstellt, und mit einer gewissen Koketterie geht er noch einen Schritt weiter als der große französische Aufklärer, indem er seinen William sogar den Namen des Pferdes erschließen läßt: »Gut, gut«, sagte ich, »aber wieso >Brunellus