Zehn Jahre Verwaltungsgerichtsordnung: Bewährung und Reform. Vorträge und Diskussionsbeiträge der 38. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer 1970 [1 ed.] 9783428423194, 9783428023196

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Zehn Jahre Verwaltungsgerichtsordnung: Bewährung und Reform. Vorträge und Diskussionsbeiträge der 38. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer 1970 [1 ed.]
 9783428423194, 9783428023196

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Zehn Jahre Verwaltungsgerichtsordnung

S c h r i f t e n r e i h e der Hochschule Speyer Band 45

Zehn Jahre Verwaltungsgerichtsordnung Bewährung und Reform

Vorträge und Diekuseionsbeiträge der 38. StaatewisBenechaftlichen Fortbildungstagung der Hochschule für Verwaltungewiesenschaften Speyer 1970

DUNCKER

& HUMBLOT

/

BERLIN

Alle Rechte vorbehalten © 1970 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1970 bei Alb. Sayffaerth, Berlin 61 Printed in Germany

Vorwort Zehn Jahre sind für die Geltung eines Gesetzes, wie es die Verwaltungsgerichtsordnung darstellt, gewiß keine lange Zeit. Und doch ist sie nicht zu kurz, um die Frage nach der Bewährung und der Reform dieser verwaltungsgerichtlichen Verfahrensordnung zu stellen. Denn zehn Jahre lang haben die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit Tag für Tag mit dieser Verfahrensordnung gearbeitet, und ihre Erfahrungen sind in zahlreichen veröffentlichten Entscheidungen und i n Abhandlungen und Aufsätzen prozeßrechtlich interessierter Richter, Rechtsanwälte und Rechtslehrer niedergelegt. So steht dem kritischen Betrachter ein breites A n schauungsmaterial zur Verfügung, auf dessen Grundlage man der Frage nach der Bewährung der Verwaltungsgerichtsordnung nachgehen kann. Aber noch aus einem anderen Grunde ist der Zeitpunkt für eine solche Fragestellung gekommen. Die Bestrebungen nach einer Vereinheitlichung der drei verwaltungsgerichtlichen Verfahrensordnungen, die schon vor dem Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsordnung eingesetzt hatten und durch den Erlaß der Finanzgerichtsordnung vor fünf Jahren neue Impulse erfahren haben, sind i n ein entscheidendes Stadium getreten. Ob sie noch i m Laufe dieser (6.) Wahlperiode des Bundestages zu einem Erfolg führen werden, läßt sich freilich i m gegenwärtigen Zeitpunkt nicht übersehen. Es ist zu hoffen, daß sie nicht an den utopischen Vorstellungen einer einheitlichen Prozeßordnung für alle Gerichtszweige scheitern, die in manchen Reformplänen eine beherrschende Rolle spielen. Auch zu diesen rechtspolitischen Überlegungen w i l l die Tagung einen Beitrag leisten. Denn nur auf der Grundlage einer kritischen Besinnung über das Erreichte kann entschieden werden, was an der bestehenden Ordnung geändert werden muß. Vorerst freilich bestimmt diese Ordnung noch den Alltag der Gerichte. Deshalb ist es auch eine Aufgabe, die w i r uns mit dieser Tagung gestellt haben, Richtern, Anwälten und Verwaltungsbeamten für ihre forensische Arbeit Rüstzeug an die Hand zu geben, das ihnen bei der Lösung schwieriger Probleme behilflich sein kann, zumal diese Probleme i n den Zusammenhang einer grundsätzlichen Betrachtung gestellt werden. Speyer, den 1. September 1970 Carl Hermann Ule

Inhalt

Aus der Begrüßungsansprache des Rektors, Prof. Dr. Franz Knöpf le

11

Aus der Eröffnungsansprache des Bundesministers der Justiz, Gerho,rd Jahn

14

Prof. Dr. Carl Hermann Ule, Speyer: Die Bedeutung der Verwaltungsgerichtsbarkeit i n der rechtsstaatlichen Demokratie. Zum Gedächtnis an Professor Dr. Fritz Werner 20 Reg.Rat Dr. Hans-Werner

Laubinger,

Speyer:

Bericht über die Aussprache

44

Staatssekretär Werner Groß, Hannover: Das Berufsbild des Verwaltungsrichters

52

Reg.Rat Jörg Rüggeberg, Speyer: Bericht über die Aussprache

59

Landessozialgerichtspräsident Dr. Horst Peters, Essen: Die Besetzung der Richterbank (I)

64

Vizepräsident des Bayer. Verwaltungsgerichtshofes Dr. Johann München:

Schmidt,

Die Besetzung der Richterbank (II)

85

Reg.Ass. Dietrich Bahls, Speyer: Bericht über die Aussprache Oberverwaltungsgerichtspräsident Dr. Gerhard

96 Meyer-Hentschel,Koblenz:

Der Vertreter des öffentlichen Interesses (I)

103

Rechtsanwalt Dr. Konrad Redeker, Bonn: Der Vertreter des öffentlichen Interesses (II)

127

Wiss. Ass. Volker Heydt, Speyer: Bericht über die Aussprache

135

Prof. Dr. Klaus Obermayer, Erlangen: Die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle (I)

142

Oberverwaltungsgerichtsvizepräsident Klaus Meyer, Lüneburg: Die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle (II). Die Normenkontrolle i n der Praxis und i n rechtspolitischer Sicht 161

Inhalt

8 Reg.Ass. Dr. Joachim Bauer, Speyer: Bericht über die Aussprache Prof. Dr. Karl August Bettermann,

179 Hamburg:

Vorbeugender Rechtsschutz i n der Verwaltungsgerichtsbarkeit

185

Oberverwaltungsgerichtsrat Dr. Konrad Geizer, Münster: Der vorläufige Rechtsschutz eines D r i t t e n u n d des Begünstigten bei baurechtlichen Verwaltungsakten m i t D r i t t w i r k u n g 203 Reg.Rat Dr. Gerhard Reichel, Speyer: Bericht über die Aussprache

222

Oberverwaltungsgerichtspräsident Prof. Dr. Richard Naumann,

Lüneburg:

Die Abgrenzung des Verwaltungsrechtsweges (I) Bundesrichter Dr. Friedrich

Kr eft, Karlsruhe:

Die Abgrenzung des Verwaltungsrechtsweges (II) Reg.Rat Dr. Gottfried

226

241

Herbig, Speyer:

Bericht über die Aussprache

261

Prof. Dr. Carl Hermann Ule, Speyer: Auszug aus dem Schlußwort

265

Anhang Auszug aus der schriftlichen Vorlage von Landessozialgerichtspräsident Dr. Horst Peters an die Tagungsteilnehmer: „ Z u r geschichtlichen Entwicklung des Richterlaientums"

270

Verzeichnis der Redner in den Aussprachen Bettermann 262, 263

Obermayer 183

Engelken 182

Paul 100,138 Peters 63,101,102 Presting 135

Feige 139 Fischer 137 Geizer 224 Groß 61, 62 Henrichs 262 Herzog 49 Hoppe 222 Humborg 263 Knöpfle 44,49, 60, 61,62,101,140, 263 K r e f t 262, 263 Lohmeyer 262, 263

Rasch 179 Redeker 139 Rößler 46 Roth 262 Schmidt 61,102 Schmitt-Vockenhausen 44, 49 Schubert 96, 97 Schulz-Hardt 137 Sieveking 139 Stich 261, 262 Stortz 180

Martens 97, 98, 99 Meyer 137,183, 224 Meyer-Hentschel 60, 62, 99,100,140, 261, 262, 263

Ule 50, 63,100, 101,138, 225, 261, 263

Naumann 263 Niehues 223

Vogel 136 Voucko 62

Thierfelder 59

Aus der Begrüßungsansprache des Rektors I n einer Zeit, i n der die Notwendigkeit einer berufsbegleitenden Fortbildung der Verwaltungsbeamten und Richter allgemein anerkannt wird, erfüllt es die Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer m i t Genugtuung, daß sie zu ihrer 38. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung einladen konnte. Wenn vor zwei Jahren an dieser Stelle ein Ausbau und neue Formen des Kontaktstudiums gefordert wurden, so ist heute zu vermerken, daß seitdem wesentliche Vorarbeiten hierfür, jedenfalls für den Bereich der öffentlichen Verwaltung, geleistet worden sind. A n den Bestrebungen i n dieser Richtung hat sich auch unsere Hochschule, wie es ihr als Pflegestätte der verwaltungswissenschaftlichen Forschung, Ausbildung und Fortbildung zukommt, beteiligt. Sie hat i m letzten Wintersemester ein Memorandum über ein sinnvolles und praktikables System der berufsbezogenen Weiterbildung der höheren Beamtenschaft auf allen Führungsebenen erarbeitet und i n i h m aufgezeigt, i n welcher Weise sie ihren Beitrag zu dieser auch staatspolitisch wichtigen Aufgabe leisten kann. Der Verwaltungsrat der Hochschule hat diese Programmatik i n seiner gestrigen Sitzung i m Grundsätzlichen gebilligt und die Hochschule ermächtigt, mit dem Bund und den Ländern Verbindung aufzunehmen mit dem Ziel der Verwirklichung dieses Programms. Daß neben den vorgesehenen mitarbeitsintensiven Internatskursen von längerer Dauer der etwa halbwöchigen Tagung, wie sie die Hochschule seit dem Jahre 1947 durchführt, nach wie vor erhebliche Bedeutung zukommt, wenn es gilt, den vielbeschäftigten Richter, Verwaltungsmann und Anwalt zu einem Gedankenaustausch auf wissenschaftlichem Niveau über Fragen aufzurufen, die für seine berufliche Arbeit von Belang sind, zeigt die hohe Zahl der heute hier versammelten Teilnehmer. Ich heiße Sie, meine Damen und Herren, namens der Hochschule i n Speyer willkommen und danke Ihnen allen dafür, daß Sie zu unserer Frühjahrstagung gekommen sind und damit die Kontaktnahme und den Austausch von Einsichten, Erfahrungen und Ziel Vorstellungen über die engere berufliche Umwelt eines jeden einzelnen hinaus ermöglichen. Viele von Ihnen, die nicht zum ersten M a l hier sind, dürfen w i r zu dem Kreis von Freunden zählen, die auf den Speyerer Tagungen immer wieder A n regung suchen und ihrerseits i n der Diskussion zu deren Bereicherung beitragen. Daß diese Tagung zu den bestbesuchten seit Bestehen der Hochschule gehört, hat seinen Grund w o h l darin, daß ihre Thematik für die Exe-

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Aus der Begrüßungsansprache des Rektors

kutive wie für die sie überwachende Verwaltungsgerichtsbarkeit gleichermaßen von Interesse ist. Die Verwaltungsgerichtsordnung, die nunmehr seit einem Jahrzehnt i n K r a f t ist, hat die Rechtszersplitterung auf dem Gebiet des Verwaltungsprozeßrechts — sieht man von einer beschränkten „Verlustliste der Rechtseinheit" ab — i m wesentlichen beendet und zu seiner weiteren dogmatischen Durchformung Anstoß gegeben. Diese hat unter der „ V w G O " einen beachtlichen Aufschwung genommen. Allerdings ließ das lebhaft begrüßte neue Gesetz eine Reihe von Problemen ungelöst und beschwor andere herauf. I n manchen Fragen konnte es als Prozeßgesetz die wünschenswerte Klärung nicht bringen, weil diese zu eng m i t dem materiellen Recht verwoben sind. Schließlich führte die zunehmende Gewährung subjektiver Rechte an Dritte, an die sich behördliche Akte jedenfalls nicht unmittelbar richten, zu Rechtsschutzproblemen und Fallgestaltungen, auf die das Gesetz nicht zugeschnitten ist. Diese Andeutungen mögen genügen, um zu zeigen, daß aller Anlaß besteht, sich am Ende der ersten Dekade, einem wohl ausreichend langen Zeitraum zur Erprobung der Verwaltungsprozeßordnung, Rechenschaft abzulegen über ihre Bewährung und über noch unerfüllte Wünsche de lege ferenda — Fragen, die unter verschiedenen Aspekten von ersten Fachkennern aus Wissenschaft und Praxis erörtert werden sollen. Das Zusammenwirken beider ist einer allseitigen Beleuchtung sicherlich förderlich. Den Herren Referenten, die ich i n unserem Kreis herzlich begrüße, sind w i r für ihre freundliche Bereitschaft zur M i t w i r k u n g zu aufrichtigem Dank verpflichtet. Dies sind w i r i n besonderem Maße auch dem wissenschaftlichen Leiter der Tagung, unserem Kollegen Herrn Professor Dr. Ule, i n dessen Händen die Vorbereitung lag. Wie Ihnen sicherlich nicht unbekannt ist, wurde an der Hochschule unter seiner Ägide der Entwurf eines einheitlichen Verwaltungsgerichtsgesetzes erarbeitet, das an die Stelle der drei verwaltungsgerichtlichen Verfahrensordnungen treten soll 1 . Dieser „Speyerer Entwurf", wie er i m Schrifttum genannt wird, wurde von maßgeblicher Seite als ein „vortreffliches Arbeitsinstrument" bezeichnet, um den Plan der Vereinheitlichung der Prozeßordnungen der drei öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten — von deren Existenz der Entwurf ausgeht — i n geeignete Bahnen zu lenken 2 . Zur Zeit arbeiten mehrere Kommissionen auf der Grundlage dieses Entwurfs an dem Projekt einer Vereinheitlichung. Es wäre 1 E n t w u r f eines Verwaltungsgerichtsgesetzes zur Vereinheitlichung der V e r waltungsgerichtsordnung, der Finanzgerichtsordnung u n d des Sozialgerichtsgesetzes, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Band 40, B e r l i n 1969. 2 s. Fritz Werner, Rezension des „Speyerer E n t w u r f s " i n DVB1. 1969, S. 914, u n d den Bericht über dessen Begrüßungsworte auf der Fachtagung der Arbeitsgemeinschaften f ü r Verwaltungsrecht i m Deutschen A n w a l t v e r e i n i n B e r l i n am 30.10.1969 von W. Hoppe i n DVB1. 1970, S. 203. - Auch die Rezension des

„Speyerer Entwurfs" von Chr.-Fr. Menger in JZ 1970, S. 79 f.

Aus der Begrüßungsansprache des Rektors

zu wünschen, daß sich der Bundestag noch i n dieser Legislaturperiode mit i h m befaßt. Vielleicht können gerade von einer wissenschaftlichen Aussprache wie dieser, auf der sich theoretisches Bemühen, Sachverstand und reiche praktische Erfahrungen vereinen, Impulse für dieses, wie mir scheint, wichtige rechtspolitische Anliegen ausgehen, wenn die Tagung auch auf die große Linie der künftigen Entwicklung ausblicken sollte. Die Bestrebungen zur Vereinheitlichung der verwaltungsgerichtlichen Verfahrensordnungen waren auch gefördert worden von der Persönlichkeit, die den einleitenden Vortrag auf unserer Tagung übernommen hatte, nämlich von dem Ende 1969 so unerwartet verstorbenen Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts, Professor Dr. Fritz Werner. Er fühlte sich mit der Hochschule stets verbunden und hat an ihr wiederholt das Wort ergriffen. Herr Professor Ule, der mit ihm lange Jahre befreundet war, w i r d an seiner Stelle das Eröffnungsreferat halten und dabei auch diesem bedeutenden Richter und Rechtslehrer Worte des Gedenkens widmen. I n der — angesichts des Kreises der Referenten und der i m Auditorium versammelten Fachleute sicherlich berechtigten — Erwartung, daß diese Frühjahrstagung wissenschaftlich fruchtbar werden und Ihnen für Ihre berufliche Arbeit reichen Ertrag bringen möge, wünsche ich Ihnen über das Fachliche hinausgreifend, daß Sie i n dieser kulturreichen Stadt Speyer, i n der Begegnung mit alten Freunden und neuen Bekannten auch in dieser Beziehung bereichernde Stunden verbringen mögen. Professor Dr. Franz Knöpfle

Aus der Eröffnungsansprache des Bundesministers der Justiz Gerhard Jahn „Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte." Hätte dieser von der Frankfurter Nationalversammlung m i t Verfassungsrang beschlossene Grundsatz sich i n der deutschen Rechtsgeschichte durchgesetzt, so wäre es m i r heute versagt, eine Staatswissenschaftliche Fortbildungstagung über das Thema „Zehn Jahre Verwaltungsgerichtsordnung" zu eröffnen. Die Entwicklung war anders. Die i n der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts geführte Auseinandersetzung, i n der die einen für eine eigenständige Verwaltungsgerichtsbarkeit, die anderen für die sogenannte justizstaatliche Regelung stritten, ist Ihnen bekannt. Der Name Rudolf von Gneist steht für die eine Richtung, der Name Bahr für die andere. Einig waren sich beide Richtungen allerdings über die Notwendigkeit, dem Bürger Rechtsschutz gegenüber der Verwaltung zu schaffen. I n dieser Auseinandersetzung hat sich schließlich die eigenständige Verwaltungsgerichtsbarkeit durchgesetzt. Ihre Funktion und ihre Verdienste brauchen i n diesem Zusammenhang nicht i m einzelnen dargestellt zu werden. Zur Durchsetzung des Rechtsstaats i n Deutschland hat sie von Anfang an Wesentliches beigetragen. Man denke etwa nur an die berühmte Kreuzbergentscheidung des preußischen Oberverwaltungsgerichts, die den Polizeibegriff eingegrenzt und damit die Machtfülle der Polizei i n Schranken gewiesen hat. Trotzdem konnte sie nur begrenzten Schutz bieten, solange i n den meisten deutschen Ländern das Enumerationsprinzip galt und mehr oder weniger große Gebiete der Verwaltung einer Überprüfung durch die Verwaltungsgerichte entzogen waren. Erst das Wiederaufleben der Rechtsstaatlichkeit nach 1945 hat uns den Durchbruch zur verwaltungsgerichtlichen Generalklausel gebracht. M i t der Verwaltungsgerichtsordnung, deren zehnjähriger Geltung diese staatswissenschaftliche Fortbildungstagung gewidmet ist, erhielt die allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit schließlich auch ein einheitliches Gerichtsverfassungs- und Verfahrensrecht. Die Verwaltungsgerichtsordnung stellt somit einen historischen Schritt dar. Sie wurde eine feste Grundlage für die Arbeit von Wissenschaft und Praxis i n den letzten zehn Jahren. Die ersten Entwürfe zu diesem moder-

Aus der Eröffnungsansprache des Bundesministers der Justiz

J5

nen Verfahrensgesetz haben das Sozialgerichtsgesetz, die Verwaltungsgerichtsordnung selbst hat die Arbeit an der Finanzgerichtsordnung stark beeinflußt. Das kennzeichnet ihre Bedeutung. Während Sie sich i n diesen Tagen i m einzelnen unter verschiedenen Gesichtspunkten noch m i t der Verwaltungsgerichtsordnung auseinandersetzen werden, sollten w i r i n dieser Stunde zu Beginn der Fortbildungstagung dankbar auch der Richter gedenken, die i n allen Instanzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit i m Dienste des Rechtsstaates auch der Fortbildung des Rechts gedient und die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu dem gemacht haben, was sie heute ist. Bei dem Bestehen dürfen w i r es aber nicht bewenden lassen. Das Ziel, für jeden Zweig der Gerichtsbarkeit durch Bundesrecht eine einheitliche Gerichtsverfassung und ein einheitliches Verfahren zu schaffen, ist seit einigen Jahren erreicht. Aber so sehr die rechtsprechende Gewalt dadurch i n allen Bereichen konsolidiert und ihr Wirken verbessert ist, so muß doch die Frage gestellt werden, ob nicht mit fünf nebeneinanderbestehenden Verfahrensordnungen — und dabei lasse ich die Strafprozeßordnung und das Gesetz über die Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit außer Betracht — dem Rechtsuchenden, ja selbst dem ausgebildeten Juristen zuviel zugemutet wird. Genügt dieses komplizierte und oft nicht aufeinander abgestimmte System i m Ergebnis wirklich den Anforderungen des Rechtsstaates nach dem Verständis unserer Zeit? Gehört nicht zu dem umfassenden Rechtsschutz, den das Grundgesetz garantiert — letzten Endes durch A r t i k e l 19 Abs. 4, der den Schutz selbst da gewährleistet, wo die Regelungen für die einzelnen Gerichtszweige noch unbeabsichtigte Lücken aufweisen oder nicht nahtlos ineinandergreifen sollten —, auch eine bei allen gebotenen Besonderheiten möglichst einheitliche verfahrensrechtliche Ordnung und eine allgemein gültige Ordnung der Gerichtsverfassung? Das bedeutet nicht die Forderung nach einem Einheitsgericht. Neben der ordentlichen Gerichtsbarkeit für Z i v i l - und Strafsachen stehen durchaus gleichberechtigt und nicht weniger „ordentlich" die Arbeitsgerichtsbarkeit und die drei Zweige der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeit, die allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit, die Finanzgerichtsbarkeit und die Sozialgerichtsbarkeit. Auch die Vorläufer der Arbeits-, der Finanz- und der Sozialgerichtsbarkeit reichen ins vorige Jahrhundert zurück. Dabei waren klare Linien i n der Zuständigkeitsverteilung zunächst nicht in jedem Fall erkennbar. Es gab durchaus noch Überschneidungen. So entschieden die ordentlichen Gerichte über bestimmte Streitigkeiten aus dem Bereich der sozialen Krankenversicherung ebenso wie über bestimmte Steuerstreitigkeiten, während andererseits über Steuerstreitigkeiten vielfach auch die allgemeinen Verwaltungsgerichte zu be-

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Aus der Eröffnungsansprache des Bundesministers der Justiz

finden hatten. I n dem hier i n Speyer ausgearbeiteten Entwurf eines gemeinsamen Verwaltungsgerichtsgesetzes ist i n seiner allgemeinen Begründung die geschichtliche Entwicklung der drei „öffentlich-rechtlichen" Gerichtsbarkeiten übersichtlich dargestellt. Lassen Sie mich aus der Begründung des Speyerer Entwurfs i n diesem Zusammenhang nur einen Gedanken herausgreifen: Die auch anderwärts vertretene These, der Reichsfinanzhof wäre wahrscheinlich gar nicht errichtet worden, wenn i m Jahre 1918 ein Reichsverwaltungsgericht bestanden hätte, denn dann hätte man wahrscheinlich dessen Zuständigkeit auch für Steuerstreitigkeiten begründet. Hier ist ein Rückblick i n anderer Richtung nicht ohne Verführung: Hätte der eingangs zitierte § 182 Abs. 1 der Frankfurter Reichs Verfassung Geltung erlangt und behalten, so hätte sich i m Jahre 1918 das Reichsgericht zwanglos als oberste Instanz auch für Steuersachen angeboten, zumal vereinzelt ohnedies für Steuersachen der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten gegeben war. Aber mit solchen Rückblicken gewinnen w i r keine Erkenntnis für die Zukunft. Die tatsächliche Entwicklung hat ihre eigene K r a f t entfaltet und sich weithin bewährt. Die Aufteilung i n verschiedene Gerichtszweige ist wohl begründet und sinnvoll. Man darf bei alledem auch nicht verkennen, daß die Aufgliederung der Gerichtsbarkeit auf verschiedene Zweige sicherlich früher einen w i r k sameren Rechtsschutz des Bürgers zur Folge hatte, als dies bei einer Einheitsgerichtsbarkeit möglich gewesen wäre. Die Verwaltung, die es hinnehmen konnte, von einer auf ihre besonderen Bedürfnisse zugeschnittenen Gerichtsbarkeit überprüft zu werden, hätte einer Überprüfung durch die ordentlichen Gerichte sicher stärkeren Widerstand entgegengesetzt. Die Enumerationskataloge wären kürzer geworden, die Gerichte hätten i n wenigen Fällen angerufen werden können. Insofern hat die Aufgliederung der Gerichtsbarkeit erheblich dazu beigetragen, daß sich die Rechtsstaatlichkeit schneller und auf breiterer Grundlage durchgesetzt hat, als dies sonst möglich gewesen wäre. Das Einheitsgericht ist nicht das Problem unserer Zeit. Unsere Aufgabe ist vielmehr die möglichst große Einheit unseres Gerichtsverfassungs- und Verfahrensrechts. Die Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 machte sich dies zu eigen und fordert: „Zunächst wollen w i r unsere zersplitterte Rechtspflege für den rechtsuchenden Bürger durchschaubarer machen. Die Zuständigkeiten für die Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit werden auf den Bundesminister der Justiz übertragen. Die ordentliche Gerichtsbarkeit soll dreistufig gegliedert werden. Dem Bürger soll außerdem nicht nur ein gutes, sondern auch ein schnelleres Gerichtsverfahren zur Verfügung gestellt werden."

Aus der Eröffnungsansprache des Bundesministers der Justiz

Der Bundesjustizminister weiß sich bei der Verwirklichung dieses programmatischen Auftrags aber nicht allein, vor allem auch nicht hier, i n diesem Kreise. Ich erinnere an wichtige vorbereitende Arbeiten: Der Deutsche Anwaltverein hat eine bereits i n vierter Auflage erschienene synoptische Darstellung aller Verfahrensordnungen herausgebracht und so einen wertvollen Leitfaden durch die vielen Paragraphen des Verfahrensrechts geboten. Aber wie soll der Bürger, dem derartige Hilfsmittel nicht zur Verfügung stehen, das jeweils i n seinem Verfahren Richtige herausfinden? Zwar bieten i h m die i n den öffentlich-rechtlichen Verfahrensordnungen und i m Arbeitsgerichtsgesetz vorgeschriebenen Rechtsmittelbelehrungen eine gewisse Hilfe, so daß er beispielsweise daraus entnehmen kann, ob er die Berufung wie i n der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit bei dem Gericht, dessen Entscheidung angefochten wird, oder wie i n der Sozialgerichtsbarkeit beim Berufungsgericht einzulegen hat. Woher jedoch soll der Bürger wissen, daß er einen Antrag auf Urteilsergänzung i n der Sozialgerichtsbarkeit binnen eines Monats, i n der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit und der Finanzgerichtsbarkeit binnen zwei Wochen, i m Zivilprozeß und dementsprechend auch i n der Arbeitsgerichtsbarkeit aber binnen nur einer Woche nach Urteilszustellung bei Gericht einreichen muß? Die Vereinheitlichung unserer Gerichtsverfahren ist nicht nur eine optische Verschönerung, sondern ein Stück Verwirklichung des sozialen Rechtsstaats. So überrascht es nicht, daß seit vielen Jahren die Vereinheitlichung der Verfahrensordnungen stets von neuem gefordert wurde, beispielsweise schon vom 4. Deutschen Anwaltstag i n Mannheim 1955, vom Deutschen Richtertag i n Heidelberg 1956, vom Deutschen Bundestag 1956 oder i n dem i m Jahre 1961 vorgelegten Bericht der vom Bundesminister der Justiz berufenen Kommission zur Vorbereitung einer Reform der Z i v i l gerichtsbarkeit. Seitdem ist die Forderung nicht verstummt. Daß weite Kreise der deutschen Juristenschaft von der Notwendigkeit einer Rechtsvereinheitlichung auf diesem Gebiet durchdrungen sind, zeigt die große Mühe, die Praktiker und Wissenschaftler des Rechts immer wieder auf sich genommen haben, um Vorarbeiten hierfür zu leisten. Ich erinnere dabei an den 44. Deutschen Juristentag 1962 i n Hannover, mag man zu seinen Beschlüssen i m einzelnen stehen, wie man w i l l , oder an den Teilentwurf einer einheitlichen Prozeßordnung, den der Berliner Anwaltverein Ende der fünfziger Jahre unter Führung des Rechtsanwalts Dr. Lancelle erstellt hat. Ich w i l l bei dieser Gelegenheit vor allem aber ein Wort des Dankes für den i n diesem Hause unter Ihrer Federführung, verehrter Herr Professor Ule, erarbeiteten Entwurf eines für die Verwaltungs-, die Finanz2

Speyer 45

Aus der Eröffnungsansprache des Bundesministers der Justiz

und die Sozialgerichtsbarkeit geltenden Verwaltungsgerichtsgesetzes sagen. Diese wertvolle Arbeit kann i n ihrer Bedeutung für die Bemühungen um eine Vereinheitlichung der Verfahrensordnungen kaum überschätzt werden . . . Bereits die vorige Bundesregierung hat nach der vielfältigen Vorarbeit i m November 1968 einen interministeriellen Koordinierungsausschuß zur Vereinheitlichung der drei öffentlich-rechtlichen Verfahrensordnungen einsetzen können, für den die Federführung damals beim Bundesministerium des Innern lag. Der Ausschuß steht nunmehr unter Federführung des Bundesministers der Justiz. Er hat i n einem ersten Arbeitsgang bereits wesentliche Abschnitte, insbesondere die Vorschriften über die Klagearten sowie die Abschnitte über die allgemeinen Verfahrensvorschriften und über das Verfahren i m ersten Hechtszug durchberaten. I n dem Kabinettsbeschluß vom November 1968 ist die Möglichkeit vorgesehen, Vertreter aus Wissenschaft, Rechtsprechung und Anwaltschaft zu den Beratungen des Ausschusses zuzuziehen. Ich halte nunmehr den Zeitpunkt für gekommen, u m den interministeriellen Ausschuß entsprechend zu erweitern. Ich beabsichtige deshalb, an die beteiligten Stellen heranzutreten und sie zu bitten, Vertreter für den Ausschuß zu benennen. Ich bin überzeugt, daß w i r so i n gemeinsamer Arbeit zu einem ausgezeichneten endgültigen Entwurf kommen werden, der dann auch die anderen Fragen der Vereinheitlichung, des Verhältnisses zur Z i v i l prozeßordnung und zum Arbeitsgerichtsgesetz sowie der Schaffung eines einheitlichen Gerichtsverfassungsrechts, klären hilft. Dabei w i r d auch überprüft werden müssen, ob es dabei bleibt, daß die Zahl der Instanzen i n den Zweigen der öffentlch-rechtlichen Gerichtsbarkeit unterschiedlich ist. I n diesem Zusammenhang darf ich darauf hinweisen, daß die Besetzung der ersten Instanz m i t einem Einzelrichter für mich kein Dogma ist. Die erste Instanz kann durchaus Spruchkörper verschiedener Besetzung haben. Ich halte es aber auch i n den öffentlichrechtlichen Zweigen der Gerichtsbarkeit für notwendig zu prüfen, ob das Verfahren von geringerer Bedeutung stets in der bisher vorgesehenen Besetzung entschieden werden muß. Schließlich möchte ich darauf hinweisen, daß die Absicht der Bundesregierung, das Verwaltungsverfahren bundeseinheitlich zu kodifizieren, die Arbeiten des Ausschusses sehr erleichtern wird. Ich begrüße es als einen Fortschritt, daß bereits i m Verwaltungsverfahren rechtsstaatliche Grundsätze i n größerem Umfang als bisher zur Geltung kommen sollen. Das erleichtert das gerichtliche Verfahrensrecht und die Tätigkeit der Gerichte selbst.

Aus der Eröffnungsansprache des Bundesministers der Justiz

Auch bei den Beratungen i n dem Koordinierungsausschuß hat sich erwiesen, daß die Verwaltungsgerichtsordnung ein gut durchdachtes Verfahrensgesetz ist, das den Gerichten eine zügige Entscheidung ermöglicht. Man kann die Verwaltungsgerichtsordnung wohl m i t Recht als ein beachtliches Werk i n der deutschen Rechtsgeschichte bezeichnen. Die i n ihr entwickelten Rechtsgedanken und Regeln des Verwaltungsprozesses werden ihre grundsätzliche Bedeutung behalten, gerade dann, wenn es zu der notwendigen Vereinheitlichung unseres Verfahrensrechts kommt. Nach zehnjährigem Bestehen der Verwaltungsgerichtsordnung ist B i lanz zu ziehen. Ohne den Ergebnissen der Arbeit Ihrer Tagung vorzugreifen, kann ich feststellen, daß die Bilanz gut sein wird. Diese Feststellung ist ermutigend. Sie beweist die Fähigkeit unserer Zeit zu grundlegenden rechtspolitischen Entscheidungen und zugleich unser Vermögen, weitergreifende Aufgaben zu bewältigen. W i r stehen am Beginn eines neuen Abschnitts i n der Geschichte des deutschen Gerichtsverfassungsund Verfahrensrechts. I n dieser Überzeugung, meine sehr verehrten Damen und Herren, glaube ich Sie mit gutem Grunde bitten zu können, daß Sie sich bei Ihrer Tagung insbesondere auch für die Möglichkeiten und die Erfordernisse einer weiteren Vereinheitlichung unseres gerichtlichen Gerichtsverfassungs- und Verfahrensrechts einsetzen.

Die Bedeutung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der rechtsstaatlichen Demokratie Zum Gedächtnis an Professor Dr. Fritz Werner Von Carl Hermann Ule I. Das ursprüngliche Programm, das für diese Tagung aufgestellt war, hatte als erstes Referat einen Vortrag des Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts Professor Dr. Fritz Werner über die politische und soziale Funktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit vorgesehen. A m 26. Dezember 1969 ist Fritz Werner plötzlich an den Folgen einer Grippeerkrankung gestorben. Was er für die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit gewesen ist, brauche ich i n diesem Kreise nicht zu sagen, zumal Sie alle die Nachrufe gelesen haben werden, die i n den letzten Monaten i n den führenden verwaltungsrechtlichen Zeitschriften erschienen sind. Erlauben Sie mir, an dieser Stelle die Worte zu wiederholen, mit denen ich i m „Deutschen Verwaltungsblatt" 1 sein Wirken zu würdigen versucht habe: „Sein Tod . . . läßt i m ganzen deutschen Rechtsleben eine Lücke zurück, die nicht geschlossen werden kann. Die Stimme, die sich zwanzig Jahre lang zu so vielen rechtlichen Grundfragen unserer Zeit geäußert hat, ist nun verstummt. Die deutsche Juristenwelt ist um eine ihrer bedeutendsten Persönlichkeiten ärmer. Als eine solche w i r d Fritz Werner i n der Erinnerung aller, die ihn gekannt haben, weiterleben." Auch dieser Hochschule ist Fritz Werner verbunden gewesen. Schon i m Jahre 1951 veröffentlichte er unter der Überschrift „Die Fortbildung der Verwaltungsjuristen" einen Beitrag i m „Deutschen Verwaltungsblatt" 2 , der den Untertitel „ Z u r Bedeutung der Hochschule für Verwaltungswissenschaften i n Speyer" trägt. I n ihm stellte er fest, daß sich der Lehrplan der Hochschule i n die Bestrebungen einfüge, die auch sonst versuchten, unser Hochschulwesen aus seiner Gefährdung durch ein nur technisch verstandenes Spezialistentum herauszulösen. Er meinte, daß die Hochschule i n mehr als einer Beziehung der Ansatzpunkt für die Entwicklung neuer Gedankengänge sei. Der Bürokratie i m modernen Verwaltungsstaat, der als Tatsache nicht leugbar sei, falle die Aufgabe zu, 1 2

DVB1.1970 S. 1 f. DVB1.1951 S. 403 f.

Die Bedeutung der Verwaltungsgerichtsbarkeit i n der Demokratie

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Persönlichkeiten herauszustellen, die mehr als nur Techniker und Funktionäre seien. Über die Bürokratie, so Schloß der Aufsatz, werde das Todesurteil erst dann gesprochen, wenn sie es nicht vermöge, zur Elitebildung i m modernen Gemeinwesen beizutragen. Die Hochschule Speyer habe nicht zuletzt in dieser Richtung eine Chance, die so leicht nicht wiederkehre. Bei dieser Einstellung Werners zu der Aufgabe der Hochschule Speyer überrascht es nicht, daß Werner zweimal die Frage erwogen hat, den Richterstuhl mit einem Lehrstuhl an der Hochschule Speyer zu vertauschen. Als diese Frage i m Jahre 1952 zum ersten Mal an ihn herantrat, war er noch Oberverwaltungsgerichtsrat am Oberverwaltungsgericht für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein i n Lüneburg. Der von Rektor und Senat der Hochschule unternommene Versuch, ihn für Speyer zu gewinnen, scheiterte aus Gründen, auf die ich i n dieser Stunde nicht näher eingehen möchte. Heute muß man wohl dafür dankbar sein, daß Werner der Verwaltungsgerichtsbarkeit erhalten blieb und so die Möglichkeit erhielt, zum Senatspräsidenten und zum Vizepräsidenten in L ü neburg und dann i m Jahre 1958 zum Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts aufzusteigen. Die großen Wirkungen, die er i n dieser Eigenschaft durch sein Richteramt und durch eine ungewöhnlich reiche Vortragstätigkeit ausüben konnte, wären ihm als Ordinarius an der Hochschule Speyer kaum in gleichem Maße möglich gewesen. Trotzdem hat er auch i n dieser Zeit den Gedanken eines Übertritts zur Hochschule Speyer noch einmal ernstlich erwogen. Seine Verbundenheit mit der Hochschule hat Fritz Werner auch dadurch bekundet, daß er zweimal auf Staatswissenschaftlichen Fortbildungskursen zu grundsätzlichen Fragen das Wort ergriffen hat. A u f dem 21. Staatswissenschaftlichen Fortbildungskursus (1955), der dem Thema „Probleme der Sozialordnung" gewidmet war, hat er über „Sozialstaatliche Tendenzen i n der Rechtsprechung, besonders in der Verwaltungsrechtsprechung" gesprochen 3. I n diesem Vortrag finden sich zur Rechtsprechung über den Fürsorgeanspruch die bemerkenswerten Worte: „Der Fürsorgeempfänger ist derjenige Mensch, der nicht des Vorteils einer unserer mannigfachen Rentensysteme teilhaftig ist. Er lebt am Rande unseres i n Gruppen aufgespalteten Systems der sozialen Sicherheit. Er ist noch eine echte Einzelerscheinung m i t einer höchst individuellen Not. Daher muß seinem Anliegen die besondere Sorge des Richters gelten 4. Die Rechtsprechung, die dem Fürsorgeempfänger den Weg an die Gerichte eröffnet, hat ein richtiges Empfinden dafür bewiesen, daß hier Menschen aus der Vereinsamung ihrer sozialen Stellung 4 herausgelöst 3 4

ArchöffR Bd. 81,1956, S. 84 ff. Hervorhebung von m i r .

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und i n unser Rechtsschutzsystem eingeordnet werden müssen" 5 . Hier klingt ein Gedanke an, der, wie ich meine, aus der Bindung an das Sozialrecht befreit und verallgemeinert werden sollte und uns daher noch i n einem anderen Zusammenhang beschäftigen muß. A u f dem 25. Staatswissenschaftlichen Fortbildungskursus (1957) zum Thema „öffentliche Sicherheit und Ordnung" hat Werner über „Wandlungen des Polizeibegriffs seit 1945" gesprochen 6. Der Vortrag enthält bereits Gedanken zur Stellung der Verwaltungsgerichtsbarkeit i n der rechtsstaatlichen Demokratie, die Werner später näher entfaltet hat. So findet sich i m Zusammenhang m i t der polizeirechtlichen Generalklausel die Feststellung, daß jede materiell-rechtliche Generalklausel die A k t i v i tät des Richters herausfordere. Die polizeiliche Generalklausel habe bereits zu einer Zeit, als es eine allgemeine prozeßrechtliche Generalklausel für die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht gegeben habe, dazu geführt, daß sich die Verwaltungsgerichte intensiv m i t dem Polizeirecht auseinandergesetzt hätten. Die Generalklausel i m Polizeirecht habe zur Folge gehabt, daß die vom Gesetzgeber der Exekutive eingeräumte Vollmacht durch die rechtsprechende Gewalt wieder eingefangen worden sei. Die Gefahr, die man darin sehen könne, daß der Gesetzgeber vor den Bedürfnissen der Exekutive gleichsam resigniere, werde dadurch überwunden, daß einem Mißbrauch durch die Judikatur gesteuert werde. Man müsse daraus den Schluß ziehen, daß die polizeiliche Generalklausel rechtsstaatlich unbedenklich sei, wenn eine verwaltungsgerichtliche Kontrolle bestehe 7 . Zweimal hat Fritz Werner auch zu Vorträgen vor der Hörerschaft der Hochschule und vor geladenen Gästen das Wort genommen. I m Sommersemester 1961 sprach er über „Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft i m Spiegel der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung" 8 , i m Wintersemester 1967/68 über „Sport und Recht" 9 . I n diesem Vortrag finden sich Hinweise, die auch für unser Thema bedeutsam sind. Werner fragt, ob nicht der Wertpluralismus, dem w i r i n unserem öffentlichen Leben und i m Leben des Einzelnen gegenüberstehen, die Unterscheidung von Recht und Unrecht unsagbar erschwere 10 , und erwägt, ob nicht vielleicht das Prinzip des fair play einen Ausweg aus dieser Situation bieten könne. Zwar würde auch dieser Weg nicht dazu führen, inhaltliche Gerechtigkeitswerte zu regenerieren. „Aber er könnte vielleicht verhindern, daß die schonungslose Macht zum obersten Rechtsprinzip erhoben wird, und könnte i n unserer Rechtsordnung die Gewähr dafür bieten, daß auch dem s a.ci.O S 97 β D V B L 1957 S. 806 ff. 7 a.a.O. S. 809. 8 Nicht veröffentlicht. 9 Recht u n d Staat, Heft 366,1968. 10 a.a.O. S. 23 f.

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Schwachen ein Rüstzeug an die Hand gegeben wird, um sich i n unserer ihn immer bedrängenderen Zeit zu behaupten" 1 1 . Dieser Satz nimmt, wie ich nicht näher auszuführen brauche, den Gedanken auf, den Werner schon i m Jahre 1955 i m Zusammenhang mit dem Fürsorgeanspruch geäußert hatte. Er ist für die Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit i n der Gegenwart von entscheidender Bedeutung. A n dem B i l d der Verbundenheit Fritz Werners m i t der Hochschule Speyer würde ein wesentlicher Zug fehlen, wenn ich nicht der Ansprachen gedächte, die er bei Lehrfahrten Speyerer Referendare und Referendarinnen i m Plenarsaal des Bundesverwaltungsgerichts gehalten hat. Hier gab er seinen Hörern nicht nur einen i n seiner gedrängten Kürze meisterlichen Einblick i n die Aufgaben und die Bedeutung des Bundesverwaltungsgerichts, sondern stellte dieses Gericht an den Bildern seiner Präsidenten und der Präsidenten des Preußischen Oberverwaltungsgerichts zugleich i n den Rahmen einer rechtsstaatlichen Entwicklung, die dem vielgeschmähten preußischen Staat des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts zur höchsten Ehre gereicht. Er selbst stand, wie ich i n meiner Berliner Gedächtnisrede gesagt habe, „ganz i n der Tradition seines Amtes, ein liberaler Preuße, wie zwei große Männer der preußischen Verwaltungsgerichtsbarkeit, Rudolf v. Gneist und B i l l Drews". Deshalb war es i h m eine besondere Freude, daß seit dem 3. J u l i 1963, an dem das Bundesverwaltungsgericht auf sein zehnjähriges Bestehen zurückblicken konnte, i m Plenarsaal des Bundesverwaltungsgerichts auch eine Büste Gneists aufgestellt ist, jenes Mannes, dessen Einfluß auf die preußische Verwaltung und die preußische Verwaltungsgerichtsbarkeit zu würdigen und seine Bedeutung für die Gegenwart herauszustellen ihm besonders am Herzen gelegen hat. Daß Werner heute nicht vor uns stehen und uns seine Auffassung über die politische und soziale Funktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit entwickeln kann, ist nicht nur für diese Tagung ein schwerer Verlust. Lassen Sie mich den bescheidenen Versuch machen, an seiner Stelle, wenn auch m i t einer leichten Veränderung des Themas, einige Gedanken über die Bedeutung der Verwaltungsgerichtsbarkeit i n der rechtsstaatlichen Demokratie zu formulieren, die an seine Vorstellungen anknüpfen, sich m i t ihnen auseinandersetzen und sie i n einigen Punkten weiterführen sollen. Durch diese Verbindung zu seinem Werk soll dieser Vortrag zugleich dem Gedächtnis an Fritz Werner gewidmet sein. II. 1. Rechtskontrolle der Verwaltung durch unabhängige Gerichte gehört zum Wesen des Rechtsstaates 12 . Die Problematik der modernen 11 12

a.a.O. S. 24. Ule, Verwaltungsprozeßrecht, 4. A u f l . 1966, S. 12.

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deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit liegt daher nicht i n ihrem Verhältnis zum Rechtsstaat, der die Freiheit des Einzelnen schützen soll, sondern i n ihrem Verhältnis zu den demokratischen und sozialen Elementen unseres Staatswesens, die in den Gedanken der Gleichheit und der sozialen Sicherheit ihre Grundlage haben. Auch Werner hat i n einem zur Eröffnung des Bundesverwaltungsgerichts geschriebenen Aufsatz, „Über Aufgaben und Bedeutung des Bundesverwaltungsgerichts" 13 , darauf hingewiesen, „daß die Verwaltungsgerichtsbarkeit i n erster Linie dazu berufen ist, die heute auch verfassungsrechtlich gewährleistete Koppelung von Rechtsstaat und Sozialstaat i n ihrer Judikatur sichtbar zu machen". M i t vollem Recht hat er darauf aufmerksam gemacht, daß sich hier eine Problematik auftue, die über den hergebrachten Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit hinausgehe. „Denn der Verwaltungsrichter" — so führt Werner aus —, „dessen Kardinalbegriff i m liberalen Rechtsstaat die Freiheit war, w i r d neben diesen Begriff den der Gleichheit und der sozialen Sicherheit setzen müssen, w i l l er nicht am wirklichen Leben unserer öffentlichen Ordnung und der gegenwartsnahen Verwaltung vorbeigehen. Allerdings gerät er auf diese Weise i n das Spannungsfeld von Freiheit und Gleichheit, das zu den schwierigsten Problemen der modernen Demokratie gehört" 1 4 . Ich habe keinen Zweifel, daß diese Feststellung heute noch genauso gilt wie zu der Zeit, in der sie getroffen wurde. Die Freiheit des Einzelnen zu schützen, ist nicht mehr die einzige Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Neben sie t r i t t die Aufgabe der Verwaltungsgerichte, dem Einzelnen gleiche Behandlung durch Gesetzgebung und Verwaltung zu sichern und seinen Anspruch auf soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten. „Die Abhängigkeit des Einzelnen vom Staat ist i m modernen Wohlfahrts- und Leistungsstaat mindestens ebenso drückend wie die Eingriffsmöglichkeiten der Polizei und der Steuerverwaltung, die für den Staat des 19. Jahrhunderts kennzeichnend waren" 1 5 . Das bedeutet aber nicht, daß der Schutz der Freiheit des Einzelnen durch die Verwaltungsgerichte heute nicht mehr die Bedeutung hat, die i h m früher zugekommen ist. Der Schutz des Einzelnen gegen rechtswidrige Maßnahmen der Verwaltung, die in seine Freiheit eingreifen, ist eine ewige Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die i n keiner Weise an den liberalen Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts gebunden ist. Oder, um mit den Worten von Werner zu sprechen: „Der Rechtsstaat ist mehr als nur ein Unterfall der Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts" 1 6 . 2. Freilich sind die Gerichte und damit auch die Verwaltungsgerichte heute i n einem anderen Sinne an die Verfassung gebunden als i m formalen Rechtsstaat des Kaiserreichs und der Weimarer Reichsverfassung. 13 14 15 16

DVB1.1953 S. 393 ff. a.a.O. S. 395. Ule, a.a.O. (Fußn. 12) S. 11. D V 1949 S. 28.

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Die unmittelbare Bindung an die Grundrechte, die A r t . 1 Abs. 3 GG den Gerichten auferlegt, hat das Verhältnis auch der Verwaltungsgerichte zur Verfassung grundlegend gewandelt. Die Anerkennung eines Rechtsanspruchs des Hilfsbedürftigen auf Fürsorge und die Prüfung der Bedürfnisklausel i m Wirtschaftsverwaltungsrecht und i m Recht der freien Berufe (ζ. B. Rechtsanwälte, Prozeßagenten) hat bald nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes diese neue Verfassungsunmittelbarkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit sichtbar gemacht. Der II. Senat des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg hat schon Anfang 1951 unter der maßgeblichen M i t w i r k u n g von Werner den Rechtsanspruch des Hilfsbedürftigen auf Fürsorge 17 und den Wegfall der Bedürfnisklausel bei Prozeßagenten 18 bejaht. Werner ist in dem schon erwähnten ersten Speyerer Vortrag 3 ausführlich auf diese Rechtsprechung eingegangen und hat die Entscheidungen zum Klagerecht des Hilfsbedürftigen dahin charakterisiert, daß sie zu den Höhepunkten der verwaltungsgerichtlichen Judikatur seit dem Zusammenbruch gehörten. Diese und andere Entscheidungen hatte ich i m Auge, als ich in meiner Berliner Gedächtnisrede gesagt habe, daß i n den Jahren unseres gemeinsamen Wirkens i m II. Senat des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg (Anfang 1950 bis Ende 1952) keine Sitzung verging, „ i n der nicht mehrere Entscheidungen von grundsätzlicher Bedeutung ergehen mußten, mit denen das überkommene vorkonstitutionelle Recht an den Forderungen der neuen demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung zu messen war". Freilich hat diese Rechtsprechung in der Verwaltung keinen ungeteilten Beifall gefunden. Viele haben von der Anerkennung eines Rechtsanspruchs auf Fürsorge den Zusammenbruch der bisherigen Fürsorgeverwaltung und als ihre Folge eine Überschwemmung der Verwaltungsgerichte mit Prozessen befürchtet, so wie der Wegfall der Bedürfnisklausel i m Wirtschaftsverwaltungsrecht und i m Recht der freien Berufe mit Kassandrarufen begleitet worden ist. Werner hat dazu schon 1955 die nüchterne Feststellung getroffen, daß die fürsorgerechtliche Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte keinen Erdrutsch für die Sozialverwaltung herbeigeführt habe. Auch i m Geschäftsanfall der Gerichte seien die Fürsorgefälle nicht allzu übermäßig 19 . Aber i n den „Bemerkungen zur Funktion der Gerichte in der gewaltenteilenden Demokratie" 2 0 weist er darauf hin, wie schwer es der Verwaltung geworden sei, der Bedürfnisklausel i m Wirtschaftsverwaltungsrecht Valet zu sagen. „Es hat mühevoller Prozesse bis zum Bundesverwaltungsgericht und Bundesverfassungsgericht bedurft, u m die durch Art. 12 GG geschaffene Rechtslage 17 18 19 20

A m t l . Samml. Bd. 4 S. 224 ff. A m t l . Samml. Bd. 3 S. 241 ff., vgl. auch Bd. 5 S. 280 ff., Bd. 6 S. 476 ff. a.a.O. (Fußn. 3) S. 97 f. Juristen-Jahrbuch B d 1,1960, S. 68 ff., 77, Fußn. 20.

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i n der Praxis der Verwaltung durchzusetzen. Die Gerichte erwiesen sich hier als fortschrittlicher als die anderen Träger der öffentlichen Gewalt." Ähnliche Beobachtungen lassen sich zu der Rechtsprechung i m Schulrecht, dem Werner i n mehreren Beiträgen seine Aufmerksamkeit zugewandt hat 2 1 , machen. Sie ist vor allem mit der Behauptung angegriffen worden, daß damit i n pädagogischen Fragen eine juristische Schulaufsicht eingeführt werden solle. Werner hat dieser K r i t i k m i t Recht entgegengehalten, daß niemand an eine solche Schulaufsicht durch die Verwaltungsgerichte denke 22 , und die zurückhaltende Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte i n Schulsachen hat diese Feststellung bestätigt. M i t dem Einwand Wenkes, daß „durch die allzu rasche Inanspruchnahme des Gerichts" das gegenseitige Vertrauensverhältnis zwischen Lehrern und Eltern zerstört und zu Ungunsten der Kinder getrübt werden könne, habe ich mich bereits i n meinem Referat auf der Mainzer Staatsrechtslehrertagung 195623 auseinandergesetzt. Damals habe ich darauf hingewiesen, daß die Gerichte i n aller Regel erst dann i n A n spruch genommen werden, wenn das bisherige Vertrauensverhältnis zwischen Gewalthaber und Gewaltunterworfenen bereits gestört oder sogar unheilbar zerstört ist, wobei ich die Frage offen gelassen habe, inwieweit das Vordringen der verwaltungsgerichtlichen Generalklausel nicht überhaupt auf den Verlust an echter Autorität, und das heißt doch an Vertrauen, zurückzuführen ist, den die Verwaltungsbehörden als Teil des Staates i m letzten Menschenalter erlitten haben. Verlorenes Vertrauen, so habe ich weiter ausgeführt, läßt sich aber nicht dadurch wiedergewinnen, daß man dem Gewaltunterworfenen von vornherein die Möglichkeit nimmt, gegen Rechtsverletzungen durch den Gewalthaber Rechtsschutz bei einem unabhängigen Gericht zu suchen 24 . Inzwischen hat der Vertrauensschwund an Schulen und Hochschulen, wie die Form der Auseinandersetzung mit sog. Streiks, Go-Ins, Sit-ins, Teach-ins und Institutsbesetzungen beweist, rapide Fortschritte gemacht. Die Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die damals, vor zwanzig und zehn Jahren, darin bestand, dem vermeintlich i n seinem Recht gekränkten Schüler, Studenten, Doktoranden und Habilitanden zu seinem Recht zu verhelfen, ist eine völlig andere geworden, wie die jüngere Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zum Hochschulrecht, insbesondere zum sog. allgemeinen politischen Mandat der Studentenschaft, eindrucksvoll belegt 2 5 . Die Verwaltungsgerichte sind, worauf ich schon i m Jahre 1956 hin21 A n m . zu dem Urt. des B a y V G H v. 12.10.1951 DVB1. 1952 S. 342; Schule u n d Verwaltungsgerichtsbarkeit, ZBR 1956 S. 373 ff.; Zur Lage des Schulverwaltungsrechts, DÖV 1958 S.433 ff. 22 Schule u n d Verwaltungsgerichtsbarkeit, a.a.O. S. 374. 23 W D S t R L Heft 15,1967, S. 133 ff., 179. 24 a.a.O. (Fußn. 23) S. 179. 25 V G K ö l n Beschl. v. 5. 7.1967 JZ 1968 S. 260, V G B e r l i n BeschL v. 17.10.1967 DVB1. 1968 S. 122 ff., V G Sigmaringen v. 2. 2. 1968 JZ 1968 S. 262 ff., V G K ö l n v.

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gewiesen habe, überfordert, wenn man von ihnen erwarten würde, daß sie das gestörte oder zerstörte Vertrauensverhältnis wiederherstellen könnten. Das kann das Gericht weder i m Einzelfall noch allgemein. „Das Gericht kann nur Rechtsstreitigkeiten entscheiden und die durch solche Streitigkeiten herbeigeführte Störung des Rechtsfriedens beseitigen. Ob die Streitteile sich dann erneut i n einem Vertrauensverhältnis zusammenfinden, hängt von ihnen selbst ab. Das Gericht kann diese Entwicklung durch sein Urteil ermöglichen oder jedenfalls begünstigen, aber nicht herbeiführen. Hier sind die Grenzen des Rechts und der Rechtsprechung erreicht 26 , jene Grenzen, über die auch Werner i n seinem Beitrag i n der Leibholz-Festschrift „Wandelt sich die Funktion des Rechts i m sozialen Rechtsstaat?" eindrucksvoll gesprochen hat 2 7 . 3. Das Thema der Verfassungsunmittelbarkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit läßt sich hier nicht erschöpfen. Die unmittelbare Bindung an Grundrechte, an rechtsstaatliche Grundsätze und an den Grundsatz der Sozialstaatlichkeit spielt i n der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte eine bedeutende Rolle 2 8 . Sie darzustellen könnte Gegenstand eines besonderen Vortrages sein. Erlauben Sie mir, daß ich mich m i t einem Hinweis auf das Subventionsrecht begnüge, dessen Schranken nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vornehmlich durch den Gleichheitsgrundsatz bestimmt werden 2 9 . Ist man m i t dem Bundesverwaltungsgericht der Auffassung, daß die Behörden sich i m Bereich der leistenden Verwaltung durch allgemeine Verwaltungsvorschriften selbst binden oder daß die gesetzgebenden Körperschaften i m Beschlußwege Grundsätze und Richtlinien aufstellen können, nach denen Vergünstigungen an die Angehörigen eines bestimmten Personenkreises gewährt werden, so liegt die einzige rechtliche Bindung der Subventionsverwaltung i n der Tat i n dem Gleichheitsgrundsatz, dessen Einhaltung von den Verwaltungsgerichten überwacht werden muß. Werner hat i n diesem Zusammenhang von dem unmittelbaren Vollzug der Verfassung ohne Zwischenschaltung des Gesetzgebers gesprochen 30 . 11. 4.1968 DVB1. 1968 S. 710 ff., O V G Münster Beschl. v. 31. 5.1968 DVB1. 1968 S. 709 f., V G Sigmaringen Beschl. v. 2. 7.1968 DVB1. 1968 S. 717 f., V G H M a n n heim v. 23. 7.1968 DVB1.1968 S. 705 ff. 28

a.a.O. (Fußn. 23) S. 179 f. Die moderne Demokratie und i h r Recht, Festschrift für Gerhard Leibholz, Bd. I I , 1966, S. 153 ff., 162 f. 28 Z u r Bedeutung des Rechtsstaatsbegriffs i n der Rechtsprechung des B u n desverwaltungsgerichts vgl. meine gleichnamige Abhandlung DVB1. 1963 S. 475 ff. 27

29 U r t . V. 21. 3.1958 E Bd. 6 S. 282 ff., v. 23. 7.1958 E Bd. 7 S. 180 ff., v. 11.12. 1964 E Bd. 20 S. 101 ff., v. 14. 2.1969 E Bd. 31 S. 279 ff., 285. 30 Die Gerichte i n der gewaltenteilenden Demokratie, a.a.O. (Fußn. 20) S. 77.

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III. 1. Die Bedeutung der Verwaltungsgerichtsbarkeit i n der rechtsstaatlichen Demokratie spiegelt sich auch i n ihrem Verhältnis zum Gesetz und Gesetzgeber. Daß die Verwaltungsgerichte die Gesetze auszulegen und auf den Einzelfall anzuwenden haben, versteht sich von selbst. Daß die Entscheidung eines Einzelfalles oft weittragende Folgen für eine große Zahl gleichgelagerter Fälle hat, unterscheidet die heutige Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht von der früheren und beide nur dem Grade nach von anderen Gerichtsbarkeiten. A n dieser Aufgabe der Einzelfallentscheidung, die für die Praxis der Verwaltungsbehörden maßgebliche Bedeutung besitzt, hat sich seit den Anfängen der Verwaltungsgerichtsbarkeit nichts geändert. 2. Werner sieht die neue Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Übernahme eines Auftrages, der eigentlich von dem Gesetzgeber zu erfüllen sei. Schon i n seiner Abhandlung „Zur K r i t i k an der Verwaltungsgerichtsbarkeit" aus dem Jahre 195731 spricht er vom Versagen des Gesetzgebers, für das die Verwaltungsgerichtsbarkeit einstehen müsse. Der moderne Gesetzgeber gebe der Praxis immer neue Rätsel auf, Rätsel, die nur mit Hilfe der Rechtsprechung gelöst werden könnten. Die Verwaltung selbst sei daran interessiert, daß über die Gesetzesnormen Klarheit geschaffen werde. Der Prozeß werde als test-case geführt. Die Pathologie eines Rechtsfalles trete hinter der von der Verwaltung mit Nachdruck betonten Grundsätzlichkeit des Falles zurück. Die beklagte Behörde erwarte vom Gericht die Richtschnur des Handelns über den konkreten Streitfall hinaus, weil sie ohne eine solche arbeitsunfähig werde. Später 32 spricht er von dem „Rechtsfortbildungsauftrag", der von Hause aus dem Gesetzgeber zukomme, und meint, daß die heute übliche Leitsatz-Rechtsprechung ein Hinweis darauf sei, daß hier ein „apokrypher Gesetzgeber" tätig werde. Ich habe Zweifel, ob i n der Rechtsfortbildung wirklich eine neue Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit liegt. Werner weist selbst — wenn auch in einem etwas anderen Zusammenhang 33 — auf die frühere Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zur polizeilichen Generalklausel hin. Was das preußische Oberverwaltungsgericht i n „einer höchst differenzierten Rechtsprechung" aus § 10 I I 17 A L R gemacht hat, war Rechtsfortbildung i m Geist des liberalen Rechtsstaates, und seine Zuständigkeit i m 31

DVB1.1957 S. 221 ff. Die Gerichte i n der gewaltenteilenden Demokratie, a.a.O. (Fußn. 20) S. 72; vgl. auch Das Problem des Richterstaates, 1960, S. 18 ff. u n d Über Tendenzen der Entwicklung von Recht u n d Gerichten i n unserer Zeit, 1965, S. 24. 33 Zur K r i t i k an der Verwaltungsgerichtsbarkeit, a.a.O. (Fußn. 31) S. 226 f. 32

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Bereich des Polizeirechts, wie Werner mit Recht hervorhebt 3 4 , „eine Entscheidung i m politischen Bereich, nämlich eine Entscheidung über die Abgrenzung der bürgerlichen Freiheitssphäre gegenüber dem Staat". Zu keiner Zeit ist der Rechtsfortbildungsauftrag der Verwaltungsgerichte stärker i n Erscheinung getreten als i n dieser prätorischen Rechtsprechung des preußischen Oberverwaltungsgerichts 35 . Drews ' „Preußisches Polizeirecht" aus dem Jahre 1927 und das preußische Polizeiverwaltungsgesetz vom 1. Juni 1931 (GS S. 77) waren die reife Frucht dieser fast fünfzigjährigen Entwicklung. Wie sehr das heutige Polizeirecht i n der Bundesrepublik auf dieser Rechtsprechung beruht, lehrt bereits ein flüchtiger Blick i n die Polizei- und Ordnungsgesetze der deutschen Länder. Freilich ist unser Rechtsstaatsverständnis nicht mehr dasselbe wie das des Gesetzgebers i m Jahre 1931. So ist die heutige Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte auch i m Bereich des Polizeirechts zur Rechtsfortbildung aufgerufen. Die Diskussion der letzten Jahre um den Einfluß des Grundgesetzes auf das Polizeirecht, die i n der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte freilich bisher nur einen geringen Niederschlag gefunden hat, ist dafür ein Beleg 36 . 3. Zuzugeben ist, daß sich der Rechtsfortbildungsauftrag der Verwaltungsgerichte heute auf Gebiete des Verwaltungsrechts erstreckt, die es früher überhaupt nicht gab oder die von der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte nicht erfaßt wurden. Man braucht nur an den weiten Bereich der Kriegsfolgengesetzgebung zu denken. Aber auch das Baurecht, das Wirtschaftsverwaltungsrecht und das Recht des öffentlichen Dienstes sind hier zu erwähnen. A u f allen diesen Rechtsgebieten spielen die Generalklausel und der unbestimmte Gesetzesbegriff eine hervorragende Rolle. Wiederholt hat Werner darauf hingewiesen, daß jede materiellrechtliche Generalklausel die richterliche A k t i v i t ä t herausfordere 37 . Die Verwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe zwingt die Verwaltungsgerichte dazu, diese Begriffe durch sog. Mittelbegriffe (Oertmann) näher zu bestimmen, eine Aufgabe, die von den Gerichten der Z i v i l - und Strafgerichtsbarkeit seit vielen Jahrzehnten erfüllt w i r d 3 8 . Diese Konkretisierung unbestimmter Gesetzesbegriffe ist eine legitime Aufgabe der Gerichte, auch der Verwaltungsgerichte. Hier von einem „Versagen des Gesetzgebers" zu sprechen, wäre nur dann gerechtfertigt, 34

Die Gerichte i n der gewaltenteilenden Demokratie, a.a.O. (Fußn. 20) S. 75. Vgl. Drews/Wacke, Allgemeines Polizeirecht, 6. Aufl. 1952 S. 6. 36 Vgl. Ule/Rasch, Allgemeines Polizei- u n d Ordnungsrecht, 1965, Rdnrn. 10—19 zu §§ 15—17 pr. PVG, Rdnrn. 13, 14 zu § 20 pr. PVG, A n m . I V 3 zu § 2 UZwG. 37 Z u r K r i t i k an der Verwaltungsgerichtsbarkeit, a.a.O. (Fußn. 31) S. 227, Wandlung des Polizeibegriffs, a.a.O. (Fußn. 6) S. 809. 38 Vgl. Ule, Zur Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe i m V e r w a l tungsrecht, i n : Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, 1955, S. 309 ff., 319, 326. 85

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wenn der Gesetzgeber i n der Lage wäre, die unbestimmten Gesetzesbegriffe selbst näher zu bestimmen. Aber schon der Gesetzgeber des ausgehenden 19. Jahrhunderts hatte auf die Verwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe nicht verzichten können. Und der moderne Gesetzgeber hat, wofür vor allem die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Wirtschaftsverwaltungsrechts, aber auch des Bau- und Wohnungsrechts, zahlreiche Beispiele liefert, aus dieser Not eine Tugend machen müssen. Die raschen Veränderungen, denen die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse ausgesetzt sind, zwingen den Gesetzgeber dazu, sich unbestimmter Gesetzesbegriffe zu bedienen, u m eine rasche Anpassung der Verwaltungspraxis an diese Veränderungen zu ermöglichen 39 . Auch kann die Zahl der möglichen Mittelbegriffe, die für die Konkretisierung eines unbestimmten Gesetzesbegriffs i n Betracht kämen, so groß sein, daß sie, w i l l man nicht i n eine kasuistische Gesetzgebung zurückfallen, nur durch eine A r t Generalklausel (ζ. B. Zuverlässigkeit, Eignung, unbillige Härte, wichtiger Grund) erfaßt werden kann. 4. Trotzdem steckt i n der These vom „Versagen des Gesetzgebers" ein richtiger Kern. Damit ist nicht, wie Werner hervorhebt 4 0 , ein persönliches Verschulden der an der Gesetzgebung Beteiligten gemeint. Der Gesetzgeber w i r d vielfach einfach überfordert 4 1 . Für diese Überforderung ließen sich zahlreiche Belege anführen.'Werner selbst weist darauf hin, daß die Gerichte genötigt seien, „Gesetze aus den Jahren 1933 bis 1945 anzuwenden, die sie i m Grunde nicht anwenden möchten und sollten, die sie aber praktizieren, weil anderenfalls eine Gesetzlosigkeit auf dem betreffenden Rechtsgebiet drohen würde" 4 2 . Die bereits erwähnte Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zur Ungültigkeit einzelner Bestimmungen i n vorkonstitutionellen Gesetzen (ζ. B. Bedürfnisklausel) gehört i n diesen Zusammenhang. Als ein, wie ich meine, eindrucksvolles Beispiel möchte ich das Schweigen des Gesetzgebers zur Rechtsnatur der amtlichen Verkehrszeichen anführen. Der Streit u m die Rechtsnatur der Verkehrszeichen beschäftigt seit zwanzig Jahren die Gerichte und das rechtswissenschaftliche Schrifttum 4 3 . Schon die früher i n Rechtsprechung und Schrifttum herrschende Auffassung, daß die amtlichen Verkehrszeichen Rechtsvorschriften seien, und die dadurch aufgeworfenen Probleme hätten den Gesetzgeber zum Eingreifen veranlassen sollen. Nachdem sich seit einigen Jahren der Bundesgerichtshof 44 , das Bundesver39

Vgl. Ule, a.a.O. (Fußn. 38) S. 315. Z u r K r i t i k an der Verwaltungsgerichtsbarkeit, a.a.O. (Fußn. 31) S. 226. Das Problem des Richterstaates, S. 19. 42 a.a.O. S. 20. 43 Vgl. die Nachweise bei Ule, Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2. A u f l . 1962, A n m . I V 2 d (S. 149 f.) zu § 42 V w G O , ders., Verwaltungsprozeßrecht, 4. Aufl. 1966 S. 119. 44 Urt. v. 4.12.1966 BGHSt Bd. 20 S. 125 ff. 40

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fassungsgericht 45 und das Bundesverwaltungsgericht 46 auf den Standpunkt der bisherigen Minderheitsmeinung gestellt haben, daß die Verkehrszeichen Allgemeinverfügungen seien, wäre ein Eingreifen des Gesetzgebers noch dringlicher gewesen. Denn nun ergab sich das Problem, ob Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Verkehrszeichen nach § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende W i r k u n g haben, da nach dem Wortlaut des § 80 Abs. 2 Nr. 1—3 keine Ausnahme von diesem Grundsatz gegeben ist. Man hat deshalb auch schon nach dem Gesetzgeber gerufen 4 7 . Jedoch hat die Rechtsprechung auf das Eingreifen des Gesetzgebers nicht warten können und das Problem durch entsprechende Anwendung des § 80 Abs. 1 Nr. 2 VwGO auf die amtlichen Verkehrszeichen zu lösen versucht 48 . Solche Aufgaben w i r d die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte weiter zu bewältigen haben und m i t den ihr zur Verfügung stehenden Rechtfindungsmethoden meist auch bewältigen können. IV. 1. Das Problem der Generalklauseln und der unbestimmten Gesetzesbegriffe ist noch i n einer anderen Beziehung für die Stellung der Verwaltungsgerichtsbarkeit i n der rechtsstaatlichen Demokratie von Bedeutung. Der unbestimmte Gesetzesbegriff „ist der Ort, wo sich Verwaltungsstaat und Rechtsstaat begegnen"; „ i n einer rechtsstaatlichen Ordnung, i n der Verwaltungsgerichte dazu berufen sind, jeden Verwaltungsakt auf seine Rechtmäßigkeit nachzuprüfen, führt die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe dazu, daß die vom Gesetzgeber den Verwaltungsbehörden damit eingeräumte größere Entscheidungsfreiheit letztlich durch die Verwaltungsgerichte wieder eingeschränkt wird. I n dieser Erscheinung liegt m. E. die eigentliche Problematik der unbestimmten Rechtsbegriffe i m Bereich des Verwaltungsrechts" 4 9 . Die dadurch bewirkte Spannung zwischen Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit habe ich vor 15 Jahren durch die sog. Vertretbarkeitstheorie zu lösen versucht. Sie gipfelt i n der Feststellung, daß „ f ü r eine Rechtskontrolle der Verwaltung i m eigentlichen und strengen Sinne kein Raum mehr ist", wo das Gericht „anerkennen muß, daß verschiedene Beurteilungen und Würdigungen eines Sachverhalts durch den unbestimmten Rechtsbegriff gedeckt werden" 5 0 , jede dieser Auffassungen auf 45 46

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Beschl. V. 24. 2.1965 N J W 1965 S. 2395. Urt. V. 9. 6.1967 E Bd. 27 S. 188 ff.

Löwer, NJW 1968 S. 1541.

OVG Münster Beschl. v. 19.11.1968 DVB1. 1969 S. 318 f. = J Z 1969 S. 261 ff. = N J W 1969 S. 765 f., B G H v. 23. 7.1969 BGHSt Bd. 23 S. 86 ff.; gegen die E n t scheidung des OVG Münster Schmaltz , N J W 1969 S. 1318 f. 49 Ule, Z u r A n w e n d u n g unbestimmter Rechtsbegriffe i m Verwaltungsrecht, a.a.O. (Fußn. 38) S. 314. 50 a.a.O. (Fußn. 38) S. 328.

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Grund des Sachverhalts also vertretbar ist 5 1 . „ K a n n man i n der Würdigung eines bestimmten Sachverhalts zu verschiedenen Ergebnissen gelangen, was durch das Vorliegen verschiedener — gleichwertiger — Sachverständigengutachten nur unterstrichen wird, so hält sich jede dieser Würdigungen i m Rahmen des unbestimmten Rechtsbegriffs und ist rechtmäßig. Dem Verwaltungsgericht sollte es deshalb verwehrt sein, in solchen Grenzfällen sein eigenes Werturteil an die Stelle des Urteils der Verwaltungsbehörde zu setzen" 51 . Werner hat i m Jahre 1957 i n der Abhandlung „ Z u r K r i t i k an der Verwaltungsgerichtsbarkeit" 52 gemeint, daß sich i n dieser Auffassung eine Entwicklung widerspiegele, die i n den letzten Jahren immer mehr i n der Judikatur herrschend geworden sei. Er weist darauf hin, daß die Spannung zwischen Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit i m Grunde genommen darauf beruhe, daß die Verwaltung der Verwaltungsgerichtsbarkeit den Vorwurf mache, sie wolle sachverständiger sein als die Verwaltung. Zwar sei der Sachverständige der Gehilfe des Richters, aber i n der Praxis werde der Richter doch dem Sachverständigen i n der überwiegenden Zahl der Fälle folgen. Das Gericht werde nur dann von seinem Votum abweichen, wenn er einen unrichtigen Sachverhalt zugrunde gelegt, willkürlich gehandelt oder ein falsches Verfahren eingeschlagen habe. Diese Grundsätze sollten auch das Verhältnis von Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit bestimmen. „Auch hier, wo sich die Verwaltung i m Spielraum ihrer Entscheidungsmöglichkeiten sachverständig betätigt, w i r d der Verwaltungsrichter grundsätzlich folgen können und nur i n Ausnahmefällen eine eigene Würdigung anstellen. . . . Bei der Handhabung von weitgehend technischen Begriffen wie Bedürfnisprüfung, Zuverlässigkeit, Würdigkeit, Dringlichkeit, Interesse des Verkehrs und ähnlicher Formulierungen aber sollten die Gerichte die Entscheidung der Verwaltung als die eines Sachverständigen auffassen, die sie nur unter bestimmten Voraussetzungen korrigieren" 5 3 . Werner hat weiter darauf aufmerksam gemacht, daß die Beantwortung der Frage, ob ein Bedürfnis vorliege oder ein Bewerber zuverlässig sei, sich nicht darauf beschränke, einen i n der Vergangenheit abgeschlossenen Vorgang zu beurteilen, sondern wesentlich auch ein Urteil über ein zukünftiges Verhalten enthalte. „Die Handhabung solcher Begriffe bedeutet eine Prognose für die Zukunft. U m so mehr w i r d es Aufgabe des Richters sein, sich zurückzuhalten und kein Diktat der Besserwisserei zu betreiben" 5 3 . Es würde den Rahmen dieses Vortrages sprengen, wenn ich auch nur den Versuch machen wollte, die Entwicklung des unbestimmten Gesetzesbegriffs i n der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte in den letzten 51 52 M

a.a.O. (Fußn. 38) S. 326. a.a.O. (Fußn. 31) S. 226. a.a.O. (Fußn. 31) S. 226.

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zehn Jahren näher darzustellen. Ich muß mich daher mit einem knappen Hinweis begnügen. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht i m Bereich des Schul- und Prüfungsrechts daran festgehalten, daß pädagogische und wissenschaftliche Werturteile nur daraufhin nachgeprüft werden können, ob der Prüfer von falschen Tatsachen ausgegangen ist, allgemein gültige Bewertungsgrundsätze nicht beachtet hat oder sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen 54 . Aber auf anderen Rechtsgebieten außerhalb des Schul- und Prüfungsrechts und des Beamtenrechts hat das Bundesverwaltungsgericht doch i n seiner neueren Rechtsprechung die volle gerichtliche Nachprüfbarkeit für eine Reihe unbestimmter Gesetzesbegriffe i n Anspruch genommen, auch der I. Senat unter dem Vorsitz von Werner. So w i r d i n dem Urteil vom 28. Mai 196355 entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Hamburg, das den Fall i m Sinne der Vertretbarkeitstheorie entschieden hatte, ausgeführt, daß die Frage, ob die Versagung der Zustimmung nach § 9 Abs. 3 FStrG „nötig" gewesen sei, eine Tat- und Rechtsfrage sei, die i n vollem Umfange der gerichtlichen Nachprüfung und Entscheidung unterliege 5 6 . Auch i n dem Urteil vom 29. A p r i l 196457 nimmt das Bundesverwaltungsgericht an. daß das Gesetz auf die Frage, ob die Ausführung eines Bauvorhabens öffentliche Belange i m Sinne des § 35 Abs. 2 BBauG beeinträchtige, nur eine richtige A n t w o r t zulasse 58 . Allerdings ist die entscheidende Erwägung des Gerichts i n diesem Falle, daß es m i t dem verfassungsmäßig gewährleisteten Eigentum unvereinbar wäre, wenn ein Vorhaben, das keine öffentlichen Belange beeinträchtige, nicht zugelassen würde. Ein ähnlicher Gesichtspunkt hatte schon bei dem ersten Urteil eine maßgebliche Rolle gespielt. Diese beiden Entscheidungen lassen daher nicht erkennen, ob Werner m i t ihnen seine grundsätzliche Einstellung zur Vertretbarkeitstheorie aufgegeben hat. Noch i m Jahre 1960 hat er an ihr, wie der Vortrag „Probleme der Verwaltungsgerichtsbarkeit" auf den Hessischen Hochschulwochen zeigt 5 9 , festgehalten. Ich halte die neuere Entwicklung, die sich auch i n mehreren Urteilen anderer Senate des Bundesverwaltungsgerichtes spiegelt 60 , für bedenklich und bin ihr an anderer Stelle nachdrücklich entgegengetreten 61 . Nach wie vor bin ich der Überzeugung, daß die Verwaltungsgerichte die ihnen 54

Nachweise bei Ule, Verwaltungsprozeßrecht, 4. Aufl. 1966 S. 15. E Bd. 16 S. 116 ff. 56 E Bd. 16 S. 116 ff. 57 E Bd. 18 S. 247 ff. s8 a.a.O. S. 251. 59 Hess. Hochschulwochen für Staats wissenschaftliche Fortbildung, Bd. 31 S. 103 ff., 112 ff. 60 Nachweise bei Ule, Verwaltungsprozeßrecht, 4. Aufl. 1966 S. 8 f., ferner Urt. v. 12.1.1966 E Bd. 23 S. 112 ff., 114, v. 28.1.1966 E Bd. 23 S. 194 ff. 61 DVB1.1966 S. 574 f., 584. 55

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gezogenen Grenzen der Rechtskontrolle überschreiten, wenn sie durch den unbestimmten Gesetzesbegriff und durch den festgestellten Sachverhalt gedeckte Entscheidungen der Verwaltungsbehörden, die auf einem vertretbaren Werturteil beruhen, aufheben. 2. Das Verhältnis der Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Verwaltung w i r d jedoch nicht nur durch die Intensität des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes bestimmt, sondern auch durch seinen Umfang. Die K r i t i k an der Generalklausel, m i t der sich Werner i m Jahre 1957 noch auseinandersetzen mußte und der er scharf entgegengetreten ist 6 2 , ist heute verstummt. Eher kann man von Tendenzen sprechen, die i m Wesen des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes liegenden Schranken zu beseitigen und diesen Rechtsschutz auch auf solche Bereiche auszudehnen suchen, die für gerichtliche Auseinandersetzungen nicht i n Betracht kommen können. Ich denke etwa an die Forderung nach einem verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz gegen Anordnungen der Vorgesetzten i m Beamtenverhältnis, der ich schon in meinem Aufsatz „Entwicklungstendenzen i m Beamtenrecht" i m Jahre 196I e 3 entgegengetreten bin, und die Frage der Justiziabilität von Gnadenerweisen, die das Bundesverwaltungsgericht leider durch das Urteil vom 8. März 196264 nicht i n ihrer grundsätzlichen Bedeutung gewürdigt hat. Hier zeichnet sich die Gefahr einer totalen Verrechtlichung ab, auf die auch Werner wiederholt hingewiesen hat. „Die Verrechtlichung unserer Existenz führt i n eine Verengung unserer Menschlichkeit" 65 und „Wer das Recht als totale Ordnung w i l l , verkennt, daß es auch andere Kategorien gibt, die m i t gleichem Lebensrecht den einzelnen und die Welt halten" 6 6 . V. 1. Die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit ist der Teil der Rechtsprechung, dem der Rechtsschutz gegen rechtswidrige Maßnahmen der Verwaltung anvertraut ist. Dieser Rechtsschutz w i r d nicht zur Aufrechterhaltung der objektiven Rechtsordnung gewährt, sondern soll dem Einzelnen die Möglichkeit geben, seine Rechte gegenüber der Verwaltung geltend zu machen 67 . Gegner des Einzelnen i m Prozeß ist daher i n der Regel die staatliche oder gemeindliche Verwaltung. Die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte zur Aufhebung rechtswidriger Verwaltungsakte hat sich durch die Einführung der General62

227.

63 64 65 66 67

Z u r K r i t i k an der Verwaltungsgerichtsbarkeit, a.a.O. (Fußn. 31) S. 221 f., Juristen-Jahrbuch Bd. 2 S. 212 ff. E Bd. 14 S. 73 ff. Vgl. auch B V e r f G Beschl. v. 23. 4.1969 E Bd. 25 S. 352 ff. Das Problem des Richterstaates, a.a.O. (Fußn. 32) S. 22. Recht u n d Gerechtigkeit, DVB1.1968 S. 770 ff., 773. Ule, Verwaltungsprozeßrecht, 4. A u f l . 1966 S. 4.

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klausel auf alle Bereiche der Eingriffsverwaltung ausgedehnt. Sie hat auch die besonderen Gewaltverhältnisse erfaßt, so daß Klagen aus dem Beamtenverhältnis, dem Wehrdienstverhältnis, dem Schul- und Hochschulverhältnis und aus anderen Anstaltsverhältnissen zum täglichen Brot der Verwaltungsgerichte gehören. Die Anfechtungsklage und die sie ergänzende Feststellungsklage, die aus § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO entwickelt worden ist, werden i n ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung allen Anforderungen eines lückenlosen Rechtsschutzes gerecht. Sie greifen auch nicht zu weit i n die berechtigten Belange der Verwaltung ein, da den Verwaltungsgerichten durch die der Generalklausel immanenten Schranken, durch den Ausschluß der Popularklage und durch die Beschränkung auf Rechtsfragen deutliche Grenzen gezogen sind. Eine i m Vergleich m i t anderen europäischen und außereuropäischen Rechtsschutzsystemen vorbildliche Regelung des vorläufigen Rechtsschutzes — die grundsätzlich aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage und die gerichtliche Befugnis zur Anordnung und Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung bzw. zur Aufhebung der Vollziehung (§ 80 VwGO) — hindert die Verwaltungsbehörden daran, vor der Entscheidung über die Klage vollendete Tatsachen zu schaffen. Wo sie versucht haben, durch überfallartige Maßnahmen die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs und der Anfechtungsklage zu unterlaufen, ist ihnen das Bundesverwaltungsgericht unter Berufung auf A r t . 19 Abs. 4 GG scharf entgegengetreten 6 8 . I n diesen Fällen hat sich das Instrumentarium der Verwaltungsgerichtsordnung als ein durchaus brauchbares Werkzeug zur Bekämpfung verwaltungsstaatlicher Neigungen bewährt. Die Klagen i n der Verwaltung selbst über die Ausdehnung des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes und die durch sie bewirkte Lähmung der Verwaltung, m i t denen sich Werner noch i m Jahre 1960 auseinandersetzen mußte 6 9 , sind weitgehend verstummt. Es scheint m i r charakteristisch zu sein, daß Reschke in seinem interessanten Vortrag auf der Mitgliederversammlung der Kommunalen Gemeinschaftsstelle auf die Frage „Wer verwaltet uns wirklich?" 7 0 unter 16 Beispielen nur zwei erwähnt, die sich auf die Gerichte beziehen. Eines dieser Beispiele betrifft den Beschluß des Verwaltungsgerichts Berlin vom 17. Februar 196871, durch den das Verwaltungsgericht i m Wege einer einstweiligen Anordnung eine vom Berliner Polizeipräsidenten verbotene VietnamDemonstration zuließ. Diese Entscheidung mag unrichtig gewesen sein, gibt aber kaum zu allgemeinen Schlußfolgerungen Anlaß. Das zweite 68

v. 2. 9.1963 E Bd. 16 S. 289 ff., v. 29.10.1963 E Bd. 17 S. 83 ff. Die richterliche Nachprüfung der Verwaltungsakte, Hess. Hochschulwochen für Staatswissenschaftliche Fortbildung, Bd. 35, 1961, S. 119 ff., 120. 70 Mitteilungen der K o m m u n a l e n Gemeinschaftsstelle f ü r Verwaltungsvereinfachung, Sonderdruck, November 1969. 71 D Ö V 1968 S. 700 f. 69

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Beispiel betrifft den Eingemeindungsfall Göppingen, den das Verwaltungsgericht Stuttgart durch Urteil vom 28. Mai 196872 entschieden hat. Reschke stellt ihn so dar: „Die Gemeinde A beschließt i n vier Volksabstimmungen den Zusammenschluß m i t der Stadt B. Es w i r d eine Vereinbarung geschlossen. Der Regierungspräsident stimmt nicht zu. Die Stadt klagt. Das Gericht erklärt die Klage für zulässig, weist sie aber ab, weil nach Meinung des Gerichts der Verflechtungsbereich zwischen den beiden Gemeinden nicht groß genug sei, die Stadt Β noch Siedlungsgebiete i n ihren eigenen Grenzen genug habe und das Gericht nicht habe feststellen können, daß die Gemeinde A ihre Aufgaben nicht erfüllen könne. Außerdem verfolge die Raumordnung und die Landesplanung andere Ziele." Hier soll doch offenbar dem Gericht der Vorwurf gemacht werden, eine Entscheidung getroffen zu haben, die eigentlich die beteiligten Gemeinden hätten treffen müssen. Da ich selbst die Stadt Göppingen i n dem Prozeß vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart gegen das Land Baden-Württemberg vertreten habe, fällt es m i r nicht schwer, Reschke i n seiner K r i t i k zuzustimmen. Aber er hätte seinen Vorwurf wohl i n erster Linie an die Adresse des Regierungspräsidenten richten müssen, der die nach § 8 Abs. 2 GO für Baden-Württemberg erforderliche Genehmigung der Vereinbarung über die Grenzänderung verweigert hatte. Der Streit zwischen den beiden beteiligten Gemeinden und dem Regierungspräsidenten konnte doch gar nicht anders geschlichtet werden als durch eine Entscheidung des Gerichts. Auch dieser Fall scheint mir daher für das Verhältnis von Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit nichts Grundsätzliches herzugeben, sieht man einmal davon ab, daß das Gericht trotz hartnäckigen Widerstandes des Landes die Zulässigkeit einer Verpflichtungsklage auf Erteilung der Genehmigung durch den Regierungspräsidenten bejaht hat. Das freilich war ein absolutes Novum i n den Auseinandersetzungen zwischen Gemeinden und Staat i m Bereich der gemeindlichen Gebietsänderungen, die bisher nur in Abwehrmaßnahmen gegen Zwangseingemeindungen bestanden hatten 7 3 . Natürlich führt dieser Fall wieder auf das Problem des unbestimmten Gesetzesbegriffs, da § 8 Abs. 1 GO für Baden-Württemberg die Grenzänderung an Gründe des öffentlichen Wohls bindet. Nach der Vertretbarkeitstheorie hätte hier — das Vorliegen eines Grenzfalles unterstellt — die Entscheidung zu Gunsten der beteiligten Gemeinden ausfallen können, denn die Beschlüsse der Gemeinderäte der beteiligten Gemeinden und das Ergebnis der Bürgeranhörung (§ 8 Abs. 2 Satz 1 und 2 GO für Baden-Württemberg) hätten dabei den Ausschlag geben müssen. A n diesem Fall zeigt sich die Be72 73

Bad.-Württ. VB1.1969 S. 170 ff. = DVB1.1969 S. 813 ff.

Vgl. Ule, Zwangseingemeindung u n d Verfassungsgerichtsbarkeit, V e r w Arch. Bd. 60 (1969) S. 101 ff., ders., Maßnahmen der Verwaltungsreform und ihre gerichtliche Überprüfung, Festschrift für Gebhard Müller, 1970, S. 529 ff.

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deutung, die demokratische Mehrheitsentscheidungen für die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte gewinnen können. 2. Oft sind aber gerade diese Mehrheitsentscheidungen Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung. a) Das gilt zunächst für die sog. kommunalen Verfassungsstreitigkeiten, auf deren Bedeutung Werner schon i m Jahre 1952 i n seinem Vortrag „Kommunale Selbstverwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit" 7 4 hingewiesen hat. Er konnte sich dabei auf das unter seiner M i t w i r k u n g zustande gekommene U r t e i l des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg vom 1. September 195075 stützen, i n dem der überstimmten Minderheit eines Kreistages die Befugnis zugesprochen wurde, die Wahl des Landrats m i t der Begründung anzufechten, sie sei rechtswidrig erfolgt. Durch dieses U r t e i l würden die kommunalen Vertretungskörperschaften darauf hingewiesen, daß die Selbstgestaltung ihrer verfassungsrechtlichen Ordnung nicht rechts- und gerichtsfrei sei und die Verwaltungsgerichte, wie Werner es formuliert hat, zum „Hüter der Kommunal Verfassung" aufgerufen. Die spätere Rechtsprechung — auch des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg — hat sich von dieser Auffassung abgewandt 7 6 und die Klagebefugnis i n kommunalen Verfassungsstreitigkeiten an die Verletzung von M i t gliedschaftsrechten und Mitgliedsrechten gebunden. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Frage bisher nicht entschieden. I n dem U r t e i l vom 8. Dezember 195577 hat es offen gelassen, ob einzelne Mitglieder eines Gemeinderats berechtigt sind, gegen einen von ihnen für rechtswidrig gehaltenen Beschluß des Gemeinderats das Verwaltungsgericht anzurufen. Bei seiner Entscheidung sollte der Gesichtspunkt, Popularklagen einzuschränken 78 , jedenfalls keine Rolle spielen, denn die Klage der überstimmten Minderheit gegen die Mehrheit ist genau so wenig eine Klage des quivis ex populo wie die Klage des Antragsstellers i m Verfahren nach § 11 Abs. 2 i n Verb, m i t § 20 des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften vom 29. A p r i l 1961 (BGBl. I S . 497) 79 . b) Das Problem der Überprüfung einer Mehrheitsentscheidung durch die Verwaltungsgerichte spielt auch i n dem Fall eines Kommunalbeamten auf Probe eine Rolle, den Werner i n seinem Beitrag erwähnt hatte. Der Kläger war zum Stadtverwaltungsrat der beklagten Stadt gewählt worden m i t der Maßgabe, daß nach einer einjährigen Probedienstzeit die 74

DVB1.1952 S. 549 ff., 553. A m t l . Samml. Bd. 2 S. 225 ff. 76 Vgl. Hoppe, Organstreitigkeiten vor den Verwaltungs- u n d Sozialgerichten, 1970, S. 76; OVG Lüneburg v. 11.10.1960, D Ö V 1961 S. 548 f. 77 E Bd. 3 S. 30 ff. 78 Vgl. Hoppe, a.a.O. (Fußn. 76) S. 77. 79 Menger, V e r w A r c h . Bd. 57 (1966) S. 76 ff., Uie, DVB1. 1965 S. 580 ff.; a. A. B V e r w G v. 6.11.1964 E Bd. 19 S. 269 ff. 75

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Übernahme auf 12 Jahre erfolgen würde. A m Ende der Probezeit erklärte der Rat der Stadt die Probezeit für nicht bestanden. Der Kläger behauptet, seine A b w a h l sei darauf zurückzuführen, daß sich während des Probejahres die parteipolitische Zusammensetzung des Rates nach einer Neuwahl geändert habe und daß ihn die neue Mehrheit des Rates als politischen Gegner abgewählt habe. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg erklärte i n den Gründen seines Urteils vom 6. J u l i 195080, daß eine nur aus parteipolitischen Gründen erfolgte A b w a h l rechtswidrig sei. Werner hat m i t Recht darauf hingewiesen, daß die Entscheidung sich damit für eine Stärkung der beamtenrechtlichen Komponente der Rechtsstellung des kommunalen Amtsträgers ausgesprochen habe und als A n satzpunkt dafür dienen könne, seine gefährdete Rechtsstellung jedenfalls bis zu einem gewissen Umfang gegen beamtenrechtsfremde Einflüsse abzuschirmen 81 . Leider ist die spätere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts diesem Hinweis nicht gefolgt. Bekanntlich haben beide Gerichtshöfe die Abwahl leitender Kommunalbeamten für grundgesetzmäßig erklärt 8 2 . Damit hat die Rechtsprechung die leitenden Kommunalbeamten den politischen Beamten i n Bund und Ländern gleichgestellt. Diese können, wenn sie Beamte auf Lebenszeit sind, nach § 31 Abs. 1 BRRG jederzeit i n den einstweiligen Ruhestand versetzt werden. Das bedeutet, daß die Versetzung i n den einstweiligen Ruhestand i m Ermessen des Dienstherrn liegt, das nur durch die gesetzlichen Grenzen und den Zweck der gesetzlichen Ermächtigung eingeschränkt ist 8 3 . Die Versetzung i n den einstweiligen Ruhestand ist daher rechtmäßig, wenn die vom Gesetz geforderte fortdauernde Übereinstimmung des Beamten mit den grundsätzlichen politischen Ansichten und Zielen der Regierung nicht mehr besteht 84 . A u f welchen Gründen dieser Mangel der Übereinstimmung beruht, ist unerheblich. Er kann auch auf einem Nachlassen der persönlichen und fachlichen Eignung des Beamten 8 4 oder auf einem Zweifel der Regierung daran beruhen, „daß die fachliche oder persönliche Eignung des Beamten, seine Amtstätigkeit oder auch nur sein außerdienstliches Verhalten den höchstmöglichen Grad einer zielstrebigen, wirkungsvollen Zusammenarbeit i m Sinne der von ihr verfolgten Politik gewährleistet" 8 5 . 80

A m t l . Samml. Bd. 2 S. 196 ff. Kommunale Selbstverwaltung u n d Verfassungsgerichtsbarkeit, a.a.O. (Fußn. 74) S. 553. 82 B V e r f G v. 17.10.1957 E Bd. 7 S. 155 ff., B V e r w G v. 14.1.1965 E Bd. 20 S. 160 ff. 83 O V G Münster Besch, v. 20.12.1957 R i A 1958 S. 141 ff. = ZBR 1958 S. 141 ff., B V e r w G v. 29.10. 1964 E Bd. 19 S. 332 ff. 84 OVG Koblenz v. 20. 2.1960 AS Bd. 8 S. 1 ff. 85 B V e r w G v. 29.10.1964 a.a.O. (Fußn. 83) S. 336. 81

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Ob bei Anlegung dieser Maßstäbe die Versetzung zahlreicher Ministerialbeamter des Bundes i n den einstweiligen Ruhestand i m Herbst 1969 rechtmäßig war, vermag ich nicht zu beurteilen. Diese Frage läßt sich ohne Kenntnis der Gründe, die i n jedem einzelnen Fall zur Versetzung i n den einstweiligen Ruhestand geführt haben, nicht beantworten. A l l e r dings brauchen dem Beamten diese Gründe nach der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte 8 6 nicht bekannt gegeben zu werden. Jedoch sollten die Gerichte prüfen, ob diese Rechtsprechung m i t den Vorschriften des Grundgesetzes über die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) und des gerichtlichen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) vereinbar ist. A m wenigsten Anlaß zur K r i t i k haben freilich jene Politiker, die gegen den begründeten Vorschlag des Beamtenrechtsausschusses des Deutschen Bundestages bei der Verabschiedung des Bundesbeamtengesetzes beschlossen haben, auch die Ministerialdirektoren i m Bundesdienst zu politischen Beamten zu machen. 3. Schwieriger, aber auch bedeutungsvoller w i r d die Aufgabe der Verwaltungsgerichte, wenn ein politischer Beamter auf den Druck einer politischen Partei oder eines Verbandes i n den einstweiligen Ruhestand versetzt wird. Hier stellt sich die Frage, ob eine auf den massiven Druck einer solchen Stelle getroffene Entscheidung überhaupt noch eine rechtmäßige Ermessensentscheidung sein kann. Die herkömmliche Ermessenslehre erklärt eine Ermessensentscheidung für fehlerhaft, wenn die Behörde ein i h r zustehendes Ermessen nicht hat walten lassen, w e i l sie sich irrtümlich an ein Gesetz oder eine Verwaltungsvorschrift für gebunden gehalten oder sonst eine Wahlmöglichkeit außer Betracht gelassen hat (der von Wolff 87 sog. Ermessensmangel). Erst recht sollte dann eine Ermessensentscheidung fehlerhaft sein, bei der die Behörde aus anderen, vom Recht mißbilligten Gründen nicht frei handeln konnte. Überdies ist allgemein anerkannt, daß jeder Verwaltungsakt fehlerhaft ist, der durch Zwang, Drohung oder Kollusion herbeigeführt worden ist 8 8 , wobei man allerdings kaum an Einwirkungen von Parteien oder Verbänden auf die Entscheidungsfreiheit der Verwaltungsbehörden gedacht hat. Der Einfluß intermediärer Gewalten auf die Verwaltung eröffnet hier auch der Verwaltungsgerichtsbarkeit ein neues Betätigungsfeld. Schon i m Jahre 1955 hat Werner darauf aufmerksam gemacht 89 , daß der Staat heute nicht mehr durch die ministerielle Exekutive verkörpert werde, sondern ebenso durch die politischen Parteien, die den Staat i n Besitz genommen haben. 80 OVG Münster Besch, v. 20.12.1957 a.a.O. (Fußn. 83) S. 143, B V e r w G v. 29.10.1964 a.a.O. (Fußn. 83) S. 336. 87 Verwaltungsrecht 17. Aufl. 1968, § 31 I I d 1 β S. 173 f. 88 Wolff , a.a.O. (Fußn. 87), § 5 1 I V b 7 (S. 343). 89 Der 40. Deutsche Juristentag i n Hamburg, DVB1. 1953 S. 625 ff., 627.

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4. M i t welcher Stärke diese auf die Verwaltung einwirken, zeigen Fälle, i n denen sich die Verwaltungsgerichte m i t dem Verbot politischer Versammlungen oder m i t der Benutzung kommunaler Einrichtungen durch politische Parteien zu beschäftigen hatten. Aus der Fülle der zu diesen Fragenkomplexen ergangenen Entscheidungen greife ich zwei heraus, i n denen der Druck der intermediären Gewalten am deutlichsten spürbar ist. Die erste Entscheidung ist der Beschluß des Oberverwaltungsgerichts Saarlouis vom 16. November 196990, durch den das Oberverwaltungsgericht das Verbot des Bundesparteitages einer politischen Partei wegen bevorstehender illegaler Gegenaktionen unter dem Gesichtspunkt des polizeilichen Notstandes für rechtmäßig erklärt hat. I n der Entscheidung heißt es, daß die politische Partei „sich nicht nur i m Rahmen der Gesetze bewegt, sondern darüber hinaus sogar ihren verfassungsmäßigen und gesetzlichen Verpflichtungen nachzukommen beabsichtigt" habe. Dagegen seien die Gegenaktionen ungesetzlich und strafbar gewesen. Trotzdem hat das Gericht das polizeiliche Verbot des Parteitages gebilligt, w e i l nach den glaubwürdigen Aussagen der Zeugen „das Ausmaß der emotionalen Erregung der angereisten Gewerkschaftsmitglieder so groß" war, „daß es bei Verbot des geordneten Demonstrationszuges zu ungeordneten und damit weit gefährlicheren Aufzügen gekommen wäre, wobei die Einwirkungsmöglichkeit radikaler Gruppen ungleich größer gewesen wäre". Ich w i l l die Richtigkeit dieses Urteils gar nicht i n Zweifel ziehen; aber auch i n diesem Fall könnte man daran denken, die von Reschke aufgeworfene Frage zu stellen: „Wer verwaltet uns wirklich?" Denn i n Wirklichkeit entschieden hier über das Verbot des Bundesparteitages einer nicht verfassungswidrigen Partei 9 1 nicht die dazu berufenen staatlichen oder kommunalen Behörden, sondern Verbände und Gruppen, die rechtlich und politisch nicht zur Verantwortung gezogen werden können. Die zweite Entscheidung, auf die ich hier aufmerksam machen möchte, ist weder ein Ruhmesblatt für die Verwaltung noch für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Sie zeigt die Schwäche der Kommunalaufsicht gegenüber den politischen Entscheidungen eines großstädtischen Verwaltungsausschusses, aber auch die Schwäche der Verwaltungsgerichtsbarkeit gegenüber der Verwaltung. Ich meine die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg vom 16. September 196892, die der Stadt Hannover i m Wege der einstweiligen Anordnung unter Androhung eines Zwangsgeldes von D M 2000,— die Verpflichtung auferlegte, einer politischen Partei einen bestimmten Versammlungsraum zur Verfügung zu stellen. Auch nach Festsetzung und Vollziehung des Zwangsgeldes hielt der Ver00 91 92

D Ö V 1970 S. 53 ff. So ausdrücklich OVG Saarlouis, a.a.O. S. 54. Vgl. Jülich, DVB1.1968 S. 848.

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waltungsausschuß der Stadt Hannover an seiner Weigerung fest. Der Vorfall ist i m Niedersächsischen Landtag Gegenstand einer Großen A n frage gewesen 93 . Der Stellungnahme des niedersächsischen Ministers des Innern ist zu entnehmen, daß der Regierungspräsident i n Hannover die Auffassung geäußert hat, die Pflicht zur Befolgung gerichtlicher Entscheidungen könne mit der Pflicht eines Ratsherrn, nur nach seiner durch die Rücksicht auf das Gemeinwohl geleiteten Überzeugung zu entscheiden, kollidieren, und daß der Minister des Innern diese Auffassung gebilligt hat. Aus ihr ergebe sich — so hat er ausgeführt —, weshalb der Regierungspräsident bei seiner nach pflichtmäßigem Ermessen zu treffenden Entscheidung angesichts der beachtlichen politischen Motive des Verwaltungsausschusses der Landeshauptstadt Hannover von kommunalaufsichtlichen Maßnahmen abgesehen habe. M. E. offenbart diese Äußerung des niedersächsischen Ministers des Innern eine bedauerliche Schwäche der Kommunalaufsicht. Sie zeigt aber auch die politischen Grenzen, die der Verwirklichung des Rechtsstaats i n der Bundesrepublik offenbar gesetzt sind. Vor zehn Jahren glaubte ich noch annehmen zu können, daß in einem Rechtsstaat die Verwaltungsbehörden den ihnen durch verwaltungsgerichtliche Entscheidungen auferlegten Verpflichtungen nachkommen, ohne dazu durch Zwangsmittel angehalten werden zu müssen 94 . Dieser Fall — der leider kein Einzelfall ist — lehrt, daß nicht einmal die Zwangsmittel des § 172 VwGO ausreichen, um politisch besetzte Verwaltungsausschüsse zur Respektierung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen anzuhalten. Leider ist die Verwaltungsgerichtsbarkeit aus eigener K r a f t nicht in der Lage, der Mißachtung ihrer Entscheidungen durch derartige Verwaltungsstellen wirksam zu begegnen. Hier muß der Gesetzgeber eingreifen, der die Begrenzung des Zwangsgeldes auf D M 2000,— beseitigen oder andere Vollstreckungsmöglichkeiten schaffen sollte, was Jülich 95 und Bettermann 96 bereits vorgeschlagen haben. 5. Schon bei der Erörterung des Themas „Kommunale Selbstverwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit" 9 7 hat Werner darauf hingewiesen, daß der leitende Gemeindebeamte ohne Verschulden zwischen die Kollektive geraten könne und daß sich an i h m in prägnanter Form das Schicksal des modernen Menschen zwischen den Kollektiven vollziehe. Später 98 hat er den Gedanken verallgemeinert und davon gesprochen, daß das staatliche Recht heute weitgehend zu gruppenbegünstigendem Recht werde und 93

Nds. Landtag — 6. Wahlperiode — Drucks. Nr. 827. Verwaltungsprozeßrecht, 1. Aufl. 1960 S. 221. 95 DVB1.1968 S. 848. 96 DVB1.1969 S. 120 f. 97 a.a.O. (Fußn. 74) S. 553. 98 Wandelt sich die F u n k t i o n des Rechts i m sozialen Rechtsstaat?, a.a.O. (Fußn. 27) S. 160. 94

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daß der Einzelne als Rechtsgenosse nicht selten m i t seiner Gruppe stehe und falle. Den „Kampf ums Recht" als Gruppenloser aufzunehmen, bedeute die Ausnahme. Wenn w i r uns daran erinnern, daß Werner schon früher (1955) den Verwaltungsrichter darauf hingewiesen hat, sich des vereinsamten Einzelnen besonders anzunehmen, so liegt allen diesen Bemerkungen der Gedanke zugrunde, daß es gerade die Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist, die Rechte des Einzelnen gegenüber den Totalitätsansprüchen der Kollektive zu sichern. Daß es solche Totalitätsansprüche gibt, zeigen vor allem die Auseinandersetzungen an den Hochschulen u m das sog. allgemeine politische Mandat der Studentenschaften, auf die ich schon i n anderem Zusammenhang hingewiesen habe. Hier geht es — was leider nicht alle Beteiligten zu bemerken scheinen — u m den Schutz des Einzelnen gegen totalitäre Machtansprüche einer sich als Mehrheit gebärdenden Minderheit und damit um die Existenzgrundlage unserer freiheitlichen Demokratie. Damit ist eine neue Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit entstanden oder i m Entstehen, auf die nicht nachdrücklich genug hingewiesen werden kann. 6. Daß neue Erscheinungsformen des Verwaltungshandelns auch neue Probleme für die Verwaltungsgerichtsbarkeit aufwerfen, versteht sich von selbst. Sie i m einzelnen hier zu behandeln, würde zu weit führen. Ich muß mich m i t stichwortartigen Hinweisen auf die materiell-rechtlichen und prozessualen Probleme des Zweitbescheides, des mehrstufigen Verwaltungsaktes, des verwaltungsrechtlichen Plans, des verwaltungsrechtlichen Vertrages und der Verwaltungsfabrikats begnügen". Zur Rechtsnatur des Plans hat sich übrigens auch Werner vor Erlaß des Bundesbaugesetzes wiederholt 1 0 0 geäußert und auf die klärende Entscheidung des Gesetzgebers verwiesen. Daß diese Entscheidung neue Probleme aufgeworfen hat, werden die späteren Referate zum Normenkontrollverfahren und zum vorbeugenden und vorläufigen Rechtsschutz zeigen. VI. Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit i n der rechtsstaatlichen Demokratie ist es nicht nur, dem Einzelnen Rechtsschutz gegen die Verwaltung und die hinter ihr stehenden politischen Gruppen zu gewähren. Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist es auch, der Verwaltung bei der Klärung tatsächlich oder rechtlich schwieriger Einzelfälle Hilfe zu leisten. Da ihre Entscheidungen oft über den Einzelfall hinaus Bedeutung für zahlreiche gleichgelagerte Fälle haben, dient die Rechtsprechung 99 Vgl. Ule, Das allgemeine Verwaltungsrecht i m Deutschen Verwaltungsblatt, DVB1.1968 S. 781 ff., 782, 784 f. 100 Z u r K r i t i k an der Verwaltungsgerichtsbarkeit, a.a.O. (Fußn. 31) S. 225 f.; A n m . zu dem Beschl. des B V e r w G v. 21. 5.1957 DVB1.1957 S. 537 f.

Die Bedeutung der Verwaltungsgerichtsbarkeit i n der Demokratie

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der Verwaltungsgerichte zugleich der Klärung und Sicherung des objektiven Rechts. Wenn sich diese Rechtsprechung i n den Grenzen hält, die ihr durch das Grundgesetz und die Verwaltungsgerichtsordnung gezogen sind, dann braucht auch ein von der Verwaltung verlorener Prozeß nicht zu Ressentiments gegen die Verwaltungsgerichte zu führen. A u f der anderen Seite sollten die i n der Verwaltungsgerichtsbarkeit tätigen Richter die Verwaltungsgerichte als Glieder eines arbeitsteiligen Systems begreifen und sich vor jeder richterlichen Hybris hüten. I m Rechtsstaat repräsentieren auch die Verwaltungsbeamten die Rechtsstaatsidee 101 , so daß die Spannungen, die zwischen Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit bestehen, nur aus der verschiedenen Aufgabenstellung beider Einrichtungen, nicht aus dem Grad ihrer Bindung an Gesetz und Recht hervorgehen können. Als „Hüter der Verwaltung", wie Werner sie 1949 einmal genannt hat 1 0 2 , ist die Verwaltungsgerichtsbarkeit aber nicht nur dazu da, der Verwaltung bei der Entscheidung schwieriger Einzelfälle Rat und Hilfe zu leisten, sondern auch dazu berufen, die rechtsstaatliche Verwaltung i n ihrer Bindung an das Recht zu schützen und zu bewahren. Deshalb haben sich die Verwaltungsgerichte „schützend vor das Recht zu stellen, wenn es zum Instrument für die Durchsetzung rechtsfremder Zwecke gemacht werden soll" 1 0 3 . Das ist keine „Mobilisierung der Justiz gegen den Staat" 1 0 4 , sondern Dienst am Recht und damit am Rechtsstaat, zu dem sich das Grundgesetz unserer Demokratie bekennt.

101 Ule, öffentlicher Dienst, i n : Bettermann/Nipperdey, Die Grundrechte, Bd. I V 2. Halbbd., 1962, S. 537 ff., 649. 102 D V 1949 S. 108 f. 103 Werner, Die geistige Situation des Richters von heute, Zeitwende, 23. Jahrg. 1951/2, S. 703 ff., 711. 104 Werner, Z u r K r i t i k an der Verwaltungsgerichtsbarkeit, a.a.O. (Fußn. 31) S. 227.

Aussprache zu dem Referat von Carl Hermann Ule Bericht von Hans-Werner Laubinger Der Diskussionsleiter, Professor Dr. Knöpfle, dankte einleitend dem Referenten dafür, daß er die Persönlichkeit Fritz Werners noch einmal habe lebendig werden lassen. Auf das Referat eingehend, hob er hervor 1. dessen verwaltungsfreundliche Tendenz, die sich beispielsweise aus der Anerkennung unbestimmter Rechtsbegriffe ergebe, 2. die große Zurückhaltung des Referenten gegenüber der Rechtsfortbildungsaufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 3. seinen Hinweis auf die Gefahren des Einflusses intermediärer Kräfte auf die Verwaltung und 4. seine Warnung vor Totalitarismen jeglicher A r t . Der Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Dr. Schmitt-Vockenhausen, bezeichnete es als einen entscheidenden Mangel, daß es an einer vernünftigen Kommunikation zwischen Gesetzgeber und Rechtsprechung fehle. Verwaltung und Regierung, denen an sich die Stellung eines Vermittlers i m Kommunikationsprozeß zukomme, erfüllten diese Aufgabe nicht — i m Gegenteil, gelegentlich unterliefen sie Entscheidungen der Verwaltungsgerichte durch neue Gesetzgebungsvorschläge, ohne daß der Gesetzgeber es bemerke. Dafür, wie diesem Kommunikationsmangel abzuhelfen sei, habe er keine Lösung anzubieten. Eine Verbesserung könne zwar die vom Bundesjustizminister vorbereitete juristische Dokumentation bewirken. Nach seiner Überzeugung mache aber auch diese das permanente Gespräch zwischen rechtsprechender Gewalt und Parlament nicht entbehrlich. Das gerichtliche, insbesondere das verwaltungsgerichtliche Kontrollsystem zum Schutze des Einzelnen gegenüber dem Staat sei heute gut ausgebaut. Fraglich sei indes, ob dieses Kontrollsystem auch i m Räume der gesellschaftlichen Kräfte, der Wirtschafts- und Interessenverbände funktioniere. Heute sei ζ. B. die Pressefreiheit nicht mehr i n erster Linie dadurch bedroht, daß Polizeipräsidenten Zeitungen verböten, sondern bedrohlich für die Freiheit der Presse sei der Einfluß und die Macht gesellschaftlicher Verbände, ohne daß diese verwaltungsgerichtlicher Kontrolle unterworfen seien. Hier stehe man erst am Anfang einer Sichtung der Probleme. Erhebliche Probleme werfe ferner die vom Referenten angeführte Einwirkung intermediärer Kräfte auf die Verwaltung und

Aussprache zu dem Referat von Carl Hermann Ule

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die dadurch ausgelöste Diskussion um das imperative Mandat auf. Auch bei der Lösung der Frage, wie die Rechte des Einzelnen innerhalb einer Gruppe wirksam zu schützen seien, stehe man erst am Anfang. Auf die Frage der Schaffung eines einheitlichen Verwaltungsgerichtsgesetzes für die drei öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten eingehend, erklärte der Diskussionsredner, man müsse der Bundesregierung zunächst angemessene Zeit einräumen, um diese Aufgabe zu erfüllen. Er wisse sich aber m i t einer Reihe von Kollegen aus allen Fraktionen darin einig, den Speyerer Entwurf i m Bundestag einzubringen, um gegebenenfalls auf diese Weise zu einer schnelleren Lösung beizutragen. Wie schwer es sei, i n manchen Fragen zu Ergebnissen zu kommen, zeige das Schicksal des Musterentwurfs zu einem Verwaltungsverfahrensgesetz. Hier habe allerdings der Antrag der Koalitionsfraktionen 1 auf Einbringung einer Regierungsvorlage inzwischen zu einer klaren Terminierung geführt. Es sei zu hoffen, daß damit zugleich die Grundlage für eine Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit innerhalb der Verwaltung, für eine Erleichterung der Arbeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit und für eine Verwirklichung der Gedanken des Speyerer Entwurfs gelegt worden sei. Schmitt-Vockenhausen setzte sich ferner für eine Verbesserung des bestehenden Rechtszustandes auf dem Gebiete der Normenkontrolle gemäß § 47 VwGO ein. Es sei außerordentlich unbefriedigend, daß es i n einigen Ländern eine abstrakte Normenkontrolle gebe und i n anderen nicht. Neu zu überdenken sei auch das künftige Schicksal der Disziplinargerichtsbarkeit; seiner Ansicht nach bestehe für eine besondere Disziplinargerichtsbarkeit kein Bedürfnis mehr. Als langjähriger Vorsitzender des Innenausschusses des Bundestages habe er auch Verständnis für die immer wieder an § 127 BRRG geübte K r i t i k . Die Überlastung des Bundesverwaltungsgerichts m i t Streitfragen dieser A r t zwinge dazu zu überlegen, wie hier Abhilfe zu schaffen sei. Schließlich ging Schmitt-Vockenhausen auf die Frage ein, ob i n der Bundesrepublik die Institution eines Ombudsmannes geschaffen werden solle. Er verneinte dies nachdrücklich und erklärte, er halte nichts von derartigen „Wunderdrogen" und habe sich deshalb auch stets für einen Ausbau der Petitionsausschüsse und der Verwaltungsgerichtsbarkeit eingesetzt. Abschließend betonte der Diskussionsredner, der Gesetzgeber könne gute oder schlechte Gesetze machen, das Entscheidende sei und bleibe die Persönlichkeit des Richters und ihre Ausstrahlung i n die Öffentlichkeit. Die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit habe i n Fritz Werner eine solche Persönlichkeit von großer Ausstrahlungskraft viele Jahre lang besessen. Es sei zu hoffen, daß die allgemeinen Bedingungen der Ver1

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waltungsgerichtsbarkeit so gestaltet würden, daß Persönlichkeiten seiner K r a f t sich von ihr angezogen fühlten. Der Präsident des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg, Dr. Rößler, äußerte Zweifel zu der Auffassung des Referenten, zum Wesen des Rechtsstaates schlechthin gehöre die Rechtskontrolle der Verwaltung durch unabhängige Gerichte. Diese These sei zwar zutreffend für den Rechtsstaat i m Sinne des Grundgesetzes. Er könne sich aber auch einen Rechtsstaat i m Sinne eines Gerechtigkeitsstaates vorstellen, i n dem es keine Verwaltungsgerichtsbarkeit i n unserem Sinne gebe. Der Referent habe zu Recht darauf hingewiesen, daß sich durch A r t . 1 Abs. 3 GG das Verhältnis der Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Verfassung gewandelt habe. Aber auch das Verhältnis der Verwaltung zur Verfassung habe sich geändert. Nicht nur der Grundrechtsteil, sondern auch der organisatorische Teil des Grundgesetzes strahle stark i n das Verwaltungsrecht hinein. Hierauf habe gerade Fritz Werner i n seinem i n Stuttgart i m Jahre 1959 gehaltenen Vortrag m i t dem bezeichnenden Titel „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht" 2 hingewiesen. Der Gegenpol werde dargestellt durch Otto Mayers berühmtes Wort „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht". Rößler hob weiter hervor, daß nach der Vorstellung des Grundgesetzes der Rechtsstaat am besten bei dem unabhängigen Richter aufgehoben sei. Er warnte jedoch davor, den Richter als „Wunderdoktor" zu betrachten, der etwa soziale Nöte heilen und Zersetzungserscheinungen i m Keime ersticken könne. Seine Rolle sei doch relativ bescheiden. Dies zeige sich beispielsweise an den vom Referenten erwähnten Fällen der Mißachtung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen. Hauptsächliche Gefahrenquelle sei heute jedoch nicht so sehr der Staat, sondern die nichtstaatlichen Kräfte, nämlich die politischen Kräfte der Selbstverwaltung und die intermediären Kräfte. Für das Zusammenspiel von Normensetzer und Verwaltungsgerichtsbarkeit führte der Diskussionsredner folgendes Beispiel an: Nach dem baden-württembergischen Landesbeamtengesetz (§ 96) erhalten die Beamten eine Weihnachtszuwendung, deren Höhe i m Einvernehmen m i t dem Innen- vom Finanzministerium durch Rechtsverordnung festgesetzt wird. Seit Weihnachten 1964 sei es Übung gewesen, als Weihnachtsgeld ein Drittel der Dezemberbezüge zu zahlen. I m Jahre 1967 habe man sich wegen der knappen Haushaltsmittel jedoch entschlossen, für die Besoldungsgruppen A 9 an aufwärts die Weihnachtszuwendung auf D M 60,— zu begrenzen 3 . Daraufhin hätten sich einige von den Beamtenver2 3

DVB1.1959, 527 ff. Verordnung v o m 12. Okt. 1967 (Ges.Bl. S. 240).

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bänden vorgeschobene Beamte gleichzeitig an das V G Stuttgart und an das Bundesverfassungsgericht gewandt. Das Verwaltungsgericht habe eine einstweilige Anordnung 4 folgenden erstaunlichen Inhalts erlassen: Zur vorläufigen Regelung des Rechtszustandes zwischen Antragstellern und Antragsgegnern werde die Feststellung getroffen, daß das Land bei der Bemessung der Weihnachtszuwendung seinen sich aus A r t . 3 und 33 Abs. 5 GG sowie § 96 L B G ergebenden Handlungspflichten nicht i n zureichendem Umfange nachgekommen sei. Eine Woche später habe das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde als offensichtlich unbegründet nicht zur Entscheidung angenommen 5 . Dieses Votum des Bundesverfassungsgerichts habe nun aber nicht etwa dazu geführt, daß an der Rechtsverordnung festgehalt worden sei. Vielmehr habe man unter Berufung auf die einstweilige Anordnung des Verwaltungsgerichts einige Wochen später durch eine neue Rechtsverordnung 6 den Höchstbetrag für Weihnachtszuwendungen von D M 60,— auf D M 400,— heraufgesetzt. Dieser Fall, so führte Rößler aus, stelle ein instruktives Beispiel für die schon von Fritz Werner i n seinem Vortrag vor dem Deutschen Anwaltstag i n Stuttgart festgestellte Tendenz dar, die Verantwortung zu verteilen, das persönliche Risiko abzubauen. A u f die Lehre vom Beurteilungsspielraum und die Vertretbarkeitslehre eingehend, setzte sich der Diskussionsredner für die neue Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein. Insbesondere i m Hinblick auf A r t . 19 Abs. 4 GG sei i h m die Vertretbarkeitslehre stets bedenklich erschienen. Diese sei freilich für die Verwaltung günstig und für die Verwaltungsgerichtsbarkeit bequem; dem rechtsschutzsuchenden Bürger hingegen bereite sie oft herbe Enttäuschung. Als Beispiel für die Fragwürdigkeit der Vertretbarkeitslehre führte Rößler den Stuttgarter Taxifall an: Vor mehr als zehn Jahren seien i n Stuttgart 150 Taxis zugelassen gewesen. Die Zulassung der 151. Taxe sei von der Stadtverwaltung verweigert worden m i t der Begründung, die Zulassung von mehr als 150 Taxis widerspreche dem Interesse des öffentlichen Verkehrs, was i n dem von dem Bewerber angestrengten Verwaltungsprozeß durch Gutachten überzeugend untermauert worden sei. Zur mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht seien die Vertreter der Stadt recht kleinlaut erschienen und hätten erklärt, der Gemeinderat habe wenige Tage zuvor beschlossen, 20 Taxiunternehmern, die bisher von den Amerikanern beschäftigt worden seien, von diesen jedoch nicht mehr gebraucht würden und daher arbeitslos seien, die Konzession zu erteilen. 4 U r t . v o m 23. Nov. 1967, teilweise abgedruckt i n Die Verwaltungspraxis 1967, S. 285 f. δ Beschluß vom 9. Nov. 1967 (2 B v R 668/67) J Z 1968 S. 61 f. = ZBR 1967 S. 364 = B a W ü V B l . 1968 S. 12 f. = Die Verwaltungspraxis 1967 S. 286. 6 V o m 20. Dez. 1967 (Ges.Bl. S. 282).

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Derartige Fälle machten ihn, so führte der Diskussionsredner aus, skeptisch gegenüber der Lehre vom Beurteilungsspielraum. Selbstverständlich sei es zutreffend, wenn Fritz Werner sage, ein Diktat der verwaltungsgerichtlichen Besserwisserei dürfe es nicht geben; andererseits dürfe es aber auch nicht ein Diktat der Alleinwisserei der Verwaltung geben. Rößler pflichtete dem Referenten darin bei, daß i n dem Eingemeindungsfall Göppingen / Birenbach das wahre Problem nicht das Verhältnis Gerichtsbarkeit / Verwaltung, sondern das der Staatsverwaltung zur Kommunalverwaltung gewesen sei: Wer — so laute die Frage — entscheidet darüber, ob sich die Gemeinden zusammenschließen dürfen — die Gemeinderäte der beteiligten Gemeinden oder der Staat? I n Übereinstimmung m i t dem Verwaltungsgericht Stuttgart sei er der Auffassung, daß dies der Staat sei. Bei Anwendung der Vertretbarkeitslehre komme der Beurteilungsspielraum alsdann dem Staate zugute. Die Bedrohung des Einzelnen durch die intermediären Kräfte stelle, betonte der Diskussionsredner, nicht nur die Verwaltungsgerichte vor neue Aufgaben, sondern werfe ganz allgemein die Frage auf, ob man die Grundrechte nicht nur als Schutzwall gegenüber dem Staat, sondern auch als solchen gegenüber den Verbänden interpretieren müsse. Rößler dankte dem Referenten für die Hervorhebung des Gedankens, daß i m Rechtsstaat auch die Verwaltungsbeamten die Rechtsstaatsidee repräsentierten. Aus seiner zehnjährigen Tätigkeit als Verwaltungsbeamter könne er bezeugen, daß i n der Verwaltung ein hohes Maß an rechtsstaatlicher Aufgeschlossenheit herrsche. Es sei ferner darauf hinzuweisen, daß das Maß der rechtsstaatlichen Bindung von Verwaltungsgerichtsbarkeit und Verwaltung völlig gleich sei. Der von Fritz Werner 7 i n die Diskussion geworfene Gedanke des fair play liege i h m besonders am Herzen. Er könne sich vorstellen, daß ein von echtem Sportsgeist geprägter Mensch Achtung vor Regeln jeder A r t und damit auch Achtung vor der Rechtsordnung empfinde. Er sei sich allerdings darüber i m klaren, daß Hoffnungen i n dieser Richtung wohl reichlich optimistisch seien angesichts der heutigen Entwicklung i m Sport, wo von einem fair play längst nicht immer mehr die Rede sein könne. Abschließend hob der Diskussionsredner den Integrationswert der Verwaltungsgerichtsbarkeit hervor. Durch überzeugend begründete U r teile könnten die Verwaltungsgerichte dazu beitragen, das Verhältnis zwischen Bürger und Verwaltung zu verbessern und der Staatsverdrossenheit entgegenzuwirken. 7

Sport und Recht, Tübingen 1968.

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Auch Prof. Dr. Herzog, Speyer, warnte davor, die Fähigkeit der Gerichtsbarkeit zur Rechtsfortbildung zu überschätzen. Man könne aber daran denken, bei besonders krassen Fehlern oder Unterlassungen des Gesetzgebers dem Richter eine A r t remonstratio ad legislatorem zu ermöglichen. Man müsse dem Gesetzgeber zweierlei klarmachen: Erstens, daß nicht jedes Urteil, das i h m nicht „ i n den K r a m passe", auf die Dummheit des Gerichts zurückzuführen sei, sondern daß der Fehler häufig beim Gesetzgeber zu suchen sei. Und zweitens, daß — worauf bereits Fritz Werner i n der Festschrift für Hirsch hingewiesen habe — die Aufgabe des Gesetzgebers nicht mit dem Erlaß eines Gesetzes abgeschlossen sei, sondern das er dessen Handhabung und Auswirkungen i n der Praxis sorgfältig i m Auge behalten müsse. Das bedeute unter anderem, daß der Gesetzgeber wichtige Gerichtsentscheidungen und einschlägige wissenschaftliche Äußerungen zur Kenntnis nehmen müsse. Ob man hierzu Ombudsmänner benötige, bezweifle er; was nottue, sei eine ständige Überwachung der Gesetze durch den Gesetzgeber. Der Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Dr. Schmitt-Vockenhausen, stimmte dem grundsätzlich zu, bedauerte jedoch, daß es dem Gesetzgeber wegen seiner Überlastung nicht möglich sei, die Gesetzgebung auf ihre Auswirkungen hin zu kontrollieren. Wenn nicht Presse und öffentliche Meinung den Gesetzgeber auf Mängel hinwiesen, würden ihm diese oft gar nicht bekannt. I n manchen Fällen, wie ζ. B. bei der Automatenbestimmung des Ladenschlußgesetzes, gelänge es der Rechtsprechung, Fehler des Gesetzgebers zu korrigieren; doch sei das nicht immer möglich. Es sei ein bedauerliches Manko, daß Mängel, die von den Gerichten festgestellt würden, sehr häufig nicht zur Kenntnis des Gesetzgebers gelangten. Allerdings scheiterten gelegentlich auch vom Gesetzgeber als notwendig erkannte Korrekturen, wie ζ. B. die des § 127 BRRG, am Widerstand der Verbände. Aber auch und gerade i n derartigen Fällen sei es notwendig, daß sich Gerichte und Wissenschaft zu Worte meldeten, um den Gesetzgeber von der Notwendigkeit, Mängel zu beseitigen, zu überzeugen. Wer darauf warte, daß er gefragt werde, der könne möglicherweise erleben, daß er nie gefragt werde. Prof. Dr. Knöpfle, Speyer, gab zu erwägen, ob nicht auch die Judikative ihrerseits aufgerufen sei, dem Gesetzgeber bei seiner Arbeit zu helfen. I n Bayern sei es seit 1946 üblich, daß der Verfassungsgerichtshof von jedem Gesetzentwurf der Regierung ein Exemplar erhalte. Dies geschehe auf Grund der auf Nawiasky zurückgehenden Erwägung, daß der Verfassungsgerichtshof nicht nur ein Spruchkörper zur Entscheidung einzelner Streitigkeiten, sondern ein Verfassungsorgan sei, das die Möglichkeit haben solle, durch seinen Präsidenten Stellungnahmen zu Gesetzgebungsvorhaben abzugeben. Knöpfle erinnerte weiter an die Aktivität, die das Bundesverfassungsgericht entfaltet habe, als es um seinen Rechts4

Speyer 45

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status gegangen sei. Hier habe dieses Gericht ganz massiv politischen Einfluß genommen. I n seinem Schlußwort setzte sich der Referent, Prof. Dr. Ule, m i t der von Rößler aufgestellten These auseinander, es gebe auch einen Rechtsstaat ohne Gerichtsbarkeit. Das, was man i n der abendländischen K u l t u r unter Rechtsstaat verstehe, sei nicht identisch m i t dem von Rößler angeführten Gerechtigkeitsstaat. Seit Friedrich Julius Stahl sehe man die Sicherung des Rechts durch unabhängige Gerichte als unverzichtbares Element des Rechtsstaates an. Das bedeute allerdings nicht, daß es eine selbständige Verwaltungsgerichtsbarkeit geben müsse. Auch ein Staat, i n dem die Kontrolle der Verwaltung — wie i n den angelsächsischen Ländern — den Justizgerichten anvertraut sei, entspreche durchaus dem Bilde eines Rechtsstaates. Den von Rößler angeführten Stuttgarter Taxenfall bezeichnete Ule als ungeeignetes Beispiel, um die Vertretbarkeitslehre i n Frage zu stellen. Vielmehr habe es sich dort u m einen flagranten Fall der Korruption einer Sachentscheidung aus politischen Gründen gehandelt, der zur Weiterführung der grundsätzlichen Diskussion nichts beizutragen vermöge. Einer der grundlegenden Aspekte dieser Diskussion, der bedauerlicherweise i n letzter Zeit vernachlässigt worden sei, sei die Methodik der Rechtsfindung. Er teile nicht den Glauben daran, daß alle Rechtsfragen mit — überspitzt formuliert — mathematischer Sicherheit zu entscheiden seien. Da bei der Anwendung unbestimmter Gesetzesbegriffe ein Rest von Unsicherheit bleiben könne, erhebe sich eben die Frage, wer dann entscheiden solle — die Gerichte oder die Verwaltung. Gelegentlich werde die Vertretbarkeitslehre selbst von höchsten Gerichten als Popanz dargestellt, so wenn behauptet werde, daß die Gerichte nach dieser Lehre nicht berufen seien, die Feststellung des Sachverhalts durch die Verwaltung zu überprüfen. Mittels einer derartigen Unterstellung, die durch nichts gerechtfertigt sei, lasse sich die Lehre vom Beurteilungsspielraum natürlich ohne Schwierigkeit bekämpfen. Ebenso wie die Diskussionsredner sprach sich auch Ule entschieden gegen die Einführung des Ombudsmannes ans, wobei er insbesondere auf die Monographie von Thierfelder 8 und dessen Rezensionen ausländischer Werke 9 zu dieser Frage hinwies. Die Begeisterung ζ. B. eines italienischen Autors für diese Institution sei natürlich verständlich, wenn man die Unentwickeltheit der italienischen Verwaltungsgerichtsbarkeit kenne. Ge8 Hans Thierfelder, Z u m Problem eines Ombudsmans i n Deutschland, K ö l n B e r l i n 1967. 9 Besprechung von Κ . H. Ebert, Der Ombudsman i n Großbritannien, DVB1. 1969 S. 381; Besprechung von G. Napione, L'Ombudsman — I l Controllore della pubblica amministrazione, DVB1.1970 S. 335.

Aussprache zu dem

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rade bezüglich dieser entscheidenden Prämisse bestehe bei uns aber eine völlig andere Situation. Ule dankte dem Vizepräsidenten des Bundestages, Dr Schmitt'Vockenhausen, für sein Bekenntnis zum Speyerer Entwurf und wies auf einige Schwächen der Verwaltungsgerichtsordnung hin. Er bedauerte die gegenwärtige Rechtszersplitterung auf dem Gebiete der Normenkontrolle gemäß § 47 VwGO. Es sei einfach nicht einzusehen, weshalb es i n einigen Ländern diese Nachprüfungsmöglichkeit gebe und i n anderen nicht. Weitere Schönheitsfehler stellten die länderweise unterschiedlichen Regelungen bezüglich der Vertreter des öffentlichen Interesses und der Besetzung der zweitinstanzlichen Richterbank dar, die nur verständlich seien, wenn man den Zwang berücksichtige, die Beratungen der Verwaltungsgerichtsordnung zum Abschluß zu bringen, dem der Gesetzgeber i m Jahre 1960 unterworfen gewesen sei.

Das Berufsbild des Verwaltungsrichters Von Werner Groß

Es begann mit jenem vielzitierten und gelegentlich wohl auch mißverstandenen § 182 der Paulskirchen-Verfassung vom 28. März 1849, dessen einprägsamer erster Satz „Die Verwaltungsrechtspflege hört auf" nur i m Zusammenhang mit dem zweiten Satz gelesen werden sollte und verstanden werden darf, der da lautet: „Über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte". Es war also nicht mehr als eine entschiedene Absage an die damals durch Kabinette und Verwaltungsbehörden geübte sogenannte Kabinetts- und Administrativjustiz, und es war allerdings auch der Versuch einer justizstaatlichen Lösung, denn unter Gerichten wurden damals allein die sogenannten ordentlichen Gerichte verstanden. Übrigens hat Fritz Werner, dessen auch heute und hier so ehrend gedacht wurde, diesem Thema einen seiner für ihn so bezeichnenden weitgreifenden und tiefgründigen Aufsätze gewidmet, der heute so lesenswert ist wie 1949, als er i n der „Deutschen Verwaltung" Seite 169 ff. veröffentlicht wurde. Nun wurde wie die ganze Paulskirchen-Verfassung auch diese justizstaatliche Lösung in Deutschland nie geltendes Recht. Es setzten sich vielmehr die Ideen durch, die Robert von Mohl, Pfizer, Bluntschli und vor allem Rudolf von Gneist entwickelt hatten und die zuerst 1863 i n Baden, dann in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in Preußen ihren gesetzlichen Niederschlag fanden. Die Entwicklung i n den anderen deutschen Ländern ging ähnliche Wege. Diese Wege führten zu einer Verwaltungsgerichtsbarkeit, die zweifellos noch nicht unseren heutigen Ansprüchen und Vorstellungen genügen würde, war doch diese Verwaltungsgerichtsbarkeit, von der höchsten Instanz, etwa dem Preußischen Oberverwaltungsgericht abgesehen, noch eng mit der Verwaltung verbunden und verwoben. Interessant für unser heutiges Thema scheint m i r jedoch, daß diese Verwaltungsgerichtsbarkeit in ihren unteren Instanzen neben der auf dem Gedanken der politischen Selbstverwaltung beruhenden M i t w i r k u n g von Laien auf die meist größere Berufserfahrung der i n ihr wirkenden Verwaltungsbeamten zurückgreifen konnte. Ich brauche wohl nicht besonders zu betonen, daß diese verwaltungsrichterlichen Beamten oder gar verwaltungsrichterlichen Zeitbeamten, wie ich sie einmal nennen möchte, noch nicht Richter

Das Berufsbild des Verwaltungsrichters

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i m Sinne unserer seither gewonnenen Einsicht i n das Wesen des Richtertums waren. Denn waren sie auch bei der Ausübung ihrer richterlichen Tätigkeit unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen, so waren sie doch noch nicht mit dem richterlichen ö l der Unabsetzbarkeit und der Unversetzbarkeit gesalbt. So unterschied sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit der unteren Instanzen bis 1933 noch deutlich von unserem heutigen System eines von der Verwaltung organisch und personell völlig unabhängigen Verwaltungsrechtsschutzes. Das galt nicht — ich deutete es bereits an — für die höchste Instanz, insbesondere für das Preußische Oberverwaltungsgericht. Der richterliche Status seiner Mitglieder würde auch vor den kritischen Augen unserer kritischen Zeit bestehen. I m übrigen hatte der preußische Gesetzgeber des Jahres 1875 dem Bedürfnis, das Oberverwaltungsgericht nur mit erfahrenen Richtern zu besetzen, dadurch Rechnung getragen, daß er für die Mitglieder des Oberverwaltungsgerichts ein Mindestalter forderte und darüber hinaus bestimmte, daß die Hälfte der Mitglieder zum Richteramt, die andere Hälfte zur Bekleidung von höheren Verwaltungsämtern befähigt sein mußte. Die Praxis ist, wie ich bereits i m Jahre 1953 berichtet habe*, über diese gesetzlichen Mindesterfordernisse weit hinausgegangen. Der von Starkowski gefertigen Übersicht über die Laufbahnen der Mitglieder des Preußischen Oberverwaltungsgerichts i n den ersten 50 Jahren seines Bestehens habe ich damals entnommen, daß auch die zum Richteramt befähigten Mitglieder dieses Gerichts häufig über eine längere Verwaltungspraxis verfügten und, soweit sie nur richterliche Praxis besaßen, fast durchweg besonders erfahrene frühere Kammeroder Oberlandesgerichtsräte waren. Ich hatte damals errechnet, daß i n Preußen zwischen der Großen Staatsprüfung und der Ernennung zum Mitglied des Oberverwaltungsgerichts durchschnittlich 23,4 Berufsjahre lagen, die Mitglieder des Oberverwaltungsgerichts i m Zeitpunkt ihrer Ernennung m i t h i n das 50. Lebensjahr i m allgemeinen bereits erreicht oder gar überschritten hatten. Aber was die Frage gesetzlicher Mindesterfordernisse und ihrer praktischen Bedeutung anlangt, so gibt mir doch heute mehr als vor jenen 17 Jahren zu denken, daß ich damals bei einer Untersuchung der bayerischen Verhältnisse zu durchaus vergleichbaren Daten gelangt bin, auch was die vorangegangene Verwaltungserfahrung betrifft, obschon das Bayerische Verwaltungsgerichtsgesetz von 1878 für die Ernennung zum Richter des Verwaltungsgerichtshofs „ n u r " die Befähigung zum Richteramt voraussetzte. Das gilt übrigens auch für den empirischen Teil des Berufsbildes der 1953 i m A m t befindlichen Verwaltungsrichter, den ich auf der Grundlage einer größeren statistischen Erhebung und ihrer Auswertung errichtet habe. Trotz unterschiedlicher * DVB1. S. 589 ff., 591.

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Rechtsquellen und Befähigungserfordernisse — nur die i m nordwestdeutschen Raum geltende Militärregierungs-Verordnung Nr. 165 bestimmte, daß mindestens die Hälfte der hauptamtlichen Mitglieder eines jeden Verwaltungsgerichts nach der zweiten Staatsprüfung mindestens drei Jahre lang i m Verwaltungsdienst tätig gewesen sein mußte — kam ich damals zu dem für das gesamte Bundesgebiet und Westberlin übereinstimmende Ergebnis, daß der solchermaßen statistisch ermittelte Typus des Verwaltungsrichters ein vielerfahrener, gründlich durchgebildeter Mann auf der Höhe seiner Schaffenskraft war. Ich hatte freilich nicht übersehen und wenigstens i n einer Anmerkung verzeichnet, daß dies auch auf die damalige „Marktlage" — w i l l sagen: auf das große Angebot erfahrener Verwaltungsbeamter und Richter aus dem unter A r t i k e l 131 GG fallenden Personenkreis — zurückzuführen war. Den äußeren Anlaß, sich mit der Problematik eines verwaltungsrichterlichen Berufsbildes auseinanderzusetzen, bildete damals die Tatsache, daß der Bundesrat i n seiner 100. Sitzung vom 6. Februar 1953 vorgeschlagen hatte, die Regierungsvorlage einer Verwaltungsgerichtsordnung u. a. i n § 15 Abs. 3 dahin zu ändern, daß von dem besonderen Befähigungsnachweis des Verwaltungsrichters durch eine mindestens dreijährige Tätigkeit i n der Verwaltung oder bei einem anderen Gericht, als Rechtsanwalt, Verwaltungsrechtsrat oder Hochschullehrer abgesehen werde. Auch hatte der Bundesrat die ersatzlose Streichung des § 15 Abs. 5 der Regierungsvorlage gefordert, demzufolge mindestens die Hälfte der Richter jedes Gerichtes über eine mindestens dreijährige praktische Verwaltungserfahrung verfügen müsse. Der Bundesrat hatte diesen Änderungsvorschlag damit begründet, daß es unter Berücksichtigung der Gleichwertigkeit der Gerichtszweige nicht gerechtfertigt erscheine, an die Richter der Verwaltungsgerichtsbarkeit größere Berufsanforderungen zu stellen als an die Richter der übrigen Gerichtszweige. Dem war die damalige Bundesregierung i n ihrer Stellungnahme zu den Änderungsvorschlägen des Bundesrates nicht entgegengetreten, obschon sie die entsprechenden Vorschriften ihrer Vorlage mit dem Erfordernis praktischer Erfahrung i m öffentlichen Recht begründet hatte. Das wiederum rief damals die Vereinigung der Verwaltungsgerichtspräsidenten auf den Plan. Sie bat mich, der Frage nachzugehen, ob es denn ein Berufsbild des Verwaltungsrichters gebe. Darüber habe ich i n der Versammlung der Vereinigung der Verwaltungsgerichtspräsidenten am 9. September 1953 i n Hamburg berichtet. Dabei habe ich mich aus voller Überzeugung m i t Wärme und Verve für die Wiederherstellung der Regierungsvorlage eingesetzt, soweit sie hier i n Betracht kommt. Gegenüber der Argumentation des Bundesrates, es sei i m Hinblick auf die Gleichwertigkeit der Gerichtszweige nicht gerechtfertigt, an die Richter einer, nämlich der Verwaltungsgerichtsbarkeit, höhere Anforderungen zu stellen als an

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andere Richter, führte ich damals u. a. aus: „ K e i n Einsichtiger w i r d die Gleichwertigkeit aller Gerichtszweige leugnen wollen. Wären sie einander aber auch gleichwertig, so hätte der Grundgesetzgeber sie nicht zu unterscheiden und zu scheiden brauchen. Es geht also nicht u m einen Vorrang der Verwaltungsgerichtsbarkeit, sondern vielmehr darum, der Verwaltung den ihr adäquaten Richter gegenüberzustellen. Dies kann grundsätzlich nur ein Richter mit Verwaltungserfahrung sein." Und an anderer Stelle: „Der Wert unserer Verwaltungsrechtspflege w i r d nicht zuletzt durch ihre Verwaltungsnähe bestimmt. Verwaltungsnähe ist durchaus etwas anderes als Verwaltungsfreundlichkeit. Aus dem Bedürfnis nach einer verwaltungsnahen Rechtsprechung ist letztlich unsere Verwaltungsgerichtsbarkeit erwachsen. " Soweit die Selbstzitate aus dem Jahre 1953. Aus meiner seither gewonnenen Erfahrung möchte ich dem noch hinzufügen: Jeder Richter ist der Versuchung zum Hochmut ausgesetzt, zu dem Hochmut nämlich, es anders und besser zu wissen. Das gilt i m besonderen Maße für den Verwaltungsrichter. Dem vorzubeugen und entgegenzuwirken ist es gut, wenn der Verwaltungsrichter i n einem früheren Abschnitt seines Berufslebens genötigt gewesen ist, an einem Tage ein Dutzend oder mehr Entscheidungen zu treffen, d. h. i m Rechtssinne Verwaltungsakte zu setzen, bevor er als Richter an einem Dutzend oder mehr Tagen Gelegenheit findet, über die Rechtmäßigkeit eines dieser Verwaltungsakte nachzudenken und zu befinden. Damit ich nicht mißverstanden werde: Auch damit meine ich selbstverständlich nicht etwa eine aus Selbsterfahrung folgende Nachsicht m i t der Verwaltung und ihren Fehlern, sondern nur eine aus dem Verständnis geborene Haltung, die eben jener Versuchung zum richterlichen Hochmut widersteht, indem sie der Rechtsbelehrung entsagt und sich auf Rechtserklärung beschränkt. M i t anderen Worten: Ich meine nicht den Tenor des Rechtserkenntnisses, sondern den Stil des Verwaltungsprozesses und die Diktion der Urteilsbegründung. Wenn ich mich damals, vor jenen 17 Jahren, so nachdrücklich für die Wiederherstellung der Regierungsvorlage eingesetzt habe, so geschah dies, u m ein letztes Selbstzitat einzufügen, aus der Einsicht, daß die Anforderungen der Regierungsvorlage an die Vorbildung der Verwaltungsrichter Mindestforderungen darstellten, die keinesfalls unterschritten werden dürften, wenn nicht die Güte der Verwaltungsrechtspflege empfindlich beeinträchtigt werden solle. Diese Mindestforderungen seien, so sagte ich damals, auch nicht etwa deshalb gegenstandslos, w e i l sie i n der Praxis selbst i n den Ländern, die eine der MilitärregierungsVerordnung Nr. 165 entsprechende Dreijahresklausel bislang nicht gekannt hätten, bei weitem überschritten worden seien. I n keinem deutschen Land, nicht einmal i n Bayern oder i n den Hansestädten, gebe es

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heute — d. h. i m Jahre 1953 — noch Verwaltungstraditionen, die so gefestigt seien, daß sie einer gesetzlichen Sicherung entraten könnten. Diese Frage stand dann auch i m Brennpunkt der Auseinandersetzungen, die sich, w i r wissen es alle, über drei Legislaturperioden erstreckten. Da gab es Kontroversen nicht nur zwischen Bundesregierungen, welche die alte Regierungsvorlage erneuerten, und dem von Anfang an widerstrebenden Bundesrat, sondern auch zwischen den jeweils federführenden Innenausschüssen des Bundestages und des Bundesrates sowie den mitberatenden Rechtsausschüssen beider Verfassungsorgane. Dabei ging es indessen nie u m die Grundfrage, ob denn Verwaltungsrichter der Erfahrung bedürften, sondern allein u m die Nebenfrage, ob der allgemein als sachbezogen und sachgerecht anerkannte Erfahrungswert gesetzlich gesichert werden solle und gesetzlich fixierbar sei oder nicht besser einer sachbezogenen und sachgerechten Personalpolitik anvertraut werden solle. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzungen ist uns allen bekannt. Die Verwaltungsgerichtsordnung vom 21. Januar 1960 setzt i n ihrem § 15 für Verwaltungsrichter nicht mehr voraus als die Fähigkeit zum Richteramt nach dem Gerichtsverfassungsgesetz und bestimmt lediglich für die Richter des Bundesverwaltungsgerichts ein M i n destalter von 35 Jahren. Folgerichtig sind dann auch mit dem Inkrafttreten des Deutschen Richtergesetzes i m Jahre 1962 die für die Richter der Arbeits- und der Sozialgerichtsbarkeit bis dahin geforderten „besonderen Kenntnisse und Erfahrungen auf den Gebieten des Arbeits- und Sozialrechts" sowie des „Arbeits- und sozialen Lebens" als gesetzliche Postulate entfallen. M i t allem Freimut bekenne ich heute: So entschieden ich mich vor jenen 17 Jahren dafür eingesetzt habe, vor das Verwaltungsrichteramt eine gesetzliche Erfahrungsschwelle zu legen, so dankbar bin ich heute, daß m i r und meinen Gesinnungsgenossen das nicht gelungen ist. Das hängt nun allerdings auch wiederum mit dem zusammen, was ich heute schon einmal „Marktlage" nannte. Sie hat sich seit 1953 und noch mehr seit 1960 entscheidend geändert. Der Quell der brauchbaren, unter A r t i k e l 131 GG fallenden Verwaltungsbeamten und Richter war jedenfalls i m Jahre 1960 schon lange versiegt. Und seither haben es Stellenkegel und Dienstpostenbewertungen in der Verwaltung noch mehr erschwert, erfahrene und in der Verwaltung bewährte Verwaltungsbeamte für das A m t eines Verwaltungsrichters zu gewinnen. Dabei darf nicht übersehen werden, daß auch die Staatsverwaltung bereits seit Jahren unter einem Mangel an qualifiziertem Nachwuchs leidet, zumal häufig die besten der jungen Kräfte nach einigen Jahren, angezogen von dem Reiz größerer Selbständigkeit, aber auch besserer Besoldungsverhältnisse, aus der Staatsverwaltung i n die Kommunalverwaltung abwandern. Als ehemaliger Präsident eines Ver-

Das Berufsbild des Verwaltungsrichters

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waltungsgerichts und als Leiter einer Staatskanzlei, dem bis vor einer Woche die Fürsorge für die Verwaltungsgerichtsbarkeit des Landes Niedersachsen und für das gemeinschaftliche Oberverwaltungsgericht für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein anvertraut war, wüßte ich nicht, wie w i r der Nachwuchssorgen hätten Herr werden können, wenn w i r einer gesetzlichen Dreijahres-Barriere gegenüber gestanden hätten. Hinzu kam die erschreckende Einsicht, daß von den i m Jahre 1964 i n der niedersächsischen Verwaltungsgerichtsbarkeit tätigen Richtern i m Laufe der nächsten zehn Jahre, also bis 1974, zwei Drittel die Altersgrenze erreichen und damit ausscheiden würden. Dieser große Personalbedarf könnte von der Verwaltung und aus der Verwaltung nicht mehr gedeckt werden, wenn nicht die Verwaltungsgerichtsbarkeit die Endstation, das Abstellgleis für nicht oder weniger qualifizierte Verwaltungsbeamte werden sollte. So blieb m i r nichts anderes übrig, als durch unmittelbare Einstellung von Assessoren in die Verwaltungsgerichtsbarkeit Abhilfe zu schaffen. Seit fünf Jahren haben w i r Assessoren i n den Probedienst eingestellt, die vom ersten Tage an natürlich volle richterliche Funktionen ausüben müssen. Diese Assessoren haben w i r aber i m Laufe ihrer dreijährigen Probezeit, i m allgemeinen nach Ablauf eines Jahres, für 15 Monate in die Verwaltung abgeordnet, und zwar für die Dauer von zehn Monaten an einen Landkreis und auf fünf Monate an eine Bezirksregierung. Dabei haben w i r auf die Auswahl geeigneter Kreisverwaltungen besondere Sorgfalt verwendet. Dieses Verfahren ist nicht mehr als ein Notbehelf. Nach fünfjähriger Erfahrung glaube ich aber doch sagen zu dürfen, daß sich unser System durchaus bewährt hat. Das haben mir sowohl die Gerichtspräsidenten und die Kammervorsitzenden als auch die Assessoren am Ende ihrer Verwaltungsstation immer wieder bestätigt. Und zu meiner Freude hat mir der Justizminister, dem in Niedersachsen seit dem 1. A p r i l 1970 die Dienstauf sieht über die Verwaltungsgerichtsbarkeit obliegt, versichert, an dieser Praxis festhalten zu wollen. Inzwischen haben die so geförderten Assesoren schon einen großen Teil aller Richterstellen der ersten Instanz als planmäßige Verwaltungsrichter besetzt. I m Ergebnis sieht es i n Niedersachsen so aus, daß zur Zeit rund 80 v. H. der Verwaltungsrichter der ersten Instanz nach der zweiten Staatsprüfung i n der Verwaltung tätig gewesen sind, sei es, daß sie als Verwaltungsbeamte aus der Verwaltung gekommen sind — das sind zur Zeit noch 44 v. H. — oder sei es, daß sie während ihrer Probezeit als Gerichtsassessoren für 15 Monate an Verwaltungsbehörden abgeordnet waren — das sind heute bereits 36 v. H. So günstig dieser äußere Anschein sein mag, i m Grunde halte ich eine nur fünfzehnmonatige A b ordnung der jungen Assesoren i n die Verwaltung für viel zu kurz, um ihnen dort eine gründliche Kenntnis praktischer Verwaltungsarbeit ver-

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Werner Groß

mittein zu können. Deshalb sollte an dem Grundsatz festgehalten werden, für die Verwaltungsgerichtsbarkeit nach Möglichkeit länger erfahrene Verwaltungsbeamte zu gewinnen. Vielleicht trägt die bevorstehende Reform des Besoldungsrechts der Richter dazu bei, den Richterberuf auch unter diesem Aspekt wieder etwas attraktiver zu machen. Erste Anzeichen deuten bereits darauf hin. Indessen möchte ich m i t dieser Andeutung nicht eine Debatte über eine Besoldungsreform für Richter heraufbeschwören. Sie würde, wenn ich recht sehe, i n diesem Kreise auch nicht weiterführen. Trotzdem sehe ich nicht ohne Sorge i n die Zukunft, i n eine Zukunft, i n der ich mich auch ohne unmittelbaren dienstlichen Bezug m i t der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der Verwaltungsrichterschaft immer verbunden fühlen werde. W i r alle kennen die Bestrebungen, den juristischen Vorbereitungsdienst weiter zu verkürzen. W i r kennen die Denkansätze, Studium und Vorbereitungsdienst zu einem einheitlichen Ausbildungsweg von fünf Jahren zusammenzufassen. So berechtigt diese Erwägungen auch sein mögen, sie lassen doch erwarten, daß i n 21 oder 24 Monaten Vorbereitungsdienst oder gar innerhalb eines juristischen Ausbildungsganges von nur fünfjähriger Dauer noch weniger Zeit zur Verfügung stehen wird, die Verwaltung auch nur i n ihren Grundzügen kennen zu lernen. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit w i r d daher künftig mehr denn je darauf angewiesen sein, ihren Nachwuchs aus der Verwaltung zu gewinnen. Sollte das nicht gelingen, so w i r d zu erwägen sein, das von m i r skizzierte niedersächsische System zu erweitern und junge Verwaltungsrichter auch nach ihrer Anstellung noch mit ihrem Einverständnis für einige Zeit i n die Verwaltung abzuordnen. Denn es ist daran festzuhalten, daß weder dem rechtsuchenden Bürger noch der Verwaltung selbst mit verwaltungsfremden Verwaltungsrichtern gedient wäre. Nun steht diese Arbeitstagung unter dem Leitgedanken, ob und wieweit die Verwaltungsgerichtsordnung sich i n zehnjähriger Praxis bewährt oder als reformbedürftig erwiesen habe. Für das m i r gestellte Thema kann ich der Verwaltungsgerichtsordnung nur Bewährung bestätigen. Eine Reform, etwa die Rückkehr zum Regierungsentwurf des § 15, ist praktisch nicht durchzusetzen. Sie würde auch nicht helfen, sondern eher hinderlich sein. Denn die Schwierigkeit, für die Verwaltungsgerichtsbarkeit Bewerber m i t längerer Verwaltungserfahrung zu gewinnen — das unter anderem wollte ich m i t meinen Ausführungen dartun — liegen nicht i n der Verwaltungsgerichtsordnung, sondern i n meta juristischen Bereichen begründet.

Aussprache zu dem Referat von Werner Groß Bericht von Jörg Rüggeberg Verwaltungsgerichtsrat Dr. Thierfelder, Stuttgart, eröffnete die Diskussion m i t einigen skeptischen Bemerkungen zu der von dem Referenten so stark betonten Notwendigkeit der Verwaltungserfahrung des Verwaltungsrichters, ohne sie allerdings grundsätzlich anzuzweifeln. Er wies auf die geschichtliche Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit hin und zeigte an Beispielen auf, daß seit ihrem Bestehen immer wieder Männer ohne Verwaltungserfahrung herausragende Richter der Verwaltungsgerichtsbarkeit geworden seien. Entsprechende Beobachtungen ließen sich auch auf vergleichbaren Gebieten machen; so seien manche bedeutenden kommunalen Wahlbeamten erstmals nach ihrer Wahl m i t der eigentlichen Kommunalverwaltung i n Berührung gekommen. Dies gehe zwar nicht immer gut, doch auch keineswegs häufiger schlecht, als wenn altgediente Beamte i n ein Wahlamt aufrückten. Gegenüber den Vorteilen einer Rekrutierung der Richter der Verwaltungsgerichtsbarkeit aus länger erfahrenen Verwaltungsbeamten gelte es, deren mögliche Nachteile nicht ganz zu übersehen. Bei den Erörterungen über die Schaffung eines Rechtspflegeministeriums sei i n BadenWürttemberg hinter den Kulissen offen der Befürchtung Ausdruck gegeben worden, daß die Gewinnung länger erfahrener Verwaltungsbeamter für die Verwaltungsgerichtsbarkeit dazu führen könne, daß bestimmte Beamte i n die Gerichtsbarkeit „weggelobt" würden und daß die ihrer Verwaltungseignung bewußten Beamten auf die i n die Gerichtsbarkeit übertretenden Beamten herabsähen. Ob ein Rechtspflegeministerium dieser Entwicklung vorbeugen könne, sei freilich ungewiß. Durch einen vergleichenden Hinweis darauf, daß gelegentlich auch i m Wechsel von einem oberen Landesgericht zu einem obersten Gerichtshof des Bundes die Möglichkeit des Weglobens gesehen werde und daß aus diesem Grunde die Verbesserung der Bundesrichterbesoldung gefordert wurde, deutete der Diskussionsredner an, welche wirkungsvolleren Mechanismen gegen eine Abwertung der Verwaltungsgerichtsbarkeit gegenüber der Verwaltung bestünden. Thierfelder wandte sich i m folgenden kritisch den hierarchischen Strukturen und dem hierarchischen Denken i n der Rechtsprechung zu,

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Bericht von Jörg Rüggeberg

meinte jedoch, sie seien i m Vergleich mit der ordentlichen Gerichtsbarkeit i n der Verwaltungsgerichtsbarkeit noch nicht in gleicher Schärfe hervorgetreten. Das Problem sei hier auch jüngeren Datums, da ein der ordentlichen Gerichtsbarkeit entsprechender Instanzenzug und vergleichbar große Gerichtskörper erst mit der Nachkriegsentwicklung entstanden seien. Ursache des Unbehagens sei eine i m Ansatz fragwürdige Richterbesoldung, die hinter der Besoldung für vergleichbare Verwaltungsämter (insbesondere i m kommunalen Bereich) zurückbleibe und die es ermögliche, daß innerhalb eines Spruchkörpers bei völliger Gleichwertigkeit des Stimmgewichts Richter beteiligt seien, deren Besoldung um bis zu sechs oder mehr Gehaltsgruppen höher sei als die der anderen. Nach einem kurzen Hinweis auf die Notwendigkeit soziologischer Betrachtung des Themas ging Thierfelder abschließend auf die Frage ein, ob bei der Tätigkeit der Verwaltungsrichter in den Instanzgerichten die eigentliche Rechtsfindung gegenüber der Tatsachenermittlung dominiere, wie es die Mehrzahl der Verwaltungsrichter gern behaupte, oder ob das Verhältnis nicht umgekehrt sei. Er bejahte letzteres und verband dies mit der Frage, ob w i r uns anderenfalls eine Zahl von ca. 800 Richtern der Verwaltungsgerichtsbarkeit leisten könnten, die nur am Rande m i t Tatsachenfeststellungen befaßt wären. Eine zahlenmäßige Auswertung zeige, daß auch von den Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte nur etwa Vis oder V20 zur Veröffentlichung gelangten, und daß wirklich Neues aussprechende Erkenntnisse noch seltener seien. Das „fact-finding" i m Sinne der amerikanischen Terminologie präge also maßgeblich die Tätigkeit des Verwaltungsrichters. I n einer kurzen Entgegnung widersprach der Diskussionsleiter, Professor Dr. Knöpfle, der zuvor geäußerten K r i t i k am hierarchischen Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Dieser allein rechtfertige es, daß die höhere Instanz Entscheidungen der unteren aufheben könne, denn die höhere Instanz habe weder eine größere Verwaltungsnähe noch eine bessere Beweissituation. Einen ausführlichen Überblick über die Gewinnung der Richter der Verwaltungsgerichtsbarkeit i n Rheinland-Pfalz gab Oberverwaltungsgerichtspräsident Dr. Meyer-Hentschel, Koblenz; er verband hiermit ein positives Bekenntnis zur gegenwärtigen Rechtssituation und Praxis. Meyer-Hentschel betonte, auch er sei Anhänger der ursprünglichen Regierungsvorlage gewesen. Die enge Personalmarktlage i n RheinlandPfalz habe jedoch schon sehr früh dazu geführt, daß Wege beschritten wurden, die von anderen Ländern zunächst sehr skeptisch beurteilt worden seien, die sich aber sehr bewährt hätten: Die Assesoren seien unmittelbar nach ihrem Examen für die Dauer eines Jahres an das Oberverwaltungsgericht berufen worden, aufgrund gerichtsverfassungsrecht-

Aussprache zu dem

eferat von

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licher Bestimmungen zwar nur als wissenschaftliche Hilfsarbeiter, doch habe diese A r t der Einführung zu sehr befriedigenden Ergebnissen geführt. Hieran werde i m Prinzip auch nach der Einführung des Deutschen Richtergesetzes festgehalten, doch habe dieses insofern zu Änderungen geführt, als nunmehr nach einem halben Jahr Tätigkeit beim OVG (von Meyer-Hentschel scherzhaft als „Ehe auf Probe" bezeichnet) eine etwa einjährige Tätigkeit i n der inneren Verwaltung zwischengeschoben werde. Sie habe neben der notwendigen Kenntnis- und Vorstellungserweiterung den zusätzlichen Effekt, daß sie die spätere Durchlässigkeit von Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit fördere, die i n der Praxis auch durchaus üblich sei. Die Richter seien i n der Verwaltung begehrt, zumal es bis heute gelinge, ausschließlich den Examensergebnissen nach hochqualifizierte Juristen für die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu gewinnen. Meyer-Hentschel wies abschließend auf die wichtige Rolle hin, die die der Verwaltungsgerichtsbarkeit entstammenden Ausbilder i m Hinblick darauf ausüben könnten, frühzeitig bei den Referendaren Neigung und Interesse am Richterberuf zu wecken. Daß die Personallage nicht in allen Ländern gleich positiv zu bewerten sei, deutete Professor Dr. Knöpfle mit dem Hinweis darauf an, daß manche Personalverwaltungen dazu neigten, die guten Kräfte nach Möglichkeit i n der Verwaltung zu halten. Auch der anschließende Beitrag von Dr. Schmidt, Vizepräsident des bay. Verwaltungsgerichtshofs, der einen Überblick über die Lage i n Bayern vermittelte, war eher skeptisch. Die „Marktlage" stehe wohl der an sich berechtigten Forderung nach mehrjähriger Verwaltungstätigkeit der Verwaltungsrichter weitgehend entgegen. Wenn dies aber erkannt werde, dann gelte es, die richtigen und notwendigen (besoldungspolitischen) Konsequenzen zu ziehen. I n Bayern gelinge es allerdings aufgrund der Tatsache, daß es dort den sog. Oberverwaltungsrichter (in A 14 mit Zulage) gebe, gute Richter zu gewinnen, die bereits drei bis fünf Jahre in der Verwaltung tätig gewesen seien; an dieser Einrichtung sei deshalb festzuhalten. Hinsichtlich der als erwünscht verstandenen späteren Durchlässigkeit zwischen Verwaltungsund Richteramt könne für Bayern jedoch keine ähnlich günstige Diagnose gestellt werden, wie sie von Meyer-Hentschel für Rheinland-Pfalz gegeben worden sei. M i t seinen folgenden Ausführungen, die zunächst als Schlußwort gedacht waren, gelang es Staatssekretär Groß, die Diskussion nochmals zu beleben. Er setzte sich zunächst mit den Einwänden Thier jeiders auseinander und betonte i m Hinblick auf die zahlreichen hervorragenden Richter der Verwaltungsgerichtsbarkeit ohne Verwaltungserfahrung, daß seine Forderung nach Verwaltungserfahrung der Richter nicht als ein Ausschließlichkeitsdogma zu verstehen sei. Zur Frage des hierarchischen Denkens und der soziologischen Betrachtung, so meinte er, bestün-

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Bericht von Jörg Hüggeberg

den keine spezifischen Besonderheiten der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die i m Rahmen seines Themas Beachtung erfordert hätten. A u f die verschiedentlich angesprochene „Marktlage" eingehend, betonte auch Groß, daß die bisherige Besoldungslage zu unbefriedigenden Ergebnissen führe. Wenn es aber gelänge, die Richter i n der ersten Beförderungsstufe nach A 16 durchzustufen, und wenn man davon ausgehe, daß es auch für qualifizierte Verwaltungsbeamte keineswegs die Regel sei, nach A 16 zu gelangen, dann ließen sich auch künftig Richter m i t ausreichender Verwaltungserfahrung gewinnen. Allgemein gesehen ergebe sich dann zwar das Problem einer möglichen Blockierung des Eigennachwuchses bei den Gerichten; eine behutsame Personalpolitik werde hier jedoch Konflikte vermeiden können. Die Diskussion wurde fortgeführt durch Dr. Voucko, Richter am V G Frankfurt, der auf einen seit Erlaß des Richteramtsgehaltsgesetzes 1 i n Hessen spürbar steigenden Bewerbungszugang für die Verwaltungsgerichtsbarkeit hinwies. Man möge zwar die Vordergründigkeit dieses Vorganges bemängeln; da das Reservoir, aus dem man schöpfen könne, größer sei als zuvor, seien jedoch die positiven Auswirkungen nicht von der Hand zu weisen. Entschieden wandte sich der Sprecher gegen die Argumentation, die Richterbesoldung könne nur i m Rahmen einer Gesamtjustizreform neu geregelt werden. Oberverwaltungsgerichtspräsident Dr. Meyer-Hentschel kam i m folgenden auf die Frage der Ressortierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu sprechen und löste damit eine längere Debatte, insbesondere zwischen Staatssekretär Groß und Professor Dr. Knöpfle, zu diesem P u n k t aus. Meyer-Hentschel empfahl, für diejenigen Länder, i n denen eine U m ressortierung erfolgt sei oder bevorstehe, sicherzustellen, daß den Präsidenten der Oberverwaltungsgerichte ein entscheidender Einfluß auf die Ernennung und Beförderung von Richtern erhalten bleibe. Daß dies i n Niedersachsen, einem Land, wo die Verwaltungsgerichtsbarkeit von der Staatskanzlei zum Justizministerium übergeleitet wurde, der Fall sei, versicherte Groß; Nachteile für die Verwaltungsgerichtsbarkeit seien deshalb nicht zu befürchten. Gleichwohl bedauere er persönlich die getroffene Entscheidung, die weder auf eindeutig politischen oder eindeutig verfassungsrechtlichen Gründen beruhe, sondern w o h l dem „Zeitgeist" entspreche. Knöpfle widersprach dem unter Hinweis auf seine früheren Darlegungen hierzu 2 insoweit, als er es verfassungsrechtlich für verfehlt halte, wenn die Verwaltungsgerichtsbarkeit bei der Staatskanz1 Hess. Gesetz über die Amtsbezüge der Richter u n d Staatsanwälte v o m 4.3. 1970 (GVB1.1S. 201). 2 F. Knöpfle, i n : Die Staatskanzlei, Aufgaben, Organisation u n d Arbeitsweise auf vergleichender Grundlage, Schriftenreihe der Hochschule Speyer Bd. 34, B e r l i n 1967, S. 39 ff.

Aussprache zu dem Referat von

erne

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lei ressortiere. Die Gerichtsverwaltung sei eine klassische Ressortaufgabe, und die Konzeption, die den Regierungschef von allen normalen exekutiven Verwaltungsangelegenheiten freihalten wolle, werde durchbrochen, wenn einzelne Verwaltungsaufgaben der Staatskanzlei angehängt seien. Das Gegenargument, wonach die Verwaltungsgerichtsbarkeit j a zur Kontrolle über A k t e aller Ressorts berufen sei und deshalb nicht bei einem dieser Ressorts verankert sein sollte, verfange nicht, da die Gerichtsverwaltung heute niemals Einfluß auf einzelne Entscheidungen nehme. Professor Dr. Ule und Landessozialgerichtspräsident Dr. Peters, Essen, fühlten sich durch die Debatte an die Auseinandersetzungen u m die Einheitsgerichtsbarkeit bzw. die einheitliche Ressortierung aller Gerichtszweige anläßlich des 42. Deutschen Juristentages i n Düsseldorf erinnert 3 . Ule bemerkte, die damalige „Schlacht" sei für i h n durch die Schaffung von Rechstpflegeministerien bei Bund und Ländern verloren. Die Entscheidung müsse akzeptiert werden, doch müsse dann nunmehr die Forderung lauten, alle Gerichtszweige dort zu verankern, und nicht auf halbem Wege stehenzubleiben. Ein tauglicher Grund, die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit auszunehmen, sei nicht ersichtlich. Gerade i m Hinblick auch auf das Berufsbild des Verwaltungsrichters und die Gefahr, daß die Verwaltungsgerichtsbarkeit als zahlenmäßig ungewichtiger Teil i m Justizministerium sozusagen „untergepflügt" werde, würden die Sorgen geringer, je mehr von den anderen Gerichtsbarkeiten, deren jeweilige Besonderheiten Beachtung verlangten, i n das Justizministerium einbezogen würden. Diesen Überlegungen widersprach abschließend Peters, der für die Sozialgerichtsbarkeit einer Umressortierung auch für die Zukunft eine entscheidende Absage erteilte und bemerkte, daß von dieser Richtung noch erheblicher „Gegendruck" zu erwarten sei.

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Vgl. 42. D J T Bd. I I T e i l E S. 3 ff.

Die Besetzung der Richterbank (I) Von Horst Peters Ich habe heute zum wiederholten Male die Ehre und die Freude zugleich, i n diesem Hause referieren zu dürfen, i n dieser Hochschule, durch deren Arbeit unter Leitung von Herrn Professor Dr. Ule i n dem sog. Speyerer Entwurf die bedeutsamen Vorarbeiten für die Erstellung einer einheitlichen Verwaltungsgerichtsordnung geleistet worden sind. Diese Vorarbeiten hatten die Bildung zweier Kommissionen zur Folge, die eine, die von den Verwaltungsgerichtsbarkeiten geschaffen wurde, die andere, die interbundesministeriell zustande kam. Beide Kommissionen haben bei ihrer weit vorgeschrittenen Arbeit die Gerichtsverfassung ausgeklammert gelassen. Ein Teil dieser Gerichtsverfassung ist die Besetzung der Richterbank nach der Zahl der Berufsrichter i n den einzelnen Gerichtsbarkeiten und ihren Instanzen sowie nach der Beteiligung von ehrenamtlichen Richtern überhaupt wie i n der Kombination mit den Berufsrichtern vindiziert auf die einzelnen Gerichtsbarkeiten und ihre Instanzen. Die sich daraus ergebenden Fragen aufzuwerfen und zu erörtern, ist heute die Aufgabe von Herrn Vizepräsidenten Dr. Schmidt und mir. Dabei haben w i r uns i m Einvernehmen mit der Tagungsleitung die Aufgabe so geteilt, daß Herr Dr. Schmidt i n erster Reihe die Berufsrichter behandeln, ich die Vindikation von Frage und A n t w o r t auf die ehrenamtlichen Richter vornehmen soll. I m Rahmen der verordneten Zeit könnte ich für den mir so zufallenden Teil des Gesamtreferats jedenfalls nur eine kritische Anmerkung, nicht aber auch eine Darstellung, vor allem eine historische Darstellung geben. So entstand eine schriftliche Betrachtung, die ich Ihnen vorlegen durfte*. Ich sprach von einer Aufgabenteilung. Eine totale Trennung aber würde die erschöpfende Behandlung der Fragen verhindern. So bleibt es m i r nachgelassen, zur Frage der langen Richterbank i n der ersten Instanz der Sozialgerichtsbarkeit zu sprechen, m. a. W. kurz Stellung zu nehmen zur Besetzung der Kammern der Sozialgerichte neben den ehrenamtlichen Richtern mit drei Berufsrichtern, die ich i n Übereinstimmung * Diese Vorlage ist auszugsweise abgedruckt i m Anhang, unten S. 270.

Die Besetzung der Richterbank (I)

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mit der nunmehr überwiegenden Ansicht i m Schrifttum seit langem und als einer der ersten für notwendig erachtet habe und erachte. Die Hauptargumente der Gegenmeinung sind: Die Beteiligung von drei Berufsrichtern verzögere die Entscheidung und sei auch für die Durchdringung des Stoffes nicht erforderlich. Es gibt noch ein drittes Argument aus Jungrichterkreisen: Ein Gericht mit mehreren Berufsrichtern taste die Unabhängigkeit der beisitzenden Richter an, weil sie aus Gründen des Vorwärtskommens nach dem Vorsitzenden „schielen" würden. The last, first. Die, die diese Meinung haben, tragen letztlich nicht die Kraft des Richters, die ja doch darin besteht, sich unbeliebt zu machen und unbeliebt machen zu dürfen. Der Kürze halber lassen Sie mich Anselm Feuerbach zu Hilfe holen: „Der Ungehorsam ist dem Richter eine heilige Pflicht, wo der Gehorsam Treubruch sein würde gegen die Gerechtigkeit, i n deren Dienst er allein gestellt ist." Und dann: Die Meinung, die hier von mir eingefügt worden ist, w i r d i m allgemeinen nur von denen vertreten, die nie i n einem Kollegialgericht mit mehreren Berufsrichtern gesessen haben. Und wo — bezogen auf die Frage der richterlichen Unabhängigkeit — der Unterschied zu einem Kollegialgericht mit ehrenamtlichen Richtern, die die gleichen Rechte und Pflichten wie die Berufsrichter haben, liegen soll, ist kaum zu erahnen. Eine Verzögerung der Entscheidung des Rechtsstreits t r i t t durch die Beteiligung von drei Berufsrichtern nicht ein. Der Berufsrichter als Beisitzer einer Kammer kann die i h m als Berichterstatter zugewiesenen Streitverfahren für die mündliche Verhandlung ebenso schnell vorbereiten, wie der Kammervorsitzende nach dem geltenden Recht allein. Auch die geringere Zahl der Erledigungen durch zwei Beisitzer gegenüber zwei Kammern m i t je einem Berufsrichter führt bei einer auf die Beteiligung von drei Berufsrichtern abgestellten Belastung der Kammern nicht zu einer Verzögerung. Die m i t der langen Richterbank bedingte Vermehrung der Kammern entspricht schon automatisch einer Entlastung der zweiten Instanz. Die Entlastung würde durch eine entsprechende Beschränkung der Berufungsmöglichkeit noch größer. Gegenüber möglichen Bedenken der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen habe ich bereits früher dargelegt, daß eigentlich nur optisch das B i l d des Übergewichts der ehrenamtlichen Richter zum Fortfall kommen würde. Es muß berücksichtigt werden, daß die ehrenamtlichen Richter dieselben Rechte und Pflichten tragen wie die Berufsrichter, also auch an die Gesetze gebunden sind, und es daher heute zwar regelmäßig zu echten Beratungen zwischen Berufs- und ehrenamtlichen 5

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Richtern kommt, die auch bei Veränderungen der Richterbank gewährleistet wären, aber ein Überstimmen der Berufsrichter „fabelhaften" Charakter trägt. Ich habe schon früher als Vorteil der langen Richterbank aufgezeigt, Jung- und spartenfremde Richter schneller voll einsetzen zu können. Sicherlich gibt es auch heute noch die Sehnsucht nach dem A l l round-Richter, sie ist doch aber wohl schon eine „Endstation — Sehnsucht". Und sunt qui, die die Sparten der Sozialgerichtsbarkeit als M i n der« oder als Recht m i t leichtem Gewicht ansehen. Das sind die, die geleitet werden von dem Grundsatz: Ich kenne die Materie nicht, also kann es nichts sein. Aber die, die dann zur Sozialgerichtsbarkeit als qualifizierte Juristen wechseln, bekennen dann sehr schnell: Man muß hier schon recht lange und sehr schwer arbeiten, u m zu erkennen, wie wenig man noch immer weiß. Der Streitstoff, den die Sozialgerichte i n tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu bewältigen haben, ist also nicht nur nach meiner — als Vertreter der Sozialgerichtsbarkeit vielleicht als befangen geltenden — Meinung nicht weniger umfassend und nicht weniger schwierig wie der bei den allgemeinen Verwaltungsgerichten und den Finanzgerichten. Das letzte Argument hat durch die eingeleitete Straffung des Jurastudiums und die Verkürzung der Referendarzeit an Bedeutung gewonnen. Hinsichtlich des Studiums kann ich natürlich nur altersgerecht denken. Und meiner Generation haftet es an, daß w i r „Student sein" noch immer von studere ableiten, und das heißt: sich bemühen. Ich sehe die studentische Freiheit also primär als die Freiheit, lernen zu dürfen. Oder von der Institution der Hochschule aus als die Bereitstellung alles dessen, was für die Nutzung dieser Freiheit erforderlich ist. So sollten nach meiner Meinung unsere Studenten mehr als bisher die Möglichkeit erhalten, Sozialrecht an unseren Hohen Schulen zu hören. Pflichtvorlesungen oder gar einem Prüfungsfach Sozialrecht kann ich mich aber nicht verschreiben. Und es sollte i n den Referendararbeitsgemeinschaften durch Richter der Sozialgerichtsbarkeit i n angemessenem Umfang auf dieses Rechtsgebiet unter Wegfall einer entsprechenden Stage hingewiesen werden. Mehr nicht. Andernfalls beginnen unsere jungen Juristen damit, daß sie von vielem nur wenig verstehen, ein Privileg des ausgereiften Spitzenstellen einnehmenden Juristen, der auf dem Boden eines umfassenden Spartenwissens heute immer mehr zum gleichzeitig sozialpolitisch engagierten Manager werden muß, w i l l er seine Aufgabe ζ. B. als Behördenleiter erfüllen. So kann und darf — besonders auch i m Zeichen einer verkürzten Ausbildung — das Ziel nur sein, daß unsere jungen Juristen von wenigem viel verstehen und die Kunst des Denkens erlernt haben, die es ermöglicht, sich i n fremde Rechtsgebiete einzuarbeiten. Diese Einarbeitung ist aber i n der langen Richterbank schneller, erfolgversprechender und für das Volksganze lukrativer gewährleistet. Ich glaube des-

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halb, daß neben allen anderen Argumenten die Änderung i n der juristischen Ausbildung zur Besetzung der Kammern der Sozialgerichte m i t drei Berufsrichtern führen muß. Es w i r d der Prüfung bedürfen, ob gleiches auch für die Arbeitsgerichte zu gelten hat. Daraus ergibt sich die 1. T h e s e Die Sozialgerichtsbarkeit benötigt zur Erfüllung ihrer Aufgaben drei Instanzen. Die erstinstanzlichen Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sollten i n der Kammerbesetzung neben den ehrenamtlichen Richtern drei Berufsrichter haben. Damit könnte eine weitere Beschränkung der Berufungsmöglichkeit erfolgen. Eine gleiche Prüfung für die Arbeitsgerichte bleibt vorbehalten.

Und nun, meine sehr verehrten Damen und meine Herren, darf ich mich der Beteiligung der ehrenamtlichen Richter i n der Rechtsprechung zuwenden. In der ersten Instanz der einzelnen Gerichtsbarkeiten haben w i r heute — wie ich notfalls der schriftlichen Vorlage zu entnehmen bitte — eine historisch gewachsene Beteiligung ehrenamtlicher Richter. Sei ist zur Tradition geworden. Sie war auch bei den nach dem Kriege neu geschaffenen Verfahrensordnungen nicht nur aus diesem Grunde nicht umstritten. Die M i t w i r k u n g ehrenamtlicher Richter hat sich auch bewährt. Sie abzuschaffen würde nicht nur einen Verlust bedeuten, sondern vor allem zu der derzeitigen gesellschaftspolitischen Entwicklung so i m Widerspruch stehen und damit politisch indiskutabel sein, daß es i m Rahmen zeitlich so begrenzter Ausführungen wie den heutigen fehlerhaft erschiene, diese Frage näher zu erörtern. Sicherlich wäre es interessant und würde sich verlohnen, die Frage zu erörtern, ob auch bei den Zivilgerichten über die Kammern von Handelssachen hinaus ehrenamtliche Richter beteiligt werden sollten. Aus Zeitnot darf ich aber diese Frage hier von einer staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung der Hochschule für Verwaltungswissenschaften ausklammern. So stehen w i r i n unserer Zeit vor der Entscheidung der Frage, ob die Beteiligung ehrenamtlicher Richter auf die erste Instanz aller Gerichtszweige beschränkt bleiben soll. Insoweit ist die Entwicklung i n den ver5*

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schiedenen Gerichtszweigen unterschiedlich verlaufen und deshalb auch der derzeitige Hechtszustand verschieden. I n der Arbeitsgerichtsbarkeit und der Sozialgerichtsbarkeit sowie ihren Vorgängern waren und sind ehrenamtliche Richter — abweichend von den Strafgerichten, der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit und der Finanzgerichtsbarkeit — stets auch in der Berufungs- und Revisionsinstanz tätig. Selbst an den Entscheidungen der Vereinigten Z i v i l senate oder des Plenums des Reichsgerichts, bei denen es sich u m arbeitsrechtliche Fragen handelte, w i r k t e n ehrenamtliche Arbeitsrichter mit. Dem Großen Senat des Reichsversicherungsamtes gehörten ebenfalls ehrenamtliche Beisitzer an. Der Ausschuß für Sozialpolitik ist seinerzeit dem insoweit von dem früheren Rechte und von dem Regierungsentwurf zum Arbeitsgerichtsgesetz abweichenden Entwurf zum Sozialgerichtsgesetz nicht gefolgt und hat die M i t w i r k u n g ehrenamtlicher Richter auch i n den Großen Senaten des Bundesarbeitsgerichts und des Bundessozialgerichts vorgeschlagen. Dieser Vorschlag ist Gesetz geworden. Der Speyerer Entwurf geht für die Sozialgerichtsbarkeit ebenfalls von dieser Regelung aus. Die Verwaltungsgerichtsordnung stellt dagegen landesrechtlichen Regelungen die Beteiligung ehrenamtlicher Richter am zweitinstanzlichen Gericht der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit frei. Der Speyerer Entwurf übernimmt ebenfalls für das Landessozialgericht und das Bundessozialgericht, nicht aber für die höherinstanzlichen Gerichte der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit, zwingend die Beteiligung ehrenamtlicher Richter. Er meint, dies entspräche der Eigenart der Sozialgerichtsbarkeit. Die Gründe für eine Beteiligung ehrenamtlicher Richter i n der ersten Instanz treffen jedoch allgemein für das Berufungs- und auch das Revisionsgericht zu. Eine Begründung dafür, weshalb bei den Berufungsgerichten der Strafgerichts- und der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie der Finanzgerichtsbarkeit die M i t w i r k u n g ehrenamtlicher Richter auch weiterhin nicht zwingend vorgeschrieben sein soll, gibt auch der Speyerer Entwurf nicht. Man kann sie ahnen aus dem Argument, das man gegen die Beteiligung ehrenamtlicher Richter bei den Revisionsgerichten geltend macht. Es w i r d die Auffassung vertreten, die Revisionsgerichte hätten nur über „reine Rechtsfragen" zu entscheiden und deshalb sei dort die Beteiligung ehrenamtlicher Richter untunlich. Aus Zeitgründen muß ich hier der Versuchung widerstehen, näher zu prüfen, ob überhaupt und gegebenenfalls wie oft unsere Revisionsgerichte über „reine Rechtsfragen" entscheiden. Dabei dürfte es auch noch darauf ankommen, was man unter „reiner Rechtsfrage" versteht. So ganz rein kann sie schon wegen des Rechtsschutzbedürfnisses als Prozeßvoraussetzung und ζ. B. auch wegen der Prüfung der hinreichenden

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Sachaufklärung nicht sein. Stellt man aber an den Begriff der Reinheit nicht allzu hohe Anforderungen, so w i r d sogleich deutlich, daß Zweck und Wert der M i t w i r k u n g ehrenamtlicher Richter für die erste Instanz nicht anders zu beurteilen sind als für die letzte. Worin liegt hinsichtlich der M i t w i r k u n g ehrenamtlicher Richter der Unterschied zwischen erster und letzter Instanz bei der Rechtsprechung ζ. B. zu Fragen des Verbotsirrtums oder des Tatbestandsmerkmals „heimtückisch" i n § 211 Abs. 2 StGB i m Strafrecht, zur Rücknahme von Verwaltungsakten nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts oder der besonderen Vorschriften der Reichsversicherungsordnung und des Verwaltungsverfahrensgesetzes für die Kriegsopferversorgung oder zum Lohn- oder Einkommensteuerrecht? Die von den Berufsrichtern gefundenen rechtlichen A r gumente sind der Diskussion m i t den ehrenamtlichen Richtern i n allen Instanzen zugänglich und können durch deren Argumente ergänzt oder sogar ersetzt werden, zumal nur der Dreiklang Gesetz, Verstand, Weisheit das Recht ausmacht. Gerade die Richter, die nicht mehr durch eine große Zahl von Streitverfahren die Fülle der Fallgestaltungen erfahren, benötigen der M i t w i r k u n g der ehrenamtlichen Richter auch für die Entscheidung von Rechtsfragen eigentlich besonders. Man mag sich über den Umfang und den Wert des Rechtsgesprächs zwischen Juristen und Laien vielleicht streiten, besonders dann, wenn Berufsrichter die Möglichkeiten dieser Erkenntnisquelle überhaupt nicht zu würdigen und deshalb auch nicht zu nutzen wissen. Ich gehe also gar nicht von dem Idealbild des Berufsrichters aus. Ich tue es auch nicht für die M i t w i r k u n g ehrenamtlicher Richter, weil das der Wirklichkeit nicht einmal ähneln würde. Aber es kann i n keiner Instanz zum Nachteil gereichen, wenn Laien und Juristen ihr Urteil über deren Gesetzesauslegung auf Grund des gedanklichen Engagements aus dem selbstmiterlebten konkreten Fall bilden. Die Erfahrungen der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit stehen jedenfalls einer Beteiligung ehrenamtlicher Richter i n allen Instanzen auch der anderen Gerichtszweige nicht entgegen. Rechtssystematisch erscheint m i r entscheidend, daß sich i n der ersten Instanz der Straf-, allgemeinen Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit die M i t w i r k u n g ehrenamtlicher Richter nicht nur auf die Tatsachenfeststellung beschränkt, sondern sich auch auf die Entscheidung der Rechtsfragen erstreckt. Insoweit würde aber die Beteiligung ehrenamtlicher Richter praktisch bedeutungslos, würde man sie bei den zur Entscheidung der Rechtsfragen letztlich maßgebenden Gerichten der höheren Instanzen nicht vorsehen; denn dann würden die Rechtsfragen i m Ergebnis doch ohne Beteiligung ehrenamtlicher Richter entschieden. Es widerspricht somit überhaupt dem Sinn der M i t w i r k u n g ehrenamtlicher Richter, wenn man sie i n den höheren Instanzen nicht vorsieht und deshalb letztlich die Rechtsprechung doch ohne ihre M i t w i r k u n g gestaltet. Es erscheint des-

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halb rechtlich geboten und praktisch gerechtfertigt, ehrenamtliche Richter auch bei den Berufungs- und Revisionsgerichten einschließlich der Großen Senate auch der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit und der Finanzgerichtsbarkeit vorzusehen. Nach dem geltenden Recht wirken die ehrenamtlichen Richter zwar nicht an allen der mündlichen Verhandlung vorausgehenden Entscheidungen, wohl aber an allen das Streitverfahren abschließenden Entscheidungen mit. Die i m A r b G G für bestimmte Fälle vorgesehene Entscheidung des Kammervorsitzenden allein kennen das SGG, die VwGO und die FGO nicht; auch der Speyer er Entwurf sieht sie mit Recht nicht vor. Das BSG und das B A G können derzeit unzulässige Revisionen durch Beschluß ohne M i t w i r k u n g der ehrenamtlichen Richter verwerfen. Diese der Entlastung der Gerichte und damit der Prozeßökonomie dienende Regelung sollte bei sonst eingeführter Beteiligung von ehrenamtlichen Richtern generell und für alle Instanzgerichte übernommen werden. Nach alledem ergibt sich für diese Abteilung meines Referats die 2. T h e s e Die derzeitige Beteiligung ehrenamtlicher Richter i n der Straf-, Zivil-, Arbeits-, der allgemeinen und den besonderen Verwaltungsgerichtsbarkeiten beruht auf einer bewährten Tradition. Sie entspricht den heutigen gesellschaftspolitischen Forderungen. Sie ist daher aus dem heutigen Recht nicht wegzudenken. Die Frage, ob i n der Zivilgerichtsbarkeit über die Kammern für Handelssachen hinaus ehrenamtliche Richter beteiligt werden sollen, bleibt ausgeklammert. Die Beteiligung ehrenamtlicher Richter sollte sich nicht nur auf die Gerichte der ersten Instanz, sondern auch auf die Berufungs- und Revisionsgerichte erstrecken. Unzulässige Rechtsmittel sollten ohne M i t w i r k u n g Richter als unzulässig verworfen werden können.

ehrenamtlicher

A u f dem Wege zu den nächsten Thesen werden w i r — meine sehr verehrten Damen und meine Herren — immer wieder zwei Wörtern begegnen: Tradition und Erfahrung. Die Sucht zur Änderung hat i n der letzten Zeit die Justiz i n besonderem Maße erfaßt und dabei das Wort Tradition vielleicht zu häufig, vielleicht aber auch deshalb angetastet, w e i l man zu lange von i h m gelebt hatte. Nun, Tradition ist schön. Aber doch nur das Traditionen-Schaffen, nicht das von-Traditionen-Leben.

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Erfahrung ist ein langer Weg und eine teure Schule. Man kann sie daher nicht missen. Aber Erfahrungen sind doch nur Wegweiser, keine Lagerplätze. I n hoc signo lassen Sie mich zunächst die Frage prüfen, ob die ehrenamtlichen Richter besonderen, für die einzelnen Gerichtszweige verschiedenen Bevölkerungskreisen angehören sollen oder müssen. Dabei erlauben Sie m i r bitte, daß ich mich zunächst dem Grundsatz zuwende, sodann etwa notwendige oder angezeigte Ausnahmen erwähne und die A r t und Weise der Auswahl sowie die Vorschlagsberechtigung zunächst ausklammere. Die ehrenamtlichen Richter der Strafgerichte, der allgemeinen Verwaltungsgerichte und der Finanzgerichte werden nicht nach gesetzlich bestimmten Bevölkerungsgruppen ausgewählt und nicht entsprechend ihrer Gruppenzugehörigkeit auf die einzelnen Spruchkörper verteilt. Hiervon weicht i n besonderem Maße die Sozialgerichtsbarkeit ab. Hier gehören die ehrenamtlichen Richter i n den Kammern für Angelegenheiten der Sozialversicherung und für Angelegenheiten der Arbeitslosenversicherung je zur Hälfte dem Kreis der Versicherten und der Arbeitgeber an. Dabei ist es auch i n diesem Zusammenhang historisch nicht uninteressant, daß die M i t w i r k u n g der auf die Sozialpartner gleichmäßig verteilten ehrenamtlichen Beisitzer i n den Vorläufern der Sozialgerichtsbarkeit bereits i m Jahre 1884 und somit sechs Jahre vor den Vorläufern der Arbeitsgerichtsbarkeit eingeführt wurde. Sind für Angelegenheiten einzelner Zweige der Sozialversicherung eigene Spruchkörper gebildet, so sollen die ehrenamtlichen Richter dieser Spruchkörper an dem jeweiligen Versicherungszweig beteiligt sein. I n den Spruchkörpern für Angelegenheiten des Kassenarztrechts w i r k e n je ein ehrenamtlicher Richter aus dem Kreis der Krankenkassen und der Kassenärzte (Kassenzahnärzte) und i n Angelegenheiten der Kassenärzte (Kassenzahnärzte) wirken als ehrenamtliche Richter nur Kassenärzte (Kassenzahnärzte) mit. I n den Spruchkörpern für Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung wirken je ein ehrenamtlicher Richter aus dem Kreis der m i t der Kriegsopferversorgung vertrauten Personen und der Versorgungsberechtigten mit; dabei sind Hinterbliebene i n angemessener Zahl zu beteiligen. I n der Sozialgerichtsbarkeit stehen sich nicht zwei ungebundene Parteien gegenüber. Hier w i r d vielmehr die an die Gesetze gebundene unmittelbare und mittelbare Staatsverwaltung auf Anrufung i m Einzelfall auf ihre gesetzesgerechte Tätigkeit überprüft. Deshalb werden überwiegend und zu Recht die ehrenamtlichen Richter der Sozialgerichtsbarkeit von Anfang an nicht als Interessenvertreter angesehen. Sie repräsentieren i n den Spruchkörpern für Angelegenheiten der Sozialversiche-

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rung die Versichertengemeinschaft, an deren Schicksal der Arbeitnehmer i n gleicher Weise interessiert ist wie der Arbeitgeber. Zwar können die Bediensteten der Träger und Verbände der Sozialversicherung, der Vereinigungen des Kassenarztrechts und der Dienststellen der Bundesanstalt für Arbeit nicht ehrenamtliche Richter i n den Kammern und Senaten sein, die über Streitigkeiten aus ihrem Arbeitsgebiet entscheiden. Mitglieder der Vorstände von Trägern und Verbänden der Sozialversicherung, der Vereinigungen des Kassenarztrechts und der Bundesanstalt für Arbeit können — überhaupt — nicht ehrenamtliche Richter sein. Der Große Senat des BSG hat i n seinem Beschluß vom 30. Juni 1960 darüber hinaus entschieden, daß aktive Bedienstete der Versorgungsverwaltung generell und nicht nur bei Streitigkeiten aus ihrem Arbeitsgebiet nicht ehrenamtliche Richter i n den Spruchkörpern für Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung sein können. Diese Vorschriften und diese Auslegung des Gesetzes sollen jedoch nicht Interessenkollisionen zwischen Arbeitgebern und Versicherten, sondern neben der Beachtung der Gewaltenteilung Interessenkollisionen zwischen den an den Streitigkeiten i m weitesten Sinne sachlich beteiligten Personen und den Versicherten usw. verhindern. Als ein Zwischenergebnis ist somit festzustellen, daß aus der Sicht der Interessengegensätze die ehrenamtlichen Richter grundsätzlich nicht bestimmten Bevölkerungsgruppen anzugehören brauchen. Eine Zugehörigkeit der ehrenamtlichen Richter zu bestimmten Bevölkerungsgruppen könnte aber auch aus der von ihnen gegebenenfalls geforderten Sachkunde geboten sein. Für die ehrenamtlichen Richter der Strafgerichte w i r d eine besondere Sachkunde ebensowenig gefordert, wie dies für die allgemeinen Verwaltungsgerichte schon wegen der umfassenden zur Entscheidung zugewiesenen Gebiete möglich ist. I n der Finanzgerichtsbarkeit ist die Vorschrift der Militärregierungs-VO Nr. 175, die ehrenamtlichen Richter sollten „ i n wirtschaftlichen Fragen sachkundig sein", nicht i n die FGO aufgenommen worden. I n der Begründung zum Entwurf einer FGO w i r d es ausdrücklich abgelehnt, „wirtschaftliche Spezialkenntnisse" als Voraussetzung für eine Auswahl der ehrenamtlichen Richter zu fordern. I n die FGO aufgenommen wurde nicht einmal der Vorschlag des Entwurfs, die ehrenamtlichen Finanzrichter sollten i n wirtschaftlichen Fragen sachkundig und mit den örtlichen Verhältnissen vertraut sein. Für die Sozialgerichtsbarkeit hat das BSG wiederholt ausgeführt, die ehrenamtlichen Richter der Sozialgerichtsbarkeit seien nicht — wie etwa Schöffen und Geschworene — Laien oder Laienrichter i m üblichen Sinne; sie seien vielmehr sachkundige Beisitzer, die „besondere Qualifikationen aufweisen" müßten. Dem ist i m Ergebnis zuzustimmen. Nur ergibt sich

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daraus nicht die Notwendigkeit einer Gruppenzugehörigkeit, und dem SGG ist das Erfordernis „besonderer Qualifikationen" nicht, und zwar nicht einmal, wie ζ. B. i m ArbGG für die Bundesarbeitsrichter, für die Bundessozialrichter zu entnehmen. Soweit das BSG unter Hinweis auf Roehrbein meint, die Qualifikation sei „nämlich jene Sachkenntnis, die sich aus der Zugehörigkeit zu einem der Personenkreise" ergebe, „für deren Belange die Sozialgerichte zuständig seien", ist die Auffassung ebenfalls nicht ganz verständlich; denn ζ. B. die ipso jure bestehende Versicherungspflicht, die den Betroffenen zum Kreis der Versicherten zählen läßt, verleiht allein sicherlich keine besondere Qualifikation. I m übrigen w i r d vornehmlich aus der Bezeichnung „Sozialrichter" (Landessozialrichter, Bundessozialrichter) geschlossen, daß es sich um sachkundige ehrenamtliche Richter handelt. Auch hier w i r d man aber mit Goethe „das Wort allein so hoch nicht schätzen" dürfen. Ich habe bereits unmittelbar nach Inkrafttreten des SGG Zweifel an dieser Auffassung geäußert. I n der amtlichen Begründung des Entwurfes eines SGG und in dem Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik vom 27. Juni 1953 sind ebenso wie schon i n der Begründung zur RVO lediglich die Mitarbeit und Beteiligung des „Laienelements" oder der „Laienmitglieder" oder der „Laien" erwähnt. Lassen Sie mich zunächst bei der Gerichtsbesetzung verweilen, die heute ehrenamtliche Richter aus den Kreisen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber erfordert. Insoweit ist schon zur Begründung der ersten „Novellette" zum SGG zur Ausdehnung des Personenkreises der Arbeitgeber ausgeführt, die Arbeitgeber i m Sinne des SGG — jedenfalls die der Großbetriebe — hätten nicht mehr die für die ehrenamtliche Richtertätigkeit erforderliche „Kenntnis der betrieblichen Gegebenheiten sowohl für die Personen als auch für die Sache", ihre Aufgaben lägen heute anders als früher „durchweg auf einem Gebiet", das sie nicht „ m i t den erwähnten betrieblichen Vorgängen i n Kontakt" bringe. Und das hat dann seit der Novellette zum SGG zur Folge, daß w i r gar nicht mehr Arbeitgeber und Arbeitnehmer i n der Gerichtszusammensetzung haben, sondern nur Arbeitnehmer, wobei die einen nach ihrem betrieblichen, veränderlichen und veränderbaren, vom Betrieb und nicht vom Bevölkerungskreise her steuerbaren Einsatz andere Aufgaben i m Arbeitsleben erfüllen als die anderen Arbeitnehmer. Dabei sind inzwischen i n weiten Bereichen der hier angesprochenen Sozialrechtssparten alle erwähnten Arbeitnehmer beitragszahlende Versicherungspflichtige und nicht für die Versicherungspflichtigen beitragsmitaufbringende Unternehmer, w o r i n der eigentliche Unterschied i n der Gerichtsbeschickung von alters her besteht. Für die ehrenamtlichen Richter aus dem „sog." — muß ich jetzt sagen — Kreis der Versicherten sieht das auch noch so aus. Sie haben zwar

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regelmäßig noch Kontakt m i t den betrieblichen Vorgängen, aber nur m i t den Vorgängen ihres Betriebes und hier oft nur mit denen ihres Arbeitsplatzes. Anderen Betriebsarten und oft sogar nur anderen Arbeitsplätzen, m i t denen der ehrenamtliche Richter i n allen der hier angesprochenen Zweige des Sozialrechts zur Entscheidung konfrontiert wird, steht er genauso sachunkundig gegenüber. Dies gilt u m so mehr, als der Versicherte nicht einmal i n dem Zweig der Sozialversicherung versichert sein muß, dessen Streitigkeiten der Kammer oder dem Senat zur Entscheidung zugewiesen sind, der bzw. dem der Versicherte angehört. Und dann noch dies. Als die jetzige Form kreiert wurde, da waren i n den behandelten Sparten des Sozialrechts pflichtig nur ein ganz geringer Prozentsatz unseres Volkes. Sie bildeten noch Gruppen i m Volksganzen. Inzwischen sind aber rund 9 0 % der Bevölkerung von diesen sozialen Institutionen erfaßt. Sie bilden keine Gruppen mehr, sie sind das Volksganze. Auch sind alle Arbeitnehmer unabhängig von ihrem arbeitsrechtlichen Status und ihrer Verdiensthöhe pflichtig i n der Arbeitslosenversicherung, der Unfallversicherung und den Rentenversicherungen, wobei rechtlich nur noch ein Unterschied hinsichtlich der zuständigen Versicherungsträger, nicht aber hinsichtlich des Leistungs- und Beitragsrechts besteht. I n der Krankenversicherung besteht auch nur noch ein Unterschied für die Frage der Versicherungspflicht. Und schließlich ist und w i r d i n immer stärkerem Maße die Sozialversicherung geöffnet für die Selbständigen, bei denen eine Gruppenbindung ohnehin nicht besteht oder bei der Gerichtsbesetzung nicht berücksichtigt wird. Nun zur Kriegsopferversorgung. I n den Spruchkörpern für Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung wirken je ein ehrenamtlicher Richter aus dem Kreise der „ m i t der Kriegsopferversorgung vertrauten Personen" und den „Versorgungsberechtigten" mit. Die „Versorgungsberechtigung" bedeutet ebenfalls nicht stets ein besonderes Vertrautsein m i t dem Rechtsgebiet der Kriegsopferversorgung. Es erscheint auch nicht ratsam, weiterhin die Zugehörigkeit eines ehrenamtlichen Richters hier zu dem Kreis der Versorgungsberechtigten zu fordern und damit diese ehrenamtlichen Richter i n den Spruchkörpern für Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung der Gefahr einer Überalterung auszusetzen. Bei den „ m i t der Kriegsopferversorgung vertrauten Personen" scheint nach dem Gesetzeswortlaut eine besondere Sachkunde gefordert zu sein. Nach der hier bereits erwähnten Entscheidung des Großen Senats des BSG vom 30. Juni 1960 können jedoch aktive Bedienstete der Versorgungsverwaltung generell und nicht nur bei Streitigkeiten aus ihrem Fachbereich nicht ehrenamtliche Richter für Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung sein. Damit ist aber faktisch der Kreis der Personen, die m i t dem Recht der Kriegsopferversorgung we-

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sentlich mehr als die Allgemeinheit vertraut sind, auf einen nicht mehr erheblichen Umfang geschrumpft, der es gestattet, auch hier auf ein Vertrautsein der ehrenamtlichen Richter m i t dem Recht der Kriegsopferversorgung zu verzichten. Daran ändert auch nichts die Übung, als ehrenamtliche Beisitzer Bedienstete auszuwählen, die i m Recht der Kriegsopferfürsorge dienstliche Erfahrungen gesammelt haben. Hierbei handelt es sich nur u m einen Teilbereich der Kriegsopferversorgung, der außerdem noch — sinnvoll oder nicht sinnvoll — nicht einmal den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit, sondern den allgemeinen Verwaltungsgerichten zur Entscheidung zugewiesen ist. Auch das Erfordernis einer besonderen Sachkunde erfordert daher grundsätzlich nicht die Zugehörgikeit des ehrenamtlichen Richters zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe. Wie bei dem ersten, so habe ich auch bei dem zweiten Zwischenergebnis das Wort „grundsätzlich" betont und schon damit auf die Notwendigkeit von Ausnahmen hingewiesen. Die erste Ausnahme besteht für die Handelsrichter. Die einem begrenzten Kreis von Kaufleuten angehörenden Handelsrichter werden kraft ihrer beruflichen Sachkunde als ehrenamtliche Richter tätig. Die Notwendigkeit ihrer Zugehörigkeit zu einem bestimmten Personenkreis bitte ich i m übrigen der schriftlichen Vorlage zu entnehmen. Die zweite Ausnahme zeichnet sich ab für die ehrenamtlichen Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit, die jeweils zur Hälfte dem Kreis der Arbeitgeber und dem der Arbeitnehmer angehören. Anders als i n der Sozialgerichtsbarkeit stehen sich i n der Arbeitsgerichtsbarkeit zwei ungebundene Parteien gegenüber, die letztlich zur Verständigung nur der staatlichen Hilfe durch die Gerichte bedürfen. Hier würde zutreffend Jhering sagen dürfen: „Der Bildungsprozeß des Rechts ist keine Sache der bloßen Erkenntnis wie bei der Wahrheit, sondern Sache des Kampfes der Interessen." Oder anders ausgedrückt: Arbeitgeber und Arbeitnehmer befinden sich auch i n der Arbeitsgerichtsbarkeit i n einem partnerschaftlichen Verhältnis, das durch die Tarifautonomie gekennzeichnet und getragen wird. Diese Sozialpartnerschaft gibt auch der Arbeitsgerichtsbarkeit das Gepräge m i t der Folge, daß hier die ehrenamtlichen Richter auch fürderhin nach bestimmten, durch die Zugehörigkeit zu der Vertretung des jeweiligen Sozialpartners aufgerufenen Bevölkerungsgruppen ausgewählt werden sollten. Wie hier die sozialpartnerschaftliche Tarifautonomie den Ausschlag gibt, so gibt die öffentlich-rechtliche Vertragsautonomie der Partner des Kassenarztrechts der gesetzlichen Krankenversicherung m i t der gesetzlich verordneten Durchsetzungskraft gegenüber den jeweiligen M i t gliedern diesem Rechtsgebiet das Rechtsgesicht. Dort wie hier ist daher

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eine Ausnahme von dem aufgezeigten Grundsatz geboten. Darauf deutet auch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts hin, wonach Geschäftsführer und deren Stellvertreter bei den Trägern und Verbänden der Krankenversicherung sowie den Kassenärztlichen (Kassenzahnärztlichen) Vereinigungen als ehrenamtliche Richter in den Spruchkörpern für A n gelegenheiten des Kassenarztrechts nicht ausgeschlossen sind. Die von den ehrenamtlichen Richtern geforderten Sachkenntnisse, die für die Rechtsfindung unbedingt erforderlich sind, ergeben sich hier letztlich aus einer Gruppenzugehörigkeit, wie es das BVerfG i n seinem Beschluß vom 17. Dezember 1969 deutlich gemacht hat. So darf ich diesen Abschnitt des Referats schließen mit dieser 3. T h e s e Grundsätzlich ist die Zugehörigkeit der ehrenamtlichen Richter zu bestimmten Bevölkerungsgruppen nicht erforderlich. Von diesem Grundsatz sind Ausnahmen zu machen für die Handelsrichter i n der Zivilgerichtsbarkeit, die ehrenamtlichen Richter i n der Arbeitsgerichtsbarkeit und die ehrenamtlichen Richter für das Kassenarztrecht in der Sozialgerichtsbarkeit.

Das bedeuet nicht, daß auf besondere Kenntnisse und Erfahrungen der ehrenamtlichen Richter verzichtet werden kann. I m Gegenteil. Die Berufsrichter weisen m i t der Befähigung zum Richteramt nicht nur ein bestimmtes Fachwissen auf, sie bringen auch durch die Dauer der Schul-, Hochschul- und Referendarausbildung bedingt automatisch ein Mindestalter mit. Das sollte auch für die ehrenamtlichen Richter gelten. Ich denke an die Vollendung des 25. Lebensjahres. Für alle Tätigkeiten, berufliche und ehrenamtliche, gibt es auch ein Höchstalter, das nur nach der Norm, nicht nach dem Einzelfall abgesteckt werden kann. Auch hier ist eine Parallele zum Berufsrichter angezeigt. Ehrenamtlicher Richter sollte daher nicht mehr derjenige werden, der während der Legislaturperiode das 65. Lebensjahr vollendet. Auch sollten die ehrenamtlichen Richter der Berufungs- und Revisionsgerichte besondere Erfahrungen als ehrenamtliche Richter i n das A m t mitbringen. Für die Berufungsgerichte können demnach nur ehrenamtliche Richter i n Betracht kommen, die mindestens eine Legislaturperiode von vier Jahren ehrenamtliche Richter i n der ersten Instanz waren. Für die Revisionsgerichte ist eine gleiche Tätigkeitszeit i n einem Berufungsgericht zu fordern. I n der Zusammenfassung darf daher für alle Gerichtszweige und I n stanzen der unbescholtene, durch Lebenserfahrungen qualifizierte ehren-

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amtliche Richter gefordert werden, der i m übrigen von seinem Rechtsgefühl geleitet wird, i n dem nach Joubert eine Wärme liegt, die viel Wahrheit i n sich schließt. Darüber hinaus erfordert eine besondere Sachkunde der ehrenamtlichen Richter derzeit nur das Arbeitsgerichtsgesetz und das nur für die Bundesarbeitsrichter. Sie müssen „besondere Kenntnisse und Erfahrungen auf den Gebieten des Arbeitsrechts und des Arbeitslebens" haben. Aus dem gesetzlichen Auftrag der ehrenamtlichen Richter heraus w i r d diese besondere Sachkunde mit der Befähigung zur Mitentscheidung von Rechtsfragen und nicht nur zur Tatsachenwürdigung verlangt durch die Rechtsprechung für alle ehrenamtlichen Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit und der Sozialgerichtsbarkeit. Meine sehr verehrten Damen und meine Herren! Ich könnte nun versuchen, mit eigenen oder entliehenen Worten das zu sagen, was die Rechtsprechung dazu schon gesagt hat. I m Inhalt wäre es immer ein Nachspruch, wenn auch kein Nachruf. So gestatten Sie mir an dieser Stelle die Verweisung auf die Ihnen schriftlich vorgelegten Beschlüsse des BVerfG und des Bundessozialgerichts. Zur Vollständigkeit lassen Sie mich auch die bereits an anderer Stelle erwähnte besondere Sachkunde der Handelsrichter anführen. Hinsichtlich der allgemeinen persönlichen Voraussetzungen der ehrenamtlichen Richter sowie der Ausschluß- und Ablehnungsgründe sind die Vorschriften für die einzelnen Gerichtszweige schon jetzt i m wesentlichen gleich. Kleinere Angleichungen — ζ. B. ein einheitliches passives Wahlalter — sind i m Speyerer Entwurf vorgeschlagen; sie sind zu übernehmen. Die — persönlichen — Ausschließungsgründe vom A m t sind für die ehrenamtlichen Richter aller Gerichtszweige ebenfalls schon i m wesentlichen übereinstimmend geregelt. Die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten schließt jedoch einen ehrenamtlichen Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit nicht von seinem A m t aus. Hier wäre eine Angleichung an die Regelungen i n den anderen Verfahrensgesetzen zu empfehlen. Gegenüber der VwGO und der FGO ist nach dem ArbGG und dem SGG die Wählbarkeit zum Deutschen Bundestag und nicht die zu einer gesetzgebenden Körperschaft des Landes maßgebend. Nach der FGO schließt außerdem der Offenbarungseid vom A m t des Finanzrichters aus — eine Vorschrift, deren Berechtigung erneut geprüft werden sollte. Die — beruflichen — Hinderungsgründe für die Berufung zum ehrenamtlichen Richter sind für die verschiedenen Gerichtszweige zum Teil unterschiedlich geregelt. Das ArbGG verbietet insoweit nur die Berufung von Beamten und Angestellten eines Gerichts für Arbeitssachen. Der Speyerer Entwurf sieht eine teilweise Zusammenfassung für die VwGO,

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die FGO und das SGG vor. Danach sollten nicht als ehrenamtliche Richter berufen werden können die Mitglieder des Bundestages, der gesetzgebenden Körperschaften eines Landes, der Bundes- oder einer Landesregierung, Richter, Berufssoldaten, Soldaten auf Zeit sowie berufsmäßige Angehörige und Angehörige auf Zeit des Zivilschutzkorps, Rechtsanwälte, Notare und Personen, die fremde Rechtsangelegenheiten geschäftsmäßig besorgen. Außerdem sollten für die Sozialgerichtsbarkeit die i m SGG aufgeführten Hinderungsgründe übernommen werden. Dem ist zuzustimmen m i t dem Zusatz, daß ehemalige Richter nicht ehrenamtliche Richter werden können. Damit soll die Grenzziehung zwischen Berufs- und ehrenamtlichen Richtern deutlicher gemacht werden. I m Ergebnis findet sich so die 4.

These

Für alle ehrenamtlichen Richter ist ein Mindest- und ein Höchstalter vorzusehen. Ehrenamtlicher Richter i n der höheren Instanz kann nur werden, wer mindestens eine Legislaturperiode lang als ehrenamtlicher Richter i n der Vorinstanz tätig war. Eine besondere Sachkunde ist notwendig für die Tätigkeit als Handelsrichter sowie i n der Arbeits- und i n der Sozialgerichtsbarkeit. Für die allgemeinen persönlichen Voraussetzungen der ehrenamtlichen Richter w i r d dem Speyerer Entwurf gefolgt. Die persönlichen Ausschließungsgründe sind zu koordinieren etwa i m Sinne der VwGO und der FGO. Gleiches gilt für die beruflichen Hinderungsgründe, wobei zusätzlich für die Sozialgerichtsbarkeit die derzeitige Regelung übernommen werden sollte.

Vor Ihnen, meine sehr verehrten Damen und meine Herren, über das Wesen der richterlichen Tätigkeit und damit über die Stellung der ehrenamtlichen Richter zu sprechen, erübrigt sich eigentlich. So lassen Sie mich lediglich fixieren, daß auch die Tätigkeit der ehrenamtlichen Richter i n sachlicher und persönlicher Unabhängigkeit ausgeübt und getragen w i r d von den gleichen Rechten und Pflichten, wie sie die Berufsrichter haben. Das bedarf keiner besonderen gesetzlichen Hervorhebung, wie es das ArbGG denn auch nicht tut; ein Hinweis aber würde der Klarstellung dienen. I m übrigen darf ein Hinweis auf den Beschluß des BVerfG vom 17. Dezember 1969 genügen. Hervorgehoben aber werden sollte, daß die ehrenamtlichen Richter grundsätzlich i h r A m t nur während der Dauer der Gerichtsverhandlung

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ausüben. Den ehrenamtlichen Richtern, von denen eine besondere Sachkunde erfordert wird, sollte der Vorsitzende des Gerichts aber an Gerichtsstelle die Einsicht i n die A k t e n vor der Sitzung gestatten können, weil sie andernfalls durch die plötzliche Konfrontierung m i t Rechtsproblemen i n der Sitzung überfordert werden könnten. Daß die ehrenamtlichen Richter keine Erkundigungen einziehen, keine Ermittlungen anstellen und keinen Kontakt irgendwelcher A r t aufnehmen dürfen, ergibt sich aus dem insoweit ausschließlichen Auftrag an den Berufsrichter. Die ehrenamtlichen Richter unterstehen der Dienstaufsicht wie die Berufsrichter, mit denen sie zusammen tagen. Bei Verletzung ihrer Dienstpflichten sollten sie zu Geldbußen herangezogen werden können. Das sollte durch Richterspruch einer i m Geschäftsverteilungsplan ausgewiesenen Kammer oder eines Senats des Gerichts erfolgen, bei dem sie akkreditiert sind. So ist erlaubt diese 5.

These

Die ehrenamtlichen Richter haben i n ihrem von öffentlich-rechtlichen Grundsätzen bestimmten Ehrenamt die Rechte und Pflichten wie die Berufsrichter. Sie üben ihr A m t grundsätzlich während der Dauer der Gerichtsverhandlung aus. Sie unterstehen einer Dienstauf sieht.

Nach dieser 5. w i l l ich die 6. These suchen, die sich m i t der A r t und Weise der Auswahl der ehrenamtlichen Richter befassen soll. Die Schöffen und die Geschworenen werden heute von einem beim Amtsgericht zusammentreffenden Ausschuß gewählt. Der Ausschuß besteht aus dem Amtsrichter als Vorsitzenden und einem von der Landesregierung zu bestimmenden Verwaltungsbeamten sowie zehn Vertrauensleuten als Beisitzern. Die Vertrauensleute werden aus den Einwohnern des Amtsgerichts- bzw. Landgerichtsbezirks von der Vertretung des entsprechenden unteren Verwaltungsbezirks ausgewählt. Die ehrenamtlichen Richter werden aus den von den Gemeinden aufgestellten Vorschlagslisten m i t einer Mehrheit von zwei Dritteln gewählt. Dagegen werden die Handelsrichter auf gutachtlichen Vorschlag der Industrieund Handelskammer ernannt. Die ehrenamtlichen Richter der allgemeinen Verwaltungsgerichte und der Finanzgerichte werden gewählt. Auch hier w i r d ein Ausschuß zur

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Wahl der ehrenamtlichen Richter bei jedem Verwaltungsgericht und Finanzgericht bestellt. Dieser Ausschuß besteht aus dem Präsidenten des Verwaltungsgerichts bzw. Finanzgerichts, einem von der Landesregierung bzw. dem Oberfinanzpräsidenten bestellten Verwaltungsbeamten und sieben Vertrauensleuten als Beisitzer. Die Vertrauensleute werden aus den Einwohnern des Verwaltungsgerichts- bzw. Finanzgerichtsbezirkes vom Landtag oder von einem durch ihn bestimmten Landtagsausschuß oder nach Maßgabe eines Landesgesetzes gewählt. Die Vorschlagslisten stellen die Kreise oder die kreisfreien Städte auf. Der Ausschuß wählt aus den Vorschlagslisten mit einer Mehrheit von mindestens zwei Dritteln der Stimmen die erforderliche Zahl von ehrenamtlichen Richtern. Die ehrenamtlichen Richter der Arbeits- und der Sozialgerichtsbarkeit werden dagegen berufen. I n der Arbeitsgerichtsbarkeit werden die Arbeits- und Landesarbeitsrichter von der obersten Arbeitsbehörde des Landes auf die Dauer von vier Jahren berufen. Sie sind i n angemessenem Verhältnis unter Berücksichtigung der Minderheit aus den Vorschlagslisten zu entnehmen, die der obersten Arbeitsbehörde des Landes von den i m Gerichtsbezirk bestehenden Gewerkschaften, selbständigen Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie von den in § 22 Abs. 2 Nr. 3 ArbGG bezeichneten Körperschaften oder deren Arbeitgebervereinigungen eingereicht werden. Die Bundesarbeitsrichter werden vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung für die Dauer von vier Jahren berufen und die Vorschlagslisten von den Gewerkschaften, selbständigen Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung und Vereinigungen von Arbeitgebern, die für das Arbeitsleben des Bundesgebietes wesentliche Bedeutung haben, sowie wiederum von den in § 22 Abs. 2 Nr. 3 ArbGG bezeichneten Körperschaften eingereicht. Zum Teil w i r d die Auffassung vertreten, daß schon nach dem geltenden Recht die Bundesarbeitsrichter durch den Richterwahlausschuß zu wählen und nicht von dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung zu berufen seien. Dieser Ansicht ist das Schrifttum überwiegend nicht gefolgt. I n der Sozialgerichtsbarkeit werden die Sozial- und Landessozialrichter von der Landesregierung oder der von ihr beauftragten Stelle auf Grund von Vorschlagslisten für vier Jahre ebenfalls nicht gewählt, sondern berufen. I m Regierungsentwurf war vorgesehen, die ehrenamtlichen Richter i m Benehmen mit dem Präsidenten des Landessozialgerichts (bei den Bundessozialrichtern mit dem des Präsidenten des BSG) zu berufen. A u f Vorschlag des Ausschusses für Sozialpolitik wurde von einer M i t w i r k u n g der Präsidenten abgesehen, um den „Anschein" zu vermeiden, „daß die Unabhängigkeit der Richter beeinträchtigt" werde

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— eine wohl nicht ganz verständliche Begründung. Die Vorschlagslisten der ehrenamtlichen Richter, die i n den Spruchkörpern für Angelegenheiten der Sozialversicherung und für Angelegenheiten der Arbeitslosenversicherung mitwirken, werden von den Gewerkschaften und von selbständigen Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial- und berufspolitischer Zwecksetzung sowie von Vereinigungen von Arbeitgebern und den i n § 16 Abs. 4 Nr. 3 SGG bezeichneten obersten Bundes- und Landesbehörden aufgestellt. Für Angelegenheiten des Kassenarztrechts stellen die Vorschlagslisten die Kassenärztlichen (Kassenzahnärztlichen) Vereinigungen und die Zusammenschlüsse der Krankenkassen auf. Für den Bereich der Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung sind vorschlagsberechtigt die Landesversorgungsämter und die i m Gerichtsbezirk vertretenen Vereinigungen der Kriegspofer. Die Bundessozialrichter beruft der Bundesminister für Arbeit- und Sozialordnung auf Grund von Vorschlagslisten, die von den gleichen Organisationen aufgestellt werden, die für die Vorschlagslisten für die Sozialrichter und Landessozialrichter berechtigt sind; i n Angelegenheiten des Kassenarztrechts sind es die Kassenärztlichen (Kassenzahnärztlichen) Vereinigungen und die Zusammenschlüsse von Krankenkassen, die sich über das Bundesgebiet erstrecken; i m Rahmen der Kriegsopferversorgung t r i t t an die Stelle der Landesversorgungsämter die oberste Verwaltungsbehörde des Landes. Auch für die Bundessozialrichter w i r d ebenso wie für die Bundesarbeitsrichter überwiegend nicht eine Wahl durch den Richterwahlausschuß für notwendig und zulässig erachtet. Es kann i n diesem Rahmen auch nicht darauf eingegangen werden, ob alle für die Aufstellung von Vorschlagslisten aufgeführten Vereinigungen, Organisationen und Verbände hinreichend bezeichnet und abgrenzbar sind. Entscheidend erscheint hier, daß der Regierungsentwurf zum SGG vorsah, daß die Vorschlagslisten für ehrenamtliche Richter, die i n den Spruchkörpern für Angelegenheiten der Sozialversicherung und für Angelegenheiten der Arbeitslosenversicherung mitwirken, von den Vertreterversammlungen der Träger der Sozialversicherung aufgestellt werden. Er folgte damit zwar nicht der nach 1884 zunächst überwiegend vorgesehenen Wahl der ehrenamtlichen Beisitzer, beachtete aber doch stärker die Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger. Deshalb vermißt man besonders hinsichtlich der Sozialversicherung die Begründung des Bundesrates für seinen später Gesetz gewordenen Änderungsvorschlag, die Vorschlagslisten für die ehrenamtlichen Richter nicht durch die Vertreterversammlungen aufstellen zu lassen, den er darauf stützt, die Aufstellung der Vorschlagslisten durch die Vertreterversammlungen sei „insbesondere hinsichtlich der zweiten Instanz verwaltungsmäßig kaum durchführbar". Der Speyerer Entwurf sieht für die ehrenamtlichen Richter, auch der Sozialgerichtsbarkeit, die Wahl durch einen Wahlausschuß vor. Der Aus6

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schuß soll aus dem Präsidenten des Gerichts, einem von der Landesregierung bestimmten Verwaltungsbeamten und sieben Vertrauensleuten als Beisitzern bestehen. Die Vertrauensleute sollen aus den Einwohnern des Gerichtsbezirks vom Landtag oder einem durch ihn bestimmten Landtagsausschuß oder nach Maßgabe eines Landesgesetzes gewählt werden. Ich schließe mich diesem Vorschlag insoweit an, als er einheitlich die Wahl der ehrenamtlichen Richter i n allen Gerichtszweigen auch i n der Arbeitsgerichtsbarkeit und i n der Sozialgerichtsbarkeit vorsieht. Die gewählten ehrenamtlichen Richter sollten dann formell von dem Gerichtsleiter ernannt werden, der die Dienstaufsicht über sie führt. Dieser sollte an die erfolgte Wahl gebunden sein. Der Speyerer Entwurf sieht außerdem entsprechend der Regelung für Schöffen und Geschworene, auch für die allgemeinen Verwaltungsgerichte und die Finanzgerichte, weiterhin vor, daß die ehrenamtlichen Richter aus Vorschlagslisten gewählt werden, die von den Kreisen und den kreisfreien Städten aufgestellt werden. Für die Sozialgerichtsbarkeit übernimmt er dagegen die bestehende Regelung des SGG über die Aufstellung der Vorschlagslisten. Dem schließe ich mich an, zumal eine andere Regelung für die Sozialgerichtsbarkeit politisch nicht durchsetzbar ist. Für die Arbeitsgerichtsbarkeit ist die geltende Regelung über die Aufstellung der Vorschlagslisten beizubehalten, da hier die ehrenamtlichen Richter als Interessenvertreter einer bestimmten Gruppe angehören. Somit lautet die 6.

These

Die ehrenamtlichen Richter sind i n allen Gerichtszweigen zu wählen. Die Vorschlagslisten zur Wahl werden i m allgemeinen von den Kreisen oder kreisfreien Gemeinden aufgestellt. Für die Sozialgerichtsbarkeit ist das geltende Recht, i n der Arbeitsgerichtsbarkeit ist das Vorschlagsrecht der Tarifpartner beizubehalten. Die Ernennung der gewählten ehrenamtlichen Richter erfolgt durch den zuständigen Gerichtsleiter.

Von symbolischer Bedeutung ist die Primzahl sieben. Was ich m i t der 7. These vorzuschlagen haben werde, gehört aber nicht nur i n den Bereich der Symbolik, sondern kann m. E. auch eine Bewältigungshilfe für politische Probleme sein. Ich denke an die Beteiligung der ehrenamtlichen Richter an der Gerichtsverwaltung.

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Das ArbGG von 1926 führte für die Arbeitsgerichtsbarkeit den Beisitzerausschuß beim Arbeitsgericht mit mehr als einer Kammer und beim Landesarbeitsgericht ein. Dieser Ausschuß war vor Bildung von Kammern, vor der Geschäftsverteilung, vor der Verteilung der Beisitzer auf die Kammern und vor der Aufstellung der Listen über die Heranziehung der Beisitzer zu den Sitzungen zu hören. Er konnte i m übrigen auch dem Vorsitzenden des Arbeitsgerichts und den die Verwaltung und Dienstaufsicht führenden Behörden Wünsche der Beisitzer übermitteln. Beim Reichsarbeitsgericht waren vor der Verteilung der Geschäfte und der nicht berufsrichterlichen Beisitzer auf die Senate lediglich zwei Beisitzer der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu hören. Das ArbGG von 1953 und das SGG haben diese Regelung i m wesentlichen übernommen. Das SGG sieht einen Ausschuß der ehrenamtlichen Richter auch am BSG vor. Zur Geschäftsverteilung gehören nach diesen Vorschriften jedoch nur die Verteilung der Geschäfte auf die Spruchkörper, dagegen nicht die Verteilung der Spruchkörper auf die Vorsitzenden. Einen entsprechenden Beisitzerausschuß kannten die dem Sozialgerichtsgesetz vorausgehenden Regelungen nicht. Dem GVG, der VwGO und der FGO ist der Ausschuß für ehrenamtliche Richter ebenfalls fremd. Der Speyerer Entwurf sieht diesen Ausschuß nur für die Sozialgerichtsbarkeit, nicht aber für die allgemeine Verwaltungs- und die Finanzgerichtsbarkeit vor. Zur Begründung für diese Beschränkung führt er lediglich aus, es bestehe keine Veranlassung, diese Regelung i n die allgemeine Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit zu übernehmen. Nun, ich bin anderer Ansicht. Die Bildung von Spruchkörpern, die Geschäftsverteilung und erst recht die „Verteilung" der ehrenamtlichen Richter auf die Spruchkörper und die Aufstellung der Listen über die Heranziehung der ehrenamtlichen Richter berühren deren Aufgaben und Interessen. Ihnen kann m. E. eine Anhörung durch einen Ausschuß ebensowenig versagt werden, wie den Berufsrichtern die M i t w i r k u n g i m Rahmen des Präsidiums gesichert ist. Ich gehe noch einen Schritt weiter. Dieser Ausschuß bietet sich geradezu für die Wahl der ehrenamtlichen Richter an. Seine Zuständigkeit sichert i n gewissem Umfang, daß der richtige ehrenamtliche Richter an den richtigen Platz kommt. Bevor der Gerichtsleiter die Ernennung ausspricht, sollte i h m allerdings i m Interesse der Rechtssicherheit die Möglichkeit gegeben werden, den für die Abberufung oder Entlassung ehrenamtlicher Richter zuständigen Spruchkörper zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Wahl i m Einzelfall anzurufen. Die Entscheidung dieses Spruchkörpers kann die instanzielle Prüfung der richtigen Gerichtsbesetzung nicht beeinflussen. β*

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So ergibt sich als letzte die 7.

These

Ein Ausschuß der ehrenamtlichen Richter ist i n allen Gerichtszweigen und bei allen Gerichten für die schon jetzt i m Sozialgerichts- und i m Arbeitsgerichtsgesetz niedergelegten Aufgaben zu bilden. I h m obliegt die Wahl der ehrenamtlichen Richter.

Ich komme zum Schluß. Lassen Sie ihn mich mit einer Anmerkung finden. Es ist eine wissenschaftliche Aufgabe, einen Stoff aufzubereiten. Das ist für das Thema geschehen durch den Speyerer Entwurf. M i t meiner schriftlichen Vorlage habe ich mich bemüht, Ihnen — meine Zuhörerinnen und Zuhörer — eine Hilfe gleicher A r t zu geben. Es ist auch eine wissenschaftliche Aufgabe, die Probleme herauszustellen. Das ist i n gleicher Weise — wie soeben dargestellt — vorgenommen worden. Man darf aus einer Hochschule heraus wohl auch dem Politiker noch sagen, was er wollen soll. Das habe ich — eingegrenzt auf meine A n sichten — getan. Ich weiß aber, daß der Politiker nicht immer das vollenden kann, was er sich vorgenommen hat, er vielmehr i m Bereich des parlamentarisch und gegenwartsbezogenen Möglichen bleiben muß. Daß er leben muß, wie er kann, nicht wie er w i l l . Ich habe — soweit für mich erkennbar — versucht, auch das zu berücksichtigen. Vielleicht führt nun der weitere Weg über die K r i t i k zu einer Lösung.

Die Besetzung der Richterbank (II) Von Johann Schmidt Gegenstand meiner Betrachtungen ist allein die Besetzung der Richterbank i n der Verwaltungsgerichtsbarkeit — darunter verstehe ich hier neben der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit auch die Finanzund die Sozialgerichtsbarkeit — m i t Berufsrichtern. Der Beteiligung ehrenamtlicher Richter hat sich Herr Präsident Dr. Peters zugewandt. Allerdings lassen die Probleme sich nicht reinlich scheiden. So ist denn wohl das meiste von dem, was ich zur Alternative: Einzelrichter oder Kollegialsystem zu sagen habe, ohne weiteres zu übertragen auf die Alternative: Besetzung der Kammer m i t einem oder mit mehreren Berufsrichtern neben ehrenamtlichen Richtern. Denn der ehrenamtliche Richter kann nicht, und zwar auch nicht teilweise, den Berufsrichter ersetzen; er muß ihn i n besonderer Weise ergänzen. Die Frage, wie die Richterbank i n der Verwaltungsgerichtsbarkeit m i t Berufsrichtern zu besetzen sei, ist keine bloß akademische, sie ist vielmehr höchst aktuell. I n der Auseinandersetzung um die sog. Große Justizreform wogt unter anderem der Streit hin und her, ob i n einer — von vielen geforderten — dreistufigen Gerichtsbarkeit für die erste Instanz der Einzelrichter oder die mit mehreren Berufsrichtern besetzte Kammer vorzuziehen sei. Zwar werden diese Diskussionen vornehmlich i n bezug auf die Zivilgerichtsbarkeit geführt, unter dem Motto: „Einheit der rechtsprechenden Gewalt" beanspruchen sie aber Gültigkeit auch für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Der Deutsche Richterbund verlangt sogar ausdrücklich, daß die Einführung des Einzelrichters i n der ersten Stufe einer dreistufigen Zivilgerichtsbarkeit Hand i n Hand gehen müsse mit der Einführung des Einzelrichters i n der ersten Stufe der übrigen Gerichtszweige 1 . M i t diesen Auseinandersetzungen eng verwoben ist das viel umstrittene Problem der Gliederung der Richterschaft i n zwei Gruppen. Adickes hat 1906 die Scheidung i n Amtsrichter und Oberrichter gefordert, Weinkauff t r i t t für die Aufteilung i n die Kategorien des Friedensrichters und des gehobenen, des eigentlichen „Richters" ein. Und neuerdings werden i n dieser Richtung noch weitergehende Überlegungen angestellt. Gerner hat i m jüngsten Band des Juristen-Jahrbuches die geschichtliche Entwicklung, ausgenommen die nationalsozialistische 1

D R i Z 1966, S. 133.

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Phase, und den letzten Stand der Justizreform umfassend dargestellt 2 , so daß ich mich darauf beschränken kann, auf ihn, statt auf viele, zu verweisen. Neben dieser weitgreifenden Zielsetzung gibt es eine viel speziellere, die die Vereinheitlichung der Verfahrensordnungen für die verschiedenen Zweige der Verwaltungsgerichtsbarkeit zum Gegenstand hat. Wie Sie wissen, hat der wissenschaftliche Leiter unserer Tagung, Herr Professor Ule, sich der diesbezüglichen Forderungen von Wissenschaft und Praxis angenommen und nach eingehenden Untersuchungen m i t Unterstützung seiner Mitarbeiter den sog. Speyerer Entwurf eines Verwaltungsgerichtsgesetzes zur Vereinheitlichung der Verwaltungsgerichtsordnung, der Finanzgerichtsordnung und des Sozialgerichtsgesetzes vorgelegt 3 . I m Zuge dieser Vereinheitlichung ist nun auch zu entscheiden, ob die erste Instanz neben den ehrenamtlichen Richtern nach dem Vorbild der Verwaltungsgerichtsordnung und der Finanzgerichtsordnung mit drei Berufsrichtern oder ob sie nach dem Muster des Sozialgerichtsgesetzes mit nur einem Berufsrichter zu besetzen ist oder schließlich, ob insoweit eine Vereinheitlichung nicht zweckmäßig ist. Die Frage nach der richtigen Besetzung der Richterbank ist, das sei vorausgeschickt, weder eine Frage der juristischen Dogmatik noch des jeweiligen gesellschaftlichen Standorts. Wenngleich die Demokratie ihrem dialektisch-kontradiktorischen Aufbau gemäß dem Kollegialprinzip zuneigt — so Dagtoglou 4 unter Berufung auf Aristoteles und Kelsen — so ist Kollegialität doch „durchaus nichts spezifisch ,Demokratisches' Das haben neben Dagtoglou 5 u. a. Max Weber 6 und Eschenburg 7 dargestellt, letzterer vor allem am Beispiel des deutschen Absolutismus. Unsere Frage ist allein nach der rechtspolitischen Zweckmäßigkeit zu entscheiden, die ihrerseits nicht von der jeweiligen Rechtsordnung losgelöst beurteilt werden kann. Es ist allerdings unmöglich, i n den m i r zugestandenen 35 Minuten das rechtspolitische pro und contra vollständig aufzuzeigen oder gar breiter zu entwickeln; ich muß mich m i t einer Auswahl begnügen. Die Justizreform hat i n jeder ihrer Phasen seit 1906 u. a. eine drastische Verringerung der Richterzahl herbeiführen wollen und i n diesem Zu2

Juristen-Jahrbuch, 10. Bd. 1969/70, S. 21 f. Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 40, B e r l i n 1969. 4 Kollegialorgane u n d Kollegialakte i n der Verwaltung, res publica, Beiträge z. öffentl. Recht, Bd. 4,1960, S. 17. 5 a.a.O., S. 18 f. β Wirtschaft u n d Gesellschaft, 2. Aufl., Tübingen 1925, I. Halbband, S. 158 f. (162/163). 7 Bericht über die Arbeitstagung der Hochschule f ü r Verwaltungswissenschaften Speyer v. 6.—8. März 1958 i n Bad D ü r k h e i m von Hans Heinrich Rupp, DÖV 1958, S. 374. 8

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sammenhang auch die Zurückdrängung des Kollegialprinzips zu Gunsten des Einzelrichters betrieben. Vielschichtig, uneinheitlich, ja sogar gegenläufig waren allerdings die Motive für diese Zielsetzung. I n den Jahren nach dem 1. Weltkrieg stand die Not des Staates, das Streben nach Einsparungen, i m Vordergrund. Man werfe nur einen Blick etwa i n den Jahrgang 1930 der Juristischen Wochenschrift 8 . Vor 1914, dann i n der Zeit des Nationalsozialismus und schließlich wiederum seit der Mitte der 50er Jahre, ging und geht es dagegen darum, i m Wege der Verringerung des Bedarfs an Richtern eine schärfere Auslese zu ermöglichen. Bei einer Gesamtzahl von knapp 14 000 Richtern und Staatsanwälten i n der Bundesrepublik nach dem Stand vom 1.1. 19689 kann der Durchschnitt nicht anders als mittelmäßig sein. Neben der psychologischen W i r k u n g der geringeren Zahl sollen die dabei zu erzielenden Einsparungen eine kräftige Heraushebung der Richtergehälter ermöglichen und damit wiederum die Qualität verbessern helfen. Ich meine, man sollte jeden Schritt begrüßen und unterstützen, der dazu beitragen kann, das Durchschnittsniveau der Richter anzuheben und ihnen die ihrer Bedeutung entsprechende Position zu verschaffen. Das kann aber nur insoweit gelten, als ein solcher Schritt nicht zu anderen, unabweisbaren Bedürfnissen der Rechtspflege i n Widerspruch steht. M i t anderen Worten: Die Verringerung der Richterzahl und die Ausdehnung des Einzelrichtersystems, so wünschenswert sie i m Interesse einer Förderung der Qualität und der Persönlichkeitsentwicklung der Richter an sich sein mögen, sie dürfen nicht zum A x i o m werden. Das ist aber häufig da der Fall, wo das Wunschbild vom „königlichen Richter", vom „Richterkönig" propagiert oder geglaubt wird. Fischer hat schon 1931 i n seinem Gutachten für den 36. Deutschen Juristischentag i n Lübeck 1 0 hierzu gesagt, daß ein solcher Wunsch i n Deutschland niemals verwirklicht werden könne. Und ich möchte ergänzen: Das Grundgesetz hat zwar ein neues Richterbild geprägt, es ist dies aber nicht das B i l d des königlichen Richters nach angelsächsischem Muster. Man übersieht i m Reformeifer zu gern — und die Gefahr, dies zu tun, ist gerade bei uns Richtern gegeben, w e i l unsere eigenen, handfesten Interessen m i t i m Spiel sind — daß der angelsächsische Richter das ist, was er ist, nicht w e i l es nur wenige von seiner Gattung gibt, w e i l er besonders gut bezahlt ist, w e i l er vornehmlich als Einzelrichter tätig wird, sondern w e i l er einem anderen Rechtskreis zugehört, der i h n — noch, 8 Vgl. auch Eduard Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsgesetzes, 1954, S. 166 f. 9 Handbuch der Justiz 1968, S. 236, 238. 10 Verhandlungen des 36. DJT (Lübeck), 1. Bd. (Gutachten), S. 508 f.

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aber wie lange noch? — bedingt. Und daß die Engländer weniger rechtsfremd sind und ein anderes Verhältnis zu ihrer Gerichtsbarkeit haben, bewirkt ebenfalls nicht die kleine Zahl, die hohe Qualität und die herausgehobene Stellung ihrer Richter, sondern u. a. der Umstand, daß die angelsächsische Kunst der empirischen Jurisprudenz, der der juristischen Abstraktion fernliegende Schluß vom Einzelnen auf das Einzelne, ihrem Rechtsdenken verwandt ist. Sie stellen keine Anforderungen und Erwartungen an das Recht, die durch rechtslogische Konstruktionen enttäuscht werden könnten. Ich kann dies alles hier nicht näher darlegen, sondern verweise insoweit auf die Rechtssoziologie von Max Weber 11 , der die Entstehung und Entwicklung der Eigenart des englischen Rechts, der englischen Jurisprudenz und der englischen Rechtspflege gerade auch i n ihrem Verhältnis zu den Gegebenheiten i m kontinental-europäischen, durch die systematische Kodifikation und Rationalität gekennzeichneten Rechtsbereich eingehend darstellt, dabei besonders auf den bis heute noch erhaltenen genuin-charismatischen Charakter der Rechtsfindung hinweist und i n diesem Zusammenhang bemerkt: „Alles i n allem das B i l d einer Rechtspflege, welche in der prinzipiellsten formellen Eigentümlichkeit des materiellen Rechts sowohl wie des Prozeßverfahrens, soweit als innerhalb eines weltlichen, von theokratischer Gebundenheit und patrimonialen Gewalten freien Betriebes der Justiz überhaupt möglich, abweicht von der Struktur des kontinentalen Rechts. Denn jedenfalls ist die englische Rechtsfindung dem Schwerpunkt nach nicht, wie die kontinentale,,Anwendung' von ,Rechtssätzen', welche mit Hilfe der Logik aus dem Inhalt gesetzlicher Vorschriften sublimiert sind." Zur wechselseitigen Abhängigkeit des englischen Rechtslebens einerseits und der Stellung des englischen Richters in diesem Rechtsleben andererseits sowie zur Frage der Übertragbarkeit angelsächsischer Einrichtungen auf unsere Verhältnisse meint Max Weber: „Die alte Stellung des englischen Richters dürfte mit Fortschritt der Bürokratisierung und der (formalen) Rechtssatzung auf die Dauer stark erschüttert werden. Ob man aber einen bürokratischen Richter i n Ländern mit kodifiziertem Recht dadurch allein zu einem Rechtspropheten machen wird, daß man i h m die Krone des,Schöpfers' aufdrückt, ist nicht sicher." Bemerkenswert ist i n diesem Zusammenhang die programmatische Haltung des Nationalsozialismus zum Richter. Nicht nur, daß man ausdrücklich den „königlichen Richter" gefordert hat 1 2 , unter Thierack und seinem Staatssekretär Rothenberger wurde u. a. als Ziel verkündet 1 3 : Die Richter müßten ein ausgewähltes „Richtercorps" bilden, dessen Zahl nur einen Bruchteil der bisherigen Richterzahl betragen könne. Der neue 11 12 13

a.a.O., I I . Halbband, S. 456 ff., 503 ff. Schrifttumsnachweis bei Kern, a.a.O., S. 260. Kern, a.a.O., S. 267 ff.

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Richterstand müsse aus dem Beamtenstand herausgehoben werden. Seine Rechtsstellung solle später in einem besonderen Richtergesetz festgelegt werden. Alle Richter, außer den Präsidenten, sollten ohne Unterschied, ob sie als Einzelrichter i n der ersten Stufe der geplanten dreistufigen Gerichtsbarkeit oder i m Kollegium der höheren Stufe tätig werden, die gleiche Amtsbezeichnung „Richter" führen und das gleiche Gehalt beziehen, und zwar sollten sie finanziell sehr hoch gestellt werden, so daß es einen Anreiz für die besten bieten werde, Richter zu werden. Die Verminderung der Richterzahl solle auf dreifachem Wege erreicht werden, durch weitgehende Verwendung von Einzelrichtern anstelle von Richterkollegien, durch die Einschränkung aller Rechtsmittel und insbesondere durch die Abgabe bisheriger richterlicher Aufgaben an Rechtspfleger und an Friedensrichter. Daß die Haltung der Nationalsozialisten selbst i n ihren Einzelheiten mit den Vorstellungen seit Adickes bis heute nahezu identisch ist, beweist nun nicht etwa die Allgemeingültigkeit dieser Vorstellungen für die deutschen Verhältnisse über alle Unterschiede der jeweiligen Herrschaftsformen hinweg. Sie zeigt vielmehr nur, daß Rothenberger, der sich als Hamburger Jurist m i t dem englischen Rechtsleben vertraut gemacht hatte 1 4 , das Bedingtsein des englischen Richterkönigs durch das Fehlen einer Kodifikation und umgekehrt gesehen und außerdem erkannt hatte, daß der Nationalsozialismus sein Ziel, vom vorhandenen systematisch-kodifizierten rationalen Recht als einem bürgerlich-liberalen Recht loszukommen und zu dem von seiner Weltanschauung geprägten Führer- und Volksrecht zu gelangen, am einfachsten i m Wege der Rechtsgestaltung durch den nicht mehr an das Gesetz, sondern an das „Recht" gebundenen, nach weltanschaulichen Gesichtspunkten ausgewählten und seinem Führer verpflichteten Richter erreichen konnte. Je weniger es davon gab und je intelligentere Nationalsozialisten sie waren, desto leichter und einheitlicher hätten sie vom „Richter beim Führer" weltanschaulich gelenkt werden können. Bezeichnend i n diesem Zusammenhang ist die Äußerung Rothenbergers 15, vordringlicher als die Neugestaltung der Rechtsordnung sei diejenige des Richterstandes. Mag auch bei anderen Verfechtern des „königlichen Richters" das Streben nach einer mehr oder weniger starken Emanzipation vom geschriebenen Gesetz mitgeschwungen haben, etwa bei den Vertretern der Freirechtsschule zu Beginn des Jahrhunderts oder auch bei den Neonaturrechtlern nach dem Zusammenbruch von 1945, jedenfalls nach der i m Grundgesetz angelegten Funktion unserer Rechtsprechung gibt es keine, auch nicht eine gebrochene, Analogie zu den den „königlichen 14 Vgl. Hanseatische Rechts- u n d Gerichtszeitschrift, 1930, S. 5 ff. u n d JW, 1930, S. 1040 f. 15 Kern, a.a.O., S. 270.

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Richter" bedingenden angelsächsischen Verhältnissen. Daß w i r uns weit vom klassischen Gesetzgebungsstaat entfernt haben, daß der deutsche Richter von heute als Kontrolleur des Gesetzes m i t dem Imperium der richterlichen Prüfungsbefugnis umkleidet ist, daß er weit mehr als früher auch einen Rechtsfortbildungsauftrag übernehmen muß, entläßt ihn nicht aus seiner prinzipiellen Gesetzesgebundenheit, aus dem Zwang zum — möglicherweise gewandelten — Positivismus 16 . Und es w i r d i h m weniger denn je eine als persönliche Schöpfung erscheinende charismatische Rechtsfindung möglich sein. Gerade seine Aufgabe, m i t dem Richterrecht das systematisch kodifizierte Gesetzesrecht zu ergänzen, vielleicht auch zu korrigieren, erfordert eine wissenschaftlich-rationale Rechtsfindung. Wenn w i r also die Vorstellung vom „königlichen Richter" und damit die aus ihr abgeleitete Forderung nach der Besetzung der ersten Instanz mit dem Einzelrichter als standesideologische Überhöhung eliminieren, so w i r d der Weg frei für unbefangenes rechtspolitisches Abwägen. Die kollegiale Besetzung eines Gerichts fördert die Qualität der Rechtsprechung entscheidend. Was hierzu zu sagen ist, ist so banal und selbstverständlich, daß man sich wundern möchte, wie oft es schon hat ausgesprochen werden müssen. I n den Auseinandersetzungen des 29. Deutschen Juristentags i n Karlsruhe 1908 über die Frage, ob i n bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten das Kollegialprinzip zugunsten des Einzelrichtertums einzuschränken sei, hat Vierhaus treffend gesagt 17 : „Daß allein schon der Umstand, daß drei Richter lesen, hören, sehen, mehr dagegen schützt, daß irgend ein Punkt unbeachtet bleibt, der schriftlich oder mündlich von den Parteien vorgebracht wird, daß ferner bei der Feststellung des Rechtssatzes auch die Kenntnis dreier Richter weiter reicht, immer normale Fälle vorausgesetzt, als die Kenntnis eines, das alles liegt auf der Hand. Auch würde die von den Anwälten so oft und nicht ganz m i t Unrecht vermißte Sicherheit, daß jeder Vorgang seine Beachtung findet, selbstverständlich immer bei drei Richtern gesicherter erscheinen als nur bei einem, der der Gefahr zu übersehen, zu überhören immer ausgesetzt ist. Aus dem Zusammenwirken der Richter erscheint auch bei jener Aufgabe der Erweiterung der Jurisprudenz eine Mannigfaltigkeit gesichert, aus der eine richtige Mittellinie gefunden wird. Vorausgesetzt ist dabei ein seiner Aufgabe gewachsenes Kollegium. Ich halte es für gänzlich überflüssig, wenn man damit argumentiert, was passieren könnte, wenn i n einem Kollegium unwissende Richter sitzen, wenn man die alten Anek16 Vgl. Fritz Werner, „Bemerkungen zur F u n k t i o n der Gerichte i n der gewaltenteilenden Demokratie", Juristen-Jahrbuch, 1. Bd., 1960, S. 68 ff.; ders., „ Z u m Problem des Richterstaates", Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft e. V. Berlin, Heft 2, B e r l i n 1960; ders., „ V o m Richteramt i n unserer Zeit", i n : Justiz i m Wandel der Gesellschaft, Schriftenreihe „Kirche u n d Gesellschaft — Beiträge zur Sozialethik", Heft 36, Kreuz-Verlag Stuttgart, 1968. 17 Verh. d. 29. D J T Karlsruhe, 1908, 5. Bd., S. 577 ff. (585/586).

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doten vom schlafenden Richter wieder aufwärmt. Ich halte es auch für überflüssig zu rühmen, wie gut der Einzelrichter die Sache machen kann. Ich bin nun einmal der Meinung, ein seiner Aufgabe nicht voll gewachsenes Kollegium, wie es doch von Zeit zu Zeit mal vorkommt, ist nicht so schlimm wie ein seiner Aufgabe nicht gewachsener Einzelrichter, was ja auch vorkommt; denn eine gewisse Gewähr zur Korrektur liegt ja i n dem Vorhandensein mehrerer Richter." Haymann hat i n der Festgabe für Stammler in einer umfassenden Abhandlung 1 8 unter Hinweis auf Sauer, Eberhard Schmidt und Binding sowie auf Concordet — letzterer hat 1785 das Problem mit der Methode der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu bewältigen versucht — dargelegt, die Bedeutung des Kollegialgerichts liege nicht bloß darin, daß es Fehlerquellen unterdrücke, denen der Einzelrichter unterliegen könnte, sondern daß es die geistigen Kräfte mehrerer verbinde und dadurch die Gewähr für einen richtigen Spruch verstärke. Kisch hat i n einem temperamentvollen Aufsatz i m Jahre 193019 näher ausgeführt, die Einschränkung des Kollegialprinzips bewirke eine „entschiedene sachliche Verschlechterung der Ziviljustiz, indem man die Garantien richtiger Entscheidung vermindert". Zu diesen Garantien zählt er die Vielseitigkeit der Betrachtung und die Summierung mehrerer individueller Erfahrungsmassen. Und der andere große Prozessualist dieser Zeit, Leo Rosenberg, faßt seine Überlegungen zu dieser Frage wie folgt zusammen 2 0 : „Es muß daher mit allem Nachdruck dafür eingetreten werden, daß das Kollegialsystem auch künftig in demselben Umfange beibehalten w i r d wie bisher, und daß es nicht am Landgericht i n erster Instanz durch das Einzelrichtersystem ersetzt werde. Schon, daß durch die VO vom 4. 1. 1924 die Besetzung der Senate bei den Oberlandesgerichten von 5 auf drei, beim Reichsgericht von 7 auf 5 gemindert wurde, bedeutete nach allen Erfahrungen und namentlich nach dem Urteil dieser Gerichte selbst eine Verschlechterung der Rechtspflege und kaum eine Ersparnis, die übrigens bei der Erfüllung einer so wichtigen Aufgabe, wie es die Rechtspflege ist, vielleicht der wichtigsten, die dem Staate obliegt, keine Rolle spielen darf." Diese gewissermaßen schon klassischen Argumente für die Überlegenheit des Kollegialprinzips seien durch folgende Hinweise ergänzt: I m heutigen System der Gewaltenteilung sind die Aufgaben des Richters ungleich vielfältiger, aber auch ungleich schwieriger als früher. Man denke nur an die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des geschriebenen Rechts, an die verfassungskonforme Auslegung und vor allem an die 18 19 20

Festgabe für Rudolf Stammler, B e r l i n 1926, S. 395 ff. J W 1930, S. 602 ff. Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 8. Aufl. § 19 S. 76, 77.

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Fragen, die die verfassungskonforme Rechtsfortbildung aufwirft, also die Frage etwa zum Verhältnis von allgemeinen Verfassungsprinzipien zum legislativ ausgeformten Rechtssatz 21 . Ein Beispiel: Darf der Richter Persönlichkeitsschutz auch i n den Formen entwickeln, die das Gesetz nicht kennt und vielleicht auch gar nicht kennen will? Auch außerhalb des verfassungsrechtlichen Bereichs ist dem Richter, wie es Fritz Werner mit einem Schlag wort ausgedrückt hat 2 2 , ein „politisches Mandat" zugefallen. Hinzu kommt, daß i n unserer sog. pluralistischen, durchaus instabilen Gesellschaft sehr viele Werte schwankend geworden sind, daß der Richter dennoch häufig für das politische Leben und für den einzelnen bedeutsame Wertentscheidungen zu treffen hat. Hier begründet die Beratung und die „Gewissensgemeinschaft" des Kollegiums, i n dem sich Richter verschiedener Anlagen, verschiedenen Alters, Temperaments, verschiedener Herkunft, Erziehung und auch politischer Grundeinstellung treffen, eine größere Wahrscheinlichkeit dafür, daß eine richtige Entscheidung, eine Entscheidung nicht der Extreme, sondern der Mitte, ergeht. Durch die Kräfteverschiebung zwischen den Trägern der öffentlichen Gewalt zugunsten der Richter ist diesen auch Macht zugewachsen. Wassermann hat i n der März-Nummer der Deutschen Richterzeitung i n seinem Aufsatz „Politisierung der Rechtsprechung?" ausgeführt 23 , nur Torheit und Illusionismus könnten bestreiten, daß der Richter Macht besitzt. „Wer die Chance hat, menschliches Verhalten von einzelnen und von Gruppen zu steuern, der hat Macht, solide, reale Macht. Heute ist die Macht des Richters sogar besonders groß, jedenfalls größer als je zuvor i n der deutschen Geschichte." Es geht aber nicht nur um die Steuerung menschlichen Verhaltens. Die Richtermacht ist gerade auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts ständig i m Wachsen begriffen. Denken w i r nur etwa an den weiten Bereich staatlicher und kommunaler Planung jeder A r t — der Raumordnung — der in zunehmendem Maße vom Richter erfaßt und durchdrungen wird. Diese Macht bedarf, wie jede Staatsgewalt, der wirksamen Kontrolle und Hemmung. Eine solche ist von außen her nur i n beschränktem Maße möglich, dadurch nämlich, daß der Gesetzgeber Richterrecht für die Zukunft korrigiert. Die Kontrolle muß deshalb innerhalb der rechtsprechenden Gewalt selbst geschehen. Dazu ist neben dem Instanzenzug das Kollegialprinzip um so mehr vonnöten, je geringer die Zahl der Instanzen ist. Erfahrungsgemäß läßt sich eine parteiische Auffassung in einem Individualorgan leichter durchsetzen als in einem Kollegialorgan. Und umgekehrt kann ein Kollegialorgan den verschiedenen Arten 21 Vgl. hierzu Göldner, Verfassungsprinzip u n d Privatrechtsnorm i n der verfassungskonformen Auslegung u n d Rechtsfortbildung, Schriften zur Rechtstheorie, Heft 18, B e r l i n 1969. 22 V o m Richteramt i n unserer Zeit, a.a.O., S. 37. 23 D R i Z 1970, S. 79 ff.

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der Einflußnahme und des Drucks — die modernen Massenmedien begründen insofern eine erhöhte Gefährdung —wirksamer begegnen als der Einzelrichter. Bezeichnend ist i n diesem Zusammenhang, daß die Nationalsozialisten die Alleinentscheidung des Vorsitzenden i m Kollegium nicht nur mit Rücksicht auf ihr sog. Führerprinzip, sondern erklärtermaßen auch mit dem Ziel einführen wollten, daß auf diese Weise die Verantwortlichkeit für die Entscheidung festgestellt werden könne, während dies bei der Abstimmung i m Kollegium nicht möglich sei. Auch die Einheitlichkeit und die Kontinuität der Rechtsprechung sind eher gewährleistet, wenn ein geschlossenes Rechtsgebiet von einer Kammer und nicht von mehreren Einzelrichtern je für sich bearbeitet wird. Das ist vor allem für die Verwaltungsgerichtsbarkeit von besonderer Bedeutung. Ihre Entscheidungen haben i m allgemeinen eine größere paradigmatische Wirkung als diejenigen der Zivilgerichte. Für eine große Zahl von Fällen geringer Bedeutung oder auch massenhaften Anfalles mag traditionsgemäß i n der Zivilgerichtsbarkeit auf das Kollegialprinzip verzichtet werden können, so daß derartige Fälle dem Einzelrichter, vielleicht auch dem Friedensrichter, zugewiesen werden können. Hier w i r d i m Vordergrund die Schwierigkeit der Abgrenzung der Bagatellfälle stehen. Grundsätzlich aber ist die gesonderte Behandlung der Bagatellfälle nicht nur m i t Rücksicht auf das Gebot der Verhältnismäßigkeit von M i t t e l und Zweck, sondern auch von der Sache her vertretbar. Der Streit der Parteien kommt erstmals vor einen neutralen Richter. Hier kann der Einzelrichter oder Friedensrichter i n Bagatellsachen schlichten und wohl auch endgültig entscheiden. Völlig anders ist die Situation in der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Abgesehen davon, daß die meisten Streitsachen hier schon vom Gewicht der Sache her keinesfalls als Bagatellfälle betrachtet werden können, ist einer der Beteiligten i n der Regel die öffentliche Gewalt, bei der ein persönliches Interesse ausscheidet. Gegenstand des Prozesses ist ein Tun oder Unterlassen der öffentlichen Hand, die ihre umstrittene Entscheidung durch fachlich gebildete Beamte oder Organe der Selbstverwaltung getroffen hat. Die Entscheidung w i r d i m verwaltungsgerichtlichen Vorverfahren erneut überprüft; regelmäßig entscheidet eine andere, mit einem Juristen besetzte Behörde. Wenn nun der Bürger sich damit nicht zufrieden gibt, so erwarten er und auch die öffentliche Gewalt mit Fug und Recht, daß die Sache nunmehr nicht vom Einzelrichter in einem mehr oder weniger summarischen Verfahren als Bagatellsache, sondern von einem mit allen Garantien für eine qualitativ hochstehende Rechtsfindung ausgestatteten Gericht, d. h. vom Kollegium, behandelt wird. Daß hier auch querulatorische oder sonstige Ausnahmefälle i n Betracht kommen, muß i n Kauf genommen werden, da eine generelle Abgrenzung dieser Fälle durch Gesetz von den gewichtigen Streitsachen nicht möglich ist.

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Als Nachteile für das Kollegialprinzip werden ins Feld geführt eine Verlangsamung und Verteuerung des Verfahrens, die Minderung der Verantwortungsfreude der Beisitzer und deren geringere Chancen, sich zur selbständigen Kichterpersönlichkeit zu entwickeln. Hier bin ich der Überzeugung, daß die Verfahren weder entscheidend kürzer noch entscheidend billiger wären, wenn sie vom Einzelrichter geführt würden. Es läßt sich nun einmal nicht leugnen, daß, wer zur Bedächtigkeit neigt, dies auch als Einzelrichter t u n wird. Und was die kollegiale Beratung an Zeit verlieren läßt, bringt eben diese Beratung meist auch wieder ein. W i r haben i n der Bundesrepublik insgesamt 166 verwaltungsgerichtliche Kammern. Selbst wenn man unterstellen wollte, was ich für meine Person für ganz bestimmt falsch hielte, daß zwei Einzelrichter das gleiche Pensum bewältigen könnten wie eine m i t drei Berufsrichtern besetzte Kammer, so würden w i r ganze 166 Richter einsparen. Daß dies i m Verhältnis zu den 14 000 Richtern, ja selbst zu 8000 Richtern, wenn eine rigorose Verringerung der Richterzahl i n der Zivilgerichtsbarkeit gelänge, einfach nicht zu Buche schlagen würde, liegt auf der Hand. Die verhältnismäßig lange Dauer mancher Verwaltungsstreitverfahren ist, wenn überhaupt, nur zum geringsten Teil auf die verfahrenstechnisch größere Umständlichkeit des Kollegialverfahrens zurückzuführen. Sie könnte durch Verfahrensänderungen weiter vermindert werden, ohne daß es einer organisatorischen Änderung bedürfte. Sie könnte aber auch dadurch entscheidend verkürzt werden, daß jeder der 166 Kammern ein weiterer Richter zugeteilt würde. A n den Personalausgaben für 166 Richter sollten w i r eine deutliche Beschleunigung des Rechtsschutzes nicht scheitern lassen. Die absolute Verfahrensdauer kann verkürzt werden durch eine Beschränkung auf grundsätzlich zwei Instanzen, etwa durch Ausgestaltung der Oberverwaltungsgerichte als Revisionsinstanz, während die obersten Gerichtshöfe des Bundes als Vorlagegerichte zu fungieren hätten. I n einem solchen Falle wäre das Kollegialsystem i n der ersten Instanz schlechthin unerläßlich und die Oberverwaltungsgerichte sollten, jedenfalls i n der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit, m i t fünf Berufsrichtern besetzt werden. Hier drängt sich eine weitere Überlegung auf, die der Diskussion wert wäre. Man könnte die Qualität der Verwaltungsgerichte heben, indem man die bisherigen Gerichte erster Instanz nach Wegfall der Berufungsinstanz als Obergerichte und dementsprechend die bisherigen OVG als oberste Gerichte wertet und einstuft und auf diese Weise einen Anreiz für die Gewinnung hervorragender Fachleute bietet. Das wäre auch insofern vertretbar, als das verwaltungsgerichtliche Vorverfahren weitgehend die Funktion einer ersten Instanz übernehmen könnte. Daß dabei Erinnerungen anklingen an die „Verwaltungsrechtspflege" innerhalb der Verwaltung, wie sie bis 1945 in Deutschland üblich war, würde mich nicht stören.

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Es ist richtig, daß i n der ordentlichen Gerichtsbarkeit die Station des Amtsrichters eine gute Schule für die Entwicklung selbstverantwortlicher und selbstbewußter Richterpersönlichkeiten ist. U m dieses Effekts willen ist jedoch angesichts des entgegenstehenden Bedürfnisses der Rechtspflege i n der Verwaltungsgerichtsbarkeit die Schaffung einer Einzelrichterstation nicht vertretbar. Einen gewissen Ausgleich vermag zu bieten, wenn der angehende Verwaltungsrichter zunächst mehrere Berufsjahre i n eigenverantwortlicher Tätigkeit, etwa an einem Landratsamt, verbringt und dort seine Persönlichkeit entwickelt.

Aussprache zu den Referaten von Horst Peters und Johann Schmidt Bericht von Dietrich Bahls I n seiner Stellungnahme zu dem Referat von Vizepräsident Dr. Schmidt betonte Finanzgerichtspräsident Schubert, Neustadt, Weinstr., daß ihn die Ausführungen über die Besetzung der Richterbank mit Berufsrichtern überzeugt hätten. Das Ergebnis, daß die Richterbank mit drei Berufsrichtern zu besetzen sei, gelte insbesondere für die Finanzgerichtsbarkeit, weil es dort nur eine Tatsacheninstanz gebe und weil diese Instanz die Verantwortung für die Feststellung des Sachverhalts trage. M i t dem ersten Referenten, Präsident Dr. Peters, war Schubert darin einig, daß sich die Institution der ehrenamtlichen Richter bewährt habe und daß an ihr festzuhalten sei. Es müßten aber an die Qualifikation der Laienrichter besondere Anforderungen gestellt werden. Bei der arbeits-, verwaltungs-, sozialversicherungs- oder steuerrechtlichen Beurteilung eines Sachverhalts seien Normen und Grundsätze heranzuziehen, die dem durchschnittlichen Bürger unbekannt seien. Besondere Sachkunde sei daher nicht nur für den ehrenamtlichen Arbeits- und Sozialrichter, sondern auch für den ehrenamtlichen Verwaltungs- und Finanzrichter zu fordern. Nur dann, wenn der Laienrichter den Sachverstand besitze, u m die i h m vorgetragenen Rechtsfragen kritisch zu prüfen, bedeute seine Heranziehung einen konstruktiven Beitrag für die Rechtsfindung. U m der Rechtsprechung auch zukünftig die besondere Sachkunde zuzuführen, widersprach Schubert der Auffassung des Referenten, daß die Vorschlagslisten für die ehrenamtlichen Finanzrichter wie die für die ehrenamtlichen Verwaltungsrichter weiterhin von den Kreisen bzw. kreisfreien Städten aufzustellen seien, weil dann die Gefahr bestünde, daß die Auswahl nicht nach fachlichen Gesichtspunkten vorgenommen werde. I n der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit gewährleiste das Vorschlagsrecht der Organisationen und Verbände, daß fachkundige ehrenamtliche Richter ausgewählt würden. I n der Finanzgerichtsbarkeit sei das nicht wesentlich anders, wenn die Praxis bestehen bleibe, daß die Berufsvertretungen an der Aufstellung der Vorschlagslisten mitwirkten. Zwar spräche § 25 FGO nur von einer Anhörung. Tatsächlich träte aber der Gerichtspräsident an die Berufsvertretungen m i t der Bitte u m Benennung geeigneter Persönlichkeiten heran. Die benannten Kandidaten

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würden regelmäßig i n die Liste aufgenommen, so daß das Wahlgremium unter einer Zahl geeigneter Bewerber wählen könne. Die Tendenz müsse sein: weg vom Laienrichter und hin zum fachkundigen ehrenamtlichen Beisitzer. Zur Verwirklichung dieser Tendenz regte Schubert an, daß die Berufsvertretungen künftig nicht nur bei der Auswahl mitwirkten, sondern daß ihnen ein ausdrückliches Vorschlagsrecht eingeräumt werden sollte. Der Diskussionsredner unterstützte dann die Forderung, daß die ehrenamtlichen Richter i n allen Gerichtszweigen von einem eigenen Wahlausschuß gewählt werden sollten. Ein Ausschuß garantiere die Berücksichtigung sachlicher Auswahlkriterien. Die Erwägung aber, die Wahl durch einen Ausschuß der ehrenamtlichen Richter selbst vornehmen zu lassen, lehnte Schubert ab. Er wies auf den K o n f l i k t hin, daß dann diejenigen ehrenamtlichen Richter, die besonders qualifiziert seien und deshalb wiedergewählt werden sollten, sich gegenseitig wählen müßten. Auch i n der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit sei der Ausschuß der ehrenamtlichen Richter nur zu organisatorischen Regelungen zu hören. Schubert sprach sich ferner gegen eine Zuziehung ehrenamtlicher Richter i n der Revisionsinstanz aus. Bei der Besetzung mit fünf Berufsrichtern müsse dann entweder eine Vergrößerung der Richterbank i n Kauf genommen werden oder es müßten die Laienrichter an die Stelle von zwei Berufsrichtern treten. Ferner würde es, insbesondere i n der Finanzgerichtsbarkeit, die bei der Auswahl der ehrenamtlichen Richter nicht auf eine Bewährung i n zwei unteren Instanzen zurückgreifen könne, schwierig sein, die fachlich geeigneten Persönlichkeiten auszuwählen. Die Beteiligung ehrenamtlicher Richter i n der Revisionsinstanz könne zu einer weiteren Verlangsamung i n der Erledigung von Streitigkeiten führen, was bei dem Geschäftsanfall und der Überlastung der Gerichte unerwünschte Folgen hätte. Der anschließende Diskussionsbeitrag von Finanzgerichtsrat Dr. Martens, Berlin, knüpfte an die Frage an, ob an der Einrichtung des K o l legialgerichts festgehalten werden solle. Diese Frage sei von der Frage des Instanzenzuges nicht zu trennen. Die Pläne der Einrichtung eines dreistufigen Instanzenzuges bauten insbesondere i m Hinblick auf die erste Instanz auf der Vorstellung auf, daß für Sachen von geringer Bedeutung nur der Einzelrichter benötigt werde, möglicherweise unter Einschränkung oder Fortfall der Berufung. Zu diesen Plänen nahm Martens unter zwei Aspekten Stellung: Zum einen war er der Ansicht, daß die genannte Vorstellung für die Z i v i l - und Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht zutreffe. Es erhebe sich nämlich sofort das Problem, was denn eigentlich ζ. B. innerhalb der Zweige der Verwaltungsgerichtsbarkeit unter einer Sache von geringer Bedeutung zu verstehen sei. Der Sxreit7

Speyer 45

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Bericht von Dietrich Bahls

wert, der bisher zum Maßstab genommen worden sei, biete keinen sicheren Anhalt für eine Grenzziehung. Oft seien gerade die geringwertigen Streitigkeiten von besonderem Interesse, weil sie i n den Verwaltungsbehörden i n großer Zahl aufträten und weil ein Bedürfnis bestehe zu wissen, wie zu entscheiden sei. I m übrigen sei der Begriff des Wertes, gerade i n der Sozialgerichtsbarkeit, relativ, je nachdem, ob er ζ. B. auf einen Rentner oder eine Aktiengesellschaft bezogen werde. Die Forderung nach dem sozialen Rechtsstaat bedinge ein anderes Verständnis von dem Begriff der Sache von geringer bzw. nicht geringer Bedeutung. Zum anderen äußerte Martens Zweifel an der Notwendigkeit, eine zweimalige Prüfung des Sach- und Streitstandes durch ein Kollegium unterhalb der Revisionsinstanz zu ermöglichen. Hier könnten die Erfahrungen der zweistufigen Finanzgerichtsbarkeit verwertet werden. I n der Finanzgerichtsbarkeit sei die Zahl der Fälle, i n denen Tatsachenermittlungen notwendig seien, größer als i n der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die Finanzgerichte hätten diese Aufgabe auch m i t nur einer Tatsacheninstanz bewältigt. Martens sah daher den Bereich, i n dem der Einsatz von Einzelrichtern möglich sei, auf einer anderen Ebene. Es gebe sowohl bei der Tatsachenermittlung als auch sonst viele Aufgaben, die nicht von allen Mitgliedern des Kollegiums erledigt werden müßten. Hier bestehe schon jetzt die Praxis einer Arbeitsteilung und einer Vorbereitung der vom Kollegium zu treffenden Entscheidung durch den Berichterstatter als Einzelrichter. Diese Fälle seien die sog. einfach gelagerten Sachen, die begrifflich nicht identisch seien m i t den Sachen von geringer Bedeutung. Bei den einfach gelagerten Sachen bestehe die Leistung des Kollegiums i n der Kontrolle des Einzelrichters, daß nichts übersehen und vergessen werde. Das Wissen u m die praktische Bedeutung einfach gelagerter Sachen lasse es erwägenswert erscheinen, das Institut des Vorbescheids wie i n der Finanzgerichtsbarkeit über den Kreis der i n der Verwaltungsgerichtsbarkeit vorgesehenen Fälle hinaus auszudehnen auf alle Klagen. Dann hätte zunächst der Einzelrichter über alle erhobenen Klagen zu entscheiden. Erst nach dieser Vorentscheidung würde die Arbeit des gesamten Spruchkörpers einsetzen. I m Zusammenhang der Frage nach der Tatsachenermittlung wies Martens noch auf einen weiteren Gesichtspunkt hin, der gegen das Festhalten an zwei Tatsacheninstanzen i n Form von Kollegialgerichten bei der Dreistufigkeit der Gerichtsbarkeit spreche. Es werde oft angeführt, daß das Verwaltungs(vor)verfahren i n puncto Beweiserhebung nicht ausreichend sei und daß deshalb die zwei Tatsacheninstanzen gerechtfertigt seien. Wenn man aber auch i n dieser Problematik die Möglichkeiten nach der FGO zum Vorbild nehme, ergebe sich eine zwanglose Lösung. Nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO könne ohne Sachentscheidung an die Vorinstanz

Aussprache zu den Referaten von Horst Peters u n d Johann Schmidt

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i n das Verwaltungsverfahren „zurückverwiesen" werden. Diese Möglichkeit müßte allgemein, wenigstens i n extremen Fällen, genutzt werden. Martens gab dann einen Ausblick auf das Verhältnis von Richterausbildung und Besetzung der Richterbank. Nach seiner Auffassung bestünden Bedenken gegen die auch von Schmidt vertretene These, daß die Einzelrichtertätigkeit zur Bildung der Richterpersönlichkeit außerordentlich viel beitrage. Die „hohe Schule" für die Bildung der Richterpersönlichkeit sei das Kollegialgericht. I m Kollegium lerne der junge Richter, durch das Argument zu überzeugen und auf diese Weise zu einer Entscheidung zu kommen. Das sei auch dann noch gewährleistet, wenn der einzelne Richter aus dem Kollegium für den Spruchkörper i n der geschilderten Form die Entscheidung vorbereite. Abschließend ging der Diskussionsredner kurz auf die Frage der M i t wirkung ehrenamtlicher Richter i n der Revisionsinstanz ein. Er befürwortete die Mitwirkung, weil sie die Möglichkeit schaffe, Argumente aus der Laiensphäre für die Revisionsentscheidung nutzbar zu machen. Oberverwaltungsgerichtspräsident Dr. Meyer-Hentschel, Koblenz, nahm zu dem ersten Referat aus der Sicht des Praktikers Stellung. Nach seiner Auffassung bestehe zweifelsfrei eine Notwendigkeit an der Beteiligung ehrenamtlicher Richter i n der ersten Instanz. I n der zweiten und dritten Instanz sei das schon anders. Gäbe es für die zweite Instanz nicht die ausdrückliche Vorschrift, würde er sich gegen die M i t w i r k u n g von Laien aussprechen, wie er es auch vor Erlaß des rheinland-pfälzischen Landesgesetzes zur Ausführung der VwGO getan habe, w e i l die Laien, wie i h m ehrenamtliche Richter bestätigt hätten, i n der oberen Instanz überfordert seien. Da nun aber die Vorschrift bestehe, wende er sie unter sehr viel Zeitaufwand an. Für die Beteiligung von Laien i n der dritten Instanz gebe es keine Rechtfertigung. Zur Frage des Höchstalters von ehrenamtlichen Beisitzern widersprach der Diskussionsredner der Auffassung von Peters. Würde ein Höchstalter eingeführt, müßte auf eine Anzahl ehrenamtlicher Richter und ihre Lebenserfahrung verzichtet werden, was nachteilige Folgen hätte. Die angeschnittene Problematik könne dadurch gelöst werden, daß durch Gerichtsbeschluß zu entbinden sei, wer das Höchstalter erreicht habe und aus Altersgründen nicht mehr verwendungsfähig sei. Zu dem sich aus dem Grundsatz, daß der ehrenamtliche Richter sein A m t grundsätzlich nur während der Dauer der Gerichtsverhandlung ausübe, ergebenden K o n f l i k t bei der Frage der Gewährung von vorheriger Einsicht i n die Gerichtsakten vertrat Meyer-Hentschel den Standpunkt, daß eine Vorberatung m i t den Laien ergiebiger sei als die Akteneinsicht, weil die Laien m i t den A k t e n erfahrungsgemäß nicht zurechtkämen. 7«

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Bericht von Dietrich Bahls

Für die Bildung eines Ausschusses der Laienrichter i n allen Gerichtszweigen und bei allen Gerichten sah Meyer-Hentschel kein Bedürfnis. Entschieden wandte er sich gegen die These, daß diesem Ausschuß die Wahl der ehrenamtlichen Richter obliegen solle, weil darin die Gefahr einer Inzucht liege. Zu der Erwägung, daß die Vorschläge von den Kreisen und kreisfreien Städten eingebracht werden sollten, trug MeyerHentschel die guten Erfahrungen vor, die damit i m Lande RheinlandPfalz gemacht worden seien. Es sei immer ein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung benannt worden, so daß die Aussicht gerechtfertigt sei, daß qualifizierte Kandidaten vorgeschlagen würden. Bundesrichter Dr. Paul, Berlin, setzte sich i n der Diskussion für das Kollegialgericht und gegen den Laienrichter i n der Verwaltungsgerichtsbarkeit ein. Er ging dazu auf die Geschichte der M i t w i r k u n g ehrenamtlicher Richter an der Rechtsprechung ein. Laienrichter seien erstmals i n der bürgerlichen Revolution des 19. Jahrhunderts gewählt worden. Ziel ihrer Beteiligung sei gewesen, ein Gegengewicht gegen die Kabinettsjustiz zu schaffen. Heutzutage sei die Forderung nach M i t w i r k u n g des Laienelements aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht mehr erforderlich, weil die Gefahr staatlichen Eingriffs i n die Richtertätigkeit nicht mehr gegeben sei. Heutzutage spreche für die ehrenamtlichen Richter allenfalls eine Nützlichkeitserwägung. Wenn jedoch nach dem fachkundigen Beisitzer gefragt werde, dann müsse nach seiner Ansicht die These lauten: der fachkundigste Beisitzer ist immer noch der gelernte Richter. Paul gab dem Kollegialgericht den Vorzug gegenüber dem Einzelrichter. Der Ruf nach dem Einzelrichter sei stets politisch motiviert, w e i l der Richter eine politische Aufgabe habe. Fritz Werner habe dagegen gesagt, daß der Richter immer nur wider Willen Politiker i n einem Bereiche sei, den i h m die richterliche Pflicht aufnötige. Der Richter, so fuhr Paul fort, habe eine politische Aufgabe nur bei der Rechtsanwendung, i m Rahmen eines rational nachprüfbaren Erkenntnisprozesses. Die richterliche Rechtsschöpfung — und das habe Fritz Werner stets betont — sei i m Grunde nichts anderes als Verfassungspositivismus, Anwendung der Generalklauseln, Lückenausfüllung. Diese Tätigkeit werde immer i n A n passung an die allgemein verbindlichen Normen des Grundgesetzes ausgeführt. Damit werde der Richter nicht i m eigentlichen Sinne politisch tätig. Das Hauptargument für den Einzelrichter, nämlich seine politische Aufgabe, trage m i t h i n nicht. Professor Dr. Ule stimmte i n seinem Beitrag dem zweiten Referenten i n der Befürwortung des Kollegialprinzips voll zu. Das hervorragende Plädoyer Johann Schmidts, so meinte Ule, werde sicherlich bei den Beratungen der Justizreform nicht unbeachtet bleiben.

Aussprache zu den Referaten von Horst Peters u n d Johann Schmidt

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Die Beteiligung von Laienrichtern i n der Rechtsprechung allgemein und i n der Revisionsinstanz i m besonderen verstand Ule als ein M i t t e l zur Schaffung eines demokratischen Elements i n der Rechtspflege. Zwar sei allen K r i t i k e r n des Gedankens einer Beteiligung ehrenamtlicher Richter bei allen Revisionsgerichten zuzugeben, daß deren M i t w i r k u n g nicht unbedingt einen besonderen positiven oder negativen Einfluß auf die Effektivität der Rechtsfindung ausübe. Aber der entscheidende Gesichtspunkt für die M i t w i r k u n g sei nicht, die Rechtsprechung zu verbessern oder zu verschlechtern. Entscheidend sei vielmehr, durch die Beteiligung von Laienrichtern den Berufsrichtern, die i n ihrer Berufstradition und manchmal auch i n ihrer Berufsenge stünden, das demokratische Element nahezubringen. Ule sagte, daß er i n seiner Tätigkeit als Richter an zwei Oberverwaltungsgerichten immer die M i t w i r k u n g von Laien gewissermaßen als die vorweggenommene kritische Stimme des Volkes, der öffentlichen Meinung, betrachtet habe, und zwar i n dem Sinne, daß sich der Berufsrichter schon i n der Beratung und nicht erst nach Erlaß des Urteils, wenn es kritisiert werde, damit auseinanderzusetzen habe, wie die Entscheidung bei vernünftigen Leuten ohne Sachkenntnis und Sachkunde aufgenommen werde. Die Aufgabe der ehrenamtlichen Richter liege eben darin, daß sich die Berufsrichter zu prüfen hätten, ob sie i n der Lage seien, den beiden Richtern aus dem Volk die Entscheidung verständlich zu machen. I n diesem Zusammenhang führte Ule aus, daß er immer gegen die nordrhein-westfälische Praxis eingestellt gewesen sei, am Oberverwaltungsgericht ehemalige Verwaltungsjuristen als ehrenamtliche Richter einzusetzen. Eine solche Handhabung des Laienelements i n der Rechtsprechung sei zwar nicht verboten, treffe aber bestimmt nicht den Sinn der M i t w i r k u n g ehrenamtlicher Verwaltungsrichter. Professor Dr. Knöpfle erwiderte auf diese Ausführungen Ules, daß nach seiner Ansicht zwar das demokratische Element gefördert werden müsse, wo immer dies sinnvoll sei, daß aber das demokratische Element nicht zu einer bloßen Selbstrechtfertigung herabgewürdigt werden dürfe. Wenn man einmal vom Beispiel des Bundesfinanzhofes ausgehe, dann sei doch der substantielle Wert der M i t w i r k u n g von Laien an der Rechtsprechung nur gering zu veranschlagen. Die Funktion des ehrenamtlichen Richters an diesem Gericht bestehe doch nur darin, daß i h m die verwickelte steuerrechtliche Problematik verständlich gemacht werden müsse. Die sowieso schon überforderten Berufsrichter würden aber unnötig belastet, wenn um des demokratischen Flairs w i l l e n noch diese Mühewaltung institutionalisiert würde, die i m Grunde genommen den Aufwand nicht wert sei. I n seinem Schlußwort knüpfte Peters an die Ausführungen Ules an und hob noch einmal hervor, daß die Richter politisch verpflichtet seien,

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Bericht von Dietrich Bahls

ihre Tätigkeit transparenter zu gestalten. Aus diesem Grunde sei die M i t w i r k u n g ehrenamtlicher Richter unerläßlich. Wenn Laienrichter an der Beratung teilnähmen, sei der Berufsrichter geradezu gezwungen, sich gründlich auf die Beratung vorzubereiten und sich so auszudrücken, daß auch eine fachlich nicht geschulte Person imstande sei, der Gedankenführung zu folgen. Das habe wahrscheinlich zur Folge, daß die schriftliche Abfassung des Urteils verständlicher werde. Die M i t w i r k u n g ehrenamtlicher Richter i n allen Instanzen erscheine daher geboten. Peters fuhr fort, daß nach seiner Ansicht ein Institut nicht schon deshalb nicht änderungsbedürftig sei, w e i l es sich bewährt habe. Das Gute könne stets durch das Bessere ersetzt werden. Das gelte auch für den Ausschuß der ehrenamtlichen Richter, dessen Funktionen noch erweiterungsfähig seien. Es gehe auch hier u m die Durchdringung der dritten Gewalt m i t dem Laienelement. Zur Frage des Höchstalters der ehrenamtlichen Richter meinte Peters, daß es auf ein bestimmtes Alter letztlich nicht ankomme, sondern daß es darum gehe, überhaupt eine Grenze zu setzen, weil man anderenfalls nicht recht wisse, wie man den zu alt gewordenen ehrenamtlichen Richter wieder loswerde. M i t Ule war Peters der Auffassung, daß es dem Sinn der Beteiligung ehrenamtlicher Richter widerspräche, ehemalige Berufsrichter oder Verwaltungsjuristen als „Laienrichter" heranzuziehen. Schmidt beschränkte sich i n seinem Schlußwort auf die Feststellung, daß er nicht gemeint habe, die Tätigkeit als Amtsrichter sei die einzige Schule zur Ausbildung der Richterpersönlichkeit, sondern daß er habe sagen wollen, sie sei eine Schule, die es i n der Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht gebe. A l l e i n aus diesem Grunde brauche aber der Einzelrichter nicht i n die Verwaltungsgerichtsbarkeit eingeführt zu werden. Schmidt betonte, daß auch er die Meinung teile, das Kollegium sei die Schule des Richters.

Der Vertreter des öffentlichen Interesses (I) Von Gerhard Meyer-Hentschel Das Institut des Vertreters des öffentlichen Interesses — V ö l — ist umstritten. Anerkennende Äußerungen stehen neben stark abwertenden Stimmen, die den V ö l beispielsweise charakterisiert haben als 1 „überflüssige Figur", „Justizbeeinflussungsbehörde", „Briefträger der Behörden, der allen Beteiligten und dem Gericht zur Last fällt", „obrigkeitsstaatliches Relikt" sowie „autoritärer Atavismus aus napoleonischem Gedankengut" 2 . Die VwGO regelt das Institut des V ö l i m 5. Abschnitt des I. Teils, der m i t „Gerichtsverfassung" überschrieben ist. Ziel der nachfolgenden Überlegungen ist die Prüfung der Frage, ob sich das Gesetz insoweit bewährt hat oder ob eine Reform zu empfehlen ist. 1 Erscheinungsformen des V ö l I n den §§ 35 ff. V w G O 3 sind drei Punkte angesprochen: 1. Obligatorische Bestellung eines Oberbundesanwalts — OB A — beim Bundesverwaltungsgericht (§ 35 VwGO), 2. Ermächtigung an die Landesregierungen, beim Oberverwaltungsgericht und bei dem Verwaltungsgericht einen V ö l zu bestimmen (§ 36 Abs. 1 Satz 1 VwGO), 3. Ermächtigung an die Landesregierungen, dem V ö l allgemein oder für bestimmte Fälle die Vertretung des Landes oder von Landesbehörden zu übertragen (§ 36 Abs. 1 Satz 2 VwGO). 1.1 Die V w G O hat die Einrichtung des OB A unverändert aus dem Gesetz über das Bundesverwaltungsgericht vom 23. September 1952 (BGBl. I S. 625) übernommen. Durch § 8 dieses Gesetzes wurde bei der Errichtung des Bundesverwaltungsgerichts 1953 ein OBA bestellt, der sich 1 Vgl. die Zusammenstellung bei Schulz-Hardt, Der allgemeine Vertreter des öffentlichen Interesses i n der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit, Dissertation K i e l 1968, S. 4/5 m i t weiteren Nachweisen. 2 Bericht über die 17. staatswissenschaftliche Fortbildungstagung der Hochschule i n Speyer, DVB11953, S. 692. 3 Die Vorschrift des § 37 V w G O , die für den O B A u n d für den V ö l die Befähigung zum Richteramt verlangt, k a n n nachstehend w o h l v ö l l i g vernachlässigt werden.

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„zur Wahrnehmung des öffentlichen Interesses an jedem vor dem Bundesverwaltungsgericht anhängigen Verfahren beteiligen" kann. Der OBA ist lediglich Vertreter des öffentlichen Interesses und kann nicht etwa die Prozeßvertretung des Bundes oder von Bundesbehörden übernehmen. 1.2 Von der Ermächtigung des § 36 Abs. 1 Satz 1 VwGO haben Gebrauch gemacht: a) Bayern durch Verordnung über den V ö l bei den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 23. März 1960 (GVB1. S. 31), b) Baden-Württemberg durch Verordnung der Landesregierung über die Landesanwaltschaften der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 22. März 1960 (GBl. S. 99), c) Nordrhein-Westfalen durch Verordnung über die Bestellung von Vertretern des öffentlichen Interesses bei den Gerichten der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 26. März 1960 (GV S. 48), d) Rheinland-Pfalz durch Landesverordnung über den V ö l bei den Gerichten der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 18. Oktober 1960 (GVB1. S. 225), e) Schleswig-Holstein durch Verordnung über die Vertreter des öffentlichen Interesses nach der VwGO vom 29. März 1961 (GVB1. S. 32), f) Niedersachsen durch Verordnung über die Bestellung eines V ö l bei den Gerichten der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 24. März 1961 (GVB1. S. 111), aber wieder rückgängig gemacht durch die Verordnung zur Aufhebung der Verordnung über die Bestellung eines V ö l bei den Gerichten der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 19. A p r i l 1962 (GVB1. S. 41)4. 1.3 Von der Ermächtigung des § 36 Abs. 1 Satz 2 VwGO haben lediglich die Länder Bayern und Baden-Württemberg Gebrauch gemacht. Dort hat der V ö l m i t h i n ein Doppelgesicht: Er ist gleichzeitig V ö l und Prozeßvertreter des Landes. Das kommt schon i n der Bezeichnung zum Ausdruck: I n Bayern trägt der V ö l den Namen „Staatsanwalt" beim V G und „Generalstaatsanwalt" beim VGH. I n Baden-Württemberg heißt er „Landesanwalt" beim V G und „Oberlandesanwalt" beim VGH. 4 Als M o t i v für die Beseitigung ist i n der Begründung der Umstand genannt worden, daß die bisher bereitgestellte einzige Planstelle für einen Beamten des höheren Dienstes zu effektiver Amtswahrnehmung nicht ausreiche, gleichzeitig eine personalmäßige Verstärkung haushaltsrechtlich jedoch nicht zu verantworten sei. Bei einer nicht angemessenen Besetzung der Dienststelle des V ö l und der dadurch bedingten unzureichenden Tätigkeit müsse das Ansehen der Landesverwaltung aber auf Dauer Schaden nehmen (zitiert bei Schulz-Hardt, a.a.O. (Fußn. 1).

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1.4 Der Vollständigkeit halber müssen auch die außerhalb der VwGO geregelten Vertreter des öffentlichen Interesses genannt werden: 1.41 Der Vertreter der Interessen des Ausgleichsfonds (VIA) gemäß § 316 des Lastenausgleichsgesetzes vom 14. August 1952 (BGBl I S. 446), der bei den Ausgleichsausschüssen, den Verwaltungsgerichten der Länder und beim Bundesverwaltungsgerichts zu bestellen ist, 1.42 der Vertreter des Bundesinteresses nach § 45 Abs. 1 des Gesetzes über die Abgeltung von Besatzungsschäden vom 1. Dezember 1955 (BGBl I S. 734), der vom Bundesminister der Finanzen zu bestellen ist und sowohl i m Verwaltungsverfahren als auch i m verwaltungsgerichtlichen Verfahren tätig wird, 1.43 der Vertreter des Bundesinteresses, der vom Bundesminister der Finanzen gemäß § 56 des Bundesleistungsgesetzes i. d. F. vom 27. September 1961 (BGBl I S. 1755) und § 18 Abs. 2 des Schutzbereichsgesetzes vom 7. Dezember 1956 (BGBl I S. 899) i. d. F. des Gesetzes vom 26. März 1965 (BGBl I S . 162) bestellt wird, 1.44 der Vertreter des Bundesinteresses, der vom Bundesminister der Finanzen aufgrund des allgemeinen Kriegsfolgengesetzes vom 5. November 1957 (BGBl I S. 1747) bestellt w i r d und sich i n allen Verfahren vor der Kammer für Wertpapierbereinigung bei den Zivilgerichten beteiligen kann, 1.45 der Disziplinaranwalt aufgrund der Bundesdisziplinarordnung i. d. F. vom 31. August 1965 (BGBl I S. 1007) sowie der Vertreter des öffentlichen Interesses i n Disziplinarsachen i m Lande Nordrhein-Westfalen aufgrund der Disziplinarordnung von Nordrhein-Westfalen i. d. F. vom 1. Juni 1962 (GV S. 305).

2 Arbeitsweise des Völ 2.1

Oberbundesanwalt

M i t Schwerpunkt behandele ich die Arbeitsweise des OBA, w e i l dieser der einzige echte V ö l ist, der hauptamtlich und ausschließlich i n dieser Eigenschaft tätig wird. Die Dienstanweisung für den OBA beim B V e r w G vom 11. Januar 1967 (GMB1 S. 39) stellt die Zusammenfassung der Erfahrungen seit der Errichtung der Behörde i m Jahre 1953 dar. Die Dienstanweisung greift nur m i t wenigen Vorschriften regelnd i n den behördlichen Verfahrensablauf ein und sieht i m wesentlichen die Arbeitsweise der Behörde als durch den Gesetzesauftrag sowie die bisherige Praxis vorgegeben an 5 . 5

Neis, DVB11968, S. 861.

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Nach Neis sind bei der Bearbeitung der Prozesse durch die Bundesanwaltschaft beim Bundesverwaltungsgericht vier Zeitabschnitte zu unterscheiden: 1. Abschnitt: Nach Eingang der Beteiligungsanfrage des Gerichts w i r d geprüft, ob öffentliche Interessen durch das Verfahren berührt werden können. Wenn die Frage verneint wird, so w i r d die Nichtbeteiligung erklärt. N u r bei Bejahung der Frage folgen die weiteren Abschnitte. 2. Abschnitt: Die Bundesanwaltschaft setzt sich m i t den zuständigen Ministerien und anderen Stellen i n Verbindung, u m Erfahrungsmaterial zu sammeln. 3. Abschnitt: Aufgrund des eingegangenen Materials w i r d die Stellungnahme der Bundesanwaltschaft erarbeitet und dem Gericht eingereicht. Dieser A b schnitt dauert bis zum Abschluß des gerichtlichen Verfahrens i n der mündlichen Verhandlung. 4. Abschnitt: Die ergangene Gerichtsentscheidung w i r d ausgewertet. Die gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen werden an die zuständigen Stellen der zweiten Gewalt weitergeleitet. 2.11 Bereits der erste Abschnitt gibt der Bundesanwaltschaft oft Veranlassung, die gesamte Rechtslage zu prüfen, w e i l nur so erkannt werden kann, ob die entscheidungsbedürftigen Rechtsfragen das öffentliche Interesse berühren. Dabei müssen insbesondere auch benachbarte Rechtsbereiche berücksichtigt werden, auf die sich die Entscheidung i n dem betreffenden Verfahren auswirken könnte. Die übergreifende Wirkung der Rechtsprechung auf andere Bereiche 6 spielt oft eine maßgebliche Rolle für die Frage der Beteiligung des OBA. Ein öffentliches Interesse w i r d i m allgemeinen verneint, — wenn die entscheidende Rechtsnorm ausläuft oder nach Erlaß des Verwaltungsakts geändert worden ist, — wenn die Rechtsfrage vom BVerwG bereits entschieden worden ist, — wenn nur Verfahrensmängel gerügt werden und nicht zu erwarten ist, daß grundlegende Fragen zur Entscheidung stehen, — wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz überwiegend von den Umständen des Einzelfalles abhängt und m i t h i n keine Aussagen von allgemeiner Bedeutung erwartet werden können. 8

So Neis, a.a.O., S. 861.

Der Vertreter des öffentlichen Interesses (I)

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Das öffentliche Interesse w i r d i m allgemeinen bejaht bei Verfahren, i n denen die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen worden ist (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), wenngleich der Terminus „grundsätzliche Bedeutung" nicht identifiziert werden kann m i t dem des „öffentlichen Interesses" 7 . A u f einigen Rechtsgebieten hat der OBA — trotz rechtlicher Bedenken — Generalverzichte ausgesprochen, so bei Fällen aus dem Lastenausgleichsgesetz, bei Nichtzulassungsbeschwerden und bei Verfahrensrevisionen. Verfahren, an denen der Bund ohnehin beteiligt ist, erheischen i m allgemeinen nicht die Beteiligung des OBA. Jedoch ist die Beteiligung auch hier nicht grundsätzlich ausgeschlossen, ζ. B. wenn das Verfahren zu einer Gruppe von Parallelsachen gehört, die eine i m wesentlichen gleiche Rechtsfrage von öffentlichem Interesse betrifft. Nach einer Repräsentativerhebung für das Jahr 1966 war der Bund i n nur 4,5 v. H. aller der Bundesanwaltschaft zugeleiteten Streitsachen beteiligt 8 . I m Jahre 1969 betrug die Quote 4,9 v. H. 9 Das öffentliche Interesse kann insbesondere bei solchen Verfahren bejaht werden, an denen Landes- oder Kommunalbehörden beteiligt sind. 2.12 I m zweiten Bearbeitungsabschnitt erhält die Bundesanwaltschaft Material hauptsächlich von den fachlich zuständigen Bundesministerien, die durch ihre Gesetzgebungsabteilungen am besten über die Vorstellungen des Bundesgesetzgebers unterrichtet sind. Auch Länderbehörden und kommunale Spitzenverbände werden vom OBA u m Mitteilung von Erfahrungsmaterial gebeten. Die von den Bundesministerien eingegangenen Stellungnahmen darf der OBA keineswegs ungeprüft übernehmen. Wenn er das von einem Bundesministerium übermittelte Material i n seine Stellungnahme dem Gericht gegenüber aufnehmen w i l l , so t u t er das i n eigener Verantwortung. Nach § 6 Abs. 2 Satz 1 der Dienstanweisung ist die Bundesanwaltschaft gehalten, i m Verhandlungswege einen Ausgleich zu suchen, wenn sie glaubt, der Ansicht des Bundesressorts nicht folgen zu können. Die Nähe der Bundesanwaltschaft zum Gericht und die daraus resultierende umfassende Kenntnis der Rechtsprechung setzt die Bundesanwaltschaft i n die Lage, den Bundesressorts Aspekte zu erschließen, die diesen sonst verschlossen blieben 1 0 . Erzielt der OBA keine Übereinstimmung m i t den zuständigen Bundesressorts, so ist er nach § 6 Abs. 3 der Dienstanweisung verpflichtet, dem 7 A u f die öffentlichen Interessen komme ich an anderer Stelle (3.2) nochmals zu sprechen.

8

9 10

Neis, a.a.O., S. 862. Geschäftsbericht des OBA für das Jahr 1969. Neis, a.a.O., S. 864.

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Gericht neben der Auffassung der Bundesanwaltschaft auch die Ansicht des Fachministeriums zur Kenntnis zu bringen. A u f diese Weise gelangen nur sehr wenige Fälle zur Entscheidung an das Bundeskabinett. 2.13 I m dritten Bearbeitungsabschnitt kommt es für den OB A darauf an, unter den entscheidungserheblichen Fragen eine Auswahl zu treffen und die Ausführungen seines Votums auf den ausgewählten Fragenkomplex zu beschränken. Von nicht untergeordneter Bedeutung ist dabei, daß dem Gericht auch die politischen, rechtlichen, sozialen oder finanziellen Zusammenhänge verdeutlicht werden, vor deren Hintergrund der Rechtsstreit geführt wird. Die Eröffnung solchen „Hintergrundwissens" ist nach Neis 11 geeignet, zu großer Wirklichkeitsnähe der erwarteten Entscheidung beizutragen. Bei der Einreichung der Stellungnahme an das Gericht kann der OBA i m Ergebnis sowohl der Aufassung eines oder mehrerer Verfahrensbeteiligter beitreten oder auch eine vermittelnde Auffassung anbieten. Gegenüber der vielfach bestehenden Meinung, der OBA sei ein zusätzlicher Streitgehilfe der beteiligten Behörde, weswegen die prozessuale Waffengleichheit verletzt werde, ist der Hinweis veranlaßt, daß der OBA i n etwa 30 v. H. der Beteiligungsfälle zugunsten des Bürgers votiert 1 2 . Nicht selten besteht die Aufgabe des OBA darin, zu einer außergerichtlichen Erledigung des Rechtsstreits beizutragen, wenn dies dem öffentlichen Interesse am ehesten entgegenkommt. 2.14 Für den vierten Bearbeitungsabschnitt ist § 9 der Dienstanweisung hervorzuheben. Der OBA muß Anregungen zur Änderung von Gesetzen, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften geben sowie die i n der Prozeßtätigkeit gewonnenen Erfahrungen für die Verwaltungspraxis nutzbar machen. 2.2 I n Bayern hat die Staatsanwaltschaft beim Verwaltungsgericht bzw. Verwaltungsgerichtshof nicht immer die heutige Doppelfunktion — als V ö l und als Prozeßvertreter des Staates — gehabt. 2.21 Nach dem alten bayerischen V V G vom 8. August 1878 (GVB1 S. 369), das noch keine verwaltungsgerichtliche Generalklausel kannte, war die Staatsanwaltschaft auf die Vertretung des öffentlichen Interesses vor dem bayerischen V G H beschränkt. Damals war der V G H die einzige echte Gerichtsinstanz der Verwaltungsrechtspflege 13 . Nach Einführung eines umfassenden Verwaltungsrechtsschutzes durch die Generalklausel des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 25. September 11

12 13

a.a.O.

Neis, a.a.O.

Der Einfluß der französischen I n s t i t u t i o n „Commissaire du Gouvernement" auf die bayerische Einrichtung der „Staatsanwaltschaft beim Verwaltungsgerichtshof" soll i n diesem Zusammenhang vernachlässigt werden.

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1946 (Bay-BS I S. 147) wurde die Zuständigkeit i n zweifacher Hinsicht erweitert: a) Das Institut der Staatsanwaltschaft wurde auf die neu geschaffenen erstinstanzlichen Verwaltungsgerichte ausgedehnt. b) Der Staatsanwaltschaft wurde auch die Prozeßvertretung des Staates übertragen. Nach Erlaß der VwGO 1960 hat Bayern den bisherigen Rechtszustand aufrecht erhalten durch die Verordnung über den V ö l vom 23. März 1960. 2.22 I m Gegensatz zu den Regelungen i n Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz ist die bayerische Staatsanwaltschaft eine selbständige Behörde, deren Bedienstete sich ausschließlich den ihrer Behörde zugedachten Aufgaben widmen können. Überwiegend ist die bayerische Staatsanwaltschaft als Prozeßvertreter des Staates tätig. Als V ö l w i r k t sie hauptsächlich i n Verwaltungsprozessen, an denen Selbstverwaltungskörperschaften beteiligt sind und in denen der Staat selbst seine Auffassung gar nicht zur Darstellung bringen kann, so ζ. B. in Kommunalstreitigkeiten, Erschließungsbeitragssachen, Sozialhilfesachen, aber auch i n Flurbereinigungssachen, wenn die Teilnehmergemeinschaft verklagt ist. Eine Beteiligung als V ö l kommt ebenfalls i n Betracht bei Prozessen der Bundesbahn, Bundespost, der Bundesanstalt für Arbeit, der Bundeswehrverwaltung, außerdem in Beamtensachen, wenn die zur Entscheidung stehende Rechtsfrage von übergreifendem Interesse ist. 2.23 Der Generalstaatsanwalt unterhält ständige Verbindung zu den Ministerien, um zu informieren, aber auch u m informiert zu werden. Der Tätigkeit der Staatsanwaltschaft beim V G H kommt auch i n jenen Fällen eine nicht unmaßgebliche Bedeutung zu, in denen sich Landesministerien bei der Prozeßvertretung nicht einigen können. Der Generalstaatsanwalt pflegt dann auf die Möglichkeit der Anrufung des Kabinetts hinzuweisen, das i n diesen Fällen schlichtend eingreifen muß. 2.3 Die Landesanwaltschaft i n Baden-Württemberg ist ebenso wie i n Bayern überwiegend m i t der Vertretung des Landes befaßt, wie ja schon der Name zum Ausdruck bringt. Nach § 4 der Verordnung über die Landesanwaltschaften vom 22. März 1960 können die Landesanwaltschaften, soweit das Land nicht beteiligt ist, „zur Wahrung des öffentlichen Interesses" i n den Verfahren vor dem V G H und den Verwaltungsgerichten ihre Beteiligung erklären. Insoweit kann die Landesregierung den Landesanwaltschaften Weisungen erteilen. I m Jahre 1968 hat sich die Landesanwaltschaft beim V G H bei einem Gesamteingang des V G H von 1025 Verfahren an 517 Verfahren als Prozeßvertreter des Landes und i n 17 Fällen als V ö l beteiligt. I m Jahre 1969 hatte der V G H 1112 Eingänge. I n 607 Verfahren ist die Landesanwalt-

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schaft als Prozeßvertreter und i n 14 Verfahren als V ö l auf getreten. I n beiden Jahren war also die Völ-Tätigkeit außerordentlich gering. Die Zahlen für die Landesanwaltschaften bei den erstinstanzlichen Verwaltungsgerichten in Baden-Württemberg weisen i n etwa ein ähnliches Verhältnis auf. 2.4 I n Nordrhein-Westfalen werden aufgrund der Verordnung vom 26. März 1960 beim Oberverwaltungsgericht und bei den Verwaltungsgerichten Vertreter des öffentlichen Interesses bestellt. Bestimmte Beamte (etwa 3 bis 4) werden persönlich mit der Wahrnehmung der Aufgabe des V ö l betraut. 2.41 Beim OVG nehmen die Aufgaben wahr: Der Staatssekretär des Mdl, der jeweilige Leiter der Abt. I (Verfassung und Verwaltung) i m Range eines Ministerialdirigenten, der Gruppenleiter I c „Verwaltung" (Leitender Ministerialrat) und zwei Referenten dieser Abteilung. Der erstere von diesen beiden führt in seinem Referat die recht umfangreichen Vertretungsgeschäfte, vor allem den Schriftwechsel m i t den Ressorts, Verzichts- oder Beteiligungserklärungen gegenüber den Gerichten, Durchsicht und Unterzeichnung der von den Ressorts gelieferten Schriftsätze. Bei den sieben Verwaltungsgerichten des Landes sind als V ö l jeweils bestellt: Der Regierungsvizepräsident, der Abteilungsleiter 2, der Dezernent 21, der für Ordnungsrecht und Enteignungen zuständig ist. 2.42 Nach der Dienstanweisung ist i n einigen Fällen davon auszugehen, daß das öffentliche Interesse bereits ausreichend etwa dadurch gewahrt ist, daß eine Landesoberbehörde oder Mittelbehörde am Verfahren beteiligt ist. I n anderen Fällen sind Generalverzichtserklärungen abgegeben worden. Der V ö l ist weitgehend auf die Unterstützung durch die Fachbehörden angewiesen. Wenn er m i t dem Ressort nicht übereinstimmt, kann die Entscheidung des Kabinetts eingeholt werden; das ist jedoch noch nie geschehen. Der V ö l verhandelt grundsätzlich m i t Kontakt-Referenten i n den einzelnen Ressorts. 2.43 Bei den Verwaltungsgerichten erster Instanz kommt es je Gericht zu etwa 15 bis 20 Beteiligungsfällen i m Jahr 1 4 . Beim OVG beteiligt sich 14 Die geringe Beteiligung mag darauf zurückzuführen sein, daß allein aus der Klageschrift nicht zu erkennen ist, ob i n dem Prozeß irgendeine G r u n d satzfrage zu klären ist, die das öffentliche Interesse berührt.

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der V ö l jährlich an etwa 80 bis 90 Verfahren, meist nur schriftlich; i n 12 bis 15 Verfahren nimmt er auch die mündliche Verhandlung wahr. Außerdem beteiligt er sich jährlich an etwa 5 bis 8 Revisionsverfahren. Der V ö l w i r k t auf die Entscheidung grundsätzlicher Zweifels- und Auslegungsfragen hin, an deren Klärung i m konkreten Einzelfall beide Prozeßparteien weniger interessiert sind 1 5 . Für nahezu unentbehrlich w i r d i n Nordrhein-Westfalen die Beteiligung des V ö l an jenen Fällen gehalten, i n denen es u m die Gültigkeit oder Nichtigkeit einer Rechtsnorm geht. Die i n solchen Fällen zumeist beklagten Kommunalbehörden sind oft gar nicht i n der Lage, zu dem anstehenden Problem etwas Maßgebliches aus eigener Kenntnis der Vorgeschichte und Rechtsprechung zu sagen. Häufig sind sie sogar an der Feststellung der Ungültigkeit einer Norm des Landesrechtes interesssiert und deshalb verständlicherweise weniger geneigt, Argumente der Aufsichtsbehörde zugunsten der Gültigkeit vorzutragen. Gerade i n solchen Fällen kann der V ö l zur Auslegung zweifelhafter Vorschriften das sog. „Hintergrundwissen" i n Gestalt von nicht allgemein zugänglichen Ausschußprotokollen oder Informationen, die i m Ministerium gesammelt worden sind, vermitteln. 2.44 Auch in Nordrhein-Westfalen hat der V ö l gegenüber der Verwaltung die Aufgabe, die Behörden, die Prozesse führen, durch einschlägige Informationen zu beraten, gegebenenfalls m i t dem Ziel, einen Prozeß gar nicht zu führen oder durch Klaglosstellung zu erledigen, sowie die i n den Verfahren gewonnenen Erkenntnisse i n Empfehlungen an die beteiligten Ressorts umzumünzen, indem u. a. die Änderung von unklaren Rechtsvorschriften oder Ausführungsanweisungen empfohlen wird. 2.5 I n Schleswig-Holstein besteht eine Personalunion zwischen dem Leiter der Abteilung „Verfassung, Gesetzgebung und Verwaltung" sowie dem Gesetzgebungsreferat des Ministeriums des Innern einerseits und dem V ö l andererseits. Dadurch ist es möglich, die Erfahrungen der Verwaltung für die Rechtsprechung nutzbar zu machen. Der V ö l beteiligt sich hauptsächlich an Verwaltungsprozessen, an denen Gemeinden und Landkreise sowie andere nichtstaatliche Behörden beteiligt sind. I n neuerer Zeit sind einzelne Senate und Kammern dazu übergegangen, von sich aus die Beteiligung des V ö l anzuregen, und zwar durchweg i n Fällen, i n denen Grundsatzfragen des Verwaltungsrechts zur Debatte stehen. Nach Mitteilung des V ö l i n Schleswig-Holstein bedauern die 15 A u f die Frage, ob der V ö l etwa gegen den W i l l e n der Hauptbeteiligten ein Verfahren weiterbetreiben kann, indem er ζ. B. selbständig ein Rechtsmittel einlegt, soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden.

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Gerichte sogar, daß sich der V ö l nicht i n größerem Umfang an den Verfahren beteilige, was auf mangelnde personelle Besetzung zurückzuführen sei. Das Ansehen des V ö l i n Schleswig-Holstein beruht auf der absoluten Objektivität, die dadurch gekennzeichnet ist, daß er sich nicht selten auf seiten des Bürgers beteiligt und noch niemals eine Weisung für einen Einzelfall von irgendeiner Stelle erhalten hat. Auch i n Schleswig-Holstein besteht eine weitere Aufgabe des V ö l darin, die Rechtsprechung des OVG und des V G zentral auszuwerten und den Ressorts zugänglich zu machen. 2.6 I n Rheinland-Pfalz besteht der V ö l seit 195616. Ein Beamter des höheren Dienstes des Justizministeriums aus der Gesetzgebungsabteilung für öffentliches Recht nimmt nebenamtlich die Aufgaben des V ö l wahr. Sein Vertreter i m A m t des V ö l ist ebenfalls ein Beamter derselben Abteilung des Justizministeriums. Der V ö l beteiligt sich praktisch lediglich beim OVG und auch da nur i n wenigen Fällen, etwa 10—12 jährlich, die allerdings von großer tatsächlicher oder rechtlicher Bedeutung sind. Zumeist handelt es sich um Verfahren, an denen auf der Beklagtenseite nicht Landesbehörden, sondern Selbstverwaltungskörperschaften beteiligt sind, außerdem u m Fälle, i n denen es um grundsätzliche Fragen der Landesgesetzgebung geht, insbesondere um die Rechtmäßigkeit von Rechtsverordnungen oder auch um die Frage, ob einem Antrag auf Vorlage an das Verfassungsgericht entsprochen werden soll. Der V ö l äußert sich grundsätzlich nur zu Einzelfragen und nimmt selten zu dem Gesamtkomplex des Prozesses Stellung. Anträge stellt er nie, auch hat er noch nie selbständig ein Rechtsmittel eingelegt. 2.7 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß sich sowohl beim OBA als auch bei den Länder-Völ die Arbeitsweise i m wesentlichen gleicht. 3 Aufgaben des Völ Bei der Frage nach Wert oder Unwert des V ö l liegt es nahe, Soll und Ist gegenüberzustellen, d. h. von der Aufgabenstellung auszugehen, die dem V ö l vom Gesetzgeber zugedacht war, und dann einen Vergleich zu ziehen mit dem, was tatsächlich vorliegt. 3.1 Historischer Rückblick Sowohl die VwGO als auch die neueren Ländervorschriften über den V ö l vermitteln keine hinreichende Aussage über dessen Aufgaben, son16 3. L V O zur Durchführung des V G G R h - P f vom 18. A p r i l 1956 (GVB1 S. 57), nach Inkrafttreten der V w G O nunmehr L V O vom 18. Oktober 1960 (GVB1 S. 250).

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dern beschränken sich i m wesentlichen auf formale Organisationsanordnungen 17 . Man muß deshalb auf ältere Quellen zurückgreifen, die sich allerdings auf die Vorgänger des V ö l heutiger Prägung beziehen 18 . 3.11 Für das frühere Württemberg läßt sich die gesetzliche Zweckbestimmung des V ö l aus A r t . 20 und 68 des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 16. Dezember 1876 (RegBl S. 485) i. V. m. dem Erlaß des württembergischen Innenministers vom 4. März 1879 (Amtsblatt des M d l S. 73) 19 folgern: Die Staatsregierung wollte sich mit Hilfe des V ö l bei Entscheidungen, welche die Staatsverwaltung, die öffentlichen K ö r perschaften oder weite Kreise der Bevölkerung beeinflussen konnten, eine Einwirkungsmöglichkeit auf die verselbständigte Verwaltungsgerichtsbarkeit erhalten 20 . 3.12 Nach dem bayerischen Verwaltungsgerichtsgesetz vom 8. August 1878 (GVB1 S. 369) hatte die bayerische Staatsanwaltschaft dafür Sorge zu tragen, daß die Rechtsprechung richtig, gleichmäßig und geordnet bleibe und sich innerhalb ihrer Grenzen halte 2 1 . 3.13 I n Preußen gab es vier verschiedene Formen des V ö l : a) den vom Regierungspräsidenten oder Ressortminister i n einem Einzelfall zur Vertretung einer Behörde zu bestellenden Kommissar 2 2 , b) den ohne Antrag der Prozeßparteien nach Ermessen des Regierungspräsidenten bzw. des Ressortministers zu bestimmenden Kommissar 23 , c) den Kommissar, der immer dann bestellt wurde, wenn das Gesetz die Behörde, welche die Rolle des Klägers oder des Beklagten wahrzunehmen hatte, nicht bezeichnet hatte 2 4 , d) den Kommissar, der vom Regierungspräsidenten oder Ressortminister i m Einzelfall bestellt wurde, um eine „aus Gründen des öffentlichen Interesses" vom Vorsitzenden des Kreisausschusses oder des Bezirksausschusses eingelegte Berufung zu vertreten 2 5 . 17

Schulz-Hardt, a.a.O., S. 42. Dabei nehme ich weitgehend Bezug auf die verdienstvolle Zusammenstellung von Schulz-Hardt (s. Fußn. 1) und zitiere die einzelnen Landesgesetze i n zeitlicher Reihenfolge. 19 Auszugsweise wiedergegeben bei Goetz, Die Verwaltungsrechtspflege i n Württemberg, 1902, S. 563. 20 Schulz-Hardt, a.a.O., S. 21. 21 Schulz-Hardt, a.a.O., S. 21 ; Dyroff, Bay. Verwaltungsgerichtsgesetz, 5. Aufl., Ansbach 1917, A r t . 4 A n m . 1. 22 § 74 Abs. 1 des Preußischen Gesetzes über die allgemeine Landesverwaltung v o m 30. J u l i 1883 (G.S. S. 195). 23 § 74 Abs. 2 des Preußischen Gesetzes über die allgemeine Landesverwaltung. 24 § 74 Abs. 3 des Preußischen Gesetzes über die allgemeine Landesverwaltung. 25 § 84 des Preußischen Gesetzes über die allgemeine Landesverwaltung. 18

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Diese Berufungsmöglichkeit galt als Hilfsmittel für den Fall, daß der Vorsitzende durch die Laien i m Kollegium überstimmt worden war und das Ergebnis nach seiner Meinung gegen das Interesse der Verwaltung verstieß 26» 2 7 . 3.14 I n Baden läßt sich die Zweckbestimmung aus der amtlichen Begründung zum Regierungsentwurf des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 14. J u l i 1884 (GuVBl S. 197) ersehen 28 . Hiernach hat die obere Staatsbehörde, die als solche die gesamte Verwaltungstätigkeit bestimmt, die ordnungsgemäße Anwendung der Gesetze und Verordnungen durch den Verwaltungsgerichtshof zu beaufsichtigen. Die Institution des V ö l kann als Reaktion auf die gleichzeitig vorgenommene Ausgliederung der Verwaltungsgerichtsbarkeit aus der Verwaltung sowie als Kompensationsinstrument zu dieser Regelung gewertet werden. Der V ö l galt m i t h i n als Überwachungsinstanz für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. 3.15 I n Sachsen bestand nach dem Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege vom 14. J u l i 1900 (GVB1 S. 486) die Möglichkeit, eine vom Vorsitzenden des Bezirks- oder Kreisausschusses aus Gründen des öffentlichen Interesses eingelegte Berufung vor dem OVG durch den V ö l vertreten zu lassen. Dieser sollte seiner Aufgabenstellung nach dazu bestimmt sein, der Ansicht der Regierung von dem, was i m Einzelfall i m öffentlichen Interesse gelegen war, vor Gericht Gehör zu verschaffen 29 . Auch hier kann der V ö l i n etwa als Korrektiv für den Verlust der Einheit von Verwaltung und Verwaltungsrechtsprechung gesehen werden 30 . 3.16 I n der Landesverwaltungsordnung für Thüringen vom 10. Juni 1926 (Ges.S. S. 177) hat sich allerdings eine Neuorientierung bemerkbar gemacht. Die Zielsetzung des V ö l entfernt sich schon erheblich von jener der ersten Länderkodifikationen. Der V ö l sollte gewährleisten, daß der Streit zwischen den Hauptparteien so entschieden wurde, wie es das öffentliche Interesse erforderte, wobei sich der V ö l i n Übereinstimmung mit einer Prozeßpartei oder auch i m Gegensatz dazu befinden konnte 3 1 . 26

Schulz-Hardt, a.a.O., S. 27 m i t weiteren Nachweisen. Eine ähnliche Möglichkeit findet sich noch i m § 17 A G V w G O RheinlandPfalz v o m 26. J u l i 1960 (GVB1 S. 145). Hiernach k a n n die Bezirksregierung Klage erheben gegen den Kreisrechtsausschuß oder Stadtrechtsausschuß wegen einer Entscheidung i m Vorverfahren, wenn diese zu Ungunsten der Behörde ausgegangen ist (sog. Aufsichtsklage), 28 Schulz-Hardt, a.a.O., S. 29 m i t weiteren Nachweisen. 29 Otto Mayer, Sächsisches Staatsrecht, S. 272. 30 Schulz-Hardt, a.a.O., S. 31. 31 Schulz-Hardt, a.a.O., S. 32. 27

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Hier ist eine eindeutige Wendung vom „Aufpasser" über die Verwaltungsgerichtsbarkeit zum übergeordneten und parteineutralen Sachwalter der öffentlichen Interessen vollzogen worden. 3.2 Wahrung der öffentlichen

Interessen

Bei der Untersuchung über die Zweckbestimmung des V ö l kann nicht an dem Begriff „öffentliche Interessen" vorübergegangen werden. Es ist bezeichnend, daß die neueren Vorschrif ten über den Völ, insbesondere die aufgrund der VwGO erlassenen Verordnungen, Formulierungen über die Zweckbestimmung, wie sie aus den älteren Gesetzen — mehr oder weniger ausgesprochen — hervorgehen, offensichtlich bewußt nicht übernommen haben. Sie beschränken sich auf die Erwähnung des unbestimmten Rechtsbegriffs „öffentliche Interessen" oder auf ähnliche Ausdrücke, wie „Gemeinwohl", das dem öffentlichen Interesse gleichzusetzen ist. 3.21 Der OBA hat nach § 1 der Dienstanweisung vom 11. Januar 1967 „das öffentliche Interesse zu wahren und dadurch zur Verwirklichung des Rechts beizutragen". Ein öffentliches Interesse w i r d i m allgemeinen in folgenden Fällen bejaht32: a) wenn die Auslegung des Grundgesetzes streitig ist, ζ. B. Vereinbarkeit des Staatsvertrages über das ZDF nach dem Bundesverfassungsrecht, b) wenn die Entscheidung einen breiten Bevölkerungskreis berührt, ζ. B. Zulässigkeit von Laternengaragen, c) wenn grundsätzliche Fragen der Rechtsanwendung auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts anstehen, ζ. B. Vertrauensschutz bei Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte, d) wenn die Entscheidung über die Verwaltungspraxis von erheblicher Bedeutung ist, ζ. B. Zulässigkeit öffentlich-rechtlicher Verträge, e) wenn ein Verfahren weitreichende finanzielle Auswirkungen hat, ζ. B. Zweigstellensteuerfälle, f) wenn dem Verfahren erhebliche Bedeutung für das allgemeine W i r t schaftsleben oder für die sozial-staatliche Ordnung zukommt, ζ. B. Auslegung wichtiger Vorschriften der Gewerbeordnung, g) wenn die Abgrenzung der Gerichtsbarkeit sowie Inhalt und Grenzen des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes anstehen, ζ. B. Anfechtbarkeit von Verkehrszeichen, h) wenn das Verfahren eine erhebliche politische Bedeutung hat, ζ. B. Verbot von politischen Vereinigungen. 32



Neis, DVB11968, S. 862.

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3.22 I n Nordrhein-Westfalen gibt die Dienstanweisung des V ö l ebenfalls keine Definition für das öffentliche Interesse, stellt aber heraus, wann dieses Interesse „wesentlich berührt" werde 3 3 , nämlich a) durch Verfahren, i n denen die Gültigkeit einer Rechtsvorschrift oder die sachliche Zuständigkeit einer Behörde streitig ist, b) durch Verfahren, die wegen der Höhe des Streitwertes oder der finanziellen Auswirkungen der Entscheidung von erheblicher unmittelbarer oder mittelbarer Bedeutung für die öffentlichen Finanzen sind, c) durch Verfahren, i n denen Rechtsfragen zur Entscheidung stehen, die über den Einzelfall hinaus von grundsätzlicher Bedeutung sein könnten. Dieser Dienstanweisung kann über Nordrhein-Westfalen hinaus allgemeine Gültigkeit beigemessen werden. 3.23 Ausgehend von den öffentlichen Interessen, wie ich sie durch den modernen Völ, insbesondere den OBA, vertreten sehe, sind alle Versuche einer Aufgabendeutung des V ö l überholt, die anscheinend nicht genügend berücksichtigen, daß die Verwaltungsgerichtsbarkeit i n der Zeit nach 1945 zu einer eigenständigen Gerichtsbarkeit geworden ist, die zwar zufolge der von ihr zu entscheidenden Fälle eine starke Affinität zur Verwaltung hat, jedoch organisatorisch völlig selbständig ist 3 4 . Bezeichnungen für den V ö l wie „Wahrer der Interessen der Allgemeinheit und des Gemeinwohls" 3 5 oder „ A n w a l t des Gemeinwohls" 3 6 oder „Überparteilicher Wächter objektiven Rechts" 37 sind angesichts der grundsätzlichen Verpflichtung aller Staatsorgane zur Wahrnehmung der Gemeinwohlinteressen zumindest mißverständlich, wenn nicht gar i m Ansatz verfehlt. Wenn Prandi bei der 17. staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung der Hochschule Speyer i m Jahre 195 3 3 8 als Aufgabe des V ö l herausgestellt hat, daß er als A n w a l t der Allgemeinbelange über den Einzelfall hinaus sowohl den beteiligten Behörden als auch den Parteien und dem Gericht die Schäden eines allzu individualistischen Denkens und Handelns für das Gemeinwohl vor Augen stellen soll, so können w i r auch eine solche Formulierung heute nicht mehr unwidersprochen hinnehmen. Ferner müssen Formulierungen des Inhalts, der V ö l habe sich um eine gleichmäßige, von Schwankungen und Widersprüchen freie 33

323). 34

§ 3 der Dienstanweisung v o m 26. März 1960 (SMB1 N W Gliederungs-Nr.

Nach § 1 V w G O w i r d die Verwaltungsgerichtsbarkeit durch unabhängige, von den Verwaltungsbehörden getrennte Gerichte ausgeübt. 35 Schunck - De Clerck, K o m m . z. Verwaltungsgerichtsordnung 1961 Erl. 2 zu §36. 36 Prandi , Beilage 3 zur Staatszeitung für Rheinland-Pfalz 1954, S. 1. 37 U r t e i l des OVG Münster v o m 25. November 1965 ( V i l i A 276/64), S. 14. 38 DÖV 1953, S. 726; vgl. auch DÖV 1954, S. 206.

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Rechtsprechung zu bemühen 89 und Definitionen des V ö l wie „Wahrer des Lebensraumes der Verwaltung" 4 0 oder „Instrument, die Verwaltungsbehörden vor einem Überfluten durch die Gerichtsbarkeit zu bewahren" 4 1 , den energischen Widerstand aller Verwaltungsrichter eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates hervorrufen 4 2 . Auch vermag ich Masson nicht zu folgen, der noch kürzlich 4 3 schrieb, die Verwaltungsgerichte böten keine sichere Gewähr für eine zuverlässige Beachtung der — oft nicht ohne weiteres erkennbaren — Forderungen des öffentlichen Interesses. Sie sähen erfahrungsgemäß ihre Aufgabe vorwiegend i n einer auf die Besonderheiten der konkreten Streitsache abgestellten Entscheidung, während sie etwaige, über den Einzelfall hinausreichende Auswirkungen ihres Urteils vielleicht nicht oder nicht genügend beachten würden. Dem muß von Seiten der Verwaltungsrichter entschieden widersprochen werden. I n einem Rechtsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland bieten die Verwaltungsrichter kraft ihrer verfassungsmäßig abgesicherten Unabhängigkeit hinreichende Gewähr dafür, daß einerseits der Bürger zu seinem Recht kommt und andererseits das Gemeinwohl gebührend Berücksichtigung findet. Eine brauchbare und durchaus vertretbare Aufgabenumschreibung des V ö l bringt Schulz-Hardt 44, wenn er sagt, der V ö l habe die Aufgabe, das Gemeinwohl vom Standpunkt der Staatsregierung aus, d. h. unter Berücksichtigung von deren allgemeinen oder besonderen staats- und verwaltungspolitischen Zielvorstellungen, zu wahren. 3.3

Aufgaben-Zusammenstellung

Man kann also feststellen, daß die Aufgaben des V ö l moderner Prägung wesentlich eingeengter zu sehen sind als dies früher aufgrund der Gesetze der Fall war, die zu seiner Einrichtung geführt haben. Sein Hauptbetätigungsfeld liegt in Prozessen, an denen der Bund oder das betreffende Land formell nicht beteiligt ist, ferner i n Prozessen, bei denen es um die Gültigkeit eines Gesetzes oder einer anderen Rechtsnorm geht, sowie i n Prozessen, i n denen die Vorlage an das Verfassungsgericht zur Debatte steht, 39 40 41 42 43 44

Groß, B a y V B l 1959, S. 72. Anders, B u l l e t i n 1959, S. 1989. Groß, B a y V B l 1959, S. 74. Vgl. i m einzelnen Schulz-Hardt, B a y V B l 1969, S. 43. a.a.O., S. 72.

a.a.O., S. 63, 64, 65.

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weiter i n Prozessen, die dadurch Bedeutung haben, daß die Entscheidung einen breiten Bevölkerungskreis berührt, oder daß eine grundsätzliche Frage der Rechtsanwendung auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts ansteht, endlich i n Prozessen, denen eine weitreichende Bedeutung für das allgemeine Wirtschaftsleben oder für die sozialstaatliche Ordnung zukommt. Hinzu t r i t t noch die Aufgabe, Informations- und Clearingstelle zwischen Gericht und Verwaltung zu sein sowie gegebenenfalls die divergierenden Meinungen von Ministerien i m Prozeß zu koordinieren.

4 Bewährung des Völ 4.1 Funktionswandel Der historische Rückblick auf die Entstehungsgeschichte des V ö l zeigt einen wenig demokratischen „Stammbaum". Die „Ahnengalerie" des V ö l trägt starke Züge eines autoritären Staatsdenkens, das m i t Art. 20 GG nicht vereinbar ist, so daß man geneigt sein könnte, die Diskussion an diesem Punkte zu beenden. Eine solche Betrachtungsweise wäre aber zu vordergründig und würde dem verdienstvollen Wirken des OBA und der Länder-Völ während der letzten Jahre i n keiner Weise gerecht werden. Wohl keiner der Verwaltungsrichter, die den V ö l praktisch erlebt haben, dürfte den Eindruck gewonnen haben, daß der V ö l noch heute von der Idee beseelt sei, er müsse als Staatskontrolleur den Verwaltungsgerichten auf die Finger sehen. Der V ö l moderner Prägung hat sich schon längst von der ursprünglich m i t ihm verknüpften Zielsetzung gelöst und ist zu einer qualifizierten Einrichtung der Rechtspflege geworden. I n Ansatz und Aufgabenstellung haben w i r es zumindest seit dem Inkrafttreten der VwGO m i t einem anderen V ö l zu tun, der einem entscheidenden Funktionswandel unterlegen ist. A u f diese Feststellung hebe ich ganz besonders ab. Der Aufgabentausch läßt den V ö l i n einem wesentlich anderen Licht erscheinen. Er hat sich zu einer Prozeßinstitution eigener Prägung entwickelt, die durchaus den Anforderungen unseres demokratischen und sozialen Rechtsstaates gerecht w i r d 4 5 . 45 Nicht ganz ohne Bedeutung ist allerdings, i n wessen Händen die A u f gaben des V ö l liegen, w e i l es oft von der Persönlichkeit stark abhängig ist, wie sich das Verhältnis zwischen V ö l und Gericht gestaltet.

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4.2 Effektivität

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des Völ

Der Speyerer Entwurf eines Verwaltungsgerichtsgesetzes 46 für die drei öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten, der sich i m wesentlichen an die VwGO angelehnt hat, enthält i n den §§ 43 bis 46 auch Vorschriften über den Völ, hat diese jedoch nur zögernd übernommen m i t der Begründung 4 7 , die letzte Untersuchung über die Wirksamkeit der Einrichtung des V ö l sei noch nicht durchgeführt. Die bisherige Praxis i n Bund und Ländern lasse nicht erkennen, daß für einen Vertreter des öffentlichen Interesses ein Bedürfnis bestehe. Auch gehe aus den veröffentlichten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht hervor, welchen Einfluß der OBA auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ausgeübt habe. Die Bedeutung des V ö l sei i n den Ländern, in denen er eingeführt sei, offenbar nur gering. Es fehle allerdings an einer Untersuchung, ob und in welchem Umfang die Vertreter des öffentlichen Interesses die Rechtsprechung der Gerichte beeinflußt haben, was eine abschließende Stellungnahme erschwere. Beim OBA w i r d eine sog. „Erfolgsstatistik" geführt, aus der sich ergibt, daß i n den Jahren 1962 bis 1967 in rd. 71 °/o der Beteiligungsfälle die Ergebnisse der ergangenen Entscheidungen i n vollem Umfang und in weiteren 11 °/o wenigstens teilweise dem Votum der Bundesanwaltschaft entsprachen, während i n 18 °/o der Fälle die Entscheidungen den Stellungnahmen des OBA entgegengesetzt waren 4 8 . Wenn diese Zahlen mangels anderer Möglichkeiten auch nicht ganz von der Hand zu weisen sind, so können sie doch nicht als letztlich überzeugender Beweis für die Effektivität des OBA herangezogen werden. Ob die Stellungnahmen des OBA die Gerichtsentscheidungen positiv oder negativ beeinflußt haben, w i r d sich nie statistisch exakt ausloten lassen. Das Gericht ist nicht verpflichtet, das Votum des OBA i n seinen Entscheidungsgründen zu zitieren oder sich m i t i h m auseinanderzusetzen, wenngleich i n vielen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts die übereinstimmende oder auch abweichende Meinung des OBA erwähnt und abgehandelt w i r d 4 9 . Ein einigermaßen genaues Ergebnis über die Effektivität des OBA und der Länder-Völ wäre theoretisch vielleicht dadurch zu erzielen, daß jeder Verwaltungsrichter jeweils nach der Abstimmung in der Beratung stati40

Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 40. Speyerer E n t w u r f S. 186; vgl. insoweit auch Ule, DVB1 1967, S. 348. 48 Neis, DVB11968, S. 865. 49 I n einer Reihe von Publikationsfassungen der Entscheidungen des B u n desverwaltungsgerichts sind die auf den O B A bezüglichen Passagen w o h l aus Kürzungsgründen weggelassen worden. Das sollte nicht übersehen werden, wenn kritisch angemerkt w i r d , daß sich aus den publizierten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts die Effektivität des OBA nicht ersehen lasse. 47

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stisch festlegen würde, welchen Eindruck die Darlegungen des V ö l auf ihn hinterlassen haben. Daß sich eine solche Methode der Statistik oder auch nur eine Umfrage bei den Richtern schon mit Rücksicht auf das Beratungsgeheimnis von selbst verbietet, bedarf keines weiteren Hinweises. Insoweit bedeutet es ein unmögliches Unterfangen, die Effektivität des OBA und der Länder-Völ i n mathematisch exakter Form an Zahlen messen zu wollen. Hiervon die Entscheidung über Sein oder Nichtsein der Institution des V ö l abhängig zu machen, halte ich nicht für richtig. 4.3 Notwendigkeit

des Völ?

I m Zusammenhang mit der Effektivität stellt sich zwangsläufig die Frage nach der Notwendigkeit des Völ. Hier sind zwei Einwendungen zu behandeln: a) Das öffentliche Interesse könne hinlänglich von der beklagten Behörde selbst wahrgenommen werden. b) Das öffentliche Interesse werde ausreichend vom Gericht gewahrt. 4.31 Kann das'öffentliche Interesse nicht hinlänglich von der beklagten Behörde selbst wahrgenommen werden? Als A n t w o r t hierauf w i r d i n der Literatur gesagt, daß die Behörde aufgrund ihrer Prozeßstellung die öffentlichen Interessen nur bedingt wahrzunehmen vermöge. Die Verwaltungsbehörde sähe den Prozeß aus ihrer besonderen Sicht und vernachlässige darüber höherwertige öffentliche Interessen. Sie sei geradezu von Amts wegen subjektiv 5 0 . Deshalb hält Loening 51 eine besondere Vertretung des öffentlichen Interesses sogar für erforderlich, um gegenüber dem meist subjektiv gefärbten Standpunkt der Behörde das echte öffentliche Interesse i n objektiver Schau zur Darstellung zu bringen. Diese Erwägungen werden durch Beobachtungen aus der Praxis nicht widerlegt, sondern eher bestätigt. Ich darf auf meine Ausführungen nur Arbeitsweise des V ö l i n den einzelnen Ländern verweisen und auf eigene Erfahrungen als Richter zurückgreifen 52 . Die zusätzliche Beteiligung des V ö l w i r d vor allem i n jenen Verfahren dankbar empfunden, i n denen lediglich nichtstaatliche Stellen beteiligt sind, so daß die staatliche Verwaltung entweder überhaupt nicht weiß, daß eine für das Gemeinwohl wichtige Frage zur Entscheidung steht 50

Eisemann, DÖV 1958, S. 686. Deutsches Verwaltungsrecht, S. 819. 52 I n einem vor wenigen Wochen bei meinem Senat verhandelten Verfahren gegen eine Gemeinde hat sich der V ö l m i t beachtlichen, der Gemeinde nicht zugänglichen Argumenten beteiligt und bei der für viele Gemeinden bedeutsamen Frage, ob die gemeindliche Kanalanschlußgebühr eine zulässige Abgabe nach dem Gebührenrecht sei, für einen Beitrag und damit i m Ergebnis gegen die Gemeinde ausgesprochen. 51

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oder, wenn sie es weiß, keine prozessuale Gelegenheit zur Stellungnahme hat. Hier die Meinung des Staates i n verfahrensrechtlich einwandfreier Form in den Prozeß einzuführen, ist bis zur Stunde ein sehr legitimes Anliegen des Völ. So ist es verständlich, daß das Bundesverwaltungsgericht 53 den OBA sehr positiv als eine Prozeßinstitution zur Förderung gerichtlicher Verfahren definiert und ihn als eine qualifizierte Einrichtung der Rechtspflege bezeichnet hat, die nicht die Aufgabe habe, sich nur um die Durchsetzung der öffentlichen Interessen der Verwaltung zu bemühen 54 . Eine seiner Hauptaufgaben sei es auch, auf wesentliche, in den Vorinstanzen nicht erörterte rechtliche Gesichtspunkte hinzuweisen und dem Bundesverwaltungsgericht die oft weitreichenden Folgen darzulegen, die ein abweisendes oder stattgebendes Urteil haben könne. Die Tätigkeit des OBA i m Interesse der Durchsetzung des Rechts und i m Interesse der Befriedung im Verfahren außerhalb der mündlichen Verhandlung werde überhaupt überall dort von besonderer Bedeutung sein, wo das Gericht und seine Richter nicht in demselben Sinne tätig werden könnten, ohne daß der Eindruck der Parteilichkeit entstehe oder sogar Verfahrensvorschriften entgegenstünden 55 . 4.32 Kann das öffentliche Interesse nicht ausschließlich vom Gericht wahrgenommen werden? Sicherlich w i r d die Richtigkeit des Satzes: „Jura novit curia" von keinem Richter bestritten. Trotzdem sind die Verwaltungsrichter dankbar für zusätzliches Material tatsächlicher oder rechtlicher Art, das ihnen eine größere Erkenntnisbreite gibt und vielfach die Entscheidung erleichtert. Das hat nichts mit Bequemlichkeit zu tun, sondern mit der durch die Unparteilichkeit des Gerichts begründeten Unmöglichkeit, mit Behörden so i n Kontakt zu treten, wie dies der V ö l tun darf. Man halte nicht entgegen, daß das Gericht durch Beweis- oder Auflagebeschlüsse selbst bemüht bleiben könne und müsse, solche Informationen zu erhalten. Bei der Vielschichtigkeit der öffentlichen Verwaltung ist es selbst für einen versierten Verwaltungsrichter, der vielleicht jahrelang vorher i n der Verwaltung tätig war, unmöglich, einschlägiges Material zu erlangen oder auch nur zu erahnen, daß und wo solches Material vorhanden ist. Das gilt insbesondere für die Beratungen der Parlamentsausschüsse, die bisher nicht öffentlich waren und, selbst wenn sie öffentlich würden, auch nicht stets dem Gericht bekannt werden würden. Das oft zitierte „Hintergrundwissen" oder „Hintergrundmaterial" ist häufig für die Entscheidung eines Falles von nicht unerheblicher Bedeutung, sei es zu Gunsten des Bürgers oder zu Gunsten der Behörde. 53 54 55

B V e r w G E Bd. 18 S. 205, 207; vgl. auch B V e r w G E Bd. 12 S. 119. B V e r w G E Bd. 18 S. 205, 207. B V e r w G E Bd. 18 S. 209.

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Bei meinem Gericht wurde dankbar gewürdigt, daß der V ö l sich i n den letzten Monaten an mehreren grundsätzlichen Prozessen beteiligt und dem Gericht wertvolles Material beigebracht hat, so ζ. B. bei der für viele Gemeinden und auch für das Land kommunal-finanzpolitisch bedeutsamen Frage, ob die Erhebung von Schankverzehrsteuer nach Aufhebung des Schankverzehrsteuergesetzes Rheinland-Pfalz nunmehr auf der Grundlage des Kommunalabgabengesetzes möglich sei 56 . I n jüngster Zeit war außerordentlich beachtlich die Stellungnahme des V ö l in den Verwaltungsprozessen mehrerer Studenten wegen des numerus clausus i n der medizinischen Fakultät an der Mainzer Universität. Auch hier hat der V ö l einen sehr beachtlichen Beitrag geleistet und i m Ergebnis gegen die beklagte Universität Stellung genommen, die i n den Verfahren auch unterlegen ist. 4.33 Nicht unerwähnt bleiben darf, daß der Präsident des Bundesrechnungshofes als Beauftragter für Wirtschaftlichkeit i n der Verwaltung in einem Gutachten vom März 1968 erklärt hat, der OBA sei nicht erforderlich, weil Rechtsfindung und Wahrung des Gemeinwohls Sache des Gerichts sei und dieses Gericht keine Unterstützung durch den OBA bedürfe, wenngleich diesem auch als „Ohr und Sprachrohr" der Bundesregierung ein gewisser Nutzen i n Prozessen nicht abgesprochen werden könne, i n denen der Bund nicht ohnehin als Partei oder Beigeladener vertreten sei. I n ihrer Stellungnahme zu diesem Gutachten hat die Bundesregierung jedoch darauf verwiesen, daß bei der Beratung der VwGO i m Jahre 1959 die Frage der Notwendigkeit eines OBA erneut eingehend erörtert worden sei; Rechtsausschuß des Bundestags und Sachverständige seien einheitlich davon ausgegangen, daß die Existenz einer solchen Behörde „keinesfalls i m Sinne einer rechtlichen Notwendigkeit erforderlich sei, daß jedoch ihre Arbeit i m Gefüge unserer bundesstaatlichen Ordnung als zweckmäßig bejaht werden müsse". Deshalb hat auch Fritz Werner i n seiner Stellungnahme zu dem Gutachten des Bundesrechnungshofes ausgeführt, daß er in Ansehung der Erfahrungen der vergangenen Jahre die Institution des OBA u. a. aus folgenden Gründen bejahe: 1. Der OBA gebe Hinweise für das Gericht auf übergreifende Zusammenhänge verwaltungspolitischer und wirtschaftlicher A r t i m einzelnen Prozeß. 58 Hier hat der V ö l sehr wertvolles Material beigetragen, das i n einem früheren Verfahren vor etwa 4 Jahren dem Gericht nicht bekannt w a r u n d auch gar nicht bekannt sein konnte, gerade w e i l auf Beklagtenseite eine kommunale Stelle beteiligt war, die von diesem Material nichts wußte.

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2. Er gebe Hinweise für das Gericht, daß zur Erörterung stehende zweifelhafte Rechtsfragen sich bereits i m Stadium der Gesetzgebung zur weiteren Klärung befänden. 3. Er gebe Hinweise für den Gesetz- und Verordnungsgeber, daß bestimmte Fragen besser durch Gesetz oder Verordnung geklärt würden. 4. Endlich wirke er segensreich zur Vermittlung zwischen den Prozeßparteien, insbesondere bei Streitigkeiten zwischen Behörden. 4.34 I n Übereinstimmung m i t Werners damaliger Auffassung möchte ich heute daran festhalten, daß der OBA zwar nicht unbedingt geboten, aber in hohem Maße für die Rechtsfindung nützlich und zweckmäßig ist. Dieselbe Feststellung kann auch hinsichtlich der Länder-Völ getroffen werden. 5 Reformvorschläge Für etwaige Reformen der Vorschriften über den V ö l möchte ich einmal eine Aussage machen für den Fall, daß die VwGO isoliert aufrechterhalten bleibt, und zum andern für den Fall, daß sie mit der FGO und dem SGG gemäß dem Vorschlag des Speyerer Entwurfs 5 7 i n eine neue Kodifikation übergeht. 5.1 Sollte die VwGO für sich allein zu novellieren sein, so wären folgende Vorschläge zu erörtern: 5.11 Die Verpflichtung in § 35 VwGO zur Bestellung eines OBA könnte i n eine Ermächtigung umgewandelt werden. Auf keinen Fall sollte das Institut des V ö l auch für die einzelnen Länder allgemein verbindlich erklärt werden. 5.12 Gegen die Konstruktion des V ö l i n Bayern und Baden-Württemberg sind ernste Bedenken anzumelden. I n beiden Ländern besteht durch die Vermischung zweier Aufgaben die Gefahr, daß der Umbildungsprozeß vom autoritären Staatskontrolleur zum modernen Organ der Rechtspflege nicht so i n Erscheinung t r i t t wie es wünschenswert wäre und bei den V ö l i n den anderen Ländern sowie beim OBA der Fall ist. Sollte man eine zentrale Stelle zur Vertretung des Landes für notwendig halten, so sollte man die Staatsanwaltschaft oder die Landesanwaltschaft getreu ihrem Namen als eine reine Prozeßvertretung des Staates belassen, ihr aber nicht gleichzeitig Aufgaben des zur Objektivität verpflichteten V ö l übertragen. Deshalb wäre anzuregen, die bundesgesetzliche Ermächtigung i n § 36 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu streichen, u m der Gefahr einer Vermischung der beiden Aufgaben von vorherein entgegenzutreten 58 . 57 58

Siehe Fußn. 46. I m Rahmen des Anhörungsverfahrens f ü r die Interessenverbände bei der

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5.2 Sollte die VwGO zu einer gemeinsamen Prozeßordnung für die drei öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten zusammengeschmolzen werden, so darf man § 122 FGO und § 75 SGG nicht außer Betracht lassen, die beide vom Speyerer Entwurf bewußt nicht übernommen worden sind. 5.21 Die Vorschrift des § 122 Abs. 2 FGO 5 9 ist i m Schrifttum damit begründet worden, daß das Beitrittsrecht der obersten Finanzbehörden die beim Bundesverwaltungsgericht bestehende Einrichtung eines OBA ersetze. Dies sollte bei der Beratung einer einheitlichen Prozeßordnung für die öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten nicht übersehen werden. Weiter heißt es, die obersten Finanzbehörden seien aufgrund ihrer M i t wirkung i m Gesetzgebungsverfahren oft i n der Lage, über Erwägungen des Gesetzgebers Auskunft zu geben, die i m Revisionsverfahren wertvolle, dem Gericht sonst nicht zugängliche Hinweise für die Auslegung der streitigen Gesetzesvorschriften vermitteln könnten. Dabei sei es zweckmäßig, daß diese Kenntnisse nicht mittelbar durch die beklagte Finanzbehörde, sondern unmittelbar durch die Zentralbehörden dem Gericht unterbreitet würden. I m § 35 des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Finanzgerichtsbarkeit vom 28. September 1955 (Drucksache 1716) war vorgesehen, daß beim Bundesfinanzhof ein „Bundesfinanzanwalt" bestellt werden kann 6 0 . Nach der Begründung zu diesem Entwurf sollte die tatsächliche Errichtung von der Entwicklung des Bedürfnisses abhängen, jedoch schon von vornherein die Rechtsgrundlage für die Einrichtung geschaffen werden. A u f Vorschlag des Bundesrats ist dann diese Vorschrift über die Bestellung eines Bundesfinanzanwalts gestrichen worden. § 122 FGO scheint m i r kein glücklicher Ersatz zu sein. 5.22 Die Vorschrift des § 75 Abs. 1 Satz 2 SGG 6 1 findet ihre Begründung letztlich darin, daß die Bundesrepublik i m wesentlichen die Kosten der Kriegsopferversorgung trägt; sie wurde eingefügt, um dem Wunsch des Beratung der V w G O i m Bundestag hatte deshalb verständlicherweise der V e r waltungsrechtsausschuß des Deutschen Anwaltsvereins i n seiner Stellungnahme v o m 7. März 1958 zum Regierungsentwurf einer V w G O die Forderung gestellt, durch positiv-rechtliche Regelung die Übertragung der Vertretung von Parteiinteressen auf die V ö l ausdrücklich von Gesetzes wegen zu untersagen. Diesem Vorschlag ist jedoch der Rechtsausschuß nicht gefolgt (vgl. i m einzelnen Schulz-Hardt, a.a.O., S. 43 m i t weiteren Nachweisen). 59 § 122 Abs. 2 FGO lautet: Betrifft das Verfahren eine auf Bundesrecht beruhende Abgabe oder eine Rechtsstreitigkeit über Bundesrecht, so k a n n der Bundesminister der Finanzen dem Verfahren beitreten. Betrifft das V e r fahren eine von den Landesfinanzbehörden verwaltete Abgabe oder eine Rechtsstreitigkeit über Landesrecht, so steht dieses Recht auch der zuständigen obersten Landesbehörde zu. Der Senat (des Bundesfinanzhofs) k a n n die zuständigen Stellen zum B e i t r i t t auffordern. M i t ihrem B e i t r i t t erlangt die Behörde die Rechtsstellung eines Beteiligten. 60 Dies scheint i n der Begründung zum Speyerer E n t w u r f S. 186 Abs. 2 übersehen worden zu sein. 61 § 75 Abs. 1 Satz 2 SGG lautet: I n Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung ist die Bundesrepublik Deutschland auf A n t r a g beizuladen.

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Bundesrechnungshofs nach einem „Vertreter des öffentlichen Interesses" wenn auch nicht durch Einführung dieser Institution, so doch praktisch Rechnung zu tragen 6 2 . Auch diese Tatsache dürfte bei den Beratungen einer einheitlichen Prozeßordnung für die drei öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten nicht außer Betracht gelassen werden. 5.23 Die gesetzgeberischen Erwägungen zu § 122 FGO und zu § 75 SGG bieten geradezu Veranlassung, i n einer künftigen einheitlichen Prozeßordnung das Institut des V ö l — wenn auch nicht unter diesem Namen — einheitlich zu ermöglichen. Wegen der i n letzter Zeit oft geforderten sog. Transparenz der Gerichtsorganisation möchte ich zur Diskussion stellen, i n einer gemeinsamen Prozeßordnung der drei öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten das Institut des V ö l vielleicht unter Aufgabe der Bezeichnung einfließen zu lassen i n ein allgemeines Beitrittsrecht des Bundes für solche Fälle, i n denen jetzt der OBA tätig w i r d oder eine Beteiligung des Bundes nach der FGO oder nach dem SGG möglich ist 6 3 . Dabei könnte die derzeitige Konstruktion der Behörde des OBA als Vorbild dienen. Entsprechend müßte ein Beitrittsrecht der Länder in Verwaltungsgerichts- und Finanzgerichtsprozessen unter genauer Festlegung der Voraussetzungen vorgesehen werden 6 4 . 5.24 Die neue Prozeßfigur könnte auch die oben erwähnten Sonder-Völ einschließen, die ja zum größten Teil reine finanzielle Interessen des Bundes vertreten und deshalb fast sämtlich vom Bundesminister der Finanzen bestellt werden.

6 Zusammenfassung Abschließend möchte ich zur Klarstellung bemerken, daß meine Ausführungen nicht als ein ausgesprochenes Plädoyer für den V ö l aufzufassen sind. Ich habe meine Aufgabe, die Vorschriften der VwGO über den V ö l unter dem Stichwort „Bewährung und Reform" zu untersuchen, nicht als unbedingter defensor institutionis V ö l gesehen — eine solche Aufgabe müßte an meiner Stelle wohl besser ein amtierender V ö l übernommen haben —, sondern bin bewußt von einer richterlichen Betrachtungsweise ausgegangen, bei der auch die gegen den V ö l sprechenden Punkte hinreichend aufgezeigt wurden. Deshalb setze ich mich für eine Fortentwicklung des aus heutiger Sicht bewährten Instituts unter nochmaligem Funk62

Peters/Sautter/Wolff, K o m m . ζ. Sozialgerichtsbarkeit, § 75 Fußn. 4. Die Gefahr einer Verletzung des Grundsatzes der prozessualen „Waffengleichheit" sehe ich nicht, zumal schon das ζ. Z. geltende I n s t i t u t der Beiladung den Bürger i n die Lage versetzen kann, sich m i t mehreren potenten Prozeßgegnern auseinandersetzen zu müssen. 84 Hier kommt den Kommissionen, die eine einheitliche Prozeßordnung für die drei öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten vorbereiten, eine dankbare Koordinierungsaufgabe zu. 63

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tionswandel ein, um jedweden Anklang an die frühere Aufgabenstellung aus dem 19. Jahrhundert zu vermeiden. Ziel meiner Ausführungen kann nicht sein, Skeptiker zu überreden, sofort ein Freund des V ö l zu werden. Ich möchte aber die Skeptiker veranlassen, auch die für den V ö l sprechenden Gesichtspunkte gebührend zu berücksichtigen sowie bei einer gerechten Abwägung Verständnis für die Situation i n jenen Ländern aufzubringen, i n denen der V ö l bisher nutzbringend gewirkt hat. Meine Überlegungen fasse ich wie folgt zusammen: 6.1 Der V ö l heutiger Prägung ist i m Vergleich zu der gesetzgeberischen Zielsetzung aus der Zeit seiner Entstehung i m 19. Jahrhundert einem entscheidenden Funktionswandel unterlegen. Nur so ist er i n einem gewaltenteiligen Rechtsstaat vertretbar. Er hat sich schon längst von der ursprünglich mit ihm verknüpften Zielsetzung gelöst und zu einer qualifizierten Einrichtung der Verwaltungsrechtspflege entwickelt. 6.2 Der V ö l hat sich gerade i n den Jahren nach Erlaß der VwGO wegen der großen Objektivität bei Beteiligung an bedeutsamen Verwaltungsprozessen bewährt, vor allem in Verfahren, an denen der Bund oder das Land formell nicht beteiligt ist, wie ζ. B. bei Verwaltungsprozessen gegen Selbstverwaltungskörperschaften. 6.3 Der V ö l ist zwar nicht unbedingt lebensnotwendig für die Verwaltungsrechtspflege, aber i n hohem Maße nützlich und wertvoll zur Bereicherung des Erkenntnismaterials des Verwaltungsgerichts. Dies gilt auf jeden Fall für die Ausgestaltung des Völ, wie er sie beim Bundesverwaltungsgericht sowie i n den Ländern Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz gefunden hat. Es ist nicht zwingend geboten, i n § 35 VwGO den OBA obligatorisch vorzusehen. 6.4 Die i n Bayern und Baden-Württemberg vorgenommene Koppelung der Aufgaben des V ö l m i t denen des Prozeßvertreters des Landes ist abzulehnen. Die Ermächtigung des § 36 Abs. 1 Satz 2 VwGO müßte gestrichen werden. 6.5 Sollte es zu einer Zusammenfassung der Prozeßordnungen der drei öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten kommen, so könnte eine weitere Umwandlung des Instituts des V ö l vorgenommen werden. Zu erwägen wäre, die Mitspracherechte des Bundes und des einzelnen Landes nach § 122 Abs. 2 FGO und § 75 Abs. 1 Satz 2 SGG i n die Reform einzubeziehen sowie das Institut des V ö l unter Aufgabe seiner Bezeichnung abzulösen durch ein für alle drei öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten geltendes Beitrittsrecht des Bundes oder des Landes. I m Interesse der größeren Transparenz könnten auch die Sonder-Völ auf Grund der einzelnen Spezialgesetze, wie ζ. B. der V I A , in diese Lösung einbezogen werden.

Der Vertreter des öffentlichen Interesses ( I I ) Von Konrad Redeker Ich möchte i n meinem Referat mich nicht mit den rechtspolitischen und rechtsdogmatischen Grundlagen der Einrichtung des V ö l befassen. Ich setze sie vielmehr voraus und möchte untersuchen, ob diese Grundlagen i n der Praxis des V ö l und OBA ihre Bestätigung finden. Dabei greife ich die damit gestellte Frage nach Bewährung und einer etwaigen Übernahme dieser Einrichtungen i n eine einheitliche Verfahrensordnung der drei Verwaltungsgerichtsbarkeiten aus der Sicht des Rechtsanwalts auf, der seine Tätigkeit vorwiegend verwaltungsrechtlich ausgerichtet hat. Diese Sicht ist naturgemäß durch die eigene Erfahrung begrenzt. Auch der betont verwaltungsrechtlich arbeitende A n w a l t kann aus eigener Erfahrung nur über einen kleinen Ausschnitt berichten, und es braucht dieser Ausschnitt nicht notwendig signifikant, er kann von Zufälligkeiten beeinflußt sein. Ich habe mich deshalb an mehrere ebenso wie ich i m Verwaltungsrecht arbeitende Anwälte gewandt und sie um Übermittlung ihrer Erfahrungen gebeten. Bleibt auch insoweit der Ausschnitt immer noch eng, so sind auf der anderen Seite die Erfahrungen des Anwalts vielleicht deshalb doch von besonderem Interesse, als er nicht nur den Bürger i m Verwaltungsprozeß vertritt, sondern oft, manchmal sogar i n der Mehrzahl der Fälle, auch die Behörde. Ich möchte dies von m i r beispielsweise für meine Tätigkeit am Bundesverwaltungsgericht wohl annehmen. Es ist also keine einseitige am durch Verwaltungsmaßnahmen betroffenen Bürger orientierte Sicht, aus der zu berichten ist. Die anwesenden V ö l und OBA nehmen es m i r bitte nicht übel, wenn ich gleich vorab feststelle, daß ich von all dem, was theoretisch zur A u f gabe und Bedeutung der Tätigkeit von V ö l und OBA gesagt und geschrieben wird, selbst nur wenig habe bemerken können. Aus der Sicht der oben skizzierten Erfahrungen gesprochen, möchte ich vielmehr folgendes festhalten: 1. Die Beteiligung des V ö l ist nach meinen Erfahrungen weitgehend von Zufälligkeiten abhängig. I n mehreren Verfahren, die grundsätzliche Bedeutung hatten und i n denen nach der üblichen Definition der V ö l hätte erwartet werden müssen, beteiligte er sich nicht. I n anderen Verfahren erschien er, ohne daß die Sach- oder Rechtslage erkennen ließ, warum er sich hier beteiligte. Das gilt besonders für den V ö l Nord-

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rhein-Westfalen, mit dem ich als i n NW praktizierender A n w a l t am stärksten zu tun haben mußte; es gilt aber auch i n Rheinland-Pfalz und, freilich m i t nur ganz geringer eigener Erfahrung, aber bestätigt durch Kollegen, ebenso i n Baden-Württemberg und Bayern, soweit die Staatsanwaltschaft oder Landesanwaltschaft nicht Parteivertreter sind. Die Situation ist hier lediglich, was den OBA betrifft, wohl anders; hier ist seine Beteiligung weitgehend voraussehbar und entspricht dem, wie es Neis in seinem eingehenden Bericht vor etwa zwei Jahren i n DVB1 dargelegt hat. Zwischen den Grundsätzen, nach denen sich die M i t wirkung des V ö l bestimmen soll, und der Praxis seiner Beteiligung bestehen deshalb, soweit ich sehe, erhebliche Divergenzen. Ich verschweige nicht, daß ich, wenn ich Behörden i n schwierigen Sachen zu vertreten hatte, deren Ausgang nicht vorhersehbar war, mehrfach empfohlen habe, sich um die Einschaltung des V ö l zu bemühen. Fast immer ist es dann auch zur Beteiligung gekommen, auch wenn es sich um Einzelfälle — wenn auch von erheblicher Bedeutung — gehandelt hat, also nicht Verfahren von grundsätzlicher Bedeutung mit übergeordneten Interessen in Rede standen. Naturgemäß habe ich diesen Rat nicht ohne Grund gegeben. M i r ging es darum, Unterstützung für die eigene Prozeßposition zu gewinnen. Das führt zur zweiten Feststellung: 2. Ich habe i n den von mir beobachteten Fällen den V ö l nach meiner Erinnerung ausnahmslos nur auf der Seite der Behörde erlebt. Sicher w i r d es Verfahren geben, in denen der V ö l den Standpunkt des Bürgers unterstützt und für seine Rechtsauffassung votiert. Sie werden in allen Darstellungen über die Tätigkeit des V ö l berichtet. Ich habe sie selbst aber noch nicht feststellen können. Deshalb mein Rat an Behörden, sich um die Einschaltung des V ö l zu bemühen. I n allen diesen Fällen hat der V ö l auch die Auffassung der Behörde vertreten, nicht selten freilich m i t neuen rechtlichen oder sachlichen Argumenten. Ich habe den V ö l deshalb umgekehrt auch immer dann, wenn ich den Bürger zu vertreten hatte, als zusätzlichen Gegner empfunden; er war es auch fast regelmäßig. Daß der Mandant dem Auftreten und der Tätigkeit des V ö l mehr oder weniger ohne Verständnis gegenüber steht, bedarf keiner Erörterung. Für ihn war und ist i n der Regel die Verwaltung nunmehr plötzlich mit zwei Parteien am Verfahren beteiligt. Persönlich halte ich diese Erscheinung für den stärksten Einwand gegen die Einrichtung des V ö l überhaupt. Man w i r d einer Prozeßpartei kaum verdeutlichen können, daß der Völ, der zugunsten der Verwaltung sich i m Verfahren ausspricht, i m Grunde gar nicht auf der Seite der Verwaltung stehen soll, sondern nur aus übergeordneten Interessen oder zur Förderung des Gemeinwohls diese Haltung einnimmt. Der Bürger sieht mit dem V ö l auf der

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Gegenseite den Grundsatz der Waffengleichheit verletzt, ein Empfinden, das kaum ausgeräumt werden kann, weil es berechtigt ist. Auch hier muß ich den OBA aus der allgemeinen Darstellung ausklammern. I n einer Reihe von Fällen seiner Beteiligung hat er Rechtsauffassungen dargelegt, die der des Bürgers entsprachen. Dabei war er aber sehr oft ausdrücklich nur an einzelnen Rechtsfragen interessiert, beschränkte sich deshalb auf die Darstellung seiner Meinung zu dieser Frage, die nicht notwendig entscheidungserheblich war, so daß der Bürger den Nutzen dieses Votums oft nicht durchschaute. Bei den V ö l habe ich solche Beschränkung übrigens nur selten erlebt. 3. Der Verwaltungsprozeß w i r f t oft schwierige Rechtsfragen auf. Es ist deshalb nicht selten für alle Beteiligten nützlich, daß zu diesen Rechtsfragen außer von den Hauptbeteiligten und gegebenenfalls den gerichtlichen Vorinstanzen noch weitere Personen ihre Auffassung darlegen. Man könnte vermutlich auch für manche Verfahren mit der Einholung von Rechtsgutachten manchen interessanten neuen Gesichtspunkt zur Lösung der offenen Rechtsfragen gewinnen. Aufgabe des V ö l oder des OBA soll es aber sicher nicht sein, i n solcher Weise als eine A r t zusätzlicher Rechtsgutachter zur Rechtsfindung beizutragen. Denn die hergebrachten Vorstellungen weisen i h m eine andere, zugleich weitere wie engere Aufgabe zu. Sein Ziel soll die Wahrnehmung des Gemeinwohls i n der Darstellung der staats- und verwaltungspolitischen Interessen der Staatsregierung an der Fallentscheidung des Gerichts sein, wenn ich diese Definition i n einer j ü n geren Dissertation von Schulz-Hardt aufgreife, die erkennbar von den Vorstellungen des V ö l Schleswig-Holstein stark beeinflußt ist. Ä h n liche Definitionen finden sich i n allen Darstellungen über den V ö l und OBA. Ich muß aber sagen, daß ich von dieser Aufgabenstellung i n der Praxis kaum etwas festgestellt habe. Ich könnte mir vorstellen, daß die Darstellung der rechts- und sozialpolitischen, möglich aber auch der staats- und verwaltungspolitischen Hintergründe und Auswirkungen bestimmter gesetzlicher Regelungen oder einer bestimmten Rechtsprechung die Rechtsfindung fördern und beeinflussen könnte. Denn ohne die Kenntnis dieser Hintergründe und Auswirkungen könnte die Rechtsprechung blutleer sein und sich zum juristischen Glasperlenspiel entwickeln, eine Gefahr, die w i r heute doch besonders deutlich sehen. Ich lasse ganz offen, ob es nicht an sich selbstverständliche Aufgabe des Richters ist, sich mit diesen Hintergründen und Auswirkungen zu befassen. Persönlich möchte ich dies m i t Nachdruck bejahen. Vom V ö l habe ich bisher auf jeden Fall Sachvortrag in dieser Richtung nicht gehört. Wenn er sich nicht mehr oder weniger als Prozeßpartei geriert hat, beschränkten sich seine Darlegungen auf die 9

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Ergänzung der rechtlichen Argumente, allenfalls unter betonter Heranziehung der Entstehungsgeschichte einer Norm. Sicher waren die Ausführungen oft von hohem Niveau und ergaben nicht selten neue und nicht unerhebliche Gesichtspunkte. Aber daß hierdurch das Gemeinwohl wahrgenommen oder ein übergeordnetes öffentliches Interesse gefördert worden wäre, entspricht nicht meinen Beobachtungen. Es war immer die Ergänzung rechtlicher Betrachtungen, wie sie meist schon von den Verfahrensbeteiligten vorgetragen worden waren. Die viel zitierte, oft m i t viel Pathos betonte Rangstufung der öffentlichen Interessen, bei der dem V ö l die Wahrung übergeordneter Interessen gegenüber der Vertretung lokaler öffentlicher Interessen durch die beklagte Verwaltungsbehörde zukommt, habe ich nicht feststellen können. Ich habe starke Zweifel, ob diese Rangstufung i n der Praxis über raumbezogene Maßnahmen hinaus überhaupt nachweisbar ist. Die Postulate an die Tätigkeit des V ö l und des OBA, (Jas theoretische B i l d dieser Einrichtungen, scheinen mir m i t der Wirklichkeit nicht recht i n Einklang zu bringen zu sein. 4. Ich bin persönlich ein Anhänger vergleichsweiser Regelungen. So wie ich bei jedem Mandat bemüht bin, den Rechtsstreit mit seiner Verfahrensdauer und seinen Unwägbarkeiten zu vermeiden und statt dessen m i t der Verwaltung zu akkordieren, so scheint m i r i n einer Vielzahl von Verfahren die vergleichsweise Regelung nicht nur i m Interesse des Bürgers, sondern aller Beteiligten zu liegen. Eine solche Regelung, die auch i n dem Rechtskräftigwerden eines Urteils liegen kann, ist nicht ganz selten am V ö l gescheitert oder mußte gegen seinen Willen durchgesetzt werden. Ich vermag kein übergeordnetes Interesse zu erkennen, auch nicht i m Verwaltungsprozeß, das die Verhinderung der vergleichsweisen Bereinigung des Streites i m Einzelfall fordert. Das Interesse an der Klärung einer grundsätzlichen Frage kann m. E. keinen Vorrang haben. Denn der einzelne Bürger sollte niemals gegen seinen Willen zum Objekt eines solchen Verfahrens gemacht werden können. Bejaht man den Vorrang einer rechtsgrundsätzlichen Entscheidung, so mag ein objektives Verfahren eingeführt werden. Ich bin deshalb auch weiterhin der Meinung, daß der V ö l m i t den Kosten eines von i h m weiterbetriebenen, aber verlorenen Verfahrens i n gleicher Weise belastet werden sollte wie jeder andere Beteiligte. M i r scheint, daß i n dieser Fragestellung die beiderseitigen Auffassungen am klarsten sich abheben. Wer den V ö l als notwendige oder mindestens nützliche Einrichtung zur Wahrung übergeordneter öffentlicher Interessen ansieht, muß einer Prozeßführung u m dieser Interessen w i l l e n gegen den Wunsch einer oder beider Prozeßparteien

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das Wort reden. Ich halte eine solche Prozeßführung aber mit dem B i l d des kontradiktorischen Verfahrens zweier Parteien, wie es auch der Verwaltungsprozeß ist, für unvereinbar. 5. Es gibt Länder m i t V ö l — und solche ohne ihn. Es gibt sogar ein OVG — Lüneburg — das zugleich für ein Land mit V ö l — SchleswigHolstein — und ein Land ohne V ö l — Niedersachsen — zuständig ist. Ich habe i n Gesprächen mit i n Lüneburg tätigen Kollegen, aber auch m i t Richtern des OVG von keiner Seite gehört, daß das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein des V ö l i n irgendeiner Weise in der Rechtsprechung des Gerichts spürbar wird, diese Rechtsprechung also positiv oder negativ beeinflußt. Ich habe selbst bei Verhandlungen vor den verschiedenen Gerichten nie das Gefühl gehabt, daß i n einem Land oder Stadtstaat ohne V ö l die Rechtsprechung Mängel leidet. Ebensowenig vermittelt ein Blick i n die Rechtsprechung ein solches Gefühl. I m Grunde t r i t t dafür der V ö l freilich auch außerhalb der beiden süddeutschen Länder viel zu selten auf. Ob der OBA auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Einfluß ausübt, kann ich aus eigenen Erfahrungen nicht feststellen. Die Belege, die hierfür Neis gegeben hat, scheinen mir nicht zwingend. Wenn das Bundesverwaltungsgericht i n etwa 80 °/o der Beteiligungsfälle des OBA dessen rechtlicher Meinung gefolgt ist, so sagt dies naturgemäß nichts darüber, ob das Bundesverwaltungsgericht in diesen 80 % ohne die Beteiligung des OBA nicht i n gleichem Sinne entschieden hätte. M i r scheinen solche Erfolgsquoten ähnlich unergiebig wie solche anwaltlicher Tätigkeit. Richtig ist sicher, daß das Bundesverwaltungsgericht nicht selten die Rechtsansicht der Prozeßparteien nur i m Sachverhalt wiedergibt, die Rechtsauffassung des OBA dagegen i n der einen oder anderen Form i n den Entscheidungsgründen erwähnt. Aber ob es sich dabei nicht nur um einen A k t der Höflichkeit gegenüber der nun einmal kraft Gesetzes beim Bundesverwaltungsgericht eingerichteten Oberbundesanwaltschaft handelt, w i r d man wohl offen lassen müssen. Meine eigenen, statistisch naturgemäß nur geringeren Erfahrungen mit dem Auftreten des OBA beim Bundesverwaltungsgericht geben kein sicheres Bild. 6. Die eigenen Erfahrungen m i t Staatsanwaltschaft und Landesanwaltschaft i n Bayern und Baden-Württemberg sind so gering, daß sie nur singulären Charakter haben. Immer dann, wenn ich es m i t dem Land zu tun hatte, Staats- oder Landesanwaltschaft also als Parteivertreter erschienen, beschränkte sich ihre Tätigkeit darauf, i m Schriftsatz nach einem Einleitungssatz die Stellungnahme des zuständigen Landesministeriums wiederzugeben. Ô»

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Konkrete Zahlen, die m i r aus Baden-Württemberg für das Jahr 1968 zur Verfügung stehen, zeigen folgendes Bild: V G Freiburg:

Unterrichtung der Landesanwaltschaft von insgesamt 960 anhängigen Fällen. Hiervon waren 447 Vertretungsfälle, so daß für eine Beteiligung als eigentlicher V ö l 513 Fälle verblieben. Es wurde i n 42 Fällen die Beteiligung erklärt, also in knapp 9 °/o der Fälle.

V G Stuttgart:

Unterrichtung der Landesanwaltschaft von insgesamt 2816 Fällen. Hiervon waren 709 Landessachen. Von den verbleibenden 2107 Fällen hat sich die Landesanwaltschaft an 9 Verfahren beteiligt, also an nicht einmal 0,5 °/o.

V G H Mannheim: Unterrichtung der dortigen Landesanwaltschaft über 965 Verfahren. Davon waren 517 Landessachen. Es verblieben 438 Fälle für die Beteiligung als eigentlicher Völ. Hiervon ist die Beteiligung i n 17 Fällen, also i n knapp 3 °/o, erklärt worden. Man w i r d aus diesen Zahlen schließen können, daß die eigentliche und wohl einzig legitime Aufgabe des Völ, die Beteiligung zur Wahrung übergeordneter öffentlicher Interessen, i n Bayern und BadenWürttemberg sich i n ähnlicher Weise bewegen würde, wenn es nicht die gesetzliche Aufgabe der Vertretung des Landes geben würde. Über diese Vertretung habe ich hier nicht zu sprechen, weil sie m i t der Tätigkeit eines V ö l nichts zu tun hat, sondern ihr widerspricht. Es ist nicht ohne Interesse, daß mir von einem Kollegen mit umfangreicher anwaltlicher Praxis vor den Verwaltungsgerichten i m süddeutschen Raum aus eigener Erfahrung mitgeteilt worden ist, die Vermengung der Parteivertretung m i t den Aufgaben des V ö l führe dazu, i m Beteiligungsverfahren überwiegend den Standpunkt zu vertreten, der für anhängige oder künftige Vertretungssachen am geeignetsten erscheine. Das ist nicht als Vorwurf gemeint; m i r scheint dies vielmehr ganz selbstverständlich zu sein. M i t den üblichen dogmatischen und theoretischen Ausführungen über die Besonderheit der Stellung des V ö l in den süddeutschen Ländern w i r d man freilich diese Erscheinung nicht wegdiskutieren können. Man kann eben nicht von dem gleichen Landesanwalt verlangen, i n einem Beteiligungsverfahren einen Standpunkt zu vertreten, der seinen Ausführungen in einem bereits anhängigen Vertretungsverfahren widerspricht. Die Idee einer einheitlichen Prozeßvertretung des Landes vor den Verwaltungsgerichten hat vieles für sich, so wie es i n der Praxis überaus nützlich ist, wenn ein großes Ministerium seine Rechtsstreitig-

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keiten einheitlich durch ein Prozeßreferat und nicht durch die jeweiligen Abteilungsjuristen bearbeiten läßt. Den süddeutschen Wunsch nach einer solchen einheitlichen Prozeßvertretung halte ich für durchaus verständlich. Nur scheint er m i r mit der Aufgabe und Funktion des V ö l nicht i n unmittelbarem Zusammenhang zu stehen. Ebensowenig bedarf es hierfür einer Normierung in der Verwaltungsgerichtsordnung noch überhaupt einer gesetzlichen Fixierung. Es handelt sich um eine organisatorische Regelung, die durch entsprechende Organisationsvorschriften erfolgen kann. Ob man die Prozeßvertretung dabei i n einer Behörde verselbständigt und mit eigenen Amtsbezeichnungen versieht, würde ich als eine reine Frage der Zweckmäßigkeit ansehen. Das Bild, das ich aus der anwaltlichen, aber auch aus der Erfahrung desjenigen gezeichnet habe, der sich für den Verwaltungsprozeß interessiert, ist also, faßt man die vorstehenden Feststellungen zusammen, weitgehend negativ und kann nur zu dem Ergebnis führen, daß ich kein zwingendes Bedürfnis für die Beibehaltung der Institution des V ö l zu erkennen vermag. Dabei habe ich hier ganz bewußt die rechtspolitischen und rechtsdogmatischen Überlegungen für diese Institution nicht i n Zweifel gezogen, sondern unterstellt. Sie sind Gegenstand einer Reihe von Aufsätzen und Monographien und allgemein bekannt. M i t Begriffen wie Gemeinwohl und übergeordnetem öffentlichen Interesse läßt sich trefflich streiten und naturgemäß viel begründen. Meine Bedenken, hierauf eine besondere Prozeßinstitution zu gründen, w i l l ich hier nicht ausbreiten. Ich übersehe auch gar nicht, daß die Befürworter des V ö l und des OBA seine gegenwärtigen Erscheinungsformen selbst für unzulänglich halten und ihr Engagement für die Einrichtung an einem B i l d orientieren, das die Unzulänglichkeiten nicht aufweist. Ich habe aber den Eindruck, daß w i r es aufgeben sollten, auf die Verwirklichung dieses Bildes zu warten. Der moderne Verwaltungsprozeß geht inzwischen i n sein drittes Jahrzehnt, die VwGO ist 10 Jahre alt. Wenn i n dieser Zeit der Völ, sieht man von der baden-württembergischen und bayerischen Sonderstellung ab, überhaupt nur noch i n Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein sich erhalten hat und wenn er auch dort nur ein Schattendasein führt, ausgeübt von Beamten i m Nebenamt, nur i n seltenen Fällen, dabei meist von Zufälligkeiten abhängig, am Verfahren beteiligt, dann sollten w i r uns m i t diesem Erscheinungsbild befassen und fragen, ob ein V ö l dieser A r t nützlich ist und ob — niemand w i r d ihn jetzt abschaffen wollen und können — es sinnvoll wäre, ihn in eine einheitliche Verfahrensordnung für die Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichte zu übernehmen.

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Konrad Redeker

I m Speyerer Entwurf hat man die §§ 35 und 36 der VwGO zunächst übernommen. I n der Begründung sind aber Zweifel daran laut geworden, ob dies wirklich sinnvoll ist. Die Übernahme des Instituts auf den Sozial- und Finanzgerichtsprozeß wird, soweit ich sehe, nirgends gefordert. Beide Verfahren beschränken sich auf das Beitrittsrecht bestimmter Bundes- oder Landesbehörden unter bestimmten Voraussetzungen, also die Beteiligung am Verfahrensausgang interessierter Verwaltungsbehörden, eine ganz andere Beteiligung als die des V ö l oder OBA. Es stellt sich notwendig die Frage, warum i n diesen beiden Verfahren nicht ebenfalls übergeordnete öffentliche Interessen den V ö l fordern. Gerade das sozialgerichtliche Verfahren müßte mit den oft weittragenden Folgen der Einzelfallentscheidung für Bürger und Verwaltung eine Domäne für die Tätigkeit eines V ö l sein. Die Tatsache, daß seine Einrichtung von niemandem verlangt wird, scheint m i r dem B i l d der gegenwärtigen Situation des V ö l i m Verwaltungsprozeß zu entsprechen. Die kommende Vereinheitlichung der Verwaltungsprozeßordnungen sollte alle überflüssigen Unterschiede zwischen den einzelnen Prozeßformen vermeiden. Ein solcher überflüssiger Unterschied wäre die Beibehaltung des V ö l und OBA i m Bereich des bisherigen Verwaltungsprozesses. Ich verneine deshalb die Frage, ob die Institution des V ö l und OBA i n eine einheitliche Verfahrensordnung übernommen werden sollte und meine, die doch jetzt schon spürbare Lustlosigkeit i n der Entwicklung der letzten 20 Jahre bestätigt diese meine Auffassung. Die Gründe ergeben sich aus meinem Erfahrungsbericht. Diese Erfahrungen geben naturgemäß nur Symptome wieder. Ihren realen Grund finden diese Symptome darin, daß der moderne Verwaltungsprozeß ein echtes kontradiktorisches Verfahren geworden ist, der V ö l aber ein Relikt aus einer Zeit ist, i n der der verwaltende Staat nicht bereit war, sich i n einem solchen kontradiktorischen Verfahren dem Bürger zu stellen und deshalb in dem V ö l i n seinen verschiedenen Erscheinungsformen sich eine A r t Sonderrolle i m Verfahren vorbehielt. I m Grunde bestimmt diese Vorstellung auch heute noch die Institution und macht sie damit zu einem Fremdkörper i m Verfahren. Eine Zukunft könnte der V ö l meines Erachtens allenfalls in der Gestalt haben, wie sie der Generalanwalt i m Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof i n Luxemburg hat und von dem französischen Commissaire du Gouvernement hergeleitet ist. Aber Verfahrens- und Arbeitsweise dieses Gerichtshofs und ebenso auch der Generalanwälte sind so anders geartet, daß eine Übernahme dieser Einrichtung für den alltäglichen Verwaltungsprozeß der Leistungsverwaltung wohl nicht i n Frage kommt. I n seiner heutigen Gestalt scheinen m i r V ö l und OBA überflüssig zu sein.

Aussprache zu den Referaten von Gerhard Meyer-Hentschel und Konrad Redeker Bericht von Volker Heydt Die Aussprache wurde mit einem vorbereiteten Diskussionsbeitrag von Oberlandesanwalt Dr. Presting, Mannheim, der hauptamtlich und ausschließlich die Funktionen eines V ö l wahrnimmt, eingeleitet. Er wies darauf hin, daß es mangels einer gültigen rechtsdogmatischen Begründung der Institution des V ö l keine Diskrepanz zwischen einer solchen und dem tatsächlichen Erscheinungsbild des V ö l geben könne. Wenn man, wie es Schulz-Hardt i n seinem Buch mit Recht getan habe*, rechtspolitische Gründe für den V ö l i n den Vordergrund stelle, so dürfe man vom V ö l gleichwohl nicht erwarten, daß er das Gemeininteresse umfassend wahrnehme; damit sei er überfordert. Die Wahrung des Gemeinwohls sei Aufgabe aller staatlichen Organe, selbst ein Rechtsanwalt, der eine kontroverse Rechtsfrage einer höchstrichterlichen Entscheidung zuführe, handele durchaus i m öffentlichen Interesse. Allerdings sei der V ö l auch nicht lediglich mit ergänzenden Rechtsausführungen am Prozeß beteiligt. Er solle, wo immer es nötig sei, das öffentliche Interesse wohlbegründet geltend machen, so ζ. B. wenn eine i m Streit zwischen einzelnen Studenten und der Studentenschaft beigeladene Universität sich nicht äußern wolle, weil ihr der Prozeßstoff heikel sei, etwa wenn Gelder für Schriften ausgegeben würden, m i t denen die Kirchen angepöbelt würden, oder wenn es um das Problem des politischen Mandats gehe. Die Landesanwaltschaft in Baden-Württemberg nehme die ihr auch obliegende Prozeßvertretung des Landes mit möglichster Objektivität und Distanz gegenüber der Verwaltungsbehörde wahr, als V ö l lasse sie sich überhaupt nur von dem öffentlichen Interesse leiten. Als V ö l stellten die Landesanwälte i n der Regel keine Anträge, eines ihrer dringendsten Anliegen sei, Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung möglichst bis vor das Bundesverwaltungsgericht zu bringen. Wenn Redeker das als dem kontradiktorischen Verfahren widersprechend ablehne, so sei die Situation nicht anders als bei selbständigen Rechtsmitteln von Beigeladenen. Auf das Referat von Meyer-Hentschel eingehend, hob Presting hervor, daß es zwar nützlich sei, wenn der V ö l dem Gericht umfangreiches Fak* H. J. Schulz-Hardt, Der allgemeine Vertreter des öffentlichen Interesses in der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit, Diss. K i e l 1968.

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Bericht von Volker Heydt

tenmaterial vorlegen könne; seine primäre Aufgabe sei jedoch die Vertretung der öffentlichen Interessen. Die Zusammenfassung von Prozeßvertretung des Landes und Vertretung des öffentlichen Interesses i n einer Behörde sei nicht anders zu beurteilen als die Bündelung verschiedener Funktionen bei der Staatsanwaltschaft, die Ermittlungsbehörde, Anklagebehörde, Strafvollstreckungsbehörde und Klagebehörde in Ehe- und Familiensachen sei, woran auch niemand Anstoß nehme. I m übrigen würden die beiden Funktionen peinlich genau voneinander getrennt. Ltd. Ministerialrat Vogel, Düsseldorf, einer der drei nebenamtlichen V ö l beim OVG Münster, setzte sich ebenfalls für die Beibehaltung der Institution ein. Er machte deutlich, daß er dabei weder um seine Planstelle noch seine Existenzberechtigung kämpfe, denn die Vertretung des öffentlichen Interesses sei nur eines von den ihm insgesamt obliegenden 17 Aufgabengebieten. Allerdings sei i h m diese Aufgabe mit die liebste; es sei manchmal sogar beglückend, sich als Ombudsman einsetzen zu können. Es sei unrichtig, daß der V ö l i n Münster sich nur für die Behörde gegen den Bürger einsetze; ζ. B. sei die Tätigkeit des V ö l i m Grundsatzprozeß über das Zulassungssystem für Taxiunternehmen nach § 13 Personenbeförderungsgesetz dem Bürger zugute gekommen, als der Völ zum Kummer des Wirtschaftsministeriums das ganze System in Frage gestellt habe. Vogel berichtete von den sehr positiven Erfahrungen mit den nebenamtlichen Völ, weil diese mit einem Bein noch i n der Verwaltung stünden und so über ein aktuelles Hintergrundwissen verfügten, das ihnen als V ö l sehr zustatten komme. Anders als es i n K i e l üblich zu sein scheine, bekomme der V ö l i n Nordrhein-Westfalen jede Berufung vorgelegt und wähle daraus die interessantesten Fälle aus. Wenn gesagt worden sei, daß der V ö l auch die Kosten für eigene Anträge tragen müsse, so sei das in Nordrhein-Westfalen durchaus der Fall. Manchmal werde sogar i n Absprache m i t einer Gemeinde vom V ö l Rechtsmittel eingelegt, damit die Gemeinde des Kostenrisikos enthoben sei. Aufgabe des V ö l sei es auch, Anregungen an den Gesetzgeber zu geben. Leider vergeblich habe der V ö l schon vor Jahren eine Änderung des Vergnügungsteuergesetzes angeregt; die Tausende von Automatenprozessen brauchten nicht geführt zu werden. Der Satz „iura novit curia" sei heute wohl mehr Programmvorschrift als Befund, und so schade es keinem Richter, von einer nicht eben betriebsblinden Stelle eventuell weitere rechtliche Erwägungen zu hören. Insgesamt erfülle der V ö l eine Funktion, auf die i m Interesse der Entwicklung der Rechtsprechung nicht verzichtet werden sollte.

Aussprache zu den Referaten von G. Meyer-Hentschel u n d K . Redeker 137

Oberverwaltungsgerichtsvizepräsident Meyer, Lüneburg, stellte richtig, daß i n Schleswig-Holstein der V ö l i n einer ganzen Gruppe von Streitigkeiten, die uninteressant seien, global auf Beteiligung verzichtet habe, i n allen anderen Fällen aber formularmäßig zum Beitritt aufgefordert werde. Außerdem gebe es Fälle, i n denen der Gerichtsvorsitzende die Beteiligung des V ö l wünsche und dies zum Ausdruck bringe; das komme ζ. B. vor, wenn gegen eine kleine ehrenamtlich verwaltete Gemeinde eine bedeutsame Rechtsfrage abgehandelt werde. Auch der — nebenamtliche — V ö l des Landes Rheinland-Pfalz, Ltd. M i nisterialrat Dr. Fischer, Mainz, vertrat die Auffassung, daß die Institution des V ö l zwar nicht notwendig, wohl aber nützlich sei, um zusätzlich Rechtsausführungen und Überlegungen in den Prozeß einzuführen, die i m Urteil der ersten Instanz unberücksichtigt geblieben seien. Auf die K r i t i k Redeker s eingehend führte Fischer aus: I n RheinlandPfalz werde der V ö l von jeder Berufung unterrichtet, beteilige sich jedoch unter Berücksichtigung der beschränkten Arbeitskraft nur an etwa 12 Prozessen jährlich, die als grundsätzlich bedeutsam erachtet würden. Er trete keineswegs nur auf Seiten der Behörden auf. Zwar vertrete der V ö l in der Mehrzahl der Fälle den gleichen Rechtsstandpunkt wie die Verwaltung, doch das beruhe allein darauf, daß die Verwaltung überwiegend rechtlich zutreffend argumentiere. Es gebe aber auch andere Fälle. Unter den etwa 10 ihm seit Jahresbeginn zugestellten Entscheidungen in Verfahren, an denen er beteiligt gewesen sei, hätten sich ζ. B. sechs befunden, i n denen er die Rechtsauffassung der Verwaltung als rechtswidrig bezeichnet habe. Der V ö l in Rheinland-Pfalz behindere auch weder Prozeßvergleiche noch die Rücknahme von Rechtsmitteln, da er niemals Anträge stelle. Regierungsrat Dr. Schulz-Hardt, Kiel, rechtfertigte die Institution des Völ, indem er meinte, zur Kontrolle stünden Staatsakte, hinter denen sich das Interesse der Allgemeinheit oder übergeordnete Gemeinwohlinteressen verbärgen. A u f die Thesen Redeker s entgegnete er: Die beklagte Verwaltungsbehörde sei de facto nicht i n der Lage, die übergeordneten Gemeinwohlinteressen dem Gericht zu unterbreiten, denn i n der Regel handele es sich um Unterbehörden oder Gemeinden, denen die zur Prozeßwahrnehmung erforderlichen qualifizierten Beamten fehlten. I m Prozeß sei die Verwaltungsbehörde gewissermaßen von Amts wegen subjektiv, vertrete oft ganz begrenzte Eigeninteressen und denke nur an das Schicksal ihres eigenen Prozesses, ohne übergeordnete öffentliche Interessen hinreichend zu berücksichtigen. Sie sei auch nicht i n der Lage, das Hintergrundwissen zu unterbreiten und etwa die finanziellen Auswirkungen darzulegen.

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Außer der spezifischen Beteiligung am Prozeß entfalte der V ö l i n Schleswig-Holstein eine umfängliche verwaltungsbezogene Tätigkeit. Insbesondere sei seine Beratungsfunktion und seine Vermittlungsfunktion herauszustellen. Zudem könne der V ö l ein Korrektiv zu dem beklagten Mangel an Verwaltungserfahrung der Richter darstellen. Der Blick auf den französischen Staatsrat und auf den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften m i t ihren Generalanwälten und zu den deutschen Staatsanwälten i n Ehe- und Kindschaftsverfahren lasse unverständlich erscheinen, weshalb der V ö l so sehr i n Zweifel gezogen werde, wo doch diese verwandten Institutionen unangefochten dastünden. Schleswig-Holstein sei 1960 bereit gewesen, den V ö l abzuschaffen; auf die Intervention des zuständigen Chefpräsidenten hin sei die Landesregierung anderen Sinnes geworden. Schulz-Hardt bedauerte das nur halbe Ja des Gesetzgebers zum Völ. Er faßte seine Bemerkungen wie folgt zusammen: Es sei befremdlich, daß der V ö l zur Rechtsbeeinflussungsbehörde gestempelt werde, wohingegen die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die auch einst mit der Verwaltung unter einem Dach gewohnt habe, von solchen Vorwürfen frei sei. Der V ö l sei keine Wunderdroge, aber doch ein nützliches Hilfsmittel bei der Rechtsfindung. A u f ihn passe das Sprichwort „Mehr sein als scheinen". Professor Dr. Ule, Speyer, erhob Einwände gegen den Vergleich mit dem Regierungskommissar des französischen Rechts und dem Generalanwalt des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften. Diese hätten in der einstufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit gewissermaßen die Funktion einer Vorinstanz, die bei unserer dreistufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit m i t einem ζ. T. erheblich ausgebauten Verwaltungsvorverfahren entfalle. Bundesrichter Dr. Paul, Berlin, nannte den Begriff des öffentlichen Interesses einen Formalbegriff wie Treu und Glauben und gute Sitten. I n einem pluralistischen Staat gebe es verschiedene legitime Interessen, die alle öffentlicher Natur seien, etwa die fehlerfreie Rechtsschutzgewährung für den Bürger, das Interesse der Gemeinden i n ihrer Abgrenzung gegenüber dem Land, Landesinteresse, Bundesinteresse. Diese Interessen könnten i n Widerstreit treten; zu ihrer Abwägung bedürfe es häufig eines Mannes wie des Völ. Auch Fritz Werner habe nach ursprünglichem Zögern die Institution des V ö l auf Grund seiner Erfahrung beim Bundesverwaltungsgericht bejaht. Der V ö l eröffne eine Möglichkeit; ob sie genutzt werde, hänge von der Persönlichkeit der Amtsinhaber ab. Die Janusköpfigkeit der Generalstaatsanwaltschaft i n Bayern und der Landesanwaltschaft i n Baden-Württemberg rechtfertigte Paul damit, daß es sicher besser sei, wenn ein von der eigentlichen Verwaltung sich ab-

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hebender V ö l die Prozeßvertretung wahrnehme, als wenn eine reine Vertretung des Behördeninteresses eingerichtet würde. Anknüpfend an die Diskussion des Vortrages Schloß Paul m i t der von i h m so bezeichneten polemischen Gegenthese, daß der V ö l jedenfalls so lange nicht abgeschafft werden sollte, als nicht der Ballast der Laienrichter über Bord geworfen sei. Nach Ansicht von Oberverwaltungsgerichtsrat Feige, Kassel, haben die beiden Referenten lediglich ein i n sich überzeugendes Glaubensbekenntnis geliefert, jedoch keine Rechtsüberzeugung vermitteln können. Als Gegenbeispiel zu der von Redeker beklagten Vertretung lediglich der Interessen der Bundesverwaltung nannte er die Intervention des Oberbundesanwaltes gegen die Bundesverwaltung (unter Einschluß eines Hinweises auf evtl. Regreßnahme), als diese entgegen Art. 11 GG und einer eindeutigen höchstrichterlichen Rechtsprechung immer wieder zurückhaltend mit der Notaufnahme von Flüchtlingen gewesen sei. Andererseits werde die große Befriedigungsmöglichkeit, die der OBA habe, oft ungenutzt gelassen; ζ. B. hätte die Kündigung eines Schwerbeschädigten das Bundesverwaltungsgericht nicht i n zwei Rechtsgängen beschäftigen dürfen, sondern es hätten andere Wege gefunden werden müssen. I m Bereich des Wirtschaftsverwaltungsrechts sei ein stärkeres Engagement des OBA zu wünschen. I n einem Prozeß, der die Folgen eines Embargos betroffen habe, habe der OBA tiefgründige Ausführungen zu § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO gemacht, wozu es bereits eine breite Literatur gebe, zum Sachproblem habe er jedoch geschwiegen. Sowohl OBA als auch die V ö l der Länder schienen sich nur mit Verfahren der Behörden des Bundes bzw. ihres Landes zu befassen. Eine genaue Analyse fehle allerdings. Bundesrichter Dr. Sieveking, Berlin, erhob Bedenken gegen die vorgeschlagene Übernahme der Funktion des Vertreters der Interessen des Ausgleichsfonds durch den Völ. Der V I A sei ein Beauftragter für die Durchführung des Lastenausgleichs, ein Ombudsman auf einem Spezialgebiet. Er habe lediglich für die richtige Verteilung der Fondsmittel zu sorgen, während alle anderen öffentlichen Interessen i m Lastenausgleichsverfahren überhaupt nichts zu suchen hätten. Die Beteiligung des V I A sei nicht nur nützlich, sondern sogar notwendig. Sie bilde das Korrelat zur Laienbeteiligung i m Vorverfahren, und schließlich sei der V I A der einzige auf der Behördenseite, der Revision einlegen könne. I n seinem aus terminlichen Gründen vorgezogenen Schlußwort konstatierte Rechtsanwalt Dr. Redeker, Bonn, daß eine Vielfalt von A u f gaben des V ö l zum Vorschein gekommen sei, während die eigentliche

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Aufgabe, die der V ö l nach der Literatur und auch den Selbstbekenntnissen haben solle, dahinter verblaßt sei. Wenn kleine Gemeinden Prozeßvertreter benötigten, so könne man ein Fiskalat schaffen, das alle öffentlichen Einrichtungen vertrete. Man müsse dann aber auch an den Bürger denken und diesem ebenfalls Prozeßvertreter stellen. Redeker lehnte die Parallele zwischen Beigeladenen und V ö l ab. Der Beigeladene sei beteiligt, weil seine rechtlichen Interessen berührt würden; der V ö l sage aber gerade, keine eigenen Interessen wahrzunehmen. Man könne allerdings daran denken, dem V ö l die Stellung eines Beigeladenen zu geben mit der Konsequenz, daß er Prozeßpartei mit den Rechten und Pflichten einer solchen sei. Als leidenschaftlicher Anhänger des Ombudsmans hielt Redeker es für ausgeschlossen,, daß OBA und V ö l dessen Funktionen wahrnehmen könnten. Die Diskussion habe seine Bedenken gegen die Institution des V ö l nicht beseitigen können. Professor Dr. Knöpfle, Speyer, sprach sich für die süddeutsche Gestaltung des V ö l aus. Durch die Kombination von Prozeßvertretung und V ö l sei eine umfassende Information der Exekutive über das gesamte Tatsachenmaterial, das sich i m Schöße der Verwaltungsgerichtsbarkeit ansammle, möglich, ohne daß erst ein kompliziertes Berichtssystem aufgebaut werden müsse. Das Studium der Entscheidungssammlungen reiche nicht aus, da ein Großteil der Streitfälle außergerichtlich verglichen werde. Da die Totalauswertung des Materials der Verwaltungsgerichtsbarkeit ein innenpolitisches Kompendium von höchstem Wert darstelle, sei der Bericht des Generalstaatsanwaltes eines der interessantesten Dokumente für den bayerischen Ministerpräsidenten. Der V ö l in Verbindung mit dem Staatsvertreter sei ein idealer Gesprächspartner für das Gericht. Bei dem derzeitigen verwaltungsrechtlichen Ausbildungsstand der Rechtsanwälte könne der V ö l nicht leicht ersetzt werden. Allerdings sei eine Zusammenfassung der Völ-Aufgaben nach Sachgebieten bei einer Stelle geboten, denn ein nebenamtlicher Staatsanwalt könne nicht das gesamte öffentliche Recht bearbeiten. Oberverwaltungsgerichtspräsident Dr. Meyer-Hentschel, Koblenz, ging in seinem Schlußwort auf den Gesichtspunkt der Waffengleichheit ein und betonte seine Verpflichtung als Richter, auf das Gleichgewicht der Parteien zu achten. Doch sei die Waffengleichheit nie chemisch rein durchzuführen. Es könne ja auch vorkommen, daß die Behörde einen schwachen Vertreter habe und der Bürger einen qualifizierten Anwalt. Das Beitrittsrecht des V ö l bezeichnete Meyer-Hentschel als eine modifizierte Beiladung. I m Rahmen der Neunerkommission für die öffentlichrechtlichen Gerichtsbarkeiten, die sich mit dem Speyerer Entwurf befasse, hätten sich auch die Vertreter der Finanzgerichtsbarkeit dafür ausgesprochen; ebenso seien die Sozialgerichtspräsidenten interessiert.

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Entgegen der Meinung Sievekings sei der V I A ein echter Völ, der ja auch nicht der Verwaltung allein, sondern ebenso dem Bürger dienen solle. Zusammenfassend bekannte Meyer-Hentschel sich zur Institution des V ö l und betonte, daß das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz sehr oft m i t großem Interesse die Ausführungen des V ö l zur Kenntnis nehme.

Die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle (I) Von Klaus Obermayer Die Komplexität des Themas beruht auf der Tatsache, daß es i n besonderem Maße von der Interdependenz zwischen Verfahrensrecht und materiellem Recht beherrscht wird. Die untergesetzliche Norm — deren Überprüfung die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle zu dienen hat — ist eine Zentralfigur des allgemeinen Verwaltungsrechts, dessen Institutionen von den Prinzipien der Verfassung ständig herausgefordert, i n Frage gestellt und weiter geformt werden. So ist es verständlich, daß die Erörterung der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle Kernprobleme der gegenwärtigen Jurisprudenz, insbesondere der Wissenschaft vom öffentlichen Recht und der allgemeinen Rechtslehre, berühren muß. I m Vordergrund steht die Frage nach der Auslegung der Verfassung, nach der Möglichkeit ihrer Fortbildung auf Grund neuer Erkenntnisse, neuer Fakten, neuen Rechts, nach ihrer statischen und dynamischen Funktion. Bei der Beantwortung dieser Frage gilt es dann auch, die Prämissen zur Bewältigung rechtlicher Phänomene ins Bewußtsein zu rufen und vor allem das Verhältnis von logischer Begriffsbildung und normativer Wertung deutlich zu machen. Die Erörterung des Themas w i r d sich i n drei Teile gliedern. I m ersten Teil möchte ich zur Funktion der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle i n unserer Rechtsordnung Stellung nehmen (I). Der zweite Teil ist der Auslegung des § 47 VwGO gewidmet (II). I m dritten Teil soll dann die Frage untersucht werden, inwieweit außerhalb der Regelung des § 47 VwGO ein Rechtsschutz gegen Verwaltungsrechtsverordnungen garantiert ist (III). Eine kurze rechtspolitische Betrachtung w i r d das Referat beschließen. Die Fülle der zu behandelnden Probleme zwingt dazu, manche Gedanken nur thesenartig auszubreiten.

I.

Zunächst gilt es, über die Funktion der Verwaltung s gerichtlichen Normenkontrolle i m Gesamtsystem der rechtsprechenden Gewalt Klarheit zu gewinnen.

Die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle (I)

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1. Die amtliche Begründung zum Entwurf einer Verwaltungsgerichtsordnung hat die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle „an sich" der Verfassungsgerichtsbarkeit zugeordnet und ihr die Aufgabe zugewiesen, „durch eine einzige Entscheidung eine Reihe von Einzelklagen zu vermeiden" 1 . Die in § 47 VwGO ausgesprochene Ermächtigung der Landesgesetzgebung sollte — insbesondere i m Hinblick auf die i n den süddeutschen Ländern gemachten „günstigen Erfahrungen" — Zweifel darüber ausschließen, ob die Länder nach Erlaß der Verwaltungsgerichtsordnung noch zur Einführung der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle berechtigt waren. Gleichzeitig sollten „zur Vermeidung von Überschneidungen mit dem Grundgesetz und dem Gesetz über das Bundesverfassungsgericht sowie mit dem Strafrecht bestimmte Grundsätze für den Landesgesetzgeber aufgestellt" werden. Gegenüber diesen Feststellungen erschien der knapp und apodiktisch gehaltene Hinweis auf die Rechtsschutzfunktion i m Interesse des Einzelnen 2 , der das Fehlen der behördlichen Antragsbefugnis verständlich machen sollte 3 , schon an sich wenig überzeugend. Er wurde dann vollends dadurch entwertet, daß der Rechtsausschuß das behördliche Antragsrecht entsprechend der i n den süddeutschen Verwaltungsgerichtsgesetzen enthaltenen Regelung in den Regierungsentwurf aufnahm 4 . So steht fest, daß das Normenkontrollverfahren „primär als ein Beanstandungsverfahren konzipiert" war 5 . 2. Für die aktuelle Bedeutung der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle ist jedoch der Wille des Gesetzgebers nur noch insoweit von Belang, als er gedeckt ist durch die Grundsätze der teleologischen Interpretation, die die Gesamtheit des Rechts, der Rechtsanschauungen und des sozialen Lebens der Gegenwart zu berücksichtigen hat 6 . Nach der Entwicklung, die Recht und Rechtswissenschaft seit dem Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsordnung (im Jahre 1960) — und erst recht seit der Veröffentlichung der amtlichen Begründung (im Jahre 1952) — genommen haben, ist es nicht mehr gestattet, für die Auslegung des § 47 VwGO den Beanstandungsaspekt als maßgeblich anzuerkennen. I n der Rechtswirklichkeit galt die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle sehr bald jedenfalls auch als ein M i t t e l der (vorbeugenden) Rechtskontrolle 7 , das darauf abzielt, durch die allgemein verbindliche 1 Begründung zum E n t w u r f einer Verwaltungsgerichtsordnung, B T - D r u c k sache Nr. 4278 der 1. Wahlperiode (zit. Begründung), S. 36. 2 Begründung, a.a.O. 3 Vgl. Renck, DÖV 64, 6. 4 Schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucksache 1094 der 3. Wahlperiode, S. 6. 5 Maurer, Rechtsschutz gegen Rechtsnormen, i n : Tübinger Festschrift für Eduard Kern, 1968 (zit. Maurer), S. 275 ff. (288). 6 Vgl. Obermayer, N J W 66,1888; vgl. auch Wilken, DVB1. 69, 532. 7 I n der Rechtsprechung hat der B a y V G H bereits 1962 (Beschl. v. 31.10.1962, DVB1. 63, 107 ff. — 110 —) — freilich i n nicht ganz berechtigter Berufung auf

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Klaus Obermayer

Ungültigkeitserklärung einer Norm den Erlaß künftiger auf diese Norm gestützte Vollzugsakte auszuschließen8. Die Frage, ob die Verfassung — wenigstens i n bestimmten Fällen — eine direkte gerichtliche Nachprüfung von Verwaltungsrechtsnormen ebenso verlangt wie eine Rechtskontrolle verwaltungsrechtlicher Einzelakte, wurde lange nicht gestellt. Für die herrschende Meinung war jede Norm zur Entfaltung ihrer Rechtserheblichkeit auf einen Vollzugsakte angewiesen, so daß die Möglichkeit einer Nachprüfung aller Vollzugsakte dem Anspruch des Art. 19 Abs. 4 GG genügen mußte 9 . Mittlerweile ist die „unmittelbar wirkende" Norm 1 0 — zuweilen nicht gerade sehr treffend als „Vollzugsnorm" bezeichnet 11 — eine der Rechtswissenschaft durchaus vertraute Rechtsfigur geworden. Nach dem heutigen Verständnis des Rechtsstaatsprinzips und der von ihm beherrschten verfassungsrechtlichen Generalklausel des Art. 19 Abs. 4 GG ist gegen diese Normen ein Rechtsschutz erforderlich, weil es für die Interessenlage der betroffenen Personen keine Rolle spielt, ob sie i n ihren Rechten durch einen Vollzugsakt oder durch eine unmittelbar wirkende Norm beeinträchtigt werden 1 2 . Damit hat die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle eine verfassungsrechtliche Relevanz gewonnen, die ihren rechtlichen Charakter entscheidend beeinflußt und dem Rechtsschutzaspekt endgültig den Vorrang vor dem Beanstandungsaspekt sichert 13 . Dieser Ansicht steht die viel zitierte und kritisierte Entscheidung des BVerfG vom 25. 6. 196814 nicht entgegen; denn die Feststellung des Gerichts, daß die Motive des Gesetzgebers — den Rechtsschutzcharakter i n den Vordergrund gestellt. I m gleichen Jahre hat Friesenhahn (Die Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Bundesrepublik Deutschland, i n : Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Gegenw a r t — Länderberichte u n d Rechtsvergleichung, 1962, S. 89 ff. — 146 f., Anm. 190 a) festgestellt, daß „§ 47 V w G O ein v o m Rechtsschutzbedürfnis abhängiges Individualrecht auf Normenkontrolle einräumt". 8 Damit geriet sie i n einen Gegensatz zu den üblichen — i n allen Bundesländern gesicherten — verwaltungsgerichtlichen Verfahren, die grundsätzlich erst gegen erfolgte Rechtsverletzungen i n Anspruch genommen werden können. 9 Vgl. Obermayer, DVB1. 65, 625 ff. (626 f.) sowie Bartlsperger, DVB1. 67. 360 ff. (362 u. 369). 10 Vgl. Obermayer, a.a.O.; vgl. auch Maurer, S. 281 ff. 11 Die unmittelbare W i r k u n g einer N o r m ist ein Phänomen, das sich nicht m i t einem normanwendenden Einzelakt vergleichen läßt. Der von Brohm (Rechtsschutz i m Bauplanungsrecht, 1959, S. 52 ff.) eingeführte und von Bartlsperger, a.a.O., übernommene Begriff der „Vollzugsnorm" kann n u r so verstanden werden, daß diese wie ein Vollzugsakt unmittelbar den Rechtskreis der Adressaten berührt. Keinesfalls läßt sie sich i n der Weise deuten, daß sie selbst einen rechtsvollziehenden A k t darstellt. 12 Obermayer, DVB1. 65, 627 f. 13 Wie Bartlsperger (DVB1. 67, 362) zutreffend bemerkt, ist die Schutzfunktion der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle der Gesichtspunkt, „den die heute maßgebliche Rechtsprechung als feststehende Prämisse benutzt". 14 BVerfGE 24, 33 ff. (49 ff.). Z u m U r t e i l kritisch: W. Henke, JZ 69, 145 ff.; Lorenz, DVB1. 69, 144 ff.; Wilken, DVB1. 69, 532 f. — Z u m Rechtsschutz gegen Normen eingehend Bettermann, AöR 86, 129 ff., freilich m i t Ergebnissen, denen von dem hier vertretenen Standpunkt aus nicht zugestimmt werden kann.

Die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle (I)

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die Gesetzgebung nicht zur öffentlichen Gewalt i m Sinne des A r t . 19 Abs. 4 GG gehört, bezieht sich nur auf die parlamentarische Gesetzgebung, nicht aber auch auf die Rechtsetzung der Verwaltung. 3. So ist die von einem Rechtsträger i n Gang gesetzte verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle nunmehr als Rechtsschutzverfahren und damit als ein verwaltungsrechtlicher Rechtsweg zu werten 1 5 . Dieser Rechtsweg ist, soweit i h m unmittelbar wirkende Normen unterliegen, durch A r t . 19 Abs. 4 GG verfassungsrechtlich bedingt 1 6 . I m übrigen gewährt er einen Rechtsschutz, der der Disposition des einfachen Gesetzgebers offensteht. Die einzelnen Vorschriften des § 47 VwGO sind so auszulegen, daß sie den Prozeßmaximen entsprechen, die nach der verfassungsrechtlichen Generalklausel für die Rechtskontrolle unmittelbar wirkender Rechtsnormen geboten sind. I m Interesse der Klarheit des Rechtssystems ist es notwendig, ein und dieselbe Rechtsregel für alle ihr unterfallenden Sachverhalte gleichmäßig zu interpretieren, sofern nicht zwingende Gründe eine Bedeutungsspaltung nahelegen. I m Falle der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle besteht kein Anlaß, die Überprüfung mittelbar wirkender Normen an andere Verfahrensregeln zu binden als die Kontrolle der — von der Rechtsschutzgarantie des A r t . 19 Abs. 4 GG erf aßten — unmittelbar wirkenden Normen. Gewisse Eigenschaften, die bisher nur dem Normexibestanstandungsverfahren zugesprochen worden sind, können die vorgenommene Qualifikation nicht i n Frage stellen. Das gilt sowohl für die Festlegung des Streitgegenstandes wie für die Entscheidungsform. Anders als die Rechtswidrigkeit eines nur bestimmte Personen berührenden Verwaltungsaktes t r i f f t die Rechtswidrigkeit einer Norm eine unbestimmte Vielzahl von 15 Vgl. Bartlsperger, DVB1. 67, 362 u. 370 sowie Bachof, N J W 68, 1065 ff. (1066). — Die Ansicht, daß das OVG i m Normenkontrollverfahren „keine rechtsprechende, sondern rechtsetzende Tätigkeit (negativer A r t ) ausübt" (Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 4. A u f l . — zit. Eyermann-FrOhler —, Vorbem. zu § 47 Rdnr. 2) spielt zu Unrecht die richterliche Rechtsprechungsfunktion gegen die richterliche Rechts e tzung sîunktion aus. Auch die allgemein-verbindliche Feststellung der Ungültigkeit einer Rechtsvorschrift ist „echte Rechtsprechung" (Koehler, Verwaltungsgerichtsordnung, 1960, S. 347). Sie weist gegenüber den längst anerkannten normativen W i r k u n g e n richterlicher Tätigkeit — der Norminterpretation bzw. Rechtsfortbildung u n d der inzidenten Normenprüfung — n u r einen graduellen, aber keinen essentiellen Unterschied auf. 16 Das BVerfG hat i n BVerfGE 11, 232 ff. (233) die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle als einen Rechtsweg i m Sinne des A r t . 19 Abs. 4 GG gewertet (vgl. auch Bartlsperger, DVB1. 67, 370). Der von einem Dreierausschuß erlassene Beschluß v o m 3.11.1966, 1 B v R 616/66, spricht dem Verfahren des § 47 V w G O den Charakter eines Rechtswegs i m Sinne des § 90 Abs. 2 BVerfGG ab. Es bleibt zu hoffen, daß diese, von Bachof (NJW 68, 1065 ff.) zu Recht hart kritisierte Entscheidung nicht das letzte Wort des BVerfG zur Qualifikation des verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahrens bleibt.

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Speyer 45

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Klaus Obermayer

Adressaten, die m i t Ausnahme des Antragstellers nicht am Verfahren beteiligt sind. I m Interesse dieser Personen wie auch aus Gründen der Prozeßökonomie und der Rechtssicherheit erscheint es geradezu geboten, die Gültigkeit der auf Veranlassung eines einzelnen für rechtswidrig befundenen Norm allgemein verbindlich zu verneinen 17 . Das von einer Behörde eingeleitete Beanstandungsverfahren t r i t t in seiner gesetzlichen Festlegung als Annex des Rechtsschutzverfahrens auf. Es folgt jedoch eigenen Prozeßgrundsätzen, soweit — wie ζ. B. bei der Antragstellung — das Fehlen des Rechtsschutzaspekts von Belang ist. Die hier entwickelte Sicht der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle impliziert die Unhaltbarkeit der — übrigens niemals stichhaltig begründeten — These, jede Normenkontrolle sei Verfassungsgerichtsbarkeit 1 8 . Sie stellt auch den entscheidenden Ansatz zur Verfügung für die Beantwortung der Frage nach dem Rechtsschutz gegen Verwaltungsrechtsnormen, für die nicht landesrechtlich auf der Grundlage des § 47 VwGO die Prüfungskompetenz eines OVG gegeben ist. II. Die Funktion der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle i n unserer gegenwärtigen Verfassungsordnung ist das Richtmaß für die Auslegung des §47 VwGO. Sie soll vier Problemkreise erfassen: den Gegenstand der Normenkontrolle, den Vorbehalt der Zuständigkeit eines Verfassungsgerichts, den Prüfungsmaßstab und die Antragsbefugnis. 1. Gegenstand des Verfahrens sind alle landesrechtlichen Verordnungen und alle sonstigen i m Rang unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschriften. (1) Hinsichtlich ihrer rechtstechnischen Auswirkung sind die genannten Regelungen der Rechtsnorm i m „klassisch-verfassungsrechtlichen Sinne" zuzuordnen 19 . Diese ist auch heute noch durch zwei entscheidende Eigenschaften gekennzeichnet: 1) Sie wendet sich als abstrakt-generelle Anordnung an einen gattungsmäßig festgelegten Betroffenen-Kreis, so daß sie nur auf Grund einer „allgemein-verbindlichen", an die Öffentlichkeit gerichteten Bekanntmachung ihre Rechtswirksamkeit entfalten kann. 17

Vgl. Maurer, S. 303 sowie die von i h m (in A n m . 93) zitierte Literatur. die i m Schrifttum zunächst von Kratzer (DÖV 54, 44) vertreten worden ist. Einen Überblick über die Diskussion dieser Frage i n der Rechtswissenschaft gibt Wolfram (Die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle nach § 47 V w G O , Diss. K ö l n 1967 — zit. W o l f r a m — S. 29 ff.), der sich selbst für die Zugehörigkeit der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle zur Verfassungsgerichtsbarkeit entscheidet. 19 Vgl. Thoma, Der Vorbehalt des Gesetzes i m preußischen Verfassungsrecht, i n : Festgabe für Otto Mayer, 1916, S. 175. 18

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2) Sie berechtigt oder verpflichtet Rechtsträger und nicht nur Organe des Hoheitsträgers, dem die normsetzende Stelle angehört 20 . Das erste K r i t e r i u m grenzt die der Normenkontrolle unterliegenden Rechtsvorschriften von den (Einzel- oder Sammel-) Verwaltungsakten ab, die allen Betroffenen einzeln eröffnet werden. Das zweite Merkmal führt unter dem Aspekt der „Außenwirkung" zu einer Unterscheidung von den Verwaltungsvorschriften, denen herkömmlicherweise nur eine auf die öffentliche Verwaltungsorganisation beschränkte „Innenwirkung" zugesprochen w i r d 2 1 . Diese Unterscheidung, die sich zuweilen nur auf Grund einer exakten Analyse der berührten Interessen vornehmen läßt 2 2 , darf nicht aufgegeben oder verwischt werden 23 . I m Interesse der Effektivität der Verwaltung ist an einer Rechtsfigur festzuhalten, die rein interne und daher grundsätzlich nicht rechtsschutzwürdige Anordnungen erfaßt 24 . Ebenso benötigt die Rechtsverordnung klare Konturen, damit sie nicht eines Tages zugunsten einer apokryphen Rechtsetzung 25 ihre spezifischen rechtsstaatlichen Sicherungen verliert. Als ein für Rechtsträger — und nicht nur für Organe der öffentlichen Gewalt — verbindlicher Hoheitsakt bedarf sie einer demokratischen, d. h. formell-gesetzlichen Legitimation. Und zur Gewährung rechtsstaatlicher Evidenz ist sie auf eine Erscheinungsform angewiesen, die ihren normativen Inhalt erkennen läßt und ihn durch 20 Vgl. Obermayer, i n : Mang-Maunz-Mayer-Obermayer, Staats- und V e r waltungsrecht i n Bayern, 3. A u f l . 1968 (zit. Staats- u n d Verwaltungsrecht), S. 167 ff. 21 a.a.O., S. 136. 22 Ist nach einer (entweder als Rechtsnorm oder als Verwaltungsvorschrift zu qualifizierenden) generellen Anordnung einer Verwaltungsbehörde vor der Entscheidung über bestimmte Leistungsbewilligungen ein beratender Ausschuß anzuhören, so fragt es sich, ob die M i t w i r k u n g dieses Ausschusses nur dem öffentlichen Interesse oder auch bzw. vorwiegend den Interessen der A n t r a g steller dienen soll. I m ersten F a l l w i r d man geneigt sein, eine Verwaltungsvorschrift anzunehmen, i m zweiten F a l l ist ein Plädoyer für die Rechtsnorm angebracht. Sollte sich herausstellen, daß die betreffende Anordnung bei einer Beurteilung als Rechtsnorm (mangels einer ausreichenden gesetzlichen E r mächtigung oder einer ordnungsmäßigen Veröffentlichung) nichtig wäre, so liegt es nahe, sie als Verwaltungsvorschrift zu qualifizieren. Vgl. Obermayer, DVB1. 59, 354 ff. 23 I n diese Richtung weist die Feststellung Ossenbühls (DVB1. 69, 527), es breche sich „unter der Geltung des Grundgesetzes immer mehr die Einsicht Bahn, daß man die Verwaltungs Vorschriften — jedenfalls prinzipiell — nicht als Nichtrecht abstempeln und ihnen das Prädikat des Rechtssatzes vorenthalten kann". — Einen Überblick über das Schrifttum, das die herkömmliche Trennung von Rechtsnorm und Verwaltungsvorschrift i n Frage stellt, bringt Ossenbühl, a.a.O., A n m . 16. 24 Es wäre i m m e r h i n denkbar, auch Verwaltungsvorschriften von besonderer allgemeiner Bedeutung — w i e ζ. B. die Flächennutzungspläne — ausnahmsweise i n einem Beanstandungsverfahren der Rechtskontrolle zu unterstellen. 25 Wie sie auf den Gebieten des Steuerrechts u n d des Schulrechts (hierzu vgl. Ossenbühl, DVB1. 69, 527) immer noch i n bedenklichem Umfang vorhanden ist.

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eine angemessene Bekanntmachung der Öffentlichkeit zur Kenntnis bringt 2 6 . Freilich w i r d auf manchen Sachgebieten eine wesentliche Erweiterung der exekutiven Rechtsetzungsgewalt nicht zu umgehen sein. Es wäre aber gefährlich, sie m i t einer Aufweichung des wesentlichen Unterschiedes von Rechtsnorm und Verwaltungsvorschrift erkaufen zu wollen 2 7 . Eine Lösung des Problems könnte durch die Berücksichtigung folgender Grundsätze erleichtert werden: 1) Die kraft Verfassungsauftrags allein dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehaltenen und daher nicht auf die Verwaltung übertragbaren Rechtsetzungskompetenzen — die sicher die Grundzüge des Wahlrechts und der Staatsorganisation erfassen — sind näher zu bestimmen 2 8 . 2) Die Formel von „Zweck, Inhalt und Ausmaß" der gesetzlichen Ermächtigung bedarf einer Neubestimmung, die das zuweilen nur noch fiktiv aufrechterhaltene Postulat einer engen Begrenzung der gesetzlichen Ermächtigung aufgibt. I m Hinblick auf die Schrankenwirkung der Grundrechte 29 genügt es, daß der Gesetzgeber überhaupt Grenzen bestimmt und der Exekutive keine Möglichkeit gibt, ihre normativen Kompetenzen nach eigenem Gutdünken auszudehnen 30 . Unter dieser Voraussetzung sind alle Rechtsetzungsakte der Verwaltung durch die Formel des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG gedeckt, gleichgültig ob sie auf einer i m traditionellen Sinne eng begrenzten formell-gesetzlichen Ermächtigung beruhen oder auf eine umfassende Delegation der Legislative zurückgehen. (2) Nach der Form des Erlasses sind die der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle unterliegenden Regelungen Verordnungen, die von 26 wegen der Bedeutung, die dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der V e r w a l t u n g i n seiner Bezugnahme auf das Verordnungsrecht gegeben w i r d , vgl. Wilke, i n : v. Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, A r t . 80 A n m . V I . 27 Diese Gefahr sieht Ossenbühl (DVB1. 69, 529) selbst, freilich ohne die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen. — Verwaltungsvorschriften, die — wie die für den einzelnen verbindlichen Zuständigkeitsregelungen — „die allgemeine Rechtsordnung notwendig ergänzen" (Ossenbühl, a.a.O., S. 528), sind eben Rechtsvorschriften u n d unterliegen den für diese geltenden Regeln. 28 Nach der Rechtsprechung des B V e r f G zu A r t . 80 Abs. 1 Satz 2 GG ist dem Gesetzgeber die Entscheidung bestimmter Fragen ausschließlich vorbehalten m i t der Folge, daß das Rechtsetzungsbefugnisse delegierende Ermächtigungsgesetz „ein M i n i m u m an materieller Regelung" enthalten muß (BVerfGE 20, 257 ff. — 270). — Eine umfassende K l ä r u n g der Frage von A r t u n d Ausmaß solcher Mindestregelungen steht noch aus. 29 Vgl. Vogel, V V D S t R L 24 (1965), S. 125 ff. (151). 80 So ist es i n jedem Falle unzulässig, daß ein Verwaltungsorgan ohne Festsetzung eines bestimmten Rahmens zur Änderung oder Ergänzung eines Gesetzes ermächtigt w i r d . Vgl. auch Klein, i n : Die Übertragung rechtsetzender Gewalt i m demokratischen Rechtsstaat, 1952, S. 7 ff. (29) sowie BVerfGE 1, 14 ff. (60).

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einer Landesbehörde — als „landesrechtliche Verordnungen" — oder von einem landesunmittelbaren Hoheitsträger — als sonstige „ i m Range unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschriften" — erlassen worden sind. Den Verordnungen sind die Satzungen der Selbstverwaltungskörperschaften gleichzustellen. Weist eine i n das Gewand einer (Rechts-) Verordnung gekleidete Regel — wie ζ. B. eine kommunale Status-, Bestandsoder Gebietsänderung — die Merkmale einer Rechtsnorm und eines Verwaltungsaktes auf, so ist sie jedenfalls hinsichtlich ihres normativen Charakters der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle unterworfen 3 1 . Überhaupt nicht nachprüfbar sind alle Rechtsetzungsakte, die — wie die Haushaltssatzungen i m Hinblick auf den Haushaltsplan — nur innerdienstliche Weisungen enthalten 3 2 . (3) Eine sachliche Begrenzung der der verwaltungsgerichtlichen Normekontrolle unterliegenden Rechtsvorschriften ergibt sich aus der Bindung des OVG an den Rahmen seiner Gerichtsbarkeit. Dieser ist i m Sinne des § 40 VwGO zu bestimmen 33 , nach der der Verwaltungsrechtsweg nur i n öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher A r t gegeben ist, die keinem anderen Gerichtsweg zugewiesen sind. (a) Demnach sind der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle zunächst alle Verordnungen nicht öffentlich-rechtlichen — sondern privatrechtlichen — Inhalts entzogen. Es wäre wichtig und reizvoll, an dieser Stelle zum Wesen des öffentlichen Rechts Stellung zu nehmen, dessen eigenständiger Charakter i n jüngster Zeit nachhaltig i n Zweifel gezogen worden ist 3 4 . I m Rahmen dieses Referates können leider nur einige Gesichtspunkte angedeutet werden, die für die Entwicklung eines Gegenstandpunktes erwägenswert erscheinen: 1) Das öffentliche Recht des deutschen Rechtsbereiches verdankt seine dogmatische Ausformung maßgeblich der von der ordentlichen Gerichtsbarkeit getrennten Verwaltungsgerichtsbarkeit, die für die Rechtsnormen und Rechtsvorgänge der Eingriffsverwaltung eine besondere Sachkunde entwickelt hat. Dieser historische Prozeß läßt sich nicht überspielen durch einen Vergleich mit der Rechtsentwicklung der angelsächsischen Länder, deren einheitliche Gerichtsbarkeit die Sonderentwicklung eines öffentlichen Rechts verhinderte. 2) I m Sinne einer formalen und materialen Theorie des öffentlichen Rechts ist dieses zu verstehen als Regelungsinstrument für alle Rechtsbeziehungen, i n denen Einzelne und Gruppen zur Sicherung der 31

Vgl. Staats- u n d Verwaltungsrecht, S. 204, 280. a.a.O., S. 140, 281. 33 Vgl. die Stellungnahme der Bundesregierung zu den Änderungsvorschlägen des Bundesrats, BT-Drucksache Nr. 4278 der 1. Wahlperiode, S. 72. 34 Bullinger, öffentliches Recht u n d Privatrecht, 1968. 32

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Existenz ihrer selbst, Dritter oder der gesamten Rechtsgemeinschaft der ordnenden („eingreifenden" oder „leistenden") Macht des Staates bedürfen 35 . Der so umschriebene Rechtsbereich erfaßt eine Fülle typischer Rechtsfiguren, Rechtsinstitute und Lebenssachverhalte, die nach wie vor eine besondere jurisdiktioneile und dogmatische Behandlung rechtfertigen. (b) Innerhalb des öffentlichen Rechts unterliegen der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle alle von einer Verwaltungsbehörde auf dem Gebiete des Verwaltungsrechts erlassenen Verordnungen, sofern die betreffende Materie nicht der Prüfungskompetenz einer anderen Gerichtsbarkeit anvertraut ist. Der Nachprüfung entzogen sind demnach 1) Verordnungen rein verfassungsrechtlicher A r t wie die Geschäftsordnungen oberster Bundes- und Landesorgane, 2) Verordnungen rein strafrechtlicher A r t , 3) verwaltungsrechtliche Rechtsverordnungen eines Rechtsgebietes, dessen Kontrolle einer besonderen Verwaltungsgerichtsbarkeit — wie der Finanz- oder Sozialgerichtsbarkeit — übertragen ist. Keine Rolle für die Bestimmung des Rahmens der Gerichtsbarkeit des OVG spielt die Frage, ob eine Verordnung vorliegt, deren Vollzug zum Erlaß m i t der Anfechtungsklage anfechtbarer Verwaltungsakte führt 3 0 . Da sich manche verwaltungsrechtlichen Verordnungen gar nicht i n einen rechtsanwendenden Verwaltungsakt umsetzen lassen, muß es genügen, wenn die zu kontrollierende Verordnung irgendein verwaltungsgerichtliches Streitverfahren — sei es auch nur i n der Form der Feststellungsklage oder der allgemeinen Leistungsklage — auszulösen geeignet ist. Unerheblich ist es außerdem, welcher Materie das Gesetz zugeordnet ist, das die Ermächtigungsgrundlage der Verordnung enthält. Zur Prüfungskompetenz des OVG zählende Angelegenheiten können auch i n einem Gesetz geregelt sein, das nach seiner Bezeichnung oder seinem wesentlichen Inhalt einem anderen Sachgebiet verhaftet ist. (4) Die vorstehend aufgestellten allgemeinen Grundsätze sollen i m Rahmen eines Exkurses auf zwei Kategorien von Rechtsvorschriften angewendet werden, deren Rechtskontrolle immer noch in erheblichem 35 Das öffentliche Recht muß somit von seiner ausschließlichen Bindung an das allgemeine W o h l gelöst werden. I m technischen Massenstaat k a n n — i m Vollzuge der Grundrechtsbestimmungen u n d des Sozialstaatsprinzips — eine öffentlich-rechtliche Regelung auch allein oder jedenfalls vorwiegend durch fundamentale Individualinteressen bedingt sein (so ζ. B. i m Falle des Sozialh i l f erechts). 36 A u f dieses K r i t e r i u m hat die Rechtsprechung häufig verwiesen (BGH i n VerwRspr. Bd. 9, S. 66 m i t weiteren Nachweisen. Vgl. auch die zutreffend modifizierte Ansicht von Eyermann-Fröhler, § 47 Rdnr. 6).

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Maße kontrovers ist; auf die Verordnungen strafrechtlichen Inhalts und auf die kirchlichen Rechtsetzungsakte. (a) Bei der Erörterung der Frage, ob auch Rechtsvorschriften strafrechtlichen Inhalts der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle unterliegen, w i r d immer wieder auf die Unzulässigkeit einer Präjudizierung anderer Gerichte verwiesen 37 . Die gängige Meinung geht wohl dahin, daß „nur Rechtsvorschriften mit zumindest teilweise verwaltungsrechtlichem Inhalt, niemals dagegen Vorschriften m i t ausschließlich strafrechtlichem Inhalt" Gegenstand eines verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahrens sein können 3 8 . Diese Formel gibt sicher einen entscheidenden Hinweis für die Lösung des Problems; gleichwohl bedarf sie noch einer näheren Präzisierung. Ist eine Verordnung auf dem Gebiete des Verwaltungsrechts — und d. h. auf Grund der besonderen verwaltungsrechtlichen Verantwortung einer Verwaltungsbehörde — erlassen worden, so verliert sie ihren verwaltungsrechtlichen Charakter nicht dadurch, daß sie strafbewehrt ist oder eine bereits existente Strafrechtsnorm unter verwaltungsrechtlichen Aspekten tatbestandsmäßig ergänzt. Es ist auch keine unzulässige Präjudizierung der Strafgerichte, wenn i m verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren die Gültigkeit einer verwaltungsrechtlichen Verordnung geprüft wird, die i n ihrer rechtlichen Relevanz auf das Strafrecht ausstrahlt. Die Bindung der Gerichte eines Gerichtszweigs an die sachkundig getroffenen Entscheidungen des Gerichts einer anderen Gerichtsbarkeit ist ein dem deutschen Prozeßrecht durchaus geläufiges Prinzip 3 9 . Die Strafgerichte haben die wesentliche Aufgabe, das geltende Strafrecht anzuwenden. Werden sie an eine vorwiegend verwaltungsrechtliche Normenkontrollentscheidung des OVG gebunden, so bedeutet das keineswegs einen unvertretbaren Eingriff i n ihre Grundkompetenz. Demnach unterliegt — entgegen der Ansicht des V G H Mannheim 4 0 — der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle die Verordnung eines Regierungspräsidiums, die Verbotszonen zur Ausübung der Gewerbsunzucht bestimmt. Die Festlegung von Sperrbezirken für Dirnen ist eine typische, dem allgemeinen Sicherheitsrecht zugeordnete Aufgabe der allgemeinen inneren Verwaltung. Sie erfährt keine qualitative Veränderung durch die Tatsache, daß ihre Ermächtigungsgrundlage i n einem strafrechtlichen Gesetz enthalten ist und daß sie neben bzw. mit ihrer 37

Begründung, S. 36. V G H Mannheim, N J W 68, 2076; vgl. auch Ule, Verwaltungsprozeßrecht, 4. Aufl. 1966, S. 107. 39 So weist auch die Begründung (S. 36) ausdrücklich darauf hin, daß durch die Allgemeinverbindlichkeit der Entscheidung „sämtliche Gerichte, gleichgültig welcher Gerichtsbarkeit sie angehören, gebunden" werden, 40 N J W 68, 2077. 38

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verwaltungsrechtlichen Funktion den Tatbestand der Strafrechtsnorm des § 361 Nr. 6 c StGB ausfüllt, um deren Strafandrohung wirksam werden zu lassen. (b) Kirchliche Rechtsetzungsakt e sind einer verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle zugänglich, wenn sie auf Grund einer besonderen Ermächtigung des staatlichen Rechts einen Gegenstand regeln, der der Prüfungskompetenz der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit unterfällt. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich u m kirchliche Verordnungen oder u m (von Synoden erlassene) Kirchengesetze handelt; auch diese sind — jedenfalls i m Verhältnis zu dem nach § 47 VwGO von der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle ausgenommenen „Landesgesetz" — als untergesetzliche Rechtsvorschriften zu werten. Vor allem zwei Kategorien kirchlicher Rechtsetzungsakte erfüllen die genannte Voraussetzung: Einmal die Rechtsvorschriften, die dem Vollzug des Kirchensteuerrechts dienen 4 1 ; und zweitens die Bestimmungen, die das Recht der Geistlichen und der Kirchenbeamten i n Anlehnung an die Rechtsgrundsätze des staatlichen Beamtenrechts regeln 42 . Während i m ersten Falle die landesrechtlichen Kirchensteuergesetze als Ermächtigungsgrundlage in Betracht kommen, ergibt sich die Befugnis zum Erlaß eines eigenen, den Grundsätzen des öffentlichen Beamtenrechts verhafteten kirchlichen Amtsrechtes aus § 135 BRRG 4 3 . Alle sonstigen i m Rahmen des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts erlassenen Rechtsvorschriften sind qualitativ dem privaten Verbandsrecht zuzurechnen 44 und deshalb der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle entzogen. 41 I n diesen Fällen üben die Kirchen staatliche öffentliche Gewalt aus, die ihnen durch die Kirchensteuergesetze der Länder auf der Grundlage des A r t . 140 GG i. V. m. A r t . 137 Abs. 6 W R V übertragen ist. 42 Da das kirchliche Amtsrecht — anders als das kirchliche Steuerrecht — keine Sanktion durch die öffentliche Gewalt des Staates erhält, kann es n u r als „quasi-öffentliches" Recht beurteilt werden, das k r a f t staatlicher Sonderregelung auf der Grundlage des § 135 Satz 2 B R R G der Prüfungskompetenz der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit unterliegt. — Wegen der Justiziab i l i t ä t des kirchlichen Amtsrechts i m verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren vgl. auch H. Weber, Die Religionsgemeinschaften als K ö r p e r schaften des öffentlichen Rechts i m System des Grundgesetzes, 1966, S. 147, sowie F. Müller, D Ö V 68, 627 ff. (629). — Z u m gesamten Problemkreis der v e r w a l tungsgerichtlichen Normenkontrolle kirchlicher Rechtsetzungsakte vgl. G. Meier (DVB1. 67, 703 ff. — 708), der freilich scharfe, verfassungskonforme K r i terien für die Entscheidung kirchlicher Streitigkeiten durch staatliche Gerichte vermissen läßt. 43 w ü r d e das Recht der Kirchen zur Regelung ihres Amtsrechts nach den Grundsätzen des öffentlichen Beamtenrechts unmittelbar aus A r t . 140 GG i. V. m. A r t . 137 Abs. 5 W R V abgeleitet, so wäre der einfache Gesetzgeber nicht i n der Lage, Richtlinien für die Ausgestaltung des „quasi-öffentlichen" kirchlichen Amtsrechts aufzustellen. Eine solche Beschränkung der Legislative ist jedoch m i t den Prinzipien des geltenden Staatskirchenrechts (vgl. Obermayer, DÖV 67, 9 ff.) nicht vereinbar. 44 Damit ist über die historische Bedeutung des innerkirchlichen Rechts und über die Funktion, die i h m nach kirchlichem Selbstverständnis heute noch zukommt, keine Aussage gemacht.

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Die Frage, ob kirchliche Rechtsetzungsakte dem Landesrechtsbereich zugehörig und damit überhaupt gemäß § 47 VwGO justiziabel sind, ist i m positiven Sinne zu beantworten. Auch wenn die mit dem Körperschaftsstatus versehenen Kirchen nicht i n die Landesstaatsgewalt eingegliedert sind, beruht ihr öffentlich-rechtlicher Status doch gemäß A r t . 140 GG i. V. m. A r t . 137 Abs. 5 WRV auf landesrechtlicher Anerkennung bzw. Verleihung. So müssen auch kirchliche Rechtsvorschriften i n gleicher Weise dem Landesrecht i. S. des § 47 VwGO zugerechnet werden wie die Normen, die von den landesunmittelbaren juristischen Personen des öffentlichen Rechts erlassen worden sind. Freilich kommt die gesetzlich geregelte verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle nur i m Gebiet eines Landes zum Zuge, das die Ermächtigung des § 47 VwGO i n Anspruch genommen hat 4 5 . Sofern die Kirchen — wie ζ. B. i n Angelegenheiten des öffentlichen Friedhofsrechts — als „beliehene Unternehmer" auftreten, unterliegen die von ihnen erlassenen Benutzungsordnungen bereits nach allgemeinen Grundsätzen der Prüfungskompetenz des OVG i n gleicher Weise wie die Benutzungsordnungen der i n die Staatsgewalt inkorporierten öffentlichrechtlichen Selbstverwaltungskörperschaften. 2. Eine stark umstrittene Vorschrift der Gesamtregelung des § 47 VwGO ist die Vorbehaltsklausel, die die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle ausschließt, wenn eine Rechtsvorschrift durch ein Verfassungsgericht nachprüfbar ist 4 6 . Allmählich hat sich — vor allem dank der Entscheidung des OVG Lüneburg vom 24. 6. 196647 — die Auffassung durchgesetzt, daß die Vorbehaltsklausel nur die Zulässigkeit der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle i m Verhältnis zur Verfassungsgerichtsbarkeit regelt, über den Prüfungsmaßstab aber keine Aussage enthält. Die m i t der Zulässigkeit verbundenen Probleme erledigen sich von selbst, wenn das Normenkontrollverfahren des § 47 VwGO als ein ver45 Unmittelbar wirkende Normen des innerkirchlichen Rechts sind nach den Grundsätzen des Abschnittes I I I nachprüfbar, soweit das zuständige L a n d das verwaltungsgerichtliche Normenkontrollverfahren des § 47 V w G O nicht eingeführt hat. 46 wegen des bisherigen Verlaufs der Diskussion u m die konkrete bzw. abstrakte Betrachtungsweise bei der Auslegung der Vorbehaltsklausel vgl.: Herzog, BayVBl. 61, 368 ff.; Renck, DÖV 64, 1 ff.; Bachof, DÖV 64, 9 ff.; Obermay er, DVB1. 65, 628 ff.; Bartlsperger, DVB1. 67, 371 u. 372; Menger/Erichsen, VerwArch. 58, 375 ff. (379 ff.); Wolfram, S. 104 ff.; Wilken, Der Prüfungsmaßstab i m verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren, Diss. K i e l 1967 (zit. Wilken, Diss.), S. 28 ff.; ders., DVB1. 69, 532 ff. (536 f.); Bachof, N J W 68, 1067; Guthardt-Schulz, Die Begrenzung der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, Diss. Göttingen 1969 (zit. G u t hardt-Schulz), S. 22 ff. 47 DVB1. 66, 760ff. (763). A . A . jüngst. Beschl. d. V G H Kassel v. 28.11.1968, N J W 69,1733 f.

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waltungsgerichtlicher Rechtsweg anerkannt wird. Es t r i t t dann nicht mehr als Konkurrent der Verfassungsgerichtsbarkeit auf, sondern steht dieser prinzipiell i m gleichen Verhältnis gegenüber wie das verwaltungsgerichtliche Anfechtungs- oder Verpflichtungsverfahren. Daher kann die Vorbehaltsklausel heute nur noch i n dem Sinne verstanden werden, daß sie die Nachprüfung einer an sich vom Rahmen der Zuständigkeit des OVG erfaßten Verordnung von der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle ausnimmt, falls ein Bundes- oder Landesgesetz ausschließlich die Prüfungskompetenz eines Verfassungsgerichts bestimmt 48 » 4 9 > 5 0 . Eine solche Regelung liegt nicht vor, wenn der Verfassungsgerichtsweg als eine den Rechtsweg überlagernde (zusätzliche) Rechtskontrolle zur Wahrung fundamentaler Verfassungsgrundsätze zu werten ist. Demnach verdrängt die Möglichkeit, nach § 90 BVerfGG eine Verfassungsbeschwerde zu erheben, die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle nicht. Die erfolglos beantragte Normenkontrolle ist i m Gegenteil als Erschöpfung des Rechtswegs nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG die Voraussetzung dafür, daß gegen eine Verwaltungsrechtsverordnung zulässigerweise die Verfassungsbeschwerde erhoben werden kann 5 1 . Die Frist bemißt sich dann nach der allgemeinen Bestimmung des § 93 Abs. 1 BVerfGG, da sich die Verfassungsbeschwerde auf eine dem Verwaltungsrechtsweg unterliegende Rechtsvorschrift bezieht und nicht auf ein Gesetz i m Sinne des § 93 Abs. 2 BVerfGG, gegen das ein Rechtsweg nicht offensteht. Daraus folgt, daß die Verfassungsbeschwerde binnen eines Monats nach Eröffnung der Entscheidung des OVG erhoben werden 48

Α. A. noch DVB1. 65, 628 ff. Die Auffassung Bartlspergers (DVB1. 67, 370), daß „die verfassungsgerichtliche Vorbehaltsklausel keine weitergehende Bedeutung beanspruchen k a n n als die Rechtswegbestimmung des § 40 Abs. 1 V w G O " , ist i m m e r h i n systemgerecht (siehe auch a.a.O., 372). Abweichend von der hier vertretenen Ansicht ist dabei der Gedanke bestimmend, daß die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle als Rechtsschutzverfahren unmittelbar i m Rahmen von A r t . 19 Abs. 4 GG u n d § 40 V w G O zu konzipieren ist, während die Vorschrift des § 47 V w G O lediglich eine partielle Modellfunktion erfüllen kann. 49

50 Wilken spricht der Vorbehaltsklausel jede Bedeutung ab u n d hofft, „daß ein Gericht den M u t aufbringt", sie „als unsinnig beiseite zu schieben" (DVB1. 69, 539). Durch die hier der Vorbehaltsklausel gegebene Auslegung w i r d freilich Wilkens Prämisse hinfällig, „§ 47 V w G O paralysiere sich selbst" — Menger/ Erichsen (VerwArch. 58, 384) „ w o l l e n nicht verhehlen", daß „die Formulierung des Vorbehalts zugunsten der Verfassungsgerichtsbarkeit i n § 47 zu den u n glücklichsten i n der ganzen V w G O gehört". Sie stellen dann die Frage, „ob es erheblich über die bisherigen Interpretationsversuche der Vorbehaltsklausel hinausgehen würde, wenn ein Gericht sie wegen Ungereimtheit für unbeachtlich erklären würde". Demgegenber ist festzustellen, daß Argumente rein rechtstheoretischer A r t allein nicht genügen, u m eine Vorschrift des geschriebenen Rechts für unbeachtlich zu erklären. 51

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So auch Beschl. d. V G H Mannheim v. 12. 7.1967, Bad.Württ. VB1. 67, 187 ff.

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muß 5 2 , die den auf § 47 VwGO gestützten Normenkontrollantrag — als unzulässig oder unbegründet — zurückgewiesen hat. Als eine (verfassungs-) gesetzliche Bestimmung, die nach der Vorbehaltsklausel des § 47 VwGO die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle ausschließt, könnte Art. 98 Satz 4 Bayerische Verfassung angesehen werden. Nach dieser Vorschrift, die die nicht auf die Erschöpfung des Rechtsweges angewiesene bayerische Popularklage verankert, hat der BayVerfGH Gesetze und Verordnungen für nichtig zu erklären, die ein Grundrecht (der Bayer. Verfassung) verfassungswidrig einschränken. Es sei zugegeben, daß die hier der Vorbehaltsklausel gegebene Interpretation deren praktische Bedeutung auf ein M i n i m u m reduziert 5 3 . Indessen kann die dynamische Eigengesetzlichkeit, mit der sich das Rechtsinstitut der abstrakten Normenkontrolle i m Spannungsfeld von verfassungsrechtlicher Normativität und sozialer Faktizität fortentwickelt hat, nicht übersehen werden. Die Anerkennung des gegenwärtigen Telos einer gesetzlichen Regelung muß höher stehen als der formal juristische Gehorsam gegenüber einer Norm, die i m Wandel der Verhältnisse ihren Sinn verloren hat. 3. Die Einordnung der Normenkontrolle des § 47 VwGO i n das verwaltungsrechtliche Rechtsschutzsystem unserer Verfassungsordnung beendet auch alle Kontroversen, die sich auf den Prüfungsmaßstab beziehen 54 . Da in § 47 VwGO — anders als ζ. B. bei der Popularklage nach A r t . 98 Satz 4 Bayer. Verf. — eine Beschränkung des Prüfungsmaßstabes nicht angeordnet ist, muß die angegriffene Norm i n der gleichen Weise unter allen möglichen Gesichtspunkten auf ihre Rechtmäßigkeit geprüft 5 5 werden wie ein Verwaltungsakt, der i n einem Anfechtungs- oder Verpflichtungsverfahren der Rechtskontrolle anheimgegeben ist. Selbstverständlich ist das OVG bei der Feststellung der Nichtigkeit einer Verordnung an die Rechtsvorschriften gebunden, die die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit eines Rechtsetzungsaktes der ausschließlichen Entscheidungskompetenz eines Verfassungsgerichts anvertrauen. Das bedeutet, daß das verwaltungsgerichtliche Normenkontrollverfahren zur Einholung einer 52 Dieser Ansicht steht der Beschl. d. B V e r f G v. 3.11.1966, 1 B v R 616/66 (vgl. Fußn. 16), i m Wege, der m i t seinem Hinweis auf das Versäumnis der Frist des § 93 Abs. 2 B V e r f G G die Rechtswegeigenschaft des i n § 47 V w G O geregelten Verfahrens i m Sinne des § 90 Abs. 2 BVerfGG verneint (vgl. Fußn. 16). — Vgl. den abweichenden Lösungsvorschlag Bachof s i n N J W 68,1067. 53 I m m e r h i n w i r d i h r noch — anders als bei Bartlsperger (vgl. Fußn. 49) — eine eigenständige F u n k t i o n belassen. 54 A n der Diskussion über den Prüfungsmaßstab haben sich vor allem beteiligt: Herzog, BayVBl. 61, 369 ff.; Renck, D Ö V 64, 1 ff.; Bachof, DÖV 64, 9 ff.; Obermayer, DVB1. 65, 630 f.; Wilken, Diss.; ders., DVB1. 69, 536 ff.; Bachof, N J W 68,1067; Maurer, S. 291; Guthardt-Schulz, S. 78 ff. 55 So auch Beschl. d. V G H Mannheim v. 20. 6.1968, N J W 69, 203 ff. (204).

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Entscheidung des Landes- bzw. Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 GG auszusetzen ist, wenn nach Ansicht des erkennenden Gerichts die Nichtigkeit einer Verordnung auf der Verfassungswidrigkeit eines konstitutionellen — vom zuständigen Verfassungsgericht noch nicht für nichtig erklärten — Gesetzes beruht. Desgleichen ist nach Art. 92 und 65 Bayer. Verf. die Entscheidung des BayVerfGH einzuholen, wenn der für das verwaltungsgerichtliche Normenkontrollverfahren kompetente Bay V G H davon überzeugt ist, daß die angefochtene Verordnung gegen die Bayer. Verfassung verstößt. 4. Die Voraussetzungen der Antragsbefugnis sind unterschiedlich zu beurteilen, je nachdem, ob ein Hechtsträger oder eine Behörde das Verfahren in Gang setzen w i l l . a) W i r d der Antrag von einem Rechtsträger gestellt, so ist der Rechtsschutzaspekt maßgeblich. Deshalb genügt es nicht, wenn der Antragsteller irgendeinen bereits erlittenen oder zu erwartenden Nachteil behauptet 5 6 . Er muß vielmehr geltend machen, daß der Nachteil i n einer Rechtsverletzung besteht, die entweder unmittelbar aus der Norm als Rechtsfolge kraft Gesetzes hervorgeht oder erst mittels eines späteren Vollzugsaktes relevant w i r d 5 7 . Diese Rechtsverletzungsbehauptung deckt sich wesensmäßig m i t jener Prozeßvoraussetzung der Anfechtungs- bzw. Verpflichtungsklage, die i n der Behauptung des Klägers besteht, er sei durch die Vornahme bzw. Unterlassung eines Verwaltungsaktes i n seinen Rechten verletzt. Da das Normenkontrollverfahren auch in seiner Eigenschaft als Rechtsschutzverfahren auf die allgemein verbindliche Feststellung der Ungültigkeit der angegriffenen Verordnung abzielt, hängt die Begründetheit des Antrags nicht davon ab, daß der Antragsteller tatsächlich i n seinen Rechten verletzt ist. Es genügt, wenn die zu kontrollierende Norm andere ihre Ungültigkeit bewirkende Mängel aufweist. b) Stellt eine Behörde den Antrag, so kommen Gesichtspunkte des Beanstandungsverfahrens zum Zuge. Das bedeutet, daß der Antrag zulässig ist, wenn die antragstellende Behörde aus irgendeinem Grunde von der Rechtswidrigkeit der Norm überzeugt ist 5 8 . Daß Gerichte als Spruch58 Maurer (S. 289) hält unter Berufung auf E S V G H 17, 102 daran fest, daß die Geltendmachung eines bloßen Nachteils genügt. F ü r eine weite Fassung des „Nachteil"-Begriffs auch F. Müller, DÖV 68, 628. — Menger/Erichsen (VerwArch. 58, 385) halten es hingegen für „sehr fraglich, ob die bloß tatsächliche Benachteiligung als hinreichend anzusehen ist". 57 Bartlsperger (DVB1. 67, 373) hat bereits f ü r die Kontrolle von Vollzugsnormen die Forderung aufgestellt, daß „die Antragsvoraussetzungen des § 47 Satz 2 V w G O durch eine sinngemäße A n w e n d u n g des § 42 Abs. 2 V w G O ersetzt werden". 58 Einer kirchlichen Behörde steht das Antragsrecht zu, soweit sie m i t dem Vollzug einer Rechtsvorschrift befaßt ist, die der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle unterliegt. Vgl. hierzu auch Menger/Erichsen (VerwArch. 58, 86) i n kritischer Auseinandersetzung m i t dem Beschl. d. V G H Mannheim v. 14. 2. 1967, N J W 67,1194.

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körper nicht dem Begriff der Behörde i m Sinne des § 47 VwGO zuzuzählen sind, sollte nach den überzeugenden Ausführungen des HessVGH i m Beschluß vom 21.12.1966 nicht mehr bezweifelt werden 5 9 . III. Abschließend ist noch die Frage zu erörtern, ob und inwieweit gegen die von § 47 VwGO nicht erjaßten verwaltungsrechtlichen Verordnungen ein Rechtsschutz gegeben ist. Sie bedarf einer differenzierenden Beantwortung. 1. Bei allen Verordnungen mit unmittelbar wirkenden Normen ist unter der Herrschaft des Art. 19 Abs. 4 GG die vorhandene Gesetzeslücke nach den allgemeinen Grundsätzen der Rechtsauslegung und der Rechtsfortbildung zu schließen. Dies führt zu der Erkenntnis, daß die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle — als das angemessene prozessuale M i t t e l des sachnächsten Rechtsweges — für jenen Rechtsschutz zur Verfügung steht, den die Verfassung gegen unmittelbar wirkende Verwaltungsrechtsverordnungen garantiert 6 0 . Das nach dem Gesetzeswortlaut des § 47 VwGO den Ländern lediglich angebotene Rechtsschutzmodell erhält somit kraft Verfassungsrechts den Charakter einer verbindlichen Regelung, soweit das geschriebene Verwaltungsprozeßrecht gegen unmittelbar wirkende Rechtsverordnungen keinen Rechtsschutz gewährt. Handelt es sich um Verordnungen aus dem Bereich der Länder, die die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle nicht eingeführt haben, so gelten die Verfahrensvorschriften des § 47 VwGO mit der selbstverständlichen Einschränkung, daß die — nur dem Beanstandungsverfahren zugeordnete — behördliche Antragsbefugnis entfällt. Für die Nachprüfung von unmittelbar wirkenden Bundesrechtsverordnungen erfährt die Regelung des § 47 VwGO aus der Natur der Sache insoweit eine Modifikation, als die Prüfungskompetenz des OVG durch die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts ersetzt wird. Die Argumente, mit denen Maurer den Rückgriff auf die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle ablehnt und das Ausweichen auf eine ver59

DÖV 67, 420 ff.; a. A. Menger/Erichsen, VerwArch. 58, 386 ff. Renck meint (JuS 66, 273 ff. — 275), ich hätte (in DVB1. 65, 632) „apodiktisch" behauptet, daß „ein wirksamer Rechtsschutz gegen legislatives Unrecht nicht anders als i n den verfahrensrechtlichen Formen der Normenkontrolle bew i r k t werden kann". Tatsächlich habe ich mich (a.a.O.) für den Rückgriff auf die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle deshalb ausgesprochen, w e i l die V w G O diese „ i n ihrem § 47 als gesetzliches Modell" zur Verfügung stellt. I m übrigen beruht die von Renck entwickelte Ablehnung meines Konzepts auf der keineswegs stichhaltig begründeten Prämisse, die Verfassung setze die völlige Trennbarkeit der Institutskomplexe des Rechtsschutzes u n d der objektiven Rechtsbeanstandung voraus (a.a.O., 277). 60

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waltungsgerichtliche Feststellungsklage eigener A r t empfiehlt 6 1 , vermögen nicht zu überzeugen. So ist die Verweisung auf den angeblich klaren Wortlaut des § 47 VwGO schon deshalb unbehelflich, weil kein noch so klarer Gesetzeswortlaut die Geltungskraft übergeordneter Verfassungsprinzipien beseitigen kann. Nicht stichhaltig ist auch das Argument, das Normenkontrollverfahren des § 47 VwGO biete als voll ausgebildetes Beanstandungsverfahren wesentlich mehr, als die Rechtsschutzgarantie des A r t . 19 Abs. 4 GG fordere, so daß es „nicht von der Basis her überall durchgesetzt werden könne". Vom Zweck und von den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen her ist es sicher berechtigt, die zwei Typen des Beanstandungsverfahrens und des Rechtsschutzverfahrens einander gegenüberzustellen. Es besteht jedoch keine Notwendigkeit, die verfahrensrechtliche Ausgestaltung der Normenkontrolle jeweils ausnahmslos an den Prinzipien zu messen, die das herkömmliche Prozeßverständnis dem gerade einschlägigen Verfahrenstyp zugeordnet hat. Bereits anfangs wurde darauf hingewiesen, daß es durchaus sinnvoll ist, auch das Rechtsschutzverfahren auf die allgemein verbindliche Feststellung der Ungültigkeit der kontrollierten Norm auszurichten. Nicht stichhaltig erscheint schließlich die Behauptung, daß der Rückgriff auf die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle eine — nur vom Bundesverfassungsgericht feststellbare — Teilnichtigkeit des § 47 VwGO bedinge, weil dann die i n i h m enthaltene Regelung entgegen dem Gesetzeswortlaut „direkt i m ganzen Bundesgebiet" gelten würde. § 47 VwGO kann durchaus i n der Weise verfassungskonform interpretiert werden, daß die Einführung der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle dem Ermessen des Landesgesetzgebers stets, aber auch nur i n den Fällen überlassen ist, i n denen der Rechtsschutz gegen Verwaltungsrechtsnormen nicht durch Art. 19 Abs. 4 GG zwingend verlangt wird. Abzulehnen ist auch das Konzept von Wilken, der sich gegen den „behaupteten Modellcharakter" des § 47 VwGO wendet 6 2 . Die von ihm empfohlene „Klage auf Feststellung, daß die Rechtsvorschrift den Kläger in seinen Rechten verletze", w i r f t das schwierige Problem der Rechtskrafterstreckung auf die normanwendende Stelle auf. Seine Bewältigung ist auf mühsame Umwege und kühne Konstruktionen angewiesen, die sich bei einer analogen Anwendung des § 47 VwGO leicht vermeiden lassen. Die verfassungsrechtliche Garantie eines Rechtsschutzes gegen rechtswidrig erlassene Verwaltungsrechtsnormen umschließt zwangsläufig auch einen Rechtsschutz gegen die rechtswidrige Unterlassung einer Verordnung, sofern tatsächlich einmal ausnahmsweise ein Anspruch auf den 61 82

Maurer, S. 294 f., 308. Wilken, DVB1. 69, 535.

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Erlaß einer Verordnung gesetzlich eingeräumt ist. I n diesem Falle ist die allgemeine Leistungsklage das angemessene Rechtsschutzmittel. Da die Verpflichtung einer Behörde zum Erlaß einer allgemein verbindlichen Norm praktisch eine ebenso weittragende Bedeutung hat wie die allgemein verbindliche Ungültigkeitserklärung einer Norm, erscheint es richtig, für die Normenleistungsklage gleichfalls die Zuständigkeit des OVG bzw. des BVerwG anzuerkennen 63 . Als ein gesetzlich nicht verankertes, aber durch Art. 19 Abs. 4 GG zwingend gebotenes Rechtsschutzverfahren kann eine Normenleistungsklasse nur von einem Rechtsträger erhoben werden, der behauptet, durch die Unterlassung der Normsetzung in seinen Rechten verletzt zu sein. Unerheblich ist es, ob die begehrte Rechtsverordnung unmittelbar wirkende oder auf einen Vollzugsakt angelegte Normen enthält. Auch die Unterlassung einer auf einen Vollzugsakt angelegten Norm stellt für denjenigen Rechtsträger, der einen Anspruch auf den Erlaß dieser Norm hat, eine unmittelbare Rechtsbeeinträchtigung dar. Denn mangels einer einschlägigen Rechtsgrundlage kann der Vollzugsakt nicht eingeklagt werden. 2. Rechtsverordnungen ohne unmittelbare Rechtswirkung unterliegen der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle lediglich nach Maßgabe des § 47 VwGO. Ein auf die allgemein-verbindliche Feststellung ihrer Ungültigkeit gerichtetes Verfahren ist also nur dann zulässig, wenn diese Rechtsverordnungen Normen i m Bereich des Landesrechts enthalten und wenn der Landesgesetzgeber von der Ermächtigung des § 47 VwGO Gebrauch gemacht hat. Insoweit ist die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle tatsächlich „gesetzlich eindeutig" festgelegt 64 , so daß aus verfassungsrechtlichen Erwägungen für ihre Erweiterung i m Wege der Lückenfüllung kein Anlaß besteht. 3. Der Rückgriff auf das Modell der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle ist ausgeschlossen, wenn die Gültigkeit einer Rechtsvorschrift i n Frage steht, die sachlich nicht in den Rahmen der Zuständigkeit des OVG fällt. Verordnungen zivilrechtlicher oder rein strafrechtlicher A r t unterliegen ebensowenig der Rechtskontrolle der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit wie die verwaltungsrechtlichen Verordnungen einer Materie, deren Jurisdiktion einer besonderen Verwaltungsgerichtsbarkeit anvertraut ist. I n diesen Fällen muß durch ein sorgfältiges Studium der einschlägigen Prozeßordnungen das angemessene Rechtsschutzmittel gefunden werden 6 5 . Regelmäßig w i r d eine atypische Feststellungsklage, deren Entscheidung nur inter partes w i r k t , i n Betracht kommen. Ein Normenprüfungsverfahren von der A r t der Normenkontrolle des § 47 VwGO scheidet aus, solange es i n der betreffenden Gerichtsbarkeit über63 64 65

Α. A. hinsichtlich des zuständigen Gerichts noch DVB1. 65, 632. Vgl. Maurer, S. 295. Vgl. Maurer, S. 278.

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haupt nicht verankert ist. I m Wege der Rechtsfortbildung kann zwar innerhalb einer Gerichtsbarkeit ein dort vorhandenes Prozeßinstitut auf Fälle ausgedehnt werden, die i h m nach dem geschriebenen Recht nicht zugeordnet sind. Es ginge aber zu weit, allein m i t Hilfe der Interpretation i n einer Gerichtsbarkeit ein Rechtsschutzverfahren einzuführen, das ihr bislang völlig fremd ist. Damit bin ich am Ende meiner Ausführungen. Zum einen Teil hatten sie den Charakter einer Bestandsaufnahme; zum andern versuchten sie, für die unbewältigten Probleme der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle eine Lösung zu empfehlen, die die Fortentwicklung von Rechtswissenschaft und Rechtswirklichkeit berücksichtigt. Inwieweit die vorgetragenen Überlegungen den Gang der Dinge zu beeinflussen vermögen, w i r d am Ende die Rechtsprechung entscheiden. Darüber freilich sollte Klarheit bestehen, daß die erörterten Fragen eine durchaus aktuelle Bedeutung haben. Wenn nicht alles trügt, gibt es Sachzwänge, die schon in absehbarer Zeit die Normsetzung der Exekutive ein bisher kaum geahntes Ausmaß annehmen lassen. Die Rechtskontrolle der Verordnungen w i r d dann an Gewicht gewinnen, soll die rechtsstaatliche Qualität unserer Rechtsordnung erhalten bleiben und weiter gefestigt werden. Die Unklarheiten und Unvollkommenheiten der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle können nicht mehr übersehen werden. Nach „zehn Jahren Verwaltungsgerichtsordnung" ist eine Korrektur des §47 VwGO längst überfällig. Sie würde bestehende Zweifel beseitigen, unfruchtbare Streitgespräche zum Schweigen bringen und damit den engagierten Juristen des öffentlichen Rechts die Möglichkeit geben, ihren Scharfsinn noch wesentlicheren Anliegen zuzuwenden.

Die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle ( I I ) Die Normenkontrolle in der Praxis und in rechtspolitischer Sicht Von Klaus Meyer Ausgehend von einer kurzen Gesamtschau der gesetzlichen Regelung des § 47 VwGO möchte ich die Praxis der damit befaßten Gerichte vornehmlich nach der Richtung prüfen, I. ob und für welche Arten von Rechtsnormen die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle wesentliche Bedeutung gewonnen hat, II. welche rechtlichen Schwierigkeiten die derzeitige Regelung bereitet hat. Auf dieser Grundlage möchte ich mich sodann den rechtspolitischen Fragen zuwenden, I I I . ob die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle ein Rechtsinstitut ist, welches kraft verfasungsrechtlichen Gebots oder wegen überwiegend positiver Bewertung seiner Funktion beizubehalten ist oder nicht, IV. wie die i n der Rechtspraxis i n Erscheinung getretenen Schwierigkeiten und Mängel durch eine Neufassung des Gesetzes ausgeräumt werden können. § 47 nimmt i m Gefüge der VwGO in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung ein. 1. Die Vorschrift steht i m 6. Abschnitt des Gesetzes, der die Überschrift „Verwaltungsrechtsweg und Zuständigkeit" trägt. Bemerkenswert ist aber, daß die Regelung des Verwaltungsrechtswegs einschließlich der Klagearten mit § 43 VwGO endet, § 44 systematisch (vgl. dazu § 260 ZPO) überhaupt nicht i n diesen Abschnitt gehört und § 47 i m Anschluß an die Zuständigkeitsvorschriften der §§ 45, 46 primär als eine besondere Vorschrift über die funktionelle Zuständigkeit der Oberverwaltungsgerichte — also nicht als Rechtsweg-Vorschrift — konzipiert ist. Doch ist der Rechtsweg durch den Passus, daß das Oberverwaltungsgericht „ i m Rahmen seiner Gerichtsbarkeit" entscheide, mit eingefangen. Wie noch darzulegen sein wird, handelt es sich bei der Normenkontrolle um einen Rechtsweg besonderer Art. 11 Speyer 45

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c Eine Schwierigkeit ergibt sich i m Überschneidungsbereich zwischen der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte und Baulandgerichte. Ich meine jedoch, daß für die Normenkontrolle hier immer die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit i n Betracht kommt. Jedenfalls kann ich mir keine untergesetzliche Norm, insbesondere keinen Bebauungsplan vorstellen, der ausschließlich für die von den Baulandgerichten zu entscheidenden Fälle erheblich ist. 2. § 47 ist so gefaßt, daß die Normenkontrolle danach nicht bundeseinheitlich, also für alle Bundesländer eingeführt ist, sondern einer landesgesetzlichen Einführung bedarf. Es stellt sich die Frage, ob der Bundesgesetzgeber allein ohne Zwischenschaltung des Landesgesetzgebers eine bundeseinheitliche Regelung treffen kann. Sie ist m. E. zu bejahen, da es sich um eine Regelung des Gerichtsverfahrens handelt, die Normenkontrolle für untergesetzliches Recht auf der letztlich i m Grundgesetz verankerten Rangordnung der Normen beruht und die rechtsprechende Gewalt wegen ihres gesamtstaatlichen Charakters insoweit zur Disposition des Bundesgesetzgebers steht 1 . 3. Die Antragsbefugnis ist gesondert von der Klagebefugnis i. S. der §§ 42 Abs. 2, 43 VwGO eigenständig i n § 47 VwGO selbst geregelt. Die Praxis gibt Anlaß, diese Regelung neu zu überdenken. Ich werde im Laufe meiner Ausführungen darauf noch zurückkommen. 4. § 47 VwGO unternimmt es auf zweierlei A r t , die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle von der Verfassungsgerichtsbarkeit abzugrenzen. Soweit er den Gegenstand der Prüfung auf untergesetzliches Landesrecht beschränkt, folgt er seinem Vorläufer, dem § 25 VGG. Soweit er darüber hinaus einen Vorbehalt zugunsten der Verfassungsgerichte i n Bund und Ländern enthält, weicht er von seinem Vorläufer ab. Diese Vorbehaltsklausel hat nicht etwa nur deklaratorischen Charakter, weil sich das gleiche schon aus A r t . 93 Abs. 1 Nr. 2 GG und den entsprechenden Vorschriften der Landesverfassungen ergäbe; denn das objektive Normenkontrollverfahren des A r t . 93 GG schließt Rechtsschutz auf Antrag von Personen gegenüber untergesetzlichen Normen nicht aus, wie das Beispiel der durch einfaches Gesetz eingeführten Verfassungsbeschwerde gegenüber Normen erweist. Auch das Antragsrecht der Behörden nach § 47 VwGO ist qualitativ von dem der Antragsberechtigten nach A r t . 93 Abs. 1 Nr. 2 GG verschieden, erweitert also nicht unzulässig die hinsichtlich der antragsberechtigten Verfassungsorgane abschließende 1 Vgl. schon § 47 des Entwurfs einer Bundesverwaltungsgerichtsordnung, aufgestellt von der Vereinigung der Präsidenten der Verwaltungsgerichte des Bundesgebiets i n Zusammenarbeit m i t der Arbeitsgemeinschaft der Innenminister der Länder, DVB1.1951, nach S. 568; Menger, Landesrecht vor Bundesgerichten, 1962.

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Regelung des GG 2 . Die Vorbehaltsklausel hat i n der Praxis zu außerordentlichen Abgrenzungsschwierigkeiten geführt und stellt — besonders auch angesichts der Reichweite der Verfassungsbeschwerde nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 3 — die Effektivität der ganzen Regelung des § 47 VwGO i n Frage. I. Landesgesetzlich ist die Normenkontrolle bekanntlich nur i n den Ländern Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Bremen und Schleswig-Holstein eingeführt. Da hiernach die Mehrzahl der Bundesländer von § 47 VwGO bisher keinen Gebrauch gemacht hat, stellt sich die Frage, ob allein schon diese Tatsache gegen ein Bedürfnis für dieses Rechtsinstitut spricht. Eine solche Argumentation erscheint m i r zu vordergründig. Ihr wäre entgegenzuhalten, daß die Normenkontrolle namentlich i n den 3 süddeutschen Ländern, i n denen sie bereits vorher galt, ihren Platz behauptet hat und an Bedeutung zu gewinnen scheint. Dazu einige Zahlen: I n Bayern sind unter der Geltung des § 25 VGG insgesamt 104, i m Durchschnitt jährlich 10 Normenkontrollverfahren anhängig geworden, seit Inkrafttreten der VwGO bis Mitte 1969 insgesamt 119 Verfahren, d. h. durchschnittlich jährlich 12 Verfahren. I n Baden-Württemberg liegen die Zahlen wesentlich höher. M i r sind lediglich die Zahlen seit Inkrafttreten der VwGO bekannt. Von 1960 bis 1968 sind dort 267 Normenkontrollverfahren anhängig geworden, d. h. jährlich i m Durchschnitt 30 Verfahren. I n Hessen sind von 1960 bis 1969 (November) 100 Verfahren anhängig geworden, also jährlich etwa 10 Verfahren. I n Schleswig-Holstein war demgegenüber der Anfall von Normenkontrollverfahren vergleichsweise gering, ist aber i m Steigen begriffen. Daß die Zahlen generell nur einen winzigen Bruchteil etwa der Zahlen der Anfechtungsklagen ausmachen, erklärt sich nicht zuletzt daraus, daß die Zahl aller Verwaltungsakte i n einem ähnlichen Verhältnis zur Zahl der produzierten Normen stehen dürfte. Als Parallele erscheint ein Hinweis auf die Normenkontrolle i m Rahmen des Vorlageverfahrens nach A r t . 177 E WG-Vertrag interessant. Die Vorlagen beim Europäischen Gerichtshof sind i m Ansteigen begriffen. Seit 1961 sind es insgesamt 77 Verfahren dieser Art, davon allein seit 1967 55 Verfahren. Wesentlich aufschlußreicher erscheint mir eine nähere Betrachtung der A r t der kontrollierten Normen. Sieht man die Veröffentlichungen der 2

Harald Guthardt-Schulz, Die Begrenzung der verwaltungsgerichtlichen

Normenkontrolle durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, Dissertation Göttingen 1969, S. 43 ff. 3 BVerfGE 6, 32 ff.; 10, 99 ff.; 23, 208, 222 ff.; N J W 1969, 309 ff.

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Entscheidungen, besonders die Amtlichen Sammlungen der Obergerichte m i t Normenkontrollzuständigkeit, durch, so ergibt sich, daß der weitaus größte Teil der Normenkontroll-Entscheidungen sich auf örtliches Satzungsrecht und örtlich begrenztes Verordnungsrecht bezieht, während Verordnungen auf Landesebene nur einen verschwindend geringen Teil ausmachen. Ernstlich zweifelhaft ist hiernach, ob die untergesetzliche Hechtsetzung auf Landesebene, also von Landesregierungen und Ministerien für den Bereich des ganzen Landes i m Rahmen des Art. 80 GG und der entsprechenden Ermächtigungen i n den Landesverfassungen der prinzipalen Normenkontrolle durch die oberen Verwaltungsgerichte bedarf. Ich möchte die Frage verneinen. Dies verdient deshalb festgehalten zu werden, weil sich noch zeigen wird, daß gerade bei dieser Species untergesetzlicher Rechtsetzung die Gefahr der Überschneidung mit der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle, die doch ersichtlich bei der Fassung des § 47 VwGO Pate gestanden hat, am ehesten akut werden kann und ihre Herausnahme aus der Kontrolle nach § 47 VwGO dazu beitragen könnte, die umstrittene Vorbehaltsklausel zugunsten der Verfassungsgerichtsbarkeit entbehrlich zu machen. Die weitaus größte praktische Bedeutung hat die Normenkontrolle nach § 47 VwGO i m Bereich örtlicher Rechtsetzung, also der Satzungen der Gemeinden und Gemeindeverbände sowie sonstiger öffentlich-rechtlicher Körperschaften und Anstalten einerseits und der Verordnungen nachgeordneter Landesbehörden (ζ. B. i m Bereich der Gefahrenabwehr, des Natur- und Landschaftsschutzes) andererseits. Hier besteht ein echtes Bedürfnis für die unmittelbare Normenkontrolle. Mag es sich auch um die „kleine Münze" der Rechtsetzung handeln, so t r i t t doch gerade das Satzungsrecht in unserer betont kommunalen Verwaltungsstruktur für den Bürger äußerst fühlbar in Erscheinung. Auch ist zu bedenken, daß die örtliche Rechtsetzung zu einem erheblichen Teil bei kleinen und kleinsten Gemeinden oder ihnen i m Wirkungsbereich entsprechenden Behörden liegt, dort zahlreichen Fehlerquellen ausgesetzt ist und die Normenkontrollentscheidung etwa bei einer gemeindlichen Steuerordnung oder Beitragssatzung eine Serie von Klagen gegen die einzelnen Abgabenbescheide entbehrlich machen oder doch einschränken könnte. Dabei bin ich mir der Grenzen dieser Position bewußt. Ich w i l l nicht der gerichtlichen Entscheidung abstrakter Rechtsfragen das Wort reden, sondern lediglich einer begrenzten Gültigkeitskontrolle untergesetzlicher Rechtsnormen Raum geben bzw. lassen. Eine besondere Würdigung verdienen i n diesem Zusammenhang diejenigen untergesetzlichen Rechtsnormen, die ihrem Inhalte nach zwischen der Rechtsetzung i m klassischen Sinne und der eigentlichen Verwaltungstätigkeit zur Regelung von Einzelfällen stehen.

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A n erster Stelle seien hier die Bebauungspläne genannt, die nach § 10 BBauG i n der Gestalt einer Ortssatzung, also eines Normtyps, ergehen, ihrem Inhalte nach aber nicht zu der den Rechtsnormen eigenen Generalisierung tendieren, sondern auf die einzelnen Grundstücke des Piagebietes bezogene Regelungen enthalten. Durchschnittlich die Hälfte und mehr der i n neuerer Zeit anhängig gewordenen Normenkontrollverfahren betreffen Bebauungspläne. Aber auch die Regelung, die § 9 des i n Norddeutschland teilweise noch geltenden Pr. K A G für die Erhebung kommunaler Beiträge trifft, ist eine solche Mischform zwischen Rechtsetzung und Exekutive. Der Beschluß über die Erhebung von Beiträgen für eine öffentliche Veranstaltung (Erneuerung einer Straßendecke, Bau einer Entwässerungs- oder Müllverbrennungsanlage) ist normativen Charakters, aber andererseits nur ein Glied i n einer Verfahrenskette, die m i t dem einzelnen Beitragsbescheid endet. Die Rechtsanwälte — namentlich i n Schleswig-Holstein — sind nur noch nicht darauf gekommen, daß es vielleicht ökonomischer wäre, den Beitragsbeschluß selbst zur Normenkontrolle zu bringen, statt wegen aller Beitragsbescheide Klagen durchzuführen — jedenfalls i n Fällen, i n denen die Fehlerquelle i m Beitragsbeschluß liegt, der durch die einzelnen Klagen nur inzidenter zur Nachprüfung gebracht werden kann. Ein weiteres Feld könte sich eröffnen, wenn man auch sonstige Regelungen von normativem Gewicht einbezieht, also Verwaltungsvorschriften, die nach Inhalt und Funktion die allgemeine Rechtsordnung ergänzen 4 . Dann würde sich auch die Frage stellen, ob Flächennutzungspläne oder gar landesplanerische Rahmenprogramme normenkontrollfähig sind, obwohl sie sicher keine Rechtsnormen sind, aber doch i m Zusammenhang m i t und i n Ausfüllung von gesetzlichen Vorschriften, also etwa nach § 1 Abs. 3 und § 7 oder über § 35 Abs. 2 und 3 BBauG Außenwirkung entfalten. Die Chance, in Bereichen dieser A r t durch einen Normenkontrollantrag eine Serie einzelner Klagen entbehrlich zu machen, ist größer als die Gefahr, daß durch einen weiteren Rechtsweg die Neigung zum Prozessieren unangemessen gefördert werden könnte. Die Gefahr einer Vermehrung der Richterstellen an den oberen Verwaltungsgerichten sehe ich angesichts der Erfahrungen der Länder, i n denen die Normenkontrolle eingeführt ist, nicht. Allerdings mag, wie das Beispiel Baden-Württemberg zeigt, die Normenkontrolle — wenn es sich erst herumgesprochen hat, daß es so etwas gibt und auch zum Erfolg führen kann — populärer werden; doch liegt das Äquivalent dann i n der Verminderung von Einzelprozessen oder doch jedenfalls i n der Beschränkung ihres sachlichen U m 4 Vgl. dazu Fritz Ossenbühl, DVB1. 1969, 526 ff.; vgl. andererseits Bad.-Württ. VGH, Beschl. v. 21. 8. 1969 - 1143/69 - B W V e r w B l . 1970,12.

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fangs, wenn die Möglichkeit besteht, Fragen der Normgeltung aus den Einzelverfahren auszuklammern und i n einem Verfahren generell zu klären 5 . II. Nun ist allerdings nicht zu verkennen, daß die derzeitige gesetzliche Regelung der Normenkontrolle manche Schwierigkeiten bereitet hat, die in den verfassungsrechtlichen Bereich hineinreichen und die Effektivität und Praktikabilität dieses Rechtsinstituts in Frage stellen. Diese Schwierigkeiten beginnen schon bei der Einordnung der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle in unser Verfassungssystem. 1. Gehörte die Normenkontrolle zum Bereich des Rechtsschutzes des Bürgers gegen Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt i m Sinne des A r t . 19 Abs. 4 GG, so wäre sie grundsätzlich auch unabhängig von § 47 VwGO rechtens. Diese Auffassung w i r d i n der Tat i m Schrifttum vertreten, allerdings nur für sog. Vollzugsnormen, d. h. unmittelbar w i r kende Normen, die den Einzelnen belastende Rechtsfolgen auslösen, ohne daß es dazu eines besonderen Vollzugsaktes oder Aktes der Gesetzesanwendung bedarf 6 . Für solche Vollzugsnormen soll die Normenkontrolle nach A r t des § 47 VwGO auch i n denjenigen Bundesländern geltendes Recht sein, i n denen sie landesgesetzlich nicht eingeführt ist 7 . Ich vermag dieser Auffassung nicht zu folgen (so schon mein Vortrag i n der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung i n Berlin i m November 1967). Dazu bedarf es gar nicht einmal der Bezugnahme auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juni 19688, wonach Gesetzgebung — i m Sinne von Normsetzung — nicht unter den Begriff der öffentlichen Gewalt, wie ihn A r t . 19 Abs. 4 GG versteht, fällt; denn i n der Wissenschaft w i r d demgegenüber immerhin auch die Ansicht vertreten, daß der Begriff der öffentlichen Gewalt i n A r t . 19 Abs. 4 grundsätzlich alle Staatsgewalten umfasse 9. Mindestens ist es erwägenswert, Art. 19 Abs. 4 GG auf solche Rechtsetzungsakte m i t zu beziehen, die von der Verwaltung — also nicht 5 Ubereinstimmend Friesenhahn, Z u r richterlichen Kontrolle von Rechtsverordnungen nach dem Recht der BRD, i n : Hundert Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit, fünfzig Jahre Verfassungsgerichtshof i n Österreich, S. 103 ff., 129. 6 Z u m Begriff der Vollzugsnorm vgl. Brohm, Rechtsschutz i m Bauplanungsrecht, S. 52 ff. 7 Vgl. insbesondere Obermayer, DVB1. 1965, 625 ff. u n d Bartlsperger, DVB1. 1967, 360 ff., insbes. 368 ff. 8 DVB1.1968, 637. 9 So Bettermann, ArchöffR Bd. 86, 129 ff., 153; neuerdings Wilken, DVB1. 1969, 532 ff. unter Bezugnahme auf seine als Monographie erschienene Dissertation; für Vollzugsnormen auch Obermayer, a.a.O., S. 627.

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von der Legislative i m engeren Sinne — geschaffen werden. Aber Art. 19 Abs. 4 GG enthält jedenfalls keine Aussage über die Verfahrensart, und wenn man sich den § 47 VwGO hinwegdenkt, so wäre es schlechterdings ausgeschlossen, allein durch A r t . 19 Abs. 4 GG zu einer Normenkontrolle nach A r t des § 47 VwGO zu gelangen, sondern — wenn §§40 ff. VwGO nicht ausreichen — allenfalls zum subsidiären ordentlichen Rechtsweg. Eine etwa auf Art. 19 Abs. 4 GG gestützte verfassungskonforme gesetzesergänzende Auslegung des § 47 VwGO kann ebenfalls nicht zu einer Geltung des § 47 VwGO i n anderen Bundesländern führen, da die Fassung des § 47 VwGO unmißverständlich die Normenkontrolle von einer landesgesetzlichen Einführung abhängig macht, also allein keinen über diesen Rahmen hinausgehenden Geltungswillen hat. I m übrigen gibt es einen anderen Rechtsschutz — zwar nicht gegen die Norm selbst, aber gegen die durch Vollzugsnormen bewirkten nachteiligen Veränderungen der Rechtsverhältnisse der Betroffenen — s e i es i m Wege einer atypischen Klage unmittelbar kraft § 40 VwGO oder einer Feststellungsklage nach § 43 VwGO 1 0 . 2. Die von mir vertretene Auffassung, daß das Rechtsinstitut des § 47 VwGO nicht durch A r t . 19 Abs. 4 GG geboten ist, ändert nichts daran, daß § 47 VwGO — wie übrigens auch die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle — zur Rechtspflege und insbesondere zur Rechtsprechung i. S. des Abschnittes I X (Art. 92 ff.) des GG gehört. Zwar entspricht das nicht ganz der von Friesenhahn vertretenen Definition der Rechtsprechung als streitenscheidender Gesetzesanwendung 11 , weil die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG und auch die Normenkontrolle des § 47 VwGO, soweit sie von Behörden beantragt wird, ein objektives Verfahren ohne die für den Rechtsstreit übliche Rollenverteilung darstellt. Aber das GG begreift in A r t . 92 ff. die Rechtsprechung erkennbar in einem weiteren Sinne, der die Normenkontrolle einschließt. Soweit die Normenkontrolle nach § 47 VwGO von Personen beantragt werden kann, die durch die Anwendung der Norm einen Nachteil erlitten oder zu erwarten haben, ist das Verfahren nicht bloß ein solches zur Prüfung des objektiven Rechts als Einrichtung der Rechtspflege, sondern erfüllt darüber hinaus eine Rechtsschutzfunktion 12 . Schließlich w i r d man das Verfahren nach § 47 VwGO auch als einen Rechtsweg ansehen können 1 3 . Damit ist jedoch nicht gesagt, daß dieser speziell gestaltete Rechtsweg über A r t . 19 Abs. 4 GG erzwungen werden könne, worauf ich bereits 10 Vgl. Bachof, ArchöffR. Bd. 86, 186 ff., 192 unter Bezugnahme auf den Bad.W ü r t t . V G H daselbst S. 95 ff., auch Wilken, a.a.O., S. 536 oben. 11 Festschrift für Richard Thoma, S. 20 ff. 12 Vgl. Schoen, Gedächtnisschrift für W. Jellinek, S. 407 ff., Obermayer, a.a.O., S. 630; Bachof, D Ö V 1964, 9 ff., 11; Wilken, a.a.O., S. 533 f. 13 So lapidar BVerfGE 11, 232 unter B i l l i g u n g von Bachof, a.a.O., und Bettermann, a.a.O., S. 171 f.

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hingewiesen habe. I n diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle i n den Bundesländern, i n denen sie landesgesetzlich eingeführt ist, nach § 90 BVerfGG als Rechtsweg ausgeschöpft sein muß, ehe Verfassungsbeschwerde erhoben werden kann. Die A n t w o r t hierauf w i r d ζ. Z. durch die sog. Vorbehaltsklausel bestimmt. Solange die Normenkontrolle durch den i n § 47 VwGO enthaltenen ausdrücklichen und uneingeschränkten Vorbehalt zugunsten der Verfassungsgerichtsbarkeit begrenzt ist, scheidet sie als Rechtsweg, der vor der Verfassungsbeschwerde auszuschöpfen wäre, aus. Es erscheint nicht angängig, aus § 90 Abs. 2 BVerfGG herzuleiten, daß auch das Verfahren nach § 47 VwGO i. V. m i t den einschlägigen Landesgesetzen erst auszuschöpfen sei; denn der ausdrückliche Vorbehalt des § 47 VwGO zugunsten der Verfassungsgerichtsbarkeit hat den Sinn und Zweck, Überschneidungen m i t der Zuständigkeit der Verfassungsgerichte auszuschalten, und schließt damit eine Anrufung der oberen Verwaltungsgerichte vor der der Verfassungsgerichte schlechthin aus 14 . Würde dagegen die Vorbehaltsklausel i n § 47 VwGO entfallen, so würde § 90 Abs. 2 BVerfGG auch hier voll zum Tragen kommen, vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde also auch das Verfahren nach § 47 VwGO auszuschöpfen sein. 3. Damit bin ich bei der i n § 47 VwGO enthaltenen Vorbehaltsklausel angelangt, deren Auslegung i n der Praxis die meisten Schwierigkeiten verursacht und die Praktikabilität der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle ernstlich i n Frage gestellt hat und selbst nach einer gewissen Klärung durch die Rechtsprechung ζ. T. auch jetzt noch i n Frage stellt. Die Schwierigkeiten hatten ihren Schwerpunkt zunächst i n der Frage, ob als Prüfungsmaßstab Bundesrecht schlechthin ausgeschlossen sei, weil nach A r t . 93 Abs. 1 Nr. 2 GG die Prüfung auch des untergesetzlichen Landesrechts am Maßstab des Bundesrechts dem Bundesverfassungsgericht zustehe, so daß dieser Prüfungsmaßstab i m Verfahren nach § 47 VwGO entfalle. Die Beantwortung dieser Frage hängt von der Auslegung der Vorbehaltsklausel ab. Ich kann mich i n dieser Frage, deren Behandlung i m Schrifttum und Rechtsprechung viele Seiten füllt, kurz fassen. Nach der sog. abstrakten Auslegung der Vorbehaltsklausel, die zunächst zu überwiegen schien, schließt die durch A r t . 93 Abs. 1 Nr. 2 GG begründete Kompetenz des BVerfG es schlechthin aus, i m Verfahren nach § 47 VwGO Landesrecht am Maßstab des Bundesrechts zu prüfen 1 5 . Nach der konkreten Auslegung, die sich inzwischen i n der Praxis eindeutig 14

So auch Bettermann, a.a.O., S. 172; Obermayer, a.a.O., S. 629; Wilken,

a.a.O., S. 536f.; anders OVG Lüneburg, I I I . Senat, DVB1. 1966, 760 m i t k r i t i scher Besprechung von Menger/Erichsen, VerwArch. Bd. 58, 379 ff. 15 Vgl. Bad.-Württ. V G H , ArchöffR. Bd. 86, 95; OVG Bremen, DÖV 1961, 264 u. a.

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durchgesetzt hat, kommt es demgegenüber entscheidend darauf an, ob die Antragsteller, die nach § 47 VwGO legitimiert sind, einen Normenkontrollantrag zu stellen, ihrerseits ein Verfassungsgericht anrufen können. Da durch Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG nur bestimmten Verfassungsorganen und Parlamentsgruppen ein Antragsrecht eingeräumt ist, w i r d § 47 VwGO nach dieser nunmehr herrschenden Auslegung durch A r t . 93 GG kaum noch eingeschränkt 16 . Insbesondere sind die Oberverwaltungsgerichte, soweit sie Normenkontrolle ausüben, nicht gehindert, das Bundesrecht als Maßstab anzuwenden. Die Auffassung Friesenhahns 17, daß die in § 47 VwGO einem Landesgesetz vorbehaltene Einführung der Normenkontrolle der Anwendung des Bundesrechts als Maßstabsrecht entgegenstehe, überzeugt nicht, zumal da die bundesrechtliche Grundnorm in Gestalt des § 47 VwGO vorhanden ist. Besondere Beachtung verdient die kraft der Vorbehaltsklausel eintretende Beschränkung durch die bundes- und landesrechtliche Verfassungsbeschwerde sowie die Popularklage nach bayerischem Recht. Zwar kann jemand Verfassungsbeschwerde gegen eine Rechtsnorm nur dann erheben, wenn er durch die Norm selbst gegenwärtig und unmittelbar verletzt w i r d 1 8 . Von wesentlicher Bedeutung ist aber andererseits die Rechtsprechung des BVerfG zu A r t . 2 GG, wonach die hier gewährleistete freie Entfaltung der Persönlichkeit durch jede Rechtsvorschrift beeinträchtigt wird, die unter irgend einem Aspekt formell oder materiell mit der Verfassung nicht i m Einklang steht 19 . Das bedeutet, daß letztlich jeder Verfassungsverstoß, der die Rechtssphäre des Einzelnen betrifft, zugleich als Verletzung des Grundrechts des Art. 2 GG zu betrachten ist. Damit ist der Verfassungsbeschwerde ein so weites Feld eröffnet, daß jede Belastung eines Bürgers durch eine aus irgend einem Grund ungültige Norm als Grundrechtsverletzung mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden kann m i t der weiteren Folge, daß die Vorbehaltsklausel des § 47 VwGO die Anrufung der oberen Verwaltungsgerichte insoweit einschränkt. Diese zwangsläufige Konsequenz ließe sich nur m i t fragwürdigen Konstruktionen vermeiden, etwa dadurch, daß der Antragsteller i m Verfahren nach § 47 VwGO von der Geltendmachung einer Grundrechtsverletzung i n diesem Verfahren ausdrücklich absieht und sich auf die Rüge von Rechtsverletzungen ohne Grundrechtsqualität beschränkt 20 . 16 Vgl. Bad.-Württ. VGH, E S V G H 13, 71; 16, 21; 17, 123; BayV G H , DVB1. 1963, 107; HessVGH, E S V G H 17, 111; OVG Lüneburg, DVB1. 1966, 760 u n d N J W 1969, 2219; Menger/Erichsen, VerwArch. Bd. 58, 379 ff. m i t weiteren Nachweisen. 17 Vgl. die i n Fußn. 5 genannte Schrift, S. 136 ff.; vgl. dazu aber schon Bachof, DÖV 1964,10 Fußn. 13. 18 BVerfGE 18, 313. 19 BVerfGE 6, 32; 9,11; 23, 208, 223 ff. 20 Z u r Bedenklichkeit einer solchen Beschränkung vgl. Guthardt-Schulz, a.a.O., S. 81.

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Die Vorbehaltsklausel bleibt also nach wie vor problematisch. 4. Auch die Regelung der Antragsbefugnis bedarf kritischer Würdigung. Soweit Behörden antragsberechtigt sind, ist die Antragsbefugnis nicht eingeschränkt. Daran knüpft sich die Frage, ob es sich insoweit u m ein objektives Kontrollverfahren handelt, für welches jede Behörde — auch eine Bundesbehörde oder die eines anderen Bundeslandes — den Anstoß zur Kontrolle geben kann oder ob auch hier das Vorliegen einer Bezogenheit zu prüfen ist. Eine Klarstellung könnte de lege ferenda mindestens in der Weise erfolgen, daß nur bestimmte Behörden, etwa solche, deren Zuständigkeitsbereich von der Norm berührt wird, antragsberechtigt sind. Die Antragsbefugnis der Behörden hat praktisch bisher kaum eine Rolle gespielt. Das hängt wohl damit zusammen, daß Verfahren nach § 47 VwGO — anders als Verfahren der verfassungsrechtlichen Normenkontrolle nach § 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i n Verb, m i t §§ 13 Nr. 6, 76 BVerfGG — nur mit dem Ziel des Ausspruchs der Ungültigkeit der Norm eingeleitet werden. Zwar sagt § 47 VwGO insoweit nur, daß „über die Gültigkeit der Norm" entschieden werde. Doch bestimmen die Ausführungsgesetze der Länder überwiegend die normsetzende Körperschaft zum Antragsgegner, während die verfassungsrechtliche Normenkontrolle, die auch mit dem Ziel des Ausspruchs der Gültigkeit der Norm eingeleitet werden kann, schon deshalb einen Antragsgegner nicht kennt 2 1 . So nützlich an sich die Möglichkeit eines Normenkontrollantrags von Behörden mit positivem Ziel zur Klärung von Zweifeln und Meinungsverschiedenheiten auch sein könnte, so erscheint es doch de lege ferenda schwierig, i m Gesetz i n genügender Schärfe abzugrenzen, unter welchen Voraussetzungen und von welcher Seite aufgetretene Zweifel einen A n trag auf einen positiven Ausspruch des Gerichts zulässig machen sollen 22 . Gegenüber einer gesetzlichen Festlegung verdient es den Vorzug, dies ggf. der Rechtsprechung zu überlassen. Die Antragsbefugnis von Personen ist schon de lege lata eingeschränkt. Die Person muß durch die Anwendung der Vorschrift einen Nachteil erlitten oder i n absehbarer Zeit zu erwarten haben. Damit ist zwar die Streitfrage ausgeräumt, die unter der Geltung des § 25 VGG entstanden war: ob nämlich die Normenkontrolle dann noch gegeben sei, wenn der Betroffene die Möglichkeit habe, den konkreten A k t der Normanwendung wegen erlittener Rechtsverletzung m i t einer Anfechtungsklage oder einer sonstigen Klage nach §§ 40 ff. VwGO zur Nachprüfung zu 21 22

Vgl. BVerfGE 1, 219 f. Vgl. dazu § 76 Nr. 2 BVerfGG.

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bringen. Diese Klagemöglichkeiten stehen nunmehr der Normenkontrolle nicht entgegen, da auch erlittene Nachteile zum Antrag auf Normenkontrolle legitimieren. Aber der Begriff des „Nachteils" i n § 47 VwGO hat i n der Rechtsprechung eine Auslegung gefunden, die über den Begriff der geltend gemachten Rechtsverletzung i. S. des § 42 VwGO deutlich hinausgeht. Während i m Schrifttum eine Beeinträchtigung der rechtlichen Verhältnisse 23 oder eine Verletzung eines rechtlich geschützten Interesses i n einem weitgefaßten Sinne 2 4 als ausreichend und erforderlich erachtet wird, geht der Bad.-Württ. V G H 2 5 so weit, daß eine Beeinträchtigung der tatsächlichen Verhältnisse genüge. Diese Auslegung ist kaum zu widerlegen; denn Nachteil ist ein auf eine faktische Beschwer hinauslaufender Begriff, der rechtlich schwer einzugrenzen ist. Das OVG Lüneburg 2 6 hat erst kürzlich eine Begrenzung in der Weise versucht, daß ein Nachteil nur gegeben ist, wenn die Norm entweder solche Vorschriften des übergeordneten Rechts verletzt, die dem Schutz des Antragstellers zu dienen bestimmt sind, oder wenn sie den Antragsteller in einem Lebenskreis trifft, der nach den allgemeinen Wertungen der Rechtsordnung als dem Einzelnen zugeordnet und insoweit schutzwürdig anzusehen ist. Ein Verein kann die bei seinen Mitgliedern nicht als schutzwürdige Einzelinteressen anerkannten Belange nicht dadurch zu seinem geschützten Rechtsbereich machen, daß er sie durch Satzung zum Vereinszweck erhebt. Ob und inwieweit die gesetzlichen Zwecke öffentlich-rechtlicher Körperschaften und Anstalten ihnen eine Antragsbefugnis verleihen, ist offen geblieben. 5. Zweifel hat weiter die Frage verursacht, ob die Beschränkung der Allgemeinverbindlichkeit der Entscheidung auf den Fall der Verwerfung einer Norm von der Sache her geboten oder auch nur sinnvoll sei. Bettermann27 hat diese Frage verneint. Ich möchte dem folgen. Allerdings setzt dies eine Klarstellung voraus, wie zu tenorieren ist, wenn die Vereinbarkeit der Norm mit höherrangigem Recht festgestellt wird. Die Gültigkeit der Norm m i t Wirkung inter omnes auszusprechen, erscheint bedenklich, da die gerichtliche Prüfung vielleicht nicht alle denkbaren Maßstäbe umfaßt hat. Entsprechend dem vom Gericht angelegten Prüfungsmaßstab hätte die Entscheidung wohl zu lauten, daß die zu prüfende Norm m i t der Maßstabsnorm vereinbar sei. 6. Es ist nicht einzusehen, warum die Normenkontrollentscheidungen der Oberverwaltungsgerichte i n der Form von Beschlüssen ergehen, wäh23

24

Ule, Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2. Aufl., A n m . I I I 1 zu § 47.

EyermanntFröhler,

VwGO, 4. Aufl., Rdnr. 29 zu § 47, Redeker/v.

3. Aufl., Rdnr. 13 zu § 47. 25 Beschl. v. 22. 7.1966 — 1131/65 — DVB1.1967, 385 ff. 26 Beschl. v. 23.10.1969 - I OVG C 1/69 - VerwRspr. 21, 376 ff. 27 ArchöffR. Bd. 86,161.

Oertzen,

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rend die Entscheidungen in den verschiedenen Klagearten auch für Fälle minderer Bedeutung dem formstrengeren Urteilsverfahren vorbehalten sind. Auch das Bundesverfassungsgericht entscheidet nach § 25 BVerfGG grundsätzlich durch Urteil. Die Normenkontrollentscheidungen der Oberverwaltungsgerichte sollten daher aufgrund mündlicher Verhandlung, auf die — wie auch sonst — verzichtet werden kann, durch Urteil ergehen. Damit beantwortet sich auch die Frage nach der Revisibilität der Normenkontrollentscheidungen. Sie ist nach der geltenden Fassung des § 47 VwGO zu verneinen, sollte aber de lege ferenda bejaht werden; dies allein schon deshalb, weil Bundesrecht als Prüfungsmaßstab in Betracht kommt. 7. Einer Lösung bedarf auch die Frage, welche Wirkung die Verwerfung einer Norm für solche Verwaltungsakte hat, die vor der Rechtskraft der Normenkontrollentscheidung unanfechtbar geworden sind. Hier bietet sich die Parallele zu § 79 BVerfGG — ggfs. in der i n der Novellierung befindlichen Fassung — an. Ich meine, daß diese Konsequenz schon nach geltendem Recht zu ziehen ist. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß nach geltendem Recht besonders die Vorbehaltsklausel so viele Schwierigkeiten bereitet hat und noch bereitet, daß ein sachgerechterer Weg der Abgrenzung von der Verfassungsgerichtsbarkeit gefunden werden müßte, wenn der Beibehaltung der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle und ihrer Erstreckung auf die anderen Bundesländer das Wort geredet werden soll. Die übrigen aufgezeigten Probleme, die mit der Antragsbefugnis, der Allgemeinverbindlichkeit der Entscheidungen, ihrer Form und Revisibilität sowie mit der Auswirkung einer Nichtigkeitserklärung der Norm auf bereits unanfechtbare Verwaltungsakte zusammenhängen, erscheinen gesetzgeberisch in dem bereits angedeuteten Sinne lösbar. III. Rechtspolitisch ist von der bereits gewonnenen Erkenntnis auszugehen, daß die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle i m Bereich der örtlich begrenzten, insbesondere der kommunalen Rechtsetzung mit besonderer Berücksichtigung der Bebauungspläne ihre Bewährungsprobe in den Ländern, i n denen sie eingeführt ist, bestanden hat. Es ist aber auch de lege ferenda wünschenswert, Überschneidungen m i t dem Zuständigkeitsbereich der Verfassungsgerichte auszuschließen. Das w i r d schon durch die Grundvorschrift über den Verwaltungsrechtsweg, § 40 VwGO, impliziert, wonach öffentlich-rechtliche Streitigkeiten verfassungsrechtlicher A r t aus dem Verwaltungsrechtsweg herausgenom-

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men sind, so daß sie schon deshalb nicht in den Rahmen der Gerichtsbarkeit der oberen Verwaltungsgerichte fallen, auf den § 47 VwGO die Normenkontrolle begrenzt. Es ist jedoch zu untersuchen, ob es zu diesem Zweck einer besonderen Vorbehaltsklausel zugunsten der Verfassungsgerichtsbarkeit bedarf, wenn die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle auf die untergesetzliche Rechtsetzung unterhalb der Verfassungsebene — also die Rechtsetzung durch nachgeordnete Behörden und durch Selbstverwaltungsträger, insbesondere i m kommunalen Bereich — beschränkt wird. Die Vorbehaltsklausel wäre dann entbehrlich, wenn bei dieser Beschränkung die Konkurrenz zur Verfassungsgerichtsbarkeit schon nach dem Gegenstande der Kontrolle entfiele. Das aber würde dann der Fall sein können, wenn Normenkontrolle weder schlechthin noch in dem hier angesprochenen Bereich zur Verfassungsgerichtsbarkeit gehört. Über die Frage, ob die Normenkontrolle schlechthin ihrem Wesen nach Verfassungsgerichtsbarkeit ist, gehen die Meinungen auseinander. Friesenhahn28 ordnet sie uneingeschränkt der materiellen Verfassungsgerichtsbarkeit zu, Bettermann 29 nur dann, wenn sie die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Norm zum Gegenstande hat. Obermayer 30 rechnet die Normenkontrolle als solche nicht zur Verfassungsgerichtsbarkeit. Vor einer eigenen Stellungnahme ist eine Abgrenzung des Begriffs der Verfassungsstreitigkeit i m materiellen Sinne i m Unterschied zu der bloß formellen Unterstellung einer Streitigkeit unter die Zuständigkeit der Verfassungsgerichte erforderlich. I n der Kommentarliteratur zu § 40 V w G O 3 1 w i r d für den Begriff der Verfassungsstreitigkeit als wesentlich angesehen, daß der Streit dem Verfassungsbereich als dem Zusammenspiel der Kräfte, die die Staatstätigkeit bestimmen, angehört. Dazu rechnen nicht schon alle Streitigkeiten, i n denen die Auslegung und Anwendung des geschriebenen oder ungeschriebenen Bundes- und Landesverfassungsrechts eine Rolle spielt. Sonst müßte auch die Anfechtungsklage des Bürgers gegen einen Verwaltungsakt, die mit der Verletzung verfassungsrechtlicher Vorschriften — etwa Grundrechtsverletzungen — begründet ist, allein deswegen eine Verfassungsstreitigkeit sein. Erforderlich ist vielmehr, daß es sich bei dem Streit um am Verfassungsleben beteiligte Organe, Organisationen, Stellen oder Personen und um einen diese Teilnahme betreffenden Streit handelt. So rechnet Friesenhahn 28 Zur richterlichen Kontrolle von Rechtsverordnungen nach dem Recht der BRD a.a.O. S. 134 f., vgl. auch Menger, System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, S. 44, 89 f.; Ule, ArchöffR Bd. 82,127. 29 a.a.O., S. 157. 30 DVB1.1965, 625 ff., 628. 31 Vgl. etwa Ule, a.a.O., Anm. I I I zu § 40; Schunck/De Clerck, 2. Aufl., Anm. 2 a zu § 40, vgl. auch BVerfGE 2,152.

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selbst 32 die Verfassungsbeschwerde, m i t der der Einzelne wegen der Verletzung eines Grundrechts das Verfassungsgericht anrufen kann, materiell zur Verwaltungsrechtsprechung. Sie ist aber den Verfassungsgerichten übertragen und gehört deshalb formell zu dem Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit, auf den der derzeitige Vorbehalt des § 47 VwGO sich seiner uneingeschränkten Fassung nach mit bezieht. I n Übereinstimmung m i t der hier vorgetragenen Auffassung über die Begrenzung des Begriffs der materiellen Verfassungsstreitigkeit ist dagegen anerkannt, daß die Streitigkeiten, die sich i m Leben der Gemeinden — auch i m kommunalen Verfassungsbereich — ergeben, Verwaltungsrechtsstreitigkeiten sind. Das muß dann aber auch für Normenkontrollen i n diesem Bereich gelten, also insbesondere für das Satzungsrecht, dürfte aber auch für die Normsetzung durch nachgeordnete Behörden (ζ. B. Ordnungsbehörden) unterhalb der Regierungsebene anzunehmen sein. Hieraus ergibt sich die wichtige Erkenntnis, daß der weitaus größte Teil der Normen, die i n den Bereich des § 47 VwGO fallen, außerhalb der Sphäre des materiellen Begriffs der Verfassungsgerichtsbarkeit liegt. U m Mißverständnissen vorzubeugen, sei an dieser Stelle angemerkt, daß die Normenkontrolle i n diesem Bereich nicht schon kraft § 40 VwGO — also unabhängig von § 47 — rechtens ist: Sie ist zwar nichtverfassungsrechtlich i. S. des § 40 VwGO, aber in Ermangelung eines konkreten streitigen Rechtsverhältnisses keine Streitigkeit in dem dort gemeinten Sinne 33 . Nur die Verordnungen auf Landesregierungsebene fallen i n einen Bereich, der die Normenkontrolle dort — ebenso wie die förmlicher Gesetze — der Verfassungsgerichtsbarkeit i m materiellen Sinne zuordnen läßt. Das hängt mit der Stellung der Landesregierung und der Landesminister zusammen, die Verfassungsorgane der Länder sind. Da dieser Bereich bisher in der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle eine durchaus untergeordnete Rolle gespielt hat, erscheint es vertretbar, das untergesetzliche Recht auf Landesebene aus der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle auszuklammern. Das würde zur Folge haben, daß diese Rechtsnormen mittels der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle nur von den qualifizierten Antragstellern i. S. des A r t . 93 Abs. 1 Nr. 2 GG und der entsprechenden Vorschriften der Landesverfassungen, von einzelnen Personen dagegen nur bei Grundrechtsverletzung mittels Verfassungsbeschwerde oder Popularklage bayerischer Prägung unmittelbar zur gerichtlichen Nachprüfung gebracht werden können, während die Vereinbarkeit mit sonstigem höherrangigen Recht i m Regelfall lediglich 32

Festschrift für Richard Thoma, S. 49 f. So schon OVG Münster OVGE 1, 15 f.; vgl. auch OVG Lüneburg OVGE 2, 157 ff. 33

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inzidenter gerichtlicher Erkenntnis zugänglich wäre. Das würde auch für die sog. Vollzugsnormen auf Landesebene gelten, also für solche Normen, die unmittelbar wirken, ohne eines besonderen Vollzugsaktes zu bedürfen. Ein solches Ergebnis würde m i t A r t . 19 Abs. 4 GG nur zu vereinbaren sein, wenn i n diesem Falle der durch die Norm selbst bewirkten Rechtsverletzung begegnet werden könnte. Ich neige insoweit, wie bereits ausgeführt 34 , zu der Auffassung, daß das durch die Vollzugsnorm unmittelbar gestaltete konkrete Rechtsverhältnis Gegenstand einer Klage nach §§40 ff. VwGO sein könnte, bei der die Geltung der Norm inzidenter zu prüfen sein würde. Der danach für die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle verbleibende Bereich umfaßt — ohne Anspruch auf Vollständigkeit — i m wesentlichen folgende Normengruppen: Kommunale Satzungen i m weitesten Sinne, Normen sonstiger öffentlich-rechtlicher Verbände, Körperschaften und Anstalten (wie ζ. B. von berufsständischen Kammern, Wasser» und Bodenverbänden), Rechtsverordnungen von den den Ministerien nachgeordneten Verwaltungsbehörden etwa i m Bereich der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, des Natur- und Landschaftsschutzes, des Wasserrechts und dgl. mehr. I n diesem Bereich w i r d eine damit konkurrierende verfassungsrechtliche Normenkontrolle nach A r t . 93 Abs. 1 Nr. 2 GG und den entsprechenden Vorschriften der Landesverfassungen kaum praktisch werden. Immerhin ist nicht zu verkennen, daß auch das vorstehend umrissene örtliche Recht zum Bereich des Landesrechts i. S. des A r t . 93 Abs. 1 Nr. 2 GG gehört. Sollte daher ausnahmsweise einmal einer der qualifizierten Antragsberechtigten i. S. der genannten Verfassungsvorschriften das BVerfG oder ein LVerfG wegen der Frage der Gültigkeit einer Rechtsnorm dieser A r t anrufen 3 5 , so stellt sich die Frage, wie das Nebeneinander von verfassungsgerichtlicher und verwaltungsgerichtlicher Normenkontrolle — ohne die Vorbehaltsklausel des § 47 VwGO — gelöst werden soll. Insoweit könnte man daran denken, daß § 49 des Bad.-Württ. Gesetzes über den Staatsgerichtshof als Muster dienen kann. Danach ist das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof auf Verlangen des Staatsgerichtshofes auszusetzen. Würde ein oberes Verwaltungsgericht i m Rahmen eines bei i h m anhängigen Normenkontrollverfahrens ein förmliches Gesetz, auf dem die zu prüfende untergesetzliche Norm beruht, für verfassungswidrig oder ein förmliches Landesgesetz mit dem Bundesrecht für nicht vereinbar halten, so ist Aussetzung des verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfah84

s. o. Text bei Fußn. 10. Vgl. z.B. BVerfG, Beschl. v. 24.6.1969, JuS 1970, 40; N J W 1969, 1843; DVB1.1969, 794. 35

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rens — ebenso wie eines sonstigen gerichtlichen Verfahrens — nach A r t . 100 GG bzw. den ergänzenden Bestimmungen der Landesverfassungen und Vorlage an das zuständige Verfassungsgericht geboten. Besondere Betrachtung verdient das Verhältnis der Normenkontrolle des § 47 VwGO zur Popularklage gegen untergesetzliches Landesrecht nach A r t . 98 Satz 4 der Bayer. Verfassung i. V. m i t A r t . 53 Bayer. VerfGHG. Hinsichtlich des Prüfungsmaßstabs ergibt sich ferner eine landesverfassungsrechtliche Besonderheit i n Hessen durch A r t . 132 der Landesverfassung, durch den eine ausschließliche Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs für die Prüfung von Gesetzen und Rechtsverordnungen am Maßstabe der Landesverfassung begründet worden ist, während Hamburg und Bremen in diesem Falle entsprechend dem Art. 100 GG eine Aussetzung jedes gerichtlichen Verfahrens und Vorlage an das Verfassungsgericht des Landes vorsehen. Diesen landesverfassungsrechtlichen Besonderheiten müßte die Neufassung des § 47 VwGO nach Wegfall der Vorbehaltsklausel Rechnung tragen. I n allen übrigen Fällen könnte das obere Verwaltungsgericht — immer unter der Voraussetzung, daß in Übereinstimmung mit § 25 VGG und in Abweichung von § 47 VwGO ein ausdrücklicher allgemeiner Vorbehalt zugunsten der Verfassungsgerichtsbarkeit fehlt — Normenkontrollverfahren wegen untergesetzlichen Landesrechts unterhalb der Landesebene ohne Einschränkung zur Entscheidung bringen und dabei alle Maßstäbe vom einfachen Landesrecht und einfachen Bundesrecht bis zum Landes- und Bundesverfassungsrecht anwenden. Zu erörtern bleibt noch, ob und inwieweit die Normenkontrolle auch für untergesetzliches Bundesrecht rechtspolitisch erwünscht wäre. Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß besonders Normen unterhalb der Regierungsebene kontrollbedürftig sind und dies vor allem da, wo sich i m Rechtsleben Zwischenformen entwickelt haben, die es schwer machen, sie mit einer jeden Zweifel ausschließenden Sicherheit dem Formtyp der Rechtsnorm oder dem des Verwaltungsaktes zuzuordnen. Solche Erscheinungen gibt es auch i m bundesrechtlichen Bereich. So sind ζ. B. nach der — freilich nicht unwidersprochen gebliebenen — Auffassung des BVerwG 3 6 Schutzbereichsanordnungen des Bundesministers der Verteidigung Rechtsnormen. A u f der anderen Seite ist zu bedenken, daß eine unmittelbare Bundesverwaltung unterhalb der Regierungsebene nur in sehr beschränktem Umfang vorhanden ist und daß i n diesem Bereich Rechtsetzungsbefugnisse kaum anfallen. Einer Normenkontrolle für untergesetzliches Bundesrecht durch das Bundesverwaltungsgericht bedarf es m. E. nicht. 38

Urt. v. 23. 10. 1968 — I V C 101.67 — DVB1. 1969, 547.

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IV. 1. V e r s u c h t m a n , die g e w o n n e n e n Ergebnisse i n e i n e m E n t w u r f eines b e r e i n i g t e n § 47 V w G O zusammenzufassen, so k ö n n t e dieser e t w a w i e folgt lauten: (1) Die Oberverwaltungsgerichte entscheiden i m Rahmen ihrer Gerichtsbarkeit durch U r t e i l über die Gültigkeit von landesrechtlichen Vorschriften i m Range unter dem Gesetz, soweit diese nicht von einem Verfassungsorgan eines Landes erlassen worden sind. (2) Den A n t r a g k a n n jede Behörde, öffentlich-rechtliche Körperschaft oder Anstalt stellen, deren Zuständigkeits- oder Aufgabenbereich von der Rechtsn o r m berührt w i r d , ebenso jede Person, w e n n diese geltend macht, durch die Rechtsvorschrift oder ihre A n w e n d u n g i n Rechten, die i h r k r a f t vorrangiger Rechtsnorm zustehen, verletzt zu sein oder i n absehbarer Zeit verletzt zu w e r den. Die Behörde oder die Körperschaft, die oder deren Organ die Vorschrift erlassen hat, ist am Verfahren beteiligt. (3) Ist wegen der zu prüfenden Rechtsnorm ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht oder einem Verfassungsgericht eines Landes anhängig, so muß das Oberverwaltungsgericht sein Verfahren auf Verlangen des Verfassungsgerichts aussetzen; i m übrigen k a n n es sein Verfahren aussetzen. Es hat sein Verfahren auch auszusetzen, soweit die Verfassung eines Landes die ausschließliche Zuständigkeit des Verfassungsgerichts vorsieht. (4) Ist der A n t r a g i n zulässiger Weise gestellt, so ergeht die Entscheidung dahin, daß die Rechtsvorschrift m i t den als Prüfungsmaßstab zugrunde gelegten vorrangigen Rechtsvorschriften vereinbar oder wegen Verstoßes gegen sie nichtig ist. Die Sachentscheidung ist allgemein verbindlich. Die Entscheidungsformel ist nach A b l a u f der Frist des § 93 Abs. 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht v o m 12. März 1951 (BGBl. I, 243) u n d entsprechender Fristen der Landesgesetze i n derselben Weise w i e die geprüfte Rechtsvorschrift öffentlich bekanntzumachen. I m übrigen findet § 79 Abs. 2 des vorgenannten Gesetzes entsprechende Anwendung. (5) Gegen die Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte findet die Revision nach Maßgabe der §§ 132 ff. statt. A l s landesrechtliche B e s o n d e r h e i t b l e i b t noch a n z u m e r k e n , daß i n S c h l e s w i g - H o l s t e i n i n E r m a n g e l u n g e i n e r s t a a t l i c h e n M i t t e l i n s t a n z die M i n i s t e r auch als h ö h e r e V e r w a l t u n g s b e h ö r d e t ä t i g w e r d e n . I n s o w e i t w ä r e d u r c h S o n d e r v o r s c h r i f t eine K l a r s t e l l u n g d a h i n z u e r w ä g e n , daß das H a n d e l n eines M i n i s t e r s als h ö h e r e V e r w a l t u n g s b e h ö r d e n i c h t als das H a n d e l n eines Verfassungsorgans i. S. des v o r g e n a n n t e n A b s . 1 des n e u gefaßten § 47 g i l t . 2. F a l l s eine entsprechende N o r m e n k o n t r o l l e f ü r untergesetzliches B u n d e s r e c h t e i n g e f ü h r t w e r d e n soll, so w ä r e — e t w a als § 47 a h i n t e r d e m n e u e n § 47 oder als § 49 A b s . 2 — eine V o r s c h r i f t f o l g e n d e n I n h a l t s zusätzlich z u schaffen: Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet i n entsprechender Anwendung des § 47 über die Gültigkeit entsprechender bundesrechtlicher Vorschriften. 12

Speyer 45

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Abschließend ist zu bemerken, daß sich für die Normenkontrolle i n Vorgesprächen nicht nur Vertreter der Wissenschaft, Verwaltungsrichter und Rechtsanwälte, sondern auch profilierte Behördenvertreter eingesetzt haben. Gerade weil i n unserer planungsfreudigen Zeit durch Pläne mit Normcharakter die Weichen für Verwaltungsakte gestellt werden, erweist sich die Normenkontrolle als ein Rechtsinstitut, das frühzeitig Rechtsklarheit zu schaffen vermag. Die vorgeschlagene Fassung des § 47 ist als Grundmodell gedacht, das zur Diskussion gestellt werden soll und weiter verbessert werden mag. Doch sollte die sog. Vorbehaltsklausel auf jeden Fall einer besseren Lösung weichen.

Aussprache zu den Referaten von Klaus Obermayer und Klaus Meyer Bericht von Joachim Bauer A n die Vorträge über „Die Normenkontrolle" von Professor Dr. Klaus Obermayer, Erlangen, und Oberverwaltungsgerichtsvizepräsident Klaus Meyer, Lüneburg, Schloß sich unter Leitung von Professor Dr. Herzog eine lebhafte Diskussion an. Dr. Rasch, Kassel, Vizepräsident des Hess. Verwaltungsgerichtshofes, nannte einige Beispiele zur Normenkontrolle aus der Rechtsprechung des Hess. Verwaltungsgerichtshofes. Danach werde von diesem Gericht bei der Prüfung des Nachteils, den der Antragsteller durch die Anwendung der Vorschrift erlitten haben muß, jetzt ein strengerer Maßstab angelegt, um Popular-Normenkontrollverfahren zu verhindern. Der Verwaltungsgerichtshof habe daher den Antrag auf Normenkontrolle von Gewerbetreibenden, die sich gegen einen Bebauungsplan mit der Begründung wandten, das ausgewiesene Einkaufszentrum drohe ihren Umsatz zu beeinträchtigen, als unzulässig abgewiesen. Rasch ging sodann auf das Problem der einstweiligen Anordnung i m Normenkontrollverfahren ein. Die Rechtsprechung des Hess. Verwaltungsgerichtshofes sei i n jüngster Zeit kritisiert worden, w e i l ein Senat des Gerichts die Frage offen gelassen habe, während ein anderer Senat des Gerichts die einstweilige Anordnung i n Übereinstimmung mit der gesamten Literatur für unzulässig erklärt habe. Auch nach seiner eigenen Ansicht, fuhr Rasch fort, sei die einstweilige Anordnung i m Normenkontrollverfahren unzulässig. Eine unmittelbare Anwendung der einstweiligen Anordnung (§ 123 VwGO) i m Normenkontrollverfahren verbiete sich schon deshalb, weil es an einer Regelung über den vorläufigen Rechtsschutz in § 47 VwGO fehle. Aber auch eine entsprechende Anwendung der einstweiligen Anordnung i m Rahmen des § 47 VwGO komme nicht i n Betracht. Es sei nämlich bedenklich, eine Norm vorläufig für unwirksam zu erklären. Auch sei es zweifelhaft, ob man die Schwierigkeit dadurch umgehen könne, daß man die vorläufige Aussetzung der Norm ausspreche, denn die Aussetzung werde doch nur gegenüber dem Antragsteller ausgesprochen, so daß auch alle anderen an der Überprüfung des Bebauungsplanes Interessierten einen Antrag auf einstweilige Anordnung stellen müßten. Aber selbst wenn man der Auffassung sei, die Aus12*

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Bericht von Joachim Bauer

Setzung der Norm wirke nicht nur gegenüber dem Antragsteller, so sei fraglich, wie die anderen von der Norm Betroffenen von dieser vorläufigen Aussetzung Kenntnis erlangen sollten, zumal § 123 VwGO keine Veröffentlichung der Entscheidung vorsehe. Schließlich bestehe auch gar keine Notwendigkeit für einen vorläufigen Rechtsschutz i m Normenkontrollverfahren, weil der Betroffene abwarten könne, bis ein Verwaltungsakt aufgrund dieser Norm ergehe, der dann anzufechten sei. Was die Rechtskraft der Entscheidung i m Normenkontrollverfahren angehe, so halte er es für sinnvoll, auf die Regelung i m VGG zurückzugreifen und die Entscheidung i n jedem Fall für allgemein verbindlich zu erklären. Zum Schluß erinnerte Rasch daran, daß die Abgrenzung von Verwaltungsvorschrift und Rechtsverordnung sowie die Frage der Verkündung von Rechtsverordnungen i n der Rechtsprechung immer wieder Schwierigkeiten bereite. Er bedauerte, daß diese Probleme von der Rechtswissenschaft bisher vernachlässigt worden seien. Anschließend teilte Oberverwaltungsgerichtsrat Stortz, Mannheim, seine Erfahrungen aus der Praxis des Verwaltungsgerichtshofes BadenWürttemberg mit. Die Normenkontrolle sei seit 1946 i m nordwürttembergisch-nordbadischen Landesteil und seit 1958 i m ganzen Land zulässig. Es sei daher 1960 keine Frage mehr gewesen, daß in diesem Bundesland von der Ermächtigung des § 47 VwGO Gebrauch gemacht wurde. Stortz nannte dann einige Zahlen: I n der Zeit von 1960 bis 1968 seien 267 Normenkontrollverfahren anhängig gewesen, von denen 182 Verfahren die Nachprüfung von Bebauungsplänen zum Gegenstand gehabt hätten. I n einzelnen Jahren sei der verhältnismäßige Anteil der Bebauungsplankontrollen noch wesentlich höher gewesen. Dennoch hätten die Entscheidungen i n diesen Normenkontrollverfahren mehrfach zu einer richtungweisenden Klärung in wesentlichen Fragen des materiellen Rechts geführt, insbesondere zu einer Klärung des örtlichen Rechtsetzungsverfahrens mit seinen zahlreichen Fehlerquellen. I m übrigen habe die Rechtsprechung ihre Bedeutung bei der Nachprüfung einiger Ministerialerlasse gehabt, die als materielle Normen erkannt worden seien, so etwa die Prüfungsordnung des Kultusministers oder Unterhaltsbeihilfevorschriften des Finanzministers. I n jüngster Zeit seien insbesondere Entscheidungen zu den Grundordnungen der Universitäten bekannt geworden. Bei der Frage nach Bewährung oder Reformbedürftigkeit des Normenkontrollverfahrens müsse sowohl die Rechtsschutzfunktion als auch die Beanstandungsfunktion gesehen werden. Die Rechtsschutzfunktion sei zweifelsfrei gegeben. Die Eigenart des Normenkontrollverfahrens bringe es aber m i t sich, daß die Prüfung der Norm weit über den Antrag hinausgehe; der Verwaltungsgerichtshof prüfe die angegriffene Norm auf ihre

Aussprache zu den Heferaten von K . Obermayer u n d K . Meyer

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Vereinbarkeit mit höherrangigen Gesetzen, unabhängig davon, ob dieses Gesetz den Schutz des Einzelnen bezwecke oder öffentliche Interessen geschützt werden sollten. Das zeige sich besonders bei Bebauungsplänen, bei denen das Gericht nicht nur die Festsetzung bezüglich der einzelnen Grundstücke der Antragsteller prüfe, sondern auch, ob die Belange des Verkehrs, des Landschaftsschutzes usw. beachtet worden seien. Zu den Ausführungen von Professor Dr. Obermayer erwiderte Stortz, der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof sei nicht der A u f fassung, daß die Kontrolle von Vollzugsnormen dem Rechtsschutzgebot des A r t . 19 Abs. 4 GG entspreche. Rechtsschutz i m Wege der Normenkontrolle gegen eine unmittelbar wirkende Norm sei nicht geboten, solange i n Jedem Anwendungsfall der Norm eine Klage möglich und zumutbar sei. Schwierigkeiten ergäben sich auch nicht daraus, daß mit der dem betroffenen Bürger zur Verfügung stehenden Anfechtungs-, Verpflichtungs-, Feststellungs- und allgemeinen Leistungsklage nur eine Inzidentprüfung der für ungültig gehaltenen Norm verbunden sei. Zwar werde als Vorzug des Normenkontrollverfahrens angeführt, daß i n dem kurzen Verfahren nur einer Instanz zur Vermeidung künftiger Streitfälle verbindlich geklärt werden könne, ob eine Norm rechtsgültig sei oder nicht. Aber die praktische Erfahrung lehre, daß die Inzidentkontrolle i n sehr vielen Fällen mit ähnlicher Wirksamkeit zu einer richtungweisenden Klärung führe. Die verbindliche Wirkung des Normenkontrollbeschlusses sei ohnedies noch unvollkommen. Auch bei einer I n zidentfeststellung der Ungültigkeit von Normen durch die Oberverwaltungsgerichte sei kaum anzunehmen, daß die Verwaltungsbehörden die gerichtliche Entscheidung unbeachtet ließen, und etwa eine Gemeinde fortfahre, eine als ungültig erkannte Beitragssatzung anzuwenden, u m damit weitere Klagen zu provozieren. Zu den Reformvorschlägen von Oberverwaltungsgerichtsvizepräsident Meyer, die Normenkontrolle i m ganzen Bundesgebiet einzuführen, gab Stortz zu bedenken, eine solche Änderung i n den Ländern ohne Normenkontrolle sei wegen ihres nur bedingten Nutzens nicht geboten. Andererseits käme eine Abschaffung der Normenkontrolle zumindest i n BadenWürttemberg kaum i n Betracht. I n den Ländern, die das Institut der Normenkontrolle bejahten, solle es bei einer Entscheidung durch Beschluß bleiben, auf keinen Fall sollte aber eine zulassungsfreie Revision eingeführt werden, weil sonst das Bundesverwaltungsgericht i n großer Zahl gemeindliche Satzungen über den Anschluß- und Benutzungszwang am Landesgemeinderecht zu prüfen hätte. I n einem Punkt stimmte Stortz den Ausführungen von Oberverwaltungsgerichtsvizepräsidenten Meyer voll zu: Auch er halte die Beseitigung der als unvollkommen empfundenen Vorbehaltsklausel für sinnvoll, um einer Abschaffung dieser K l a u sel i m Wege der Auslegung zuvorzukommen. Zum Schluß meinte Stortz,

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Bericht von Joachim Bauer

eine Neufassung des § 47 VwGO sei möglicherweise erforderlich, um zu klären, welche Vorschriften — ζ. B. über die Beiladung und die einstweilige Anordnung — analoge Anwendung i m Normenkontrollverfahren finden sollten. Als letzter Redner der Diskussion an diesem Vormittag setzte sich Regierungsassessor Engelken, Tauberbischofsheim, kritisch mit dem Referat von Professor Dr. Obermayer auseinander. Dessen Ansicht, daß von Verfassungswegen durch A r t . 19 Abs. 4 GG gegen unmittelbar wirkende Rechtsnormen ein Rechtsschutz i n Gestalt eben dieses Normenkontrollverfahrens gegeben sein müsse, sei aus mehreren Gründen abzulehnen. Die Bedeutung des A r t . 19 Abs. 4 GG werde überschätzt, außerdem sei sehr zweifelhaft, ob die gesetzgebende Gewalt unter Art. 19 Abs. 4 GG falle, denn die Normen, deren Überprüfung gemäß § 47 VwGO i m Normenkontrollverfahren möglich sei, könne man nicht als Gesetzgebung durch die Verwaltung abtun. Es sei nämlich dem Wesen nach kein Unterschied, ob ein Stadtrat oder Kreistag eine Norm beschließe oder ob dies durch ein Parlament geschehe. I n beiden Fällen handele es sich teils um Maßnahmegesetze, teils um generelle Regelungen. Die Frage, ob A r t . 19 Abs. 4 GG einen Rechtsschutz fordere, könne daher nur einheitlich für alle Gesetze und Normen beantwortet werden, unabhängig davon, ob sie unter § 47 VwGO fielen. Auch der Begriff der unmittelbar wirkenden oder Vollzugsnorm sei zu ungenau, u m daran so weitreichende Forderungen und Folgerungen anzuknüpfen, wie es in dem Referat von Obermayer geschehen sei. Für den entscheidenden Einwand gegenüber der These Obermayers halte er aber die Frage, weshalb ein Rechtsschutz gegen diese sog. unmittelbar wirkenden Normen von Verfassungswegen (Art. 19 Abs. 4 GG) ausgerechnet i n der Form des Normenkontrollverfahrens nach § 47 VwGO erforderlich sei; ein Verfahren, das m i t vielen Eigenarten und Besonderheiten ausgestattet sei: Zuständigkeit des Oberverwaltungsgerichts, Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, i n Beschlußform und ohne Rechtskraft. I m Anschluß an diese K r i t i k des Referats von Professor Dr. Obermayer ging Engelken dann generell auf die Problematik des Normenkontrollverfahrens ein. Er halte das Verfahren seinem Ausgangspunkt nach für ein Beanstandungsverfahren. Das zeige sich auch daran, daß der Begriff des Nachteils zu Recht von der Rechtsprechung sehr weit gefaßt werde, u m einem großen Kreis von irgendwie Betroffenen dieses Verfahren zu eröffnen. I m Normenkontrollverfahren werde daher i n der Praxis auch weniger die Verletzung bestimmter subjektiver Rechte gerügt, sondern vielmehr würden allgemein Veröffentlichungsmängel, die Nichteinhaltung von Fristen oder die Befangenheit des Gemeinderats bean-

Aussprache zu den

eferaten von K . Obermayer und K . Meyer

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standet. Diese Mängel hätten m i t dem eigentlichen Schutz der Rechte der Antragsteller wenig zu tun. Der Rechtsschutz des Antragstellers müsse sich i m Grunde auf andere Weise vollziehen, denn für ihn gehe es ja nicht um die abstrakte Rechtsfrage, ob eine Norm gültig sei, sondern darum, ob er beispielsweise bauen dürfe. M i t der Feststellung der Ungültigkeit des Bebauungsplanes, der die Bebaubarkeit seines Grundstückes ausschließe, stehe noch nicht fest, daß er nun bauen dürfe. Z u seinem Recht komme er also nur m i t der Verpflichtungsklage. Das gleiche gelte für baurechtliche Nachbarstreitigkeiten. Dennoch erfreue sich die Normenkontrolle bei Bebauungsplänen i n Baden-Württemberg großer Beliebtheit, da dieses Verfahren für den Antragsteller i m Vergleich zur baurechtlichen Nachbarklage nur geringe Voraussetzungen erfordere und die Möglichkeit bestehe, daß das Gericht aufgrund anderer als der gerügten Mängel die Ungültigkeit der Norm feststelle. Die Statistik zeige allerdings, daß die weitaus überwiegende Zahl aller Normenkontrollverfahren heute keinen Erfolg mehr habe. Engelken faßte seine Ausführungen m i t den Worten zusammen, man könne nicht ohne weiteres sagen, daß das Normenkontrollverfahren sich bewährt habe. Für die Verwaltung bringe es erhebliche Schwierigkeiten mit sich, weil praktisch schon der Antrag auf Normenkontrolle den Vollzug der Norm erheblich hemme. A u f der anderen Seite bringe das Verfahren dem Bürger — wie ausgeführt — nicht die angestrebten Vorteile. Das Normenkontrollverfahren schaffe weiterhin nicht etwa rechtzeitige Klarheit über die Gültigkeit von Normen, weil i n der Praxis die Normenkontrollanträge durchaus nicht kurz nach Inkrafttreten der Norm gestellt würden, sondern erst dann, wenn die Anwendung der Norm für den Bürger aktuell werde. Schließlich sei die Allgemeinverbindlichkeit der Entscheidung kein Grund für die Beibehaltung des § 47 VwGO, w e i l auch Inzidententscheidungen eines Oberverwaltungsgerichts von der Verwaltung i n gleicher Weise akzeptiert würden, soweit nur Gewißheit bestehe, daß die Rechtsprechung nicht wieder schwanke. I n seinem Schlußwort bedauerte Professor Dr. Obermayer, daß er aus zeitlichen Gründen auf die K r i t i k an seinem Referat nicht i m einzelnen eingehen könne. Er sei grundsätzlich bereit, seine eigenen Thesen i n Frage zu stellen. I m übrigen sei er m i t Hegel der Auffassung, daß auch die Entwicklung des Rechts einem dialektischen Prozeß folge, daß These auf Antithese gesetzt werde, und daß dann am Schluß beide, diejenigen, die etwas befürworten, und die, die es ablehnen, dazu beitragen, die Dinge einer Klärung zuzuführen. Oberverwaltungsgerichtsvizepräsident Meyer erwiderte i n seinem Schlußwort auf die Ausführungen von Stortz, daß er keine zulassungsfreie Revision gegen die Entscheidungen i m Normenkontrollverfahren

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Bericht von Joachim Bauer

vorgeschlagen habe. Vielmehr habe er m i t der empfohlenen Fassung des § 47 Abs. 5 VwGO: „Gegen die Entscheidung der Oberverwaltungsgerichte findet die Revision statt", nur die Statthaftigkeit dieses Rechtsmittels gemeint. Die Revisionsvoraussetzungen sollten sich selbstverständlich nach allgemeinem Recht bemessen. Anschließend befaßte sich Meyer kurz m i t dem Diskussionsbeitrag von Engelken und räumte ein, daß die vorgetragenen Gedankengänge nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen seien. Er wies allerdings darauf hin, daß die Normenkontrolle m i t unter dem Aspekt gesehen werden müsse, den Rechtsschutz auch bei der Vorverlegung von Verwaltungsentscheidungen i n frühere Stadien zu garantieren. Man müsse auch die Planung von der Rechtskontrolle her i n den Griff bekommen. Es sei eines der größten Probleme für die Verwaltungsgerichte, daß Verwaltungsentscheidungen, wie es Fritz Werner einmal ausgedrückt habe, i n dem Sinne vorverlegt würden, daß der Plan eine vorweggenommene Summe von Einzelentscheidungen darstelle. Aus diesem Grund sollte auch das Institut der Normenkontrolle, gerade wegen der ein wenig ambivalenten Natur des Plans, der nach der Systematik zwischen der Regelung durch Einzelakt und der generalisierenden Norm stehe, eine Zukunft haben.

Vorbeugender Rechtsschutz in der Verwaltungsgerichtsbarkeit Von K a r l August Bettermann Die VwGO ist — ebenso wie die FGO und das SGG — i n der Verfahrensgestaltung am repressiven Rechtsschutz orientiert. Sie konzipiert den Rechtsschutz, den die Verwaltungsgerichte zu gewähren haben, primär als gerichtliche Korrektur verwaltungsbehördlicher Entscheidungen, als gerichtliche Abhilfe gegen rechtswidriges Verhalten der Verwaltungsbehörden. Nicht nur die Anfechtungsklage, sondern auch die Verpflichtungsklage ist ein repressiver Rechtsbehelf — auch dann, wenn sie als Untätigkeits- oder Bescheidungsklage erhoben w i r d 1 . Das geltende Recht versteht die Verwaltungsgerichtsbarkeit funktionell als nachträgliche Verwaltungsrechtspflege. Es hat sich — grundsätzlich m i t Recht — an Art. 19 Abs. 4 GG ausgerichtet, der den Rechtsweg eröffnet, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt worden ist. Andererseits versperrt die VwGO auch nicht jede Möglichkeit eines präventiven Rechtsschutzes, weil sie sich nicht auf ein Aktionenschema festgelegt hat, insbesondere sich nicht auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen beschränkt, sondern alle dem gemeinen Prozeßrecht bekannten Klage- und Rechtsschutzformen zuläßt, insbesondere die Feststellungsklage und die allgemeine Leistungsklage. M i t letzterer ist auch die Unterlassungsklage eröffnet, die ja auch eine Vorbeugungsklage ist — und die Feststellungsklage kann ebenfalls präventive Funktionen erfüllen. Tatsächlich ist i n der Rechtsprechung seit 1960 eine zunehmende Neigung zur Zulassung und Gewährung präventiven Rechtsschutzes zu beobachten, aber ebenso auch eine — mehr oder weniger bewußte und ausgesprochene — Zurückhaltung und Vorsicht, die nicht selten Züge der Unsicherheit zeigt. Widersprüche sind offensichtlich und angesichts des schweigenden Gesetzes auch wohl unvermeidlich. Die Generallinie kann man als vorsichtiges Vortasten bezeichnen. Das paßt zwar nicht i n unsere Landschaft radikalen Fortschritts und wilder Reformwut, ist aber gleich1

Denn auch diese beiden Klagen setzen nach § 42 Abs. 2 V w G O die Behauptung des Klägers voraus, durch die Ablehnung oder Unterlassung des beantragten Verwaltungsakts i n seinen Rechten verletzt zu sein.

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wohl zu billigen, weil es sachgerecht ist und den Grundsätzen richterlicher Rechtsfortbildung entspricht. Ich möchte i m folgenden nicht i m einzelnen diese Rechtsprechung referieren und kritisieren, sondern versuchen, an die Hauptprobleme des vorbeugenden Verwaltungsrechtsschutzes heranzuführen, um Anregung zur Diskussion zu geben. A. Begriff und Erscheinungsformen des vorbeugenden Verwaltungsrechtsschutzes I. Unter Verwaltungsrechtsschutz verstehen w i r den Rechtsschutz durch die Verwaltungsgerichte, den Rechtsschutz als Gerichtsschutz. I n erster Linie denkt man dabei an den Schutz des Bürgers vor der Verwaltung. Immerhin ist auch ein präventiver Rechtsschutz der Behörde gegenüber dem Bürger denkbar und praktisch geworden 2 . Ferner kommt präventiver Rechtsschutz auch bei „Parteistreitigkeiten" in Frage, z. B. aus öffentlichrechtlichen Verträgen oder beim Organstreit innerhalb öffentlichrechtlicher Verbände. II. Hinsichtlich der Vorbeugung (Prävention) ist zu fragen, wem vorgebeugt, was verhütet werden soll. 1. I n erster Linie denkt man an die Verletzung, Beeinträchtigung oder Gefährdung von Rechten des Klägers: Präventivklagen sollen Rechtsverletzungen verhüten, Repressivklagen sie oder ihre Folgen beseitigen oder Sanktionen verhängen. 2. Objekt der Prävention kann aber auch ein Prozeß sein: Nur scheinbar ist die Prozeßführung zwecks Prozeßverhütung ein Widerspruch. Tatsächlich ist und w i r d sie oft praktisch: a) Die Feststellung eines präjudiziellen Rechtsverhältnisses, insbesondere eines komplexen oder Grund-Rechtsverhältnisses kann Prozesse um Einzelfragen oder einzelne Rechtsfolgen, also „Einzelprozesse" vermeiden: z. B. i m Zivilprozeß die Feststellung des Eigentums, des Erbrechts oder der Abstammung; i m Verwaltungsprozeß die Statusklärung z. B. der Staatsangehörigkeit, der Eigenschaft als Beamter, als Flüchtling oder Vertriebener, als Kriegsgefangener, als Heimkehrer, der unbeschränkten oder beschränkten Steuerpflicht, der Sozialversicherungspflicht. Solche globale oder prinzipale Feststellung vermeidet nicht nur Einzelprozesse u m einzelne Rechtsfolgen, sondern auch Verletzungshandlun2 z. B. B V e r w G E 29, 171: Klage des Landkreises auf Feststellung, daß er dem beklagten Tierarzt die Umsatzsteuer für die Fleischbeschaugebühren nicht zu erstatten brauche.

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gen der Behörde, die durch das Urteil über das „Grundverhältnis" weiß, woran sie ist. b) Ferner kann der Kläger durch seine Klage derjenigen des Beklagten zuvorkommen: Prävention der Gegnerklage. Prototyp ist die negative Feststellungsklage, womit der Verteidiger dem Angreifer zuvorkommt. Doch kann die negative Feststellungsklage auch als repressives Rechtsschutzmittel eingesetzt werden, wie umgekehrt die positive Feststellungsklage auch präventiven Zwecken zu dienen vermag. 3. Die Verhütung von Rechtsverletzungen möchte ich als Prävention i m engeren Sinne, die Verhütung von Prozessen als Prävention i m weiteren Sinne bezeichnen. Die Unterscheidung halte ich für wesentlich i m Hinblick auf das Rechtsschutzbedürfnis für die Präventivklage: Bei der Prozeßverhütungsklage sind strengere Anforderungen an ihre Notwendigkeit zu stellen als bei der Klage auf Verhütung einer Rechtsverletzung. Denn an der Rechtsverletzung besteht ein materielles Verhütungsinteresse, an der Prozeßverhütung nur ein prozessuales Interesse, so daß hier das Rechtsschutzbedürfnis nur eine Frage der Prozeßökonomie ist. Sie mag bejaht werden, wenn der eine Prozeß über das Grundverhältnis eine Vielzahl von Prozessen über einzelne Rechtsfolgen erübrigt. Sie ist fraglich, wenn man lediglich der Klage des Gegners zuvorkommen w i l l ; denn grundsätzlich herrscht Waffengleichheit. I m Prozeßrecht ist keineswegs der Angriff stets die beste Verteidigung; insbesondere ist die Parteirolle ohne Einfluß auf die Verteilung der Beweislast. I I I . M i t t e l oder Erscheinungsformen des präventiven Verwaltungsrechtsschutzes sind nicht nur die Unterlassungsklage insbesondere des Bürgers gegen i h m drohende Eingriffe der Verwaltung und die Feststellung sklag e i n ihren verschiedenen Varianten. 1. Auch die abstrakte und prinzipale Normenkontrolle gehört hierher, soweit sie vom Bürger beantragt wird. Ihre Präventivfunktion ist i m Referat von Herrn Präsidenten Meyer sehr deutlich geworden. I m Gesetz findet sie ihren Niederschlag darin, daß nach § 47 VwGO antragsberechtigt nicht nur ist, wer durch die Anwendung der Norm einen Nachteil erlitten hat, sondern auch derjenige, der einen solchen Nachteil „ i n absehbarer Zeit zu erwarten hat". Überdies vermeidet die Allgemeinverbindlichkeit der Ungültigkeitserklärung den künftigen Vollzug der Norm und damit auch die gerichtliche Anfechtung der Vollzugsakte. Umgekehrt w i r d durch die Gültigkeitserklärung des Gerichts und durch die darauf gerichtete Klage der Behörde dem Ungehorsam des Bürgers gegen die Norm und erfolglosen Klagen des Bürgers gegen den Normenvollzug vorgebeugt. Die Normenkontrollklage der Behörde soll die Verletzung der Norm durch den Bürger verhindern — die Normenkontrollklage des Bürgers präveniert der Verletzung seiner Rechte und Interessen durch

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die Behörde. Beide Klagen verhüten Einzelprozesse aus dem Normenvollzug. I n dieser Präventivfunktion findet die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle ihre wichtigste Rechtfertigung. 2. Ein spezifisch präventives Rechtsschutzmittel ist auch die einstweilige Anordnung — ebenso wie i m Zivilprozeß Arrest und einstweilige Verfügung. Sie gewähren nicht nur vorläufigen, sondern auch vorbeugenden Rechtsschutz: der status quo soll erhalten, eine Verletzung oder Gefährdung der Klägerrechte und ihrer Realisierung soll verhütet werden 3 . 3. Präventiv funktioniert auch der Suspensiveffekt, indem er die Vollstreckung des angefochtenen Verwaltungsaktes inhibiert. Dienen Arrest, einstweilige Verfügung und einstweilige Anordnung der Sicherung künftiger Vollstreckung und damit der Verhütung der Vollstreckungsvereitlung, so soll der Suspensiveffekt der Verwaltungsgerichtsordnung, wie die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung i m Zivilprozeß, die Vollstreckung verhüten. 4. Ein Präventivmittel ist schließlich der Richtervorbehalt: Bestimmte Staatseingriffe in Freiheit oder Eigentum des Bürgers werden dem Richter vorbehalten oder von vorheriger richterlicher Zulassung abhängig gemacht — z. B. der Freiheitsentzug i n A r t . 104 und die Durchsuchung i n Art. 13 GG 4 . Die Einschaltung oder Vorschaltung des Richters bezweckt die Vermeidung von Übergriffen oder Fehlgriffen der Verwaltung. Das ist die „ursprüngliche Verwaltungsrechtspflege" des preußischen Rechts. Sie ist leider den Verwaltungsgerichten bei ihrer Neuordnung nach dem Kriege fast ganz abhanden gekommen. Sie haben an der gleichzeitigen Ausdehnung des Richtervorbehalts durch das Grundgesetz, insbesondere durch dessen A r t . 104, nicht partizipiert, sondern diesen wichtigen Bereich fast gänzlich und widerstandslos der Justiz überlassen: Heute entscheiden die ordentlichen Gerichte auch über die Zulässigkeit solcher Freiheitsentziehungen und Durchsuchungen, die aus verwaltungsrechtlichen Gründen und nach verwaltungsrechtlichen Vorschriften erfolgen. B. Subsidiarität und Rechtsschutzbedürfnis Ein, wenn nicht das Hauptproblem des präventiven Rechtsschutzes ist dessen Subsidiarität zum repressiven Rechtsschutz. Es ist identisch m i t der Frage nach dem Rechtsschutzbedürfnis für Präventivklagen. 3 Vgl. § 123 Abs. 1 Satz 1 V w G O : „ . . . w e n n die Gefahr besteht, daß durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die V e r w i r k l i c h u n g eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte." Satz 2: „ . . . u m wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern" 4 Ferner A r t . 18 Satz 2; 21 Abs. 2, 98 Abs. 2 GG; §§ 81 a, 98, 100, 100 b, 105 StPO.

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I. Das Rechtsschutzbedürfnis ist ja eine allgemeine Prozeß- oder Rechtsschutzvoraussetzung, die ebenso wichtig wie gefährlich ist. Dient es einerseits zur Ausfilterung überflüssiger oder vorzeitiger Prozesse und solcher i n der falschen Rechtsschutzform, so kann es andererseits wegen seiner Unbestimmtheit leicht zur Verweigerung gesetzlich gewährten Rechtsschutzes mißbraucht werden. 1. Solcher Mißbrauch w i r d vermieden, wenn man sich klar macht, daß i m Bereich des repressiven Rechtsschutzes das Rechtsschutzbedürfnis keine positive, sondern eine negative Prozeß Voraussetzung bildet: Regelmäßig steht mit der Rechtsverletzung zugleich das Rechtsschutzbedürfnis fest; es ist nur noch zu fragen, ob es ausnahmsweise, trotz der Rechtsverletzung, fehlt. Beim präventiven Rechtsschutz liegt es umgekehrt: Hier muß der Kläger nachweisen, daß er schon rechtsschutzbedürftig ist, obwohl er noch nicht verletzt wurde. M. E. gilt gleichmäßig für das Privatrecht wie für das öffentliche Recht, daß grundsätzlich der Rechtsinhaber abwarten muß, ob und wie sein Recht verletzt wird. Nach der Rechtsverletzung ist das Rechtsschutzbedürfnis i n aller Regel evident, daher nicht begründungsbedürftig. Vorher spricht die Vermutung gegen ein Rechtsschutzbedürfnis; dann muß nachgewiesen werden, daß und warum jetzt schon das Gericht bemüht wird, obwohl dem Kläger noch nichts „passiert" ist. Denn die Präventivklagen sind Eventualklagen: Sie richten sich gegen etwas, was noch gar nicht geschehen ist, von dem oft auch noch nicht feststeht, ob und vor allem wie es geschehen wird. Präventivklagen sind Prozesse auf Verdacht — und solche Verdachtsprozesse wünscht unser geltendes Recht grundsätzlich und mit gutem Grunde nicht. Die Chance, daß die Rechtsverletzung unterbleibt, muß offengehalten werden. Außerdem besteht häufig Ungewißheit, wie die befürchtete Rechtsverletzung aussehen wird. Wie w i r d die Behörde gegen die angebliche Baufälligkeit des Hauses einschreiten: W i r d sie den Abbruch oder Reparaturen oder Stützungsmaßnahmen verlangen? Sieht die spätere tatsächliche Maßnahme anders aus als die angedrohte oder befürchtete, dann ist der Präventivprozeß um den falschen Streitgegenstand geführt worden. Schließlich ist zu bedenken, daß die Verwaltungsgerichte schon den repressiven Rechtsschutz, wie er durch Art. 19 Abs. 4 GG garantiert ist, kaum rechtzeitig und effekt i v genug zu gewähren vermögen. Solange aber sollten sie sich nicht zum präventiven Rechtsschutz drängen; denn offensichtlich rangiert i n der Dringlichkeitsfolge der repressive vor dem präventiven Rechtsschutz. 2. Andererseits kann nicht unter allen Umständen dem Berechtigten zugemutet werden, abzuwarten, ob und bis es zur Verletzung seines Rechts kommt. Vielmehr müssen die Chancen der Rechtsverletzung und ihrer Vermeidung i m rechten Verhältnis zueinander stehen. Je größer die Gefahr der Rechtsverletzung ist, desto größer ist das Bedürfnis des

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Rechtsinhabers nach präventivem Rechtsschutz. Die Zulassung der Präventivklage ist also rechtspolitisch wie rechtsdogmatisch ein Problem der Maß- oder Grenzbestimmung — modern gesprochen: ein Problem der Verhältnismäßigkeit. Diese Grenzbestimmung ist, wie meist, grundsätzlich Sache des Gesetzgebers. Das Problem ist nicht allein m i t logischen Kategorien zu bewältigen, sondern erfordert eine Willensentscheidung, die nicht zuletzt auch von den realen Möglichkeiten der Rechtsschutzgewährung und damit auch von der „Geschäftslage" der Gerichte abhängt. II. Sieht man sich daraufhin das positive Recht an, so ergibt sich ein differenziertes Bild: 1. Einerseits ist die Zivilprozeßordnung in der Zulassung von Klagen auf künftige Leistung, die typische Präventionsklagen darstellen, sehr großzügig: Bei terminierten Leistungen kann nach § 257 ohne weitere Voraussetzungen die Klage vor Fälligkeit erhoben werden. Bei wiederkehrenden Leistungen können nach § 258 die künftigen Raten ebenfalls einschränkungslos schon jetzt eingeklagt werden. § 259 sagt dann generell, daß auf künftige Leistung, also vor deren Fälligkeit, geklagt werden kann, wenn die Besorgnis der Nicht(rechtzeitigen)leistung besteht. 2. Aber das Reichsgericht 5 hat diese großzügige Zulassung der präventiven Leistungsklage beschränkt auf echte, auf positive Leistungen. Den auch die Unterlassung einbeziehenden „Leistungs"begriff des § 241 Satz 2 BGB hat es dem § 259 ZPO mit Recht nicht unterlegt; denn an die Unterlassungsklage hat das positive Recht ganz andere Anforderungen gestellt. Alle einschlägigen Vorschriften 6 gewähren die Unterlassungsklage erst nach begangener Beeinträchtigung, Störung oder Verletzung und verlangen eine Wiederholungsgefahr — also die Gefahr einer erneuten Begehung; die drohende Erstbegehung lassen sie nicht genügen. Freilich hat das Reichsgericht etwa vom hundertsten Band 7 ab die Grenze zwischen erster und wiederholter Begehung und zwischen Verletzung und Gefährdung allmählich verwischt, und der Bundesgerichtshof hat schließlich die reine Präventivklage offen zugelassen8. 3. I m öffentlichen Recht genügt die bloße Gefährdung i m VerfassungsOrganstreit. Nach § 64 BVerfGG ist die Organklage „zulässig, wenn der Antragsteller geltend macht, daß er durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners i n seinen i h m durch das Grundgesetz über5

RGZ 101, 335 (339/40). §§ 12, 550, 862 I, 1004 I, 1053, 1134 B G B ; § 37 I I H G B ; § 97 I 1 UrheberG; § 12 I RabattG; § 40 SchiffsG; § 47 I PatentG; § 15 I GebrauchsmusterG; §§ 24 I, 25 I W Z G ; §§ 1, 3,1412,16 I U W G ; § 35 I I GWB. 7 RGZ 101, 335 (339/40); 151, 239; R G J W 1931, 1191/92 m. Anm. Rosenberg. 8 B G H L M Nr. 19 zu § 906 B G B ; Nr. 27 zu § 1004 BGB. 6

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tragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist". Aber diese Vorschrift darf nicht verallgemeinert werden; denn das gleiche Gesetz liefert ein Gegenbeispiel. § 95 BVerfGG regelt die Entscheidung bei erfolgreicher Verfassungsbeschwerde dahin: Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, „welche Vorschrift des Grundgesetzes und durch welche Handlung oder Unterlassung sie verletzt wurde"; es „kann zugleich aussprechen, daß auch jede Wiederholung der beanstandeten Maßnahme das Grundgesetz verletzt". Hier w i r d also eine Verletzung vorausgesetzt. Das entspricht § 90 BVerfGG und A r t . 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, wonach die Verfassungsbeschwerde nicht schon gegen Gefährdung, sondern erst und nur gegen Verletzung eines Grundrechtes gegeben ist. Ebenso eröffnet A r t . 19 Abs. 4 Satz 1 GG den Rechtsweg erst, wenn „jemand durch die öffentliche Gewalt i n seinen Rechten verletzt w i r d " . I I I . Angesichts dieser Gesetzeslage kann nur m i t großer Behutsamkeit und unter strengen Voraussetzungen eine präventive Unterlassungsklage, d. h. ohne voraufgegangene Verletzung oder Beeinträchtigung, zugelassen werden. Der Bundesgerichtshof 9 hat die ernsthafte Gefahr eines drohenden Eingriffs gefordert: der Eingriff müsse drohend bevorstehen, ein künftiger Eingriff müsse tatsächlich zu besorgen sein. Das Reichsgericht 10 bediente sich einer strafrechtlichen Terminologie: die Bedrohung der Klägerrechte müsse schon einen Beginn der Störung oder Beeinträchtigung, nicht mehr eine bloße Vorbereitungshandlung darstellen; eine so starke Gefährdung sei bereits eine Beeinträchtigung — augenscheinlich ein juristischer Trick, m i t dem das Reichsgericht das Gesetz zu korrigieren versuchte. Ich meine, daß die Voraussetzungen der präventiven Unterlassungsklage präziser umschrieben werden können und müssen. Die Gefährdung der Klägerrechte ist folgendermaßen zu qualifizieren: 1. Die Gefährdung muß konkret und individuell sein. Die polizeirechtliche Unterscheidung zwischen abstrakter Gefahr und konkreter Gefährdung ist auch hier vorzunehmen. Eine abstrakte Gefahr genügt nicht; sie muß sich vielmehr zu einer Gefährdung speziell des Klägers und i n seinem Falle verdichtet, d. h. konkretisiert und individualisiert haben. Daß die Behörde gegen andere vorgegangen oder in ähnlichen Fällen gleichermaßen verfahren ist oder daß sie generell gedroht hat, reicht nicht aus. Auch und gerade der Kläger muß bedroht oder gefährdet sein; in seinem speziellen Falle muß der Eingriff der Behörde drohen. 2. Dieser Eingriff muß ernstlich oder wahrscheinlich sein. Er muß 9 10

Β G H Z 2, 394. RGZ 101,138; 101, 335.

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3. unmittelbar bevorstehen — „drohend bevorstehen", sagt der Bundesgerichtshof 11 . Das drohende und gefährliche Verhalten der Behörde muß bereits eine beginnende Beeinträchtigung darstellen, würde das Reichsgericht 10 formuliert haben. Das damit angesprochene Zeitmoment spielt für das Rechtsschutzbedürfnis eine wesentliche Rolle: es hängt zugleich m i t der Wahrscheinlichkeit zusammen: Je näher die Rechtsverletzung bevorsteht, desto wahrscheinlicher ist sie. Je länger sie auf sich warten läßt, desto größer ist die Chance ihrer Vermeidung. Die Ungewißheit über das „Wann" färbt ab auf das „Ob". 4. muß die Gefahr „dringlich" sein, wenn man darunter nicht die Nähe, sondern die Schwere oder Größe der Gefährdung versteht 12 . Der dem Kläger drohende Schaden, den er durch die Unterlassungsklage abwenden w i l l , muß schwer sein. Beim repressiven Rechtsschutz ist dieser Gesichtspunkt unerheblich. Dort fragen w i r nicht nach dem Umfang der Beschwer; vielmehr genügt jede A r t und Form der Beeinträchtigung oder Betroffenheit sowohl für die Anfechtungs- und die Verpflichtungsklage des Verwaltungsprozesses als auch für die Störungsbeseitigungs- und -unterlassungsklage des Zivilprozesses. Aber beim präventiven Rechtsschutz sieht die Interessenlage anders aus: Seine Notwendigkeit und Vertretbarkeit hängen wesentlich von der Größe des Schadens ab, der m i t der Präventivklage verhütet werden soll. Je größer der Schaden, der m i r droht, desto größer ist mein Bedürfnis, ihn zu verhindern. Je geringer er ist, desto eher kann mir zugemutet werden, mich m i t den reichlichen Mitteln des Repressivschutzes zu begnügen. Die Tragbarkeit des Risikos, ob es tatsächlich zu dem befürchteten Eingriff kommt, w i r d wesentlich mitbestimmt durch A r t und Umfang der Nachteile, die der befürchtete Eingriff dem Betroffenen zufügt. Zusammenfassend ist also für die präventive Unterlassungsklage eine konkrete, ernstliche, unmittelbare und erhebliche Gefährdung des K l ä gers zu verlangen — die akute Gefahr einer erheblichen Beeinträchtigung wesentlicher Rechtsgüter des Klägers. IV. Doch die so qualifizierte Gefährdung allein genügt nicht. Hinzukommen muß — jedenfalls i m Verwaltungsrecht — die Unzumutbarkeit für den Kläger, abzuwarten, ob und bis es zur Rechtsverletzung kommt. Der repressive Rechtsschutz muß so unzulänglich sein, daß die Gewäh11

Vgl. Fußnote 9. Wie es z. B. A r t . 13 Abs. 3 GG tut, w e n n er eine „dringende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung" als Voraussetzung für Eingriffe in die Unverletzlichkeit der Wohnung verlangt. Dort ist man sich einig, daß „dringend" gleich erheblich oder schwer ist; vgl. Gentz, Die Unverletzlichkeit der Wohnung (Schriften zum öffentlichen Recht Bd. 84), S. 116 ff. 12

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rung präventiven Rechtsschutzes notwendig wird. Erst Gefährdung und Unzumutbarkeit zusammen erweisen die Notwendigkeit der Prävention. Bei der Frage nach der Zumutbarkeit des Abwartens und der Verweisung auf den Repressivschutz w i r d die A r t des befürchteten Verwaltungshandelns wesentlich: ob Normen, Verwaltungsakte oder Realhandlungen verhütet werden sollen. A m ehesten ist die Unzumutbarkeit und damit das Präventionsbedürfnis bei Realakten zu bejahen, weil hier vollendete Tatsachen geschaffen werden und der Schaden oft irreparabel ist: Der Hund ist erschossen, das Gebäude ist abgebrochen oder das Geschäft geschlossen worden, die falsche Behauptung hat meinen Ruf vernichtet oder mein Ansehen geschädigt, das Grundstück ist überschwemmt oder der Wasserlauf trockengelegt worden, ich stehe i n der Verbrecherkartei, die Behörde hat die Zahlung eingestellt, die Zeitung ist beschlagnahmt. I n solchen Fällen reicht der repressive Rechtsschutz nicht aus. Hier ist Raum für präventive Unterlassungs- und Feststellungsklagen — nicht dagegen bei Normen und Verwaltungsakten. C. Verwaltungsgerichtliche Normenverhütungsklagen sind nach geltendem Recht unzulässig. 1. Sie sind von vornherein dort ausgeschlossen, wo § 47 VwGO nicht anwendbar ist: sei es, daß der Landesgesetzgeber von seiner Ermächtigung keinen Gebrauch gemacht hat — sei es, daß die Norm nicht zu den nach § 47 kontrollierbaren gehört — sei es, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit den Vorrang hat. Denn wo sogar die repressive Normenkontrolle versagt, da ist erst recht kein Raum für eine präventive Normenkontrolle. 2. Sie ist aber auch dort ausgeschlossen, wo § 47 die nachträgliche Normenkontrolle zuläßt. Das ergibt sich nicht nur aus seinem Wortlaut, der den Erlaß der Norm voraussetzt, sondern vor allem aus der Heranziehung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Sie läßt die Normenkontrolle i n all ihren Varianten nur gegen existente, nicht gegen projektierte Normen zu: Die Norm muß zwar nicht schon i n Kraft gesetzt, muß aber regelmäßig schon verkündet sein; mindestens muß der Willensbildungsprozeß des Normgebers abgeschlossen sein 13 . Das hat das Bundesverfassungsgericht zunächst für die abstrakte Normenkontrolle des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG entschieden 14 , sodann für den Organstreit 1 5 und schließlich für die Verfassungsbeschwerde 10 gegen Gesetze — ebenso der 13 14 15 1β

13

Bei Ratifikationsgesetzen BVerfGE 1, 336 (413). E 1, 396 Leitsatz. E 2,177/78. E 18,1 (11).

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Bayerische Verfassungsgerichtshof 163 für die Normen-Popularklage nach A r t . 98 Bay Verf. Freilich läßt vereinzelt das Landesrecht eine Verfassungsklage auch gegen Gesetzesvorlagen zu 1 7 . Aber das erlaubt keinen Rückschluß auf die Zulässigkeit einer verwaltungsgerichtlichen Normenverhütungsklage. D. Präventivklagen gegen Verwaltungsakte I. Die Klage auf Unterlassung eines Verwaltungsaktes ist eine vorverlegte Anfechtungsklage, keine Verpflichtungsklage. Zwar ließe sie sich als negative oder negatorische Verpflichtungsklage deklarieren. Aber die Verpflichtungsklage der Verwaltungsgerichtsordnung ist auf den Erlaß eines Verwaltungsaktes oder auf die Vornahme einer Amtshandlung, also auf ein Handeln gerichtet, während hier eine Unterlassung begehrt wird. Die Verwaltungsaktverhütungsklage ist, wie die Anfechtungsklage, eine Abwehrklage, also das Gegenteil der Verpflichtungsklage, die stets aggressiv ist und w i r k t . Die Hauptbedenken gegen die Zulassung präventiven Rechtsschutzes bei Verwaltungsakten 1 8 ergeben sich aus dem Suspensiveffekt der A n fechtung und aus der Notwendigkeit des Vorverfahrens. II. Was die Vorschriften über den Suspensiveffekt angeht, so werden sie sowohl für wie gegen die Zulassung präventiver Anfechtungsklagen angeführt. Einerseits w i r d argumentiert, der Suspensiveffekt erübrige die Präventivklage; andererseits w i r d sie m i t dessen Lücken gerechtfertigt. 1. Sicherlich genügt zu solcher Rechtfertigung nicht der Hinweis auf § 80 Abs. 2 VwGO. Denn auch dann, wenn der Suspensiveffekt generell entfällt oder i m Einzelfall durch die behördliche Anordnung sofortigen Vollzugs ausgeschlossen wird, kann der Bürger ihn wiederherstellen bzw. die Vollziehung aussetzen lassen — § 80 Abs. 4 - 5 VwGO. Daß diese Rechtsbehelfe nicht immer rechtzeitig und vollständig wirken, werden die Verwaltungsgerichte vermutlich bestreiten, indem sie auf die praktischen Vorkehrungen verweisen, die sie getroffen haben, um die Verwaltungsbehörden daran zu hindern, durch Überraschungscoups an Wochenenden vollendet Tatsachen zu schaffen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Doch mag dem sein, wie ihm wolle. Ich meine, daß eventuelle Lücken i n der gesetzlichen Regelung des Suspensiveffekts und seiner Sicherung oder Wiederherstellung de lege lata zu respektieren, 16a

n. F. E 2 I I 61. A r t . 75 BayVerf, A r t . 130 Verf. Rheinland-Pfalz. 18 Das Bundesverwaltungsgericht w i l l i h n — theoretisch — dann gewähren, w e n n dem Kläger nicht zugemutet werden könne, den Erlaß des Verwaltungsaktes abzuwarten. I n aller Regel hält es den repressiven Rechtsschutz für ausreichend. Vgl. E 26, 23 (24 f.). 17

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nicht aber durch Zulassung präventiver Klagen zu korrigieren sind. Der gesetzlichen Regelung liegt eine differenzierende und sorgfältige Interessenabwägung zugrunde: zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen oder alsbaldigen Vollziehung des Verwaltungsakts und dem Interesse des Bürgers, daß nicht vollendete Tatsachen geschaffen werden, die nicht oder nur schwer reparabel sind. Man mag darüber streiten, ob das Gesetz die Gewichte zwischen Staat und Bürger richtig verteilt hat. Jedenfalls ist die Verteilung zu respektieren, solange der Richter ans Gesetz gebunden ist. Die Präventivklage ist kein zulässiges Mittel, der Verwaltung den sofortigen Zugriff aus der Hand zu schlagen, den das Gesetz ihr durch Versagung des Suspensiveffekts eröffnet. Denn die Präventivkiage gegen Verwaltungsakte ist ein vorweggenommener Suspensiveffekt, weil sie eine vorweggenommene Anfechtungsklage ist. Sie ist gegenüber dem Suspensiveffekt ein maius: wo dieser ausgeschlossen ist, da ist es erst recht die Präventivklage. Wo der Bürger durch die A n fechtungsklage der Verwaltung nicht i n den A r m fallen kann, da vermag er das erst recht nicht durch eine Präventivklage. 2. Ist das anders, wenn der Verwaltungsakt straf sanktioniert ist? Gewiß nicht, wenn der Suspensiveffekt auch die Verbots- oder Gebotswirkung des Verwaltungsakts erfaßt, was bekanntlich umstritten ist. Ferner dann nicht, wenn die Strafbarkeit die formelle Rechtskraft des Verwaltungsakts voraussetzt, was durch Auslegung der Strafnorm zu beantworten ist. Das Problem reduziert sich also auf die wenigen Fälle, i n denen die Übertretung des Verwaltungsakts auch dann (schon) strafbar ist, wenn er mit suspendierender Wirkung angefochten wurde. Dann aber kann dem Bürger durch einstweilige Anordnung geholfen werden. § 123 Abs. 5 VwGO steht in diesem Falle nicht entgegen, weil er nur klarstellt, daß die Rechtsbehelfe des § 80 als lex specialis die einstweilige Anordnung des § 123 verdrängen. Die S traf Sanktionierung eines Verwaltungsakts rechtfertigt also nicht die Zulassung einer Klage auf seine Verhütung. III. Präventivklagen gegen Verwaltungsakte und Vorverfahren. 1. Vor Erlaß eines Verwaltungsaktes ist ein Vorverfahren nicht möglich; denn der Widerspruch der Verwaltungsgerichtsordnung setzt ein Anfechtungsobjekt voraus. Bestätigt w i r d dies durch die Regelung der Untätigkeitsklage, die kein Vorverfahren voraussetzt, obwohl doch auch dort denkbar wäre, daß zunächst Widerspruch eingelegt werden müßte. Deshalb ist auch eine analoge Anwendung der Vorschriften über das Widerspruchsverfahren auf die Präventivklage nicht möglich. 2. Dann aber führt die Zulassung präventiver Anfechtungsklagen zur Umgehung des Vorverfahrens. Man nimmt damit nicht nur der Verwaltung die Möglichkeit, Fehlentscheidungen zu korrigieren und zu ver13*

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meiden; vor allem entfällt die Filterfunktion des Vorverfahrens: Statt der mit ihr bezweckten Entlastung der Verwaltungsgerichte w i r d deren Mehrbelastung bewirkt. IV. Ich halte daher Präventivklagen gegen Verwaltungsakte generell und prinzipiell für unzulässig — gleichgültig, i n welcher Form sie erhoben werden: ob als Unterlassungs- oder als Feststellungsklage, und welche Formulierung ihnen gegeben wird. Sofern ihr Ziel ist, den Erlaß eines bestimmten Verwaltungsaktes zu verhüten, ist die Präventivklage eine vorweggenommene Anfechtungsklage. Durch solche Anticipation können und dürfen aber nicht die speziellen Voraussetzungen und W i r kungen, die das Gesetz für die Anfechtungsklage normiert hat, beseitigt oder umgangen werden. Die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte ist nicht so streng: Das Bundesverwaltungsgericht hat ohne Erkenntnis und Erörterung des Präventivproblems in E 30, 352 die Klage der Bundesbahn gegen die beabsichtigte Erteilung einer Personenbeförderungs-Erlaubnis zugelassen und i n E 31, 177 die Feststellungsklage, daß die beklagte Behörde nicht befugt sei, den Vertrieb eines bestimmten Pflasters zu verhindern. I n DVB1 1965, 364 erklärte es anläßlich der Klage eines reinen Rechtsschutzversicherers auf Nichterteilung einer Rechtsschutz-Versicherungs-Erlaubnis an einen Compositversicherer die Präventivklage für zulässig, wenn ein rechtswidriger Eingriff ernstlich zu befürchten und die Verweisung auf die nachträgliche Anfechtungsklage nicht zumutbar sei. Nach E 26, 23, wo auf Unterlassung der Änderung eines begünstigenden Verwaltungsaktes geklagt war, gewährt der Suspensiveffekt dem Bürger „alle Sicherungen gegen eine vorzeitige Schmälerung seiner Rechtsstellung"; deswegen seien besondere Gründe nötig, um zu rechtfertigen, daß der Bürger den Erlaß des Verwaltungsakts nicht abwarten müsse. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg ließ i n E 21, 473 die Klage auf Feststellung zu, daß der beklagte Staat nicht befugt sei, Kammerbeiträge i m Verwaltungszwangsverfahren einzuziehen, weil die Zahlungsaufforderung an den Kläger kein Verwaltungsakt sei. Darüber, warum der Kläger nicht die Vollstreckung abwarten könne, um diese dann anzufechten, sagte das Oberverwaltungsgericht nichts. V. 1. M i t der Zulassung einer präventiven Verpflichtungsklage wird nicht nur das auch für die Verpflichtungsklage i n der Regel notwendige Vorverfahren umgangen oder ausgeschaltet, sondern auch das weitere gesetzliche Erfordernis vorgängiger Antragstellung bei der Verwaltungsbehörde; denn die Verpflichtungsklage der Verwaltungsgerichtsordnung 19 kann nur auf die Verurteilung zur Vornahme eines beantragten — aber abgelehnten oder unterlassenen — Verwaltungsaktes oder einer bean19

Vgl. §§ 68 Abs. 2, 74 Abs. 2, 75, 76, 78 Abs. 1,113 Abs. 4 Satz 1.

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tragten Amtshandlung gerichtet werden. Auch die Vorschriften über die Untätigkeitsklage 2 0 stehen einer präventiven Verpflichtungsklage, m i t der der Bürger die Behörde überfällt, entgegen. 2. Diese Bedenken entfallen bei einer Klage auf präventives Einschreiten der Behörden gegen einen Dritten 21. Sie ist zulässig, wenn die Behörde den entsprechenden Antrag des Klägers abgelehnt oder nicht fristgerecht beschieden hat. I h r Erfolg hängt davon ab, ob der Kläger einen Anspruch auf das präventive Einschreiten der Behörde hat oder dessen Ablehnung den Kläger i n seinen Rechten verletzt, was selten der Fall sein wird. Das Präventionsbedürfnis ist hier wie bei der zivilrechtlichen Störungsabwehrklage zu beurteilen. VI. Läßt man entgegen meiner rigorosen Ablehnung präventive A n fechtungs- und Verpflichtungsklagen i n mehr oder weniger weitem Umfange zu, so w i r d man wenigstens an die Aktivlegitimation oder Klagebefugnis die gleichen Anforderungen wie an die echten, die repressiven Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen stellen müssen: Auf Unterlassung eines Verwaltungsaktes oder auf Feststellung seiner Unzulässigkeit kann also nur klagen, wer den erlassenen Verwaltungsakt anzufechten berechtigt ist. Auf Vornahme eines nicht beantragten Verwaltungsaktes oder einer nichtbeantragten Amtshandlung oder auf Feststellung der Verpflichtung zur demnächstigen Vornahme vermag nur zu klagen, wer i m Falle der Ablehnung zur Verpflichtungsklage legitimiert wäre. § 42 Abs. 2 VwGO muß auf solche Präventivklagen entsprechend angewandt werden. E. Zur präventiven Feststellungsklage Aus den vielfältigen Erscheinungsformen der präventiven Feststellungsklage und den Zulässigkeitsfragen, die sie aufwerfen, greife ich folgende heraus: I. Klagen auf Feststellung der Unzulässigkeit oder Rechtswidrigkeit eines künftigen Verwaltungsaktes, der Nichtberechtigung der Behörde zu seinem Erlaß oder der Berechtigung des Klägers zu dem Verhalten, das der befürchtete Verwaltungsakt untersagt, sind nichts anders zu beurteilen als Klagen auf Nichterlaß des Verwaltungsaktes. Es sind mehr oder weniger verdeckte Verw r altungsaktverhütungsklagen, antizipierte Anfechtungsklagen, und daher grundsätzlich unzulässig. II. Ausdrücklich zugelassen hat § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO die Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts, wenn er 20

§ 75 VwGO, § 46 FGO, § 88 SGG. E i n Beispiel i n B V e r w G E 27, 176: wasserrechtliche Nachbarklage. Auch i m Baurecht kann die Nachbarklage so gestaltet werden: auf Verpflichtung der Baubehörde zum Einschreiten gegen den materiell rechtswidrigen Bau. 21

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sich i m Laufe des Anfechtungsprozesses erledigt hat. Die Rechtsprechung hat das ausgedehnt auf die Erledigung i m Vorverfahren 2 2 und auf die Verpflichtungsklage 23 : hier dahin, daß die Verpflichtung der Behörde zum Erlaß des Verwaltungsaktes oder die Rechtswidrigkeit seiner Ablehnung festgestellt wird. Diese Feststellungsurteile haben nicht nur die repressive Funktion, Amtshaftungsklagen vorzubereiten, sondern auch den präventiven Zweck, eine Wiederholung des rechtswidrigen Verhaltens der Verwaltungsbehörde zu verhüten. Aber i n all diesen Fällen hat die Behörde bereits gehandelt, ist der Kläger bereits i n seinen Rechten verletzt worden. Zugunsten einer Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit künftigen Verhaltens ist daraus nichts herzuleiten. I I I . Die Zivilprozeßordnung läßt i n § 280 den Antrag auf Feststellung präjudizieller Rechtsverhältnisse i n anhängigen Prozessen uneingeschränkt zu. Diese Inzidentfeststellungsklagen (oder -Widerklagen) dienen fast immer präventiven Zwecken. Doch braucht dieser Zweck nicht nachgewiesen zu werden. Das Gesetz verzichtet auf das i n § 256 verlangte konkrete Feststellungsinteresse, das vielmehr aus der Präjudizialität des Feststellungsgegenstandes unwiderleglich vermutet wird. Obwohl diese Vorschrift kraft der Generalverweisung des § 173 VwGO auch i m Verwaltungsprozeß anwendbar ist, scheint man hier von ihr keinen oder kaum Gebrauch zu machen. Vielleicht liegt das nur an ihrer Unkenntnis, vielleicht aber auch daran, daß die Parteien, vor allem die Behörden, sich auch i n künftigen und parallelen Fällen an die A n t w o r t halten, die das Verwaltungsgericht i n den Entscheidungsgründen auf die Vorfrage erteilte. Hat es die grundsätzliche Steuerpflicht verneint oder die Flüchtlingseigenschaft bejaht, so honoriert das die Verwaltungsbehörde auch i n künftigen Fällen und Verfahren desselben Klägers und bei Erlaß neuer Verwaltungsakte mindestens i h m gegenüber, obwohl die Inzidentfeststellung, w e i l sie nicht i n den Tenor aufgenommen wurde, nicht an der Rechtskraft des Urteils teilhat, die Behörde also rechtens nicht gebunden ist. IV. Zu den überlieferten Grundsätzen der Feststellungsklage gehört die These, daß sie nur auf konkrete (und individuelle) Rechtsverhältnisse, nicht auf abstrakte Rechtsfragen gerichtet werden darf. Die Verwaltungsgerichte beten den Satz nach, ohne seine Berechtigung zu untersuchen — aber sie durchbrechen ihn in zunehmendem Maße. Sie lassen nämlich Klagen zu auf Feststellung, daß der Kläger etwas tun darf, was eine Norm verbietet, oder daß die Behörde etwas nicht t u n darf, was ihr eine Norm gebietet oder gestattet. Solche Klagen werden mit der Ungültigkeit der Norm begründet. Die Normgültigkeit ist aber der typische Fall einer 22 B V e r w G E 12, 87 (90); 26, 161 (165); O V G Münster DVB1. 1961, 523; OVG Koblenz AS 6, 391. 23 B V e r w G DVB1.1964, 278.

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abstrakten Rechtsfrage. Zugleich w i r d damit die Zulässigkeit einer solchen Klage wegen ihrer Nähe zur Normenkontrolle fraglich. Aus dem doppelten Gesichtspunkt des mangelnden Rechtsverhältnisses und der verdeckten Normenkontrolle hat das Bundesverwaltungsgericht 24 die gegen die Einführung des Schlachthauszwangs gerichtete Feststellungsklage eines betroffenen Metzgers, daß er weiterhin „hausschlachten" dürfe, für unzulässig erklärt. Demgegenüber ließ das Oberverwaltungsgericht Münster 2 5 es zu, daß die Mannesmann-Bergbautochter gegen eine von ihr als ungültig erachtete Verordnung der Bergbaubehörde mit der Feststellungsklage zu Felde zog, daß sie die verordneten Karteien nicht zu führen brauche und das Bergamt die Verordnung nicht vollziehen, insbesondere keine Bußgeldbescheide gegen die Direktoren und Angestellten der Klägerin wegen Übertretung der Verordnung erlassen dürfe. 1. Speziell mit der Bußgeldandrohung wurde das Feststellungsinteresse gerechtfertigt. Nach dem Oberverwaltungsgericht Münster soll es heute i n der Rechtsprechung anerkannt sein, daß dem Staatsbürger nicht zugemutet werden könne, zunächst Ordnungsverfügungen und Strafanzeigen gegen sich ergehen zu lassen, u m dann erst i m Bußgeld- oder Strafverfahren die strittigen Rechtsfragen klären zu lassen. Ich bezweifle, ob das wirklich schon allgemeiner Gerichtsgebrauch ist. Jedenfalls wäre er falsch und schleunigst aufzugeben. Für eine präventive Straffreiheitsklage läßt unser geltendes Prozeßrecht keinen Raum. Die direkte Klage auf Unterlassung der Strafverfolgung oder auf Feststellung der Nichtstrafbarkeit eines bestimmten Verhaltens ist offensichtlich unzulässig. Die Straßprozeßordnung stellt dafür kein Verfahren zur Verfügung; sie hat den Strafprozeß ausschließlich als Akkusationsprozeß gestaltet. Aber auch der indirekte Rechtsschutz durch zivil- oder verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage versagt: Ist zweifelhaft, ob das Verhalten des Bürgers A gegenüber Bürger Β strafbar ist, so nützt es dem Angeklagten A i m Strafprozeß gar nichts, daß er i n einem Zivilprozeß mit Β die Rechtmäßigkeit seines Verhaltens hat feststellen lassen; diese Feststellung bindet unbestritten den Strafrichter nicht. I m Verhältnis des Bürgers zur Verwaltungsbehörde liegt es aber nicht anders. Auch die verwaltungsgerichtliche Feststellung dieses Verhältnisses präjudiziert nicht den Strafrichter i m Verwaltungsstrafverfahren. Zwar wirken die Urteile der Verwaltungsgerichte auch gegenüber den ordentlichen Gerichten — aber nur innerhalb der subjektiven und objektiven Grenzen der Rechtskraft. Die objektiven Grenzen bilden keinen Hinderungsgrund für die Präjudizierung des Strafrichters, wenn die vom Verwaltungsgericht getroffene Feststellung präjudiziell für den Strafprozeß ist. Das 24 25

D Ö V 1965,169 = VerwRspr Bd. 17 Nr. 124 S. 495. E 22, 284.

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ist sie dann, wenn das Verwaltungsgericht das i m Strafprozeß zu beurteilende Verhalten des Angeklagten für rechtmäßig oder den übertretenen Verwaltungsakt für rechtswidrig erklärt hat. Aber die Bindungswirkung scheitert am Mangel der subjektiven Identität. Zwar ist es unschädlich, daß i m Straßprozeß die Parteirollen gegenüber dem Verwaltungsprozeß vertauscht sind. Aber der i m Strafprozeß anklagende Staat, repräsentiert durch den Staats-Anwalt, ist nicht identisch mit dem i m Vorprozeß verklagten Staat als Verwaltungsbehörde. Das ist offensichtlich, wenn die verklagte Verwaltungsbehörde einer anderen juristischen Person als der Staatsanwalt zugeordnet ist. Aber auch wenn die beiden Behörden: die Staatsanwaltschaft und die Verwaltungsbehörde, demselben Land zugehören, fehlt es an der Parteienidentität. Staatsanwaltschaft und Verwaltungsbehörde sind in keinem Fall identisch; der verwaltende Staat ist eine andere Partei als der strafende Staat. Daher bindet das gegen die Verwaltungsbehörde ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts nicht den Staatsanwalt und folglich nicht den Strafrichter i m Strafprozeß. Infolgedessen nützt dem Bürger die verwaltungsgerichtliche Feststellung der Rechtmäßigkeit seines Verhaltens nichts i m nachfolgenden Strafprozeß, i n dem er wegen dieses Verhaltens angeklagt ist oder i n dem er seine verwaltungsbehördliche Bestrafung (insbesondere durch Bußgeldbescheid) nachgeprüft und aufgehoben sehen w i l l 2 6 . M i t dem drohenden Straf- oder Bußgeldverfahren kann das Rechtsschutzbedürfnis für eine präventive Feststellungsklage bei dem Verwaltungsgericht jedenfalls nicht gerechtfertigt werden. Diese Klage ist zur Vermeidung des Straf- oder Bußgeldverfahrens mangels Bindung des Straf rieh ters ungeeignet, der auch dann das letzte Wort hat, wenn die Verwaltungsbehörde durch das Urteil des Verwaltungsgerichts gebunden sein sollte 26 . 2. Die vom Oberverwaltungsgericht Münster zugelassene Klage war aber vor allem deshalb unzulässig, weil sie auf prinzipale Normenkontrolle gerichtet war. Das Oberverwaltungsgericht hat sich dieses Bedenkens damit entschlagen, daß es die fragliche Verordnung ja nur dem 26 A m Einspruchsverfahren nach §§ 71 ff. O W i G 1968 ist die Verwaltungsbehörde nicht beteiligt. Nach Übersendung der A k t e n „gehen die Aufgaben der Verfolgungsbehörde auf die Staatsanwaltschaft über", § 69 I I . Gegenstand des Einspruchsverfahrens ist nicht die Rechtmäßigkeit des Bußgeldbescheides, sondern die angebliche Ordnungswidrigkeit, die „ T a t " . Nach § 72 I I „entscheidet das Gericht darüber, ob der Betroffene freigesprochen, gegen i h n eine Geldbuße festgesetzt, eine Nebenfolge angeordnet oder das Verfahren eingestellt w i r d " . K o m m t es zur Hauptverhandlung, kann das Gericht sogar verbösern, § 71 OWiG i. V. m. § 411 StPO, arg. e contr. § 72 I I 2 OWiG. Der Strafrichter hebt weder den Bußgeldbescheid auf noch ändert er i h n ab, sondern er entscheidet ab ovo neu, also meritorisch. Deshalb ist es für i h n gleichgültig, ob die Verwaltungsbehörde wegen angeblicher Bindung an das verwaltungsgerichtliche Feststellungsurteil den Bußgeldbescheid nicht erlassen durfte.

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Kläger gegenüber für ungültig erkläre, während das echte Normenkontrollurteil contra omnes wirke. Aber es gibt keine individuelle Ungültigkeit von Normen, weil das mit dem Wesen der Norm als einer generell-abstrakten Regelung unvereinbar ist. Die auf relative oder individuelle Normungültigkeit gerichtete Feststellungsklage scheitert also nicht nur am Mangel des in § 43 VwGO verlangten konkreten Rechtsverhältnisses, sondern vor allem daran, daß sie auf eine Rechtsfolge gerichtet ist, die es i m deutschen Recht nicht gibt und logischerweise auch nicht geben kann. 3. I n so offener Form wie hier werden individuelle Normenkontrollklagen selten erhoben. Meist werden sie getarnt, indem der Bürger die Feststellung begehrt, daß er zu dem Verhalten, das die Norm verbietet oder gebietet, berechtigt oder nicht verpflichtet sei — oder daß die Behörde zu dem Verhalten, das ihr die Norm gebietet oder erlaubt, dem Kläger gegenüber nicht berechtigt sei — oder daß sie ihm ein Verhalten schulde, das ihr die Norm verbietet. In Wahrheit sind auch solche oder ähnliche Klagen trotz ihrer scheinbaren Abstellung auf eine konkrete Berechtigung oder Verpflichtung individuelle Normenklagen. Ob ich ein Parkverbot 2 7 mit der Klage auf Feststellung, daß es mir gegenüber unwirksam sei, oder mit der Feststellung bekämpfe, daß ich trotz Verbots zum Parken berechtigt sei, macht sachlich keinen Unterschied. Der Streitgegenstand ist beide Male derselbe: die Ungültigkeit des Parkverbots für mich. Auch die Berechtigungsfeststellungsklage ist, wenn die Berechtigung allein aus der Ungültigkeit der gegenteiligen Norm begründet wird, eine individuelle Normenkontrollklage und daher wie diese unzulässig. Die Verwaltungsgerichte zeigen, wenn ich recht sehe, i n letzter Zeit eine gewisse Bereitschaft zur Zulassung von individualrechtlich aufgezäumten Feststellungsklagen, mit denen die Befolgung, die Anwendung oder der Vollzug einer Norm wegen ihrer Ungültigkeit präventiv bekämpft wird. Sie sollten sich nicht darüber täuschen lassen, daß es sich um verkappte Normenkontrollklagen handelt: um den gesetzwidrigen Versuch, die bewußt engen Grenzen prinzipaler Normenkontrollklagen zu sprengen. F. Schlußbemerkung Das Fazit meiner Ausführungen, die nur einen Teil der Probleme behandeln konnten, ist Skepsis gegenüber den Möglichkeiten, der Nützlichkeit und der Notwendigkeit präventiven Rechtsschutzes. Vor einem ab27 Ob man es als N o r m oder als Verwaltungsakt qualifiziert, ist i n unserem Zusammenhang unerheblich; denn auch als Verwaltungsakt ist das Parkverbot ein generelles Verbot, eine Allgemein-Verfügung.

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schließenden Urteil wäre sehr viel eingehender zu prüfen, i n welchen Fällen, in welchem Maße und aus welchen Gründen m i t den M i t t e l n des repressiven Rechtsschutzes (noch oder nicht mehr) auszukommen ist. Feststehen dürfte schon jetzt, daß ein lückenloser und vollwirksamer Rechtsschutz allein auf repressiver Ebene nicht gewährt werden kann. Es ist nur die Frage, ob man das Maximum erreichen kann und ob es zugleich das Optimum ist: ob nicht die Totalität des Rechtsschutzes dessen Effektivität gefährdet. Wer alles erreichen w i l l , w i r d i m Ende oft nichts erreichen. Wie die totale Demokratie von der politischen Freiheit schließlich nichts mehr übrig läßt, so, fürchte ich, gewähren w i r mit der permanenten Ausdehnung der Rechtsschutz-Möglichkeiten i m Endeffekt sehr viel weniger realen, d. h. raschen und wirksamen Rechtsschutz, als wenn w i r ihn an den Schwerpunkten, an den wichtigen Stellen konzentrieren — das heißt aber: beschränken. Wie summum ius nur allzuleicht i n summa iniuria umschlägt, so kann der totale Rechtsschutz durch Verzettelung der beschränkten Kräfte zu weitgehender Rechtsschutzlosigkeit, zur Insuffizienz und Ineffizienz des zu weit gespannten Rechtsschutzes führen.

Der vorläufige Rechtsschutz eines Dritten und des Begünstigten bei baurechtlichen Verwaltungsakten mit Drittwirkung Von Konrad Geizer I. Die Generalklausel des § 40 Abs. 1 VwGO, nach der i n allen öffentlichrechtlichen Streitigkeiten der Verwaltungsrechtsweg grundsätzlich gegeben ist, und der erste Satz des § 80 VwGO, nach dem Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben, gaben nach dem Kriege und i m Anschluß an die MRVO 165 dem Bürger einen Rechtsschutz gegen behördliche Verwaltungsakte i n einem bisher nicht gekannten Umfange und, wie die praktische Anwendung seitdem gezeigt hat, i n einer außerordentlich glücklichen Vollkommenheit. Die Möglichkeit, über die Rechtmäßigkeit eines jeden Verwaltungsaktes eine gerichtliche Klärung herbeiführen zu können und dabei zu wissen, daß während des Rechtsmittelverfahrens noch keine entscheidenden Wirkungen von dem Verwaltungsakt ausgehen und insbesondere Vollstreckungsmaßnahmen noch nicht eingeleitet werden dürfen, erhellt mit außerordentlicher Klarheit den Unterschied zur Verwaltungspraxis totalitärer Staatsformen. 1. a) die Regelung des vorläufigen Rechtsschutzes, wie sie i n der VwGO ausgestaltet und deren Bewährung zu untersuchen Aufgabe meines Referates ist, erweist sich als eine vollkommene Lösung: Die aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittels gewährt fast uneingeschränkt einen vorläufigen Rechtsschutz. Nur i n wenigen, i m Gesetz ausdrücklich benannten und durch besondere und anzuerkennende Erwägungen gedeckten Fällen t r i t t der Suspensiveffekt nicht ein, sowie auch dann nicht, wenn i m Einzelfalle Anlaß gegeben ist, den automatischen Suspensiveffekt i m öffentlichen Interesse oder i m überwiegenden Interesse eines Beteiligten auszuschalten und die sofortige Vollziehung anzuordnen. Aber auch i n diesen Fällen ist der Bürger geschützt. I h m ist mit der Vollziehungsanordnung nicht die Möglichkeit genommen, die Vollziehung dennoch zu hemmen; allerdings t r i t t dann der Suspensiveffekt nur ein,, wenn durch ein Gericht auf Antrag des Betroffenen die aufschiebende Wirkung wiederhergestellt w i r d ; diese Entscheidung w i r d getroffen nach einem Abwägen der öffentlichen Interessen an der sofortigen Ausführung der Verfügung und der Interessen des Betroffenen, es bei dem bisherigen Zustand zu belassen.

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Auch i m Widerspruchsverfahren ist eine Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zu erzielen (§ 80 Abs. 4 VwGO), hier jedoch mehr als Nebenentscheidung, weil sich die Prüfung i m Widerspruchsverfahren auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes insgesamt bezieht und die Frage, ob i m Einzelfall die aufschiebende Wirkung wiederherzustellen ist, in der Regel nicht vorab isoliert beschieden, sondern mit der Entscheidung über das gesamte Widerspruchsverfahren verbunden wird. Dies hat eine Verzögerung zur Folge, so daß in der Praxis rege von der Ermächtigung des § 80 Abs. 5 VwGO, das Gericht zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung anzurufen, Gebrauch gemacht wird, zumal diese Möglichkeit bereits vor Erhebung der Klage offensteht. Schließlich läßt sich die Absicht des Gesetzgebers, betroffenen Bürgern einen sofort wirksamen vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, auch i n der Maßgabe erkennen, daß sich eine Behörde mit der gerichtlichen Anordnung der aufschiebenden Wirkung oder deren Wiederherstellung abzufinden hat; denn derartige Beschlüsse sind nach § 80 Abs. 6 Satz 2 VwGO unanfechtbar. b) Einen vorläufigen Rechtsschutz benötigt der Bürger nur gegen belastende Verwaltungsakte; auf diese Fälle ist der § 80 VwGO seinem Inhalte nach ausgerichtet. W i l l ein Empfänger auch einen begünstigenden Verwaltungsakt anfechten, weil ζ. B. die Begünstigung m i t einschränkenden Auflagen verbunden ist, bedarf er keines vorläufigen Rechtsschutzes; denn es ist ihm selbst überlassen, den Verwaltungsakt mit seiner beschränkten Begünstigung i n Kauf zu nehmen oder ihn zu inhibieren und gleichzeitig weiter anzustreben, einen unbeschränkt begünstigenden Verwaltungsakt zu erhalten. 2. Allein eine Gruppe von Verwaltungsakten besonderer Prägung fügt sich in das so abgerundet erscheinende Schema nicht ein. Es handelt sich um die sogenannten Verwaltungsakte mit Doppelwirkung, auch Verwaltungsakte mit D r i t t w i r k u n g oder ganz präzise als Verwaltungsakte mit drittbelastender Doppel Wirkung 1 bezeichnet, die janusköpfig auf der einen Seite den Empfänger begünstigen und auf der anderen Seite gleichzeitig einen Dritten oder noch weitere Personen beeinträchtigen. Soweit ich es zu überblicken vermag, bringt die Regelung des vorläufigen Rechtsschutzes in § 80 VwGO nur hier eine erkennbare Unsicherheit bei der Handhabung der Vorschrift m i t sich. Damit befinde ich mich jedoch bereits schon — erzwungen durch die befristete Redezeit — bei dem Problem, dessen Versuch einer Lösung ich mit diesem Referat Ihnen näherbringen möchte. 1 So Wieseler, Der vorläufige Rechtsschutz gegen Verwaltungsakte, Berlin 1967, S. 219 ff.

Rechtsschutz eines D r i t t e n bei baurechtlichen Verwaltungsakten

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Die Schwierigkeiten i n der Anwendung des § 80 VwGO bei den Verwaltungsakten mit D r i t t w i r k u n g gaben den Verwaltungsjuristen ein weites Feld frei, um mit Theorien oder praktischen Erwägungen die unterschiedlichsten Lösungen zu finden 2. Uneinigkeit ist bereits am Ausgangspunkt zu erkennen: Während einerseits behauptet wird, daß der Gesetzgeber bei der Regelung des § 80 VwGO den Verwaltungsakt mit Doppelwirkung überhaupt nicht i m Auge gehabt habe 3 , betonen der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg 4 und das OVG Saarland 5 , daß die VwGO durchaus die Möglichkeit einer Verfügung mit D r i t t w i r k u n g berücksichtige; sie weisen insbesondere auf die §§ 68 Abs. 1, 71 und 79 Abs. 1 VwGO hin. Sodann beschäftigen sich die Rechtsprechung und besonders das Schrifttum in nicht mehr überschaubarer Folge mit den Fragen, ob bei der Anfechtung eines Verwaltungsaktes durch einen Dritten der Suspensiveffekt wirksam werden kann und wieweit dieser wirken könnte und welche Möglichkeiten bestehen, den vorläufigen Rechtsschutz hier einerseits besser auszugestalten und andererseits nicht zu einer zu umfassenden Wirkung kommen zu lassen. Zu den Diskussionen kommt es fast ausschließlich i n den Fällen, in denen Nachbarn gegen beeinträchtigende Baugenehmigungen Rechtsmittel eingelegt haben. Es ist hier umstritten, ob eine Baugenehmigung überhaupt vollziehbar und damit auch ihre Vollziehung aussetzbar ist. Ebenso ist offen, ob bei Bejahung dieser Frage eine aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels alle Beteiligten t r i f f t oder sich auf das Verhältnis des Nachbarn mit der Behörde beschränkt, das Verhältnis zwischen der Behörde und den Begünstigten also nicht einbezieht, weil dieser von der Einlegung des Rechtsmittels oft keine Kenntnis erlangt, wobei sich die weitere Frage aufdrängt, ob ein Verwaltungsakt mit Drittbelastung überhaupt in seiner Wirksamkeit geteilt werden kann. Über das Gesamtergebnis, wie der vorläufige Rechtsschutz bei den Verwaltungsakten mit Doppelwirkung wirksam werden muß, besteht sodann wieder eine gewisse Einigkeit, wenn auch dieses Ergebnis über recht verschiedene Wege gefunden wird. Verwaltungsakte mit belastender Doppelwirkung gibt es neben dem Baurecht auch i n zahlreichen anderen Rechtsgebieten, ζ. B. i m Subventionsrecht 6 , bei Streitigkeiten über Konzessionserteilungen nach dem 2 ζ. B. Dorf fier, N J W 1963, 14; Fromm, V e r w A r c h 56, 26; Laubinger, Der V e r waltungsakt m i t Doppelwirkung 1967; Löwer, DÖV 1965, 829; Menger/Erichsen, V e r w A r c h 1960, 381; Quaritsch, V e r w A r c h 1951, 228; Schenke, DÖV 1969, 332; Siegmund-Schultze, DVB11963, 749; Wieseler, a.a.O., u. a.m. 3 Fromm, a.a.O., S. 52; Lamberg, N J W 1963, 2154; Quaritsch, a.a.O., S. 52 u. a. m. 4 Beschl. v. 10. 6. 1969 - I I I 321/69 - , BRS 22 Nr. 178. 5 Vorlagebesdll. v. 8.10.1969 — I I W 17/69 —. 6 Vgl. BVerwG, Urt. v. 30. 8. 1969, DÖV 1969, 392.

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Personenbeförderungsgesetz 7 und neuerdings bei der Änderung von Familiennamen 8 und i m Wasserrecht 9 . Gestatten Sie mir, für meine weiteren Untersuchungen die Problematik zum vorläufigen Rechtsschutz i m Baurecht bei öffentlich-rechtlichen Nachbarklagen als Ausgangspunkt zu nehmen. II. 1. Rechtsprechung und Schrifttum verlangen — und insoweit besteht die wesentliche Übereinstimmung —, daß bei Nachbarklagen der vorläufige Rechtsschutz folgende Ergebnisse gewährleistet: a) bei offensichtlich begründeten Nachbarklagen muß der Rechtsschutz für den Nachbarn sofort eintreten und wirksam ausgestaltet sein; dem Bauherrn muß es offenstehen, die Rechtmäßigkeit der ihn belastenden Folgen, die der seinem Nachbarn gewährte Rechtsschutz mit sich bringen kann, gerichtlich nachprüfen zu lassen. Beispiel für eine offensichtlich begründete Nachbarklage: Der Nachbar w e n det sich dagegen, daß neben seinem Grundstück i n einem reinen Wohngebiet m i t rechtswidriger Baugenehmigung eine Schreinerei errichtet w i r d .

b) Bei offensichtlich unbegründeten Nachbarklagen darf der vorläufige Rechtsschutz für den Nachbarn nicht sofort eintreten, damit dem Bauherrn zunächst keine belastenden Folgen entstehen; dem Nachbarn muß jedoch der Versuch möglich sein, den i h m zunächst versagten vorläufigen Rechtsschutz durch eine gerichtliche Entscheidung herbeiführen zu lassen. Beispiel f ü r eine offensichtlich unbegründete Nachbarklage: Der Nachbar wendet sich dagegen, daß nahe an seiner Grundstücksgrenze ein Wohngebäude errichtet w i r d , obgleich die gesetzlichen Abstandsvorschriften diese Bauausführung gestatten.

c) Bei nicht offensichtlich begründeten Nachbarklagen liegen die Anforderungen an die Ausgestaltung des vorläufigen Rechtsschutzes nicht so klar auf der Hand. Beispiel für eine Nachbarklage m i t offenem Ausgang: Der Nachbar wendet sich dagegen, daß neben seinem Grundstück trotz der vorgeschriebenen zweigeschossigen Bauweise ein viergeschossiges Gebäude unter Befreiung genehm i g t worden ist.

Hierfür muß zunächst ein wesentlicher Gesichtspunkt des Nachbarschutzes angeführt werden: Der vorläufige Rechtsschutz eines Nachbarn ist nur wirksam, wenn er den Baubeginn oder die Fortführung von Bauarbeiten verhindert, w e i l sich die tatsächlichen Verhältnisse m i t jedem Tag des Weiterbauens zuungunsten des Nachbarn verändern können. Es ist eine Binsenwahrheit, daß Baubehörden geneigter sind, Maßnahmen zur Verhinderung von Bauarbeiten anzuordnen, wenn m i t deren 7 OVG Münster, Beschl. v. 11. 2.1966 — V I I I Β 812/66 —, B B 1966, 1044 m i t Anm. v. Fromm. 8 OVG Münster, Beschl. v. 20. 6.1969, DÖV 1970, 65 = M D R 1970, 270. 9 Vorlagebeschl. v. 8.10.1969 — I I W 17/69 —.

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Ausführung noch nicht oder gerade erst begonnen ist — schon wegen befürchteter Schadensersatzforderungen. Aber auch die Gerichte sehen erfahrungsgemäß Stillegungsmaßnahmen und spätere Abbruchsanordnungen lieber, wenn das Befolgen dieser Anordnungen für den Bauherrn mit noch nicht zu großen Unkosten verbunden ist. Deshalb muß für die Zweifelsfälle, i n denen der Ausgang einer Nachbarklage ofjen ist, der vorläufige Rechtsschutz zunächst wie bei den offensichtlich begründeten Nachbarklagen sofort wirksam werden können. Wenn auch i m Grundsatz zwischen dem Nachbarn und dem Bauherrn so etwas wie eine „Waffengleichheit" bestehen muß, so ist es i n diesen zunächst unentschiedenen Fällen dem Bauherrn eher zuzumuten, den Ausgang des Rechtsstreits über die Gültigkeit seiner Baugenehmigung abzuwarten, weil beim Weiterbau vollendete Tatsachen die Rechtssituation der beiden Beteiligten zu schnell und zum Nachteil des Nachbarn verändern würden. Hinzu kommt, daß i n vielen Fällen der Anlaß für die Rechtsunsicherheit durch eine Befreiung zugunsten des Bauherrn von einer zwingenden Vorschrift der Bauordnung oder eines Bebauungsplanes gegeben wurde. Es erscheint billig, wenn in Zweifelsfällen zunächst die Bauherrn die Folgen einer solchen Abweichung von zwingenden Vorschriften auf sich zu nehmen haben. 2. I n der Rechtsprechung befassen sich hauptsächlich die Verwaltungsgerichte und die Oberverwaltungsgerichte der Länder mit den Fragen eines vorläufigen Rechtsschutzes, weil es sich i n der Regel u m Beschlußverfahren handelt, die einer Nachprüfung durch das Bundesverwaltungsgericht nicht unterliegen. Die Verwaltungsrechtsprechung hat hier drei Lösungswege gefunden. I m Ergebnis erfüllen sie die angeführten Grundforderungen an den vorläufigen Rechtsschutz bei Nachbarklagen. a) 2. Lösungsweg: Der Baden-Württembergische 10 und der Bayerische V G H gehen davon aus, daß bei Einwendungen von Nachbarn der Suspensiveffekt sogleich voll zur Wirkung kommt und nur durch eine A n ordnung der sofortigen Vollziehung der Baugenehmigung wieder (oder bereits schon vorher) ausgeschaltet werden kann. Nach der Auffassung dieser Gerichte bleibt es also der Behörde überlassen, die aufschiebende Wirkung nicht eintreten zu lassen oder wieder zu beseitigen. Das Gesetz läßt dieses jedoch nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO nur i n den Fällen zu, i n denen die sofortige Vollziehung entweder i m öffentlichen Interesse oder i m überwiegenden Interesse eines der Beteiligten — dies wäre hier der Bauherr — von der Baugenehmigungsbehörde anzuordnen ist 1 1 . 10

ζ. B. Beschl. v. 3. 6.1966, BRS 17 Nr. 128 = E S V G H 16,183. U m s t r i t t e n ist dabei die Frage, ob die Vollziehungsanordnung vom Bauherrn durch A n r u f u n g der Verwaltungsgerichte erzwungen werden kann, vgl. Löwer, BayVBl. 1969, 268, u n d Schmaltz, BayVBl. 1969, 346; s. auch BVerwG, Beschl. v. 21.10.1968, BRS 20 Nr. 182. 11

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Es kann i n recht vielen Einzelfällen schwierig werden, ein öffentliches Interesse oder ein überwiegendes Interesse des Bauherrn anzunehmen und auch schriftlich zu begründen — so verlangt es § 80 Abs. 3 VwGO — 1 2 . Wann besteht schon ein überwiegendes privates oder gar öffentliches Interesse daran, daß mit den Bauarbeiten sofort begonnen werden müsse? Wenn hier eine Baugenehmigungsbehörde nicht bereit ist, Vollziehungsanordnungen etwas großzügig zu erlassen, würde dieser Lösungsweg bei offensichtlich unbegründeten Nachbarklagen dem Nachbarn unberechtigte Vorteile gewähren und dem Bauherrn schwerwiegende und kaum zu rechtfertigende Nachteile auferlegen. Beispiel: Der Nachbar wendet sich gegen die Genehmigung eines zulässigen Mietwohnhauses i m reinen Wohngebiet, das der Bauherr als Kapitalanlage erstellen w i l l .

I n diesem Beispiel dürften Anhaltspunkte für einen notwendigen sofortigen Baubeginn und damit für eine Vollziehungsanordnung fehlen. W i l l die Baugenehmigungsbehörde auch hier die Waffengleichheit zwischen dem Bauherrn und dem Nachbarn wahren, so kann sie die überwiegenden Interessen des Bauherrn — öffentliche Interessen dürften ausscheiden — nur damit zu begründen versuchen, daß es ungerechtfertigt sei, zulässige Baumaßnahmen durch unbegründete Rechtsmittel aufzuhalten. Bei diesem Lösungsweg ist zwar der Rechtsschutz des Nachbarn gewahrt; der in gleicher Weise notwendige Schutz des Bauherrn gegen einen vorläufigen Rechtsschutz hängt jedoch allein von der Entschlußkraft der Behörde ab, die bereit sein muß, ein unbilliges Ergebnis durch eine großzügige Gesetzesauslegung zu verhindern. b) 2. Lösungsweg: Den Schwierigkeiten bei der Begründung eines öffentlichen Interesses oder eines überwiegenden privaten Interesses entgeht das OVG Lüneburg mit der Konstruktion, daß jede Baugenehmigung sofort vollziehbar sei, weil die Aushändigung des Bauscheines die notwendige Anordnung der sofortigen Vollziehung darstelle 13 . Die praktikabel erscheinende Folge dieser Regelung ist es, daß kein automatischer Suspensiveffekt eintritt und der Nachbar veranlaßt wird, von sich aus Schritte zu unternehmen, um durch die Anrufung eines Verwaltungsgerichts die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zu erreichen. Damit erscheint eine Waffengleichheit gewahrt und die Entscheidung in die Hände eines unabhängigen Gerichts gelegt, i m Unterschied zu dem ersten Lösungsweg, bei dem betroffene Bauherrn keine gerichtliche Entscheidung herbeiführen können, wenn die Behörde es ablehnt, die sofor12

Vgl. hierzu Schäfer, D Ö V 1967, 477. Vgl. Beschl. v. 18. 6. 1964, BRS 15 Nr. 112, v. 8. 7.1965, BRS 16 Nr. 102, v. 25. 11. 1965, BRS 16 Nr. 103 = OVGE 21, 450 - DVB1. 1966, 275 u. v. 7.11.1969, N J W 1970, 963. 13

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tige Vollziehung einer Baugenehmigung anzuordnen; denn i n den meisten Fällen ist der Behörde hierbei kein Ermessensfehler nachzuweisen. Die Lüneburger Lösung scheint somit i m Ergebnis zu bestechen, wenn auch Zweifel aufkommen, ob die Aushändigung eines Bauscheines tatsächlich regelmäßig eine Anordnung der Vollziehung i m Sinne des § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO darstellen kann; denn es fehlt die gesetzlich geforderte Begründung und die Schriftform; auch kann weder der Empfänger noch der Nachbar, wenn diesem die Abschrift des Bauscheines zugestellt sein sollte, die Absicht der Behörde erkennen, den Suspensiveffekt auszuschalten. Bei beiden Lösungswegen kommt es nun noch zu einer weiteren Schwierigkeit: Wenn das Gericht auf Antrag eines Nachbarn die behördlich angeordnete sofortige Vollziehung einer Baugenehmigung mit der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung berichtigt, muß sich der Bauherr hiermit abfinden. Das Gesetz gewährt i h m keine Möglichkeit, ein Rechtsmittel einzulegen, weil § 80 Abs. 6 Satz 2 VwGO bestimmt, daß diese gerichtlichen Beschlüsse unanfechtbar sind. Die eindeutige Formulierung dieser Unanfechtbarkeit führt bei Nachbarstreitigkeiten zu einer durch nichts gerechtfertigten Bevorzugung des Nachbarn gegenüber einem Bauherrn, der vielleicht bei dieser Entscheidung über den Antrag des Nachbarn nicht beigezogen worden ist und nunmehr von der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung überrascht wird. Dieses offensichtlich unbillige Ergebnis veranlaßte das OVG Lüneburg, einem Bauherrn dennoch das Beschwerderecht zuzubilligen, weil mit dem Abs. 6 des § 80 VwGO nur ausgesprochen werden sollte, daß die Behörde sich mit der gerichtlichen Entscheidung abzufinden habe 14 . Diese Rechtsanwendung, die i n einem Kommentar schlicht als contra legem bezeichnet w i r d 1 5 , fand allerdings die Billigung durch das Bundesverwaltungsgericht 16 . Es hat den Anschein, daß die meisten Oberverwaltungsgerichte nicht bereit sind, den doch wohl zu eindeutigen Wortlaut des Gesetzes zu inhibieren; ausdrücklich haben der Baden-Württembergische und der Hessische Verwaltungsgerichtshof dieser Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Gefolgschaft versagt, und zwar — wie auf Verabredung — m i t Beschlüssen von demselben Tage, dem 10. Juni 196917. Das OVG Saarland hat konsequent die andere Folgerung gezogen, daß wegen der ungleichen Behandlung der Beteiligten bei Verwaltungsakten m i t D r i t t w i r k u n g dieser zweite Satz des § 80 Abs. 6 VwGO verfassungswidrig 14

Beschl. v. 25. 4.1967, BRS 18 Nr. 142 = DVB1.1968, 47. Redeker hon Oertzen, K o m m , zur V w G O , Rdnr. 49 zu § 80. 16 Beschl. v. 21.10.1968, BRS 20 Nr. 182 = DVB1. 1969, 269 = DÖV 1969, 111 = N J W 1969, 202. 17 Beschl. I I I 321/69, BRS 22 Nr. 178 und Beschl. I V T H 28/69, BRS 22 Nr. 177. 15

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sei, und hat dementsprechend einen Vorlagebeschluß beim Bundesverfassungsgericht eingebracht 18 . Hierauf werde ich am Schluß des Referates noch kurz eingehen. c) 3. Lösungsweg: Von diesen rechtlichen Schwierigkeiten i n der A n wendung der etwas komplizierten Regelung des § 80 VwGO bei nachbarlichen Einwendungen gegen Baugenehmigungen werden die OVG Berl i n 1 9 , Münster 2 0 , Rheinland-Pfalz 2 1 und Saarland 22 und der Hessische V G H 2 3 weniger berührt. Nach Auffassung dieser Gerichte finden Nachbarn regelmäßig durch den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO ihren vorläufigen Rechtsschutz. Auch Anträge auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung werden regelmäßig dementsprechend umgedeutet. Diese Anträge haben das Ziel, m i t einer einstweiligen Anordnung die Baugenehmigungsbehörde zu verpflichten, den Beginn von Bauarbeiten zu verhindern oder die Einstellung von Bauarbeiten anzuordnen. Gerichtlich w i r d hierbei nicht darüber entschieden, ob eine durch Rechtsmittel eingetretene aufschiebende Wirkung Bestand haben muß oder diese anzuordnen ist. Geprüft w i r d vielmehr allein, ob der Nachbar eine Gefährdung seiner Rechte bei Beginn oder Fortsetzung der Bauarbeiten glaubhaft gemacht hat. W i r d dieses bejaht, kann die beantragte einstweilige Anordnung erlassen werden. Auch bei diesem Lösungsweg ist die Waffengleichheit gewahrt. Das Gericht würdigt vor seiner Entscheidung den Vortrag aller drei Beteiligten. I n der praktischen Anwendung besticht es, daß sich die Anordnungen nicht auf die gesamte Baumaßnahme beziehen, sondern speziell allein auf den Bauteil, dessen Rechtswidrigkeit gerügt wird, beschränken können. Jedoch ist der Eindruck erweckt, daß auch bei dieser Handhabung eines vorläufigen Rechtsschutzes verfahrensrechtliche Schwierigkeiten zu überwinden sind, weil nach § 123 Abs. 5 VwGO die Vorschriften über die Zulässigkeit einer einstweiligen Anordnung nicht gelten für die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes oder für die Beseitigung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsmittels. Diese Konkurrenz zwischen den §§80 und 123 VwGO hat wesentlich zu den unterschiedlichen Rechtsauffassungen beigetragen. I I I . Den Auftrag dieses Referates würde ich wohl schlecht und unbefriedigend erfüllen, wenn ich nach der Schilderung der unterschiedlichen Rechtsauffassungen nunmehr die Vor- und Nachteile i n der jeweiligen 18

v. 8.10.1969 — I I W 17/69 —. Beschl. v. 16. 12.1966, BRS 17 Nr. 127. Beschl. v. 9. 8 1966, BRS 17 Nr. 130 = OVGE 22, 247 = N J W 1966, 2181. 21 Beschl. v. 2. 3. 1967, BRS 18 Nr. 140. 22 Beschl. v. 12. 6.1968, AS 10, 376. 23 Beschl. v. 15.1.1964, DÖV 1965, 747 u n d v. 12. 7. 1966, BRS 17 Nr. 131 = N J W 1966, 2183. 19

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praktischen Anwendung noch eingehender herausarbeiten und dann i m Ergebnis einen dieser drei Lösungswege als den besten herausstellen würde. Es wäre auch sicherlich keine Überraschung, wenn ich der Praxis des Gerichtshofes, dem ich selber angehören darf, den Vorzug geben würde. Das Ergebnis der Schilderung der drei verschiedenen Lösungswege, die letzten Endes jedenfalls rechtlich zu vertreten sind, zwingt erneut dazu, den Weg für eine gemeinsame Lösung zu finden. Die Rechtsunsicherheit auf diesem Teilgebiet des vorläufigen Rechtsschutzes ist für die Beteiligten kaum erträglich. Die Gerichte und auch die Verfasser i m Schrifttum haben sich so festgelegt, daß ein allgemeiner Appell zur Angleichung der Rechtsansichten kaum Aussicht haben dürfte. Es bietet sich deshalb an, den Weg einer Rechtsänderung zu prüfen, gerade anläßlich dieser Tagung, die dem 10jährigen Bestand der Verwaltungsgerichtsordnung gewidmet ist und unter dem Thema „Bewährung und Reform" steht. Von sämtlichen Verwaltungsgerichten w i r d es als mißlich empfunden, daß bei nachbarlichen Einwendungen automatisch ein Suspensiveffekt wirksam werden könnte. U m diesen zu umgehen, haben die Verwaltungsgerichte ihre Lösungen gesucht. Was liegt näher, als mit einer Änderung des Gesetzes diesen automatischen Eintritt der aufschiebenden Wirkung zu verhindern und damit zu versuchen, die Waffengleichheit zwischen dem Bauherrn und dem Nachbarn zu sichern? Gesetzestechnisch scheint es nicht allzu schwierig zu sein. Die wesentliche Änderung würde darin bestehen, daß die enumerative Aufzählung der vier Fälle, i n denen nach § 80 Abs. 2 VwGO die aufschiebende Wirkung entfällt, noch um einen fünften ergänzt wird, nämlich für die Fälle, i n denen ein begünstigender Verwaltungsakt durch einen Dritten angefochten wird. Beim ersten Anschein besticht das Ergebnis. Wenn in § 80 Abs. 2 VwGO diese neue Nummer 5 stehen würde, wäre der Nachbar zunächst von einer automatischen Besserstellung ausgeschlossen und gezwungen, für seinen Einzelfall eine besondere Entscheidung anzustreben, damit die aufschiebende Wirkung angeordnet wird. Doch der Schein trügt. Der Fortfall des automatischen Eintritts der aufschiebenden Wirkung bei Einwendungen von Nachbarn mag aus der Sicht des Widerspruchs- und besonders des gerichtlichen Verfahrens für zweckmäßig gehalten werden; nicht beachtet ist hierbei jedoch das vorhergehende Verwaltungsverfahren, obgleich i n der Regel bereits auf dieser Ebene sowohl Nachbarn als auch Bauherrn ihr Recht finden sollten. M i t logischem Zwang verlangen allgemeine polizeirechtliche Erwägungen, daß i m Falle der Anfechtung durch einen Nachbarn eine Baugenehmigung schwebend unwirksam wird, und zwar insgesamt, also auch i m Verhältnis zwischen der Baugenehmigungsbehörde und den Bauherrn. 14*

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Dieser Zwang ergibt sich aus folgendem: Werden nachbarliche Einwendungen erhoben, die begründet sein können, so ist es zunächst die Aufgabe der Genehmigungsbehörde selbst, bis zur abschließenden Klärung der Rechtsfrage den Baubeginn hinauszuschieben oder Stillegungsmaßnahmen anzuordnen. Erst wenn die Behörde nach Ansicht des Nachbarn nicht die notwendigen Maßnahmen einleitet, ist der Anlaß gegeben, das Gericht anzurufen, u m einen vorläufigen Rechtsschutz zu erhalten. Fehlte die aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels, wäre die Baugenehmigungsbehörde überhaupt nicht i n der Lage, vom Bauherrn Maßnahmen zu verlangen, w e i l dieser — i m Besitz einer gültigen Baugenehmigung — die formelle Legalität seiner Baumaßnahmen jeder behördlichen Verpflichtung entgegenhalten könnte. Die Baugenehmigungsbehörde müßte, um sofort Stillegungsmaßnahmen anordnen zu können, zunächst die formelle Illegalität des Bauvorhabens herbeiführen und hierzu die Baugenehmigung durch einen zusätzlichen Verwaltungsakt nach den speziellen Vorschriften der Bauordnung oder nach den polizeilichen (ordnungsbehördlichen) Grundsätzen zurücknehmen 24 . Hierfür müßte sodann die Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung feststehen. Eine Rücknahme erscheint nicht zulässig, wenn es nur zweifelhaft ist, ob eine Bauerlaubnis mit den gesetzlichen Vorschriften i n Einklang steht — und gerade dieses sind die Fälle, i n denen sich eine vorläufige Einstellung von Bauarbeiten vielfach als notwendig und zweckmäßig erweist. Dieses Unvermögen der Baugenehmigungsbehörde, bereits i m Verwaltungsverfahren selbst Abhilfe schaffen zu können, zeigt auf, daß bei den Überlegungen, die gesetzliche Regelung mit den praktischen Bedürfnissen des vorläufigen Rechtsschutzes i n Übereinstimmung zu bringen, nicht vom Leugnen oder von der Verhinderung einer aufschiebenden W i r kung ausgegangen werden kann. Wenn die Behörde einem Nachbarn, der begründet erscheinende Einwendungen geltend macht, lediglich anraten könnte, vom Gericht eine Sofortmaßnahme zu begehren, so wäre das Verwaltungsverfahren unzureichend geregelt und dazu der E i n t r i t t eines Rechtsschutzes i n jedem Falle mit einer Verzögerung verbunden, die nicht zu rechtfertigen wäre. Denn eine gerichtliche Entscheidung erfordert auch in Eilfällen eine längere Zeit als die einfache, sofortige Anordnung der Baugenehmigungsbehörde, m i t dem (genehmigten) Vorhaben nicht zu beginnen bzw. die Bauarbeiten einzustellen. 24 Spezielle Rücknahmevorschriften, die allerdings inhaltlich m i t der allgemeinen Regelung der Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte übereinstimmen, enthalten § 99 L B O Bad.-Württ., A r t . 96 BayBO, § 102 L B O Saarl. und § 98 L B O Schl.-H. N u r auf die allgemeinen Rücknahmevorschriften verweisen § 88 Abs. 5 BauO N W u n d § 87 LBauO Rh.-Pf. Die BauO Bln. enthält weder eine spezielle Rücknahmevorschrift noch eine Verweisung.

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IV. Das Problem des vorläufigen Rechtsschutzes bei Verwaltungsakten mit D r i t t w i r k u n g verschiebt sich damit von der Abwehr einer Wirksamkeit des Verwaltungsaktes auf ein tatsächliches Handeln der Behörde. Worauf zielt der vom Nachbarn begehrte vorläufige Rechtsschutz überhaupt? I m Grunde genommen ist es einem Nachbarn vollkommen gleichgültig, ob i n dem Verfahren zur vorläufigen Sicherung seiner Rechte dem Bauherrn eine Baugenehmigung erteilt worden ist und ob diese noch gilt, ob sie schwebend unwirksam oder gar bereits aufgehoben ist. I h m kommt es zunächst nicht auf die formelle Seite des Baugenehmigungsverfahrens, sondern allein darauf an, daß der Bauherr nicht eher mit dem Bau beginnt oder seine Bauarbeiten so lange nicht fortsetzt, bis gerichtlich darüber entschieden ist, ob das Vorhaben m i t den gesetzlichen Vorschriften übereinstimmt. Ich habe die Empfindung, daß i n der Rechtsprechung und i n den Diskussionen die formellen Fragen etwas überbewertet und dabei nicht ausreichend der vom Nachbarn tatsächlich begehrte und i h m auch zustehende vorläufige Rechtsschutz beachtet worden ist. Dieser Rechtsschutz bezieht sich i m wesentlichen auf den Nichtbeginn oder die Einstellung von Bauarbeiten, weil, wie ich es eingangs bei den Grundforderungen an einen vorläufigen Rechtsschutz für den Nachbarn bereits dargelegt habe, mit jedem Tag der Bauarbeiten die Aussichten des Nachbarn, mit der erhobenen Klage auch tatsächlich die Beeinträchtigungen abzuwehren, immer geringer werden. Damit meine ich, daß es keiner der etwas komplizierten Konstruktionen bedarf, um den automatischen Eintritt des Suspensiveffektes zu verhindern. Auch kann auf eine doch recht problematische Teilung der aufschiebenden Wirkung einerseits i m Verhältnis zwischen dem Nachbarn und der Behörde und andererseits zwischen der Behörde und dem Bauherrn verzichtet werden 2 5 . Meine erste These lautet deshalb: Widerspruch und Klage eines Nachbarn gegen eine Baugenehmigung haben stets aufschiebende W i r k u n g u n d die formelle Illegalität des Vorhabens zur Folge, auch i m Verhältnis zwischen der Baugenehmigungsbehörde u n d dem Bauherrn.

V. Das Schwergewicht des vorläufigen Rechtsschutzes liegt somit i n der einstweiligen Verhinderung von Bauarbeiten. Es bedarf deshalb der Prüfung, ob die gesetzliche Regelung zur Anordnung dieser Maßnahme ausreicht und auch praktisch anwendbar ist oder ob das Gesetz geändert oder ergänzt werden muß. Auszugehen ist auch hier von den Grundforderungen an einen vorläufigen Rechtsschutz bei den Verwaltungsakten m i t 25 Damit gibt auch der Verf. seine bisher vertretene Rechtsansicht auf (vgl. DÖV 1965, 793).

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Drittwirkungen, die ich eingangs zusammengestellt und unterschiedlich bewertet habe, je nachdem, ob es sich um erkennbar begründete oder unbegründete oder um Einwendungen handelt, deren Berechtigung offen ist. 1. I n dem ersten Fall, wenn begründete Einwendungen von Nachbarn erhoben sind, w i r d eine Genehmigungsbehörde bei ordnungsgemäßer Sachbearbeitung den Bauherrn von diesen begründeten Einwendungen i n Kenntnis setzen mit der Aufforderung, bis zur Entscheidung über das Rechtsmittel mit den Bauarbeiten nicht zu beginnen bzw. die bereits begonnenen Bauarbeiten wieder einzustellen. Ein solches Schreiben enthält, und hierauf kommt es nach meiner Ansicht entscheidend an, mehr als eine Mitteilung über die Rechtslage; es handelt sich hierbei um die jeweils erforderliche Verfügung zur Stillegung, also ein gesondertes, ein zusätzliches ordnungsbehördliches Gebot, mit dem vom Bauherrn ein bestimmtes Verhalten verlangt w i r d und ggf. auch erzwungen werden kann. Wenn in diesem Regelfall die Baugenehmigungsbehörde die Stilllegung anordnet, bedarf der Nachbar für seine Einwendungen gegen das Bauvorhaben keines zusätzlichen vorläufigen Rechtsschutzes. Auch der Bauherr hat ein ausreichendes Abwehrrecht, weil sein Rechtsmittel gegen die Stillegungsanordnung aufschiebende Wirkung hat oder weil er, wenn von der Behörde die Stillegungsanordnung auch für sofort vollziehbar erklärt worden ist, das Gericht anrufen kann. 2. W i r d dieser Regelfall dahin geändert, daß, obwohl die nachbarlichen Einwendungen gleichfalls begründet sind, die Behörde dennoch keine Stillegungsanordnung erläßt und dem Bauherrn nur von den Einwendungen Kenntnis gibt oder sogar auch dieses unterläßt, muß dem Nachbarn ein wirksamer vorläufiger Rechtsschutz beiseite stehen. Denn es ist i n keiner Weise sichergestellt, daß der Bauherr ohne besondere Stilllegungsanordnung von seinen Baumaßnahmen absieht. a) Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung, etwa „kein Bauen ohne gültige Baugenehmigung", enthalten die Bauordnungen nicht; sie besagen nur allgemein, daß Bauvorhaben grundsätzlich einer Baugenehmigung bedürfen m i t Ausnahme besonders aufgezählter Vorhaben, die nur anzeigepflichtig oder sogar auch anzeigefrei sind. Diese allgemeine Regelung w i r d durch präzise Vorschriften zum Baubeginn und auch zur Baueinstellung ergänzt. Es ist ausdrücklich geregelt, daß m i t den Bauarbeiten erst begonnen werden darf, wenn die Baugenehmigung zugestellt ist 2 6 , bei den Bau26 § 95 Abs. 6 L B O Bad.-Württ., A r t . 91 Abs. 9 BayBO, § 88 Abs. 5 BauO Bln., § 88 Abs. 8 BauO NW, § 89 Abs. 1 L B a u O Rh.-Pf., § 96 Abs. 8 L B O Saarl. und § 92 Abs. 7 L B O Schl.-H.

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Ordnungen Rheinland-Pfalz und Saarland mit dem Zusatz, daß es sich u m unanfechtbare Baugenehmigungen handeln müsse 27 . Die Baugesetze enthalten nun — mit Ausnahme der Bauordnung von Nordrhein-Westfalen — sogar jeweils einen Paragraphen, der ermächtigt, die Einstellung von Bauarbeiten anzuordnen und bei Nichtbefolgung die Baustelle zu versiegeln 28 . Voraussetzung hierfür ist, daß die Anlagen i m Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet werden; dies gilt insbesondere, wenn vor der Aushändigung des Bauscheines mit den Bauarbeiten begonnen wird. Nicht erfaßt werden von diesen Vorschriften über die Baueinstellung die Fälle, in denen Baugenehmigungen durch nachbarliche Einwendungen schwebend unwirksam geworden sind. Aus ihrem Fehlen ist der Schluß zu ziehen, daß — jedenfalls i m Baurecht — ein Begünstigter nicht verpflichtet ist, auf Grund von Einwendungen Dritter wegen der nachträglich eingetretenen Unwirksamkeit seiner Genehmigung sofort die Bauarbeiten einzustellen. Dem kann nicht die allgemeine Regelung, daß die Errichtung baulicher Anlagen genehmigungspflichtig sei, entgegengehalten werden. Der Grundsatz der Bestimmtheit 2 9 , der aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung folgt, läßt es nicht zu, aus einer derartigen „vagen Generalklausel" 30 ein generelles Baueinstellungsgebot herauszulesen, wenn die Baueinstellung an anderer Stelle speziell geregelt ist. Die ausdrückliche Regelung von Baubeginn und Baueinstellung verweist somit darauf, daß bei nachträglicher Unwirksamkeit einer Baugenehmigung kein automatisches Bauverbot wirksam wird. Damit geben die Vorschriften der Bauordnung nicht die Rechtsgrundlage für eine Stillegungsanordnung ab. Die Einstellungsmaßnahme kann deshalb nur auf allgemeine polizeirechtliche (ordnungsrechtliche) Vorschriften gestützt werden. Hieraus ergibt sich meine zweite These: 27 Hinsichtlich des Zusatzes darf angenommen werden, daß sich die geforderte Unanfechtbarkeit auf das Verhältnis der Behörde zum Bauherrn und (nur) zu den Nachbarn bezieht, denen die Baugenehmigung zugestellt worden ist, w e i l n u r insoweit nach A b l a u f der Widerspruchsfristen eine Unanfechtbarkeit festzustellen ist. A r t . 91 Abs. 9 BayBO hat erst kürzlich eine Neufassung erhalten, m i t der die Abhängigkeit des Baubeginns von einer Unanfechtbarkeit fortgefallen ist (BayBO i. d. Fassung der Bekanntmachung v. 21. 8.1969, GVB1. 263). 28 § 100 L B O Bad.-Württ., A r t . 99 BayBO, § 96 BauO Bin, § 92 L B a u O Rh.-Pf., § 103 L B O Saarl. und § 99 L B O Schl.-H. 29 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.11.1958, BVerfGE 8, 276 (325) u n d v. 10.10.1961, BVerfGE 13, 153 (160), BVerwG, Urt. v. 20. 5.1955, B V e r w G E 2, 114, jeweils mit. weiteren Nachweisen. 30 BVerfG, Beschl. v. 12.11.1958, a.a.O.

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E i n Bauherr ist, w e n n er die Baugenehmigung erhalten hat, nicht schon deshalb verpflichtet, von Baumaßnahmen abzusehen, w e i l i h m bekannt w i r d , daß der Nachbar Rechtsmittel eingelegt hat u n d damit die Baugenehmigung schwebend u n w i r k s a m geworden ist; hinzu kommen muß eine ausdrückliche, an i h n gerichtete Stillegungsverfügung der Baugenehmigungsbehörde.

b) Die Baujuristen bezeichnen ein Bauvorhaben, dessen Genehmigung schwebend unwirksam geworden ist, als formell illegal. Beim E i n t r i t t dieser formellen Illegalität ist auch die Baubehörde nicht gezwungen, automatisch die Einstellung jeglicher Bauarbeiten anzuordnen; von ihr wird, weil eine Störung der öffentlichen Ordnung gegeben ist, nur verlangt, unverzüglich zu prüfen, ob sofortige Stillegungsmaßnahmen erforderlich sind. Es wäre doch sinnlos, ζ. B. die Ausschachtungsarbeiten für ein genehmigtes siebengeschossiges Wohn- und Geschäftshaus sofort stillzulegen, wenn ein Nachbar seine Einwendungen allein gegen das siebente Geschoß vorgebracht hat und zweifelhaft ist, ob insoweit nachbarliche Einwendungen überhaupt Erfolg haben können 3 1 . Ähnlich ist die Rechtslage, wenn ζ. B. ein Spaziergänger in einem fremden Stadtteil ein i m Aufbau befindliches Bauwerk erblickt, dessen äußere Gestaltung ihm mißfällt. Auch sein Widerspruch hat aufschiebende Wirkung, weil kein Prüfungszeitraum vorher gegeben ist, um vorab festzustellen, ob es sich u m eine zulässige oder unzulässige nachbarliche Einwendung handelt. Oder schließlich der Fall des böswilligen Nachbarn, der durch ständige neue Angriffe gegen die Baugenehmigung, auch wenn sie jeder rechtlichen Grundlage entbehren, den E i n t r i t t oder Wiedereintritt der formellen Legalität des Bauvorhabens für lange Zeit hinauszuschieben vermag. Die Entscheidung über die Stillegung eines Bauvorhabens ist nicht nur i n diesen eindeutigen Fällen der Baugenehmigungsbehörde überlassen. Es handelt sich hier um nichts anderes als das polizeiliche (ordnungsbehördliche) Ermessen beim Einschreiten der Baubehörde, und nur für das Ergebnis dieser Ermessensentscheidung ist es von Bedeutung, ob die nachbarlichen Einwendungen zulässig oder unzulässig, begründet oder unbegründet erscheinen. Die formelle Illegalität des Bauwerks ist lediglich Voraussetzung für die Ermessensentscheidung über ein Eingreifen nach § 14 des Polizeiverwaltungsgesetzes bzw. des Ordnungsbehördengesetzes 32. Sogar bei den sogenannten Schwarzbauten, also bei Bauvorhaben, die ohne jegliche bauaufsichtliche Vorprüfung begonnen worden sind, besteht für die Behörde kein gesetzlicher Zwang zu der Stillegung; i m Gegenteil, auch hier ergeben sich Zweifel, ob eine Stillegungsanordnung frei von Er31 32

Vgl. Sendler in Baurecht 1970, 4 ff.

Vgl. hierzu i m einzelnen Scheerbarth, 2. Aufl. § 156.

Das allgemeine Bauordnungsrecht,

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messensfehlern sein kann, wenn das ungenehmigte Bauwerk erkennbar mit den materiellen Vorschriften des Baurechts in Übereinstimmung steht. Folgerichtig hat das OVG Münster bereits entschieden, daß eine Behörde, wenn das Vorhaben offensichtlich materiell baurechtmäßig ist, nicht befugt sei, Bauarbeiten allein deswegen zu verbieten, weil ein Nachbar Widerspruch eingelegt habe 33 . Die zu prüfende Rechtslage gleicht sich i n vielem den Grundsätzen an, die für die Anordnung des Abbruchs von Bauwerken gelten, und die das Vorliegen sowohl der formellen als auch der materiellen Illegalität voraussetzen. Bei der Stillegungsanordnung läßt es der Charakter einer vorläufigen Maßnahme zu, daß die materielle Illegalität nicht feststehen muß, sondern bereits Bedenken an der Rechtmäßigkeit einer Baugenehmigung genügen, um gegen ein jedenfalls formell illegales Bauvorhaben einzugreifen. Hieraus folgt meine dritte These: Die Baugenehmigungsbehörde ist nicht verpflichtet, auf G r u n d der durch nachbarliche Einwendungen eingetretenen schwebenden U n w i r k s a m k e i t einer Baugenehmigung i n jedem Falle den Bauherrn zur Einstellung der Bauarbeiten anzuhalten; sie hat vielmehr hierüber nach eigenem Ermessen zu entscheiden.

c) Reicht nun für den Nachbarn der gesetzlich geregelte vorläufige Rechtsschutz aus, wenn sich die Behörde auf seine begründeten Einwendungen nicht bereit findet, die Stillegungsverfügung zu erlassen? Hier greift die i m § 123 VwGO geregelte Institution der einstweiligen Anordnung ein, ein außerordentlich praktikables und auch variables Mittel der Verwaltungsgerichtsbarkeit, um gefährdete Rechte vorläufig zu sichern. Als Voraussetzung w i r d lediglich gefordert, daß mit dem Antrag des Nachbarn dessen Rechtsgefährdung glaubhaft gemacht ist. Bestätigt die gerichtliche Prüfung diese Gefährdung, kann das Verwaltungsgericht die Behörde zu Anordnungen an den Bauherrn verpflichten, entweder die Bauarbeiten nicht zu beginnen oder sie wieder einzustellen. I n der einstweiligen Anordnung können auch, und dieses halte ich für außerordentlich wertvoll, die einzelnen Bauteile — nämlich die umstrittenen Bauteile — genau bezeichnet werden, die vorläufig nicht ausgeführt werden dürfen. A u f diese Weise ist der Bauherr nicht gehindert, die Bauarbeiten i m übrigen zu beginnen oder fortzuführen. Diese Möglichkeit war bei den anderen Lösungswegen kaum gegeben, die aus der vorläufigen Unwirksamkeit der Baugenehmigung die Unrechtmäßigkeit des gesamten Bauvorhabens annehmen mußten mit der Folge, daß die Stillegungsmaßnahme auf die Bauarbeiten insgesamt zu beziehen waren. 33

Beschl. v. 4.10.1966, BRS 17 Nr. 129 = N J W 1967, 595.

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Das Gericht braucht bei Anträgen auf Erlaß einer einstweiligen A n ordnung auch nicht zu beachten, ob die Baugenehmigung selbst gültig oder schwebend unwirksam ist; deshalb konnten bei dem Lösungsweg, den die Oberverwaltungsgerichte Berlin, Münster, Rheinland-Pfalz und Saarland und der Hessische Verwaltungsgerichtshof gefunden haben, die Probleme um den Eintritt der aufschiebenden Wirkung i m großen und ganzen dahingestellt bleiben. Eine einstweilige Anordnung kann zudem auch erlassen werden, wenn noch keine Baugenehmigung oder lediglich eine präjudizierende Teilbaugenehmigung erteilt worden ist oder wenn entgegen einer Baugenehmigung gebaut w i r d — alles Fälle, denen bei dem Fehlen eines anzufechtenden Verwaltungsaktes nicht mit dem Mittel einer aufschiebenden Wirkung begegnet werden kann 3 4 . Die Schwierigkeiten, die dem § 123 Abs. 5 VwGO entnommen wurden — der Ausschluß der einstweiligen Anordnung bei der Anfechtung und bei der Beseitigung einer aufschiebenden Wirkung — bestehen nach meiner Ansicht nicht. Denn der Antrag auf einstweilige Anordnung bezieht sich nicht auf die angefochtene oder eine anzufechtende Baugenehmigung, sondern auf eine von der Behörde zu erlassende Stillegungsanordnung. Eine Konkurrenz zwischen den §§ 80 und 123 VwGO gibt es demnach insoweit nicht. Die aufschiebende Wirkung ist, wie ich ausgeführt habe, als Voraussetzung notwendig, um i m Verwaltungswege begründeten nachbarlichen Einwendungen durch zusätzliche Maßnahmen Geltung zu verschaffen. Versagt die Behörde diese, bietet sich die Regelung des § 123 VwGO für den vorläufigen Rechtsschutz an. Damit komme ich zu meiner vierten These: Der vorläufige Rechtsschutz eines Nachbarn ist auf das Verzögern des Baubeginns bzw. das Verhindern der Fortführung der Bauarbeiten gerichtet. Er ist gewährleistet, w e i l die Behörde wegen der aufschiebenden W i r k u n g des Rechtsmittels die notwendigen Maßnahmen 'anordnen kann u n d bei ihrer Untätigkeit der Nachbar befugt ist, v o m Gericht eine einstweilige Anordnung zu begehren, m i t der die Behörde zur Verhinderung von Bauarbeiten verpflichtet w i r d .

3. Nur kurz brauche ich auf den entgegengesetzten Fall einzugehen, wenn ein Nachbar unbegründete Einwendungen geltend gemacht hat. Dann bedarf nicht der Nachbar, sondern der Bauherr primär eines Schutzes, damit seine rechtmäßigen Bauarbeiten nicht gefährdet werden. Dieser ist gegeben, weil eine Behörde i n diesem Falle ihre Ermessensentscheidung zugunsten des Bauherrn treffen und es ablehnen wird, auf die unbegründeten Einwendungen eine an den Bauherrn gerichtete Stilllegungsanordnung folgen zu lassen. Auch dann ist der Nachbar nicht gehindert, den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung zu stellen, der allerdings kaum von Erfolg begleitet sein wird. 84

Vgl. insoweit Verf. i n DÖV 1965, 793.

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4. Schwieriger liegen die Verhältnisse schließlich bei dem letzten A n wendungsfall, wenn zunächst nicht erkennbar ist, ob die nachbarlichen Einwendungen begründet sind. Die Behörde kann, das habe ich ausgeführt, i m Ermessenswege entscheiden, ob sie eine Stillegungsanordnung erlassen w i l l . Wenn sie es ablehnt, steht dem Nachbarn wiederum der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung offen. Allerdings kann er hier nicht unbedingt damit rechnen, daß das Verwaltungsgericht seinem Antrage stattgibt. Denn dem Gericht ist es überlassen, nach eigenem Ermessen über den Antrag zu befinden, auch wenn die Rechtsgefährdung glaubhaft gemacht sein sollte. Doch kann angenommen werden, daß diese Ermessensentscheidung jedenfalls dann zugunsten des Antragstellers ergeht, wenn das Gericht erkennt, daß zwar der Erfolg der Anfechtung der Baugenehmigung offen ist, daß sich jedoch die Rechtssituation des Nachbarn mit dem Fortschreiten der Bauarbeiten zunehmend verschlechtern würde. Und um diesem Rechtsnachteil allein geht es dem Nachbarn, wenn er einen vorläufigen Rechtsschutz gegen Baumaßnahmen begehrt. W i r d dem tatsächlichen Bedürfnis eines Nachbarn entsprechend das Schwergewicht seines vorläufigen Rechtsschutzes gegen beeinträchtigende Bauvorhaben auf die eingreifenden Maßnahmen gelegt, mit denen die Folgen verhindert werden, die einem Nachbarn tatsächlich Sorge bereiten und in manchen Fällen später nicht wieder gutzumachen sind, so meine ich, daß sich die Regelungen des vorläufigen Rechtsschutzes in der Verwaltungsgerichtsordnung bei den Nachbarklagen i m öffentlichen Recht als geglückt erweisen und keiner grundsätzlichen Änderung bedürfen. VI. Die Trennung zwischen dem angefochtenen Verwaltungsakt m i t drittbelastender Doppelwirkung und den Maßnahmen, die zur Sicherung der Rechte vorläufig zu treffen sind, läßt sich nach allem i m Baurecht ohne erkennbare Schwierigkeiten durchführen. Kann diese Lösung i m Baurecht Allgemeingültigkeit für sich i n A n spruch nehmen und auch bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung i n anderen Rechtsgebieten Anwendung finden? Hierzu muß zunächst auch der Sachverhalt gegeben sein, daß ein beeinträchtigter Dritter sofort besonderer Schutzmaßnahmen bedarf. Damit scheiden diejenigen Verwaltungsakte aus, i n denen es nicht allein vom Begünstigten abhängt, den gewährten Vorteil auszunutzen, i n denen insbesondere die gewährende Behörde auch nach Erlaß der begünstigenden Verfügungen selbst zur Vollziehung beitragen muß. Hierunter dürften ζ. B. die Verwaltungsakte i m Subventionenrecht fallen, weil der E i n t r i t t einer aufschiebenden Wirkung jedenfalls die Behörde zunächst hindern dürfte, bewilligte Subventionen auszuzahlen. N i m m t sie die aufschiebende Wirkung nicht zur Kenntnis, erweist sich also der Rechtsschutz über § 80 VwGO als

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nicht ausreichend, ist i n einer einstweiligen Anordnung der vorläufige Rechtsschutz zu finden, der auf ein Handeln, ein Nichtzahlen gerichtet ist. Gibt demgegenüber ein Verwaltungsakt wie eine Baugenehmigung dem Begünstigten sofort die Möglichkeit der Ausnutzung, kommt es jeweils auf die gesetzliche Regelung an, ob der Empfänger bei E i n t r i t t der schwebenden Unwirksamkeit des Verwaltungsaktes automatisch bzw. kraft Gesetzes an der weiteren Ausnutzung ausreichend gehindert ist oder ob der Belastete zu seinem Schutze einer zusätzlichen Maßnahme ähnlich der Stillegungsanordnung bedarf. Ist diese notwendig, dürfte ein Parallelfall zum Baurecht gegeben und damit ein vorläufiger Rechtsschutz über § 123 VwGO zu finden sein. Wenn eine Trennung zwischen einerseits dem angefochtenen Verwaltungsakt und andererseits der Schutzmaßnahme entbehrlich ist, sind auch die Rechte der beeinträchtigten Dritten weniger gefährdet und es können keine kaum wieder reparable Nachteile entstehen. Dann erscheint mir der mit dem Suspensiveffekt gewährte Schutz auszureichen. Hier kommt jedoch das bereits kurz gestreifte Problem des § 80 Abs. 6 Satz 2 VwGO — die Unanfechtbarkeit einer gerichtlichen Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung — wieder auf. Einen solchen Fall außerhalb des Baurechts nahm das Saarländische Oberverwaltungsgericht mit dem bereits erwähnten Vorlagebeschluß vom 8. Oktober 196935 zum Anlaß, eine Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift vom Bundesverfassungsgericht zu begehren. Es handelt sich hier um eine vorläufige Besitzeinweisung nach saarländischem Wasserrecht, deren aufschiebende Wirkung durch einen Beschluß des Verwaltungsgerichts wiederhergestellt wurde; der m i t der Besitzeinweisung Begünstigte kann diesen Beschluß nicht anfechten, weil seiner Beschwerde der Gesetzeswortlaut entgegensteht. Das Saarländische OVG hält den Satz 2 des § 80 Abs. 6 VwGO für verfassungswidrig, weil sowohl die Behörde als auch der Begünstigte unzulässig in ihren Rechtsmitteln beschnitten werden. Ich glaube nicht, daß die Staatsgewalt daran gehindert ist, die Rechtsmittel der vollziehenden Gewalt einzuschränken. Die Behörde erscheint auch durch die Verweigerung eines Rechtsmittels nicht allzu sehr betroffen, weil bei Verwaltungsakten m i t D r i t t w i r k u n g zumeist der Begünstigte ein größeres Interesse an der sofortigen Vollziehung hat als die Behörde. Zudem handelt es sich auch nur um vorläufige Maßnahmen und das Gericht entlastet i n gewissem Umfange die Behörde von der Verantwortung. M i t dem einseitigen Ausschluß der Behörde von einem Rechtsmittel gegen den gerichtlichen Aussetzungsbeschluß hat man sich — soweit ich es zu erken35

s. Anm. Nr. 18.

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nen vermag — i m wesentlichen abgefunden, vielleicht auch deshalb, weil eine Begrenzung der Rechtsmittel auch als positives Ergebnis gewertet wird. Dennoch könnte wohl ohne wesentliche Auswirkung der Behörde das Beschwerderecht gewährt werden. Bei dem begünstigten Adressaten eines Verwaltungsaktes mit D r i t t wirkung w i r d jedoch die Ungleichheit i m Rechtsschutz offenbar, wenn diesem die Möglichkeit fehlt, eine gerichtliche Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung anzufechten. Denn es ist i n keiner Weise sichergestellt, daß er an dem von einem Dritten eingeleiteten Verfahren in jeder Hinsicht und i n gleicher Weise beteiligt wird. Der Grundsatz der Waffengleichheit, der zwar i m Grundgesetz nicht ausdrücklich verankert, jedoch aus dessen Grundgedanken zu entnehmen ist und i m Verhältnis der Bürger untereinander gilt, fordert, daß der Begünstigte ebenso gegen die gerichtliche Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung Beschwerde einzulegen befugt sein muß, wie es dem Antragsteller, dem Dritten, gestattet ist, bei der Ablehnung dieses Wiederherstellungsbeschlusses die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts herbeizuführen. Hier sollte das Bundesverfassungsgericht von der vom Saarländischen OVG begehrten Entscheidung entbunden werden. Wenn erwogen wird, nach 10jähriger Bewährung die Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung den heutigen Erfordernissen anzupassen, so sollte dieser umstrittene Satz entweder insgesamt gestrichen oder jedenfalls einschränkend geändert werden. Meine fünfte These lautet dementsprechend: § 80 Abs. 6 Satz 2 V w G O ist ersatzlos zu streichen oder zumindest einschränkend zu fassen: „Soweit durch sie den Anträgen entsprochen ist, sind sie von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, nicht anfechtbar."

Hiernach erscheint m i r allein eine Abänderung des § 80 Abs. 6 Satz 2 VvGO notwendig, um den vorläufigen Rechtsschutz in der Verwaltungsgerichtsordnung zu verbessern. I m übrigen glaube ich, daß es ein erfreuliches Ergebnis der Untersuchung ist, wenn die vor 10 Jahren gefundene Regelung des vorläufigen Rechtsschutzes auch für die Verwaltungsakte mit drittbelastender Doppelwirkung anwendbar ist, selbst wenn der Gesetzgeber sie bei seinen Erwägungen nicht mit berücksichtigt haben sollte.

Aussprache zu den Referaten von Karl August Bettermann und Konrad Geizer Bericht von Gerhard Reichel

Rechtsanwalt Dr. Hoppe, der die Aussprache zu dem Vortrag von Oberverwaltungsgerichtsrat Geizer eröffnete, meldete gegen die Auffassung des Referenten, daß man auch vom geltenden Recht aus zu befriedigengen Ergebnissen gelangen könne, Bedenken an. Die optimistische Grundhaltung des Referats könne einer kritischen Prüfung nicht standhalten. Das Konstruktionschaos, das sich vor dem Betrachter ausbreite, sei u m so bedauerlicher, als auch die Rechtsprechung den Bereich der zweifelhaften Fälle nicht eingeengt habe. Außerordentlich bedenklich sei es, wenn bei i m wesentlichen gleicher Fallgestaltung, bei vergleichbarer materieller Rechtslage und unter der Geltung derselben Verwaltungsgerichtsordnung die Voraussetzungen für den vorläufigen Rechtsschutz davon abhingen, i n welchem Gerichtsbezirk der Antragsteller seinen Wohnsitz habe. Für die Entscheidung des Gerichts komme es auf die Beantwortung einer Vielzahl von Fragen an, so etwa darauf, ob man die aufschiebende Wirkung als absolut betrachte, weiter, ob man es dann als notwendig ansehe, die sofortige Vollziehung auszusprechen, ferner, ob eine einstweilige Anordnung i n Betracht komme. Auch wenn man schließlich die Zulässigkeit einer einstweiligen Anordnung bejahe, sei noch nach dem Anordnungsanspruch zu differenzieren. Es sei ein Unterschied, ob mit der früheren Rechtsprechung des OVG Münster auf das der Anfechtungsklage zugrunde liegende Aufhebungsbegehren abgestellt werde, ob die einstweilige Anordnung ein Recht auf Eingreifen der Behörde absichern solle oder ob sie der Durchsetzung eines Anspruchs diene, der sich nach Meinung Benders unmittelbar aus § 80 Abs. 1 VwGO ableite. Das seien völlig verschiedene Ansätze, die für die Arbeit des Rechtsanwalts, der i n seinem Sachvortrag von einer bestimmten Auffassung ausgehen müsse, außerordentlich erschwerend wirkten. Die Frage der Haftung für die Schadensfolgen bei Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes werde in der Diskussion kaum beachtet. Allerdings bestehe heute insoweit zwischen einem Beschluß nach § 80 Abs. 5 VwGO und einer einstweiligen Anordnung kein Unterschied, weil das Schadensrisiko durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 945 ZPO einigermaßen abgedeckt sei. Diese Rechtsprechung stoße jedoch

Aussprache zu den Referaten von Κ . A. Bettermann und K . Geizer

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auf K r i t i k beachtlicher Stimmen in der Literatur. Wenn der Rechtsanwalt den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung anrate, so müsse er stets hinzufügen, daß sich der Bundesgerichtshof möglicherweise seinen K r i t i k e r n anschließen werde und der Antragsteller dann das volle Risiko trage. Angesichts dieser Unsicherheiten, so betonte Hoppe abschließend, sei eine Klärung durch den Gesetzgeber dringend erforderlich, zumal die glättende Wirkung einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht zu erwarten sein dürfte. Verwaltungsgerichtsrat Dr. Niehues, Münster, bezweifelte, ob der Ausgangspunkt der Erörterungen, der Verwaltungsakt mit Doppelwirkung, eine wissenschaftliche tragfähige Basis für die nachfolgenden Konstruktionen des Referates darstelle. Der Vortragende habe sich bei der Frage der D r i t t w i r k u n g mit einem Problem befaßt, das den dinglichen Verwaltungsakten eigen sei, nämlich der Außenwirkung gegenüber jedem, den es angeht. Zu denken sei beispielsweise an die Widmung, die Zulassung von Kraftfahrzeugen, die Genehmigung nach § 16 Gewerbeordnung und die Anordnungen durch Verkehrszeichen. Bei der Prüfung, ob bestimmte Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung auf solche Maßnahmen anwendbar sind, dürfe nicht außer acht gelassen werden, daß diese Außenwirkungen nicht das Wesentliche seien, sondern daß die dinglichen Einzelakte i m Kern ihres Regelungsbereiches intransitive Zustandsregelungen i m Sinne konkreter Sachzuordnungen enthielten. Kernbereich der Regelung sei etwa die Feststellung der Bebaubarkeit eines Grundstücks oder der Benutzbarkeit einer Straße. Die Außenwirkungen gegenüber jedem, den es angeht, ergäben sich aus solchen öffentlich-sachenrechtlichen Maßnahmen erst folgeweise, gleichsam in der zweiten Stufe. Man müsse davon ausgehen, daß die Verwaltungsgerichtsordnung derart strukturierte Verwaltungsakte nicht gesehen habe und möglicherweise auch gar nicht kenne, und daß gerade die Regelungen des § 80 VwGO eindeutig auf personale Verwaltungsakte i m Sinne von unmittelbar personalen Verhaltensgeboten zugeschnitten und auf dingliche Verwaltungsakte nicht anwendbar seien. I m Ergebnis werde diese Konsequenz auch i m Referat gezogen, wenn die aufschiebende Wirkung zwar an sich bejaht, auf der anderen Seite jedoch festgestellt werde, daß sich der Bauherr nicht daran zu halten brauche. Dieser Umweg erscheine überflüssig. Die Lösung über die Stillegungsverfügung sei deshalb besonders aufschlußreich, weil der Referent damit gewissermaßen instinktiv den schwer zu bewältigenden Bereich öffentlich-sachenrechtlicher Beziehungen verlasse und wieder i n seichtere Gewässer unmittelbarer personaler Verhaltensgebote gelange. Die Stillegungsverfügung sei nämlich eindeutig kein dinglicher, sondern ein personaler Verwaltungsakt, der i m Unterschied zur Baugenehmigung unmittelbar ein menschliches Verhalten regle. Diese Konstruktion möge

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praktikabel sein. Indes erscheine das Problem der Anwendbarkeit des § 80 VwGO auf intransitive Zustandsregelungen damit nicht gelöst. Vizepräsident Meyer, Lüneburg, sah den Wert des Referats für die Praxis darin, daß es einen Denkansatz gegeben habe, auf dessen Grundlage versucht werden sollte, i n den Jurisdiktionsbezirken der Oberverwaltungsgerichte zu einer größeren Einheitlichkeit zu gelangen. Meyer deutete andererseits Schwierigkeiten an, die dieser Denkansatz auslöse. Dadurch, daß nach dem Vorschlag des Referenten eine Stillegungsanordnung zwischengeschaltet werde, stehe man einem neuen Verwaltungsakt gegenüber, der nun seinerseits wieder dem § 80 VwGO unterliegen könne. Die Baugenehmigung werde von einem neuen belastenden Verwaltungsakt mit Doppelwirkung überlagert. Ferner liege der Erlaß der Stillegungsverfügung i m polizeilichen Ermessen, sei also vom Opportunitätsprinzip beherrscht. Es müsse bezweifelt werden, ob von diesem Blickwinkel aus die Effektivität des vorläufigen Rechtsschutzes sowohl für den Bauherrn wie für den Nachbarn gewährleistet sei. Manchmal, so führte Oberwaltungsgerichtsrat Dr. Geizer in seinem Schlußwort aus, entstehe der Eindruck, daß um Begriffe gestritten und dasselbe gemeint werde. Das schwierigste Problem sei wohl, wie man dem Anspruch auf die Beachtung der aufschiebenden Wirkung Geltung verschaffen könne. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg erreiche dies dadurch, daß i n dem Beschluß auch die Verpflichtung zur Einstellung ausdrücklich ausgesprochen werde. Ob das nun eine einstweilige Anordnung sei oder ob dieser Satz noch zu dem Beschluß über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gehöre, sei wohl gerade der Punkt, an dem sich die Geister scheiden. Die Bedeutung der Frage sei wegen des gleichen Ergebnisses allerdings zweifelhaft. Auch die von Hoppe aufgeworfene Frage der Schadensregulierung sei zur Zeit noch nicht unmittelbar aktuell, weil der Antrag für den Antragsteller m i t verhältnismäßig geringen — zu geringen — Kosten verbunden sei. Wenn das einmal anders werden und der Bundesgerichtshof eine andere Haltung einnehmen sollte, dann käme es tatsächlich darauf an, ob es sich um eine einstweilige Anordnung oder u m einen Zusatz zu dem Beschluß nach § 80 VwGO handle. Die Konstruktion, die Niehues i n Übereinstimmung mit seinen literarischen Arbeiten ausgebreitet habe, sei außerordentlich imposant, führe aber wegen der Notwendigkeit, zwischen dinglichen und persönlichen Verwaltungsakten zu unterscheiden, zu einer weiteren Komplizierung. M i t einer solchen Differenzierung sei man derzeit überfordert. I m übrigen werde es sehr schwierig sein, diese Theorie i n einer neuen Vorschrift in praktikable Worte zu übersetzen. Zum Beitrag von Meyer äußerte Geizer die Meinung, daß der Rechtsschutz für den Begünstigten einerseits und den Dritten andererseits ge-

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währleistet sei, wenn beide die Möglichkeit hätten, ein Gericht anzurufen. Er sei immer noch der Auffassung, die Richter seien die objektive Stelle, die diesen Rechtsschutz gewähren könne. Der Rechtsschutz sei i m Falle der Stillegungsanordnung auf dem Wege der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung möglich. Wenn keine Stillegungsanordnung ergehe, so wirke sich bei Anrufung des Gerichts auch das Opportunitätsprinzip nicht ungünstig aus. Bei der einstweiligen Anordnung überprüfe das Gericht nämlich nicht, ob die Behörde das Ermessen richtig angewandt habe, sondern untersuche nach eigenem Ermessen, ob stillzulegen sei oder nicht. Halte man sich dies vor Augen, so sei der Rechtsschutz ausreichend und vollkommen. Zu dem Vortrag von Professor Dr. Bettermann lagen keine Diskussionsmeldungen vor. Entsprechend dem Satz: „Qui tacet, consentire videtur" entnahm Professor Dr. Ule, Speyer, daraus i n seinem abschließenden Wort allgemeine Zustimmung, was auch für seine eigene Person gelte. Allerdings biete das Referat doch manchen Anlaß zu Erörterungen. Ule hob zwei Probleme hervor, wobei er betonte, daß er m i t dem Vortragenden durchaus übereinstimme. Zum einen wies er darauf hin, daß das Rechtsinstitut der vorbeugengen Feststellungsklage von der Rechtsprechung teilweise überstrapaziert werde; die zurückhaltende Meinung der Referenten decke sich mit seinen eigenen kritischen Bemühungen. Zum anderen lenkte Ule das Augenmerk auf das i m Referat angesprochene Problem der Rechtskraft i m Verhältnis von strafgerichtlichem Urteil und verwaltungsgerichtlicher Entscheidung. Der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts habe hier gelegentlich die Grenzen der Rechtskraft außerordentlich weit ausgedehnt. Zu denken sei insbesondere an den berühmten Fall, i n dem ein Zahnarzt wegen unzüchtiger Handlungen bestraft worden war, dann ein Berufsverbot erhielt und nun die Frage des Verhältnisses der beiden Entscheidungen zur Debatte stand. Hier habe das Bundesverwaltungsgericht seines Erachtens den Begriff der Rechtskraft i n einer Weise ausgedehnt, die mit den herkömmlichen Vorstellungen, die am gleichen Beteiligtenkreis orientiert seien, nicht mehr vereinbart werden könne. Auch hier habe der Referent m i t Recht auf die dogmatischen Vorbehalte, die bei derartigen Ausweitungen anzumelden seien, aufmerksam gemacht.

Die Abgrenzung des Verwaltungsrechtsweges (I) Von Richard Naumann

I n einem Zeitungsausschnitt aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 11. 3.1970 steht: „Gemeinsamer Senat muß entscheiden. Der Gemeinsame Senat der fünf obersten Gerichte muß jetzt darüber befinden, ob Fernsprechgebühren vor der ordentlichen oder vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit einzuklagen sind. Diese Entscheidung legte der Erste Zivilsenat des Bundesgerichtshofes i n Karlsruhe dem an Stelle eines obersten Bundesgerichtes 1968 eingerichteten Gemeinsamen Senat vor. Die Vorlage wurde notwendig, da der Bundesgerichtshof von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts abweichen w i l l . Es ist der erste bekanntgewordene Fall, i n dem der Gemeinsame Senat angerufen wird, u m eine Divergenz i n der Rechtsprechung zu verhüten." Eine andere verhältnismäßig aktuelle Entscheidung ist die des Finanzgerichts Berlin vom 30. 8. 1968 (DVB1 1969, 626). Dort begehrte ein Steuerpflichtiger von dem Finanzamt und einem Regierungsrat, der beim Finanzamt beschäftigt war, den Widerruf von Behauptungen, die i m Zusammenhang mit einem gegen den Steuerpflichtigen anhängigen Steuerstrafverfahren gefallen waren. Das Finanzgericht Berlin verwies den Rechtsstreit an das Finanzgericht i n Neustadt a. d. Weinstraße. Man wundert sich natürlich, wie der Rechtsstreit zum Finanzgericht kommt, denn der Kläger verlangt den Widerruf von Behauptungen, die ein Regierungsrat des Finanzamts i n einem Steuerstrafverfahren gemacht hat. Das Finanzgericht hat den Finanzrechtsweg aus § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO hergeleitet. Dort ist bestimmt, daß der Finanzrechtsweg i n öffentlichrechtlichen Streitigkeiten über Abgabenangelegenheiten gegeben ist. Nach § 33 Abs. 2 FGO sind Abgabenangelegenheiten alle mit der Verwaltung der Abgaben oder sonst m i t der Anwendung der abgabenrechtlichen Vorschriften durch die Finanzbehörden zusammenhängenden A n gelegenheiten. Daraus leitet das Finanzgericht Berlin die Zulässigkeit des Finanzrechtsweges — es sagt auch „Zuständigkeit des Rechtsweges" — her. Nun, meine Damen und Herren, damit w i r uns von vornherein klar sind: M i r ist es völlig gleich, wer über diesen Widerrufsanspruch entscheidet, ob das Zivilgericht oder das allgemeine Verwaltungsgericht oder das Finanzgericht. W i r verwenden oft viel zu viel Mühe auf die

Die Abgrenzung des Verwaltungsrechtsweges (I)

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Lösung der Frage, ob w i r zuständig, ob w i r i m richtigen Rechtsweg sind 1 . Entscheidend ist, daß der Richter entscheidet, ganz gleich, ob er Finanzrichter oder Verwaltungsrichter oder Zivilrichter ist. Die Frage, welches Gericht der Gerichtsbarkeiten zur Entscheidung berufen ist, sollte nicht mehr die Rolle spielen, die sie ursprünglich einmal gehabt hat. Ich wollte diese Beispiele nur bringen, u m zu zeigen, daß w i r es nicht etwa m i t einer Materie zu tun haben, die gewissermaßen von musealem Interesse ist. I m Gegenteil: Die heutige Situation zwingt uns zu radikalen Überlegungen. Ich w i l l dabei, um auch Herrn Dr. Kreft nicht vorzugreifen, über die Einzelheiten der Abgrenzung zwischen Zivilgerichten und Verwaltungsgerichten nicht sprechen, auch nicht zu § 40 Abs. 2 der VwGO und auch nicht zu den verfassungsgesetzlichen Zuweisungen des Art. 14 und des A r t . 34 des Grundgesetzes. Ich w i l l auch nicht davon sprechen, wie schwierig mitunter die Abgrenzungsfrage unter dem Gesichtspunkt des bürgerlichen und des öffentlichen Rechts zu beantworten ist. Daß die Schwierigkeiten dieser Abgrenzungsfragen oft erheblich sind, ist allgemein bekannt. Die bisherigen Überlegungen sind aber oft noch von traditionellen Gesichtspunkten belastet. Man braucht dazu nicht auf alte Bücher zurückzugreifen; man sieht es ζ. B. an dem Lehrbuch des Zivilprozeßrechts von Arthur Nikisch aus dem Jahre 1950, S. 36. Dort steht: „Damit (d. h. mit der Einrichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit i n der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts) war auch für die Gerichtsbarkeit eine Trennung von Justiz und Verwaltung vollzogen und der Grundsatz anerkannt, daß Streitigkeiten über öffentlich-rechtliche Verhältnisse i m Verwaltungswege, privatrechtliche Streitigkeiten aber i m Rechtswege zu entscheiden sind." Das Reichsgericht hat die Auffassung vertreten, i m Fall des Fehlens gesetzlicher Regelungen sei auf die Rechtsnatur des anspruchsbegründenden Tatbestands zurückzugehen und je nachdem, ob er als bürgerlich-rechtlich oder öffentlich-rechtlich zu erkennen sei, sei die Zulässigkeit des Rechtsweges zu bejahen oder zu verneinen. Es soll hier unerörtert bleiben, welche ehemals reichsgesetzlichen Zuweisungen öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten an die Zivilgerichte heute noch gelten und welche Schlüsse aus der Verwendung der Worte „Rechtsweg" oder „ordentlicher Rechtsweg" i n solchen alten Gesetzen zu ziehen sind. Vor einigen Jahren habe ich einmal einen Doktoranden auf die Frage angesetzt, welche alten reichsgesetzlichen Gesetze solche Zuweisungen ausdrücklich aussprechen. I n der Arbeit 2 hat sich ergeben, daß 1

B V e r w G 27, S. 172/173 weist m i t Recht darauf hin, daß sich i n dem entschiedenen F a l l nicht weniger als vier Gerichtsinstanzen i m wesentlichen n u r m i t Rechtswegfragen befaßt haben u n d bei Bestätigung der Entscheidung des V G H erst die siebente Gerichtsentscheidung zur Sache vordringen würde. 2 Hartwich, Die ausdrückliche Zuweisung öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten an die Zivilgerichte auf dem Gebiet des Reichsrechts, Diss. H a m b u r g 1967. 1*

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Richard Naumann

die Zahl der Zuweisungen öffentlich-rechtlicher Streitsachen an die Z i v i l gerichte verhältnismäßig gering ist oder praktisch kaum eine Rolle spielt, wie z. B. die Klage auf Rückzahlung von Kanalgebühren auf dem KaiserWilhelm-Kanal 3 . Zu § 9 des Gesetzes über Fernmeldeanlagen vom 14. 1. 19284 hat bekanntlich das Bundesverwaltungsgericht entschieden 5 , daß die Zuweisung an die ordentlichen Gerichte nur den Sinn gehabt habe, den Rechtsweg überhaupt zu eröffnen, so daß heute der Verwaltungsrechtsweg gegeben sei. Das ist die Angelegenheit, die zur entgegengesetzten Entscheidung des B G H und zu der Vorlegung an den Gemeinsamen Senat geführt hat. Ich möchte m i r auch versagen, über die Abgrenzung zwischen allgemeinen Verwaltungsgerichten und Finanzgerichten und Sozialgerichten zu sprechen, wenn auch über den gesetzlichen Versuch einer Definition des Begriffes Abgabenangelegenheiten einiges zu sagen wäre, jedenfalls soweit dem Gedanken des Zusammenhangs mit der Anwendung abgabenrechtlicher Vorschriften eine entscheidende Bedeutung beigelegt worden ist (§ 33 Abs. 2 FGO). I m einzelnen darf auf die vorzüglichen Ausführungen von Karl-Friedrich Vogel zur Zulässigkeit des Finanzrechtswegs i n Abgrenzung zu den anderen Verwaltungsrechtswegen verwiesen werden 6 . Sie wollen vor allen Dingen festhalten, daß ich ohne jede Empfindlichkeit und, wenn ich so sagen darf, auch ohne jede Bitterkeit alle Zuweisungen und sogar Usurpationen der Zuständigkeit des Gerichtsweges ohne weiteres in Kauf nehme. Wie ich schon vorhin zu dem Urteil des Finanzgerichts Berlin gesagt habe, das an das Finanzgericht i n Rheinland-Pfalz verwiesen hat: Es kommt nicht darauf an, ob der oder jener Richter absolut der richtige Richter ist, sondern es kommt nur darauf an, daß ein Richter entscheidet. Es soll hier nicht über die Fragen der Enteignungsentschädigung und der Aufopferungsentschädigung gesprochen werden. Ich w i l l auch nicht zum Schadensersatzanspruch aus öffentlich-rechtlicher Verwahrung sprechen. Vor beinahe 20 Jahren habe ich auf der Tagung der Oberlandesgerichtspräsidenten i n Baden-Baden die Auffassung vertreten, daß es sich bei der Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Zivilgerichten und Verwaltungsgerichten nicht mehr u m das Problem der Kompetenz, nicht mehr u m das Problem der Zulässigkeit des Rechtswegs, sondern 3 Ges. betr. Gebühren f ü r die Benutzung des Kaiser-Wilhelm-Kanals v. 20. 6. 1899, R G B l S. 315; A r t . I I I des Ges. v. 5.11.1922, R G B l I I S. 783; Fassung der Bekanntmachung v. 14.11.1922, R G B l I I , S. 783. Vgl. B G B l I I I , Nr. 9519. 4 R G B l I, S. 8, gem. Änderungsgesetz v. 3.12.1927, R G B l I S. 331. Vgl. B G B l I I I Nr. 9020—1. 5 B V e r w G 29, S. 133. 8 K . F. Vogel, Z u r Zulässigkeit des Finanzrechtsweges i n Abgrenzung zu den anderen Verwaltungsrechtswegen, Schriften zum Steuerrecht, Bd. 3, 1969.

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nur noch um das Problem der sachlichen Zuständigkeit verschiedener Gerichtszweige innerhalb der richterlichen Gewalt handelt 7 . Schon 1950 habe ich auf dem Juristentag i n Frankfurt 8 eine einfachere Lösung des unseligen Konfliktes der verschiedenen Gerichtswege unter Bezugnahme auf § 276 der Zivilprozeßordnung und auch unter Hinweis auf § 48 des Arbeitsgerichtsgesetzes vorgeschlagen 9 . Bei der Abgrenzung des Verwaltungsrechtsweges geht es nach dem Thema zwar um die Abgrenzung zu anderen „Rechtswegen"; i n Wahrheit geht es aber nur um die Abgrenzung der Zuständigkeit gegenüber den beiden Schwestergerichtsbarkeiten der Verwaltungsgerichtsbarkeit, nämlich der Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit, zum anderen gegenüber der Zivilgerichtsbarkeit. Die Abgrenzung gegenüber der Strafgerichtsbarkeit soll hier außer Betracht bleiben, und auch zur Abgrenzung der Verwaltungsgerichtsbarkeit gegenüber der Verfassungsgerichtsbarkeit werde ich hier nichts weiter ausführen, denn die Verfassungsgerichtsbarkeit steht außerhalb des Rechtsweges. Über die Fragen der Nahtstelle zwischen Normenkontrolle auf Grund des § 47 VwGO und der Verfassungsgerichtsbarkeit haben w i r gestern etwas erfahren. Auch § 50 Abs. 3 VwGO soll hier unerörtert bleiben. Der Grundsatz, den ich vertrete: Es gibt eine Abgrenzung des Verwaltungsrechtsweges von anderen Rechtswegen überhaupt nicht mehr, sondern es gibt nur einen einzigen Rechtsweg, den Weg zum Richter. Das ganze Problem des Rechtsweges ist zu einem Problem der Zuständigkeit der verschiedenen Zweige der Gerichtsbarkeit herabgesunken. Es gibt die Frage der örtlichen, der sachlichen, der funktionellen Zuständigkeit innerhalb der verschiedenen Zweige der Gerichtsbarkeit. Aber seit Art. 19 Abs. 4 GG den Weg zum Richter generell auch i n solchen Fällen eröffnet hat, i n dem die öffentliche Gewalt jemanden i n seinen Rechten verletzt, gibt es jedenfalls i m Grundsatz keine Maßnahme mehr, die nicht von einem Richter nachgeprüft werden könnte. Das Problem der justizfreien Maßnahmen, wie es zuletzt i n der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Gnadenrecht aufgetreten ist 1 0 , soll außer Betracht bleiben. Es geht hier nicht um die Frage der 7 Naumann, Die gesetzliche Abgrenzung der Kompetenz der Z i v i l - und V e r waltungsgerichtsbarkeit, 1953. 8 Naumann, Vortrag d. 38. Dtsch. Juristentages 1950, D 18 ff. 9 RG v. 23. 9.1938 (RGZ 158, S. 193) versteht die Regelung des § 48 A r b G G m i t Recht so, „daß der Gesetzgeber diese Fälle den Regeln unterwerfen wollte, die gelten, wenn dem angerufenen Gericht die sachliche Zuständigkeit fehlt. Dem entspricht die Folgerung, daß i n den höheren Rechtszügen die „Zuständigkeit" des ordentlichen Gerichts gegenüber der des Arbeitsgerichts nur noch unter den Voraussetzungen des § 528 ZPO, der nach § 566 das. auch für die Revisionsinstanz gilt, einer Nachprüfung unterzogen werden kann". 10 B V e r f G 25 S. 352; vgl. Knemeyer, A u f dem Wege zur Justitiabilität von Gnadenakten, DÖV 1970, S. 121 u n d die dort angeführte Literatur.

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Zuständigkeit einer der fünf Zweige der Gerichtsbarkeit, sondern um die Frage der Qualifikation einer Maßnahme eines Hoheitsträgers, um die Frage, ob sie überhaupt zu richterlicher Nachprüfung gelangen kann. Ob es Akte der öffentlichen Gewalt gibt, die als gerichtsfreie Hoheitsakte zu qualifizieren sind, w i l l ich hier nicht näher erörtern. Ich bin allerdings der Auffassung, daß es justizfreie Hoheitsakte gibt. Das w i r d besonders bedeutsam deshalb, weil es an einer Generalklausel für die Verfassungsgerichtsbarkeit fehlt. Ich darf nur kurz auf die Klage hinweisen, die seinerzeit Herr Dehler gegen Herrn Adenauer m i t dem Ziel der Herausgabe des Tonbandes erhoben hatte 1 1 . Der B G H verweist den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Köln, weil er den Rechtsstreit als öffentlich-rechtlich ansieht. Wie soll nun das Verwaltungsgericht K ö l n entscheiden, wenn es davon auszugehen hat, daß der Streit öffentlichrechtlich ist, aber meint, daß er verfassungsrechtlicher A r t ist? Hier gibt es keinen richterlichen Rechtsschutz. Wenn man sich darüber klar ist, daß über der organisatorischen Trennung der verschiedenen Gerichtszweige innerhalb der Rechtsprechung eine innere Gemeinsamkeit besteht, können die Abgrenzungsfragen als erstrangige Probleme nicht mehr angesehen werden. Bei allen Diskussionen darüber, wie das Gesetz die Zuständigkeiten der Gerichtsbarkeiten zweckmäßig sinnvoll abgrenzen sollte, muß bedacht werden, daß es heute nicht mehr darum geht, ob für gewisse Ansprüche der Weg zum unabhängigen Richter überhaupt gegeben ist — von den justizfreien Hoheitsakten einmal abgesehen — oder ob er etwa fehlt. Das alte Kompetenz-Konfliktsproblem zwischen Exekutive und Judikative existiert nicht mehr, seit das Grundgesetz, auch mit A r t . 19 Abs. 4, i n K r a f t ist. Die Exekutive kann heute keinen Kompetenzkonflikt mehr i n dem Sinne erheben, auch nicht vermittels eines Kompetenzkonfliktsgerichtshofes, daß der Weg zum Richter überhaupt verschlossen würde und die Exekutive endgültig entschiede. Ob es zweckmäßig wäre, über die Qualifikationsfrage, ob ein justizfreier Hoheitsakt vorliegt, etwa ein besonderes Gericht entscheiden zu lassen, w i l l ich hier unbeantwortet lassen. Wenn der Weg jedenfalls zum Richter immer offensteht, insbesondere auch für Ansprüche des Staatsbürgers gegenüber der öffentlichen Gewalt, dann kann nur noch fraglich sein, welcher Gerichtszweig zur Entscheidung zuständig sein soll. Man sollte deshalb die Ausdrücke Kompetenz-Kompetenz, Kompetenzabgrenzung, Zivilrechtsweg, Verwaltungsrechtsweg, Finanzrechtsweg, Sozialrechtsweg überhaupt vermeiden, weil der Begriff „Rechtsweg" i n gewisser Weise m i t längst überwundenen Vorstellungen aus der Zeit des Kompetenzkonfliktes zwischen zweiter und dritter Gewalt belastet ist. Man sollte höchstens statt von Rechtsweg von Gerichtsweg sprechen; auch die Zwischenlösung, von Rechtswegzuständigkeit zu 11

B G H Z 29, S. 187.

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sprechen, sollte man möglichst vermeiden, denn es handelt sich i n Wahrheit bei allen Abgrenzungsfragen nur u m Fragen der Zuständigkeitsverteilung für Gerichte, wenn sie auch verschiedenen Gerichtszweigen angehören. Auch der Ausdruck „beschrittener Rechtsweg" sollte heute vermieden werden; er läßt immer noch Raum für die Vorstellung, als handele es sich bei dem Verwaltungsrechtsweg um etwas anderes als um den Weg zu dem zuständigen Verwaltungsgericht. Es t r i f f t nicht mehr die verfassungsrechtliche Lage der dritten Gewalt, wenn man bei den Abgrenzungsfragen heute noch von der Zulässigkeit des Rechtsweges spricht. § 81 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes bestimmte: „Hält ein oberes Bundesgericht i n einem anhängigen Rechtsstreit den beschrittenen Rechtsweg nicht für zulässig, so verweist es die Sache mit bindender W i r kung an das zuständige Gericht des ersten Rechtszuges." Rückschrittlicher hatte § 52 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes folgendes bestimmt: „Hält ein Gericht der Sozialgerichtsbarkeit den zu i h m beschrittenen Rechtsweg nicht für gegeben, so verweist es i n dem Urteil, i n dem es den Rechtsweg für unzulässig erklärt, zugleich auf Antrag des Klägers die Sache an das Gericht des ersten Rechtszuges, zu dem es den Rechtsweg für gegeben hält." Diese Formulierung war aus § 39 Abs. 2 des Regierungsentwurfs der Verwaltungsgerichtsordnung übernommen, und § 36 des Referentenentwurfs zur Finanzgerichtsordnung i. d. F. vom Jahr 1953 Schloß sich dieser Fassung ebenfalls an. Wesentlich fortschrittlicher, wenn auch wesentlich älter, war die Bestimmung des § 48 des Arbeitsgerichtsgesetzes, wonach die Vorschriften des § 11 der Zivilprozeßordnung über die bindende Wirkung der rechtskräftigen Entscheidung, durch die ein Gericht sich für sachlich unzuständig erklärt hat, und des § 276 der Z i v i l prozeßordnung über die Verweisung des Rechtsstreits an das örtlich und sachlich zuständige Gericht auf das Verhältnis der Arbeitsgerichte und der ordentlichen Gerichte zueinander entsprechende Anwendung finden. § 48 a ArbGG, der durch Gesetz von 1955 eingefügt ist, hält für das Verhältnis zwischen Arbeitsgerichten und ordentlichen Gerichten § 48 Abs. 1 ArbGG ausdrücklich aufrecht. Das Grundgesetz hat die Stellung der dritten Gewalt umfassend und neu systematisiert. Die dritte Gewalt ist als eine einheitliche Funktion aufgefaßt und sie untergliedert sich nur i n die verschiedenen Zweige der ordentlichen, Arbeits-, Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit. Das ergibt sich aus Art. 96 und anderen Bestimmungen des Grundgesetzes. Nach der gerichtsverfassungsmäßigen Stellung, nach der persönlichen und sachlichen Unabhängigkeit der Richter und den wesentlichen Verfahrensgrundsätzen sind alle diese Gerichte der fünf Zweige imstande, dem Bürger zu seinem Recht zu verhelfen. Dabei muß man sich über folgendes klar sein: Die drei Zweige der Verwaltungsgerichtsbarkeit sind keine Institution, deren Aufgabe sich

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darin erschöpfte oder deren Aufgabe dadurch gekennzeichnet wäre, daß sie lediglich für objektive Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns zu sorgen hätte. Vielmehr dienen Verwaltungsgerichtsbarkeit, Finanzgerichtsbarkeit und Sozialgerichtsbarkeit nicht allein der Wahrung des objektiven Rechts innerhalb der Verwaltung, sondern sie sind als Rechtsschutzeinrichtung für alle öffentlich-rechtlichen Ansprüche des Staatsbürgers konzipiert. M i t diesem Grundsatz war z.B. die frühere Klagebefugnis des Finanzamtsvorstehers gegen Entscheidungen des Steuerausschusses, die dem Staatsbürger rechtswidrig günstig waren, unvereinbar. Ebenso unvereinbar m i t der Rechtsschutzeinrichtung der Verwaltungsgerichte war auch die früher in der Reichsabgabenordnung vorgesehene reformatio i n peius, die das Finanzgericht gegen den Kläger verhängen konnte. Ebensowenig vereinbar mit dieser Rechtsschutzeinrichtung ist es, wenn heute die Wehrbereichsverwaltung eine die Kriegsdienstverweigerung anerkennende Entscheidung der Prüfungsausschüsse und Prüfungskammern für Kriegsdienstverweigerer vor dem Verwaltungsgericht anfechten kann (§ 35 Abs. 2 Wehrpflichtgesetz). Man mag diese Gestaltung der Verw T altungsgerichtsbarkeit als Rechtsschutzeinrichtung mitunter bedauern, denn es ist ausgeschlossen, daß ausgesprochen rechtswidrige Begünstigungen durch ein Verwaltungsgericht korrigiert werden. Wenn niemand i n seinen Rechten verletzt ist, dann ist kein K l ä ger vorhanden, und die Berufung auf den Gleichheitssatz versagt i n aller Regel, weil bekanntlich der Gleichheitssatz keinen Anspruch darauf gibt, ebenso rechtswidrig behandelt zu werden wie ein anderer Bürger. Die Zulassung des Rechtsweges i m Sinne von A r t . 19 Abs. 4 und 92 GG umfaßt die Gesamtheit der Möglichkeiten, einen unabhängigen Richter anzurufen. Soweit diese Zulässigkeit des Rechtsweges reicht, bewegt man sich i m justizinternen Raum, hat man es innerhalb der Rechtsprechung lediglich m i t dem Verhältnis mehrerer Gerichte zu tun, denen verschiedene sachliche Bereiche übertragen sind. Dieses Verhältnis w i r d herkömmlicherweise als solches der sachlichen Zuständigkeit bezeichnet; man spricht wohl auch i m allgemeinen nicht etwa vom Rechtsweg vor der Kammer für Handelssachen. Bisher ist allerdings der Begriff der sachlichen Zuständigkeit i n dem beschränkten Umfang verstanden worden, daß er innerhalb des früheren Rechtsweges vor den ordentlichen Gerichten die Aufgabenverteilung zwischen den einzelnen ordentlichen Gerichten bezeichnete. Auch die modernen Verwaltungsprozeßgesetze sprechen von sachlicher Zuständigkeit lediglich i m Verhältnis der ihrer Ordnung unterliegenden einzelnen Rechtsprechungsorgane. Das ist aber der Sache nach heute zu eng. Übrigens spricht Art. 19 Abs. 4 Satz 2 GG bemerkenswerterweise selbst schon von Zuständigkeit. Überhaupt hat die ganze Ausdrucksweise heute immer noch i m wesentlichen traditionelle Gründe, aber es geht nicht nur um einen Streit u m Worte. Ich habe schon die

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Frage angeschnitten, ob für ein herkömmliches Kompetenzkonfliktsgerichtsverfahren noch Raum ist. Das einzige Land der Bundesrepublik, i n dem es noch einen Kompetenzkonfliktsgerichtshof gibt, ist der Freistaat Bayern. Bayern hat von der Ermächtigung des § 17 a GVG insofern Gebrauch gemacht, als es den alten Kompetenzkonfliktsgerichtshof beim Obersten Landesgericht i n München bestehen gelassen hat 1 2 . Nach den Auskünften der Justizministerien der übrigen Bundesländer sind die früher fast überall bestehenden Kompetenzkonfliktsgerichte aufgelöst worden. Aber Reste der Auffassung, wonach es sich bei Zweifeln über die Zuständigkeit der Gerichtszweige um ein Rechtswegproblem handele, zeigen sich heute auch noch bei der Frage, inwieweit die Verweisungsentscheidung von einem Gerichtszweig i n den anderen nur eine abdrängende oder aufdrängende Wirkung hat. Jedenfalls sind so grundlegend gewesene Werke, wie das von Stölzel aus dem Jahre 1901 über „Rechtsweg und Kompetenzkonflikt", vollständig durch die Verfassungsentwicklung überholt. Stölzel sagte u. a. (S. 40): „Was nicht vor die ordentlichen Gerichte gehört, kann auch nicht der Geltendmachung i m Rechtsweg unterliegen." Aber auch die neuere Auffassung von Poppitz 13 entspricht nicht mehr der heutigen verfassungsrechtlichen Lage. Poppitz war der Auffassung, jeder Kompetenzkonflikt zwischen Gerichten und Verwaltung sei eine Verfassungsstreitigkeit. Seine Forderung, einen Reichskompetenzkonfliktsgerichtshof einzurichten, was dringend notwendig sei, weil die Reichsverwaltung sich so ausgeweitet hätte, ist ebenso überholt wie seine AuffassLing, daß alle Kompetenzkonfliktsgerichtsfälle eine politische Bedeutung hätten, die darin liege, daß die Ausübung hoheitlicher Tätigkeit von zwei verschiedenen staatlichen Funktionen — Verwaltung und Justiz — beansprucht würde und es bestimmt werden müsse, welche von beiden Gewalten den zugrundeliegenden Fall endgültig und allein zu erledigen habe. Das Gesetz über das Bundesverwaltungsgericht vom 25. 9. 1952 hat seinerzeit erhebliche Verbesserungen i m § 25 und § 81 gebracht, indem es neben der Bindung an positive Rechtswegentscheidungen anderer Gerichtszweige auch die Verweisungsmöglichkeit für die oberen Bundesgerichte schuf. Es spricht aber traditionell noch von Zulässigkeit des Verwaltungsrechtswegs oder jedenfalls vom beschrittenen Rechtsweg. Diese Ausdrucksweise hat sich wohl auch i n allen Kommentaren niedergeschlagen. Die Bestimmungen des § 52 SGG, § 41 VwGO, § 34 FGO, § 48 a 12 Ges. die Entscheidung der Kompetenzkonflikte zwischen den Gerichten und den Verwaltungsbehörden oder dem Verwaltungsgerichtshof betreffend v. 18. 8.1879, GVB1S. 991 i. d. F. des Ges. v. 17.11.1956, GVB1 S. 249. 13 Poppitz, Der Kompetenzkonflikt, Leipziger rechtswissenschaftliche Studien, Heft 125,1941.

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ArbGG und § 17 GVG sprechen ebenfalls von Rechtsweg und beschrittenem Rechtsweg. I m § 17 a GVG haben w i r die Ermächtigung, die Entscheidung von Streitigkeiten zwischen den Gerichten und Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsgerichten über die Zulässigkeit des Rechtswegs besonderen Behörden — Behörden, meine Damen und Herren — zu übertragen. Man sieht, wie weit weg man vom Grundgesetz noch gelebt hat, indem das Gesetz die Ermächtigung gibt, die Entscheidung über die angebliche Kompetenz besonderen Behörden — nicht etwa Gerichten — zu übertragen. Ich glaube auch nicht, daß der bayerische Kompetenzkonfliktsgerichtshof i n Zukunft noch sehr viel Arbeit zu leisten hat, es sind wohl vier oder fünf Entscheidungen i m Laufe der letzten Jahre ergangen. Jedenfalls nimmt die ganze Regelung auf die verfassungsrechtliche Neuordnung der Justizfunktion nicht Bedacht. Auch die Regelung i n Bayern setzt die heute überhaupt nicht mehr berechtigte A n nahme voraus, die zweite Gewalt übe Rechtsprechung aus 14 . Das alles zeigt den Zustand des Überganges, i n dem w i r heute noch stehen. Wie wenig durchforscht die gesetzliche Regelung zu den Abgrenzungsfragen ist, das kann man auch daraus ersehen, daß in der Literatur kaum die Frage erörtert wird, ob die Verweisungsbestimmungen der Prozeßgesetze auch i n solchen Fällen gelten, i n denen es sich nur u m Beschlußverfahren handelt. Die Verweisungsbestimmungen der Prozeßordnungen gehen davon aus, daß es sich um ein Hauptverfahren handelt, das m i t Urteil abgeschlossen wird. Das ganze Problem der Bindung an die verweisende Entscheidung w i r d i n erster Linie m i t unter dem Gesichtspunkt der Rechtskraft des Urteils und seiner Bindungswirkung gesehen. Die Verweisung durch Beschluß ist zwar vorgesehen, aber sie ersetzt nur das verweisende Urteil. Sie setzt einen Rechtsstreit voraus, der durch Urteil abzuschließen wäre, wenn es nicht i m Einverständnis m i t den Parteien zu der Verweisung durch Beschluß kommen würde. Die praktisch bedeutsamsten Verfahren aber sind die summarischen Eilverfahren m i t dem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung, einer einstweiligen Anordnung oder der Aussetzung des sofortigen Vollzuges. Viele Streitigkeiten erledigen sich, wie jeder aus der Praxis weiß, dadurch, wie über diesen Antrag entschieden wird. Über solche Anträge w i r d aber nicht durch Urteil entschieden und Rechtskraftfragen dürften hier keine Rolle spielen. Man kann sich nicht m i t dem Hinweis beruhigen, auf den Widerspruch nach 924 ZPO i n Verb, mit § 936 ZPO werde nach mündlicher Verhandlung durch Urteil entschieden. Man kann sich auch nicht damit begnügen, daß nach § 123 Abs. 4 VwGO oder § 114 Abs. 4 FGO i n Verb, mit § 925 ZPO auf den Antrag auf mündliche Verhandlung durch Urteil entschieden werde, so daß dann eine Verweisung durch Urteil 14

Vgl. zum bayer. Konfliktsgerichtsverfahren B V e r w G 27, S. 170 ff.

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oder an Stelle des Urteils durch Beschluß geschehen könne. I n allen diesen Fällen kommt es vielmehr auf die erste Beschlußentscheidung an. Das kann man vor allem bei der Aussetzung des sofortigen Vollzuges sehen. Das Zuständigkeitsproblem w i r d kritisch, wenn man nicht weiß, ob eine hoheitliche Maßnahme vorliegt, deren Vollzug ausgesetzt werden kann, oder ob eine bürgerlich-rechtliche Willenserklärung vorliegt. Von Müller hat seinerzeit auf der Tagung der Verwaltungsgerichtspräsidenten i n Trier sehr eindrucksvoll das Beispiel mit der Schwimmhalle gebracht 15 . Lassen Sie mich dieses Beispiel etwas ausschmücken: Mehrere Schwimmvereine haben i n einer Stadt Montag, Dienstag, Donnerstag, Freitag abends die Schwimmhalle zur Benutzung gegen eine Miete von 144,— D M i m Jahr erhalten. Der Schwimmverein „Poseidon" hat jeden Donnerstagabend die Schwimmhalle. A m Montag einer Woche bekommt der Vorsitzende dieses Schwimmvereins einen Brief vom Stadtsportamt: „Sehr geehrter Herr Rudolf! Zu unserem Bedauern müssen w i r Ihnen aus Gründen des Personalmangels die Benutzung der Schwimmhalle durch den Schwimmverein Poseidon ab sofort aufkündigen. Hochachtungsvoll." Damit geht Herr Rudolf, der aufgeregt ist, weil am kommenden Donnerstag ein Freundschaftsvergleichswettschwimmen mit Ungarn stattfinden soll, zum A n w a l t und sagt: „Herr Doktor, helfen Sie mir, die Ungarn sind ja schon unterwegs; . . . mit sofortiger Wirkung! Das stimmt nicht m i t dem Personalmangel, denn die anderen Vereine dürfen die Halle doch auch weiterbenutzen; die Stadt w i l l nur nicht, daß w i r den Schwimmvergleichswettkampf m i t den Ungarn durchführen." Der A n w a l t diktiert den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung und geht damit, mit eidesstattlichen Versicherungen versehen, zum Amtsgericht. Dort spricht er wegen der Eilbedürftigkeit der Sache bei dem Amtsrichter vor. Der Amtsrichter sagt: „Herr Kollege, das ist offensichtlich öffentliches Recht, Sie müssen zum Verwaltungsgericht gehen und dort eine einstweilige Regelung beantragen." Nun, nehmen Sie an, meine Damen und Herren, der A n w a l t geht zum Verwaltungsgericht. Dort sagt der Verwaltungsrichter: „Aber Herr Kollege, das sieht man doch aus dem Gebrauch der Worte „Miete" und „aufkündigen", und auch der Brief, den Sie m i r vorlegen — „hochachtungsvoll", ohne Rechtsmittelbelehrung —, das ist doch kein Verwaltungsakt, das ist eine bürgerlich-rechtliche W i l lenserklärung, die Kündigung des Vertrages, den Sie da geschlossen haben, aus wichtigem Grunde, Sie müssen zum Amtsgericht." Nun antwortet der Anwalt: „Wie soll denn das enden, heute ist schon Mittwoch, morgen kommen die Ungarn, ich muß doch sofort gerichtlichen Rechtsschutz haben, ganz gleich bei welchem Gericht." Soll man es darauf ankommen lassen, daß das Gericht jetzt Erwägungen darüber anstellt, ob 15 von Müller, Die Prüfung der Zulässigkeit des Verwaltungsrechtswegs in Aussetzungssachen, Ztschr. f. M i e t - u n d Raumrecht, 1962, S. 193.

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es zuständig ist, ob der Rechtsweg, der zu ihm beschritten ist, der richtige ist? Soll man sich nicht als Richter i n der Sache entscheiden, ganz gleich, wie die Zuständigkeitsfrage oder die Rechtswegfrage aussieht? Man muß i n der Sache entscheiden oder mit absolut bindender Wirkung verweisen. Die Verwaltungsgerichtsordnung, Finanzgerichtsordnung und auch Zivilprozeßordnung bedenken solche Fälle noch nicht, wenn man von § 942 ZPO einmal absieht. Ich bin der Meinung, es kann verwiesen werden, und zwar m i t absolut bindender Wirkung. Ich kann nicht den Staatsbürger von Tür zu Tür der verschiedenen Gerichtszweige schicken und ihn des Rechtschutzes berauben, d. h. ich muß auch i n solchen Beschlußfällen i n Eilverfahren m i t bindender Wirkung verweisen können. Es bleibt dann immer noch die Frage, ob der so entscheidende Richter auch etwa für das kommende Hauptverfahren, das Urteilsverfahren, an seine Zuständigkeitsentscheidung gebunden ist, inwiefern das etwa präjudizielle Bedeutung haben kann. Das Oberverwaltungsgericht für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein i n Lüneburg hat schon i m Jahre 1952, damals noch nach dem Recht der MRVO Nr. 165, in einer Aussetzungssache die verwaltungsgerichtliche Zuständigkeit vor der Aussetzungsentscheidung geprüft 1 6 . Das kann die Aufgabe der Gerichte verfehlen, sofortigen einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren. I n dem Falle war es zwar nicht so. Dort war ein Ministerialbearnter an eine Mittelbehörde unter Verlust der Ministerialzulage ohne rechtliches Gehör abgeordnet worden. I n der Entscheidung heißt es: „Auch die Aussetzung der Vollziehung ist Gewährung verwaltungsgerichtlichen Schutzes, der den Besitz der Gerichtsbarkeit voraussetzt. Das Verwaltungsgericht besitzt die Gerichtsbarkeit nicht, wenn ein anderer Rechtsweg als der Verwaltungsrechtsweg oder überhaupt kein Rechtsweg gegeben ist. Es ist daher vorweg die Zulässigkeit des Verwaltungsrechtsweges zu prüfen. Diese hängt davon ab, ob die angefochtene Maßnahme ein Verwaltungsakt ist." Wenn es hier i n diesem Fall auch letzten Endes um das Problem der Qualifikation der Abordnung als etwa justizfreier Hoheitsakt und nicht um die Abgrenzung verwaltungsgerichtlicher Zuständigkeit gegenüber der Zuständigkeit eines anderen Gerichtszweiges geht, läßt die Entscheidung doch erkennen, daß das Oberverwaltungsgericht die Frage der „Zulässigkeit des Verwaltungsrechtsweges" vorerst in Aussetzungssachen prüfen will. Ich setze mich persönlich nach wie vor dafür ein, das Problem des früheren Rechtsweges gewissermaßen zu entdämonisieren. Die Frage des Rechtsweges, des beschrittenen Rechtsweges, der Kompetenz, der Zuständigkeit schwebt wie ein Dämon über uns Juristen. Die Frage ist in lß

OVGE 6, S. 482.

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Wahrheit längst verblaßt und steht durchaus i m Hintergrund vor den Notwendigkeiten des Rechtsschutzes überhaupt. Ich stehe nicht an, die Frage der Prorogation des Gerichtsweges, die Frage der Prorogation eines Gerichts als zuständigen Gerichts, zu propagieren. Ich halte es für verfehlt, heute noch die Frage des Rechtsweges, die Frage also, welches Gericht zuständig ist, zu einer Frage zu machen, die bis i n die Revisionsinstanz hinein von Amts wegen geprüft werden muß 1 7 . Das sind vergangene Auffassungen; es besteht keinerlei Bedürfnis mehr, diese Frage, nachdem die Parteien sich mit dem Gericht, das sie angerufen haben, einverstanden erklärt haben, nun in Berlin oder in Karlsruhe oder i n Kassel von Amts wegen anders entscheiden zu lassen. Die Frage des „Rechtsweges" ist als Zuständigkeitsfrage nicht mehr unverzichtbar. Der Speyerer Entwurf für ein Verwaltungsgerichtsgesetz 18 entspricht noch nicht der Auffassung, daß es sich bei den sogenannten Rechtswegfragen nur noch um Zuständigkeitsfragen handelt. Der 6. Abschnitt dieses Entwurfs befaßt sich schon nach der Überschrift m i t „Rechtsweg und Zuständigkeit". Der Entwurf verfolgt zwar nicht das Ziel einer durchgreifenden Reform des geltenden Verwaltungsprozeßrechts, wie es nun einmal i n den drei Verwaltungsprozeßgesetzen niedergelegt ist. Nach dem Vorwort von Ule würde eine solche Reform so viele grundsätzliche und schwierige Probleme aufwerfen, daß mit ihrer Verwirklichung i n absehbarer Zeit nicht zu rechnen wäre. Der Entwurf beschränkt sich daher mit Recht darauf, die drei zunächst einmal vorhandenen Gerichtsordnungen zusammenzufassen. Aber der Entwurf betont doch andererseits den Begriff des Rechtsweges besonders, indem er i m Text des Gesetzentwurfs, wie es i n der Begründung heißt, redaktionell das Wort „Gericht" jeweils durch das Wort „Rechtsweg" ersetzt 19 . Wenn man glaubte, die erste Stufe einer einfacheren Lösung erreichen zu können, w i r d sie durch die Formulierungen des Entwurfs wieder verschüttet. Nur i m § 52 des Entwurfs taucht einmal das Wort „Gerichtsbarkeit" auf. Ich bin daher der Meinung, daß der Entwurf die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen hier noch nicht zieht. Wenn man davon auszugehen hat, daß es nur einen Rechtsweg gibt, den Weg zum Richter, dann drängt sich die Frage auf, wie sich die bisherigen Regelungen bewährt haben. Man w i r d dabei auf die Regelungen des § 48 ArbGG und auch auf das gerichtsverfassungsrechtliche Verhältnis der Kammern für Handelssachen zu den Zivilkammern hingewiesen 20 . 17

Vgl. § 565 Abs. 3 Nr. 2, §§ 10,11, 512 a, 525, 549 Abs. 2 ZPO. E n t w u r f eines Verwaltungsgerichtsgesetzes zur Vereinheitlichung der Verwaltungsgerichtsordnung, der Finanzgerichtsordnung u n d des Sozialgerichtsgesetzes, Bd. 40 der Schriftenreihe der Hochschule Speyer, 1969. 19 a.a.O., S. 191. 20 Z u m Arbeitsprozeßrecht vgl. Dersch-Volkmar, Arbeitsgerichtsgesetz, 6. 18

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Wie verhältnismäßig einfach eine Regelung sein kann, zeigt die Bestimmung des § 18 Abs. 3 der Wehrbeschwerdeordnung vom Jahre 195621. Dort heißt es: „Hält das Truppendienstgericht die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts für gegeben, so verweist es die Sache an das zuständige Gericht. Die Entscheidung ist für das Verwaltungsgericht bindend." § 22 Abs. 5 der Wehrbeschwerdeordnung bestimmt für das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht, daß die Bestimmung des § 18 Abs. 3 auch i m Verhältnis Verwaltungsgericht — Truppendienstgericht entsprechend gilt. Auch das Verwaltungsgericht kann daher mit bindender Wirkung an das Truppendienstgericht verweisen. Natürlich verkenne ich nicht, daß der Zusammenhang zwischen Truppendienstgericht und Verwaltungsgericht wesentlich enger ist als ζ. B. der zwischen Gerichten der Zivilgerichtsbarkeit und Finanzgerichtsbarkeit. Aber es handelt sich anderseits bei dieser Verweisung vom Truppendienstgericht an das Verwaltungsgericht nicht etwa nur um die Frage der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit i m bisherigen Sinne, so daß es auf § 276 ZPO hinausliefe. Ob die Bestimmung des § 18 der Wehrbeschwerdeordnung vorbildlich sein kann, ist mir nur deshalb zweifelhaft, weil der Antrag auf Verweisung fehlt, also auch von Amts wegen verwiesen werden kann. Jedenfalls besteht keine Notwendigkeit mehr, die Frage der Zulässigkeit des Rechtswegs als eine Prozeß Voraussetzung anzusehen, die i n jeder Lage des Verfahrens noch i n der Revisionsinstanz von Amts wegen zu beachten und unverzichtbar wäre 2 2 . Man sollte sich nach der Herstellung der Einheit aller Gerichtsbarkeit auch an den Wortlaut des § 13 GVG erinnern, der vom Rechtsweg überhaupt nicht spricht, sondern nur von Zuständigkeit. Es mag trotzdem sein, daß es vor Inkrafttreten des Grundgesetzes falsch war, das Rechtswegproblem i m Anschluß an den Wortlaut des § 13 GVG als Zuständigkeitsproblem bezeichnet zu haben 23 . Aber es stimmt doch nachdenklich, wenn i n der 30. Auflage von Baumbach - Lauterbach ZPO formuliert w i r d : „Unzutreffend ist es, wenn das ältere Schrifttum und diese Rechtsprechung i m Anschluß an den Wortlaut von § 13 von „Zuständigkeit" spricht" 2 4 . Heute ist es nicht mehr unzutreffend, sondern es entspricht der Verfassungsordnung. Ich darf meine Anregungen von früher wiederholen, ein Dach-GVG für alle Gerichtsbarkeiten zu schaffen und dort i m Anschluß an § 13 GVG die Abgrenzung der sachlichen Zuständigkeit für die Gerichte der verAufl. 1955, S. 623 ff.; Auffahrt-Schönherr, Arbeitsgerichtsgesetz, 1965, S. 321, 2. Aufl. 1968, Bern, zu § 48; Dietz-Nikisch, Arbeitsgerichtsgesetz, 1954, S. 320 ff. ; Clemens, Wesen u n d Abgrenzung der Arbeitsgerichtsbarkeit, Diss. Göttingen 1928. 21 Wehrbeschwerdeordnung (WBO) v. 23.12.1956, B G B l I S . 1066. 22 Vgl. RGZ 122, S. 101. 23 Vgl. R G G r Z 156, S. 279. 24 Baumbach-Lauterbach, ZPO, 30. A u f l . 1970, S. 1820.

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schiedenen Zweige von Gerichtsbarkeit zu regeln. I n die Prozeßordnungen sollte die Möglichkeit eingearbeitet werden, i n allen Fällen, auch bei Beschlußverfahren, auf Antrag mit bindender Wirkung durch unanfechtbaren Beschluß i n Anlehnung an das Vorbild von § 276 ZPO und § 48 ArbGG zu verweisen. Nur noch kurz soll die Frage des gesetzlichen Richters erörtert werden. Bettermann hat i n dem Handbuch der Grundrechte ausgeführt 25 , daß auch i m Verhältnis der Gerichte verschiedener Gerichtszweige das Problem des gesetzlichen Richters eine entscheidende Rolle spiele. Ich stehe nicht an, radikal zu sagen: Laßt doch die Parteien das Gericht prorogieren; wenn sie einen Widerrufsanspruch beim Finanzgericht verfolgen, und beide darüber einig sind, warum nicht? Warum streitet man von Amts wegen darüber, ob das allgemeine Verwaltungsgericht oder das Finanzgericht oder das Zivilgericht entscheiden sollte? Der Anspruch auf den gesetzlichen Richter nach A r t . 101 GG, der durch die Verfassungsbeschwerde gesichert ist, w i r d i n Fällen fehlerhafter Zuständigkeitsentscheidung und i n den Fällen einer Prorogation nicht verletzt. Eine willkürliche Entscheidung, also sagen w i r etwa Verweisung eines Ehescheidungsprozesses, den ein Finanzbeamter angestrengt hat, vom Z i v i l gericht an das Finanzgericht, kommt praktisch nicht vor. Zweitens aber w i r d man W i l l k ü r von Irrtum, error i n procedendo, nur selten unterscheiden können. Wenn aber ein I r r t u m i n der Zuständigkeitsentscheidung vorliegt, zu meinen, der Rechtsuchende sei dem gesetzlichen Richter entzogen worden, das ist nicht mehr gerechtfertigt. Wenn man zu erkennen hat, daß die Norm des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG eine Konkretisierung des Gleichheitssatzes ist, verstößt nicht jede objektiv unrichtige Zuständigkeitsentscheidung gegen A r t . 101 Abs. 1 Satz 2 GG, sondern nur eine ausgesprochen willkürliche. Die Folge einer solchen fehlsamen Entscheidung wäre aber auch nicht etwa Nichtigkeit, sondern Vernichtbarkeit auf Verfassungsbeschwerde nach § 90 BVerfGG. Es bleibt die gewiß revolutionäre Anregung, die Wahl des Gerichtszweiges dem Willen der Parteien zu überlassen. Die Hansestadt Lübeck hatte i m Jahre 1916 mit der Errichtung einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit eine Wahlmöglichkeit folgendermaßen eröffnet: „Dagegen ist neben der Klage vor dem Verwaltungsgericht die Anrufung der ordentlichen Gerichte i n dem bisherigen Umfang mit der Maßgabe gestattet, daß durch das Betreten des einen Weges der andere ausgeschlossen w i r d " 2 6 . Man überließ es durchaus den Parteien, ob sie bei dem ordentlichen Gericht oder beim Verwaltungsgericht klagen wollten. 25 28

Bettermann, Die Grundrechte I I I 2, S. 562.

Ges. v. 6.12.1916, Lübecker GuVO 1916, S. 137 ff.; vgl. dazu Hofacker, AcP 118, S. 303.

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Ich darf mit einem Wort von Fritz Werner schließen. Er hat schon i m Jahre 1938, als er noch i n Kassel war, folgendes geschrieben: „Den Parteien, die die Sache und nicht die Kategorien wollen, w i r d dieses Verfahren (über die Zulässigkeit des Rechtsweges) stets lebensfremd erscheinen, und Prozesse, die die Rechtswegfrage in den Mittelpunkt stellen müssen, werden in der Regel trotz ihrer hohen Bedeutung für die Beteiligten eine Angelegenheit der Juristen unter sich bilden 2 7 ." Gerade i m Hinblick auf die damaligen Rechtswegentscheidungen zur Abgrenzung der bürgerlich-rechtlichen von den öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten hat Werner auch geschrieben 28 , es widerspreche unserer Auffassung vom Verhältnis des Richters zum Rechtsuchenden, den letzteren als völligen Rechtslaien zu behandeln. Ich stelle die Frage: Sollte man nicht heute den Willen der Parteien auch bei der Wahl des zuständigen Gerichtszweiges stärker ausschlaggebend sein lassen, als das bisher der Fall war?

27 Fritz Werner, Die jüngere Rechtsprechung des Reichsgerichts zur Zulässigkeit des Rechtswegs, VerwArch. 43 (1938), S. 52. 28 a.a.O., S. 53.

Die Abgrenzung des Verwaltungsrechtsweges ( I I ) Von Friedrich Kreft Wenn ich zu Ihnen über die Abgrenzung des Verwaltungsrechtsweges sprechen soll, dann muß ich damit beginnen zu sagen: Es erscheint m i r außerordentlich bedauerlich, daß ein Referat m i t diesem Thema überhaupt i n das Programm einer Tagung, wie w i r sie mit diesem Referat beenden, aufgenommen werden konnte. Dieser Satz klingt gewiß provozierend, soll es auch, und ich muß deshalb versuchen, diese provozierende Bemerkung zu rechtfertigen. W i r haben heute — das dürfen w i r mit besonderer Genugtuung sagen — einen umfassenden Rechtsschutz, und dem Bürger, der sich i n seinen Rechten verletzt meint, steht der Weg zum Richter praktisch in allen Fällen offen. Die Frage des Rechtsweges ist darum heute zumindest i n aller Regel nicht mehr die Frage, ob für den Rechtsuchenden überhaupt die Möglichkeit besteht, mit seinem Anliegen das Gericht anzugehen. Die Zeit ist zum Glück vorbei, i n der angesichts des nach dem Enumerationsprinzip nur beschränkt eröffneten Verwaltungsrechtsweges die Frage der Zulässigkeit des Rechtsweges zu den Zivilgerichten weithin zusammenfiel mit der Frage, ob überhaupt Rechtsschutz durch ein Gericht gewährt werde. Vor die Alternative: Rechtsweg zu einem bestimmten Gericht oder überhaupt kein Rechtsweg sind w i r heute nicht mehr gestellt. Vorbei sind zum Glück auch die Zeiten, i n denen man zweifeln konnte, ob die — allgemeine und besondere — Verwaltungsgerichtsbarkeit überhaupt der dritten Gewalt, der Rechtsprechung, zugeordnet werden könne, ob sie nicht vielmehr — allein oder zumindest überwiegend — der Exekutive zuzurechnen sei 1 . Die allgemeinen und die besonderen Verwaltungsgerichte unterscheiden sich heute qualitativ i n nichts mehr von den Zivilgerichten; das kann von niemandem mehr i n Zweifel gezogen werden. Alle fünf Gerichtszweige, die i n A r t . 96 Abs. 1 GG genannt werden, sind gleichwertig, gleichrangig und gleichbedeutsam 2 ; der Rechtsschutz des Rechtsuchenden ist bei dem einen wie bei dem anderen Gericht i n gleicher Weise gewährleistet. Der Tatsache, daß dabei i n der Einzelausgestaltung des Rechtsschutzes angesichts der verschiedenen Ver1 Peters, Lehrbuch der Verwaltung, 1949, S. 194; Lerche, Ordentlicher Rechtsweg u n d Verwaltungsrechtsweg, 1953, S. 23 m i t weiteren Nachweisen. 2 BVerfGE 12, 326, 333.

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fahrensordnungen gewisse Unterschiede bestehen, kommt dabei i n diesem Zusammenhang ein entscheidendes Gewicht nicht zu. Bei dieser Situation der Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit aller Gerichtszweige und des praktisch lückenlos gewährleisteten gerichtlichen Rechtsschutzes sinkt die Frage des Rechtsweges herab zu der Frage des Gerichtsweges, schrumpft die bedeutungsvolle Frage, ob überhaupt der Weg zu einem Gericht offensteht, zu der Frage zusammen, bei welchem Gericht der Rechtsschutz gesucht werden muß. Man kann es auch — m i t Forsthoff 3 — so sagen, daß der Streit u m den Rechtsweg zu einem Hausstreit innerhalb der Justiz geworden ist. Ist es aber so, daß die früher für den Rechtsuchenden so höchst bedeutsame Frage der Zulässigkeit des Rechtsweges zu einer Frage des i m Einzelfall gegebenen Gerichtsweges abgesunken ist und ist es ferner so, daß tatsächlich für den einzelnen Rechtsuchenden der gerichtliche Rechtsschutz i n allen Zweigen der Gerichtsbarkeit i n qualitativ gleicher Weise gewährleistet wird, dann ist die Rechtswegfrage für den Rechtsuchenden zu einer gänzlich untergeordneten geworden. Dieser heute — w i r dürfen sagen glücklicherweise — so gering gewordenen Bedeutung der Rechtswegfrage kann nur eine solche Regelung der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen den einzelnen Gerichtszweigen gemäß sein, die einfach und praktikabel ist und nicht i n sich selbst eine Problematik von besonderem Gewicht enthält. So gesehen meine ich, daß die Abgrenzung der einzelnen Gerichtszweige, wenn sie ihrer Bedeutung für die Rechtsverwirklichung entsprechend ideal geregelt wäre, eine Frage sein sollte, deren Beantwortung einen besonderen geistigen A u f wand nicht erfordert und die auch kein lohnendes Thema für ein Referat auf einer Tagung abgibt, wie w i r sie hier durchführen. Aber wie sieht die Wirklichkeit aus? Tatsache ist, daß viel geistiger Schweiß vergossen w i r d über der Prüfung der Rechtswegfrage. Bezeichnend ist folgendes: Bei den Vorarbeiten zu dem Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes4 hat man die Divergenzen i n der Rechtsprechung der oberen Bundesgerichte zusammengestellt 5 . Dabei hat sich ergeben, daß diese Divergenzen insgesamt nach ihrer Zahl verhältnismäßig gering, daß unter ihnen aber die Divergenzen i n der Rechtswegfrage unverhältnismäßig groß waren [29:6]. Bezeichnend ist auch, daß bereits die erste (oder ist es die zweite?) Anrufung des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe durch den Bundesgerichtshof eine Rechtswegfrage betrifft 6 . Ich 3 4 5 6

Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts I, 7. Aufl., S. 110. V o m 19. J u n i 1968 B G B l I S. 661. Bundestagsdrucksache V/1450 Anhang. Beschluß v o m 23. Januar 1970 — I ZR 54/69 —.

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komme darauf noch i n anderem Zusammenhang zurück. Hier kommt es zunächst darauf an herauszustellen, daß die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen den einzelnen Gerichtswegen den Gerichten ungemeine Mühe macht, die besser auf für das Rechtsleben wichtigere Fragen zu verwenden wäre. Worin liegt dieser unbefriedigende Zustand begründet und kann i h m i n befriedigender Weise abgeholfen werden? Die grundsätzlichen Schwierigkeiten bietet die Abgrenzung zwischen den allgemeinen Verwaltungs- und den Zivilgerichten, denen gegenüber die Abgrenzung zu den anderen Gerichtswegen unverhältnismäßig einfacher ist. Diese Abgrenzung zwischen Z i v i l - und Verwaltungsgerichten w i r d heute dadurch gekennzeichnet, daß sie durch zwei Zuweisungsarten erfolgt: Eine generelle Zuweisung auf Grund von Generalklauseln und eine spezielle Zuweisung auf Grund von besonderen Zuweisungsnormen, durch die bestimmte Rechtsmaterien i n den einen oder anderen Gerichtsweg verwiesen werden. Die besonderen Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben sich dabei viel weniger aus den Sonderzuweisungsbestimmungen, als bei der Handhabung der Generalklauseln, nach denen die Zivilgerichte grundsätzlich für alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten (§ 13 GVG), die allgemeinen Verwaltungsgerichte hingegen grundsätzlich für alle „öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher A r t " zuständig sind (§ 40 VwGO). Daß die so formulierten Generalklauseln i n ihrer Handhabung Schwierigkeiten bieten, liegt auf der Hand. Denn durch sie w i r d die so ungemein schwierige und umstrittene Frage der Abgrenzung zwischen öffentlichem und privatem Recht verlagert auf die Rechtsweg-, die Gerichtswegfrage. Das wäre wenig bedauerlich, wenn m i t der nunmehr bereits i m Rahmen der Prozeßvoraussetzungen bei der Zulässigkeit des Rechtswegs zu prüfenden Frage: öffentliches oder privates Recht? jeweils etwas Entscheidendes auch für die sachliche Entscheidung des Rechtsstreits gewonnen wäre und diese Frage lediglich von der Prüfung i m Rahmen der Sachentscheidung vorverlegt wäre i n die Prüfung der Prozeßvoraussetzungen. So liegen die Dinge aber nicht. Denn i n vielen Fällen ist es für die sachliche Entscheidung unerheblich, ob das streitige Rechtsverhältnis dem öffentlichen oder dem privaten Recht zuzurechnen ist, wenn etwa Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag, aus Bereicherung, aus der Benutzung von öffentlichen Einrichtungen, Ansprüche auf Vertragserfüllung und dergleichen geltend gemacht werden. Hier muß weithin die schwierige Frage: öffentlich-rechtlich — privatrechtlich? allein i m Rahmen der Rechtswegprüfung beantwortet werden, während diese Frage für die Entscheidung der Sache selbst offenbleiben könnte. Das ist gewiß kein erfreulicher Zustand. Dazu, ob und i n welcher Weise Abhilfe geschaffen werden kann oder doch wenigstens die heute bestehenden Schwierigkeiten herabgemildert 1*

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werden können, werde ich später noch etwas sagen müssen. Lassen Sie mich zuvor auf Abgrenzungsfragen und -probleme eingehen, wie sie sich bei der Regelung de lege lata ergeben. Daß ich dabei i m Rahmen dieses Referats auch nicht einigermaßen vollständig die sich aus der bisherigen Erfahrung ergebende Problematik aufzeigen kann, dürfte selbstverständlich sein. Ich kann nur einzelne Punkte herausgreifen, die jedoch mehr oder weniger symptomatisch sein könnten. Lassen Sie mich mit den Sonderzuweisungsnormen beginnen. Dabei darf ich vorweg bemerken: Es ist die Meinung geäußert worden, daß die Zuweisung öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher A r t an die Zivilgerichte (und umgekehrt) mit dem in Art. 95 Abs. 1 GG verankerten Prinzip der Gerichtswegteilung nicht vereinbar sei 7 Ich bin der Auffassung, daß das nicht der Fall ist 8 und daß das Grundgesetz kein Entscheidungsmonopol etwa der Verwaltungsgerichte für alle öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten und der Zivilgerichte für alle bürgerlichrechtlichen Streitigkeiten begründet. Andernfalls würde sich das Grundgesetz selbst mit diesem Prinzip i n Widerspruch setzen, hat es doch die gewiß öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten über Amtshaftungsansprüche und über die Enteignungsentschädigung ausdrücklich den Z i v i l gerichten zugewiesen. Das Bundesverfassungsgericht 9 hält jedenfalls auch den einfachen Gesetzgeber für befugt, anderweitige Zuweisungen vorzunehmen. Diese Bestimmungen, die bestimmte Rechtsmaterien teilweise ausdrücklich i n den Verwaltungsrechtsweg, teilweise in den Zivilrechtsweg verweisen, finden sich einmal i n der grundlegenden Bestimmung des § 40 VwGO selbst, teils i m Grundgesetz und teils i n Sondergesetzen. M i t diesen Sonderzuweisungen ist der Grundsatz der Systemreinheit — bei den Verwaltungsgerichten ausschließlich öffentlich-rechtliche Streitigkeiten, bei den Zivilgerichten ausschließlich bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten — durchbrochen, und zwar m. E. mit gutem Grund. Es kommt für die Gerichtswegfrage nicht auf Systemreinheit, sondern auf Zweckmäßigkeit an. Es erscheint mir deshalb auch nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu geboten, den Grundsatz der Systemreinheit überall da zu durchbrechen, wo dies aus irgendwelchen Gründen zweckmäßig und sachgerecht erscheint. Diese Gründe können liegen i n dem engen sachlichen Zusammenhang, i n dem eine bestimmte Rechtsmaterie zu einem anderen — jedoch einem anderen Gerichtsweg bereits unterfallenden — recht7 Zweigert, DVB1 1960, 226; Ule, Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2. A u f l . A n m . I I I 1 zu § 2 und DVB1 1959, 537, 540; zweifelnd RedekerJv. Oertzen, V e r w a l tungsgerichtsordnung, 3. A u f l . A n m . 21 zu § 40. 8 So Eyermann!Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 4. Aufl. A n m . 93 zu § 40; Wild, Die Angleichung der deutschen Verfahrensgesetze, Diss. 1961, S. 50/51 m i t Nachweisen. 9 BVerfGE 4, 387, 398 ff.

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liehen Komplex steht und der es angezeigt erscheinen läßt, diese Materien für die gerichtliche Behandlung nicht auseinanderzureißen. Auch mag die Verschiedenheit der Verfahren — hier Beibringungsgrundsatz, hier Amtsermittlung u. a. — es angebracht erscheinen lassen, eine bestimmte Materie dem einen oder anderen Gerichtsweg zuzuweisen. I n den ersten Entwürfen für eine Verwaltungsgerichtsordnung war eine dem jetzigen Absatz 2 des § 40 VwGO entsprechende Bestimmung noch nicht vorgesehen, und zwar weder in dem von den Präsidenten der Verwaltungsgerichte vorgelegten E n t w u r f 1 0 noch i m Regierungsentw u r f 1 1 . Erst der Bundesrat 1 2 hat die Einfügung dieser Bestimmung vorgeschlagen und der Rechtsausschuß des Bundestages hat diesen Vorschlag aufgenommen 13 . Zur Begründung w i r d gesagt, daß man eine Vorschrift für erforderlich halte, nach der für solche öffentlich-rechtliche Streitigkeiten der ordentliche Rechtsweg erhalten bleibe, i n denen ein enger Sachzusammenhang mit der Enteignung und der Amtshaftung gegeben sei. Die i n § 40 Abs. 2 Satz 1 VwGO erfolgten Zuweisungen i n den Zivilrechtsweg hat man also für angebracht gehalten wegen der Sachnähe der dort zugewiesenen Streitigkeiten zu den bereits kraft Verfassungsrechts i n der Zuständigkeit der Zivilgerichte verbliebenen A n sprüche aus Amtshaftung und wegen Enteignungsentschädigung. Die Zuweisung der Ansprüche aus Aufopferung zu den Zivilgerichten halte ich dabei für besonders angebracht. Mißverstehen Sie mich dabei aber nicht: Es geht mir keineswegs, das darf ich mit großem Nachdruck betonen, u m eine Zuständigkeitserweiterung — böse Zungen könnten Machterweiterung sagen — der Zivilgerichte oder auch nur u m eine Besitzstandswahrung. Es kann uns allen i n der Sache selbst nur darum gehen, daß die Gerichtswegabgrenzung den einzelnen Materien entsprechend sachgerecht und zweckmäßig vorgenommen wird. Das muß der allein entscheidende Gesichtspunkt bleiben. So gesehen begrüße ich die Zuweisung der A n sprüche aus Aufopferung zu den Zivilgerichten nicht deshalb, weil sie gerade den Zivilgerichten zugewiesen sind, sondern weil sie i n den Gerichtsweg gebracht sind, i n dem über die Ansprüche auf Enteignungsentschädigung zu befinden ist, und das ist eben nach Art. 14 GG die Z i v i l gerichtsbarkeit. Würde die Zuständigkeit für die Entschädigungsansprüche aus Enteignung und aus Aufopferung auseinanderfallen, dann würde die heikle Frage der Abgrenzung von Aufopferung und Enteignung i n die Rechtswegfrage m i t hineingenommen. Angesichts der U m strittenheit dieser Grenzziehung zwischen Aufopferung und Enteignung 10

DVB1.1951 hinter S. 568. Bundestagsdrucksache Nr. 4278 der 1. Wahlperiode, Nr. 55 der 3. W a h l periode. 12 Sitzung v o m 29. November 1957 (Sitzungsbericht Nr. 185). 13 56. Sitzung v o m 4. März 1959 u n d 64. Sitzung v o m 23. A p r i l 1959. 11

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würden sich Schwierigkeiten und Divergenzen i n der Rechtswegfrage gewiß nicht vermeiden lassen. Der Streit um die Grenzziehung zwischen Aufopferung und Enteignung sollte aber nicht i m Rahmen der Rechtswegprüfung ausgetragen werden; dort gehört er nicht hin, und deshalb ist es begrüßenswert, daß für Aufopferungs- und Enteignungsansprüche derselbe Gerichtsweg vorgesehen ist. Die jetzige Regelung bedeutet zwar immer noch eine gewisse Zweigleisigkeit des Rechtsweges: Der Streit u m die Beseitigung des hoheitlichen Eingriffs selbst muß — außer i m Rahmen des Bundesbaugesetzes — vor den Verwaltungsgerichten ausgefochten werden, der Streit u m die Entschädigung vor den Zivilgerichten. Jedoch haben sich — und das ist i n unserem Zusammenhang das Wesentliche — Abgrenzungsschwierigkeiten durchweg nicht ergeben, zumal Einigkeit darüber besteht, daß i n dem Rechtsstreit über die Enteignungsentschädigung von den Zivilgerichten auch die Vorfrage zu entscheiden ist, ob überhaupt ein Enteignungstatbestand vorliegt. Für begrüßenswert halte ich auch die i n § 40 Abs. 2 Satz 2 VwGO i n Verbindung m i t den einschlägigen Bestimmungen der Beamtengesetze vorgesehene Zuweisung aller beamtenrechtlichen Streitigkeiten an die Verwaltungsgerichte, so daß nunmehr für die vermögensrechtlichen und die sonstigen Streitigkeiten i m Rahmen des Beamtenrechts keine verschiedenen Gerichtswege mehr vorgesehen sind, sondern sämtliche beamtenrechtlichen Streitigkeiten der Zuständigkeit eines einzigen Gerichtsweges, und zwar sicher richtigerweise des Verwaltungsgerichtsweges, unterfallen. Hier hat es einige Schwierigkeiten i n der Abgrenzung gegenüber den Ansprüchen aus Amtshaftung gegeben, und die gibt es wohl auch noch. Aber ihnen kommt m. E. keine besondere Bedeutung zu: Die Frage, ob bei Verletzung der beamtenrechtlichen Fürsorgepflicht nur ein vor den Zivilgerichten geltend zu machender Amtshaftungsanspruch gegeben ist (so früher der BGH 1 4 ), ober ob — daneben — auch unmittelbar aus dem Beamtenverhältnis ein Schadensersatzanspruch gegen den Dienstherrn hergeleitet werden kann (so das Bundesverwaltungsgericht 15 ), hat sich dadurch erledigt, daß der BGH, dessen Ziel ganz offensichtlich die Vermeidung der Zweigleisigkeit des Rechtsweges für derartige Ansprüche war, seine Rechtsprechung aufgegeben hat 1 6 , nachdem das Bundesverwaltungsgericht auf sie nicht eingeschwenkt war. Zu den Amtshaftungsansprüchen lassen Sie mich i n diesem Zusammenhang abschließend noch folgendes sagen: I m Amtshaftungsprozeß kann der Zivilrichter de lege lata nur zur Leistung von Geld oder anderen vertretbaren Sachen verurteilen, und er kann i m Rahmen eines solchen Rechtsstreits nicht die rechtswidrigen Folgen eines Hoheitsaktes selbst 14 15 16

Β G H Z 29, 310. B V e r w G E 13,17. Β GHZ 43,178 = DVB11965, 441.

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beseitigen. Zur Begründung dafür w i r d vielfach gesagt, dem Zivilrichter sei es überhaupt verwehrt, hoheitliche A k t e der Verwaltung aufzuheben, da er damit unzulässigerweise i n den Zuständigkeitsbereich der Verwaltungsgerichte übergreife 17 . M i r erscheint diese Begründung nicht richtig. Zwar t r i f f t es zu, daß i m Amtshaftungsprozeß nur zur Leistung von Geld oder von sonstigen vertretbaren Sachen verurteilt werden kann. Das aber hat seinen Grund darin, daß § 839 BGB von der Eigenhaftung des Beamten ausgeht und daß deshalb die Haftung nur auf das gehen kann, was der Beamte selbst zu leisten vermag 1 8 . Sobald aber § 839 BGB, wie es i n einem seit langem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung und Ergänzung schadensersatzrechtlicher Vorschriften vorgesehen ist, dahin geändert wird, daß die Ersatzpflicht des Staates nicht mehr lediglich an die Stelle der Eigenhaftung des Beamten tritt, vielmehr eine Amtspflichtverletzung unmittelbar die Staatshaftung auslöst, fällt die sich aus der Eigenhaftung des Beamten ergebende Beschränkung der möglichen Ersatzleistungen weg. Dann w i r d es m. E. allein darauf ankommen, was der aus der Neufassung des § 839 BGB sich ergebende Schadensersatzanspruch materiell-rechtlich hergibt. Wenn der Schadensersatzanspruch dann materiell etwa unter dem Gesichtspunkt der Naturalrestitution auch auf die Beseitigung eines beeinträchtigenden Hoheitsaktes oder auf die Vornahme von Amtshandlungen geht, dann werden m. E. die Zivilgerichte, die ja ausschließlich zur Entscheidung über Schadensersatzansprüche aus Amtspflichtverletzung berufen sind, auch eine entsprechende Verurteilung der beklagten öffentlichen Körperschaft aussprechen dürfen und müssen. Ganz neu wäre das auch nicht. Die Zivilgerichte können ja auch jetzt — wenn auch nur als Spruchkörper i n Baulandsachen — beispielsweise Verwaltungsakte aufheben. Insgesamt gesehen läßt sich trotz der aufgezeigten kleineren Divergenzen feststellen, daß die Zuweisung der Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche aus Amtshaftung, Aufopferung und Enteignung an die Zivilgerichte und sämtlicher beamtenrechtlicher Ansprüche an die Verwaltungsgerichte besondere Abgrenzungsschwierigkeiten nicht m i t sich gebracht hat. Das gleiche gilt für die vermögensrechtlichen Ansprüche aus öffentlicher Verwahrung, die § 40 Abs. 2 Satz 1 VwGO ebenfalls den Z i v i l gerichten zugewiesen hat. Darüber hinaus darf man ganz allgemein sagen, daß auch überall dort, wo Einzelgesetze besondere Gerichtswegzuweisungen enthalten, durchweg besondere Abgrenzungsschwierigkeiten nicht aufgetreten sind. Ich w i l l Sie nicht m i t einer Aufzählung dieser zahlreichen Bestimmungen langweilen, darf aber doch eine Anzahl her17 18

Stich, Staatsbürger u n d Staatsgewalt I I , S. 387, 391; Β G H Z 34, 99, 105. Β G H Z 34, 99,105/6.

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ausgreifen, u m zu zeigen, wie bunt die Palette ist, mit der w i r es hier zu t u n haben: Da das Grundgesetz die Streitigkeiten über die Enteignungsentschädigung den Zivilgerichten zuweist, war es nicht nur zweckmäßig, sondern verfassungsrechtlich geboten, auch überall dort, wo Sondergesetze besondere Enteignungstatbestände regeln, für die Streitigkeiten über die Entschädigung ebenfalls den Zivilrechtsweg zu eröffnen. Deshalb finden sich entsprechende Bestimmungen i m Landbeschaffungsgesetz 19 , i m Bundesleistungsgesetz 20 , i m Wasserhaushaltsgesetz 21 und i n wasserrechtlichen Vorschriften der Länder, und das Bundesbaugesetz weist sogar die Anfechtung aller Verwaltungsakte, die i m Rahmen der Bodenordnung und der Enteignung auf Grund dieses Gesetzes ergehen, den bei den Zivilgerichten gebildeten Baulandspruchkörpern zu. Auch die Ansprüche aus dem Bundesseuchengesetz, dessen Tatbestände sich als besonders ausgeformte Enteignungstatbestände darstellen, sind den Zivilgerichten zugewiesen. Entsprechendes gilt für die Entschädigungsansprüche aus der polizeilichen Inanspruchnahme als Nichtstörer. Bei alledem sind keine Abgrenzungsschwierigkeiten aufgetreten. Weitere Zuweisungen öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten an die Zivilgerichte enthalten das Bundesentschädigungsgesetz 22 und das Rückerstattungsgesetz 23 . Ausdrückliche Zuweisungen an die Verwaltungsgerichte finden sich u. a. i m Besatzungsschädenabgeltungsgesetz, i m Lastenausgleichsgesetz 24 und durch Verweisung auf dieses Gesetz i m Reparationsschädengesetz 25 . Interessant sind die Rechtswegbestimmungen, die das neue am 1. Januar 1970 i n K r a f t getretene Postgesetz 26 enthält. Das Gesetz zieht daraus, daß heute ganz allgemein die Rechtsbeziehungen zwischen Post und Postbenutzer als öffentlich-rechtliche qualifiziert werden, die entsprechenden Folgerungen und eröffnet i n seinem § 26 für alle Streitigkeiten auf dem Gebiete des Postwesens den Verwaltungsrechtsweg, soweit nicht ausdrücklich durch Bundesgesetz etwas anderes bestimmt ist. Es legt jedoch die Entscheidung über Haftungsansprüche auf dem Gebiete des Postwesens i n die Hände der Zivilgerichte. Damit ist aber nicht — wie ich zur Vermeidung von Irrtümern bemerken möchte — i m Rahmen des Postrechts die Gerichtswegfrage abschließend geklärt. Denn das neue Postgesetz betrifft nach seinem § 1 nicht den Bereich des Fernmeldewesens, so daß auch durch das Postgesetz die Gerichtswegfrage für 19

V o m 23. Februar 1957 B G B l I S. 134. V o m 19. Oktober 1956 / 27. September 1961, B G B l 1 1956, 815 u n d 1961, 1755. 21 V o m 27. J u l i 1957 / 19. Februar 1959, B G B l 1 1957,1110 und 1959, 37. 22 I n der Fassung v o m 29. J u n i 1956 u n d 1. J u l i 1957, B G B l I 1956, 559 und 1957, 663. 23 V o m 19. J u l i 1957 / 24. März 1958 /13. Januar 1959, B G B l I 1957, 734; 1958, 141 und 1959, 21. 24 V o m 14. August 1952, B G B l I S. 446. 25 V o m 12. Februar 1969, B G B l I S . 105. 26 V o m 28. J u l i 1969, B G B l I S. 1006. 20

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diesen Bereich nicht geregelt ist. Ich muß darauf i n anderem Zusammenhang noch kurz zurückkommen. Zu den Zuweisungsbestimmungen des § 26 des neuen Postgesetzes sei nur noch bemerkt: Ohne diese ausdrückliche Regelung könnte es sehr zweifelhaft sein, ob die Verwaltungsgerichte oder ob etwa die Zivilgerichte über diese Haftungsansprüche bereits auf Grund der Bestimmung des § 40 Abs. 2 Satz 1 VwGO, nach der die Zivilgerichte über die Schadensersatzansprüche aus der Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten zu entscheiden haben, zuständig sein würden 2 7 . Ich persönlich möchte das verneinen und stimme insoweit den Oberverwaltungsgerichten Hamburg 2 8 und Münster 2 9 zu, wenn sie — vor Inkraf ttreten des neuen Postgesetzes — die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte angenommen haben und die genannte Bestimmung des § 40 Abs. 2 Satz 1 VwGO nicht haben Platz greifen lassen. Bei dieser Bestimmung, daß nämlich die Zivilgerichte zuständig sind zur Entscheidung über Schadensersatzansprüche aus der Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten, haben w i r es m. E. mit der zu tun, die unter den Sonderzuweisungsnormen diejenige ist, die die meisten Zweifel hervorruft. Und so sind dann auch die Meinungen darüber, was mit ihr gesagt sein soll, sehr geteilt. Einig ist man sich lediglich darüber, daß nur Schadensersatzansprüche gegen die öffentliche Hand den Z i v i l gerichten zugewiesen sind, während über Schadensersatzansprüche der öffentlichen Hand gegen den Bürger die Verwaltungsgerichte zu entscheiden haben 30 . Eine vielfach vertretene Auffassung geht dahin, daß mit der i n Rede stehenden Bestimmung nur Schadensersatzansprüche gemeint seien, die in engem sachlichen Zusammenhang mit Amtshaftungsansprüchen stehen, und es solle lediglich vermieden werden, etwa Schadensersatzansprüche gegen Vormünder, Vormundschaftsrichter, Konkursverwalter, Notare und ähnliche vor die Verwaltungsgerichte zu bringen 3 1 ; diese Bestimmung stelle m i t h i n nichts anderes dar als die gesetzliche Verankerung dieser bisherigen „traditionellen Zuständigkeiten" 3 2 der Zivilgerichte für Amtshaftungs-, Aufopferungsansprüche und dergleichen. Diese Meinung kann sich auf die Entstehungsgeschichte der Vorschrift berufen, da es — wie zuvor schon bemerkt — i n den Gesetzgebungsmaterialien 33 heißt, daß eine Vorschrift erforderlich sei, „nach der für solche öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten der ordentliche Rechtsweg erhalten bleibt" — wohlgemerkt erhalten bleibt — „ i n denen ein 27

So Menger- Erichsen VerwArch. 57,189. VerwRspr 19 Nr. 108. 29 N J W 1970, 214. 30 B V e r w G E 18, 72, 78; Β G H Z 43, 269, 277 und 49, 282, 288. 31 Stich, a.a.O., S. 393; RedekerJv. Oertzen A n m . 27 zu § 40; Ule, a.a.O., A n m . I V 2 a zu § 40. 32 Bettermann J Z 1960,335, 341. 33 Bundestagsdrucksache Nr. 1094 der 3. Wahlperiode. 28

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enger Sachzusammenhang m i t der Enteignung und Amtshaftung gegeben ist". Jedoch enthält die Vorschrift selbst, wie sie Gesetz geworden ist, eine derartige Einschränkung nicht, und falls sie so eng auszulegen wäre, wäre sie ja auch wohl überflüssig. So w i r d dann auch weithin die Meinung verfochten, daß die Bestimmung ihrem Wortlaut entsprechend weiter zu fassen sei und sie u. a. auch Schadensersatzansprüche aus der Verletzung von Pflichten aus Anstaltsbenutzungsverhältnissen 34 und vor allem auch aus öffentlich-rechtlichen Verträgen 3 5 m i t umfasse. Soweit ich sehe, liegt Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu diesen Fragen noch nicht vor. Der Bundesgerichtshof 36 hat bei einem öffentlichrechtlichen Benutzungsverhältnis die Zuständigkeit der Zivilgerichte zur Entscheidung über Schadensersatzansprüche bejaht, und zwar i m wesentlichen m i t der Begründung, daß der der Klage zugrunde liegende Lebensvorgang die Grundlage sowohl für Ansprüche aus Amtshaftung als auch für solche abgebe, die i n sinngemäßer Anwendung der Bestimmungen der §§ 276, 278 BGB erwachsen sein könnten, und daß, da beide Ansprüche i n der Regel gekoppelt würden, der Gedanke der Sachnähe es als angebracht erscheinen lasse, auch über die Schadensersatzansprüche aus der Verletzung der sich aus dem Benutzungsverhältnis ergebenden Pflichten von den Zivilgerichten entscheiden zu lassen. Was die Ansprüche aus der Verletzung öffentlich-rechtlicher Vertragspflichten angeht, so hat der Bundesgerichtshof meines Wissens bisher erst eine einschlägige Entscheidung 3 7 getroffen, sich i n dieser sehr vorsichtig ausgedrückt und die Zuständigkeit der Zivilgerichte wenigstens für den Fall bejaht, i n dem eine getrennte Betrachtung der Amts- und der Vertragspflichten dem Streitverhältnis nicht gerecht würde. Eigene Meinung: Die enge Auslegung, wie ich sie oben gekennzeichnet habe, ist m i t dem Wortlaut des Gesetzes nicht, aber m. E. auch nicht m i t Sinn und Zweck der Bestimmung zu vereinbaren. Die Zuweisungsnorm hat gewiß nicht nur eine deklaratorische Bedeutung, sondern sie bedeutet eine Zuständigkeitserweiterung. W i l l man unter den öffentlich-rechtlichen Pflichten nicht schlechthin Pflichten jeglicher A r t verstehen, die auf öffentlichem Recht beruhen, dann w i r d die Abgrenzung schwierig. Aber eine Begrenzung erscheint m i r doch geboten, und zwar, mag das auch nicht immer zu eindeutigen und klaren Ergebnissen führen, unter dem Gesichtspunkt des Sachzusammenhangs, den der Bundesgerichtshof in der erwähnten Entscheidung auch für die Schadensersatzansprüche aus öffentlich-rechtlichen Benutzungsverhält34

Erichsen D Ö V 1965, 158/9; B a y O b L G DÖV 1968, 808; Eyermann/ Fröhler, Anm. 80 zu § 40; Stein/Jonas/Pohle 19. A u f l . I I C 3 vor § 1. 35 Lerche, Staatsbürger u n d Staatsgewalt I I , S. 59, 69; Brückler D R i Z 1964, 372; Menger/Erichsen V e r w A r c h 56, 278. 36 U r t e i l v o m 7. Februar 1963 — I I I ZR 170/61 = DVB1 1963, 438 = VersR 1963, 477. 37 Β GHZ 43, 41.

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nissen hat entscheidend sein lassen. Dieser Gesichtspunkt führt keineswegs immer zu einer Zuständigkeit der Zivilgerichte. Soweit es etwa i m Bereich des öffentlichen Rechts u m Pflichten geht, die sich aus Verträgen oder aus einseitigen Verpflichtungserklärungen ergeben, müßte auf Erfüllung dieser Pflichten zweifellos vor den Verwaltungsgerichten geklagt werden. Es sollten dann aber wegen des engen sachlichen Zusammenhangs die Verwaltungsgerichte auch über den Schadensersatzanspruch wegen Verletzung dieser Pflichten entscheiden, der ja häufig mit dem Anspruch auf Erfüllung — wenn auch vielfach nur i m Verhältnis von Hauptanspruch zu Hilfsanspruch — gekoppelt wird. Ich muß es mir versagen, auf die Zuweisungsbestimmungen einzugehen, die der Landesgesetzgeber i m Rahmen der i h m durch § 40 Abs. 1 Satz 2 VwGO eingeräumten Befugnis getroffen hat, darf dazu aber kurz bemerken, daß neben dem Bundesgesetzgeber nur der Landesgesetzgeber, aber nicht etwa eine Gemeinde i n einer Satzung, den Gerichtsweg bindend bestimmen kann. Das hat das Bundesverwaltungsgericht 38 kürzlich noch ausdrücklich betont. Ebenso kann ich nicht i m einzelnen auf die für die Zivilgerichte begründete Zuständigkeit i n öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten m i t Sonderverfahren — Anfechtung von Justizverwaltungsakten, Verfahren i n Notar-, Rechtsanwalts-, Personenstands-, K a r tellsachen usw. — und auf die damit zusammenhängende Problematik eingehen. Für das, was ich Ihnen aufzeigen möchte, sind diese Verfahren auch ohne sonderliche Bedeutung. Zu den Sonderzuweisungsnormen w i l l ich lediglich noch bemerken, daß die i n A r t . 19 Abs. 4 GG begründete „Auffangzuständigkeit" der Zivilgerichte angesichts der verwaltungsgerichtlichen Generalklausel seine Bedeutung entscheidend eingebüßt hat 3 9 . Ich w i l l mich nunmehr dieser i n § 40 Abs. 1 VwGO normierten Generalklausel und ihrer Problematik noch kurz zuwenden. Diese Klausel weist alle öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher A r t i n den Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten. Von dieser Klausel w i r d m i t h i n das gesamte Gebiet des öffentlichen Rechts m i t Ausnahme des Verfassungsrechts erfaßt, so daß die Verwaltungsgerichte zweifellos auch etwa über streitige Rechtsverhältnisse zu befinden haben, die i m Völkerrecht wurzeln 4 0 . Angesichts dieser umfassenden grundsätzlichen Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte für alle öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten ist die Grundlage für eine weitere Zuständigkeit der Zivilgerichte i n öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten kraft Überlieferung weggefallen. Das steht außer Zweifel 4 1 . A n 38 39 40 41

DVB11969, 552. So allgemeine Meinung, Nachweise bei Wild, a.a.O., S. 57 A n m . 3. Β G H Z 34, 349, 353. Vgl. auch L M Nr. 84 zu § 13 GVG.

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ders ist es dort, wo bereits früher für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten durch ausdrückliche gesetzliche Zuweisungen der Zugang zu den Z i v i l gerichten eröffnet worden war. Diese alten Zuweisungsbestimmungen sind m. E. durch die Generalklausel i n § 40 Abs. 1 VwGO nicht gegenstandslos geworden, sondern fordern auch heute noch Beachtung. Dabei darf ich beiläufig bemerken, daß der von den Präsidenten der Verwaltungsgerichte vorgelegte Entwurf für eine Verwaltungsgerichtsordnung (in § 39) ausdrücklich vorsah, daß die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte i n allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten gegeben sein sollte, „soweit sie nicht durch ein nach dem 1. Oktober 1879 ergangenes Gesetz ausdrücklich einem anderen Gericht zugewiesen sind" 4 2 . Aus der Nichtaufnahme einer entsprechenden Bestimmung i n das Gesetz kann aber m. E. nicht gefolgert werden, daß die vor Inkrafttreten der Generalklausel erlassenen besonderen Zuweisungsbestimmungen unbeachtlich seien. Das ist auch heute nahezu unbestritten 4 3 . Man w i r d dabei Erwägungen Raum geben können, ob in den Fällen, in denen das Gesetz lediglich den Rechtsweg eröffnet, noch immer die Zuständigkeit der Zivilgerichte anzunehmen ist oder ob, wenn es nach heutiger Auffassung um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit geht, nunmehr die Verwaltungsgerichte zuständig sind, mag auch zur Zeit des Erlasses des i n Betracht kommenden Gesetzes unter „Rechtsweg" der Rechtsweg zu den Zivilgerichten gemeint gewesen sein. Es kommen hier etwa i n Betracht die Rechtswegbestimmungen i n § 25 Abs. 3 des alten Postgesetzes44 für die dort genannten Porto- und Gebührenstreitigkeiten und in § 13 Abs. 4 des Telegrafenwegegesetzes45. Wenn aber in früheren Gesetzen die Zuweisung ausdrücklich i n den ordentlichen Rechtsweg, d. h. i n den Rechtsweg zu den Zivilgerichten 4 6 normiert ist, dürfte es äußerst bedenklich sein, die Zuständigkeit der Zivilgerichte nicht mehr als gegeben anzunehmen, selbst wenn es bei den in Frage stehenden Streitigkeiten um solche des öffentlichen Rechts geht. Eine derartige Zuweisung sieht etwa das Gesetz über Fernmeldeanlagen 47 vor, das aus dem Jahre 1928 stammt, also aus einer Zeit, als es i n fast allen Teilen des Reiches bereits eine Verwaltungsgerichtsbarkeit gab. Hier ist in § 9 für Rechtsstreitigkeiten über die für die Benutzung der Fernmeldeanlagen zu zahlenden Gebühren ausdrücklich der „Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten" eröffnet. Dementsprechend wurden auch i n Lehre und Rechtsprechung fast einhellig die Zivilgerichte für zuständig i n derartigen Streitigkeiten erachtet 48 , bis 42 43 44 45 46 47 48

Siehe oben A n m . 10. Vgl. die Nachweise i m Beschluß v o m 23. Januar 1970 — I ZR 54/69 S. 6/7 —. V o m 28. Oktober 1871, R G B l S. 347. V o m 18. Dezember 1899, R G B l S. 705; dazu B G H Z 36, 217, 219. Vgl. u. a. § 26 PostG v o m 28. J u l i 1969; § 90 Abs. 2 V w G O . V o m 14. Januar 1928, R G B l I S . 8. Nachweise i m Beschluß v o m 23. Januar 1970 — I ZR 54/69 S. 10 —.

Die Abgrenzung des Verwaltungsrechtsweges (II)

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i m vorigen Jahr das Bundesverwaltungsgericht i n Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung den Verwaltungsrechtsweg bejaht hat 4 9 . Ich möchte hier diese Divergenzen nur aufzeigen, ohne weiter dazu Stellung zu nehmen, zumal gerade diese Frage den Gegenstand der bereits eingangs erwähnten Vorlage des Bundesgerichtshofs an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes bildet. Das Gesagte soll zu der Frage, welche Beachtung und Bedeutung i m Lichte der Generalklausel den früheren gesetzlichen Zuweisungen noch zukommt, genügen. Soweit Sonderzuweisungsnormen nicht Platz greifen, machen die Generalklauseln i n § 13 GVG und § 40 VwGO eine Entscheidung der Frage öffentlich-rechtliche—bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten? unabweislich. Es kann nicht meine Aufgabe sein, mich i m Rahmen dieses Referates mit den Versuchen auseinanderzusetzen, zu einer klaren Abgrenzung zwischen öffentlichem und privatem Recht zu kommen. Hier muß es genügen, als Ergebnis festzuhalten, daß es leider bisher nicht gelungen ist, eindeutige und klare Abgrenzungskriterien zu gewinnen. Daß das so ist, braucht nicht wunderzunehmen und hat verschiedene Gründe. Einmal w i r d man die Abgrenzung zwischen öffentlichem und privatem Recht überhaupt nicht abschließend nach abstrakt-logischen Merkmalen vornehmen können. Die Frage der Zuordnung einer Rechtsmaterie zu dem einen oder anderen Bereich hängt weithin von Wertungen ab, die sich ihrerseits wieder an den wechselnden politischen und gesellschaftlichen Anschauungen orientieren. Auch die Frage, ob i m Einzelfall eine öffentliche Aufgabe m i t M i t t e l n des öffentlichen oder des privaten Rechts bewältigt, ob etwa eine Einrichtung i n öffentlicher oder privater Rechtsform betrieben wird, ist nicht schlechthin nach normativen Kriterien zu beantworten. Besonders zeigen sich diese Schwierigkeiten, wenn vertragliche Vereinbarungen unter der Fragestellung öffentlich-rechtlich — privatrechtlich einzuordnen sind. Derartige Rechtsbeziehungen sind vielfach ganz komplexer Natur und enthalten sowohl öffentlich-rechtliche wie privatrechtliche Elemente. Unter welchen Gesichtspunkten soll die Gerichtswegabgrenzung vorgenommen werden 50 ? Wie ist ein i m Gesetz für die öffentliche Hand eingeräumtes Vorkaufsrecht zu beurteilen 51 ? Wie sind Subventionen und sonstige wirtschaftliche Hilfsmaßnahmen einzuordnen, die rechtlich auf die verschiedenste Weise durchgeführt werden 52 ? Hier w i r d zwar häufig die Zweistufentheorie weiterhelfen. 49 50

279 f.

B V e r w G E 29,133 = N J W 1968,1251. Vgl. u.a. B G H Z 43, 34, 37; Menger/Erichsen

V e r w A r c h 52, 99 f. und 56,

51 B G H Z 29, 113, 117, N J W 1962, 653 u. a. und dazu Menger/Erichsen Arch 53, 393/4. 52 B G H Z 52,155 m i t Nachweisen.

Verw-

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Aber alle Schwierigkeiten werden m i t ihrer Hilfe auch nicht überwunden. Wie sollen ferner Eigentumsstörungen behandelt werden, die von Hoheitsträgern verursacht werden? Wie sollen überhaupt die Verwaltungstathandlungen unter den hier maßgeblichen Kategorien beurteilt werden? Ist eine isolierte Betrachtungsweise angezeigt, zu der offenbar der V. Zivilsenat des B G H neigt 5 3 oder ist es richtiger, von einer ganzheitlichen Betrachtungsweise auszugehen und auf die Aufgabe abzustellen, der das Handeln der Verwaltung jeweils diente 54 ? Dieses Referat kann zur Lösung aller dieser Fragen nichts von Bedeutung beitragen. Es kommt m i r hier darauf an, noch einmal die Schwierigkeiten der Abgrenzung zwischen öffentlichem und privatem Recht herauszustellen. M i t allen diesen Schwierigkeiten w i r d angesichts der Generalklauseln die Gerichtswegfrage belastet, und sie verleihen dieser Frage einen Tiefgang, den sie nach dem eingangs Gesagten einfach nicht haben sollte. Bevor ich abschließend einige Bemerkungen zu den Möglichkeiten vortragen möchte, die Schwierigkeiten i n der Gerichtswegfrage abzumildern, lassen Sie mich zunächst noch kurz etwas zu den Konsequenzen und zu der Problematik sagen, die sich aus der heutigen Gerichtswegregelung i n der Durchführung eines Prozesses ergeben: Einigkeit besteht darüber, daß maßgebend ist die wahre Natur des streitigen Rechtsverhältnisses, wie es sich aus dem Klagevorbringen, gegebenenfalls ergänzt durch die Klageerwiderung, ergibt, und daß es nicht darauf ankommt, wie der Kläger selbst sein tatsächliches Vorbringen rechtlich einordnet 55 , daß er also auch nicht durch äußere Einkleidung i n die eine oder andere Rechtsform den einen oder anderen Gerichtsweg erschleichen kann 5 6 . Anerkannt ist ferner die Vorfragenkompetenz der verschiedenen Gerichte, d. h. jedes Gericht hat selbst über Vorfragen, die seiner eigenen Hauptsacheentscheidung vorausliegen, m i t zu entscheiden, auch wenn die Entscheidung der Vorfrage allein als Hauptfrage Aufgabe einer anderen Gerichtsbarkeit sein würde 5 7 . Das kann nicht anders sein, da jedes Gericht i n der Lage sein muß, Rechtsstreitigkeiten i m Rahmen seiner Zuständigkeit selbständig zu entscheiden. Es führt aber dazu, daß jedes Gericht i n die Lage kommen kann, Fragen aus Rechtsgebieten zu entscheiden, für die grundsätzlich andere 53 u. a. B G H Z 41, 264 = J Z 1965, 313 m i t ablehnender Stellungnahme Ule/ Fittschen; B G H DVB1 1968, 148 m i t ablehnender A n m e r k u n g Martens. 54 I n diese Richtung geht das U r t e i l v o m 2. J u n i 1969 — I I I ZR 224/67 = DVB11969, 623 u n d dazu Menger/Erichsen V e r w A r c h 60, 376/7. 55 B G H Z 29,187,189; 31,121; 49, 282, 285/6; Eyermann/Fröhler A n m . 1 zu § 40; Soergel/Siebert, 9. A u f l . Einl. Rdn. 62. 56 B G H Z 14, 294, 297; 24, 302, 305; 49, 282, 287. 67 Nachweise bei Baumbach/Lauterbach, ZPO, A n m . 5 Β zu § 13 G V G ; Soergel/Siebert Einl. Ran. 110 ff.; Wild, a.a.O., S. 83 ff. u n d viele andere mehr.

Die Abgrenzung des Verwaltungsrechtsweges (II)

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Gerichte zuständig sind. So haben etwa die Zivilgerichte i n einem Regreßprozeß gegen einen Rechtsanwalt, der die Revisionsfrist i n einem Verwaltungsprozeß versäumt hatte, i m Rahmen der Kausalitätsprüfung darüber befinden müssen, ob i n dem Verwaltungsprozeß die Revision zum Bundesverwaltungsgericht Erfolg gehabt haben würde oder nicht. Schwierigkeiten bereitet die Frage der Aufrechnung i m Zivilprozeß m i t öffentlich-rechtlichen, i m Verwaltungsprozeß m i t privatrechtlichen Forderungen, sofern für die Entscheidung über die Gegenforderung jeweils eine andere Gerichtsbarkeit berufen ist. Sicherlich kann — wenn die entsprechenden materiell-rechtlichen Voraussetzungen einer Aufrechnungslage gegeben sind — m i t öffentlich-rechtlichen Forderungen gegen p r i vatrechtliche aufgerechnet werden und umgekehrt 5 8 . Denn dadurch, daß die Forderungen i n verschiedenen Gerichtswegen durchgesetzt werden müssen, w i r d an ihrer Gleichartigkeit i m Sinne des §387 BGB nichts geändert. Eine Entscheidungskompetenz steht aber, wie m. E. m i t Recht angenommen wird, den Zivilgerichten für die zur Aufrechnung gestellten öffentlich-rechtlichen Forderungen nicht zu und umgekehrt den Verwaltungsgerichten nicht für etwa zur Aufrechnung gestellte privatrechtliche Forderungen. Man w i r d daraus aber nicht zu folgern haben, daß die Aufrechnung i m Prozeß überhaupt nicht zulässig sei 59 . Vielleicht w i r d man einer Bundesgerichtshofentscheidung 60 beipflichten dürfen, nach der das Gericht jeweils seine Entscheidung bis zur Entscheidung über die Gegenforderung i n dem dafür vorgesehen Gerichtsweg auszusetzen hat. Für den Fall, daß der Kläger mehrere selbständige Klageansprüche geltend macht, sei es kumulativ nebeneinander oder i m Verhältnis von Haupt- zu Hilfsanspruch, ist es nahezu unbestritten, daß das angerufene Gericht über den Anspruch zu befinden hat, der i n seine Zuständigkeit fällt, und daß es wegen des anderen Anspruchs auf Antrag die Sache i n den dafür vorgesehenen Gerichtsweg zu verweisen hat 6 1 . Das ist ziemlich problemlos, da es eben u m verschiedene selbständige prozessuale A n sprüche geht. Schwierig w i r d es, wenn ein einheitliches Klagebegehren auf verschiedene Klagegründe gestützt wird. Wenn das Gericht den A n spruch aus einem der Klagegründe, für den es zuständig ist, bejaht, bleiben zwar die Zuständigkeitsprobleme draußen. Wenn das Gericht aber den Anspruch, soweit die i n seine Zuständigkeit fallenden Klagegründe i n Betracht kommen, für unbegründet hält, dann gerät es i n ein Dilemma: Weist es die Klage ab, ohne die anderen nicht i n seine Zuständigkeit fal58 Β G H Z 5, 352, 354; Ey ermann/Fr öhler A n m . 36 ff. zu § 40; Soer gel/Siebert Rdn. 14 zu § 387. 59 Stein/Jonas/Pohle, 18. Aufl. A n m . V I 4 zu § 322. 60 Β GHZ 16,124; zustimmend Ey ermann/Fr öhler A n m . 40 zu § 40. 61 B G H Z 46, 96,105 m i t weiteren Nachweisen.

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lenden Klagegründe zu prüfen, dann gerät es i n Widerspruch zu dem Prinzip der einheitlichen Erledigung eines einheitlichen Klagebegehrens. Prüft es die anderen Klagegründe, kommt es mit der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen den einzelnen Gerichtswegen i n Konflikt. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes 02 und des Bundesverwaltungsgerichts 63 geht übereinstimmend dahin, daß den Gerichten eine sachliche Prüfung der Klagegründe, die nicht i n ihre Zuständigkeit fallen, verwehrt ist. Diese Rechtsprechung sieht also das Gericht, das zwar zulässigerweise angegangen worden ist, nicht für befugt an, etwa aus dem Gesichtspunkt der Einheitlichkeit der Entscheidung 64 auch über die nicht i n seine Zuständigkeit fallenden Klagegründe mitzuentscheiden. Diese Rechtsprechung ist auch nicht geneigt, etwa dem Gericht, i n dessen Zuständigkeit nach dem Klagevorbringen der Schwerpunkt fällt 6 5 , eine umfassende Prüfungsbefugnis zuzugestehen. De lege lata dürfte diese Rechtsprechung schwerlich als unrichtig bezeichnet werden können. Fraglich aber ist, ob die Gesetzeslage zwingend zu den von der Rechtsprechung gezogenen und m. E. wenig befriedigenden Konsequenzen nötigt: Die Rechtsprechung der genannten obersten Gerichtshöfe, übrigens auch die des Bundesfinanzhofes 66 , geht nämlich dahin, daß bei einem einheitlichen Klagebegehren eine Verweisung nur dann zulässig sei, wenn der Rechtsweg zu dem zunächst angerufenen Gericht vollen Umfangs, d. h. für alle Klagegründe unzulässig sei; eine Verweisung nur wegen einzelner Klagegründe sei nicht zulässig 67 . Auch die Literatur neigt durchweg dieser Auffassung zu 6 8 . Ich bin insoweit nicht voll überzeugt. Der Gesetzeswortlaut nötigt m. E. zu dieser Konsequenz ebensowenig wie Sinn und Zweck der Verweisungsnormen. Sollte es nicht zulässig und i m Interesse der Fristenwahrung durch die Klageerhebung und auch i m Blick auf die Kostenfrage nicht sachgerechter sein, wenn zwar i n einem entscheidungsmäßigen Nache inander, so aber doch i n einem i m Prinzip einheitlichen Verfahren zunächst das angerufene Gericht über die i n seine Zuständigkeit fallenden Klagegründe befinden und dann nach entsprechender antragsgemäßer Verweisung (durch Urteil) über die übrigen Klagegründe das dafür zuständige Gericht entscheiden würde 6 9 ? Ich w i l l das hier nur als Frage stellen. 62 B G H Z 13, 145, 153/4; U r t e i l vom 25. J u n i 1964 — I I I ZR 10/63 S. 26/7; VersR 1965, 459. 63 B V e r w G E 18,181; 22, 45, 46/7. 64 Vgl. etwa Baur, Festschrift für H i p p e l (1967) 1, 23. 65 Dazu Lerche JZ 1953, 214; Henrichs N J W 1959,1244. 66 H F R 1964, 31. 67 Vgl. die Nachweise zu A n m . 66 u n d 67. 68 Redeker/v. Oertzen, A n m . 6 zu § 41; Stein/Jonas/Pohle A n m . I I I 4 zu § 276 u. a. 69 Vgl. dazu etwa Roth M D R 1967,15 m i t Nachweisen.

Die Abgrenzung des Verwaltungsrechtsweges (II)

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I m Rahmen der Frage, welches Gericht über die Zulässigkeit des Rechtswegs, des Gerichtswegs, zu befinden hat, gilt heute der Grundsatz der Priorität, d. h. es entscheidet das zuerst angerufene Gericht m i t bindender Wirkung gegenüber den anderen Gerichtszweigen über die Zulässigkeit des zu ihm beschrittenen Gerichtswegs. Hält es diese Zulässigkeit für gegeben, dann kann i h m nicht ein anderes Gericht die Zuständigkeit streitig machen. Aber auch die negative Entscheidung des zunächst angerufenen Gerichts dahin, nicht es selbst, sondern ein Gericht eines anderen Gerichtsweges sei zuständig, ist maßgeblich und bindet, sobald diese negative Entscheidung i n Rechtskraft erwachsen ist, dieses andere Gericht. Diese Bindung geht mindestens so weit, daß dieses andere Gericht nicht mehr seine Zuständigkeit m i t der Begründung verneinen kann, das Gericht, das seine eigene Zuständigkeit verneint hat, sei doch zuständig. Wenn also ein Verwaltungsgericht rechtskräftig seine Zuständigkeit verneint und die eines Zivilgerichts bejaht hat, dann kann das Zivilgericht seine Zuständigkeit nicht mehr m i t der Begründung in A b rede stellen, in Wirklichkeit sei doch das Verwaltungsgericht zuständig. Diese Bindung besteht auch dann, wenn die negative Entscheidung des angerufenen Gerichts mehr oder weniger offensichtlich falsch ist 7 0 . A n ders könnte es vielleicht sein, wenn die Verweisung mißbräuchlich wäre. Fraglich ist nur, ob diese negative Entscheidung allein eine sogenannte „abdrängende" Wirkung hat, d. h. ob diese Entscheidung lediglich insoweit bindet, als das Gericht seine eigene Zuständigkeit verneint hat, oder ob der Entscheidung auch eine „aufdrängende" Wirkung zukommt, d.h. ob sie absolut bindet und ob das Gericht, an das verwiesen worden ist, auch i m Verhältnis zu anderen Gerichtsbarkeiten seine Zuständigkeit nicht mehr i n Frage stellen kann. A u f den Beispielsfall übertragen bedeutet das: Bindet die rechtskräftige Entscheidung des Verwaltungsgerichts, das Zivilgericht sei zuständig, dieses Zivilgericht nur i m Verhältnis zum Verwaltungsgericht oder ist es auch gehindert, seine eigene Zuständigkeit mit der Begründung, i n Wahrheit sei ein Sozial- oder Finanzgericht zuständig, zu verneinen und dementsprechend weiterzuverweisen? Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 71 billigt der Negativentscheidung lediglich diese beschränkte, abdrängende Wirkung zu, findet aber insoweit Widerspruch 72 , den ich für beachtlich halte. Man sollte i m Interesse einer möglich raschen Erledigung der Gerichtswegfrage eine Weiterverweisung nicht für zulässig halten und lieber — wie ja auch i n anderen Fällen — eine insoweit unrichtige Entscheidung i n Kauf nehmen. Eine große praktische Bedeutung kommt dieser Frage indes nicht zu. Bedeutsamer ist 70

B V e r w G E 27,170; B G H Z 17,168,171. So B G H Z 38, 289. 72 Ule, a.a.O., A n m . I I 3 b zu § 41; Baumbach/Lauterbach § 17 GVG. 71

17

Speyer 45

ZPO A n m . 3 Β zu

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m. E. folgendes Mißliche an der Verweisungsregelung, das sich aber de lege lata nicht vermeiden läßt: Die Verweisungsbestimmungen i n § 41 VwGO und § 17 GVG sehen vor, daß ein Gericht, das den eingeschlagenen Gerichtsweg für unzulässig hält, auf Antrag stets an das Gericht des ersten Rechtszuges verweisen muß, zu dem es den Rechtsweg für gegeben hält. Das bedeutet: Haben zwei Instanzen die Zulässigkeit des beschrittenen Rechtsweges bejaht und kommt erst die dritte Instanz darauf, daß in Wirklichkeit ein anderer Gerichtsweg gegeben sei, dann darf auch das Gericht der dritten Instanz nur an ein erstinstanzliches Gericht verweisen. Das ist dann besonders mißlich, wenn i n dem beschrittenen Rechtsweg der Sachverhalt voll aufgeklärt und nun vielleicht nur mehr über reine Rechtsfragen zu entscheiden ist. Diesem Zustand, d. h. der unumgänglichen Verweisung an ein erstinstanzliches Gericht des anderen Gerichtswegs sollte m. E. möglichst bald ein Ende bereitet werden. Aber damit komme ich schon hinein i n die Frage, ob und in welcher Weise eine Änderung der bisherigen Gerichtswegregelung als wünschenswert erscheinen muß. Wie ich Ihnen vor Augen zu führen versucht habe, ist die jetzige Regelung unbefriedigend, weil die Abgrenzungsfrage selbst mit so viel rechtlichen Schwierigkeiten belastet und die verfahrensmäßige Erledigung der Zuständigkeitsfrage noch zu kompliziert und schwerfällig ist. Die Möglichkeiten einer Änderung kann ich hier abschließend nur kurz andeuten: Man kann dabei an zwei Stellen ansetzen, einmal bei der sachlichen Abgrenzung der Gerichtswege selbst und zum anderen beim Verfahren. Die Schwierigkeiten bei der Abgrenzungsfrage selbst ergeben sich, wie w i r gesehen haben, viel weniger bei den Sonderzuweisungsbestimmungen als bei den Generalklauseln. Sollte man deswegen die Generalklauseln oder eine von ihnen beseitigen? M. E. ist das kein gangbarer Weg. Die Generalklauseln garantieren den umfassenden Rechtsschutz einmal auf dem Gebiet des öffentlichen und zum anderen auf dem des privaten Rechts, und dieser Rechtsschutz darf auf keinen Fall verkürzt werden. Bei der Beseitigung der Generalklauseln müßte deshalb — soll wirklich der Rechtsschutz nicht geschmälert werden — die eine oder andere Gerichtsbarkeit Auffanggerichtsbarkeit sein und für alle nicht ausdrücklich geregelten öffentlich-rechtlichen und bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten zuständig sein. Das wäre auch kein wünschenswerter Zustand. Man sollte es deshalb bei den Generalklauseln belassen. Sie sitzen — wie Lerche schon vor Jahren gesagt hat 7 3 — fest i m Sattel, und man 73

Rechtsschutz S. 31; auch Wild, a.a.O., S. 44.

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sollte sie nicht aus dem Sattel zu heben versuchen. Man sollte aber den Anwendungsbereich der Generalklauseln, die ja gerade die Abgrenzungsschwierigkeiten bereiten, dadurch einengen, daß man die Sonderzuweisungen vermehrt und insbesondere bei neuen Gesetzen die Gerichtswegfrage möglichst ausdrücklich regelt. Es dürfte sich aber auch empfehlen, die bisherigen Zuweisungskataloge zu vermehren und weitere Rechtskomplexe — Streitigkeiten aus der Benutzung von Einrichtungen der öffentlichen Hand und dergleichen — ausdrücklich in den einen oder anderen Rechtsweg zu verweisen. Noch bedeutsamer und wirkungsvoller aber dürfte es sein, die Verfahrensbestimmungen zu ändern und dabei insbesondere das Verweisungsverfahren zu vereinfachen. Davon ist aber bisher leider noch nicht viel die Rede, und zu meinem Bedauern sieht auch der von der hiesigen Hochschule vorgelegte Entwurf eines Verwaltungsgerichtsgesetzes insoweit keine besonderen Neuerungen vor. Wünschenswert wäre es, etwas überspitzt gesagt, wenn das Verfahren nicht viel komplizierter wäre als die Handhabung der Zuständigkeitsbestimmungen für die einzelnen Spruchkörper innerhalb ein und desselben Gerichts. Man könnte daran denken, die erstinstanzlichen Entscheidungen — seien sie in der Frage der eigenen Zuständigkeit positiv oder negativ — unanfechtbar und bindend für alle Instanzen zu machen. Das müßte aber bedenklich erscheinen, den Richter erster Instanz — i n gewisser Hinsicht i n eigener Sache — endgültig und abschließend über die Zulässigkeit des zu ihm beschrittenen Gerichtsweges entscheiden zu lassen. Die Dinge liegen doch anders als bei der Frage der örtlichen Zuständigkeit innerhalb einer bestimmten Gerichtsbarkeit. Bei dieser Frage ist es durchaus erträglich, daß die Entscheidung des ersten Richters i n jedem Fall unanfechtbar ist (vgl. §§ 276 Abs. 2, 512 a, 549 Abs. 2 ZPO). Aber sollte man nicht vielleicht daran denken, die Entscheidung über die Zulässigkeit des Gerichtswegs in die Hand einer besonderen — auf der Ebene der zweitinstanzlichen Gerichte zu errichtenden — Stelle, der Richter aus den verschiedensten Gerichtsbarkeiten angehören müßten, zu legen? Kann es nicht vielleicht zweckmäßig sein, dann, wenn der Beklagte die Zulässigkeit des beschrittenen Rechtswegs verneint oder das angerufene Gericht selbst Zweifel hat, eine solche Stelle darüber m i t bindender Wirkung für alle Gerichtsbarkeiten entscheiden zu lassen, es sei denn, daß sie von einer Entscheidung einer anderen gleichartigen Stelle abweichen wollte? I n diesem Fall müßte i m Interesse einer einheitlichen Handhabung der Zuständigkeitsregelung eine gemeinsame höhere Instanz die letzte Entscheidung treffen. Das gleiche hätte zu gelten, wenn eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung zur Entscheidung stünde. 17*

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Das vorgeschlagene Verfahren scheint gewiß auf den ersten Blick umständlich zu sein. I n Wirklichkeit braucht das aber nicht so zu sein. Denn während jetzt die Frage des richtigen Gerichtsweges durch alle Instanzen getrieben werden kann, würde eine solche besondere Stelle abschließend entscheiden. Die Einrichtung einer solchen Stelle zur Entscheidung über den i m Einzelfall gegebenen Gerichtsweg könnte aber vor allem noch folgende besonderen Vorteile bieten: Man könnte einer solchen Stelle die Befugnis geben, dann, wenn ein einheitliches Klagebegehren auf mehrere und i n die Zuständigkeit verschiedener Gerichtswege fallende Klagegründe gestützt ist, unter dem Gesichtspunkt des Schwerpunktes oder aus sonstigen Zweckmäßigkeitsgründen einem Gericht den Rechtsstreit zur einheitlichen Entscheidung über alle Klagegründe zuzuweisen. Diese Stelle sollte aber auch die Möglichkeit haben, dann, wenn ein Gericht i m Rahmen der Vorfragenkompetenz über eine an sich i n die Zuständigkeit einer anderen Gerichtsbarkeit fallende Frage zu entscheiden hat und bei dieser Frage das eindeutige Schwergewicht der Entscheidung liegt, den Rechtsstreit dem für die Entscheidung der Vorfrage zuständigen Gericht zuzuweisen. Es könnte dann möglich sein, etwa den Regreßprozeß gegen den Rechtsanwalt, der in einem Verwaltungsprozeß die Revisionsfrist zum Bundesverwaltungsgericht versäumt hat, an ein Verwaltungsgericht zu verweisen, wenn das eindeutige Schwergewicht der Entscheidung bei der Frage der Kausalität liegt, nämlich bei der Frage, ob die Revision zum Bundesverwaltungsgericht, wenn sie rechtzeitig eingelegt worden wäre, Erfolg gehabt haben würde. M i t diesen kurzen Andeutungen darüber, welche Möglichkeiten einer Reform mir zumindest überlegenswert erscheinen, muß ich mich begnügen. Jedenfalls sollte das Bemühen aller Verantwortlichen in die Richtung gehen, zu einer solchen Regelung der Zuständigkeitsabgrenzung i n sachlicher und verfahrensmäßiger Hinsicht zu kommen, die der gering gewordenen Bedeutung der Gerichtswegfrage für den Rechtsunterworfenen gerecht w i r d und dementsprechend einfach und unkompliziert ist.

Aussprache zu den Referaten von Richard Naumann und Friedrich Kreft Bericht von Gottfried Herbig

Die recht lebhafte Aussprache, die i m Anschluß an die Referate von Präsident Professor Dr. Naumann und Bundesrichter Dr. Kreft stattfand, befaßte sich i m wesentlichen mit den folgenden drei Problemkreisen: 1. Änderung der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen ordentlicher und Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2. die Einführung der Zuständigkeitsvereinbarung (Prorogation) i m Verwaltungsprozeß und 3. die Verbesserung der Verweisungsvorschriften. 1. Hierzu erhob Ministerialrat Dr. Stich, Mainz, die Forderung, die grundgesetzliche Zuweisung von Ersatzansprüchen aus Enteignung und Amtshaftung in A r t . 14 und 34 GG an die ordentliche Gerichtsbarkeit zu streichen. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit müsse heute als völlig gleichwertiger Gerichtsweg anerkannt werden, so daß eine sondergesetzliche Behandlung dieser Schadensersatzansprüche nicht mehr gerechtfertigt sei. Die Schaffung der Spruchkörper für Baulandsachen habe sich nicht bewährt; oft betreffe bei den dort anhängigen Sachen die eigentliche Rechtsfrage nicht die Entschädigung, sondern Materien rein verwaltungsrechtlicher Natur. Ebenso sei es schwer verständlich, daß Planfeststellungen auf Grund des Landesenteignungsgesetzes Rheinland-Pfalz vor den Baulandkammern, dagegen Planfeststellungen nach dem rheinland-pfälzischen Landesstraßen- wie nach dem Bundesfernstraßengesetz vor den Verwaltungsgerichten anfechtbar seien. Dr. Meyer-Hentschel, der Präsident des Oberverwaltungsgerichts Koblenz, verwies auf die große Belastung der beteiligten Verwaltungsrichter durch Baulandsachen. Professor Dr. Ule, Speyer, bemerkte hierzu, die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte i n A r t . 14 und 34 GG sei gewiß m i t Vorbedacht eingeführt worden. Es sei durchaus denkbar, daß das Bundesverwaltungsgericht in manchen Punkten zu ganz anderen Ergebnissen gelangt wäre als der Bundesgerichtshof. Angesichts der starken Vertretung des anwaltlichen Berufsstandes i m Bundestag räumte Verwaltungsgerichtsrat

262

Bericht von Gottfried Herbig

Dr. Henrichs diesem Vorschlag einer Verfassungsänderung wenig Chancen sein. Wegen der Postulationsbeschränkung i n der Zivilgerichtsbarkeit sei die Anwaltschaft an der Beibehaltung dieser Spezialzuweisung interessiert. 2. Mehrere Diskussionsredner sahen hinter den Vorschlägen von Präsident Professor Dr. Naumann, die i n der Forderung nach einer Möglichkeit der Prorogation i m Verwaltungsprozeß gipfelten, das B i l d des Einheitsgerichts und des Einheitsrichters auftauchen. Ministerialrat Dr. Stich wandte ein, der aktuelle Trend der Spezialisierung auch der juristischen Ausbildung widerspreche diesem Bild. Oberverwaltungsgerichtsrat Dr. Lohmeyer, Bremen, bezweifelte, daß der Begriff des Rechtsweges w i r k lich veraltet sei oder gar zur „Domäne der Dämonen" gehöre, und verwies darauf, daß das Grundgesetz selber das Spezialistentum mit der Schaffung verschiedener Gerichtszweige anerkenne. Es müsse auch die Gefahr gesehen werden, daß die Prorogation ausgenutzt werde. Nicht von ungefähr habe die öffentlich-rechtliche Nachbarklage zugenommen, da der Rechtsuchende auf diese Weise die Anwaltskosten sparen wolle. Präsident Dr. Meyer-Hentschel, Koblenz, verwies in diesem Zusammenhang auf Art. 101 GG, der trotz seiner Abkunft aus einer autoritären Zeit auch i m Rechtsstaat seine fundamentale Bedeutung behalte. Prorogation sei daher allenfalls hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit denkbar, i m übrigen aber aus rechtsstaatlichen Günden ausgeschlossen. Fast alle Diskussionsredner beurteilten die traditionelle Unterscheidung von „Rechtswegen" nur als terminus technicus, der verfassungsideologisch nicht überbewertet werden dürfe. Allerdings erkannte Professor Dr. Bettermann, Hamburg, innerhalb der einzelnen Zuständigkeitsarten eine Skala verschiedener Gewichtigkeit. So sei offensichtlich die örtliche Zuständigkeit die geringstwertige, da auf ihre Verletzung i n vermögensrechtlichen Streitigkeiten nicht die Berufung gestützt werden könne. Man gehe nämlich von der qualitativen Gleichwertigkeit aller Gerichte derselben Stufe aus. Größeres Gewicht besäßen hingegen die sachliche Zuständigkeit und erst recht die Abgrenzung zwischen den Gerichtszweigen, deren Trennung sowohl Verfahrens- als auch materiellrechtliche Bedeutung besitze. Man wurde sich in einer besonderen Diskussion, an der Verwaltungsgerichtsrat Dr. Henrichs, Verwaltungsrichter Roth, Darmstadt, sowie Bundesrichter Dr. Kreft in seinem Schlußwort, teilnahmen, darüber einig, daß das Verwaltungsgericht i n sinngemäßer Anwendung des § 287 ZPO auch zur Schadensschätzung befugt sei. Eine Prorogation komme i m Verwaltungsprozeß, so erklärte Professor Dr. Bettermann, nicht i n weiterem Umfange in Frage als i m Zivilprozeß, nämlich nur in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Die Prorogation

Aussprache zu den Referaten von R. Naumann u n d F. K r e f t

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lasse sich nur dort einführen, wo die Parteien über den Streitgegenstand verfügen könnten. Gegenüber der i m übrigen, so von Oberverwaltungsgerichtsrat Dr. Lohmeyer, Bremen, und Verwaltungsgerichtsrat Dr. Humborg, Münster, oft recht drastisch geschilderten Gefahr einer Prorogation wandte allerdings Professor Dr. Ule ein, zu Auswüchsen könne es schon deswegen nicht kommen, weil zu einer Zuständigkeitsvereinbarung ja immer das Ja der beteiligten Behörde gehöre. Professor Dr. Knöpfle, Speyer, pflichtete Professor Dr. Naumann m i t dem Argument bei, die Scheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht gelinge unserem heutigen dogmatischen Instrumentarium nicht, so daß aus Gründen der höheren Effizienz in Grenzbereichen eine Prorogation möglich sein sollte. I n seinem Schlußwort hob Präsident Naumann hervor, er predige keineswegs eine uferlose Prorogation. Hingegen erscheine i h m die Einführung dieses Rechtsinstitutes auch i m Verwaltungsprozeß nach wie vor geboten, namentlich für das Eilverfahren. Auch nach § 942 ZPO könne ja das Amtsgericht der belegenen Sache in dringenden Fällen eine einstweilige Verfügung erlassen. 3. Vielfach wurde eine Verbesserung der geltenden Verweisungsvorschriften gefordert. Oberverwaltungsgerichtspräsident Dr. Meyer-Hentschel äußerte Bedenken gegen eine strikte Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses, hielt aber die Schaffung eines besonderen Gremiums zur Entscheidung von Kompetenzkonflikten nicht für empfehlenswert. Bundesrichter Dr. Kreft entgegnete i n seinem Schlußwort, er schlage nicht die Wiedereinführung von eigenen Kompetenzkonfliktshöfen, sondern nur die Bildung von Richterkollegien am Oberlandesgericht vor, die aus Richtern aller Gerichtszweige zusammengesetzt sein müßten, um einseitige Entscheidungen zu vermeiden. Professor Dr. Bettermann berichtete dazu über die Reformvorschläge, die ein Referentenentwurf für eine zweite ZPO-Novelle enthalte. Danach solle das Gericht, sofern es sich für unzuständig halte, den Rechtsstreit schon von Amts wegen durch Beschluß an das zuständige Gericht verweisen können; dieser Beschluß solle m i t sofortiger Beschwerde und mit einer weiteren, revisionsartigen Beschwerde zum B G H anfechtbar sein. Auch positiv sollten Zwischenstreite über die Zulässigkeit des Rechtsweges nicht mehr durch Zwischenurteil, sondern durch Beschluß entschieden werden, wogegen den Parteien dieselben, oben erwähnten Rechtsmittel gegeben würden. Weitergehend als die Referenten forderte Professor Dr. Knöpfle auch die zumindest teilweise Einbeziehung der Verfassungsgerichtsbarkeit i n

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Bericht von Gottfried Herbig

die Verweisungsmechanik. Erst nach 1945 sei die Verwaltungsgerichtsbarkeit i n die Sphäre der materiellen Verfassungsorgane gehoben worden. Werde etwa eine Gemeindesatzung wegen einer behaupteten Grundrechtsverletzung vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof i m Wege der Popularklage angefochten, so könne dieses Gericht, halte es eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips oder der Verkündungsvorschrift für gegeben, bisher den Rechtsstreit nicht an den Verwaltungsgerichtshof zur Normenkontrolle nach § 47 VwGO verweisen. Hier sei eine gegenseitige Verweisungsmöglichkeit sachlich geboten.

Auszug aus dem Schlußwort Meine Damen und Herren! Aufgabe dieser Tagung war i n gewisser Weise eine Bestandsaufnahme. W i r fragten nach der Bewährung der Verwaltungsgerichtsordnung und danach, ob etwa wegen der A n t w o r t auf diese Frage eine Reform der Verwaltungsgerichtsordnung notwendig sei. W i r mußten uns dabei auf die wichtigsten Institute der Verwaltungsgerichtsbarkeit und des Verwaltungsprozesses beschränken. Gleich zu Beginn der Tagung bin ich von einem Teilnehmer gefragt worden, weshalb w i r das wichtige Gebiet des Beweisrechts nicht i n die Erörterung einbezogen hätten. Ich habe i h m geantwortet, das sei ja nun gerade vor einigen Jahren auf dem Juristentag i n Essen erörtert worden, und zwar mit dem Ergebnis, daß jedenfalls für die allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit keine rechtspolitischen Vorschläge zu machen seien. Wenn ich die Erörterungen dieser zweieinhalb Tage an m i r vorüberziehen lasse, so würde ich sagen, ihr Ergebnis ist doch sehr differenziert. Es hat sich bei einzelnen Fragen ergeben, daß rechtspolitisch keine besonderen Forderungen gestellt werden können, wenn ich etwa an das Berufsbild des Verwaltungsrichters und die Frage nach der Qualifikation für das Verwaltungsrichteramt denke oder an das, was Herr Prof. Bettermann über den vorbeugenden Rechtsschutz ausgeführt hat. Es hat Bereiche gegeben, i n denen nur geringfügige Verbesserungen des geltenden Rechts vorgeschlagen werden. Ich denke etwa an das Thema „Vorläufiger Rechtsschutz" und die Vorschläge von Herrn Oberverwaltungsgerichtsrat Dr. Geizer, wenn auch bestimmte Abweichungen i n den Nuancen festgestellt werden können. So hat heute morgen Herr Rechtsanwalt Dr. Hoppe gemeint, daß man über das hinausgehen müsse, was Herr Geizer vorgeschlagen hat. Aber es haben sich doch auch einzelne Rechtsinstitute als höchst problematisch erwiesen. Ich darf erwähnen: die Besetzung der Richterbank. Sie erinnern sich an die Vorschläge, die Herr Präsident Dr. Peters, vor allem für die Sozialgerichtsbarkeit, gemacht hat. Ich denke ferner an das mich sehr beeindruckende Referat von Herrn Vizepräsidenten Dr. Schmidt, in dem er für das Kollegialitätsprinzip eine Lanze gebrochen hat, und ich meine, daß diese Worte nicht ungehört verhallen sollten. Ich denke auch an den Vertreter des öffentlichen Interesses, der doch in ganz besonderem Maße Gegenstand der Auseinandersetzungen gewesen ist, an das sehr abgewogene Referat von Herrn Präsidenten

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Auszug aus dem Schlußwort

Dr. Meyer-Hentschel und die für mich wiederum höchst eindrucksvollen Bemerkungen, die Herr Rechtsanwalt Dr. Redeker aus seiner Sicht als Anwalt dazu beigesteuert hat. Es ist ihm, glaube ich, zu Unrecht vorgehalten worden, daß er manche Dinge objektiv vielleicht nicht richtig gesehen habe. Er hat sie gesehen aus den Erfahrungen eines prominenten Anwalts auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts. Gerade bei diesem Thema sind noch wichtige Gesichtspunkte beigesteuert worden durch die Stellungnahme der Vertreter des öffentlichen Interesse aus den Ländern Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein, und w i r bedauern es, daß Herr Bundesanwalt Dr. Neis aus Krankheitsgründen nicht hier sein konnte, aber w i r kennen ja seinen Standpunkt, den er ausführlich in den beiden Aufsätzen i m Deutschen Verwaltungsblatt 1 dargelegt hat, und w i r kennen auch die Auffassung, die etwa i n der bayer. Verwaltungsgerichtsbarkeit von maßgeblichen Repräsentanten dieser Gerichtsbarkeit und vor allem von dem Herrn Generalstaatsanwalt beim Bayer. Verwaltungsgerichtshof 2 vertreten wird. Zu den Instituten, die sicherlich eines Überdenkens bedürfen, gehört dann auch die Normenkontrolle. Ich glaube, das haben ebenfalls die Referate ergeben, die hier von Herrn Prof. Dr. Obermayer und von Herrn Vizepräsidenten Meyer gehalten worden sind, aber auch die kritischen und skeptischen Bemerkungen von Herrn Oberverwaltungsgerichtsrat Stortz. Sicherlich w i r d diese ganze Frage noch einmal überdacht werden müssen, und wenn es zu einer Übernahme des § 47 VwGO in das künftige Recht kommen sollte, sind hier gewisse Verbesserungen angebracht. Daß heute das Thema der Abgrenzung des Verwaltungsrechtsweges geradezu wie ein Paukenschlag die Tagung beenden würde, war nicht vorherzusehen. Die väterliche Milde von Herrn Präsidenten Dr. Naumann, mit der er seine ersten Worte sprach, ließ nicht erwarten, daß es dann zu so revolutionären Vorschlägen und zu einer so heftigen Reaktion kommen w ü r de. Ich meine, daß sehr vieles von den rechtspolitischen Vorschlägen, die hier gemacht worden sind, bedacht werden muß, auch wenn man — gestatten Sie mir, Herr Naumann, daß ich das >so sage—die „ideologische" Grundlage nicht teilt. Man w i r d darüber nachdenken müssen, ob § 41 VwGO alle Wünsche erfüllt, die man haben kann, nachdem w i r uns nun einmal für das System der Verweisung nach § 41 VwGO usw. entschieden haben. Es ist jetzt wohl kaum angebracht, wieder zu dem System des Kompetenzkonfliktsgerichtshofs zurückzukehren. Darüber ist in den Jahren vor 1952, als das Bundesverwaltungsgerichtsgesetz geschaffen wurde, und danach intensiv nachgedacht worden, und eine gewisse Konstanz i n der Rechtsentwicklung hat ja auch wohl ihre Vorzüge. 1 2

DVB1.1968, S. 229 ff.; 861 ff. Siehe Masson, BayVBl. 1969, S. 41 ff.

Auszug aus dem Schlußwort

Wenn ich alles zusammenfasse, was w i r gehört haben, dann würde ich meinen, wenn man heute vor der Frage stünde: Bedarf die Verwaltungsgerichtsordnung einer Novellierung? dann würde ich sagen: eigentlich nein. Da sind natürlich gewisse, höchst beachtliche Beanstandungen, die man erheben kann, aber sie sind wohl doch nicht von einem solchen Gewicht, daß man den Gesetzgeber dafür in Bewegung setzen muß. Die Fragen, die hier erörtert wurden, geraten aber dadurch i n einen anderen Zusammenhang, daß jetzt das Problem der Vereinheitlichung der drei öffentlich-rechtlichen Verfahrensordnungen i m Gespräch ist, wenn ich es einmal sehr vorsichtig ausdrücke. Wie weit es über das Gespräch hinaus kommen wird, weiß ich nicht. Ich bin am vorigen Freitig in Bonn bei Herrn Bundesjustizminister Jahn gewesen und habe mit ihm darüber ein sehr eingehendes und, wie ich meine, auch von seiner Seite recht positives Gespräch gehabt. Aber was er hier erklärt hat, war ja doch wohl nicht ganz das, was man hätte erwarten können. Nun haben Sie ja gehört, daß es Freunde des Gedankens einer Vereinheitlichung der Verfahrensordnungen auch i m Bundestag gibt, nicht nur Herrn Vizepräsidenten Dr. Schmitt-VOckenhausen, sondern auch andere. Vielleicht kann der Gedanke auch auf dem Wege über das föderalistische Organ unserer Bundesrepublik weitergetrieben werden, wenn etwa die Widerstände i m Justizministerium zu stark sein sollten. Diese Widerstände werden wohl vor allem durch die Vorstellung genährt, daß man mit der Vereinheitlichung der drei verwaltungsgerichtlichen Verfahrensordnungen u. U. Entwicklungen verbauen könnte, die eine Vereinheitlichung aller Prozeßordnungen zum Inhalt haben. Und dieser Gedanke eines solchen einheitlichen Gerichtsverfassungsrechts und eines einheitlichen Verfahrensrechts ist noch nicht ganz tot, würde ich sagen. Ich habe zwar den Eindruck, daß er i m Sterben liegt, vor allem unter dem praktischen Gesichtspunkt, daß dieses Vorhaben i n der laufenden Legislaturperiode nicht zu schaffen wäre. Ob diese Aufgabe von den heute maßgeblichen Männern bewältigt werden könnte, weiß niemand, ich selbst am allerwenigsten. Das ist eine gewisse Hoffnung dafür, daß sich der Gedanke einer Vereinheitlichung der drei öffentlich-rechtlichen Verfahrensordnungen, mit dem man zu greifbaren und sichtbaren Ergebnissen kommen könnte, doch durchsetzt. Ich kann mich auf das beziehen, was ich am Schluß des Aufsatzes über den Verwaltungsrechtsschutz in den europäischen Staaten und die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit 3 geschrieben habe: „Der Erlaß eines solchen einheitlichen Verwaltungsgerichtsgesetzes wäre kein Sprung zu einer utopischen Einheitsprozeßordnung für alle Gerichtszweige, sondern ein organischer Schritt i n der Entwicklung eines Rechtsgebietes, das auch vom materiellen Recht her dieselben Grundlagen hat." Ich würde meinen,

8

DVB1.1970, S. 225 ff., 233.

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Auszug aus dem Schlußwort

daß das doch eine gewisse Rechtfertigung für die Bemühungen ist, die hier in den letzten Jahren angestellt worden sind. Meine Damen und Herren! Ich habe zum Schluß einige Worte des Dankes zu sagen, und ich möchte diese Wortes des Dankes i n einer historischen Reihenfolge abstatten, indem ich zunächst meinen wissenschaftlichen Mitarbeitern danke, die mich bei der Aufstellung des Programms, das w i r in diesen Tagen durchgeführt haben, beraten haben, bei der Auswahl der Themen, bei der Entscheidung, welches Thema hier wohl behandelt werden müßte und welches nicht, auch bei der Auswahl der Referenten, die w i r für diese Tagung gewinnen konnten. Das sind vor allem Herr Regierungsrat Dr. Laubinger und Herr Regierungsassessor Rüggeberg. Herrn Rüggeberg danke ich besonders dafür, daß er die vielen technischen Vorbereitungen dieser Tagung, vor allem auch die Korrespondenz mit den Referenten, i n die Hand genommen und damit doch sehr wesentlich zum Gelingen dieser Tagung beigetragen hat. Ich danke dann, meine Damen und Herren, der Verwaltung unserer Hochschule, an ihrer Spitze Herrn Verwaltungsoberamtsrat Schweinstetter und allen seinen Mitarbeitern, die die vielfältigen Aufgaben zu erfüllen hatten, die mit der Vorbereitung einer solchen umfangreichen Tagung zusammenhängen. Namentlich möchte ich aber besonders herzlich danken der Dame, die dem Tagungsbüro vorgestanden hat und vor der fast nicht zu bewältigenden Aufgabe stand, 530 Teilnehmer an dieser Tagung i n Speyer und Umgebung unterzubringen, Fräulein Jochem. Ich danke dann, und damit komme ich zum Kern meines Dankes, allen denen, die sich von Anfang an bereitwillig zur Mitarbeit zur Verfügung gestellt haben, den Referenten dieser Tagung, die durch ihre Beiträge zum Gelingen dieser Tagung in einer gar nicht wegzudenkenden Weise beigetragen haben. Ich danke auch den Herren, die w i r gebeten haben, vorbereitete Diskussionsbeiträge zu leisten. Sie werden verstehen, daß w i r den Wunsch hatten, uns zu manchen Fragen von vornherein der M i t arbeit bestimmter Persönlichkeiten zu versichern, ζ. B. wenn über die Besetzung der Richterbank von einem Richter der Sozialgerichtsbarkeit gesprochen wurde, möglichst auch Richter anderer Sparten zu Gehör kommen zu lassen. Auch diesen Herren darf ich sehr herzlich danken, aber auch allen übrigen Diskussionsrednern aus der Versammlung, denn erst die Aussprache über die Vorträge gibt der Tagung die Bedeutung, die sie haben soll. Wir erfahren auf diese Weise, welche Meinung i n Ihrem Kreise über bestimmte Fragen bestehen, und ich bin sicher, daß das auch bei allen späteren Beratungen von großer Bedeutung sein wird. Ich habe schließlich der Presse zu danken, die über unsere Veranstaltungen berichtet, der allgemeinen Presse, vor allem aber der Fachpresse, die durch besondere Vertreter der Tagung beigewohnt hat. Unsere Ta-

Auszug aus dem Schlußwort

gungen erfahren durch die Berichterstattung vor allem i n den verwaltungsrechtlichen Zeitschriften die Publizität, die w i r uns wünschen. Die letzte Frage, meine Damen und Herren: War diese Tagung notwendig? Die Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer hat sich zum zweiten Mal seit ihrem Bestehen dem Problem der Verwaltungsgerichtsbarkeit gewidmet. Die erste Tagung i m Herbst 1953 war dem Thema der Verwaltung und der Verwaltungsgerichtsbarkeit gewidmet. Es sind ζ. T. dieselben Teilnehmer heute hier noch einmal zusammengekommen wie damals i m alten Haus unter der Führung des Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts, Herrn Dr. Frege. Ich selbst habe damals — meiner rechtspolitischen Neigung fröhnend — das Thema der künftigen Verwaltungsgerichtsordnung behandelt, und ich habe über einige Probleme gesprochen, die mit der Ausarbeitung der Verwaltungsgerichtsordnung i m Zusammenhang standen. Daß es noch sieben Jahre dauern würde, bis die Verwaltungsgerichtsordnung i n Kraft trat, hat damals sicherlich niemand von uns geahnt. Wenn dieser Turnus, meine Damen und Herren, beibehalten wird, dann werden w i r uns i m Jahre 1987 wieder hier zusammenfinden, um erneut über die Probleme der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu sprechen. Auf meine M i t w i r k u n g werden Sie dann allerdings wohl kaum zählen dürfen, und ich darf deshalb annehmen, daß dies die letzte Tagung ist, die den Problemen der Verwaltungsgerichtsbarkeit gewidmet war, an der ich selbst als M i t glied des Lehrkörpers dieser Hochschule teilnehmen konnte. Das mag zu manchen persönlichen Betrachtungen Anlaß geben, die kaum von allgemeinem Interesse sind. Aber vielleicht ist es richtig, wenn ich konstatiere, daß m i r aus Kreisen der Tagungsteilnehmer gesagt worden ist, vielleicht sollte man den Zeitraum von 17 Jahren zwischen den einzelnen Tagungen doch ein wenig verkürzen. Ich hoffe, daß Sie trotzdem alle mit der Vorstellung nach Hause gehen, daß der Bedeutung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in unserer rechtsstaatlichen und demokratischen Ordnung auch von dieser Hochschule die ihr gebührende Beachtung geschenkt wird, und ich würde mich glücklich schätzen, wenn w i r durch diese Tagung dazu hätten beitragen können, daß manche Fragen hier aufgeworfen sind, die Sie selbst i n Ihrer richterlichen, anwaltlichen oder sonstigen Tätigkeit zum Nachdenken veranlassen. Darf ich, meine Damen und Herren, mit dem Wunsche schließen, daß Sie diese Tagung m i t dem Gefühl verlassen, hier nicht unnötig zweieinhalb Tage verbracht zu haben, und daß Sie zu anderen Tagungen unserer Hochschule wiederkommen werden, die auch für Ihren Kreis stets von besonderem Interesse und von besonderer Bedeutung sind. I n diesem Sinne erlaube ich mir, Ihnen ein sehr herzliches „ A u f Wiedersehen" zuzurufen. Professor Dr. Carl Hermann Ule

Anhang Zur geschichtlichen Entwicklung des Richterlaientums A. Von den Anfängen des Laienrichtertums bis zum Deutschen Reich I.

Strafgerichtsbarkeit 1. Anfänge

Cäsar und Tacitus haben berichtet, daß in der germanischen Urzeit die Handhabung der Rechtspflege dem Gaufürsten oblag. Unter seinem Vorsitz versammelte sich die militärische Hundertschaft an den Dingstätten der Gerichtsgemeinden, um Recht zu sprechen. Das Urteil wurde vom Fürsten vorgeschlagen, meistens nach Befragung der Dingleute, es bedurfte der Zustimmung der Gerichtsversammlung. Auch i n der fränkischen Zeit waren die Hundertschaftsgerichte die ordentlichen Gerichte. Vorsitzer war ein vom Volk gewählter Richter; das Urteil wurde von den sieben Rachinburgen vorgeschlagen und vom Dingvolke bestätigt. Karl der Große führte an Stelle der Rachinburgenausschüsse, die für jede Tagung besonders gebildet werden mußten, feste Schöffenkollegien ein. Die Schöffen wurden von dem Grafen unter Beteiligung der Gerichtsgemeinde aus den angesehenen Dingpflichtigen auf Lebenszeit ernannt. Die Aufgabe der Schöffen war dieselbe wie die der Rachinburgen: sie waren nicht Urteiler, sondern hatten nur den Urteilsvorschlag. Da jedoch in den meisten Fällen der Urteilsvorschlag der Schöffen von dem Dingvolk widerspruchslos entgegengenommen wurde und sich so eine A b stimmung der Gerichtsgemeinde erübrigte, erlangte der Schöffenvorschlag praktisch die Qualifikation eines Urteils. 2. Mittelalter I m Mittelalter war die öffentliche Gerichtsverfassung i m Reich fast überall die Schöffengerichtsverfassung der karolingischen Zeit. Die eigentlichen Träger der Rechtspflege waren die Schöffen. Die Schöffen

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wurden i m Laufe der Zeit mehr und mehr rechtskundig, zumal sie nur ausnahmsweise ihrer lebenslänglichen Stellung enthoben wurden. 3. Neunzehntes Jahrhundert I n dieser Entwicklung t r i t t eine Wende zu Anfang des 19. Jahrhunderts ein. Die Laienrichter traten wieder i n Erscheinung. Neben den Bestrebungen, die auf Einführung der Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens abzielten, erhob sich aus Mißtrauen gegen den gelehrten Richter die Forderung der liberalen Parteien nach einer Heranziehung von Laien zur Strafrechtspflege durch Einführung von Geschworenengerichten und Schöffengerichten. Beides wurde i m Jahre 1848 i n den Grundrechten des Deutschen Volkes niedergelegt mit der Bestimmung: „Das Gerichtsverfahren soll öffentlich und mündlich sein. I n Strafsachen gilt der Anklageprozeß. Schwurgerichte sollen i n schwereren Strafsachen und bei allen politischen Vergehen urteilen." Der Forderung des Volkes nach einer M i t w i r k u n g an der Ausübung der dreifach gegliederten Staatsgewalt entsprang auch die Einführung der Schöffengerichtsverfassung mit der Heranziehung der Laien zur Strafrechtspflege durch Beteiligung bei der Beratung der Schuld- und Straffrage. 4. Reichsstrafprozeßordnung Der 1. Entwurf einer Reichsstrafprozeßordnung von 1873 sowie der spätere Regierungsentwurf enthielten ebenfalls Schöffengerichte; dagegen sah der zweite keine Schwurgerichte vor. Bei der Beratung des Entwurfs i n der Reichstagskommission i n den Jahren 1874 bis 1876 bildeten sich zwei Meinungen. Die eine Richtung verlangte die Besetzung der Strafgerichte m i t Berufsrichtern ohne Beteiligung von Laien, die andere begehrte eine möglichst weitgehende Volksgerichtsbarkeit. Diese letzte Richtung war in sich selbst gespalten. Während die einen die gleichberechtigte Beteiligung der Laien und somit die Schöffengerichtsverfassung wünschten, wollten die anderen die Einführung des Schwurgerichts. Das Schwurgerichtssystem trennte die Geschworenenbank von der Berufsrichterbank. Die Geschworenen hatten die Schuldfrage ohne M i t wirkung der Berufsrichter zu beantworten. Den Berufsrichtern oblagen die prozeßleitenden Entscheidungen sowie nach Maßgabe des Schuldspruches der Freispruch oder die Verurteilung des Angeklagten. Die Schöffen wirkten — und wirken — dagegen gleichberechtigt mit den Berufsrichtern sowohl an den prozeßleitenden Beschlüssen während der mündlichen Verhandlung als auch an der Entscheidung über die Schuldund Straffrage mit.

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Diese sämtlichen, etwa gleich starken Auffassungen fanden ihren Niederschlag i n einem Kompromiß; die Reichsstraf prozeßordnung vom 1. Februar 1877 (RGBl. S. 253) sah ein Schöffengericht, ein Schwurgericht und ein nur mit Berufsrichtern besetztes Gericht — die Strafkammer i n der damaligen Form — vor. Nach der Jahrhundertwende wurde dieses Schaubild einer Straf gerichtsverfassung durch die Verordnung vom 4. Januar 1924 (RGBl. I S. 15) beseitigt. Seither gibt es nur noch den Einzelrichter sowie ein kleines, ein erweitertes und ein großes Schöffengericht; vom alten Schwurgericht ist nur der Name übrig geblieben. Die neueren Entwürfe einer Strafprozeßordnung übernahmen sämtlich die Beteiligung von Laien an der Strafrechtspflege. I m einzelnen wichen sie nur darin voneinander ab, daß Laien teils nur i m ersten Rechtszug, teils auch in der Berufungsinstanz mitwirkten. Der Entwurf 1909 enthielt Schöffengerichte und ein Schwurgericht; die Berufungsgerichte sollten hiernach ausschließlich mit rechtsgelehrten Richtern besetzt werden. Die Reichstagskommission beschloß zwar i n erster Lesung, auch den Berufungsgerichten Schöffen beizugeben, gab jedoch i n zweiter Lesung diesen Standpunkt auf Drängen der Regierung auf. Die Nachkriegsentwürfe (vgl. Schiffer 1920, Radbruch 1922 und Heinze 1923) sahen übereinstimmend Schöffen in allen Tatsacheninstanzen vor. II.

Zivilgerichtsbarkeit

Bei den Zivilgerichten sind seit Inkrafttreten des Gerichtsverfassungisgesetzes vom 27. Januar 1877 (GVG) (RGBl. S. 41) ehrenamtliche Richter nur als Handelsrichter i n den Kammern für Handelssachen der Landgerichte an der Rechtsprechung beteiligt. III.

Verwaltungsgerichtsbarkeit 1. Bis 1945

Die i m Hinblick auf die Weite und Kompliziertheit des Verwaltungsrechts namentlich durch Rudolf von Gneist (1816-1895) erhobene Forderung nach selbständigen Verwaltungsgerichten wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in fast allen deutschen Ländern verwirklicht. Die Laienrichter waren in der Verwaltungsrechtsprechung bereits mit Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit vertreten. So war ζ. B. nach dem Preußischen Landesverwaltungsgesetz vom 30. J u l i 1883 der Kreisausschuß, der sich i n erster Instanz mit Verwaltungsstreitigkeiten befaßte, ein Kollegium, dem der Landrat und sechs Mitglieder angehörten. Der Landrat führte als staatlicher Verwaltungsbeamter den Vorsitz. Die

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sechs Mitglieder wurden vom Kreistag aus der Zahl der Kreisangehörigen gewählt. Als Berufungsinstanz war ein Bezirksausschuß vorgesehen. Er bestand aus dem Regierungspräsidenten als Vorsitzenden, dessen Stellvertreter und vier Laienmitgliedern. Die vier Laienmitglieder wurden vom Provinziallandtag aus den Einwohnern des Bezirks gewählt. Ähnlich wie i n Preußen war die Besetzung der Verwaltungsgerichte i n anderen deutschen Ländern geregelt. Den ehrenamtlichen Richtern wurde damit ein fester Platz in der Verwaltungsgerichtsbarkeit eingeräumt. Allerdings war die Tätigkeit der ehrenamtlichen Richter auf die unteren Instanzen beschränkt. Bei den Oberverwaltungsgerichten bzw. Verwaltungsgerichtshöfen der einzelnen deutschen Länder waren ehrenamtliche Richter grundsätzlich nicht vertreten. Dagegen waren ehrenamtliche Richter in Anhalt und Oldenburg auch bei den Oberverwaltungsgerichten gesetzlich vorgesehen. Die dargestellte Beteiligung ehrenamtlicher Richter wurde auch nach 1918 beibehalten. 2. Ab 1946 Nach dem Zusammenbruch 1945 wurde auf Grund der Militärregierungs-Verordnung (MRVO) Nr. 165 vom 15. September 1948 (VOB1. BZ S. 263) i n der britischen Zone die Verwaltungsgerichtsbarkeit i n jedem Lande von den Landesverwaltungsgerichten und einem Oberverwaltungsgericht ausgeübt. Die Landesverwaltungsgerichte verhandelten und entschieden i n Kammern, die m i t zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und drei ehrenamtlichen Richtern besetzt waren. Die Oberverwaltungsgerichte verhandelten und entschieden i n Senaten, die m i t drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden besetzt waren. Die Länder konnten bestimmen, daß i n jedem Senat eines Oberverwaltungsgerichts neben den drei Richtern zwei ehrenamtliche Mitglieder mitwirkten. Die ehrenamtlichen Mitglieder wurden für das einzelne Gericht für die Dauer von fünf Jahren durch einen Ausschuß gewählt. Der Ausschuß bestand aus dem Präsidenten des Gerichts als Vorsitzenden, einem von der Landesregierung bestimmten Beamten des Landes und sieben gewählten Vertrauensleuten. Nach dem durch übereinstimmende Ländergesetze Bayern: Gesetz Nr. 39 vom 25. September 1946 — GVB1. S. 281 —; Bremen: Gesetz vom 5. August 1947 — GBl. S. 171 —; Hessen: Gesetz vom 31. Oktober 1946 i. d. F. des Gesetzes vom 30. Juni 1949 —GVB1. S. 137—; Württemberg-Baden: S.221 — 18

Speyer 45

Gesetz Nr. 110 vom 16. Oktober 1946 — RegBl.

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geschaffenen Süddeutschen Verwaltungsgerichtsgesetz (VGG) verhandelten und entschieden die Verwaltungsgerichte i n der Besetzung von einem Vorsitzenden, zwei beamteten und zwei ehrenamtlichen Mitgliedern als Beisitzer. Beim Verwaltungsgerichtshof war die M i t w i r k u n g von ehrenamtlichen Mitgliedern nicht vorgesehen. Die ehrenamtlichen Mitglieder wurden für die Dauer von vier Jahren gewählt. Das Nähere bestimmte ein Gesetz. IV.

Finanzgerichtsbarkeit 1. Bis 1919

Die Anfänge der Finanzgerichtsbarkeit gehen bis i n die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Die Entwicklung i n Preußen kann als weitgehend typisch für die Entwicklung i n den deutschen Ländern angesehen werden. Dort bestand zunächst bis 1851 der ganze steuerliche Rechtsschutz i n der Möglichkeit, die höhere Verwaltungsbehörde anzurufen. Das wurde anders durch das Klassen- und Einkommensteuergesetz vom 1. Mai 1851. Während es bei der Klassensteuer beim Rekursverfahren verblieb, konnte bei der Einkommensteuer nunmehr eine von Anweisungen der Verwaltung unabhängige höhere Instanz angerufen werden. Es waren die nach dem Gesetz vom 1. Mai 1851 i n jedem Regierungsbezirk zu errichtenden Bezirkskommissionen. Man wollte m i t ihnen nicht eigentlich ein Gericht ins Leben rufen. Es ging vielmehr darum, an der Verwaltung der Steuern die Laien als Vertreter der Steuerpflichtigen zu beteiligen, u m deren Sachkunde nutzbar zu machen. Schon der Erlaß des Steuerbescheides war damals Kommissionen übertragen, die bis auf den Vorsitzenden ganz aus Nicht-Beamten bestanden. Durch das Preußische Einkommensteuergesetz vom 24. Juni 1891 w u r den die Bezirkskommissionen i n Berufungskommissionen umbenannt, deren Mitglieder teils von der Regierung ernannt, teils von dem Provinzialausschuß aus den Einwohnern des Regierungsbezirks unter möglichster Berücksichtigung der verschiedenen Arten des Einkommens auf die Dauer von sechs Jahren gewählt wurden. Außerdem wurde der Rechtsschutz dahingehend erweitert, daß gegen die Entscheidungen der Berufungskommission die Beschwerde an das Preußische Ober Verwaltungsgericht zugelassen wurde. Das Preußische Oberverwaltungsgericht entschied i n nicht öffentlicher Verhandlung ohne M i t w i r k u n g von ehrenamtlichen Richtern. 2. Ab 1920 Durch die Reichsabgabenordnung vom 13. Dezember 1919 (AO) (RGBl. I S. 1993) wurden mit der Reichsverwaltung auch die Finanzgerichte

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geschaffen, die m i t der Berufung gegen förmliche Bescheide der Finanzverwaltung angerufen werden konnten. Die Kammern entschieden i n der Besetzung von fünf Mitgliedern, von denen drei i m Ehrenamte tätig waren. Von diesen sollte tunlichst ein Mitglied dem Berufs- oder Erwerbszweig des Steuerpflichtigen angehören. Die ehrenamtlichen Mitglieder des Gerichts und Vertreter für sie i n der erforderlichen Zahl wurden von Organen der Selbstverwaltung oder von den Vertretungen der Länder und von öffentlich-rechtlichen berufsständischen Vertretungen auf je sechs Jahre gewählt. Ein ehrenamtliches Mitglied des Gerichts konnte m i t der schriftlichen Begutachtung befaßt werden. Die Laienrichter sollten i m Gegensatz zu einer verbreiteten Übung die Akten erhalten, sie prüfen und schriftlich zu den einzelnen Sachen Stellung nehmen. Gegen die Berufungsentscheidungen des Finanzgerichts war die Hechtsbeschwerde an den Reichsfinanzhof gegeben. Der Reichsfinanzhof als oberste Spruchbehörde i n Steuersachen hatte jedoch keine ehrenamtlichen Beisitzer. 3. Ab 1949 I n den Ländern der britischen Zone trat am 1. 2. 1949 die Militärregierungsverordnung Nr. 175 (VOB1. BZ 1948 S. 385) i n Kraft. Durch dieses Gesetz wurden getrennt von den Finanzverwaltungsbehörden Finanzgerichte i n Hamburg, Kiel, Hannover, Münster und Düsseldorf errichtet, die wiederum mit zwei beamteten und drei ehrenamtlichen Mitgliedern entschieden. Die ehrenamtlichen Mitglieder wurden für das einzelne Gericht für die Dauer von fünf Jahren durch einen Ausschuß gewählt. Der Ausschuß bestand aus dem Präsidenten des Gerichts als Vorsitzenden, einem durch den Oberfinanzpräsidenten des Bezirks zu bestimmenden Beamten der Finanzverwaltung und aus sieben Vertrauensleuten, die auf fünf Jahre durch den Landtag des Landes, i n dem das Gericht seinen Sitz hat, gewählt wurden. Die ehrenamtlichen Mitglieder sollten i n wirtschaftlichen Fragen sachkundig und mit den örtlichen Verhältnissen ihrer Gegend vertraut sein. Unter ihnen sollten die verschiedenen Vermögensarten und Einkommensarten vertreten sein, die i n dem Gerichtsbezirk Bedeutung hatten. Das Gesetz über den Bundesfinanzhof vom 29. Juni 1950 (BGBl. I S. 257) und das Gesetz über Maßnahmen auf dem Gebiete der Finanzgerichtsbarkeit vom 22. Oktober 1957 (BGBl. I S. 1746) führten hinsichtlich der M i t w i r k u n g von ehrenamtlichen Richtern ebenfalls keine Neuregelung ein. 18·

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V.

iagerichtsbarkeit

I n dem heute der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesenen Bereich hatte das Gesetz betr. die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15. Juni 1883 (RGBl. S. 73) auf ein einheitliches Verfahrensrecht verzichtet und die Streitigkeiten über das Versicherungsverhältnis und Leistungsansprüche den ordentlichen Gerichten und die Ersatzstreitigkeiten den Verwaltungsgerichten zugewiesen. Sobald zur Entscheidung von Streitigkeiten aus dem Bereich der Sozialversicherung eigene Spruchkörper gebildet waren, w i r k t e n ehrenamtliche Beisitzer an der Entscheidung mit. So waren ehrenamtliche Beisitzer i n der Unfallversicherung seit dem Unfallversicherungsgesetz vom 6. J u l i 1884 (RGBl. S. 69) und i n der Rentenversicherung seit dem Gesetz betr. die Invaliditäts- und Altersversicherung vom 22. Juni 1889 (RGBl. S. 97) an den Entscheidungen der Schiedsgerichte, der Landesversicherungsämter und des Reichsversicherungsamtes (RVA) beteiligt. Ebenso gehörten nach Inkrafttreten der Reichsversicherungsordnung vom 19. J u l i 1911 (RVO) (RGBl. I S. 849) den Spruchkörpern der Versicherungsämter, Oberversicherungsämter, Landesversicherungsämter und den Senaten des R V A ehrenamtliche Beisitzer an. Das Versicherungsgesetz für Angestellte vom 20. Dezember 1911 (RGBl. I S. 989) übernahm schon vor der Anpassung an die Regelungen der RVO durch das Gesetz vom 10. November 1922 (RGBl. I S. 849) die Beteiligung ehrenamtlicher Beisitzer für die Schieds- und Oberschiedsgerichte wie schließlich später das Gesetz über Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 16. J u l i 1927 (RGBl. I S. 187) für die Spruchausschüsse der Arbeitsämter, die Spruchkammern der Landesarbeitsämter und die Spruchsenate der RVA. Das Gesetz über das Verfahren in Versorgungssachen vom 10. Januar 1922 (RGBl. I S .59) beteiligte gleichfalls ehrenamtliche Beisitzer an den Entscheidungen der Versorgungsgerichte und des Reichsversorgungsgerichts. Durch die Verordnung über die weitere Vereinfachung der Reichsversicherung und der Arbeitslosenversicherung während des Krieges vom 26. Oktober 1943 (RGBl. I S. 581) entschieden bis zum Kriegsende die Vorsitzenden ohne Beiziehung ehrenamtlicher Richter bei den Versicherungsämtern i n allen Spruchsachen und bei den Oberversicherungsämtern i n allen Angelegenheiten der Unfall- und Rentenversicherung. Es handelte sich jedoch nur u m eine kriegsbedingte Maßnahme, die nicht als grundsätzliche Aufgabe der Beteiligung ehrenamtlicher Beisitzer gewertet werden darf. Vier ehrenamtliche Beisitzer sahen vor: das Unfallversicherungsgesetz von 1884, das Gesetz von 1889 sowie das Versicherungsgesetz für Ange-

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277

stellte von 1911 für die Schiedsgerichte sowie für die Spruchkammern das Angestelltenversicherungsgesetz von 1922. Bis auf die Spruchkammern für Angestellte waren sie bei Anwesenheit des Vorsitzenden und zwei Beisitzern beschlußfähig. Die ehrenamtlichen Beisitzer wurden nach dem Unfallversicherungsgesetz von 1884 von den Genossenschaften bzw. Genossenschaftssektionen und den Vorständen von Krankenkassen gewählt. Die RVO sah gleichfalls eine Wahl der ehrenamtlichen Beisitzer vor. Ebenso wurden die ehrenamtlichen Beisitzer der Schieds- und Oberschiedsgerichte für A n gelegenheiten der Angestelltenversicherung innerhalb der Versicherungsanstalt gewählt. Die ehrenamtlichen Besitzer bei den Spruchbehörden der Arbeitslosenversicherung wurden für den Spruchausschuß aus dem Kreis der Mitglieder des Verwaltungsausschusses entnommen und waren deshalb nicht gewählt, sondern vom Vorsitzenden des Landesarbeitsamtes unter Bindung an die Vorschlagslisten der wirtschaftlichen Vereinigungen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestellt. Die ehrenamtlichen Beisitzer der Spruchkammern der Landesarbeitsämter gehörten dem Oberversicherungsamt an, die des Spruchsenates dem RVA. Sie waren deshalb jedenfalls insoweit gewählt. Die ehrenamtlichen Beisitzer der Versorgungsgerichte bestellten die obersten Landesbehörden i m Einverständnis m i t dem Reichsarbeitsminister auf Vorschlag der Hauptfürsorgestellen und der Verbände von Versorgungisberechtigten und Hinterbliebenen. Die ehrenamtlichen Beisitzer des Reichsversorgungsgerichtes bestellten aus der sozialen Fürsorge der Reichsarbeitsminister und aus dem Kreis der Versorgungsberechtigten der Reichsausschuß der Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge nach Anhörung von Verbänden Versorgungsberechtigter.

VI.

Arbeitsgerichtsbarkeit

I n der Arbeitsgerichtsbarkeit und ihren Vorläufern sahen das Gesetz betr. die Gewerbegerichte vom 29. J u l i 1890 (RGBl. S. 141) und das Gesetz betr. die Kaufmanns g er icht e vom 6. Mai 1904 (RGBl. S. 266) ebenso wie später für alle Instanzen das Arbeitsgerichtsgesetz vom 23. Dezember 1926 (RGBl. I S. 507) eine Beteiligung ehrenamtlicher Beisitzer bzw. Richter vor. Das ArbGG von 1926 sah eine Berufung der Arbeitsrichter für die Arbeitsgerichte und Landesarbeitsgerichte, jedoch — anders als nach dem geltenden Rechte — i m Einvernehmen m i t dem Präsidenten des Landgerichts vor. Die Vorschlagslisten wurden von dem i m wesentlichen gleichen Kreis der Organisationen eingereicht, die auch heute dazu berechtigt sind. Die Reichsarbeitsrichter wurden vom Reichsarbeitsminister

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i m Einvernehmen mit dem Reichsminister der Justiz — nicht dem Präsidenten des Reichsgerichts — berufen. Die Listen wurden ebenfalls ähnlich dem heutigen Recht von den Spitzenverbänden der Organisationen eingereicht. Die ehrenamtlichen Beisitzer der Gewerbegerichte und der Kaufmannsgerichte wurden unmittelbar gewählt

B. Bundesrepublik Deutschland I. S t r a f g e r i c h t s b a r k e i t Ehrenamtliche Richter wirken i n der Strafgerichtsbarkeit an den Entscheidungen der beim Amtsgericht gebildeten Schöffengerichte und der Strafkammern der Landgerichte sowie der Schwurgerichte mit. Die Schöffengerichte entscheiden i n der Besetzung mit einem Amtsrichter und zwei Schöffen, die erweiterten Schöffengerichte m i t zwei Amtsrichtern und zwei Schöffen (§ 29 GVG). Die Strafkammern sind entweder m i t einem Berufsrichter und zwei Schöffen (kleine Strafkammer) oder mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen (große Strafkammer) besetzt (§ 76 GVG). Das Schwurgericht besteht aus drei Berufsrichtern und sechs Geschworenen; die Geschworenen haben die gleichen Rechte und Pflichten wie die Schöffen und unterscheiden sich somit nur i m Namen (vgl. §§ 30, 77, 82 GVG). Die Schöffen und Geschworenen werden durch einen beim jeweiligen Gericht gebildeten Ausschuß aus Vorschlagslisten für die nächsten zwei Geschäftsjahre gewählt (§ 42 GVG). Der Ausschuß besteht aus dem dienstaufsichtsführenden Berufsrichter des Gerichts, einem von der Landesregierung zu bestimmenden Verwaltungsbeamten sowie zehn Vertrauenspersonen als Beisitzern (§§ 40, 77, 84 GVG). Die Vorschlagslisten werden von den Gemeinden des Gerichtsbezirks aufgestellt (§§ 36 ff. GVG). Die Umstände, die eine Person vom A m t des Schöffen oder Geschworenen ausschließen oder zu diesem A m t ungeeignet machen, sind i m Gerichtsverfassungsgesetz aufgezählt (§§ 32 ff. GVG). T r i t t die Unfähigkeit nach der Wahl zum Schöffen ein oder w i r d sie nachträglich bekannt, so ist er von der Schöffenliste zu streichen (§ 42 Abs. 1 GVG). Zur Dienstleistung nicht heranzuziehen ist ein Schöffe, bei dem Umstände eintreten oder bekannt werden, die ihn zum Schöffen ungeeignet machen (§ 42 Abs. 2 GVG). Bestimmte Personen haben das Recht, die Berufung zum Schöffenamt abzulehnen (§ 35 GVG).

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II.

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Zivilgerichtsbarkeit

Ehrenamtliche Richter sind i n der Zivilgerichtsbarkeit weiterhin nur als Handelsrichter i n den Kammern für Handelssachen der Landgerichte an der Rechtsprechung beteiligt (§ 105 GVG). Die Kammern für Handelssachen entscheiden i n der Besetzung m i t einem Berufsrichter und zwei Handelsrichtern. Die Handelsrichter werden auf gutachtlichen V o r schlag der Industrie- und Handelskammer ernannt (§ 108 GVG). Zum Handelsrichter kann jeder Deutsche ernannt werden, der das 30. Lebensjahr vollendet hat und als Kaufmann, als Vorstand einer Aktiengesellschaft, als Geschäftsführer einer GmbH oder als Vorstand einer sonstigen juristischen Person i n das Handelsregister eingetragen ist oder eingetragen war (§ 109 GVG). Die Handelsrichter haben während der Dauer ihres Amtes „ i n Beziehung auf dasselbe" alle Rechte und Pflichten eines Berufsrichters (s. § 112 GVG). Ein Handelsrichter ist seines Amtes zu entheben, wenn er eine der für die Ernennung erforderlichen Eigenschaften nachträglich verliert (§113 GVG). Die Handelsrichter tragen ebenso wie der Berufsrichter der Kammer für Handelssachen Robe. Auch insoweit unterscheiden sie sich von den ehrenamtlichen Richtern der Strafsowie der allgemeinen und besonderen Verwaltungs- und auch der A r beitsgerichtsbarkeit. Sie unterschreiben die Urteile der Kammer für Handelssachen mit.

III.

Verwaltungsgerichtsbarkeit

I n der Verwaltungsgerichtsbarkeit wirken ehrenamtliche Richter nur bei den Verwaltungsgerichten mit. Die Kammer des Verwaltungsgerichts (VG) entscheidet i n der Besetzung von drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Verwaltungsrichtern (§ 4 Abs. 3 VwGO). Der ehrenamtliche Verwaltungsrichter w i r k t bei der mündlichen Verhandlung mit gleichen Rechten wie der Berufsrichter m i t (§19 VwGO). Die ehrenamtlichen Verwaltungsrichter werden von einem bei jedem V G bestellten Ausschuß auf vier Jahre aus Vorschlagslisten gewählt (§ 26 VwGO). Der Ausschuß besteht aus dem Präsidenten des VG, einem von der Landesregierung bestimmten Verwaltungsbeamten und sieben Vertrauensleuten. Die Kreise und kreisfreien Städte stellen i n jedem vierten Jahre eine Vorschlagsliste für ehrenamtliche Verwaltungsrichter auf (§ 28 VwGO). Die Umstände, die vom A m t des ehrenamtlichen Verwaltungsrichters ausschließen oder die zu einer Entbindung von seinem A m t führen oder die zur Ablehnung dieses Amtes berechtigen, sind abschließend i m Gesetz aufgeführt (§§ 21 ff. VwGO).

280

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IV.

Finanzgerichtsbarkeit

Ebenso wie i n der Verwaltungsgerichtsbarkeit wirken ehrenamtliche Richter nur bei den Finanzgerichten mit. Die Senate der Fnanzgerichte (FG) entscheiden i n der Besetzung von drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Finanzrichtern (§ 4 Abs. 3 FGO). Der ehrenamtliche Finanzrichter w i r k t bei der mündlichen Verhandlung mit gleichen Rechten wie der Berufsrichter mit (§16 FGO). Die ehrenamtlichen Finanzrichter werden von einem bei jedem FG bestellten Ausschuß auf vier Jahre gewählt (§§ 22, 23 FGO). Der Ausschuß besteht aus dem Präsidenten des Finanzgerichts, einem durch die Oberfinanzdirektion zu bestimmenden Beamten der Landesfinanzverwaltung und sieben Vertrauensleuten. Der Präsident des Finanzgerichts stellt die Vorschlagsliste für die ehrenamtlichen Richter auf (§ 25 FGO). Er soll zuvor die Berufsvertretungen hören. Die Umstände, die vom A m t des ehrenamtlichen Finanzrichters ausschließen oder die zu einer Entbindung von seinem A m t führen oder die zur Ablehnung dieses Amtes berechtigen, sind auch i n der FGO abschließend aufgeführt (§§ 18 ff. FGO).

V.

Sozialgerichtsbarkeit

Anders als i n der Verwaltungs- und i n der Finanzgerichtsbarkeit w i r ken ehrenamtliche Richter i n der Sozialgerichtsbarkeit i n allen Instanzen mit. Es entscheiden die Kammern der Sozialgerichte i n der Besetzung von einem Berufsrichter und zwei ehrenamtlichen Richtern (Sozialrichter), die Senate der Landessozialgerichte und des Bundessozialgerichts (BSG) i n der Besetzung m i t drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern (Landessozialrichter / Bundessozialrichter; §§ 12, 33, 40 SGG). Dem Großen Senat des BSG gehören vier Bundessozialrichter an (§ 41 Abs. 1 SGG). Der Sozialrichter übt sein A m t m i t gleichen Rechten und Pflichten wie der Berufsrichter aus (§ 19 Abs. 1 SGG). Die ehrenamtlichen Richter in der Sozialgerichtsbarkeit gehören i n den Kammern für Angelegenheiten der Sozialversicherung und für Angelegenheiten der Arbeitslosenversicherung je zur Hälfte dem Kreis der Versicherten und der Arbeitgeber an (§ 12 Abs. 2 Satz 1 SGG). Sind für Angelegenheiten einzelner Zweige der Sozialversicherung eigene Kammern gebildet, so sollen die Sozialrichter dieser Kammern an dem jeweiligen Versicherungszweig beteiligt sein (§ 12 Abs. 2 Satz 2 SGG). I n den Kammern für Angelegenheiten des Kassenarztrechts wirken je ein Sozialrichter aus dem Kreis der Krankenkassen und der Kassenärzte (Kassenzahnärzte) und in Angelegenheiten der Kassenärzte (Kassenzahn-

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281

ärzte) wirken als Sozialrichter nur Kassenärzte (Kassenzahnärzte) m i t (§ 12 Abs. 3 SGG). I n den Kammern für Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung wirken je ein Soialrichter aus dem Kreis der m i t der Kriegsopferversorgung vertrauten Personen und der Versorgungsberechtigten mit; dabei sind Hinterbliebene i n angemessener Zahl zu beteiligen (§ 12 Abs. 4 SGG). I n der Sozialgerichtsbarkeit werden die Sozial- und Landessozialrichter von der Landesregierung oder der von ihr beauftragten Stelle auf Grund von Vorschlagslisten für vier Jahre berufen. Die Vorschlagslisten der Sozialrichter, die i n den Kammern für Angelegenheiten der Sozialversicherung und für Angelegenheiten der Arbeitslosenversicherung mitwirken, werden von den Gewerkschaften und von selbständigen Vereinigungen von Arbeitnehmern m i t sozial- und berufspolitischer Zwecksetzung sowie von Vereinigungen von Arbeitgebern und den i n § 16 Abs. 4 Nr. 3 SGG bezeichneten obersten Bundes- und Landesbehörden aufgestellt. Für Angelegenheiten des Kassenarztrechts stellen die Vorschlagslisten für Sozialrichter die Kassenärztlichen (Kassenzahnärztlichen) Vereinigungen und die Zusammenschlüsse der Krankenkassen auf. Für den Bereich der Anlegenheiten der Kriegsopferversorgung sind vorschlagsberechtigt die Landesversorgungsämter und die i m Gerichtsbezirk vertretenen Vereinigungen der Kriegsopfer. Die Bundessozialrichter beruft der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung auf Grund von Vorschlagslisten, die von den gleichen Organisationen aufgestellt werden, die für die Vorschlagslisten für die Sozialrichter und Landessozialrichter berechtigt sind; i n Angelegenheiten des Kassenarztrechts sind es die Kassenärztlichen (Kassenzahnärztlichen) Vereinigungen und die Zusammenschlüsse von Krankenkassen, die sich über das Bundesgebiet erstrecken; im Rahmen der Kriegsopferversorgung t r i t t an die Stelle der Landesversorgungsämter die oberste Verwaltungsbehörde des Landes. Die Umstände, die vom A m t des ehrenamtlichen Richters i n der Sozialgerichtsbarkeit ausschließen oder die zu einer Entbindung von seinem A m t führen oder die zur Ablehnung dieses Amtes berechtigen, sind i m SGG ebenfalls erschöpfend aufgeführt (§§ 16 ff. SGG). Bei den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit w i r d ein Ausschuß der ehrenamtlichen Richter gebildet. Er besteht aus sechs Mitgliedern, die von den ehrenamtlichen Richtern aus ihrer Mitte gewählt werden. Der Ausschuß ist vor der Bildung von Kammern, vor der Geschäftsverteilung, vor der „Verteilung" der ehrenamtlichen Richter auf die Kammern und Senate und vor Aufstellung der Listen über die Heranziehung der Sozialrichter zu den Sitzungen mündlich oder schriftlich zu hören. Er kann dem Vorsitzenden des jeweiligen Sozialgerichts oder dem Präsidenten des jeweiligen Landessozialgerichts oder des Bundessozialgerichts und den

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die Verwaltung und die Dienstaufsicht führenden Stellen Wünsche der ehrenamtlichen Richter übermitteln (s. §§ 23, 35,47 SGG). VI.

Arbeitsgerichtsbarkeit

Ebenso wie i n der Sozialgerichtsbarkeit wirken ehrenamtliche Richter i n der Arbeitsgerichtsbarkeit i n allen Instanzen mit. Es entscheiden die Kammern der Arbeits- und Landesarbeitsgerichte i n der Besetzung m i t einem Berufsrichter und zwei ehrenamtlichen Richtern (Arbeitsrichter, Landesarbeitsrichter; § 16 Abs. 2 Satz 1, § 35 Abs. 2 Satz 1 ArbGG) und in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten zwischen Tarifvertragsparteien aus Tarifverträgen oder über das Bestehen oder Nichtbestehen von Tarifverträgen und für die Entscheidung über die Tariffähigkeit einer Vereinigung i n der Besetzung mit einem Berufsrichter und vier ehrenamtlichen Richtern (§ 16 Abs. 2 Satz 2, § 35 Abs. 2 Satz 2 ArbGG), die Senate des Bundesarbeitsgerichts (BAG) i n der Besetzung mit drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern (Bundesarbeitsrichter; § 41 Abs. 2 ArbGG). Dem Großen Senat des B A G gehören vier Bundesarbeitsrichter an (§ 45 Abs. 1 ArbGG). Die ehrenamtlichen Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit gehören jeweils zur Hälfte den Kreisen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber an. Die ehrenamtlichen Richter üben ihr A m t m i t den gleichen Rechten wie die Berufsrichter aus, wenn dies i m Gesetz auch nicht ausdrücklich ausgeführt ist. I n der Arbeitsgerichtsbarkeit werden die Arbeits- und Landesarbeitsrichter von der obersten Arbeitsbehörde des Landes auf die Dauer von vier Jahren berufen. Sie sind in angemessenem Verhältnis unter Berücksichtigung der Minderheit aus den Vorschlagslisten zu entnehmen, die der obersten Arbeitsbehörde des Landes von den i m Gerichtsbezirk bestehenden Gewerkschaften, selbständigen Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie von den i n § 22 Abs. 2 Nr. 3 ArbGG bezeichneten Körperschaften oder deren Arbeitgebervereinigungen eingereicht werden. Die Bundesarbeitsrichter werden vom Bundesminister für Arbeit für die Dauer von vier Jahren berufen und die Vorschlagslisten von den Gewerkschaften, selbständigen Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung und Vereinigungen von A r beitgebern, die für das Arbeitsleben des Bundesgebietes wesentliche Bedeutung haben, sowie wiederum von den i n § 22 Abs. 2 Nr. 3 ArbGG bezeichneten Körperschaften eingereicht. Die Umstände, die vom A m t des ehrenamtlichen Richters i n der Arbeitsgerichtsbarkeit ausschließen oder die zu einer Entbindung von seinem A m t führen oder die zur Ablehnung dieses Amtes berechtigen, sind i m ArbGG gleichfalls erschöpfend aufgeführt (§§ 21, 24, 27 ArbGG).

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Bei den Arbeitsgerichten m i t mehr als einer Kammer und den Landesarbeitsgerichten w i r d ein Ausschuß der ehrenamtlichen Richter gebildet. Er besteht aus mindestens je drei ehrenamtlichen Richtern aus den Kreisen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber i n gleicher Zahl, die von den ehrenamtlichen Richtern aus den Kreisen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber i n getrennter Wahl gewählt werden. Der Ausschuß ist vor der Bildung von Kammern, vor der Geschäftsverteilung, vor der „Verteilung" der ehrenamtlichen Richter auf die Kammern und vor der A u f stellung der Listen über die Heranziehung der ehrenamtlichen Richter zu den Sitzungen mündlich oder schriftlich zu hören. Er kann dem Vorsitzenden des Arbeitsgerichts bzw. dem Präsidenten des Landesarbeitsgerichts und den die Verwaltung und Dienstaufsicht führenden Stellen Wünsche der ehrenamtlichen Richter übermitteln (s. §§ 29, 38 ArbGG). Beim B A G besteht kein Beisitzerausschuß (vgl. § 43 ArbGG). Vor der Geschäftsverteilung und der Zuteilung der Bundesrichter und der Bundesarbeitsrichter auf die einzelnen Senate sind jedoch je die beiden der Geburt nach ältesten Bundesarbeitsrichter aus den Kreisen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber zu hören (s. § 44 Abs. 2 Satz 1 ArbGG). C. Deutsche Demokratische Bepublik M i t dem am 15. Oktober 1952 (GBl. S. 985) i n K r a f t getretenen Gesetz über die Verfassung der Gerichte der DDR (GVG DDR) wurde das seit 1879 i n Deutschland geltende Gerichtsverfassungsgesetz außer K r a f t gesetzt. Durch das Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Gerichtsverfassungsgesetzes der DDR vom 1. Oktober 1959 (GBl. S. 753) und durch das Gesetz über die Wahl der Richter vom gleichen Tage wurden Teile des Gerichtsverfassungsgesetzes entscheidend verändert. M i t dem „Erlaß über die grundsätzlichen Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Rechtspflege" vom 4. A p r i l 1963 (GBl. S. 21) leitete der Staatsrat eine weitere Justizreform ein, i n der eine deutliche Angleichung des Rechtswesens an das sowjetische Vorbild erkennbar wird. Die Gerichtsverfassung wurde durch das Gesetz vom 17. A p r i l 1963 (GBl. S. 45) erneut verändert: I n der Präambel dieses neuen Gesetzes w i r d hervorgehoben, „daß das Recht keine anderen Ziele verfolge und keine anderen Gesetzmäßigkeiten kenne als die sozialistische Gesellschaftsordnung selbst; da sich die Verbundenheit der Bürger m i t dem sozialistischen Recht immer mehr festige, werde auch eine engere Verbindung der Rechtspflege m i t dem Volk und den Aufgaben des umfassenden sozialistischen Aufbaus erforderlich". Dem trägt konsequenterweise eine Stärkung des Laienelements i n der Rechtspflege Rechnung, die primär gesellschaftspolitisch und erst sekundär justizpolitisch zu verstehen ist.

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Ehrenamtliche Laienrichter (vgl. §§ 61 ff. GVG DDR) wirken m i t i n den Kammern für Straf-, Zivil-, Familien- und Arbeitsrechtssachen bei den Kreisgerichten, ferner bei den für die erstinstanzlichen Sachen zuständigen Senaten der Bezirksgerichte sowie i m Senat für Arbeitsrechtssachen des Obersten Gerichts der DDR. Diese Kammern und Senate entscheiden m i t einem Berufsrichter als Vorsitzendem und zwei Schöffen; der Arbeitsrechtssenat beim Obersten Gericht entscheidet m i t einem Oberrichter, einem weiteren Berufsrichter und drei Schöffen. Den Berufungssenaten der Bezirksgerichte und den sonstigen Senaten des Obersten Gerichts gehören keine Schöffen an. Anzumerken ist ferner, daß i n der Militärgerichtsbarkeit sog. Militärschöffen mitwirken. Zu politisch oder wirtschaftspolitisch besonders wichtigen Verfahren können die Schöffen ohne Beachtung der sonst üblichen gesetzlichen Reihenfolge ausgesucht werden. Schöffen sind auch i n den Rechtsauskunftsstellen der Kreisgerichte tätig. Ferner wirken die Schöffen i m Strafprozeß auch außerhalb der Hauptverhandlung mit, und zwar am Beschluß über die Eröffnung oder die Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens, an Beschlüssen über Strafaussetzung zur Bewährung oder deren Widerruf, an Beschlüssen über Umwandlung von Geldstrafen i n Freiheitsstrafen und schließlich über Abschluß oder Widerruf der Bewährungszeit bei Verurteilung auf Bewährung. Die Schöffen werden für vier Jahre durch die örtlichen Volksvertretungen gewählt; die Wahlen werden zusammen mit den Wahlen der Richter durchgeführt. Für das Schöffenamt gelten dieselben Voraussetzungen wie für das Richteramt: „Die Schöffen müssen nach ihrer Persönlichkeit und Tätigkeit die Gewähr dafür bieten, daß sie ihre Funktion gemäß den Grundsätzen der Verfassung und den Gesetzen ausüben, sich für den Sozialismus einsetzen und der Arbeiter-und-Bauern-Macht treu ergeben sind." Gewählt werden kann grundsätzlich jeder Bürger, der das Wahlrecht besitzt und das 25. Lebensjahr vollendet hat. Die Anzahl der für jedes Kreis- und Bezirksgericht zu wählenden Schöffen w i r d vom Justizminister bestimmt; die Zahl der Arbeitsrechtsschöffen beim Obersten Gericht setzt dessen Präsident fest. A u f einen Berufsrichter sollen 50 bis 60 Schöffen entfallen, so daß bei den Kreisgerichteni etwa 45 000 Schöffen zu wählen sind; bei den Bezirksgerichten etwa 3000. Die Schöffen sollen an 12 aufeinanderfolgenden Tagen i m Jahre an der Rechtsprechung mitwirken; berufliche oder materielle Nachteile dürfen dadurch nicht entstehen; Verdienstausfall w i r d entschädigt. Die gesellschaftspolitische Funktion der Schöffen w i r d auch organisatorisch sichtbar:

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a) eine Schöffenkartei soll Aufschluß über ihre Beteiligung an der Rechtsprechung, der Schulung und der politischen Massenarbeit geben; b) alle Schöffen, die beruflich in demselben Betrieb tätig sind, werden in diesem Betrieb zu Schöffen-Kollektiven zusammengefaßt. Zu den Aufgaben dieser Kollektive gehören u. a. „ M i t w i r k u n g bei der moralisch-politischen Erziehung eines Verurteilten, Bearbeitung politischer und justizpolitischer Fragen, Organisierung von Justizaussprachen, Agitation unter den Kollegen zu wichtigen Schwerpunktfragen der Politik von Partei und Regierung über das sozialistische Recht", — vgl. Neue Justiz 1959 S. 363 —; c) die Schöffen sollen i n den Wohngebieten und Betrieben an der Auswertung von Strafverfahren teilnehmen, die Ursachen und Bedingungen von Straftaten überwinden helfen, die kollektive Erziehung von straffällig gewordenen Bürgern und die Wiedereingliederung entlassener Strafgefangener in das gesellschaftliche Leben unterstützen, den gesellschaftlichen Organen der Rechtspflege Hilfe bei der Beratung und Entscheidung von nicht erheblich gesellschaftswidrigen Vergehen gewähren (§ 52 StPO DDR); d) als absolutes Novum verdient die sog. „Gerichtskritik" hervorgehoben zu werden: Ein Gericht hat durch begründeten Beschluß K r i t i k an Mängeln zu üben, die es i m Zusammenhang m i t einem Gerichtsverfahren bei anderen Organen der Rechtspflege, Organen der staatlichen Verwaltung sowie sozialistischen Einrichtungen und Betrieben feststellt; die Gerichtskritik kann sich sowohl auf Gesetzesverletzungen wie auf solche Umstände erstrecken, die die Begehung von Straftaten und anderen Gesetzesverletzungen begünstigen; der Leiter der kritisierten Institution ist verpflichtet, binnen zwei Wochen dem Gericht gegenüber Stellung zu nehmen; die der kritisierten Institution vorgesetzte Stelle ist vom Gericht über die K r i t i k zu informieren (§ 9 GVG DDR); die Schöffen sind verpflichtet, zur K r i t i k beizutragen (§ 52 StPO DDR). Erweist sich ein Schöffe nach alledem als „ungeeignet", so kann er auf Vorschlag des Gerichtsleiters von der zuständigen Volksvertretung abberufen werden.