Verwaltung und Verwaltungspolitik: Vorträge und Diskussionsbeiträge der 50. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1982 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.] 9783428453078, 9783428053070

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Verwaltung und Verwaltungspolitik: Vorträge und Diskussionsbeiträge der 50. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1982 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.]
 9783428453078, 9783428053070

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Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 90

Verwaltung und Verwaltungspolitik Vorträge und Diskussionsbeiträge der 50. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1982 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Herausgegeben von

Carl Böhret Heinrich Siedentopf

Duncker & Humblot · Berlin

Verwaltung und Verwaltungspolitik

S c h r i f t e n r e i h e der H o c h s c h u l e Speyer Band 90

Verwaltung und Verwaltungspolitik Vortrage und Diekuseionebeiträge der 50. Staatewissenechaftlichen Fortbildungstagung 1982 der Hochschule für Verwaltungewiesenschaften Speyer

herausgegeben von

Carl Bohret Heinrieh Siedentopf

DÜNCKER

&

HÜMBLOT

/

BERLIN

Alle Rechte vorbehalten © 1983 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1983 bei Berliner Buchdmckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 05307 9

Vorwort Die erste Staatswissenschaftliche Fortbildungstagung der — damals noch Akademie genannten — Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer vom 2. bis 31. J u l i 1947 behandelte das Thema „ArbeitsVerwaltung, Kommunalverwaltung, allgemeine Verwaltung". Inzwischen hat die Hochschule insgesamt 50 Staatswissenschaftliche Fortbildungstagungen m i t einem breiten Spektrum von Themen zu dem gemeinsamen Gegenstand „Staat und Verwaltung" veranstaltet. Die 50. Staats wissenschaftliche Fortbildungstagung m i t dem Thema „Verwaltung und Verwaltungspolitik" w i l l die Wechselwirkungen zwischen politischer Führung und öffentlicher Verwaltung unter Einschluß sich ändernder gesellschaftlicher und sozio-ökonomischer Bedingungen behandeln. Die Hochschule hat dieses Thema i n seinen verschiedenen Sichtweisen i n Referaten und Beiträgen ausschließlich von Mitgliedern ihres Lehrkörpers, ihrer Professoren, Honorarprofessoren und Lehrbeauftragten, dargestellt. Diese Staatswissenschaftliche Fortbildungstagung vom 28. bis 30. A p r i l 1982 wurde durch die Gegenwart des Herrn Bundespräsidenten, Prof. Dr. K a r l Carstens, und die Eröffnung durch den Herrn Ministerpräsidenten des Landes Rheinland-Pfalz, Dr. Bernhard Vogel, ausgezeichnet. Über 320 Teilnehmer besuchten die Fortbildungstagung. Carl Bohret

Heinrich Siedentopf

Inhaltsverzeichnis

Eröffnung Begrüßung durch den Rektor der Hochschule f ü r schaften Speyer, Prof. Dr. H e l m u t Quaritsch

Verwaltungswissen-

Ansprache des Ministerpräsidenten des Landes Rheinland-Pfalz, Bernhard Vogel

Erster

11 Dr. 17

Teil

Verwaltungspolitik in verändertem Umfeld I. Referate 1. Verwaltungspolitik als Reaktion auf gesellschaftliche Bindungen u n d politische Freiräume der V e r w a l t u n g V o n Carl Bohret 27 2. Verwaltungsinterne Reaktionen auf verwaltungspolitische Vorgaben V o n Heinrich Siedentopf IL Beiträge:

Das „Bild"

der

47

Verwaltung

1. Erwartungshaltung u n d VerwaltungsVerdrossenheit der Bürger V o n H e l m u t Klages

57

2. Das B i l d der V e r w a l t u n g i n den Medien Von Willibald Hilf

63

3. Selbstentwicklung der V e r w a l t u n g V o n Frido Wagener

71

4. V e r w a l t u n g des Mangels V o n Klaus Lüder

79

5. Verwaltungspflege durch politische F ü h r u n g Von H e l m u t Quaritsch

85

III.

Diskussion

Bericht von Michael Fuchs

91

8

Inhaltsverzeichnis Zweiter

Teil

Verwaltungspolitik als Instrument zur Erfüllung und Finanzierung öffentlicher Aufgaben I. Referate 1. Sozialstaatlichkeit: Neubesinnung bei knappen Ressourcen Von Detlef Merten 2. Ungleichgewichte i n der finanzpolitischen verfassungistheoretischen Konsequenzen Von Hans Herbert von A r n i m

97

Willensbildung u n d ihre 109

3. Staatsverschuldung als Begrenzung für öffentliches Handeln Von Dieter Duwendag

117

4. Z u r Problematik einer Konsolidierung der öffentlichen Haushalte Von Konrad Littmann

131

II. Beiträge: Übernahme oder Selbstentwicklung durch die Verwaltung

öffentlicher

Aufgaben

1. Einleitung V o n Heribert Bickel

139

2. Generelle Analyse Von Waldemar Schreckenberger

143

3. Exemplarischer Bereich Arbeitsmarkt Von Josef Stingi

147

4. Exemplarischer Bereich Gesundheit Von Hans-Joachim Jahn

151

5. Exemplarischer Bereich Nahverkehr Von Gottfried Schmitz

161

III.

Diskussion

Bericht von Else Kirchhof u n d Wolf gang Schmidt-Streckenbach

Dritter

171

Teil

Personalpolitik als Teil der Verwaltungspolitik I. Referate 1. Herausforderungen i m Rückblick. Neuaufbau u n d Wandel des öffentlichen Dienstes nach 1945 Von Rudolf Morsey

177

2. öffentlicher Dienist und Bildungspolitik V o n Klaus K ö n i g

189

Inhaltsverzeichnis

9

3. öffentlicher Dienst als Manövriermasse der Politik? Von Heinrich Siedentopf

213

4. A u s w i r k u n g e n der Politisierung des öffentlichen Dienstes Von Hans Herbert von A r n i m

219

II. Beiträge:

Spielräume

für

Personalpolitik?

1. Bestandsaufnahme V o n Manfred Lepper

231

2. Entfaltungschancen f ü r Personalpolitik Von Gerhard Banner

239

3. Dienstrechtliche Aspekte Von Heinrich Siedentopf

243

III.

Diskussion

Bericht von Karsten Ruppert und Werner Jann

Vierter

247

Teil

Verwaltungspolitik als Organisationsgestaltung I. Referate 1. Änderungen von Verwaltungsstrukturen — Über Verfahren u n d Zuständigkeiten Von Frido Wagener

253

2. Änderung von Verwaltungsstrukturen unter Wirtschaftlichkeitsdruck Von Alois Schreiner 263 3. Erzeugung und Einbindung von Innovationen V o n H e l m u t Klages

273

4. Kooperationsprobleme von Wissenschaft u n d Verwaltungspraxis Von Heinrich Reinermann

281

IL Beiträge: Änderung von Organisation und Verfahren: Zur Praxis der Organisationsentwicklung 1. Z u r Praxis der Organisations entwicklung V o n Gerhard Banner

305

2. Änderung von Organisation u n d Verfahren: Z u r Praxis der Organisationsentwicklung Von Eberhard L a u x 309 3. Chancen für Organisationsreformen Von Ernst Pappermann

i n der K o m m u n a l Verwaltung? 313

10 III.

Inhaltsverzeichnis Diskussion

Bericht von W i l f r i e d Frankenbach

325

Schluß Schlußwort von Prof. Dr. Carl Bohret

331

Schlußwort von Prof. Dr. Heinrich Siedentopf

333

Begrüßung durch den Rektor der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Prof. Dr. Helmut Quaritsch

Herr Bundespräsident, Herr Ministerpräsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Seien Sie herzlich willkommen zur 50. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung. W i r freuen uns und fühlen uns geehrt, daß Sie zu unserem goldenen Tagungsjubiläum gekommen sind. Viele Teilnehmer haben nicht zum ersten Male das Speyerer Fortbildungsangebot angenommen und wissen, daß jedenfalls unsere große „Staatswissenschaftliche Fortbildungstagung" nur einmal i m Jahr, nämlich i m Frühjahr, stattfindet. W i r haben dennoch richtig gezählt. I n den ersten Jahren, zwischen 1947 und 1957, veranstaltete die Hochschule 25 Staatswissenschaftliche Fortbildungstagungen, 1958 erst wurde der Jahresrhythmus eingehalten. Nicht etwa, weil die deutsche Verwaltung und Speyer fortbildungsmüde geworden wären. Die Hochschule hat damals nur ihr Angebot differenziert. I n den ersten Jahren deckte sie den Bedarf an Fortbildung, wo er auftrat: 1947 und 1948 durch 14tägige Kurse für Leiter von Arbeitsämtern, 1949 fünf Tagungen für Bedienstete der Frankfurter Institutionen der Verwaltung des „Vereinigten Wirtschaftsgebiets", die zur Übernahme i n Bonn anstanden. Seit 1950 wurden die „Kurse" auf halbwöchige „Tagungen" verkürzt, weil eine längere A b wesenheit der Teilnehmer auf verständlichen Widerstand bei den Entsendebehörden stieß. Zugleich wurden die Tagungen personell geöffnet: Adressat war nicht mehr ein bestimmter Verwaltungszweig, sondern die deutsche Verwaltung schlechthin i n Bund, Ländern und Gemeinden, angesprochen waren nicht nur Verwaltungsbeamte, sondern auch Richter und Hochschullehrer. Die Themen wurden allgemeiner, „staatswissenschaftlicher", 1951 „Verwaltungsreform", 1953 „Die öffentliche Verwaltung und die Verwaltungsgerichtsbarkeit", 1958 „Europäische Organisationen", 1959 „Kommunale Finanzen". Der damals eingeführte Jahresrhythmus für die Staatswissenschaftliche Fortbildungstagung ergab sich aus der Erfindung einer zweiten Tagungsform: die „Verwal-

12

Begrüßung

tungswissenschaftliche Arbeitstagung" trat seit 1957 jährlich neben die Staatswissenschaftliche Fortbildungstagung. A u f den Arbeitstagungen werden seither spezielle Probleme der Verwaltung und der Verwaltungsgerichtsbarkeit von den interessierten Professoren der Hochschule und sachkundigen Persönlichkeiten der Praxis des In- und Auslandes aufgearbeitet. Inzwischen haben 22, davon 13 internationale Arbeitstagungen stattgefunden, 1963 über „Stadterneuerung und Eigentumsordnung", 1966 über die „Staatskanzleien", 1971 über „Aktuelle Probleme der Ministerialorganisation". Die Internationalen Arbeitstagungen führten Verwaltungswissenschaftler aus Europa und Übersee nach Speyer und begründeten den Ruf der Hochschule jenseits der Grenzen. Ich erwähne die Arbeitstagungen i n diesem Zusammenhang, w e i l sie zu den Ursachen zählen, die unsere Fortbildungstagungen überleben ließen. „Fortbildung" war nämlich i n den 50er und noch zu Beginn der 60er Jahre keineswegs ein selbstverständlicher Bestandteil des Berufslebens. Diesen Rang erhielt die Fortbildung erst um die Mitte der 60er Jahre, als die Diskussion über das Stichwort „Bildungskatastrophe" auch die Weiterbildung erfaßte, als Postulat der Bildungsgesellschaft anerkannt und durch Gründung entsprechender Institutionen realisiert wurde, ζ. B. 1969 für die Bundesverwaltung durch die „Bundesakademie für öffentliche Verwaltung". Einige Jahre zuvor sah es noch ganz anders aus, auch international. U m 1960 etwa endete die französische Fortbildung i m 1945 gegründeten „Centre des Hautes Etudes Administratives"; erst 1972 nahm eine neue Institution die Fortbildung des höheren Dienstes wieder auf. Dieses Beispiel läuft m i r nicht zufällig über den Weg. Die Hochschule Speyer ist von der französischen Besatzungsmacht 1947 als „Höhere Verwaltungsakademie" gegründet worden, u m Beamte des Höheren Dienstes für die Länder der französischen Besatzungszone auszubilden; ihr Gründungsstatut, die Verfügung Nr. 164, ist i m „Journal Officiel" der Besatzungsmacht vom 11.2.1947 abgedruckt. Vorbild war die 1945 gegründete „École Nationale d'Administration"; die ENA aber war verbunden mit jenem Fortbildungszentrum. Angesichts dieser französischen Muster und Vaterschaft überrascht es nicht, daß i m ersten Vorlesungsverzeichnis der Hochschule ihr erster Rektor, Hermann Haußmann, die Einrichtung von „Fortbildungskursen" mitteilt. Haußmann verwies allerdings nicht auf das französische Vorbild, sondern auf „eine alte Fortbildungstradition" der deutschen Verwaltung. Das Immergrün der Speyerer Fortbildungstagungen mag i n dieser deutschen Tradition wurzeln. Eine zweite Wurzel ist aber wohl jene Eigenart der Speyerer Hochschule gewesen, die sie schon beim Start von der ENA unterschied. Die ENA war eine Stätte allein der Ausbildung, an ihr lehrten fast ausschließlich aktive Verwaltungsbeamte, die einmal i n der Woche ihre

Begrüßung

Schreibtische i m Rechnungshof oder Finanzministerium für zwei Stunden m i t dem ENA-Katheder i n der Rue de St. Pères vertauschten, um Verwaltung aus erster Hand, aber nebenamtlich zu lehren. Der französischen Militärregierung mochte für die „Höhere Verwaltungsakademie" ähnliches vorgeschwebt haben. Aber da es i n Speyer an der für Paris typischen Akkumulation der Ministerialdirektoren fehlte, kamen die vier Gründungsprofessoren zum Zuge, die Juristen Hermann Haußmann und Erich Becker, der Nationalökonom Albert Hesse und der Philosoph Arnold Gehlen. Für sie war die Lehre nicht zu trennen von der Forschung und so gestalteten sie die Akademie i m ersten A n t r i t t zur „Verwaltungswissenschaftlichen Hochschule". „Sie ist", so schrieb der ehemalige Regierungspräsident Haußmann 1947 i m ersten Vorlesungsverzeichnis, eine „staatliche Hochschule . . . m i t ordentlichen und außerordentlichen Professoren . . . aber sie ist keine Universität, sondern eine zur Fortführung und Anwendung der Universitätsstudien auf die Verwaltungspraxis bestimmte Akademie. Sie ist nichts anderes als der frühere Referendarunterricht der Ausbildungszeit, nur systematisch ausgestaltet und wissenschaftlich vertieft und deshalb an eine Hochschule verlegt m i t Lehrzielen, die auf die Praxis ausgerichtet sind". Die von Haußmann erwähnte „wissenschaftliche Vertiefung" stand für die selbständige verwaltungsbezogene Forschung, und trotz der kaum vorstellbaren Schwierigkeiten der Anfangszeit können sich die ersten Publikationen der Schriftenreihe der Hochschule auch heute noch sehen lassen. Die eigentümliche und einzigartige Verbindung von postuniversitärer und berufspraktischer Ausbildung m i t der verwaltungswissenschaftlichen Forschung ist es gewesen, die dem Speyerer U n i k u m die Überleitung i n das bundesrepublikanische System der Juristenausbildung und die gemeindeutsche Trägerschaft durch Bund und Länder ermöglichte; als bloße Ausbildungsstätte für Regierungsreferendare wäre sie verloren gewesen. Erhalten blieb die für eine wissenschaftliche Hochschule ungewöhnliche Zusammensetzung des Lehrkörpers aus Wissenschaftlern und Praktikern. I m Sommersemester 1982 verzeichnen w i r für 387 Hörer 15 Lehrstuhlinhaber als hauptamtliche und aus der Praxis sechs Honorarprofessoren sowie 30 Lehrbeauftragte als „Verwaltungswissenschaftler i m Nebenamt". Die m i t dem Ausbau der Hochschule immer kräftiger sprudelnde Quelle verwaltungswissenschaftlicher Forschungen vermittelte unserer Fortbildung ständig neue Impulse und bewahrte sie vor den Untiefen eines auf handwerkliche Techniken verengten Kurs- und Wiederholungssystems. Neugier, Sensibilität und Nachdenkzeit des hauptamtlichen Wissenschaftlers kamen der Wahl der Themen wie ihrer A u f arbeitung zugute. Allerdings ist die Speyerer Fortbildung nie eine akademische Veranstaltung zur Belehrung von Praktikern gewesen. Pro-

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Begrüßung

blemfindung, Initiative und Organisation lagen bei der Hochschule, aber die Referenten kamen überwiegend aus der Praxis. Die staatswissenschaftliche Fortbildung blieb deshalb der Wirklichkeit stets auf den Fersen, Kompetenz und Rang der Referenten garantierten Informationen aus erster Hand. Gleichwohl war die Speyerer Fortbildung keine Einbahnstraße. Kein Teilnehmer war zur Fortbildungstagung abgeordnet worden, jeder kam aus Interesse und freiem Entschluß und brachte die Vorstellungen und Erfahrungen der eigenen Praxis m i t und ein i n die Diskussion. Es ist daher kein Referent aus Speyer wieder nach Hause gefahren, kein Speyerer Professor an den Hochschulschreibtisch zurückgekehrt, der nicht auch, und zwar durch seine Hörer, fortgebildet worden wäre. Fortbildungstagungen und verwaltungswissenschaftliche Arbeitstagungen ließen sich daher nach Methode und Ertrag nie scharf absetzen; auf beiden begegneten sich die Vertreter von Wissenschaft und Praxis, tauschten Einsichten und Erfahrungen, Überlegungen und Wünsche aus, ohne daß jemals das Gefühl hochkam, hier würden bemüht und mühselig Laufstege zwischen Theorie und Praxis errichtet. Theorie und Praxis sind i n Speyer nur Ortsangaben für Ideen und Realisationen gewesen, niemals aber Kennzeichen von Denkeinstellungen oder Berufsgruppen: Auf den Tagungen dieser Hochschule trafen sich immer nur praktische Wissenschaftler m i t wissenschaftlichen Praktikern. Kein Zweifel aber, daß Lehre und Lehrer dieser Hochschule aus der ständigen Begegnung m i t den Praktikern der Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit Anstoß und Anschauung gewannen: Unsere Tagungen sind auch für uns stets ein Prüfstein für Richtigkeit und Durchsetzbarkeit von Einsichten und Forderungen gewesen. Das gilt besonders für unsere Fortbildungstagungen. Da an ihnen Angehörige aller Zweige und Ebenen der Verwaltung und der Gerichtsbarkeiten teilnehmen, alle Ränge vom Assessor bis zum Staatssekretär und Chefpräsidenten, und alle deutschen Verwaltungs-Landschaften zwischen Flensburg und Berchtesgaden, Berlin und Konstanz repräsentiert waren, trugen diese Tagungen immer den Charakter gemeindeutscher Testläufe für verwaltungswissenschaftliche Projekte. A u f den Fortbildungstagungen wurden zugleich die Grenzen der Ressorts, der Länder wie der Ebenen überwunden; den Teilnehmern wurde bewußt, daß sie alle i n einem zwar hochkomplexen und ausdifferenzierten, aber doch i n einem Bau arbeiten, dessen Grundriß für alle derselbe ist. Die zugleich entstehenden persönlichen Kontakte verbinden Verwaltungsbeamte, Richter und Hochschullehrer, die sich in dieser Weise nirgendwo sonst begegnen würden, zu einer Kollegialität, deren Wirkungen zwar insgesamt nicht meßbar, die für Verwaltung, Gerichtsbarkeiten und Universitäten aber gewiß nicht negativ zu veranschlagen sind.

Begrüßung

Diese Begegnungen mit ihrem ständigen Austausch von Ideen und Erfahrungen kamen unseren Referendaren zugute. Es sind mittlerweile 13 500 deutsche Juristen, die i n Speyer drei Monate lang verwaltungswissenschaftlich trainiert worden sind. Und genutzt haben der Hochschule die seit 1947 gesammelten Fortbildungserfahrungen, als w i r 1971 diesen Zweig unserer Arbeit kräftiger ausbauten, nämlich durch drei Wochen „Eingangsseminare" für Regierungsräte ζ. Α., sowie durch „Führungsseminare" für die Ränge der Oberregierungsräte, Regierungsdirektoren und Ministerialräte, die i n zwei Jahren vier Wochen bei uns sind, u m sich systematisch fortbilden zu lassen. A u f diese Weise erhielten mittlerweile über 1200 Beamte des höheren Dienstes der Länderverwaltungen i n Speyer ihren verwaltungswissenschaftlichen Nachschliff. Die Hochschule hat deshalb auch i n der vorlesungsfreien Zeit, den sog. Semesterferien, stets ein volles Haus. Diese Bilanz nach 35 Jahren Hochschule und 50 Fortbildungstagungen stimmt uns zufrieden. Die Umwelt dieser Hochschule scheint diese Selbsteinschätzung zu teilen. So jedenfalls interpretiere ich die A n wesenheit des Staatsoberhauptes der Bundesrepublik Deutschland, des Ministerpräsidenten des Landes Rheinland-Pfalz und vieler anderer Repräsentanten und führenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, der Parlamente und Regierungen, der Verwaltung und der Gerichte, der Universitäten und Fachhochschulen. Alle, die an der Hochschule Speyer lehrten und lernten, fühlen sich durch Ihre Anwesenheit ausgezeichnet. Besonders freuen w i r uns natürlich, daß Sie, Herr Bundespräsident, wenigstens für einen Hubschraubersprung nach Speyer gekommen sind. Lehre und Praxis, die i n der Hochschule institutionell verbunden sind, haben Sie i n Ihrer Person vereinigen können: Sie sind seit Ihrer Habilitation für Öffentliches Recht und Völkerrecht 1952 M i t glied der Staatsrechtslehrer-Vereinigung, seit 1960 Ordentlicher Professor an der Universität Köln, und Sie waren zugleich i m Hauptamt viele Jahre, nämlich von 1949 bis 1969, ein Mann der Verwaltung: als Bevollmächtigter Bremens i n Bonn, als Leiter der Deutschen Vertretung beim Europarat, als Abteilungsleiter und beamteter Staatssekretär i m Auswärtigen Amt, i m Verteidigungsministerium und schließlich i m Bundeskanzleramt. Damit standen Sie 20 Jahre an der Drehtür zwischen Regierung und Verwaltung. Eigentlich, Herr Bundespräsident, müßten Sie zum Thema „Verwaltung und Verwaltungspolitik" das Hauptreferat halten. Sie können aber sicher sein, Herr Bundespräsident, daß einige Ihrer unkonventionellen Überlegungen, die Sie 1971 i n Ihrem großen verwaltungswissenschaftlichen Erfahrungsbericht über „Politische Führung" festgehalten haben, auch während dieser Tagung aufgegriffen werden.

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Begrüßung

Ihnen, Herr Ministerpräsident Vogel, danke ich für Ihre Bereitschaft, die Tagung zu eröffnen. Als 1950 das Schicksal der Verwaltungsakademie ausgewürfelt wurde, besaß Rheinland-Pfalz den Mut, dieses Besatzungskind, ein Fremdling und Findelkind i m deutschen Bildungssystem, zu adoptieren. W i r verkennen nicht die große Last, die Rheinland-Pfalz damals auf sich nahm: Der Hochschuletat ist von 307 000 D M i m Jahre 1950 auf 7,5 M i l l , i m Jahre 1982 gestiegen. Die Bürger dieses Landes zahlen also viel Geld für eine Hochschule, die Referendare und Beamte aller Bundesländer aus- und fortbildet. Für die Hochschule möchte ich erklären: W i r wissen u m unsere Verpflichtung gegenüber dem Land und seinen Bürgern. Diese Hochschule w i r d auch künftig der zentrale Ort für die verwaltungswissenschaftliche Lehre, Forschung und Fortbildung i n Deutschland bleiben. Damit w i r d sie ihre Pflichten gegen Staat und Bürger gewiß am besten erfüllen.

Eröffnung Ansprache des Ministerpräsidenten des Landes Rheinland-Pfalz Dr. Bernhard Vogel Sehr verehrter Herr Rektor, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte unsere Freude, daß der Herr Bundespräsident heute unter uns ist, ausdrücken, und Sie namens der ganzen Bevölkerung des Landes Rheinland-Pfalz sehr herzlich hier bei uns willkommen heißen. Ich freue mich sehr, daß diese Hochschule i n Speyer der Anlaß Ihres heutigen Besuches ist, eine Hochschule — es klang gerade eben schon an —, der w i r uns i n besonderer Weise verbunden fühlen. Diese 50. Staatswissenschaftliche Fortbildungstagung i n Speyer ist für mich ein Anlaß, der Hochschule für Verwaltungswissenschaften, einer Hochschule besonderer A r t , i m 35. Jahre ihres Bestehens besonderen Dank zu sagen. Ich w i l l das i n erster Linie für das Land Rheinland-Pfalz tun, aber doch auch für die Gemeinschaft der deutschen Bundesländer. Wenn w i r über das Maß der finanziellen Beteiligung der anderen zehn Bundesländer auch gegenwärtig i m Gespräch sind, so sind w i r doch sehr froh, daß auch diese Gemeinschaftseinrichtung des Bundes und der Länder sich i n einer so vorbildlichen Weise bewährt und sich der Föderalismus durchaus als leistungs- und handlungsfähig bewiesen hat. Ich möchte mich bedanken für die beachtliche Leistung, eine i m Nachkriegsdeutschland von 1947 aufgenommene Veranstaltungsreihe ohne Unterbrechung bis zum heutigen Jubiläum durchzuhalten, und mein Respekt gilt der wissenschaftlichen Phantasie und dem Gespür für Strömungen, dem Talent, immer die richtigen Themen zu finden zwischen Wissenschaft und Praxis und zwischen Praxis und Wissenschaft. Die Teilnehmerzahlen dieser Veranstaltung sprechen für sich. 1947 sollen es 40 Teilnehmer gewesen sein, die allerdings 29 Tage lang hier bleiben durften, i n den 50er Jahren hat sich die Teilnehmerzahl auf 200 bis 400 eingependelt und dabei ist es bis heute geblieben. Dabei soll neben der Thematik das integrierende Element nicht verschwiegen werden, das hinter dieser Tagung steht: Man t r i f f t sich i m Frühjahr i n 2 Speyer 90

18

Eröffnung

Speyer, sagt man i n vielen deutschen Verwaltungen. Wobei natürlich die akute Gefahr der Entstehung „vertikaler Fachbruderschaften" zwischen Bund, Ländern und Gemeinden von den Veranstaltern gewiß m i t i n Kauf genommen wird. Daß sie sicherlich auch i n hohem Maße durch die reguläre Ausbildung künftiger Verwaltungsbeamter geprägt wird, spricht aus der Atmosphäre dieses Hauses, i n dem w i r hier sind. Ich danke der Hochschule bei dieser Gelegenheit vor allem für die einschlägigen Forschungen und entsprechenden Veröffentlichungen. Ich meine die Schriftenreihen und die Speyerer Forschungsberichte, die maßgebliche Beteiligung an der Herausgabe von Fachzeitschriften. Es gehört zu meinen großen Sorgen, daß i n Deutschland zu wenig geforscht wird, insbesondere, daß die Überbelastung deutscher Universitäten m i t der Ausbildungsaufgabe die Gefahr der zwangsweisen Vernachlässigung der Forschung heraufbeschwört. Darum ist dieses Ausnahmebeispiel Speyer als Zeichen so dringend notwendig, und darum muß man hier so deutlich sagen, wie erfreulich es ist, daß sich schließlich Gelehrte von hohem Rang i n Deutschland finden, die ausdrücklich auch, weil sie forschen wollen, an die Hochschule i n Speyer gehen. W i r sollten darüber nachdenken, daß dies nicht nur i m Verwaltungsbereich, sondern vor allem auch i m technischen und naturwissenschaftlichen Bereich i n höherem Maße als es gegenwärtig möglich ist i n Deutschland wieder die Regel wird. Sie haben die diesjährige Fortbildungstagung unter das Leitwort „Verwaltung und Verwaltungspolitik" gestellt. Diese Formulierung läßt Anspruch und Hoffnung der Veranstalter erahnen, das große Thema Verwaltung nicht nach Sektoren, sondern umfassend i n den Griff zu bekommen. Das zu versuchen, dazu besteht meines Erachtens hinreichend Anlaß, nicht nur wegen des Jubiläums. W i r stehen vor Aufgaben und Problemen, die Selbstbesinnung über den Weg und über unsere Möglichkeiten dringlich machen i n vielen Bereichen, aber eben auch i n der Verwaltung. „Verwaltung und Verwaltungspolitik" ist zweifellos ein reizvolles Thema für Wissenschaftler und für Angehörige der öffentlichen Verwaltung. Es ist aber vom Ansatz her eigentlich ein zentrales Thema für Politiker, insbesondere für diejenigen, denen i n der gegenwärtigen Zeit politische Führung übertragen wird. Denn es geht dabei ja wohl u m folgende Frage: Wie soll man zur Bewältigung der Zukunftsprobleme, aber auch der immer komplexeren Alltagsaufgaben, das Gestaltungsinstrument Verwaltung einsetzen? Wie w i r d es organisiert, wie w i r d es motiviert, wie w i r d es reformiert, vielleicht aber auch geschützt werden? Das — meine ich — ist die Frage, die uns beschäftigt und von der ich hoffe, daß Sie Antworten dazu finden. Ich bitte alle Teilnehmer dieser Tagung unabhängig davon, ob sie selbst unmittelbar politische Verantwortung tragen, ob sie i n der Wissenschaft oder i n der

Eröffnung

19

Verwaltung tätig sind, bei ihren Fragen und Diskussionsbeiträgen diesen zentralen Ansatz des Themas dieser Tagung vor Augen zu haben. Wie jedes politische Handeln ist das Verwaltungsprinzip nicht losgelöst vom politischen und gesellschaftlichen Umfeld zu sehen. Deswegen lassen Sie mich, bevor ich auf ein paar Einzelfragen eingehe, einige Worte zu diesem heutigen Umfeld sagen. Die Erinnerung an 1947 hat die Nachkriegszeit schon erwähnt. Und wie erschütternd die Folgen des Zweiten Weltkrieges auch waren, w i r müssen uns bewußt machen, daß die Mehrheit der heute i n Deutschland lebenden Bürger nach dem Zweiten Weltkrieg geboren sind. W i r müssen uns bewußt machen, daß für sie und für uns die Jahrhundertwende näher ist als der Abstand zum Wiederaufbau unseres Vaterlandes. Das heißt, w i r müssen uns bewußt machen, daß die Welt und auch unser Land ihr Gesicht verändert haben. Die 50jährigen, die meist nicht das Wort haben i n Deutschland, t u n gut daran, sich dessen bewußt zu sein, damit sie nicht von etwas reden, was die Mehrheit der Bevölkerung nicht als Bezugspunkt sieht. Nach der Aufbauphase herrschte i n der Bundesrepublik Deutschland Aufbruchstimmung. Wandel und Reform waren die am häufigsten gebrauchten Worte. Unsere heutige Situation zu Beginn der 80er Jahre ist anders. Sie ist gekennzeichnet durch viel Kleinmut, durch viel Ängstlichkeit und durch viel Resignation. Die Menschen i n unserem Land sagen zwar, daß es ihnen gut geht, aber die große Mehrheit fügt hinzu, daß sie vor der Zukunft Sorge hat, und das ist eine veränderte Gegenwartssituation. Die Mühsal des gegenwärtigen Alltags w i r d nämlich nur i n der Hoffnung auf eine bessere Zukunft bestanden. Es ist bedeutsam, daß die Menschen heute die Zufriedenheit m i t der Gegenwart überschattet sehen von der Angst vor der Zukunft. Das ist die eigentliche Veränderung, daß man den Mangel i n der Hoffnung auf die Zukunft erträgt und daß man heute den Wohlstand oder die Gesichertheit aus Angst vor der Zukunft m i t Ratlosigkeit und Zweifel überschattet sieht. Dazu gehört auch, daß für viele, vor allem für jüngere, unsere Staatsordnung nicht mehr fraglos selbstverständlich ist als Ordnung, die man mitträgt, i n der man menschlich leben kann. Es gibt Menschen, die dieses Bewußtsein nicht mehr selbstverständlich haben. Es scheint m i r unabdingbar, daß w i r uns bei aller alltäglichen Geschäftigkeit auf die geistigen Grundlagen unserer Staatsform besinnen. Wehe uns allen, wenn w i r das über den Tagesgeschäften vergäßen. Der Staat ist durch seine Aufgabenfülle und die Fülle der Ansprüche der Bürger an den Staat heute fraglos überfordert. Er ist zunehmend nicht mehr i n der Lage, sich aus selbst geschaffenen, meistens jedenfalls selbst geschaffenen Zwängen zu lösen und politische bzw. finan2»

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Eröffnung

zielle Reserven zur Bewältigung neuer Probleme bereitzustellen. A n gesichts der Arbeitslosenzahlen und der Dringlichkeit anderer Aufgaben — beispielsweise i m Umweltschutz und i n der Energieversorgung — w i r d dieser Mangel an der Bereitstellung von Reserven besonders deutlich. W i r brauchen keine selbst angezettelte Kulturrevolution, keinen geschichtslosen Absprung i n eine bessere Zukunft. Es gibt auch kein Zurück i n eine Idylle, die natürlich gar keine Idylle war, sondern nur i m Rückblick als Idylle erscheint. Was w i r können, ist nur, den Weg weiterzugehen, der uns zu einer liberalen, oder wie man heute wieder und häufiger sagt, pluralen Gesellschaft geführt hat, die uns persönliche und politische Freiheit ermöglicht. W i r können nur durch Arbeitsteilung und Organisation unsere Schwierigkeiten, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme unserer Zeit lösen. W i r brauchen dazu den Prozeß einer geistigen Erneuerung, einer Stärkung der Orientierung, aus der die Demokratie lebt. Es gilt, eine Politik der bewußten staatlichen Selbstbeschränkung zu betreiben, die mögliche und zumutbare Selbstverantwortung und die politische M i t w i r k u n g der Bürger zu aktivieren. Der Staat darf jetzt nicht seinen Ehrgeiz darin sehen, für den Bürger alles zu tun, sondern er muß den Bürgern mehr zutrauen und mehr vertrauen, er bedarf, wie bedürfen diesbezüglich einer Neuorientierung hinsichtlich der Aufgabenstellung des Staates. Ein Element dieser Neuorientierung ist die politische, bewußt gewollte Selbstbeschränkung des Staates. Es bedarf sowohl bei der Definition seiner Aufgaben wie bei der Artikulierung neuer Ansprüche als auch der Normierung der Lebensbereiche seiner Zurückhaltung. Es muß nicht alles gesetzlich geregelt sein, und wenn einmal alles gesetzlich geregelt wäre, würden w i r sicher nicht freier, sondern unfreier als heute. U m es m i t einem Beispiel zu belegen: Ich halte es nicht für gut, immer weitere Teile des Sozialproduktes zum Zweck der Umverteilung auf den Staat zu überführen. Und der Dank dessen, der schließlich und endlich einen Teil dessen, was er selbst hergegeben hat, dann wieder bekommt, ist kein sehr verbindender und kein sehr tiefgehender Dank. M i t der Selbstbeschränkung des Staates muß eine Zunahme der Selbstverantwortung und der Selbstregulierung i m Bereich der Gesellschaft einhergehen. Die Aufgabenteilung zwischen Staat und Gesellschaft ist kein liberalstaatliches Relikt vergangener Tage, sondern ist nach meiner Überzeugung eine Grundlage für die Sicherung der Freiheit. Sie ist auch notwendig für die Dynamik des politischen und des gesellschaftlichen Prozesses. W i r müssen der Vergesellschaftung des Staates wie der Verstaatlichung der Gesellschaft entgegenwirken, damit die Handlungsfähigkeit des Staates und die Autonomie der gesellschaftlichen Kräfte erhalten bleiben und gleichzeitig gestärkt werden.

Eröffnung

Ich glaube, es ist an der Zeit, daß die Politiker ernsthaft darüber nachdenken, wie sie dem Bürger begegnen. Vielleicht ist es aber auch an der Zeit, daß die Bürger ernsthaft darüber nachdenken, was für Politiker sie wollen. Ich glaube, beides ist notwendig: Den Bürgern ist die innere Annahme des Staates und seiner Gesetze eben nicht nur durch Prinzipien, sondern auch durch Personen möglich. Dazu gehört beispielsweise für mich, daß die Parteien i n der Bundesrepublik Deutschland ihre Auseinandersetzungen sachlich führen und nicht das dringend notwendige Maß an Gemeinsamkeit gegenseitig selbst zerstören. Ein Staat, der nur noch auf Gegensätzen beruht, w i r d kein Staat sein, m i t dem sich Bürger auf Dauer identifizieren und m i t dem man letztendlich einen Staat machen kann. Dazu gehört auch, daß einzelne Bürger und Gruppen wieder lernen müssen, ihre Ziele und Wünsche mehr am Allgemeinwohl als am Spezialwohl zu orientieren. Die Verbesserung des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat muß i m Mittelpunkt stehen, u m den inneren Gefahren der Demokratie zu begegnen. Dazu ist eine bürgerorientierte Verwaltung notwendig, denn sehr viel mehr Menschen, als w i r meistens beachten, erleben den Staat i n der Begegnung m i t der Verwaltung. Das Vertrauensverhältnis zwischen den Bürgern und ihrer Verwaltung ist eine Grundlage für das Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Verhalten und Arbeiten der Verwaltung stoßen i n manchen Bereichen auf viele Vorbehalte und auf viel K r i t i k . Ich w i l l jetzt nicht untersuchen, woran das liegt. Bei einer Vielzahl unserer Bürger besteht zusätzlich ja eine spürbare Befangenheit und Zurückhaltung gegenüber Behörden, das gilt vor allem für Bürger, die sich besonders schwer tun i m Umgang m i t Behörden, die nicht auf die Unterstützung aus ihrer persönlichen Umgebung zurückgreifen können, und gerade diesen Bürgern muß geholfen werden. Es muß geholfen werden von einer Verwaltung, die für den Bürger da ist und der gegenüber der Bürger sich nicht als Bittsteller empfinden darf. Es ist ja ein guter Sinn dahinter, daß Behörden Dienststellen heißen. Nur w i r d das Wort Dienst nicht immer ernst genommen. Dies ist auf die Dauer nur durch ein entsprechendes Verhalten der Leitungs- und Führungskräfte selbst und durch die konsequente Anregung, Anleitung und Unterstützung der Mitarbeiter zu erreichen. Ich sprach von der Selbstbeschränkung der Normsetzung. Das Ziel dieser Selbstbeschränkung ist zum einen, dem Bürger mehr Freiheit für eigenverantwortliches Handeln zu schaffen. Das Ziel ist aber zum anderen, den Verwaltungen vor Ort mehr Spielräume für ortsnahe Entscheidungen zu geben und sie dadurch leistungsfähiger zu machen. Hier liegt häufig ein Widerspruch zwischen der Forderung nach mehr Entscheidungsspielraum und dem Mut, vor Ort dann auch die Verantwortung für die getroffene Entscheidung zu übernehmen. Häufig beobach-

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tet man, daß, wo es nur geht, der, der vor Ort eine Maßnahme rechtfertigen muß, sich hinter den nicht zuständigen Rücken des abwesenden Übergeordneten versteckt. Und die Frage der Bereitschaft zu mehr Verantwortung ist von der Verantwortung für die getroffenen Entscheidungen nicht zu trennen. Ein weiterer Punkt ist die Verständlichkeit, ist die Sprache i m Recht. N u r ein Recht, das der Bürger versteht, kann auch seine Zustimmung finden. Ich habe einmal leichtfertig gesagt, ich würde nur noch die Gesetze unterschreiben, die ich auch verstehe. Meine Damen und Herren, es muß ganz einfach möglich sein, sich auch beim Bestattungsund beim Jagdgesetz und bei technischen Gesetzen an diese Maxime zu halten, und ich meine — das gilt auch für die Verwaltung —, die Sprache w i r k t stilbildend und die Sprache ist ein möglicher Zugang der Verwaltung und natürlich auch der Politik zum Bürger. Die Bürger müssen darauf vertrauen können, daß der Staat die i h m übertragenen Aufgaben zuverlässig erfüllt. Eine wichtige Voraussetzung für die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung, des Staates, ist das öffentliche Dienst- und Treueverhältnis der Berufsbeamten. Natürlich muß man über eine vernünftige Fortentwicklung des öffentlichen Dienstrechtes diskutieren und sprechen, aber ich widerspreche den Bestrebungen, die Prinzipien des geltenden Dienstrechts auszuhöhlen. Ich kann m i r kein geteiltes Treueverhältnis von Beamten gegenüber dem einen Staat vorstellen und ich mache hier darauf aufmerksam, daß es bei der ganzen Diskussion nicht nur das Recht der Beamten zu beachten gilt, sondern auch den Anspruch des Bürgers auf einen Beamten, der mit den Zielen dieses Staates, dem er dient, übereinstimmt. Sie werden i n diesen Tagen aus ihrer jeweiligen konkreten Erfahrung während der Diskussion hier ähnliche, ergänzende oder völlig gegensätzliche Themen einbringen und vertreten. Aber darin liegt ja gerade der Reiz solcher Tage. Ich werde mich gegen Ende u m übergreifende Ansätze, u m generelle Fragestellungen bemühen, die i n Politik, Wissenschaft und Verwaltung auf breiter Basis konsensfähig sind, und darauf soll meine letzte Bemerkung zielen. Die innere Stabilität unserer Ordnung beruht letztlich auf der Bewahrung und Festigung des gemeinsamen Grundkonsenses, der i n der Verfassung verankert ist. Die Kunst guter Verwaltungspolitik muß auch i n Zukunft darin bestehen, den Vorgaben unserer Verfassung gerecht zu werden, sie zeitgemäß auszulegen und umzusetzen. W i r wissen, daß die sorgsame Abwägung notwendig ist — auch zwischen unterschiedlichen Verfassungszielen. Das Sozialprinzip beispielsweise darf nicht zum Wohlfahrtsstaat führen. Unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung ist kein Pflegefall. Aber w i r wissen umgekehrt ebenso, daß

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alle persönliche Entfaltung des einzelnen davon abhängig ist, daß dieser Staat durch seine Verwaltung ganz wesentliche Leistungen zur Verfügung stellt: Ich nenne nur Bildung und soziale Sicherheit. Wo läuft die genaue Grenze zwischen zu viel und zu wenig? W i r spüren auch die Spannung, die sich auf dem Prinzip der repräsentativen Demokratie und dem Menschenbild vom mündigen Bürger ergibt. Natürlich soll der Bürger verantwortlich mitreden, auch unmittelbar. Aber natürlich müssen w i r auch zugleich sicherstellen, daß die letzte politische Entscheidung — die unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls zutreffende Entscheidung — nach Abwägung aller Einzelinteressen bei denen bleiben muß, die nach den Regeln unserer parlamentarischen Demokratie auf Zeit zu Entscheidungen berufen sind. Hier ist von der Wissenschaft, aber auch i n der Öffentlichkeit einiges an klarerer Grenzziehung notwendig. Oder ich denke an die Diskussion auch hier i n Speyer und i m ganzen Land über politische Planung. W i r wissen, daß die Euphorie der 70er Jahre nicht andauern konnte. W i r wissen auch, daß w i r natürlich ohne verantwortliches Nachdenken über Zukunftsprobleme keine Politik machen können. Z u einer verantwortungsbewußten Verwaltungspolitik gehört es, die Verwaltung m i t all ihrem Sachverstand dafür einzusetzen, daß heute das für morgen Unerläßliche vorbereitet und womöglich auch schon getan wird. Vielleicht kann der Informationsfluß von der täglichen Verwaltungspraxis an die politische Leitung belebt werden: Wo zeichnen sich Unstimmigkeiten, neue Bedürfnisse, soziale Ungerechtigkeiten ab? Die A n t w o r t der politischen Führung muß dann nicht immer die Einbringung neuer Gesetzentwürfe oder die Errichtung neuer Ämter sein. Aber neue sich anbahnende Probleme bedürfen einer möglichst frühen Sensibilität und einer politischen Entscheidung. Verwaltungspolitik i n diesem Zusammenhang bedeutet aber auch, die Verwaltung vor Übereifer zu bewahren, damit der nächsten Generation — i n und außerhalb der Verwaltung — noch Entscheidungsspielräume verbleiben. Es muß nicht alles schon gemacht sein, bis die nächsten kommen. Schließlich w i r d auch Verwaltungspolitik der 80er Jahre i n Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Gemeinden stattfinden. Und ich finde es bemerkenswert, daß die Veranstalter die i m Grundgesetz vorgesehene und seither verwirklichte Kompetenzaufteilung für öffentliche Verwaltung offenbar nicht problematisieren wollen während dieser Tagung. Das spricht dafür, daß sie selbstverständlich geworden ist. Aus der Sicht der Länder darf ich das erfreut feststellen. Aber aus derselben Sicht erwähne ich, daß Verwaltung — zumal die Ausführung von Gesetzen, die andere machen, und dabei zunehmend aus dem EG-Bereich —, daß Verwaltung Geld kostet, daß unser Grundgesetz eine

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Finanzverfassung enthält und daß Verwaltungspolitik an einer angemessenen Mittelverteilung nicht vorbeikommt. Das ist zugleich ein sehr aktueller Bezug, und ich möchte Ihnen für diesen Tag, für diese Tagung, die Bitte mitgeben, selbst auch darüber nachzudenken. Sie haben sich ohnehin eine Menge vorgenommen. Ich wünsche Ihnen viele Einfälle, einen lebendigen Austausch von Argumenten und eine vorsichtig ordnende Tagungsleitung, die all dieses dann i n einem eindrucksvollen Dokument über Verwaltung und Verwaltungspolitik zusammenfügt. Und ich wünsche Ihnen dann Politiker, die sich die Zeit nehmen, das auch zu lesen und zum Nachschlag Ihres Handelns zu machen. Daß i n der Gestalt des Herrn Bundespräsidenten eine Persönlichkeit unter uns ist, die Verwaltung und Politik i n bemerkenswerter Weise m i t seinem Leben verbunden hat, gibt ein Stück Hoffnung dazu, daß w i r darüber i m Schatten des Hambacher Schlosses sprechen, am Vorabend der 150. Wiederkehr eines Festes, daß w i r nicht feiern, u m uns des Festes von damals alleine zu erinnern, sondern darüber nachdenken, wie die Verfassung unseres Staats heute ist, füge ich hiermit hinzu, damit Sie wissen, daß das, was Sie hier tun, praktische Folgen haben kann, und daß ich Ihnen deswegen einen guten Verlauf dieser Tagung wünsche.

ERSTER T E I L

Verwaltungspolitik in verändertem Umfeld

I . Referate 1. Verwaltungspolitik als Reaktion auf gesellschaftliche Bindungen und politische Freiräume der Verwaltung Von Carl Bohret I.

Als „Herrschaft i m Alltag" (Max Weber) ist die Verwaltung schon immer eng mit Politik verbunden gewesen. Zunehmende öffentliche Aufgaben und wachsende gesellschaftliche Erwartungen ließen i n der pluralistischen Industriegesellschaft sozialstaatlicher Prägung die Beziehungen zwischen Politik und Verwaltung noch enger, vielgestaltiger und zugleich spannungsreicher werden. Die öffentliche Verwaltung ist nicht nur Objekt der Politik, sie ist i n erheblichem Umfang auch Subjekt von Politik geworden. Dennoch gehen w i r noch allzu gerne von einem idealisierten Modell dieser Verwaltung aus. Demzufolge soll sie direkt i m Auftrag der legitimierten politischen Führung tätig werden; A r t , Menge und Ergebnis ihres streng an Gesetz und Recht gebundenen Handelns muß jederzeit kontrollierbar und revidierbar sein. Gesellschaftliche Fremdbestimmung und Eigeninteressen der Verwaltung gibt es nicht. Sie ist weisungsgebundener Teil der Regierung und w i r d indirekt durch das Parlament (die Opposition) kontrolliert. Das „Modell der legislatorischen Programmsteuerung" steht für die Unterscheidung von politischer Führung und administrativem Vollzug der Vorgaben. Die für die Verwaltung — möglichst i n Gesetzesform — politisch ausgewählten Programme werden durch sie unverfälscht und loyal ausgeführt; dieser alternativenlose Vollzug bestimmt den instrumenteilen Charakter der („professionellen") Verwaltung, die von gesellschaftlichen Interessen unabhängig bleibt 1 . Politikformulierung und -Vollzug sind trennbar, 1 Vgl. Hegenbarth, Rainer: V o n der legislatorischen Programmierung zur Selbststeuerung der Verwaltung, i n : Organisation u n d Recht ( = Jahrbuch f ü r Rechtssoziologie u n d Rechtstheorie, Band V I I ) , Opladen 1980, S. 130ff.; ferner Würtemberger, Thomas: Bürokratie u n d politische Führung, i n : B ü r o kratie. Motor oder Bremse der Entwicklung?, Bern u. a. 1977, S. 99 ff., u n d Bohret, Carl: öffentliche V e r w a l t u n g i n der Demokratie, i n : Klaus K ö n i g / H. J. von O e r t z e n / F r i d o Wagener (Hrsg.): öffentliche V e r w a l t u n g i n der

Carl Bohret

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sie s i n d tatsächlich g e t r e n n t u n d e i n d e u t i g d e n d a f ü r T r ä g e r n zugeordnet. Es g i b t i d e a l e r w e i s e nur keine Politik

der

Verwaltung

vorgesehenen der

Politik,

Verwaltung.

D i e s e m i d e a l e n M o d e l l e n t s p r i c h t aber die tatsächliche P o s i t i o n u n d das reale F u n k t i o n s f e l d d e r V e r w a l t u n g n u r noch z u e i n e m g e r i n g e n T e i l . So f ä l l t u n s h e u t e d i e scharfe T r e n n u n g z w i s c h e n P o l i t i k u n d V e r w a l t u n g w i e auch d i e k l a r e U n t e r s c h e i d u n g des s t a a t l i c h e n u n d gesellschaftlichen Bereichs i m m e r schwerer. A l l e n h a l b e n s i n d v i e l f ä l t i g e V e r flechtungen, Netzwerke v o n A b h ä n g i g k e i t e n u n d Kooperationen zu beobachten: G r ö ß e n w a c h s t u m der I n s t i t u t i o n e n , A u f g a b e n a u s w e i t u n g u n d f u n k t i o n a l e G l e i c h w e r t i g k e i t m i t a n d e r e n S u b s y s t e m e n beschreiben d i e P o s i t i o n e n der V e r w a l t u n g i n der spätpluralistischen Gesellschaft 2, an d e r e n P r ä g u n g sie b e t e i l i g t ist. K u l i s s e dieser s p ä t p l u r a l i s t i s c h e n G e sellschaft i s t eine (noch) offene Ü b e r g a n g s s i t u a t i o n zwischen d e m t r a d i t i o n e l l e n V e r t e i l u n g s p a r a d i g m a u n d e i n e m sich a n d e u t e n d e n n e u e n „ L e b e n s w e i s e " - P a r a d i g m a 3 . Es g e h t zunächst u m gesellschaftsprägende Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1981, S. 53 ff., sowie Wagener, Frido (Hrsg.): Zukunftsaspekte der Verwaltung, B e r l i n 1980, passim. F ü r kritische Hinweise b i n ich Werner Jann (Speyer) sowie Werner Hugger und Peter Fricke (Bonn) dankbar. 2 Die Ähnlichkeit m i t dem Begriff der „spätkapitalistischen Gesellschaft" ist insoweit nicht unbeabsichtigt, als eine Phase des Übergangs i n eine noch nicht ganz deutliche (trans-industrielle) Gesellschaftsform gemeint ist. Der hier gewählte Terminus isoli vor allem auf die sozialen und politischen Schwierigkeiten am Ende des 20. Jahrhunderts hinweisen und interdependente Beziehungen zwischen ökonomischen und gesellschaftlichen S t r u k turen und Prozessen betonen. Wie auch die „paradigmatische Übergangssituation" (vgl. auch A n m . 3) ausdrücken w i l l , sind die kritischen E n t w i c k lungen nicht allein, aber auch (und noch immer gewichtig!) i m ökonomischen System zu suchen. Vgl. zur Diskussion der gesellschaftlichen Entwicklungslinien Bohret, Carl: W o h i n steuern wir? A l t e r n a t i v e Zukunftsperspektiven am Ende des 20. Jahrhunderts, Speyer 1981 u n d die dort angegebene Literatur. 8 E i n Paradigma ist ein v o n der wissenschaftlichen Fachwelt als G r u n d lage der weiteren Arbeiten anerkanntes Erklärungsmodell, eine forschungsleitende Theorie. Es entsteht, w e i l es bei der Lösung von als dringlich erkannten Problemen erfolgreicher ist (zu sein scheint) als andere, bisher „geltende" Ansätze. Kuhn e r k l ä r t den Paradigmawechsel als außerordentliche Veränderung der bisherigen fachlichen Bindungen („wissenschaftliche Revolution" m i t einer A r t nachfolgender „Bekehrung" von Wissenschaftlern zum neuen, bisher gar bekämpften Paradigma). Vgl. v o r allem Kuhn, Thomas S.: Die S t r u k t u r wissenschaftlicher Revolutionen, F r a n k f u r t 1973 (1962). Dazu kritisch Diederich, Werner (Hrsg.): Theorien der Wissenschaftsgeschichte. Beiträge zur diachronen Wissenschaftstheorie, F r a n k f u r t 1974. J. Raschke bezeichnet ein politisches Paradigma als „die i n einem System v o r herrschende allgemeinste Sichtweise dessen, was p r i m ä r als Gegenstand u n d Aufgabe von P o l i t i k g i l t " . Hierzu und vor allem zu der konkreten Paradigmaentwicklung Raschke, Joachim: P o l i t i k u n d Wertwandel i n den westlichen Demokratien, i n : aus p o l i t i k u n d Zeitgeschichte Β 36/1980, S. 23 ff. u n d die dort angegebene Literatur.

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V e r s c h i e b u n g e n d e r R e l a t i o n z w i s c h e n Technologie, Ö k o n o m i e u n d Ö k o l o g i e — w o m i t auch e i n W e r t e - u n d E i n s t e l l u n g s w a n d e l v e r b u n d e n ist. V o r diesem H i n t e r g r u n d zeichnet sich d a n n e i n u n t e r s c h i e d l i c h e m p f u n dener u n d b e u r t e i l t e r Z u s a m m e n h a n g v o n M a r k t - , Staats- u n d B ü r g e r versagen ab. Z w i s c h e n diesen d r e i P h ä n o m e n scheinen p r o b l e m e r z e u gende B e z i e h u n g e n z u bestehen 4 . Sie s i n d theoretisch noch n i c h t g e k l ä r t ; i h r e Ursachen s i n d v e r m u t l i c h i n j e n e m „ p a r a d i g m a t i s c h e n " W a n d l u n g s prozeß z u suchen. So l ä ß t sich d i e s p ä t p l u r a l i s t i s c h e Gesellschaft d u r c h spannungsreiche, aber noch n i c h t e i n d e u t i g e E n t w i c k l u n g e n beschreiben: E i n e r s e i t s h ä l t sie p r i n z i p i e l l d i e p l u r a l e S t r u k t u r aufrecht, n e i g t aber andererseits z u ö k o n o m i s c h e n u n d sozialen K o n z e n t r a t i o n s b e w e g u n g e n m i t v e r s t ä r k t e n ( n e o - ) k o r p o r a t i s t i s c h e n T e n d e n z e n 5 — dies u n t e r E i n b e z i e h u n g der V e r waltung! W ä h r e n d die p l u r a l i s t i s c h e n S t r u k t u r e n d u r c h eine (wenigstens p o s t u l i e r t e ) G l e i c h r a n g i g k e i t v o n o r g a n i s i e r t e n I n t e r e s s e n u n d S t a a t beschrie4 Beispielsweise werden einerseits k o n j u n k t u r e l l e u n d Wachstumsschwierigkeiten weniger auf die kurzfristigen externen Probleme (wie ö l p r e i s erhöhungen) sondern auf zu wenig technologische, ökonomisch verwertbare Basisinnovationen zurückgeführt. Andererseits stehen dem Staat derzeit keine neuartigen wirschaftspolitischen ßteuerungsinstrumente zur V e r f ü gung; das Lavieren zwischen Nachfrage- u n d Angebotspolitik zeugt davon. Gleichzeitig verstärkt sich die Staats- und Verwaltungsverdrossenheit der Bürger, die soziale Akzeptanz der „laufenden P o l i t i k " n i m m t ab. Dies w i e derum ist m i t auf eine ausgeprägte und nicht mehr zu befriedigende E r w a r tungs- u n d Anspruchshaltung der „Wohlstands"-Bürger zurückzuführen, während gleichzeitig die „gesättigten" oder die „besorgten" Extrempositionen zur (eher emotionalen) Systemablehnung auf der Grundlage einer antithetischen Werteskala führen. Dadurch werden auch andersartige Leistungsvorstellungen relevanter. Bei mangelnder Verzichtbereitschaft verstärken sich ökonomische w i e soziale Schwierigkeiten. D e m Staat — der bei steigender Bürokratieneigung keine hinreichende M o t i v a t i o n zu erzeugen v e r mag — werden (dennoch) zusätzliche (nur noch begrenzt erbringbare) U n t e r stützungen abgerungen. Das „Bürgerversagen" entsteht so einerseits aus dem Zusammentreffen von auf „Vertreterorgane" (Verbände) abgeschobener sozialer Verantwortung des Einzelnen bei andererseits steigenden E r w a r tungen auf weitere Wohlstandssteigerungen gegenüber der Wirtschaft w i e der P o l i t i k : wobei beiden aber nicht zugebilligt w i r d , daß sie ihrerseits (wenigstens vorübergehend) an ihre Systemgrenzen stoßen, ökonomische, soziale und politische Defizite werden so gleichermaßen zu den Parametern krisenhafter Situationen (sich ggfs. „aufschaukelnd"). 5 Das Konzept des (Neo-) Korporatismus beschreibt die zunehmende V e r netzung von Staat, Wirtschaft und Großverbänden, eine A r t Entbalancierung von öffentlicher u n d privater Macht m i t der Folge „parakonstitutioneller Entscheidungsverfahren". Die wechselseitige Vergesellschaftung des Staates und Verstaatlichung der gesellschaftlichen Großverbände w i r d i n jüngster Zeit häufig untersucht u n d diskutiert. Vgl. vor allem die einschlägigen A r beiten von G. Lehmbruch (1974 ff.). Z u m Problemkreis Pluralismus und Korporatismus neuerdings von Alemann, Ulrich (Hrsg.): Neokorporatismus, F r a n k f u r t a. M./New Y o r k 1981. Vgl. auch Abromeit, Heidrun: Parteiverdrossenheit u n d Alternativbewegung (Typoskript), erscheint i n : Politische Vierteljahresschrift Heft 2/1982.

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ben werden, bindet sich dieser i m korporatistischen Verhandlungssystem an ganz bestimmte gleichrangige, für die Systemstabilität unverzichtbare, gesellschaftliche Kräfte. Diese Bindungen verstärken sich nun sogar unter dem Druck nicht-etablierter „Basisbewegungen". Denn die pluralistischen (Rest-)Strukturen werden zusätzlich — quasi „ i n d i v i dualisierend" — von postmaterialistischen Neigungsgruppen durchsetzt, wie überhaupt der persönliche Rückzug aus dieser Gesellschaft zunimmt6. Vertikale und horizontale Verflechtungen verdrängen zudem immer mehr die hierarchische staatliche Steuerung, während die Verantwortung für die Ergebnisse letztlich doch dem Staat zugeordnet bleibt, dessen „Drohpotential" sich jedoch verringert 7 . Tendenziell w i r d der Staat i m Spätpluralismus zu einer A r t Kartell-Vorsitzendem. Das hat sehr wahrscheinlich einige Rückwirkungen auf die Position der Verwaltung i m sich herausbildenden spätpluralistischen System. Beispielsweise w i r d sie wegen ihrer „Inkorporierung" zusätzlicher K r i t i k ausgesetzt; gar leicht kann sie zum hauptsächlichen „Sündenbock" für das m i t dem Spätpluralismus verbundene Zusammenrücken von Staat und Groß verbänden werden. Es ist zu vermuten, daß die Verwaltung auf solche Tendenzen ihrerseits m i t eigenen Veränderungen reagiert. Unter Berücksichtigung der skizzierten Konturen greife ich hier nun einige Phänomene der Verwaltungsentwicklung i m spätpluralistischen System heraus und behaupte, — daß erstens die öffentliche Verwaltung ein beachtliches Maß an gesellschaftlicher Außenbindung erreicht hat, — daß zweitens diese Bindungen und manche Funktionsgewinne merkliche Freiräume der Verwaltung gegenüber der politischen Führung ermöglichen. — daß drittens dies alles m i t einer gewissen Zwangsläufigkeit erfolgt, u m die spätpluralistischen Steuerungsprobleme zu lösen. Die Behauptung, daß die öffentliche Verwaltung dabei w o h l gar m i t gewisser Berechtigung einer A r t „Außenpolitik" gegenüber ihrem ge6 Vgl. dazu auch Klages, H e l m u t : Die unruhige Gesellschaft, München 1975, und ders.: Überlasteter Staat — verdrossene Bürger? F r a n k f u r t a. M./ New York, 1981. 7 Dessen „Drohpotential" verringert sich i m gleichen Maße, w i e er weder durch vorteilsgewährende T a k t i k e n noch durch hoheitliche Regulierungen, sondern n u r noch durch „politischen Tausch" (verbandspolitische K o m p r o misse m i t hoher Selbstbindung der Spitzenverbände) seine Interessen durchzusetzen vermag. Vgl. dazu auch Himmelmann, Gerhard: öffentliche B i n dung durch korporatistische Verhandlungssysteme (Typoskript) S. 11 f., erscheint demnächst i n : öffentliche B i l d u n g von Unternehmen (Regulierung), Baden-Baden 1982.

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sellschaftlichen Umfeld wie gegenüber der politischen Führung betreibt, soll nun zunächst holzschnittartig belegt werden. Daraus lassen sich dann auch Notwendigkeit und Chance für verwaltungspolitische Reaktionen ableiten. II.

Wenden w i r uns zunächst dem zu, was etwas vereinfacht als „gesellschaftliche Bindungen" bezeichnet wurde; fünf Phänome sind festzustellen: Erstens: Bei der Bearbeitung einer wachsenden Fülle von Aufgaben, i n der klientelorientierten Wahrnehmung und professionellen Erfüllung von sozialen Ansprüchen und ökonomischen Erfordernissen, werden die Verwaltungsfunktionen ausgeweitet. Die „neue" Verwaltung w i r d zum Bindeglied, zum „ O r t des Interessenausgleichs", gar zum „ K l i e n t e l " Betreuer. Das alles w i r d verstärkt durch die spontanen Interessenwahrnehmungen von Bürgern wie durch die zunehmende Bedeutung von temporären „Ein-Thema-Gruppen", deren Verhalten nur schwer zu kalkulieren ist. Je komplizierter aber die Steuerung gesellschaftlicher Bereiche wird, desto notwendiger ist die Einbeziehung relevanter gesellschaftlicher Akteure i n die Politikformulierung und den Politikvollzug. Denn staatliche Programme, die bei den Adressaten von vornherein auf weitgehende Ablehnung stoßen, sind spätestens auf der W i r kungsebene zum Scheitern verurteilt. Zweitens: M i t der Heranziehung und Institutionalisierung interessengebundenen Sachverstands werden fachliche Bindungen und Verständnis der Verwaltung für die jeweiligen gesellschaftlichen „Anliegen" erzeugt. Nicht selten kommt es mindestens zu Ähnlichkeiten, vielleicht zu gleichen Vorurteilen i n der fachlichen Problemwahrnehmung 8 . Jede Seite braucht Bündnispartner; beide erstreben soziale Akzeptanz für Vorhaben und Regelungen. Deshalb ist auch der Vollzug von Programmen zu einem nicht unerheblichen Teil „politischer Prozeß". Der Informationsfluß zwischen den fachlichen Profis drinnen und draußen vermittelt also einerseits Handlungsanforderungen: wo liegen relevante Ansprüche und zu befriedigende Erwartungen? Andererseits werden hier die Grenzwerte für Programme und die einzubeziehenden Vetopositionen erfaßt. Welches Niveau sozialer Akzeptanz — ζ. B. von Rechtsnormen — ist zu erreichen? Was ist i m pluralistischen Interessen8 Viele Referate der Ministerialverwaltung sind geradezu Schnittpunkte solcher Wechselverhältnisse m i t gesellschaftlichen Interessen; j e spezieller das Anliegen, u m so eher können „Brückenköpfe" errichtet werden. Manche Verbände wenden sich erfolgreich d i r e k t an „ i h r " Referat u n d an „ i h r e " Verbindungsreferate i n den mitzeichnenden Ressorts.

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feld nach pareto-optimalen Kriterien 9 gerade noch durchsetzbar? Aushandlungsprozesse führen zur Selbstverpflichtung der „Mitspieler": beispielsweise die Einigung zwischen zuständiger Ministerialverwaltung und Spitzenverbänden über neuartige Bestimmungen i m Referentenentwurf eines Jugendhilfegesetzes oder über zweckmäßige Formulierungen i m Katastrophenschutzgesetz eines Landes. Das Selbstverständnis der Verwaltung orientiert sich i m Zuge der Professionalisierung verständlicherweise an der Fachlichkeit der Klientel. Als Beispiel: die bei der regionalen Wirtschaftsförderung eigentlich politisch gewollte Diskriminierungsregel ( = gefördert werden nur Strukturschwache) w i r d durch die fachliche „Meta-Regel" ( = w i r sind ja Wirtschaftsförderer, nicht Verhinderer) administrativ beseitigt 1 0 . Dies ist zugleich ein Beispiel für die interessen-berücksichtigende vertikale und horizontale „VerwaltungsVerflechtung", die nach Formen und Variationen zunimmt. Diese A r t der Abstimmungen zwischen Verwaltung und gesellschaftlich relevanten, stabilen Interessengruppen können — m i t ihren neokorporatistischen Tendenzen — als typische spätpluralistische Phänomene charakterisiert werden. Drittens: Der Staat der spätpluralistischen Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, daß immer mehr Vollzugsaufgaben auf Institutionen verlagert werden, die weder eindeutig dem staatlichen, noch dem privaten Sektor zuzurechnen sind. Politikdurchführung ist ohne „Quagos" (also quasi-staatliche Organisationen, wie z. B. die Bundesanstalt für Arbeit oder die Bundesversicherungsanstalt) oder ohne „Quangos" (also quasinicht-staatliche Organisationen wie Kammern, freie Träger der Sozial9 Pareto-Optimalität bedeutet hier, daß i m pluralistischen Aushandlungssystem letztlich k e i n „relevantes Interesse" etwas verlieren darf. Durchsetzbar ist nur, was die Z u s t i m m u n g des letzten u n d zögerndsten P o l i t i k t e i l nehmers eben noch findet. Dieser „Grenzteilnehmer der P o l i t i k " bestimmt A r t , Umfang, Richtung u n d Geschwindigkeit der Veränderung zumindest durch Begrenzung der Lösungsalternativen. Dies w i r d verstärkt durch die „Asymmetrie" der zu hoch bewerteten Gegenwart gegenüber den mindergeschätzten Zukunftsgütern. Bruno Fritsch spricht hier von einer „gesellschaftlichen Diskontrate". M i t der Folge: kein Politiker k a n n Stimmen gewinnen, w e n n er zur Lösung künftiger Probleme heute Opfer verlangt; die Z u k u n f t erscheint als Luxusgut. Gegenwartseinkommen u n d heutiger K o n sum bestimmen deswegen weitgehend die politischen Entscheidungen. Gewinn» und Stimmenmaximierer bewegen sich dementsprechend i m I n t e r essenzeithorizont von Amortisations- u n d Wiederwahlperioden v o n 3—4 Jahren. Vgl. dazu Fritsch, B r u n o : Die Überforderung des Staates ( = I I V G papers PV/78—24) B e r l i n 1978. 10 Vgl. Bohret, C a r l / J a n n , Werner / Kronewett, Eva: Handlungsspielräume und Steuerungspotential der regionalen Wirtschaftsförderung. Eine empirische Untersuchung anhand von Programmen i n zwei Bundesländern, Baden-Baden 1982; exemplarisch zum Jugendhilfegesetzentwurf Bohret, C a r l / Hugger , Werner: Praxistest eines Gesetzentwurfs. Z u r Zusammenarbeit von Wissenschaft, V e r w a l t u n g und Verbänden, i n : Carl Bohret (Hrsg.): V e r w a l tungsreformen u n d Politische Wissenschaft, Baden-Baden 1978, S. 185 ff.

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hilfe, usw.) überhaupt nicht mehr zu denken. Diese Verlagerung aus dem rein staatlichen Sektor wie die zusätzliche Einbeziehung privater Akteure (ζ. B. Gewerkschaften oder Gruppen von „Betroffenen") findet ganz offensichtlich deshalb statt, u m Politikformulierung und -durchführung zu erleichtern. Viertens: Zu den traditionellen gesellschaftlichen Beziehungen der Verwaltung gehören schließlich die vielfältigen Verbindungen zur Wissenschaft. Institutionalisierte und spontane Beratungen durch (tausende von) Experten sollen über Sachlagen informieren und Lösungsalternativen vorschlagen. Auch wenn gelegentlich die Alibi-Absicherung und die Feigenblattfunktion solcher Beratung offensichtlich ist, so kommen doch auch immer wieder effektvolle, das administrative Handeln beeinflussende Wirkungen zustande. Gelegentlich fertigen schon Professoren — und nicht die Ministerialbürokratie — die Gesetzentwürfe an. Viele wissenschaftliche Auseinandersetzungen (innerhalb und zwischen den Disziplinen) werden durch die Verwaltung erst für die politische Entscheidungsebene „übersetzt". Die Verwaltung ist auch als Kommunikator wichtig geworden. Fünftens: Eine indirekte gesellschaftliche Bindung erfolgt schließlich über persönliche Anliegen von Verwaltungsangehörigen. Auch die Verwaltung besteht aus Menschen m i t sozio-ökonomischen Interessen. Der pluralistischen Leistungsgesellschaft ist das Ethos eines „desinteressierten Staatsdieners" ohnehin systemfremd. Manches, was die Verbände sagen oder wollen, erscheint deshalb binnenadministrativ einsichtig und wünschenswert. Fazit: Die Trennung zwischen Verwaltung und Gesellschaft ist weitgehend nur noch als äußeres Unterscheidungsmerkmal relevant. Die Verwaltung unterhält vielfältige und wirksame Verbindungen zu ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Sie ist i n quasi-gesellschaftlicher Funktion an Austausch- und Aushandlungsprozessen beteiligt. Funktional betrachtet ist sie nicht nur Teil des politischen Systems, sondern zugleich auch Teil der Gesellschaft (des „sozioökonomischen Systems"). ΙΠ. Die zweite Behauptung ging dahin, daß diese gesellschaftlichen Bindungen sowie einige Eigenmächtigkeiten der Verwaltung beachtliche Freiräume gegenüber der politischen Führung verschaffen. Die bloße „Verwaltung und Politik" ist eben nur ein Sonderfall. So gewinnt die Administration zunehmend inhaltlichen Einfluß auf die politische W i l lensbildung und Entscheidung. Es gibt funktional auch keine eindeutige Trennung zwischen politischer Führung und Verwaltung. Die Politikerzeugung ist zumindest ein „Geschäft auf Gegenseitigkeit" geworden. 3 Speyer 90

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Die politische Führung kann nicht mehr allein die erforderlichen Informationen und den notwendigen Konsens für ihre Programme beschaffen; Politikformulierung wie Politikabsicherung sind ohne aktive Teilnahme und vielfältige Einbindung der Verwaltung undenkbar. Ohne das spezialisierte Wissen der Verwaltung ist verantwortliche Politik (im Sinne von Policy) kaum mehr zu initiieren und zu realisieren. Es handelt sich hier nicht u m einen von der Verwaltung bewußt eingeleiteten Vorgang, sondern u m eine verständliche, gar notwendige Tätigkeitsausweitung. Ich w i l l nur stichwortartig auf ein paar Gründe für diese „Vorbereitungsherrschaft der Verwaltung" gegenüber der politischen Führung i n zwei Bereichen hinweisen: Erstens: Freiräume für die Verwaltung gegenüber der politischen Führung ergeben sich zunächst aus der fortschreitenden „Entparlamentarisierung" der Politik-Erzeugung. W i r sind zwar stolz auf unser „Arbeitsparlament", auf die Spezialisten i n den Ausschüssen, die dort den Verwaltungsexperten als ebenbürtig erscheinen. Doch kann eben das „Nachmodellieren" von Verwaltungsaufgaben und das Streben nach bürokratischem Sachverstand durch Abgeordnete sehr leicht zur „Polit i k vom Geiste der Bürokratie" führen. Die Generalistenfunktion ist eigentlich für die Konzipierung und Setzung des politischen Willens und der „Vorgaben" an die Exekutive wichtiger; ja sie ist entscheidend, w e i l sonst die Parlamente nur noch „Resonanzboden des Zumutbaren" (Steffani) der erträglichen Grenzlinien sind, der Raum dazwischen aber von der Exekutive ausgefüllt wird. Die Vorbereitungsherrschaft der Verwaltung beginnt hier evident zu werden. Sie kann gar zur Politikvernichtung führen. A l l e i n die quantitative Verschiebung der Administration (die Beschäftigtenzahl i n der Verwaltung wächst, die Auswahl der politischen Kontrolleure bleibt konstant oder sinkt sogar) zeigt unter den gegebenen Bedingungen den relativen „Zugewinn" an Politikchancen bei der Verwaltung. Zweitens: Die Administration gewinnt nun aber auch Freiräume gegenüber der Regierung; mehrere miteinander verknüpfte Gründe sind schuld daran, daß es durchaus zu der schon postulierten „Vorbereitungsherrschaft der Verwaltung" gegenüber der politischen Führung kommen kann: 1. Grund: Es mangelt dort oft an klaren politischen Vorgaben mit Zukunftsorientierung. Dieser Mangel w i r d binnenadministrativ durch die Initiierung von „Werten" und Aufgaben ersetzt, die allerdings i n Verwaltungskategorien formuliert sind. 2. Grund: Den Informationsvorsprung besitzt die Verwaltung. Sie erhebt, selektiert, verteilt und verarbeitet Informationen auf professionelle Weise. Soweit diese Informationen aus dem Klientelsystem

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stammen, sind häufig bereits Vorabklärungen und Konsensbeschaffungen erfolgt. Das Aufgreifen regelungsbedürftiger Sachverhalte, die Vorauswahl von Lösungsalternativen und die Ermittlung von Eingriffspunkten w i r d auf der Grundlage der eingeholten Informationen und des reklamierten Sachverstandes erledigt 1 1 . Gelegentlich werden bei diesen Sortierungen auch manche Probleme vom politischen Wahrnehmungsund Entscheidungsprozeß gänzlich ferngehalten (non-decisions). 3. Grund: Die besondere Ausprägung der Verwaltungsorganisation, der Verfahren und Einstellungen läßt „Eigenmächtigkeiten" zu und verschiebt Handlungsgrenzen zugunsten der Verwaltung. Diese wahrt Kontinuität und sorgt für anpassende Veränderungen, wenn auch bei („ersatzweiser") Entwicklung eigener Ziele und geleitet von dem Blick auf die aktuelle Machbarkeit bestimmter Vorhaben 1 2 . 4. Grund: Wegen der auch administrativ gestützten Ausdehnung öffentlicher Aufgaben erkennen w i r als weitere Konsequenz die voranschreitende Verrechtlichung 1 3 . Aus rechtsstaatlichen Gründen und (verstärkend) wegen der „juristischen Sozialisation" des überwiegenden Teils der Verwaltungsangehörigen w i r d Politik generell (und zu sehr!) i n Rechtsvorschriften gegossen und m i t ihrer Hilfe vollzogen. Die Spezialisierung und Ausdifferenzierung über Vollzugsnormen nimmt die Verwaltung zusätzlich wahr; auch hierbei kann eine A r t „Vollzugsherrschaft" entstehen. Diese Verrechtlichung w i r d allerdings von der Gesellschaft zumindest „gedeckt", denn auch Bürger und die Wirtschaft (und nicht nur die juristischen Experten) ziehen formale Regelungen informellen Verkehrsformen vor. IV. Ziehen w i r eine Zwischenbilanz. Die Verwaltung w i r k t i n der spätpluralistischen Gesellschaft bei der Lösung von Steuerungsproblemen ganz wesentlich mit. A n der Schnittstelle von Politik und Gesellschaft 11 So folgert Schimanke: „Solange i m Verwaltungsapparat Programmanstöße erfolgen, A l t e r n a t i v e n entwickelt und ausgewählt werden, zwischen denen schließlich zu entscheiden ist, solange i m Verwaltungsapparat P r o bleme definiert u n d die Dringlichkeit, m i t der sie nach oben gegeben werden, bestimmt werden, solange programmiert auch die V e r w a l t u n g die Politik, und nicht ausschließlich umgekehrt die P o l i t i k die Verwaltung." Schimanke, Dieter: Staat, i n : Gert von E y n e r n / C a r l Bohret (Hrsg.): Wörterbuch zur politischen Ökonomie, 2. A u f l . Opladen 1977, S. 529. 12 Seit politische F ü h r u n g auf Helfer, Berater u n d Verwalter angewiesen ist, konnte sie ohnehin nie ganz sicher sein, ob diese Helfer nicht selbst nach Freiraum zur E r f ü l l u n g eigener Interessen strebten. I h r e Bündnisse m i t gesellschaftlichen Gruppen sind heute n u r alltäglicher u n d schon selbstverständlich geworden. 13 Vgl. vor allem Voigt, Rüdiger (Hrsg.): Verrechtlichung, Königstein/Ts. 1980; ders.: Mehr Gerechtigkeit durch mehr Gesetze? i n : aus p o l i t i k u n d Zeitgeschichte Β 21/1981.

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wird, sie i n dieser Funktion immer unentbehrlicher. Dabei ist sie aber nicht nur neutrale Zuarbeiterin, w i r k t nicht bloß als Katalysator i n den Beziehungen zwischen organisierter Gesellschaft und politischer Führung. Vielmehr hat sie offensichtlich wachsenden Einfluß auf die Politikformulierung und bringt Politik i n die Durchführung. Sie ist auch Subjekt von Politik, ja zentraler Akteur; und sie ist das — trotz wachsender K r i t i k — alles mehr als je zuvor, wegen ihrer gesellschaftlichen Bindungen und wegen ihrer spezifisch gewachsenen Professionalität: Die Verwaltung ist noch mächtiger als ihr Ruf. Auch wenn nun diesen Vorgängen eine gewisse Zwangsläufigkeit anzuhaften scheint — das war unsere dritte Behauptung — so ist doch immer wieder zu prüfen, ob solche j a keineswegs unproblematischen Positionen der Verwaltung nicht neu bedacht und vielleicht auch verändert werden müssen. Verwaltungspolitik als Reaktion auf diese besondere Stellung der Administration kann deshalb angesichts vielfältiger Ressourcen- und Steuerungsprobleme geradezu als Herausforderung begriffen werden. V. Was nun Verwaltungspolitik ist oder sein soll, w i r d i n der Literatur noch keinesfalls einheitlich beschrieben. So finden w i r als allgemeinste Definition, daß es Verwaltungspolitik m i t der zweckmäßigsten Gestaltung der Verwaltung und ihren Beziehungen zur Staatsleitung 14 zu t u n hat; sie hat (dabei) Einwirkungen der politischen Spitze gegen verharschte, eigenmächtige Strukturen zu ermöglichen (W. Schreckenberger), wozu angemessene Prinzipien festzulegen (und durchzusetzen) sind 1 5 . Verwaltungspolitik soll aber auch auf ein positives Verhältnis zwischen Staat und Bürger zielen 1 6 , damit wäre wohl auch eine Verbesserung des Stils der Verwaltung zu erreichen 17 . Ich definiere nun Verwaltungspolitik als die von der legitimierten politischen Führung mittels Entwicklung, Durchsetzung und Kontrolle von Prinzipien administrativen Handelns ausgeübte Steuerung der In14 v g l . Thieme, 15

Werner: Verwaltungslehre, K ö l n u . a . 1967, S. 4 f.

Ellwein, Thomas: Ist die Bürokratisierung unser Schicksal? Die vielen Versäumnisse i n der Verwaltungspolitik. I n : Hans Peter B u l l (Hrsg.): V e r waltungspolitik, a.a.O., S.48; außerdem ders.: Verwaltungspolitik i n den 70er Jahren, B a d Godesberg 1968, insbes. S. 60 ff. 16 Vgl. Klagesy H e l m u t : Das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern i n der Bundesrepublik Deutschland, vervielfältigtes Typoskript o. O. 1981, S. 20 u n d passim. 17 Vgl. Bull, Hans Peter: Öffentliche V e r w a l t u n g u n d öffentlicher Dienst heute, i n : ders. (Hrsg.): Verwaltungspolitik, Neuwied/Darmstadt 1979, S. 21; vgl. ferner zum Ganzen die Diskussion i n der Zeitschrift „Recht u n d P o l i t i k " seit 1975.

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halte, Verfahren und Stile der Verwaltungstätigkeit, sowie der Organisations- und Personalstruktur der Verwaltung. Verwaltungspolitik zielt also auf eine sozial akzeptable und leistungsfähige Gestaltung der Wechselwirkung von politischer Führung, Verwaltung und Gesellschaft heute und i n der Zukunft. Verwaltungspolitik ist deswegen eine zentrale Aufgabe der politischen Führung. Was Verwaltungspolitik inhaltlich ist oder sein soll, kann nicht von vornherein und für immer festgelegt werden. Ihre Konkretisierung ist problemorientiert, zeit- und systemgebunden. Je nach Politikfeld und je nach Problemlage muß der materielle Gehalt von Verwaltungspolitik immer neu festgelegt werden. Soll sie sich beispielsweise gegen weitere „Verwaltungsskandale" 1 8 richten, dann muß die politische Führung durch Vorgaben, Regeln und Kontrollen die Voraussetzungen schaffen oder wiederherstellen, nach denen die betreffende Verwaltungseinheit erwartungsgemäß und auftragsgetreu handelt; die skandalauslösenden und skandalfördernden Komponenten sind zu minimieren. Oder i m Falle von „Überregelungen" ist durch Vorgabe bzw. Anweisung zu sichern, daß von der Verwaltung auch nach alternativen Steuerungschancen jenseits der gängigen Regelung durch Gesetz und Verordnung zu suchen ist. Wie alle Politik ist schließlich auch Verwaltungspolitik unterschiedlichen „positionellen Bewertungen" unterworfen. So w i r d sie beispielsweise i m Zusammenhang m i t der Entstaatlichungsdebatte und der „neuen" Bürokratiekritik ganz verschieden interpretiert. Unterschiedliche politische Positionen verstehen den Auftrag von Verwaltungspolit i k entweder als Verwaltungsabbau und „Entfesselung der privaten Gesellschaft" i m Vertrauen auf gesellschaftliche Selbstregulierung („Liberale") oder als Rückzug des Staates (und der Verwaltung) aus gesellschaftlichen Bindungen („Staatsentlastung") zwecks inneren Souveränitätsgewinns und erneuter Regierbarkeit („Konservative"), oder aber als eine Erscheinungsform des i n das „Kapitalverhältnis" hereingeholten Staates, als typische „Durchstaatlichung" der bürgerlichen Gesellschaft m i t Stabilisierungswirkung („Marxisten"). Demgegenüber w i r d die Erhaltung und Verbesserung der Planungs-, Steuerungs- und Leistungsfähigkeit der Verwaltung i m Interesse der Bürger als verwaltungspolitisches Hauptziel von den „Reformern" betont. Verwaltungspolitik ist demnach als funktionale Kontrolle zu entwickeln, sie zielt auf mehr Transparenz des Verwaltungshandelns 19 .

18 Vgl. neuerdings auch Bohret, C a r l / Jann, Werner: Verwaltungsskandale, i n : aus p o l i t i k und Zeitgeschichte, Β 27 (Juli) 1982, S. 35 ff.

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VI. Es soll nun versucht werden, einige strategische Ansatzpunkte solche Verwaltungspolitik zu identifizieren.

für

Unsere Grobanalyse hatte ja ergeben, daß die für das Funktionieren des Gemeinwesens und für die Aufgabenbewältigung der politischen Führung unentbehrliche Verwaltung i n der spätpluralistischen Gesellschaft aus mehreren Gründen eine auch politisch herausgehobene Stellung gewonnen hat. Diese funktional hervorragende Rolle ist jedenfalls nicht mehr rückgängig zu machen. Wohl aber müssen Umfang und A r t der gesellschaftlichen Bindungen wie Weite und Nutzung der Freiräume gegenüber der politischen Führung weiterhin zur Disposition stehen. Wo und wie könnte also unter den derzeitigen Bedingungen eine solche Politik als Reaktion auf gesellschaftliche Bindungen und politische Freiräume der Verwaltung stattfinden? Für beide Aspekte der administrativen Entwicklung i m Spätpluralismus sind zunächst verwaltungspolitische Ziele zu formulieren, an denen sich dann die taktischen Reaktionen ausrichten und ihre Erfolge bewertet werden können. Erstes verwaltungspolitisches Ziel wäre es, die Verwaltung von eindeutigen gesellschaftlichen Abhängigkeiten freizuhalten, ohne doch die unentbehrliche Kommunikation mit dem Klientelsystem und den Bürgern zu beschneiden. Zweites verwaltungspolitisches Ziel wäre es, den instrumentellen Charakter der Verwaltung bei der Politikformulierung und -durchführung zu Lasten ihres politik-erzeugenden Wirkens zu verstärken. Drittes verwaltungspolitisches Ziel wäre es, die für die V e r w i r k lichung der erstgenannten Ziele erforderlichen Prinzipien autonom zu formulieren und trotz spätpluralistischer Begrenzungen gegenüber der Verwaltung durchzusetzen. Taktische Ansätze für diese Verwaltungspolitik sollen nun exemplarisch i n fünf administrativen Handlungsbereichen* 0 verortet werden: bei den Programmen, den Verfahren, beim Personal, bei der Organisation und bei den Umweltbeziehungen. 19 Vgl. zu den generellen politischen Positionen Bohret, Carl / Jann, Werner Ì Junkers, Marie Therese/Kronenw ett, Eva: I n n e n p o l i t i k u n d politische Theorie, Opladen 1979, S. 277 ff. u n d passim; ferner Reidegeld, Eckard: Die Entstaatlichungsdebatte, i n : Recht u n d P o l i t i k 1979, S. 216ff. 20 Vgl. auch König, Klaus: System u n d U m w e l t der öffentlichen V e r w a l tung, i n : ders. u . a . (Hrsg.): öffentliche V e r w a l t u n g i n der Bundesrepublik Deutschland a. a. O., S. 13 ff.

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Erstens: I m Handlungsbereich „Programme" müßte die Verwaltung durch die politische Führung wieder m i t klaren, konzeptionell ausgerichteten Vorgaben versorgt werden, damit sie den Einzelinteressen begründet widerstehen kann. Dies t r i f f t besonders für Zeiten der. Knappheit zu. Wenn die Spitze des Sozialstaates erreicht zu sein scheint und finanzielle Restriktionen deutlich werden, sind Prioritäts- und Posterioritätsentscheidungen der Politik unumgänglich. Ähnliches gilt auch für die Prüfung, welche neuen Aufgaben überhaupt übernommen und welche auf jeden Fall gesellschaftlicher Selbststeuerung überlassen bleiben sollen. Ein Problem unserer derzeitigen staatlichen Politiken (im Sinne von Policies) sind ja unzureichende deskriptive und kausale Informationen oder „Theoriedefizite": man weiß beispielsweise einfach nicht, wie der Arbeitsmarkt wirkungsvoll beeinflußt werden kann, wie bestimmte Rechtsnormen wirken, ob dringlich erscheinende Programme sozial akzeptiert werden. Intensivere Kontakte zur Wissenschaft könnten Informationen erschließen bzw. Forschungsergebnisse erreichen, die als Hilfe gegen einseitige Interessendurchsetzung wirksam gemacht werden. Es gibt durchaus Erkenntnisse, die durch (bestellte) Gegengutachten nicht „aufgehoben" zu werden vermögen. Vielleicht ließe sich der Sachverstand für die Programmerstellung über neue Beratungsgremien (Sachverständigenräte, Expertenpanels, Science Courts, etc.) 21 noch besser nutzen. Zweitens: Das alles ist schon eng mit dem zweiten Handlungsbereich, den „Verfahren" verbunden. Hier müßte die Konsensbeschaffung für wichtige Vorhaben wieder eindeutig zur Aufgabe der politischen Führung werden. Durch politisches Aushandeln (political bargaining) auf Spitzenebene wie durch Konfrontation m i t konkurrierenden Interessen ließe sich das schon überzogene „Anhören der Verbände" einschränken und auf die detaillierten Fachlichkeiten reduzieren. Gesellschaftliche Bezüge könnten wirksamer durch intermediäre Gremien herbeigeführt werden; etwa ähnlich wie i n Schweden, wo die Vorbereitung von Gesetzen und politischen Programmen fast vollständig aus der Ministerialverwaltung ausgelagert ist und i n Kommissionen wahrgenommen wird, i n denen Politiker, Verwaltungspraktiker (gerade solche der durchführenden Instanzen), Interessenvertreter und Wissenschaftler zusammenarbeiten. Die Ergebnisse der Kommissionsarbeit werden einer großen Zahl privater wie öffentlicher Institutionen zur Kommentierung zuge21 Die noch nicht ausgeschöpfte Vielfalt v o n organisatorischen Möglichkeiten w i r d m i t anderer Blickrichtung dargestellt i n Bohret, Carl ! Franz, Peter: Technologiefolgenabschätzung. Institutionelle und verfahrensmäßige Lösungsansätze, F r a n k f u r t a. M. 1982, insbes. S. 97 ff.; exemplarisch vor allem der Science Court S. 228.

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leitet (sog. „Remiss-Verfahren"), bevor dann i n der Ministerialverwaltung der Regierungsentwurf erarbeitet w i r d 2 2 . Ferner: Die Initiierung und Implementierung von Vorhaben, deren Ausgestaltung noch weitgehend dem Zusammenwirken der Verwaltung m i t ihrem Klientelsystem überlassen ist, könnte zumindest durch die Strategie der „Terminierung" von Programmen politisch flexibler gestaltet werden. I n diesem Zusammenhang ist zu prüfen, ob man nicht m i t weniger traditionellen Rechtsvorschriften auskommen kann. Einerseits bieten sich — trotz vieler rechtspolitischer Bedenken — eben doch zeitlich befristete Regelungen (in Form von Zeitgesetz und Modellversuch) 23 an; zum anderen wäre zu überlegen, ob nicht deutliche Entlastungen durch die Förderung von „Verträgen" zwischen gesellschaftlichen Gruppen erreicht werden könnten. Verfahrensbezogene Verwaltungspolitik ist schließlich auch ApparatPolitik; das heißt: die Leistungsfähigkeit und Transparenz der Verwaltung ist i m Interesse der Nachfrager von Regelungen und Programmen zu erhöhen; generell: „Entbürokratisierung" und Rationalisierung sind zu betreiben. Drittens: Der Bereich Personalstrukturen gehört — gerade i n Zeiten der Knappheit — zu den sensitiven Stellen für Verwaltungspolitik. Dam i t die Funktionstauglichkeit der Verwaltung verbessert und ihre stärker instrumentelle Ausrichtung erreicht werden kann, sind die personalen Anforderungen zu spezifizieren, sind die Instrumente der Personalpolitik (auch zur Motivation der Bediensteten) 24 zu schärfen und effektiv einzusetzen. Trotz Sparsamkeitsgebot ist die personelle Unterbesetzung zu vermeiden. Vor allem bei der vollziehenden Verwaltung behindert diese nämlich die reibungslose Durchführung wichtiger neuer Programme: als Beispiel kann der Vollzug des Chemikaliengesetzes angeführt werden. Reformen des öffentlichen Dienstes — einschließlich der Probleme seiner „Politisierung" — gehören schon zur verwaltungspolitischen Daueraufgabe. 22 Vgl. Jann, Werner: Die Vorbereitung von Gesetzen i n Schweden, i n : Zeitschrift f ü r Parlamentsfragen, Jg. 12, H. 3/1981, S. 377 ff. Vgl. zur Stärkung der politischen F ü h r u n g durch das Parlament vor allem Friedrich Schäfer: Vorschlag zu einer Parlamentsreform. Anregungen für den 9. Deutschen Bundestag, i n : aus p o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 44/1980, S. 15 ff. 23 Vgl. exemplarisch Bohret, Carl / Hugger, Werner: Test u n d Prüfung von Gesetzentwürfen. A n l e i t u n g zur Vorabkontrolle u n d Verbesserung von Rechtsvorschriften, K ö l n / B o n n 1980. 24 Vgl. hierzu neuerdings den Bericht der Kommission zur Uberprüfung von Verbesserungsmöglichkeiten i n der Hamburger Verwaltung, H a m b u r g 1981, passim.

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Viertens: Hinsichtlich der Organisationsstrukturen wäre — neben der üblichen Einwirkung auf Ressortzuschnitt und Organisationsentwicklung — auch eine deutlichere funktionale Trennung zwischen jenen Verwaltungsteilen, die direkt an der Politikformulierung (Vorbereitung, Programmierung) teilhaben und jenen, die weitgehend nur vollziehen (routinisierte Programmauslegung) bedenkenswert 25 . Vorstellbar ist entweder eine A r t funktionaler Ausgliederung dieser Programmierungsstellen oder aber die fortschreitende Auslagerung der Routineverwaltung, etwa i n Form einer geplanten Weiterentwicklung zu intermediären Institutionen („Quagos" und „Quangos"), m i t deutlicher Trennung von der Politik-Erzeugung. Auch andere Formen mögen zweckmäßig sein. So werden für eine effektvollere (integrierte) Regionalpolitik dezentrale „Entwicklungsbüros" vorgeschlagen, auf die fast alle Durchführungs- sowie die regional bedeutsamen Planungsaufgaben übertragbar wären 2 6 . Der politischen Führung könnten auf variationsreiche Weise beratende und programmentwickelnde Kapazitäten zur Verfügung gestellt werden; frei von direkten Klientelbindungen und befähigt, das Defizit an Rezeption und Verarbeitung auch nicht-juristischer Informationen weiter auszubauen, Alltagstheorien zugunsten neuer Erkennntnisse zu relativieren und damit insgesamt die Entscheidungsgrundlagen zu verbessern 27 . Der unverzichtbare Informationsfluß zur Linie könnte dennoch gewährleistet werden. Es ist hier schließlich auf die „Exkulpierungsfunktion" solcher Ausgliederungen hinzuweisen 28 . Wenn eine relativ selbständige Instanz für ausbrechende Schwierigkeiten als „verantwortlich" angesehen wird, dann bleibt die politische Führung länger „verschont", was oft Handlungsfähigkeit zur Beseitigung der Probleme bedeuten kann 2 9 ! 25 Vgl. ähnlich schon Ellwein, Thomas: Verwaltungspolitik i n den 70er Jahren, a. a. O., S. 64 ff. Schließlich ist auch zu fragen, w a r u m eine Ansammlung exzellenter V e r waltungsjuristen nicht das effektiv t u n soll, was sie gelernt haben: Eben v o r gegebene P o l i t i k makellos und effizient zu verwalten, sich v o n Regierung, Rechnungshof u n d Verwaltungsgericht kontrollieren zu lassen, die anerkannten Vorzüge des deutschen Verwaltungssystems zu stützen! 26 Vgl. Kronenwett-Löhrlein, Eva: Beschäftigungsorientierte Regionalpolit i k (Diss. rer. pubi.), Speyer 1982, S. 228 ff. 27 Vgl. Kuhlen, Rainer: Wie w i r d Wissen zur Entscheidungsgrundlage? i n : F A Z No. 299, v o m 24.12. 80, S. 9. Alltagstheorien sind (durchaus politisch wirksame) Aussagen, die (noch) nicht m i t wissenschaftlichen Verfahren überprüft u n d von Wissenschaftlern als (vorläufiger) Bestandteil ihrer Disziplin(en) angesehen werden (dazu auch A n m . 3); vgl. exemplarisch Lüdemann, Christian: Alltagstheorien und Gesetzgebung (Diss, phil.) H a m b u r g 1981, S. 4. 28 Diesen Hinweis verdanke ich Dr. K a r l K ü h n e (Brüssel). 29 V g l mehrere Beispiele bei Bohret, Carl / Jann, Werner: Verwaltungsskandale, a. a. O.

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Fünftens: Die Ausgestaltung der administrativen Handlungsbereiche und ihr Zusammenhang bestimmt zu einem wesentlichen Teil das „Bild der Verwaltung" i n der Öffentlichkeit, beim Bürger. Sein Verhältnis zum Staat der spätpluralistischen Gesellschaft w i r d durch eigenes Erleben des administrativen Handelns und durch das öffentlich übermittelte B i l d der Verwaltung bestimmt. Urteile und Vorurteile werden hier auch durch wiederholte Darstellung und Bestätigung bürokratischer Phänomene i n den Medien verstärkt und gefestigt. Über „Verwaltungsverdrossenheit" führt so ein direkter Weg zur Staatsverdrossenheit. Andererseits ist jedoch Verwaltungskritik ein wichtiges M i t t e l zur demokratischen Kontrolle von nur indirekt legitimierten Institutionen — zu denen eben die Verwaltung zählt. Aufgabe von Verwaltungspolitik wäre es deshalb, „Verwaltungsverdrossenheit" abzubauen und dem Bürger die Vorzüge einer funktionierenden Verwaltung zu verdeutlichen, aber zugleich auch auf die berechtigte Bürokratiekritik wie auf Funktionsdefizite zu reagieren und die Erfolge aus solchen Reaktionen wieder zu demonstrieren und zu vermitteln. Fazit: Die genannten exemplarischen Reaktionen der Verwaltungspolitik könnten die i n der spätpluralistischen Gesellschaft unvermeidlichen gesellschaftlichen Bezüge und politischen Freiräume der Verwaltung begrenzen und damit die verwaltungspolitischen Ziele wenigstens näherungsweise erreichen. Ob und wieweit eine solche Verwaltungspolitik aber realisiert werden kann, ist jetzt abschließend zu prüfen. VII. Die zentrale Frage lautet deshalb: Welche Restriktionen dürften der Verwaltungspolitik i n der spätpluralistischen Gesellschaft entgegenstehen, nachdem offensichtlich bisher Verwaltungspolitik noch keine strategische Größe war? Auch für diese Fragestellung bietet sich wiederum eine getrennte Betrachtung an, nämlich — welche Rahmenbedingungen der sich herausbildenden spätpluralistischen Gesellschaft vermögen die Durchsetzung von Verwaltungspolitik zu behindern und — welche Schwierigkeiten liegen i m politischen Führungssystem und i n der Verwaltung selbst? Zum ersten: Von den eingangs erwähnten Strukturbedingungen der spätpluralistischen Gesellschaft stehen vor allem die Konzentrationsbewegungen, die verstärkte Einbeziehung gesellschaftlicher Akteure und neokorporatistische Tendenzen einer umfassenden Verwaltungs-

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politik entgegen. Sozialstaatliche Erwartungen und ökonomische Steuerungshoffnungen erschweren grundsätzlich eine Politik, die gesellschaftliche Bindungen der Verwaltung entflechten wollte. Da soziale Akzeptanz für politische Programme gerade durch vielfältige Kommunikation zwischen Verwaltung und Betroffenen erreicht wird, wäre eine radikale Beschneidung solcher Kontakte politisch auch wenig erfolgversprechend. Die Kooperation und Abstimmung zwischen Verwaltung und relevanten Verbänden — wie gegenüber postmaterialistischen Neigungsgruppen — ist ja ein konstitutives Merkmal der spätpluralistischen Gesellschaft. Ein wie auch immer erzwungenes Ausscheren der Verwaltung wäre unter den gegebenen Bedingungen jedenfalls gleichbedeutend mit Informationsvernichtung und „Politikrückzug". Die systemischen Bedingungen erfordern „Bündnisse", u m soziale Akzeptanz für Programme und Regeln zu erreichen. Wahrscheinlich ist verwaltungspolitisch nur noch der „Grad der Abhängigkeit" zu beeinflussen. Einer rigide an der „Entflechtung" ansetzenden Verwaltungspolitik fehlte es hierzu ohnehin an „Macht". Eine behutsame, neue Kommunikationsformen — gerade auch zusammen mit der Wissenschaft — erprobende Verwaltungspolitik könnte aber durchaus den Abhängigkeitsgrad reduzieren (vielleicht i n Kombination m i t den „Auslagerungen"). Die politische Führung kann die komplexen Probleme allerdings nicht (mehr) „hierarchisch" und quasi losgelöst von der Gesellschaft steuern. Fast i m Gegenteil: Die spätpluralistische Gesellschaft tendiert dazu, sich unter Einbeziehung staatlicher (zumeist administrativer) Akteure i n komplizierten Netzwerken i n wachsendem Maße quasi selbst zu regeln. Das erste verwaltungspolitische Ziel: keine gesellschaftlichen Abhängigkeiten, aber reibungslose Kommunikation, ist unter den gegebenen Bedingungen deshalb nicht trennscharf zu erreichen. Zum zweiten: Auch i n der spätpluralistischen Gesellschaft bleibt das inkrementale Verhalten der politischen Führung (Politik à la carte) prinzipiell erhalten. Marginale Veränderungen und „Sich-Durchwursteln" sowie gegenseitiger Anpassungszwang der Entscheidungsträger bewirken weiter zunehmende Freiräume der Verwaltung, die sie wiederum auf typische Weise (fragmentiert, formalisiert, kompliziert) nützt, wobei mikropolitische Interessen der Bediensteten i n erheblichem Maße berücksichtigt werden. Die organisatorischen und verfahrensmäßigen Vorschläge zur Verwaltungspolitik wirken vor diesem Hintergrund zumindest „idealistisch". Beispielsweise könnte die institutionelle Auslagerung i n quasistaatliche Organisationen („Quagos") unter den gegebenen Bedingungen

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die Chancen einer „Politik der Verwaltung" noch verstärken und brauchten keineswegs die Entbürokratisierung zu fördern. Die für die erfolgreiche Steuerung der Verwaltung erforderliche Repolitisierung der politischen Führung ist — unter den spätpluralistischen Bedingungen — jedenfalls i n hohem Maße schwierig. Hier bleibt es bestenfalls bei den „Geschäften auf Gegenseitigkeit" zur Reduzierung von akuten Steuerungsproblemen. Das zweite verwaltungspolitische Ziel: eine überwiegend „instrumenteile" Verwaltung w i r d also prinzipiell nicht erreicht. Schließlich scheint es der politischen Führung unter spätpluralistischen Bedingungen offensichtlich nicht zu gelingen, die für eine effektvolle Verwaltungspolitik erforderlichen Konzeptionen zu entwickeln und gegenüber der hoch-professionalisierten Verwaltung durchzusetzen (es ist leichter, die Verwaltung billiger zu machen als besser). W i r haben es hier mit einer A r t „Münchhausen"-Situation zu tun: wie eigentlich soll die so eng m i t der Verwaltung verbundene, auf sie weitgehend angewiesene politische Führung sich quasi selbst „befreien" und autonom jene Prinzipien entwickeln und durchsetzen, nach denen sie Inhalte und Strukturen des Verwaltungshandelns bestimmen soll? Damit rückt aber auch die Verwirklichung des dritten verwaltungspolitischen Ziels i n die Ferne: die Handlungsspielräume der politischen Führung für die Entwicklung und Durchsetzung administrationssteuernder Prinzipien mittlerer Reichweite scheinen zumindest eng begrenzt. VIII. So bleibt am Ende ein wenig Ratlosigkeit. Verwaltungspolitik scheint jedenfalls unter den spätpluralistischen Bedingungen und bei einer dem inkrementalen Modell folgenden politischen Führung nicht „bewußt" auf die noch wachsende Subjektqualität der Verwaltung reagieren zu können. Umfang und A r t der geringen Chancen für aktive Verwaltungspolitik sind aber nicht nur durch ein „Politikversagen" zu begründen. Auch „Schuldzumessungen" an die Verwaltung sind fehl am Platze. Vielmehr lassen sich Erklärungen wie Handlungsmöglichkeiten wohl erst aus den systemischen Bedingungen selbst gewinnen; nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer auf der Grundlage politik- und verwaltungskultureller Erkenntnisse erst noch neu zu fassenden Analyse und Erklärung spätpluralistischer Phänomene 30 . 30 Vgl. auch Jann, Werner: Politische Programme gegen Drogenmißbrauch und Jugendarbeitslosigkeit i m Vergleich. E i n Beitrag zum Konzept der „ V e r w a l t u n g s k u l t u r " (Diss. rer. pubi.) Speyer 1982.

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I m Vorgriff kann aber immerhin ermittelt werden — und dazu dient auch diese Tagung — welche partikularen Strategien mittlerer Reichweite zumindest für die fünf zentralen Handlungsbereiche entwickelt und — bei gewiß hohem Abstimmungsaufwand — allmählich doch implementiert werden könnten. Eine notwendige Voraussetzung hierfür ist der problemorientierte Diskurs zwischen Politik und Verwaltung als faktisch gleichwertigen Partnern. Auch die Wissenschaft kann hierbei einen nicht unwichtigen Platz gewinnen. Eine ihrer Aufgaben besteht darin, die gesellschaftliche und die politische Abhängigkeit des Verwaltungshandelns unter sich verändernden systemischen Bedingungen rechtzeitig zu thematisieren und dann zu erforschen. Dabei sind auch die vorläufig nicht „gesicherten" Aussagen relevant. Lassen Sie mich nun schließen m i t einer einfachen Erkenntnis: Wie Verwaltungspolitik auch immer reagieren kann oder sich aktiv entfalten w i l l , sie hat eine fast paradox klingende Regel zu beachten: Verwaltungspolitik ist — heute und zukünftig — ohne Einbeziehung und Mitwirkung der Verwaltung nicht mehr möglich!

2. Verwaltungsinterne Reaktionen au£ verwaltungspolitische Vorgaben Von Heinrich Siedentopf

Das Stichwort „Verwaltungspolitik" läßt uns zunächst nach dem Verhältnis von Politik und Verwaltung, präziser von politischer Führung und Verwaltung fragen. Halten w i r Verwaltungspolitik als den A u f trag zur politischen Führung der Verwaltung für notwendig, so müssen w i r weiter nach der Bereitschaft der Verwaltung fragen, eine solche politische Führung zu akzeptieren und i n administratives Handeln umzusetzen. I. Verwaltungsentwicklung in den letzten zwanzig Jahren Das Verhältnis von Politik und Verwaltung bzw. öffentlichem Dienst unterliegt Schwankungen, die nicht nur von der Stärke und dem Durchsetzungswillen der politischen Führung und nicht nur von ökonomischen oder budgetären Randbedingungen abhängig sind. Zur Skizzierung des gegenwärtigen Verhältnisses können w i r uns auf ein Zitat und eine ziemlich eindeutige Zustandsbeschreibung eines Kenners der Materie berufen: „Die innovative und optimistische Atmosphäre der späten 60er Jahre ist einer bitteren Feindseligkeit zwischen Verbänden und Gewerkschaften der öffentlichen Bediensteten einerseits und der Regierung andererseits, zwischen den Politikern und dem öffentlichen Dienst gewichen. Regierungen, die auf eine Reform des öffentlichen Dienstes durch die Einführung neuer Techniken und neuer Denkweisen bedacht waren, sind durch Regierungen ersetzt worden, die nur noch darauf aus sind, den öffentlichen Dienst zu beschneiden. Die Zeit einer guten Ehegemeinschaft, die früher bestand, ist durch eine Zeit des Hauens und Stechens ersetzt worden." Diese Zustandsbeschreibung bezieht sich — dies sei zu unserer Beruhigung gesagt — nicht auf unsere Situation i n der Bundesrepublik Deutschland. Sie skizziert vielmehr den atmosphärischen Wandel zwischen Politik und Verwaltung auf der britischen Insel 1 (John Garrett). I n der gleichen Richtung kommentiert ein anderer Beobachter (Fred Ridley) die kürzliche Auflösung des C i v i l Service Department dort drüben als einen A k t einer wahrhaften Vendetta der 1

Garrett , John: Managing the C i v i l Service, London 1980, S. 158.

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Premierministerin gegen den Civil Service. Denn ihrer Meinung nach bildete ein eigenes Ministerium eine zu starke Interessenrepräsentation des Civil Service i n der Machinery of Government. Solche Skizzierungen und Kommentare überraschen. Denn sie kommen aus einem Land, dessen öffentlicher Dienst für seine strikte Trennung von der politischen Führung und für seine neutrale Loyalitätserfüllung gegenüber der jeweiligen Regierung gerühmt w i r d — beides symbolisiert nicht zuletzt i n der Figur des wirklich permanenten Permanent Secretary an der Spitze der Ressortverwaltung. Bei uns sind Ministerien für den öffentlichen Dienst nicht so schnell zu gefährden. Aber die englische Skizze verweist doch auf einige parallele Entwicklungen i n den letzten 20 Jahren. Vorbei sind die sonnigen 60er und 70er Jahre, — i n denen Politik und Verwaltung A r m i n A r m und erwartungsvoll neuen Ufern eines ausgebauten Sozialstaates zustrebten, — i n denen sich neue Planungshorizonte auftaten und neue Planungsverfahren entwickelt und eingesetzt wurden, — i n denen traditionelle bürokratische Binnenstrukturen sturmreif erschienen und durch neueste Organisationsformen ersetzt werden sollten, — i n denen die Politik dem öffentlichen Dienst mit einem neuen Funktionsverständnis auch eine höhere A t t r a k t i v i t ä t und geänderte Verhaltensweisen verschaffen wollte 2 . Dem Betrachter der Verwaltungslandschaft am Ende dieser zwanzigjährigen Zeitspanne — knapp vor dem ominösen Datum 1984 — bietet sich i n der Tat eine nicht unerheblich gewandelte Verwaltungslandschaft dar. Die öffentliche Verwaltung 1980 ist m i t der öffentlichen Verwaltung 1960 kaum noch vergleichbar: weder i m Aufgabenbestand noch i m territorialen oder funktionalen Zuschnitt der Verwaltungseinheiten, weder i n der internen Organisation noch in der Verwendung technischer Verwaltungshilfsmittel, weder i n den Entscheidungsverfahren noch i n den Denk- und Verhaltensweisen der öffentlichen Bediensteten. Diese Veränderungen i n der öffentlichen Verwaltung scheinen aber niemanden übermäßig zu begeistern. Der Bürger klagt über eine anonyme und doch alle Lebensbereiche umfassende Bürokratie. Er scheut den Umgang m i t einer Verwaltung, 2 A u f das Beispiel der Studienkommission zur Reform des öffentlichen Dienstrechts, Bericht der Kommission, Baden-Baden 1973, w i r d verwiesen.

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die i h m gleichermaßen unfreundlich wie kostspielig erscheint, die i h n bevormundet und deren Entscheidungen i h m unverständlich bleiben. Für den Bürger scheint die Entwicklung der Verwaltung i n den letzten zwanzig Jahren nur eine weitere Einschränkung seiner Freiheitsräume gebracht zu haben. Bemühungen um Bürgernähe betrachtet er als eine verkaufsfördernde Verpackung gerade dieser Bevormundung. Der Politiker beteiligt sich an dieser Verwaltungsschelte — i n gewissen Zeiten geradezu ein überparteiliches Anliegen. Außer der erkennbaren Anbiederung des Politikers jeder Couleur bei dem verwaltungskritischen Bürger steht dahinter aber auch ein weitreichendes Unbehagen der Politik gegenüber der Verwaltung. Auch für den Politiker i n Partei, Regierung oder Verwaltungsführung ist die Verwaltung ein schwer zu reitender Tiger. Sie bestimmt selbst die Richtung der Entwicklung, sie überspringt die Politik i n ihren direkten Kontakten m i t den gesellschaftlichen Gruppen und präsentiert dem Politiker statt Entscheidungsalternativen scheinbare Sachzwänge, die den Politiker i n Einbahnstraßen ohne Wendemöglichkeiten dirigieren. Der Politiker sieht sich bei seiner Zielsetzung einem fachlich aufgegliederten Verwaltungsapparat gegenüber, die i h m jeweils unterschiedliche, fachliche Forderungen, Bedenken oder Konsequenzen vorlegt. Sind nun wenigstens die Verwaltung oder der öffentliche Dienst die Gewinner dieser Entwicklung? Sicherlich haben ihr Umfang, ihre Bedeutung zugenommen. Aber der einzelne öffentliche Bedienstete, Beamte, Angestellte oder Arbeiter, scheint daraus weder persönliche Befriedigung noch Verhaltenssicherheit ziehen zu können. Das Sozialprestige, das Beamte als Mitglieder des öffentlichen Dienstes empfinden, ist gering. Die ständige öffentliche K r i t i k an der „Staatsbürokratie — dem hoheitlichen Gewerbe" 3 (Ulrich Lohmar) sowie der beträchtliche Neid auf wirkliche oder vermeintliche Privilegien des Beamtenstatus 4 haben die Beamten weithin verunsichert. Die K r i t i k e r aus den verschiedenen Lagern sollten bedenken, daß durch ihre K r i t i k einerseits das Jobdenken i m öffentlichen Dienst („ein Arbeitsverhältnis wie jedes andere") verbreitet wird, und andererseits trotz ihrer K r i t i k immer noch ein Durchschnitt von 42 % der Mitarbeiter ihre Aufgabe i n der Verwaltung als eine „besondere Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit" erkennt 5 . 3 Lohmar, Ulrich: Staatsbürokratie — Das hoheitliche Gewerbe, München 1978. 4 Bosetzky, Horst: Selbstverständnis u n d Ansehen des öffentlichen Dienstes, i n : Laux, Eberhard (Hrsg.): Das Dilemma des öffentlichen Dienstes, Bonn 1978, S. 105 ff. 5 Bericht der Kommission zur Überprüfung von Verbesserungsmöglichkeiten i n der Hamburger Verwaltung, H a m b u r g 1981, S. 75.

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20 Jahre Verwaltungsentwicklung i n Deutschland haben zwar den planenden, gestaltenden und leistenden Sozialstaat vorangebracht, sie haben bisher eine vergleichsweise große, soziale und politische Stabilität gebracht und gesichert — i m Vergleich m i t anderen Ländern mit geringerer Verwaltungskraft und -leistung. Dennoch gibt es Irritationen zwischen den Akteuren dieses Systems, gibt es Konflikte zwischen Pol i t i k und Verwaltung. Sie gehen noch nicht bis zur bitteren Feindseligkeit wie i n dem britischen Beispiel. Aber sie begründen die Frage nach den Grenzen und Prinzipien administrativen Handelns und nach der politischen Steuerung und Führung dieses administrativen Handelns, kurz die Frage nach der Notwendigkeit, dem Inhalt und vor allem der Durchsetzung von Verwaltungspolitik. I I . Störungen im Verhältnis von Politik und Verwaltung Irritationen, Störungen und Konflikte i m Verhältnis von Politik und Verwaltung i n den letzten Jahren lassen sich vielfach belegen. Sie sind nicht i n erster Linie aus aktuellen, finanziellen Restriktionen begründet. Sie sind vielmehr begründet i n den unterschiedlichen Rollen von Politik und Verwaltung i n unserem politischen System und den Erwartungen, die jeder der Akteure an das Verhalten des anderen Akteurs i n diesem System richtet. Rollenverständnis und Rollenerwartung werden gerade i m Verhältnis von Politik und Verwaltung immer auch von traditionellen Vorstellungen geprägt. Zu diesen traditionellen Vorstellungen gehört auch — wem wäre dies nicht gegenwärtig — der Max Weber'sche Idealtyp der Bürokratie als überlegene, rationelle Organisationsform: „Die rein bürokratische, also: die bürokratisch-monokratische aktenmäßige Verwaltung ist nach allen Erfahrungen die an Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit und Verläßlichkeit, also: Berechenbarkeit für den Herrn wie für den Interessenten, Intensität und Extensität der Leistung, formal universeller A n wendbarkeit für alle Aufgaben, rein technisch zum Höchstmaß der Leistung vervollkommenbare, i n all diesen Bedeutungen: formal rationalste Form der Herrschaftsausübung 6 ." Der instrumenteile Charakter von bürokratischer Verwaltung, ihre Verfügbarkeit i n den Händen des Herrschenden werden hier offensichtlich. Deshalb konnte von einem nach diesem Vorbild konstruierten, sich verstehenden und handelnden Beamtentum lange Zeit erwartet werden, daß es den Willen der verantwortlichen politischen Führung i n administratives Handeln umsetzen werde. Entspricht dies nicht auch dem Verständnis des Grundgesetzes: die Regierung setzt die politischen Ziele und beschafft den politischen Konsens, während die Verwaltung fest umschriebene Aufgaben fach6

Weber, M a x : Wirtschaft u n d Gesellschaft, K ö l n / B e r l i n 1964, S. 164.

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licher A r t wahrnimmt, i n Sachlichkeit, i n Bindung an das Gemeinwohl und i n Unparteilichkeit? Entspricht nicht dies der verfassungsgerichtlichen Definition von Auftrag und Funktion des Berufsbeamtentums? 7 . „Das Berufsbeamtentum" ist nach der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts „eine Institution, die, gegründet auf Sachwissen, fachliche Leistung und loyale Pflichterfüllung, eine stabile Verwaltung sichern und damit einen ausgleichenden Faktor gegenüber den das Staatsleben gestaltenden politischen Kräften darstellen soll". Aus dieser instrumentellen, apparativen Sicht der Verwaltung ist wohl auch herzuleiten, daß manche Verwaltungsreform, Struktur- und Organisationsreform der letzten Jahre glaubte, sich auf das Auswechseln von Teilen des Apparats beschränken zu können und dabei gründlich scheiterte. Soweit zu traditionellem Rollenverständnis und zu traditioneller Rollenerwartung zwischen Politik und Verwaltung. Aus ihnen werden auch die beiderseitigen Störungen schnell erkennbar. Lassen Sie mich einige auf beiden Seiten nennen: Die Politik

ist irritiert

— über mangelnde Anpassungsbereitschaft der Verwaltung an geänderte Aufgaben und politische Vorgaben, — über langfristige Zeithorizonte der Verwaltung, die sich m i t den Wahlperioden, dem Lebensrhythmus des Politikers, nicht vereinbaren lassen, — über den jeweilig fachspezifischen Bezug der Aufgabenwahrnehmung und den Mangel an Integration und Koordination öffentlicher Aufgaben. Zum letzten Punkt spricht ein Kommissionsbericht aus den Niederlanden von 1980 von den „zwei Welten" i n der Regierungsorganisation: zum ersten die Welt der fachlichen Sektoren m i t ihrem jeweils eigenen Politikfeld, ihren eigenen Zielen, ihrem eigenen Produkt und ihrer eigenen Klientel. Jede fachliche Organisationseinheit versucht möglichst unabhängig zu operieren und andere Facheinheiten herauszuhalten. Eine genuine Kooperation kann nur von oben vorgegeben werden. Es überwiegt die Außenorientierung dieser Verwaltungseinheiten, an den korrespondierenden, gesellschaftlichen Gruppen, an der Klientel, an der gleichen Fachverwaltung der nächsten Verwaltungsebene. Diese Außenorientierung trägt wesentlich zur Selbstentwicklung öffentlicher Aufgaben bei — ein perpetuum mobile m i t immer höheren, fachlichen 7 BVerfGE7, S. 162. Dazu Leisner, Walter (Hrsg.): Das Berufsbeamtentum i m demokratischen Staat, München 1975, u n d Isensee, Josef: Der Parteienzugriff auf den öffentlichen Dienst — Normalzustand oder Alarmzeichen?, i n : Politische Parteien u n d öffentlicher Dien-st, Bonn 1982, S. 52 ff.

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Standards. Die politische Verwaltungsführung erscheint solcher Außenorientierung gegenüber ziemlich hilflos, wenn diese Orientierung ihre Ergebnisse als unüberwindliche Sachzwänge präsentiert. Die zweite, andere Welt, die Welt der Integration und Koordination hat — i n der Regel m i t einem schwachen administrativen Netzwerk versehen — weit divergierende Aufgabengruppen zu harmonisieren und schlecht definierte oder widersprüchliche Zielsetzungen zu verwirklichen. Eine starke Klientel für verwaltungsinterne Koordinationsarbeit gibt es nicht. Die Störungen i m Verhältnis von Politik, insbesondere politischer Verwaltungsführung und Verwaltung sind nicht weniger augenfällig und werden von der Verwaltung nicht weniger deutlich vermerkt. Die Verwaltung ist irritiert — über die Sprunghaftigkeit und Konzeptionslosigkeit der politischen Führung, deren Maßnahmen bestenfalls die Reparatur der Fehler vom Vortage sind, — über die mangelnde Resonanz fachlich begründeter Vorschläge, über fachlich nicht begründete Bedenken, verbunden m i t der Verlagerung von Entscheidungen auf Gremien und Zirkel außerhalb der Verwaltung, — über die direkte, unkeusche parteipolitische Intervention i n den administrativen Entscheidungsprozeß, — und schließlich über den Mangel an politischer Verwaltungsführung und Vorgabe. Die Verwaltung weiß, daß sie eine Funktion für die Gesellschaft wahrzunehmen hat, daß Verwaltung — i n welchen Rechtsformen auch immer — soziale, politische Gestaltung ist. Eine Entpolitisierung und Technokratisierung der Verwaltung droht nur dort, wo die politische Verwaltungsführung ihre Aufgabe nicht wahrnimmt oder wo sie über Ämterpatronage die Fachverwaltungen parteipolitisch zu kolonisieren sucht. Eine schwache, politische Verwaltungsführung fordert die Verwaltung heraus, m i t den Ersatzentscheidungsträgern, nämlich den parteipolitischen Gremien und Zirkeln gegen die politisch legitimierte Verwaltungsführung zu konspirieren. Störungen und Irritationen auf beiden Seiten laufen deshalb auf ein ziemlich leicht zu definierendes, aber schwer zu realisierendes Ziel hinaus: Verwaltungspolitik ist deshalb die Aufgabe der legitimierten politischen Führung i n Politik und Verwaltung,

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— bei der Politikformulierung den „Horizont des politisch Möglichen zu erweitern" (Niklas Luhmann) und die politische Ziel- und Wertartikulation gegen eine sektorielle, fachverwaltungsspezifische A l ternativenauswahl offenzuhalten und — bei der Programmdurchführung i m Sinne der politischen Zielsetzung auf die Verwaltung, ihre Organisations- und Personalstruktur und i h r Verwaltungshandeln einzuwirken. Verwaltungspolitik ist eine Führungsverantwortung der Politik, die aber die selbständige Funktion der Verwaltung und die Statusgarantien der öffentlichen Bediensteten i n der verfassungsrechtlichen Ordnung der staatlichen Funktionen anerkennt 8 . I I I . Verwaltungsinterne Reaktionen auf verwaltungspolitische Vorgaben Die abschließende Frage richtet sich auf Durchsetzungschancen und konkrete Felder einer solchen Verwaltungspolitik und ihrer Vorgaben. Haben sich die Verwaltungssektoren schon so sehr stabilisiert und i m Dialog m i t ihren gesellschaftlichen Bezugsgruppen so etabliert, daß sie zu einer Hergabe ihrer „Vorbereitungsherrschaft" an die politische Führung nicht mehr bereit sind? Kann i n der Politikdurchführung die politische Führung die Vollzugsdefizite, die Zielverschiebung, die eigenständige Selektion der Verwaltung überhaupt verhindern? Ist die Verwaltungsführung i n einer pluralistischen Demokratie noch i n der Lage, eine konsistente Konzeption für ihre Verwaltung zu formulieren? Die Verwaltung, die Fachverwaltung w i r d sich aus ihrer Außenorientierung nicht leicht lösen lassen und w i r d sich nicht auf die instrumenteile Verfügbarkeit i n dem Weber'schen Modell reduzieren lassen. Es ist jedoch ein Unterschied, ob sie Signale aus dem gesellschaftlichen Bereich aufnimmt und weitergibt oder ob sie die politischen Entscheidungen ersetzt. Der Kontakt der Verwaltung zu den relevanten Gruppen und Verbänden kann und w i r d sicherlich nicht unterbunden werden. Die Funktion politischer Willens- und Konsensbildung darf aber von der Verwaltung nicht usurpiert werden und von der politischen Führung nicht aufgegeben werden. Einer Verwaltungspolitik sollte auch nicht die „Verbeamtung der Parlamente" entgegenstehen, obwohl Beobachter hierin eine besonders listige Konspiration der Bürokratie zu beiden Seiten des Tisches sehen wollen. Der „Beamtenstaat", den manche Beobachter konstatieren, w i r d 8 Hesse, Konrad: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl., Heidelberg 1982, Rd.Nr. 538.

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damit belegt, daß von den 1892 Abgeordneten i n den Parlamenten des Bundes und der Länder über 40 °/o als Beamte oder Angestellte Angehörige des öffentlichen Dienstes sind, i m Saarland sogar 56,9 Vo und i n Rheinland-Pfalz 59 °/o. Selbstverständlich ist dies eine unangemessene Überrepräsentation einer einzelnen, i n sich aber doch sehr differenzierten Berufsgruppe. Dieses hat negative Auswirkungen auf den Dialog und den Erfahrungshintergrund des Parlaments. Diese Beamten- oder Angestelltenabgeordneten repräsentieren meines Erachtens aber gerade nicht den öffentlichen Dienst. Eine Konspiration der öffentlichen Bediensteten auf beiden Seiten des Tisches oder gar eine Identität von Kontrolleuren und Kontrollierten vermag ich deshalb darin nicht zu entdecken. Angehörige des öffentlichen Dienstes sind dieses jedenfalls i n der Bundesrepublik — anders i n Frankreich — nur i m dienstrechtlichen Sinne. Sie benutzen diesen Status nur zur sozialen Absicherung und verhalten sich auch i n der Regel nicht als homogene, interessengebundene, verwaltungsgeprägte Gruppe. Das Problem liegt vorwiegend darin, daß der Gesetzgeber diese A r t privilegierter sozialer Absicherung für diese Berufsgruppe einräumt: Politik ohne berufliches Risiko und m i t der sozialen Hängematte der Zugehörigkeit zum öffentlichen Dienst. Nach den Erfahrungen m i t den flächendeckenden, logisch-geschlossenen Strukturreformen der vergangenen 20 Jahre w i r d man m i t globalen Verhaltensempfehlungen vorsichtig sein müssen. Die öffentliche Verwaltung und der öffentliche Dienst sind aus vielfältigen Gründen — nicht zuletzt wegen ihres Umfanges — schwer steuerbar wie ein Geleitzug, der nur gradweise und langfristig umzusteuern ist. Eine Verwaltungspolitik der politischen Verwaltungsführung kann sich auf ein, meines Erachtens i m deutschen öffentlichen Dienst nach wie vor weitgehend vorhandenes Verständnis von einer besonderen Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit stützen. Verwaltungspolit i k hätte diese Grundlage ihres Handelns aber auch intensiv zu pflegen — ein wichtiger Punkt, wenn w i r m i t Frido Wagener von dem Neubau zur Pflege unseres Verwaltungssystems übergehen. Wenn — wie i n der kürzlich vorgelegten, empirischen Untersuchung i n Hamburg bestätigt — die Bereitschaft der öffentlichen Bediensteten zu einer Identifikation m i t ihrer Aufgabe und gleichzeitig — über die Arbeitsplatzsicherheit hinaus — ihre Arbeitszufriedenheit und Motivation trotz der permanenten K r i t i k von außen relativ hoch sind, so ist dies ein wichtiger Ausgangspunkt für pflegende Verwaltungspolitik. Es ist — nach den Ergebnissen der Befragung von 7104 Mitarbeitern der Hamburger Verwaltung 9 — eben nicht zutreffend, daß die öffent9 Statistisches Landesamt der Freien u n d Hansestadt Hamburg: Die H a m burger V e r w a l t u n g i m U r t e i l ihrer Mitarbeiter. Sonderdruck aus „ H a m b u r g i n Zahlen", Hefte 2 u n d 3, 1982, H a m b u r g 1982.

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liehen Bediensteten sich generell innerlich von ihrer Arbeit gelöst haben und einem sehr vordergründigen Jobdenken verfallen sind. Bei der Befragung wurde nach der Bedeutung der Tätigkeit i n der öffentlichen Verwaltung gefragt und m i t den Antwortmöglichkeiten entweder auf Jobdenken („ein Arbeitsverhältnis wie jedes andere") oder auf die „besondere Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit" abgestellt. Während i m Durchschnitt 42 % der Mitarbeiter ihre Aufgabe i n der Verwaltung als eine besondere Verpflichtung bewerten, gibt es einzelne Berufsbereiche, i n denen dieses Bewußtsein erheblich höher ausgeprägt ist, i m Bereich öffentliche Sicherheit und Rechtsprechung sogar m i t 57 °/o. Dieses Befragungsergebnis kann nach Statuszugehörigkeit und Alter noch weiter differenziert werden. Daß ältere Mitarbeiter sich stärker als jüngere Mitarbeiter m i t ihrer Aufgabe identifizieren und diese als besondere Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit empfinden, erscheint dann aber als bloße Selbstverständlichkeit und als auch i n anderen Berufzweigen erkennbarer Unterschied. Die Hamburger Repräsentativbefragung kann auch ein Beleg dafür sein, daß — zumindest i n solchen Kommissionen — die Bedeutung des Faktors Personal für die öffentliche Verwaltung erkannt wird. Der öffentliche Dienst ist nicht nur ein Faktor i n dem Produktionsverlauf öffentlicher Entscheidungen und Dienstleistungen. Der Faktor Personal hat eine eigenständige Bedeutung, der eine verantwortliche Personalpolitik und Personalführung entsprechen muß. Initiative und Arbeitsfreude, Motivation und Arbeitszufriedenheit sind Voraussetzungen einer wirksamen Verwaltung und müssen deshalb ein vorrangiges Feld verwaltungspolitischer Bemühungen der politischen Führung sein. Verwaltungspolitik sollte sich um das bemühen, was i m Wirtschaftsbereich unter dem Stichwort corporate identity diskutiert w i r d — etwas, das über den nächsten Betriebsausflug hinausweist und dem Mitarbeiter die Identifizierung mit seiner Aufgabe, den Stolz auf seine besondere Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit ermöglicht. Hier hat die politische Führung i n unserem Lande noch einigen Nachholbedarf. Die Verwaltung ist — nach den Worten von Fritz Morstein Marx — „ein umfassender und seine Komponenten wechselseitig stärkender Gesamtkomplex, dessen ineinandergreifende Verantwortlichkeiten einfach keinen verläßlichen alternativen Sachwalter in der Gesellschaft findet". Verwaltungspolitik sollte verhindern, daß nach der Atomisierung der Gesellschaft i n „Ein-Thema-Gruppen" sich nun auch die öffentliche Verwaltung i n Artikulationszirkel spezifischer Fachverwaltungen aufsplittert.

I I . Beiträge : Das „ B ü d " der Verwaltung 1. Erwartungshaltung und Verwaltungsverdrossenheit der Bürger Von Helmut Klages Wenn i n den letzten Jahren Bürger nach ihrer Einstellung zur Verwaltung befragt wurden, dann erzielte man verschiedentlich Ergebnisse, die alarmierend erscheinen mochten. Bei der SINUS-Untersuchung, die i m Jahr 1978 durchgeführt wurde, schätzten 2/z der Befragten „die" Verwaltung als „ineffektiv" ein. Nur 3 9 % glaubten, Verwaltungsentscheidungen seien vom Bürger nachvollziehbar und kontrollierbar. „Rund 8 0 % der Befragten kritisierten Amtsdeutsch und Unverständlichkeit." Bei einer 1974 durchgeführten Befragung der W i k kert-Institute dachten 55 % der Befragten „ganz allgemein gesehen über Behörden" „mehr negativ". Nur 2 9 % der Befragten dachten „mehr positiv". Bei einer Wiederholungsbefragung i m Jahr 1977 muß te festgestellt werden, daß sich die Zahl der „mehr negativ" Denkenden auf 77 % erhöht hatte, d. h. also die überwiegende Mehrheit umfaßte. So betrachtet gibt es die vielerörterte „Verwaltungsverdrossenheit" also durchaus. Das Bild, das ich Ihnen liefere, wäre nun allerdings sehr einseitig, wenn ich nicht sofort eine sehr merkwürdige Entdeckung mitteilen würde, die w i r auch i n eigenen Untersuchungen bestätigen konnten: Die Einstellungen der Bürger zur Verwaltung werden durchschnittlich betrachtet umso weniger negativ, je konkreter, je ortsnäher und erfahrungsbezogener sie abgefragt werden. A m positivsten werden die Einstellungen durchschnittlich betrachtet, wenn man zur Beurteilung derjenigen Sachbearbeiter auffordert, m i t denen die Bürger persönlichen Kontakt haben. Es ist naheliegend — und methodisch gesehen gestattet — aus diesem Einstellungsgefälle sehr grundsätzliche Folgerungen bezüglich der Herkunft und des Charakters der Verwaltungsverdrossenheit abzuleiten. Es ist bei dieser Negativeinstellung ganz offensichtlich ein sehr allgemeiner und verhältnismäßig abstrakter Meinungssachverhalt m i t i m Spiel, der als solcher mit der konkreten Erfahrung, die der Bürger m i t der Verwaltung macht, nur sehr wenig zu t u n hat. Es ist sehr typisch,

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Helmut Klages

daß zwischen diesem Meinungssach verhalt, der sich auf „die" Verwaltung bezieht und den Einstellungen der Bürger zum „Staat" schlechthin eine hohe Korrelation i m statistischen Sinne des Wortes besteht und daß die Einstellung zur Verwaltung gemeinsam m i t der Staatseinstellung i m Zeitablauf schwankt. Es w i r d hierin deutlich, daß die Verwaltungsverdrossenheit — auf derjenigen allgemeinen Ebene, auf der sie besonders deutlich zum Vorschein kommt — Teil eines problematischen Einstellungssyndroms ist, das sich heute auf das Gemeinwesen i m ganzen richtet, soweit dieses nicht unmittelbar mit der Verteilung von Wohltaten beschäftigt ist. Die Verwaltung hat, so betrachtet, Anteil an dem, w a s m a n das „sozialpsychologische

Mißgeschick"

des Sozialstaats

genannt hat, der — i m historischen Vergleich gesehen — unvergleichliche Leistungen austeilt und der dennoch relative Unzufriedenheit erntet. Es spricht nichts dagegen, i n den weit ausgreifenden und sehr komplexen Verursachungszusammenhang der Verwaltungsverdrossenheit, der an dieser Stelle sichtbar wird, u. a. auch die problematischen Auswirkungen der vorwiegenden Verwaltungsferne der Massenmedien und die Neigung vieler Politiker einzubeziehen, der Verwaltung immer wieder einen bequemen „schwarzen Peter" zuzuschieben, u m von sich selbst abzulenken. Vereinfacht ausgedrückt führen einschlägige Forschungsarbeiten zu der Einsicht, daß man die Ursachen der Verwaltungsverdrossenheit keinesfalls nur bei der Verwaltung selbst zu suchen hat. Man kann dementsprechend die Forderung nach einem Abbau dieser Negativeinstellung nicht allein an die Verwaltungspolitik richten. Es handelt sich hier vielmehr ganz offiziell offensichtlich u m eine gesamtpolitische Aufgabe, die ein umfassendes Maßnahmenkonzept erfordert, das über die Verwaltungspolitik hinausreicht und staatspolitischen Charakter besitzt. Es wäre nun andererseits sehr gefährlich, wenn man aus solchen Entdeckungen die bequeme Folgerung ziehen wollte, die Frage nach den Möglichkeiten zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen Staat und Bürgern aus der Verwaltungspolitik abschieben zu wollen. Die empirische Verwaltungsforschung stützt eine solche Folgerung keineswegs. Sie macht vielmehr sichtbar, daß die Einstellung der Bürger zur Verwaltung natürlich auch m i t denjenigen Wahrnehmungen zu t u n hat, die ihnen die Verwaltung selbst vermittelt. Indem die Verwaltungsforschung der Verwaltungspolitik solche Arbeitsergebnisse zugänglich macht, vermittelt sie i h r eine Chance der Selbstkontrolle und der Selbstkorrektur, die sie i n Maßnahmenkonzepte umsetzen kann, denen eine hohe Effektivitätswahrscheinlichkeit zukommt. Sie vermittelt ihr damit zugleich eine Chance, auf rational gesteuerte Weise das Ihre zur Verbesserung des allgemeinen Verhältnisses zwischen Staat und Bürgern beizutragen.

Erwartungshaltung u n d Verwaltungsverdrossenheit der Bürger

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W i r selbst konnten bei eigenen Untersuchungen feststellen, daß das Ausmaß der vom Bürger am eigenen Leib erfahrenen Informationsund Beratungsfähigkeit und -Willigkeit der Verwaltung einen besonders starken Einfluß auf die — von Außeneinflüssen mitbestimmte — Einstellung zur Verwaltung besitzt. W i r gehen aufgrund unserer Ergebnisse davon aus, daß die Verwaltung durch die Entwicklung ihres Informations- und Beratungspotentials i n besonders starkem Maße Erwartungen zu treffen vermag, m i t denen ihr der Bürger gegenübertritt und daß sie sich hierdurch einen bisher viel zu wenig genutzten Spielraum der autonomen Steuerung des sie selbst betreffenden Meinungsklimas erschließen kann. Fragt man nun, was Entwicklung der Informations- und Beratungsfähigkeit der Verwaltung' konkret bedeuten kann, dann stößt man auf eine Vielzahl von Ansatzpunkten. Erstens kommen Möglichkeiten der vermehrten und verbesserten publizistischen Selbstdarstellung der Verwaltung einschließlich einer verbesserten und intensivierten Pressepolitik i n Betracht. Zweitens geht es dann aber insbesondere auch um die vielbesprochene „kommunikative Dimension", deren Bandbreite von der freundlichen und aufmerksamen Behandlung von Behördenbesuchern über lesbare Formulare, richtig beschriftete Zimmertüren und angemessene Öffnungszeiten bis zur rechtsfehlerfreien und anliegensgerechten Bearbeitung des Einzelfalls reicht. Bürgerämter und Bürgerberatungsstellen haben i n einzelnen Fällen bereits ihre Bewährungsprobe bestanden, wenngleich die bisherigen Ergebnisse zeigen, daß hier noch manches hinzugelernt werden muß. Weiterhin w i r d i n bisher vorliegenden Projektgruppen Vorschlägen richtigerweise dem Verhalten von Sachbearbeitern beim Einzelkontakt m i t dem Bürger besondere Beachtung geschenkt. Verschiedentlich wurden spezielle Fortbildungsprogramme installiert, m i t denen dem Leitbild eines „Kundendiensttrainings" nachgestrebt wird. Der hier eingeschlagene Weg erscheint unter der Bedingung aussichtsreich, daß das nötige Intensitätsminimum erreicht w i r d und daß bei den Bediensteten eine entsprechende Motivation wachgerufen werden kann. Was noch aussteht, um dem „bürgerfreundlichen Sachbearbeiter" den erforderlichen Entwicklungsspielraum einzuräumen, sind Konzepte und Methoden der Personalsteuerung, m i t deren Hilfe besonders umgangsbefähigte Bedienstete an publikumsintensive Arbeitsplätze gebracht werden können und mit denen sie an diesen Arbeitsplätzen — auch bei hoher allgemeiner Befähigung — gehalten werden können. Es fehlt den Sachbearbeitern bisher weiterhin die Möglichkeit, einen vergrößerten Anteil ihrer Arbeitszeit Informations- und Bera-

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Helmut Klages

tungstätigkeiten zu widmen. Es fehlt ihnen endlich auch an der nötigen Rückenstützung, um den Anforderungen an Standfestigkeit und Risikobereitschaft, die der Umgang m i t den Bürgern m i t sich bringt, gewachsen zu sein. Die empirische Verwaltungsforschung bringt die Defizite, die auf dieser Ebene der „kommunikativen" Dimension bestehen, m i t außerordentlicher Drastik zum Vorschein. So macht sie sichtbar, daß die Bediensteten m i t Publikumskontakt — so weit sie i m Innendienst tätig sind — großenteils von ihren Arbeitsplätzen wegstreben und daß sie — so weit sie i m Außendienst tätig sind — i n Anbetracht der Probleme, m i t denen sie sich konfrontiert sehen, vielfach resignieren. ( 9 5 % von befragten Sozialamtsmitarbeitern gingen davon aus, nicht i m Sinne des Sozialhilfegesetzes „Hilfe zur Selbsthilfe", sondern Abhängigkeit zu bewirken.) Die Verwaltungsforschung macht ζ. B. auch sichtbar, i n welch besonderem Maße Menschen m i t niedrigem Bildungsniveau und geringer Verwaltungsvertrautheit, die Gesetze und Vorschriften grundsätzlich nicht lesen können, auf vertrauenswürdige Aufklärung angewiesen sind, ohne sie bisher jedoch i n ausreichendem Maße erhalten zu können, da die Sachbearbeiter i n der Regel dazu neigen, ihre verfügbare Zeit eher Bürgern m i t hohem Informationsniveau und entwickeltem sprachlichen Ausdrucksvermögen zu widmen, so daß ein kontraproduktives Informations- und Beratungsgefälle entsteht. Eine weiterentwickelte Informations- und Beratungsfähigkeit w i r d man sich über die einzelfallbezogene Tätigkeit von Außen- und Innendienstmitarbeitern hinaus überall dort zu erhoffen haben, wo die Verwaltung i m Zusammenhang von Planungsvorhaben Erörterungsund Beteiligungsverfahren zu praktizieren hat. Leider ist dieser wichtige Bereich von der Verwaltungsforschung bisher erst unvollkommen aufgehellt worden. Es lassen aber ζ. B. die von Peter Dienel entwickelten kommunikationsintensiven Verfahrenskonzepte der Planungszelle und des Bürgergutachtens zumindest erkennen, welche Wege grundsätzlich eingeschlagen werden können, um Verdrossenheit durch Vertrauen und Akzeptanzbereitschaft zu ersetzen. Man w i r d sich allerdings vor der Illusion hüten müssen, durch das bloße Angebot von „Partizipationschancen" automatisch einen Konsens über vernünftigere Lösungen aus dem H u t zaubern zu können. K l a r heit, Sachkenntnis, Argumentations- und Überzeugungsfähigkeit und die Bereitschaft der festen Vertretung für richtig erkannter Standpunkte gehören immer dazu. Es sollen am Ende diejenigen Überlegungen nicht ausgeklammert bleiben, welche darauf hinausgehen, ein immer weiterlaufendes Wachst u m von verwaltungseigenen Aufgaben durch die Entfaltung der Hilfe

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zur Selbsthilfe, der Selbstverwaltung und der Selb ^organisation zu ersetzen. Es wäre kurzsichtig, die Möglichkeiten, die hier schlummern, angesichts „alternativer" Schwärmereien von der bürokratielosen Gesellschaft der „kleinen Netze" links liegen lassen zu wollen. Es geht, wie ich meine, vielmehr darum, mit einem offenen Blick für verwaltungspolitische Erfordernisse und Möglichkeiten die Zukunftsaufgaben der Verwaltung, die sich hier anbieten, zu erkennen und ihre Nutzung vorzubereiten. Lassen Sie mich m i t einem Wort pro domo enden. Wenn ich m i r die zahlreichen Vorschläge ansehe, die von den bisher eingesetzten Entbürokratisierungskommissionen erarbeitet worden sind, dann bin ich einerseits natürlich beeindruckt. Andererseits fällt m i r aber auf, daß das Wissen der Verwaltungsforschung bei der Erarbeitung dieser Vorschläge bisher kaum berücksichtigt worden ist. Man kann hieran erkennen, daß auch i m Verhältnis zwischen Verwaltung und Verwaltungswissenschaft bisher noch Kommunikationsbarrieren bestehen. W i r sprechen während dieser Tagung hierüber nur am Rande. Ich meine aber, daß gerade eine Jubiläumstagung besondere Gelegenheit bietet, die Hoffnung auf einen baldigen Abbau solcher Barrieren auszudrücken.

2. Das Bild der Verwaltung in den Medien Von Willibald H i l f Die Verwaltungsverdrossenheit, über die Herr Klages gesprochen hat, ist auch uns i n empirischen Erhebungen aus ganz anderen Zusammenhängen heraus entgegengeschlagen: Untersuchungen zur Notwendigkeit, Regionalprogramme auszuweiten, haben Spannungen i m Verhältnis von Büxger und Verwaltung nachdrücklich bestätigt, die mit ganz spezifischen Erwartungshaltungen unmittelbar an die Medien einhergehen, ihnen eine Mittlerrolle und Hilfs- und Ratgeberfunktion zuweisen möchten. Eine ganz und gar problematische instrumentale Funktion, die hier den Medien quasi als A n w a l t der Bürger gegen die Verwaltung zugedacht würde. Dazu später mehr. Konstatiert man zunächst einmal, daß es an einer positiven Einstellung zur Verwaltung i m ganzen weithin mangelt, und geht man davon aus, daß — ganz i n Übereinstimmung m i t dem Befund von Herrn K l a ges — das B i l d des Bürgers von der Verwaltung eigentlich weniger auf direkter eigener und partieller Erfahrung m i t Behörden beruhen kann als vielmehr auf Informationen, die scheinbar ein Urteil über die Verwaltung als ganzes ermöglichen, so ist die naheliegende Schlußfolgerung rasch gezogen. Es müssen die publizistischen Massenmedien sein, die durch Darstellung eines Zerrbildes der Verwaltung den richtigen Blick verstellen. Herr Klages spricht vorsichtiger von „Verwaltungsferne der Massenmedien". Der Schuldige wäre also schnell gefunden. Nicht nur, u m die Diskussion zu fördern, sondern aus Überzeugung sage ich dazu aber vorab: So ganz bereitwillig werde ich diese Sündenbockrolle für die Medien nicht übernehmen, und schon gar nicht allein. Versuchen w i r zunächst zu differenzieren und das Problem genauer einzukreisen, womöglich auch, die Bedeutung aufweisbarer Mängel zu relativieren. Ich muß freilich einräumen, daß ich mich dabei kaum auf wissenschaftliche Erkenntnisse noch auf einen ausreichenden empirischen Befund stützen kann. Trotz der intensiven wissenschaftlichen und politischen Zuwendung zur Rolle und den Wirkungen der Massenmedien findet das Thema „Verwaltung und Medien" bisher keine große Beachtung, was ich durchaus auch als Indiz dafür achte, daß hier fundamentale Bruchstellen oder Konfliktfelder weder auf der einen noch der anderen Seite gesehen werden. Ich möchte deshalb, bevor ich mich

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auf eine Diskussion der Problemfelder und der Schwachstellen einlasse, eine positive Feststellung vorausschicken dürfen: Die Massenmedien i n der Bundesrepublik erbringen eine tägliche Informationsleistung gegenüber der Bevölkerung, die ihresgleichen weith i n sucht. Dabei ist gerade der A n t e i l der i m weitesten Sinn politischinformatorischen Berichte, also der Behandlung der öffentlichen Angelegenheiten, außerordentlich hoch und — zumindest bei Funk und Fernsehen — i n den letzten Jahren stetig angewachsen. Weil alle Lebensvorgänge heute so intensiv m i t öffentlicher Verwaltung verwoben sind, und die Schwerpunkte der Verwaltungstätigkeit sich — etwa i n den Bereichen Bildungswesen, Sicherheit, Arbeits- und Wirtschaftsverwaltung, Verkehrswesen, Technik, Umwelt, Gesundheit — weit jenseits der offenbar immer noch weitgehend i m Mittelpunkt gesehenen klassischen Hoheitsverwaltung finden und dort durchaus mit den Informationsbedürfnissen und Leistungserwartungen der Bevölkerung korrelieren, ist ganz zwangsläufig Verwaltung ein intensiver, wenn auch nicht immer expliziter Gegenstand der Berichterstattung i n den Massenmedien und insgesamt von einem Umfang, der das Erfassungsund Beobachtungsvermögen einzelner sicher bei weitem überfordert. Die Verwaltungsferne der Medien, von der Herr Klages sprach, verstehe ich daher als qualitatives, sicher nicht als quantitatives Problem. Verwaltung ist i n den Medien viel öfter Gegenstand der Darstellung als uns das offenbar zum Bewußtsein gelangt, und die Darstellung, i n der es u m die materiellen Inhalte des Verwaltens, um ihre Gegenstände und handelnden Personen geht, verläuft wohl ganz überwiegend problemlos, wenn Sie akzeptieren, daß sachliche Kritik zu den Aufgaben unabhängiger Medien zählt und nicht schon per se einen Regelverstoß oder politische Unvernunft darstellt. Ein bestimmtes „ B i l d der Verwaltung i n den Medien" ergibt sich daraus meines Erachtens nicht, kann es auch angesichts des vielschichtigen Vorkommens verwaltungsrelevanter Fragen eigentlich nicht geben. Evident anders ist das freilich dann, wenn das Verwalten als solches, als bürokratischer Prozeß i n den Blick der Medien gerät. Insoweit haben w i r ein Bild, überwiegend aus Grautönen. Bürokratie ist ein ausgesprochenes Reizwort unter den Medienschaffenden, was ich i n vielfacher Hinsicht zu spüren bekomme. Ich w i l l dabei nicht auf die berüchtigte Bürokratisierung innerhalb der Medien selbst hinaus, sondern auf die klischeehaften Züge, von denen i n der Tat die Berichterstattung geprägt ist, wenn sie sich mit der Verwaltung als solcher befaßt. I n der K r i t i k an Bürokratie und Beamtentum ist man sich außerhalb rasch einig. Also kann ich — wenn sie nur das Regel-Ausnahmever-

Das B i l d der V e r w a l t u n g i n den Medien

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hältnis i n der sachgemäßen Darstellung von Sachfragen der Verwaltung durch die Massenmedien akzeptieren — insoweit nicht länger daran vorbei, daß die Medien der Verwaltung unter dem Blickwinkel der Bürokratie oder des Bürokratismus nicht gerade wohlgesonnen gegenüberstehen und ihre K r i t i k f u n k t i o n besonders betonen. A n Beispielen w i r d es Ihnen nicht mangeln. Wir senden beispielsweise i n unserem baden-württembergischen Regionalprogramm eine wöchentlich wiederkehrende Sendung „Das Ärgernis der Woche", die sich fast zwangsläufig m i t Verwaltungsentscheidungen befaßt und die von den Programmachern besonders hartleibig verteidigt und von der Verwaltung naturgemäß ebenso m i t Unbehagen gesehen w i r d . Und w i r haben hier i n dieser Gegend um Ludwighafen und Speyer ja ein für unser Thema durchaus interessantes Rundfunk-Novum, nämlich ein subregionales Hörfunkprogramm (des SDR) m i t Namen Kurpfalzradio, das von der Medienforschung besonders intensiv begleitet wird: Und hier ergab eine Analyse der Häufigkeit von Lob und K r i t i k — zugleich i m Verhältnis von Presse und Rundfunk — zwar i m Blick auf Personen und einzelne Gegenstände der Berichterstattung „ein mehr oder wenig heterogenes B i l d — mit der Ausnahme allerdings, daß die Verwaltung bei allen Medien zu den am meisten Kritisierten zählt". Diese Feststellung sollte vielleicht den Bürgermeistern, Landräten und sonstigen Repräsentanten zu denken geben, die besonders nachdrücklich von der Einführung lokalen oder subregionalen Rundfunks eine Verbesserung des Informationsangebotes i m überschaubaren Lebensbereich erwarten, sollte i m übrigen aber nicht überbewertet werden; denn K r i t i k zu üben, ist nun einmal Aufgabe und Auftrag freier und unabhängiger Medien i n einer demokratischen Gesellschaft, ja für diese nachgerade wesensnotwendig. Und ganz naturgemäß setzt sie zuvörderst da an, wo gegenüber den Bürgern Macht ausgeübt, wo auf Lebens Verhältnisse intensivst eingewirkt wird; und das ist nun einmal bei der öffentlichen Verwaltung der Fall. Darüber hinaus gibt es hier sicher auch i m Grundsatz keinen Streit, daß die Medien nicht Sprachrohr der Verwaltung sein können, sondern Informationsmittler mit dem Recht zur K r i t i k . Deshalb ist es m i r wichtig, als zweites neben der Betonung der Gesamtinformationsleistung der Medien die Funktion der Medien als k r i tisches Gegenüber der Staatsgewalten besonders zu betonen. Nach diesen Prämissen freilich bin ich dann gern bereit, über A r t und Maß der K r i t i k , über Mängel und Defizite, die dabei auftreten, unbefangen zu sprechen und über Verbesserungsmöglichkeiten nachzudenken. 5 Speyer 90

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Denn die Kritifcfunktion ist nicht die einzige oder vorrangige Rolle der Medien. Mindestens gleichrangig sind i n meinen Augen vielmehr die Mittlerfunktion und die Gewährleistung der Richtigkeit von Informationen sowie die Integrationsîunktion , ohne die eine pluralistische Gesellschaft i n Orientierungslosigkeit verfallen muß. Die Anforderungen an einen verantwortlichen Umgang m i t den eigenen Möglichkeiten und Machtmitteln sehe ich also bei den Medien i m Prinzip nicht geringer als bei der Verwaltung. Die Medien müssen jedenfalls bei weitem mehr bieten, als Vorurteile zu reproduzieren. Der Gleichklang m i t Vorurteilen der öffentlichen Meinung ist noch keine genügende Rechtfertigung. Und sie haben gegenüber legitimierten Entscheidungen der Verwaltung auch nicht die Rolle des Anwalts für Minderheiten i n solcher Weise zu übernehmen, daß ein fast übermenschlicher M u t dazu gehört, unpopuläre Verwaltungsentscheidungen überhaupt noch i n Angriff zu nehmen. Diese Schwelle, wo die Medien unmittelbar gestaltend auf öffentliche Angelegenheiten einwirken, sollten sie nicht überschreiten wollen und können — sonst würden sie nicht nur, wie häufig unterstellt, zur vierten Gewalt i m Staat, sondern zur ersten, und dazu fehlt jede Legitimation. Wenn nun — sicher i m Verhältnis zur Politik, aber damit häufig zugleich eben auch i m Verhältnis zur Verwaltung — solche ernsten Fragestellungen an die Medien i n den Blick geraten, besteht selbst dann, wenn i m großen und ganzen ein positives B i l d gerechtfertigt ist, aller Anlaß, auch i n den kleinen und noch veränderbaren Dingen allem nachzuspüren, was i m Sinne eines Satzes von Ernst Benda, daß i n der pluralistischen Demokratie eine freie Publizistik und die res republica zusammengehören, zu einem partnerschaftlichen Verhältnis der Medien und der öffentlichen Verwaltung beitragen könnte. I n diesem Sinne möchte ich ein paar Hinweise auf mögliche Ursachen für die kleineren und größeren Friktionen anfügen, was i m Rahmen dieses Statements freilich nur i n Stichworten geschehen kann. Nicht alles erfolgt willkürlich oder böswillig, sondern es gibt natürlich auch mancherlei Sachzwänge, Sachgesetzlichkeiten, die man i n Verwaltungen und Medien wechselseitig voneinander wissen sollte und i n Rechnung stellen muß: Die Massenmedien haben weder die Möglichkeit noch die Fähigkeit, Verwaltungsverfahren systematisch zu begleiten. Was w i r sehen und hören oder in Zeitungen lesen, sind überwiegend Momentaufnahmen. Besonders dem Fernsehen eignet eine gewisse Kurzatmigkeit der Berichtsteile, und der Berichtsaufbau vom Bild her führt zur Dominanz des bewegten Bildes, der A k t i o n gegenüber der erklärenden Erläute-

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rung i m Wort. Alle Medien wiederum neigen zu einer starken Personalisierung von Sachfragen und zur Betonung des Außergewöhnlichen, des aus der Form Fallenden. Das w i r d viel bedauert, erfordert aber doch Verständnis, wie ein einfaches Beispiel deutlich machen mag: Ein angekommener Zug ist keine Meldung, ein entgleister Zug immer! Das alles sind Elemente insbesondere der elektronischen Medien, die schwer behebbar sind, die man aber gerade deshalb — auch i n der Bevölkerung — kennen und i n Rechnung stellen sollte, und die natürlich gerade für den Berichtsgegenstand Verwaltung i n manchem besonders dysfunktional erscheinen müssen, da „Verwalten" nun eben besonders schlecht sichtbar gemacht werden kann; freilich aber auch immer mehr i n langwierige Prozesse ausgeufert und so komplex geworden ist, daß Entscheidungen derart i n Einzelschritten und unter Beteiligung so vieler Personen erfolgen, daß sie nur noch i n Bruchstücken und ohne Möglichkeit personaler Zuordnung und Verantwortlichkeit wahrnehmbar werden. Bevor ich damit auf mögliche Defizite i n der Verwaltung selbst weise, aber nochmals zurück zu den Medien. A u f einige Sachzwänge hatte ich hingewiesen. Damit w i l l ich aber nicht behaupten, daß es nur Sachzwänge sind, die als Steine i m Weg liegen, sondern es gibt natürlich auch Menschliches und allzu Menschliches, was reflektiert werden muß: Das ist der mitunter missionarische Drang, der viele unserer M i t arbeiter i n eine falsche Gewichtung von Nachricht und Kommentar führt; und es gibt natürlich Probleme der fachlichen Kompetenz, die nicht zu übersehen sind. Aber dies führt fast schon wieder i n einen Sachzwang: Denn wie sollte ein Journalist beschaffen sein, der fachlich i n der Lage wäre, über alle die täglich wechselnden Themen und Zusammenhänge der unterschiedlichsten Fachsparten inhaltlich so Bescheid zu wissen, daß er zu fundiertem eigenen Urteil i n der Lage wäre. Das kann es offenkundig nicht geben, und das ist ein beträchtliches und ungelöstes Dilemma der Medien. Von vergleichbaren Problemen ist aber die Verwaltung i m Verhältnis zu den Medien auch nicht frei: Die mangelnde Transparenz der Verwaltung habe ich schon erwähnt. Die Neigung zu einer beträchtlich sperrigen Sprache darf man wohl gleichfalls nicht übersehen. Die frühere Publizitätsscheu der Verwaltung hat zwar erfreulich abgenommen, aber die aktive Öffentlichkeitsarbeit verläuft doch noch immer sehr unterschiedlich je nachdem, ob die Initiative (zur Selbstdarstellung) von der Verwaltung selbst ausgeht oder von den Medien herrührt und dann oft in Verweigerung endet. 5*

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Schließlich — ich weiß nicht, ob mich der Eindruck täuscht, aber ich sehe es so, und das Wort vom sozialpsychologischen Mißgeschick der Verwaltung weist i n diese Richtung — es gibt w o h l einen gewissen Imageverlust der Verwaltung als Garant für Neutralität, Unabhängigkeit und Gerechtigkeit, für den die Ursache nicht nur oder überhaupt nicht bei den Medien zu suchen ist. Darüber lohnt sich wohl weiter nachzudenken. Übrigens ist uns dieses Phänomen bei den Medien nicht fremd; auch hier nimmt die Zufriedenheit m i t dem Anwachsen und der Verbesserung des Gebotenen seltsamerweise ab. Institutionen müssen also wohl für eine Zeit damit zufrieden sein, nur noch geachtet zu sein; sie dürfen nicht auch noch erwarten, geliebt zu werden. Überlegungen darüber, was nun eventuell konkret geschehen kann, um wenigstens die unnötigen Friktionen i m Verhältnis der Verwaltung und den Medien auszuräumen, deren mögliche Ursachen ich angedeutet habe, w i l l ich gern der Diskussion überlassen. Da aber vielfach die sogenannten neuen Medien und eventuelle Strukturreformen des Rundfunks i n Deutschland als Allheilmittel für alle möglichen echten oder vermeintlichen Gebrechen angesehen werden und für die öffentliche Verwaltung durch Verbände und Regierungen auch ein erhebliches Interesse an den neuen Medien bereits reklamiert wurde, w i l l ich auch dazu ein paar kurze Anmerkungen machen: Durch die beabsichtigte breitbandige Verkabelung des Bundesgebietes w i r d technisch die Möglichkeit entstehen, von der ausschließlich großflächigen Verbreitung von Rundfunkprogrammen i n lokale und subregionale Größenordnungen zu gehen. Da Verwaltung m i t ihren einzelnen Entscheidungen i n der Regel ebenfalls räumlich begrenzt w i r k t und entsprechende Informationsinteressen sich dementsprechend auf die Nahwelt beschränken, liegt i n der Lokalisierung des Rundfunks eine Chance zu wesentlich intensivierter elektronischer Berichterstattung auch und gerade über Verwaltungsfragen. Zugleich besteht aber auch die Gefahr neuer Monopolisierungen i n Zeitungshand, (und i m übrigen w i r d man die Entwicklungsfähigkeit lokalen Rundfunks vor dem Hintergrund der Kosten nur i n einer äußerst langfristigen Perspektive sehen dürfen. Je kleiner i m übrigen eine Redaktion ist, desto geringer ist naturgemäß der spezifische Sachverstand, den sie i n sich versammeln kann, was gerade i m Verhältnis zur Verwaltung die Problematik nicht unbedingt mindert. Als ein neues Medium, das den Verwaltungen die Möglichkeit gibt, Informationen an die Bürger direkt und i n eigener Gestaltungsform zu geben, ist vor allem auf Bildschirmtext hinzuweisen, der ja ab 1983

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als reguläres Dienstangebot der Bundespost i m großen Stil i m Bundesgebiet eingeführt werden soll. Eine einigermaßen nennenswerte A n schlußdichte i n der Bevölkerung vorausgesetzt, könnte sich Bildschirmtext i n der Tat als ein wichtiges Hilfsinstrument für bestimmte Grundinformationen über Verwaltungsaufbau, Zuständigkeiten, Verfahren, wichtige Vorschriften und dergleichen erweisen, ohne aber doch mehr als marginale Bedeutung zu erlangen. Für die Herstellung echter Öffentlichkeit der Verwaltung, die uns i m demokratischen Rechtsstaat selbstverständliches Ziel sein sollte, w i r d es auf ein unabhängiges, aber sinnvoll aufeinander eingestelltes Nebeneinander zwischen den klassischen Informationsmedien und der öffentlichen Verwaltung auch weiterhin entscheidend ankommen.

3. Selbstentwicklung der Verwaltung Von Frido Wagener Selbstentwicklung der Verwaltung gehört zum negativen B i l d der Verwaltung. Man denkt an Parkinson, an die Bürokratie als „Krake", an den „aufgeblähten Beamtenkörper" und ähnliches unappetitliche. A u f dieses stattsam bekannte Feld möchte ich mich nicht begeben. Als Ansatzpunkt darf ich vielmehr den Vorgang der Veränderung wählen. Man muß nicht „Geistesriese" oder „Systemtheoretiker" sein, u m zu verstehen, daß ein staatliches oder kommunales Gemeinwesen dann besondere Stabilität zeigt, wenn es die Fähigkeit hat, sich permanent zu verändern und den Bedürfnissen der jeweiligen Umwelt anzupassen. So paradox es klingt: Veränderung ist also die Voraussetzung für den Bestand. Wenn w i r uns m i t „Verwaltungspolitik" und dem „ B i l d " der Verwaltung beschäftigen, dann taucht sofort die Frage auf: Wer sorgt denn für die notwendige Veränderung innerhalb der Gemeinwesen? — Sind es die Politiker oder (staatsrechtlich gedacht) ist es die „Legislative"? — Sind es die Verwaltungsleute, also die „Exekutive" oder — sind es etwa die Richter — die „Judikative"? Wer entwickelt also wen? Oder — das wäre ja auch möglich — entwickeln und verändern alle zugleich? Dann müßten w i r etwas über die Anteile wissen. Meine Damen und Herren, w i r sitzen hier, u m uns gegenseitig (aber insbesondere »Sie) aufzuregen. Das kann man am besten, wenn man einseitige, überzogene Aussagen macht. Diejenigen, die entschieden „sowohl als auch", „ j a " und gleich „aber" sagen, haben meist recht: Monokausales gibt es ja nicht. „Relativiert" und „langweilig" liegen jedoch nahe beieinander. Deshalb möchte ich sieben kurze Thesen zur „Selbstentwicklung der Verwaltung" vortragen, die wahrscheinlich dem Vorw u r f der Einseitigkeit nicht entgehen werden, nämlich: — Das Gewicht der großen Zahl — Der „Dinosaurier"-Effekt — Keine Verwaltungspolitik

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— Innenorientiertes Personal — Schwindende Einzelverantwortlichkeit — Vertikale Überbetonung von Fachaufgaben — Tragische Freiheit beim Aussuchen dessen, was man noch t u n kann. I. Das Gewicht der großen Zahl Der erste — sehr globale — Grund für die Selbstentwicklung der Verwaltung liegt i n der „schieren" Größe der heutigen Verwaltung. Wenn auch auf tausende von Einheiten verteilt, ist die Tätigkeit der Verwaltung nur andeutungsweise durch Gesetzgebung zu steuern und durch Gerichte zu kontrollieren. Den etwa 1900 Mitgliedern der staatlichen Parlamente und den rund 3200 Verfassungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Finanzrichtern stehen immerhin 3 005 372 Vollbeschäftigte des öffentlichen Dienstes von Bund und Ländern (als Verwaltung i m weitesten Sinne) gegenüber. Die weit mehr als 1 M i l l i o n Beschäftigten der Gemeinden und Gemeindeverbände sollen immerhin durch mehr als 100 000 Mandatsträger „gebändigt" werden. Aber dies ist ein Sonderproblem. Die heutige Verwaltung ist jedenfalls vom Volumen her dem vollbeladenen Supertanker vergleichbar, der noch kilometerweit geradeaus fährt, auch wenn die paar Befehlshaber und Steuerleute auf der Brücke das Huder längst nach links oder rechts geworfen haben. Alles spricht dafür, daß weder die Politiker noch die Richter durch überragenden Intellekt und Klugheit steuern könnten. Sicher w i r d es „tumbe" Leute i n der Verwaltung geben; alles i n allem w i r d aber die höhere geistige K r a f t (schon unter dem Gesichtspunkt der großen Zahl) i n der Verwaltung versammelt sein. Nicht umsonst heißt ein neues Taschenbuch „Abschied von Montesquieu — Justiz und Parlament i m Netz der Bürokratie — " (von Hans Girardi, Verlag C. F. Müller, Heidelberg). Schon die reinen Zahlen — ganz unabhängig von allen sonstigen Analysen — führen zu dieser Aussage. II. Der „Dinosaurier"-Effekt Ein zweiter Durchschlupf, der die Selbstentwicklung der Verwaltung fördert, hängt m i t der schon festgestellten Größe zusammen. Weite Verwaltungs- und Politikbereiche leiden inzwischen an einer A r t „Dinosaurier"-Effekt, das heißt, die Körper wurden riesig und massig, die Gehirne blieben aber klein und „elitär" (oder groß und voller „Wasser"). Diese „Dinosaurier"-Lage i n unseren öffentlichen Bereichen w i r d nicht nur nicht bekämpft, sondern gar nicht erkannt. Selbst i n der Sprache

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verstehen sich Kopf und Glieder nicht mehr. Gesetze und Verordnungen, Erlasse und Richtlinien, Rundschreiben und Erläuterungen der zentralen Stellen, der Ministerien, der Verbände bis hin zu den Parteizentralen leben inzwischen i n deutlicher sprachlicher und intellektueller Distanz von der Durchführungsverwaltung. Die Führung kann sich m i t der Masse des bedruckten und beschriebenen Papiers bei der eigenen Verwaltung, die m i t dem Bürger zu tun hat und die investieren soll, gar nicht mehr verständlich machen. Aus dem Ganzen entsteht ebenfalls eine Selbstentwicklung der Verwaltung. Nicht i n der Weise, daß k ü h l geplant und vorsätzlich gewollt eine Emanzipation der Verwaltung von Politik und Gesetzgebung, Gerichten und Rechnungshöfen erfolgt. Nein, mehr unbewußt, zufällig und chaotisch. Entgegenstehende Kräfte sind einfach nicht mehr mächtig genug. I I I . Keine Verwaltungspolitik Dies hat nun wieder — und dies wäre meine dritte These — m i t einem sehr grundsätzlichen Mangel zu tun. W i r kennen keine Verwaltungs-System-Pflege und keine ebenen-übergreifende VerwaltungsOrganisations-Politik. Der Aufbau und die Wirkungsweise unseres politisch-administrativen Gesamtsystems hat sich i n den letzten drei Jahrzehnten ohne erkennbare Steuerung, fast zufällig und grundsatzlos, tiefgreifend verändert. W i r kennen zwar die Sozialpolitik, Wirtschaftspolitik, Außenpolitik und zahlreiche andere Fachpolitiken; u m eine Organisations- und Aufbaupolitik aller öffentlichen Hände kümmert sich aber niemand. Wer i m öffentlichen Bereich steuernd verändern w i l l , der braucht ein Leitbild, eine Planung oder wenigstens einen Bestand an Grundsätzen, die er erreichen oder einhalten w i l l . Wie w i l l man aber Verwaltungspolitik betreiben, wenn man gar kein Ziel kennt, das anvisiert werden soll? Vieles, was da i n den Ministerien i n Gang gesetzt wird, erinnert mich an das Wort von Mark Twain, der gesagt hat: „Nachdem sie das Ziel verloren hatten, verdoppelten sie ihre Anstrengungen." IV. Innenorientiertes Personal Die vierte Tendenz zur Eigenentwicklung der Verwaltung schließt an die dritte an: Sie bezieht sich auf das Personal. Es ist seit einiger Zeit ein eigentümlicher Immobilismus und verstärkte Parteipolitisierung festzustellen. Jüngere und mittelalterliche Kräfte setzen sich sehr frühzeitig räumlich (und teilweise auch geistig) zur Ruhe. Den guten Regierungsdirektor bekommt man gar nicht mehr i n das Ministerium, seine Frau ist schließlich Lehrerin und w i r d i n Stuttgart, Mainz, Wies-

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baden oder womöglich Bonn ja keine Stelle finden. Das schlechte Image der Verwaltung nach außen führt nach innen zur „kameradschaftlichen Bürokratie". Der Personalrat, die Parteipolitik, die „Humanisierung" des Arbeitslebens schützen das interne Mittelmaß vor der Konkurrenz von außen. Gegen seinen Willen kann kaum ein Beamter mehr versetzt werden. Die Gleitzeitregelung und die Qualität der Kantine sowie der „Humanfaktor" der Organisation scheinen manchmal wichtiger zu sein als das Publikum. Immer häufiger geschieht es, daß Organisationsuntersuchungen, von denen auch nur andeutungsweise Stelleneinsparungen zu erhoffen sind, vom Personalrat durch hinhaltenden Widerstand blockiert werden. Gleichzeitig rennen aber drei interdisziplinäre Professoren und M i t arbeitergruppen i n verschiedenen Bundesministerien herum und erforschen für sicher eine M i l l i o n und mehr unter der Überschrift „Humanisierung", daß die Sekretärinnen zu 90 υ /ο nicht gern i n Schreibsälen sitzen. Das hätten w i r ja auch ohne empirische Sozialforschung herausbekommen. Ich weiß nicht, ob ich superkritisch und empfindlich bin: I n den letzten Jahren beschleicht mich aber manchmal i n Behörden, zu denen ich als Bürger und Kunde (häufig gar nicht freiwillig) komme, daß ich nicht willkommen bin. Daß ich die Vorzimmerdamen und Sachbearbeiter eigentlich störe, daß sie v o l l m i t sich selbst beschäftigt sind, wobei ich zur Gerechtigkeit bemerken möchte, daß ich mich i n Kaufhäusern und Supermärkten von Schwätzchen haltenden Verkäufern und Verkäuferinnen häufig auch nicht gerade als freudig erwarteter Kunde, sondern als Störenfried behandelt fühle. Diese A r t ungesteuerter Selbstentwicklung der Verwaltung ist also vielleicht gar keine Verwaltungsbesonderheit, sondern gilt für alle großen, unübersichtlichen Gebilde, i n denen Menschen miteinander zu t u n haben. V. Schwindende Einzelverantwortlichkeit Meine fünfte These lautet: Die SelbstentWicklung der Verwaltung w i r d durch eine generelle Tendenz zur Auflösung von Einzelverantwortlichkeit gestützt. Innerhalb der Behörden kann kaum noch ein einzelner Mann (oder Frau) gefunden werden, der w i r k l i c h für eine Entscheidung, insbesondere für eine Fehlentscheidung, verantwortlich gemacht werden könnte. Obwohl ursprünglich durchaus anders gedacht, erweisen sich die vielfältigen Bemühungen u m die Auflösung „obrigkeitlicher Strukturen" i n der öffentlichen Verwaltung als Lockerung der Gesetzesbindungen. Dem Bürger treten immer weniger einzelne, verantwortliche Personen i n der Verwaltung gegenüber, sondern „ A r -

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beitsgruppen", „gemischte Ausschüsse", „Antragsannahmebeamte", „vorläufige Bearbeiter". Dies ist für den Nichtfachmann alles sehr unübersichtlich. M i t der erheblich fortgeschrittenen Auflösung der „Hierarchie" i n Behörden und der Aufgliederung bisher i n einer Hand liegenden Zuständigkeiten auf mehrere „Spezialisten" sind die Entscheidungen „zufälliger" geworden als früher. VI. Vertikale Überbetonung von Fachaufgaben Der sechste Weg zur Selbstentwicklung der Verwaltung w i r d von Erscheinungen geebnet, die ich seit längerer Zeit „vertikale Fachbruderschaften" nenne. Die horizontale Ebenengliederung von Bund, Ländern und Gemeinden hat sich verflüchtigt. Die einzelnen Gebietskörperschaften muß ten früher ihr Geld und ihre Aufgaben jährlich i n ein Gleichgewicht bringen. Aus dieser Organisation der „Sahneschichttorte" ist eine A r t „Marmorkuchen" geworden. Über alle Ebenen hinweg haben w i r eine säulenartige Struktur von sektoraler Fachkonkurrenz bekommen. Hohe Ministerialfunktionäre aus Bund und Ländern zusammen m i t den Fachleuten der kommunalen Spitzenverbände, angereichert durch die Fachpolitiker i n den Ausschüssen und unterstützt von den jeweiligen Interessen- und Verbandsgruppen (insgesamt etwa 5000 Personen) bringen das Bildungswesen, den Straßenbau, die W i r t schaftsstrukturverbesserung, das Jugendwesen, den Umweltschutz, die Polizei (oder was es gerade ist) jeweils i n vertikaler Planung, Entscheidung und Finanzierung voran, und zwar jeweils über alle Ebenen hinweg. Heute kann keine Schule, aber auch keine Universität, kein Krankenhaus, keine Turnhalle, kein Altenheim, keine Kläranlage, keine wasserwirtschaftliche Maßnahme, keine Straße, aber auch kein Kanal, ja so gut wie überhaupt keine Investition von irgendwelcher Bedeutung vorgenommen werden, es sei denn, irgendein Zuschuß prozentualer oder sonstiger A r t w i r d von einer der jeweiligen Ebenen (möglichst von mehreren Ebenen) hinzugegeben. K a u m eine Einheit kann auf jeweils ihrer Ebene irgend etwas allein tun. Immer muß derjenige, der politisch etwas tun w i l l , andere mitziehen und auch bewegen. Das Ganze ist i n dem unendlich hohen Abstimmungsbedarf notwendigerweise den Beamten-, Politiker- und Verbands-,,Fachbrüdern" überantwortet. Die eigentliche Entwicklungsherrschaft liegt aber doch w o h l bei den Koordinierungsbeamten, also bei der Verwaltung. Die machen das durch „kooperativen Föderalismus", durch „Mischfinanzierung" jeglicher Art, durch Mustergesetzentwürfe und Musterrichtlinien und nicht zuletzt durch die Einigung auf „Ausstattungsstandards". Ich möchte deutlich machen, daß es sich um besonders gute und leistungs-

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fähige Beamte handelt, die i m Endergebnis natürlich i n vertikaler Weise „Freunde" suchen und sich nach langem H i n und Her auch auf ihrem jeweiligen Fachgebiet einigen. Allerdings immer auf hohem fachlichen Standard und sicher höher als es die jeweils horizontal vorhandenen Gesamtfinanzen eigentlich zulassen. Das ganze System führt weg von politischer Verantwortlichkeit der einzelnen Gebietskörperschaft und weg von der gesetzmäßigen Verwaltung. I n letzter Zeit vermehrt sich übrigens eine Abart der vertikalen Fachbrüder. Entscheidungen über sektorale Aufgabenerfüllung fallen nicht mehr i n Ministerial-Spitzenverbands-„Kränzchen", sondern (zumindest bei absoluten Mehrheiten) i n Arbeitskreisen der Parteien (wohlgemerkt nicht i n Fraktionen), zu denen Spitzenbeamte m i t Parteibuch (manchmal sogar nur mittleren Kalibers) hinzugezogen werden. Jedenfalls: „Bürokratie intern" w i r d immer raffinierter, nur noch die Allerbesten finden sich darin zurecht. Hier gibt es echte Erfolgserlebnisse. Dies alles nicht, w e i l die beteiligten Beamten und Politiker „böse" sind, sondern gerade weil sie sich auf ihren jeweiligen Fachgebieten besonders gut und engagiert einsetzen. V I I . Tragische Freiheit beim Aussuchen dessen, was man noch tun kann Als siebte und letzte Überlegung ist darauf hinzuweisen, daß die Verwaltung eine neue „tragische" Freiheit zur Selbstentwicklung erhalten hat. Sie kann oder muß sich nämlich aussuchen, was sie überhaupt noch t u n kann. Diese Erscheinung läuft heute gewöhnlich unter dem Etikett „Vollzugsdefizit". Tatsächlich besteht ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen Aufgaben, Personal und Finanzen. Geld ist knapp, aber die Aufgaben werden nicht abgebaut (eher gibt es neue). Vorhandene Stellen dürfen nicht (oder erst nach einem Jahr) wieder besetzt werden. „Die Verwaltung wird's schon richten" denken die Politiker. Selbstverständlich werden die Aufgaben dann schlechter und einige gar nicht mehr erfüllt. Die Verwaltung hat selbst, und zwar „tragisch", zu entscheiden, was sie noch t u n kann. So ist auf weiten Gebieten des Umweltschutzes, der Sozialhilfe, des Strafvollzugs, der Polizei, des Baugenehmigungsverfahrens, der Regionalplanung, des Hochschulrechts, des Lebensmittelrechts, bei den Vorschriften über Sozialwohnungen, Heime, Volkshochschulen, technische Überwachungspflichten usw. eine Lage eingetreten, bei der realistischerweise nur noch Teile der jeweiligen Vorschriften beachtet, durchgesetzt und kontrolliert werden können. Das mehr formale (leicht als „bürokratisch" empfundene) Verwaltungshandeln w i r d i n höherem,

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perfekterem Maße vollzogen, als die Tätigkeiten auf der Grundlage von weniger genau nachprüfbaren Vorschriften (soft law). Weitere Prüfungs- und Überwachungsaufträge an die Chemischen Untersuchungsämter, die Gewerbeaufsichtsämter, die Bauämter usw. w i r d ohne Personalvermehrung nur zu einer Stichproben-Ausdünnung bei den schon bisher durchgeführten Aufgaben führen. Nichtwiederbesetzung von Stellen führt zum Löcher-Stopf-Karussell. Auch die kommunale Selbstverwaltung hat i n eigentümlicher Weise wieder einen neuen Entscheidungsspielraum bekommen. Sie kann sich nämlich heute aussuchen, was sie von dem, was sie tun könnte und vielleicht auch t u n müßte, nicht mehr tun w i l l . Solche Negativentscheidungen werden nun erfahrungsgemäß nicht von den Mandatsträgern, sondern von den „Bürokraten" getroffen: Eine paradoxe Form der Selbstentwicklung der Verwaltung. V I I I . Schluß Zum Schluß darf ich i n Erinnerung bringen, daß ich übertrieben habe. Die deutsche Verwaltung ist so schlecht nicht, wie es scheinen möchte; ganz i m Gegenteil. Eines ist aber sicher: die Administration macht Polit i k ! Jedenfalls eindeutiger und wirkungsvoller als die Politiker „Verwaltungspolitik" betreiben.

4. Verwaltung des Mangels* Von Klaus Lüder I. Verwaltung des Mangels ist Verwaltung bei mindestens relativ (im Verhältnis zum Wachstum des Aufgabenbestandes) zunehmender Verknappung der finanziellen Ressourcen zur Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben. Den sich i n einer anhaltenden Situation finanziellen Drucks für die einzelne Verwaltungseinheit ergebenden Problemen versucht sie m i t einer Stabilisierungsstrategie (Ressourcensicherungsstrategie, Leistungsanpassungsstrategie) zu begegnen. Das Verfolgen einer Rationalisierungsstrategie i m Sinne der Verbesserung von Effektivität und Effizienz der Aufgabenwahrnehmung einer Gebietskörperschaft als Ganzes erscheint der einzelnen Verwaltungseinheit demgegenüber eher unattraktiv. II. Dieser Aussage liegen zwei organisationstheoretische zugrunde:

Hypothesen

— Eine Verwaltungseinheit verhält sich unter finanziellem Druck gegenüber ihrer Umwelt so, daß sie möglichst die verfügbaren Ressourcen (Haushaltsmittel, Stellen) und den Aufgabenbestand sichert, u m damit ihr Überleben langfristig zu gewährleisten. — Eine Verwaltungseinheit paßt sich an eine Situation finanziellen Drucks intern so an, daß die dadurch entstehenden Konflikte (verwaltungsinterne Konflikte und Konflikte zwischen Verwaltungseinheit und begünstigten oder belasteten Bürgern) minimiert werden. III. Die erste Hypothese impliziert die Dominanz einer Ressourcensicherungsstrategie gegenüber einer Rationalisierungsstrategie zur Sicherung des Überlebens einer Verwaltungseinheit. Eine solche Ressourcensicherungsstrategie äußert sich z.B. * U m Literaturangaben ergänzte, sonst unveränderte Fassung eines Beitrages zur Podiumsdiskussion.

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— i m Einschalten der Öffentlichkeit oder verwaltungsexterner Interessengruppen zur Sicherung des Aufgaben- und Ressourcenbestandes, — i m „Anbieten" von Ausgabenkürzungen i n Bereichen mit hoher politischer Priorität, oder — i m „Erfinden" neuer Aufgaben zur Abwendung von Mittelkürzungen, wenn solche Mittelkürzungen i m Hinblick auf den vorhandenen Aufgabenbestand nicht mehr abzuwenden sind, aber auch i m Streben nach stärkerer formaler (möglichst gesetzlicher) Absicherung und damit hoher Verbindlichkeit der Aufgaben sowie einer verstärkten Aversion gegenüber zentraler, d. h. verwaltungseinheitsübergreifender Planung und Kontrolle. Rationelle Aufgabenwahrnehmung ist i n der öffentlichen Verwaltung weder Voraussetzung für die Sicherung der Ressourcen und des Aufgabenbestandes einer Verwaltungseinheit noch für ihr Überleben. I m Gegenteil: Rationalisierung kann (und soll) i n einzelnen Verwaltungsbereichen zu einem Abbau von Aufgaben und Ressourcen führen. Das aber bedeutet auch Einflußverlust für diese Bereiche innerhalb des administrativen Systems und gegebenenfalls sogar Existenzgefährdung.

IV. Muß eine Verwaltungseinheit (globale) Ressourcenkürzungen hinnehmen — gelingt ihr also die Ressourcensicherung nicht völlig —, so entsteht gegenüber dem vorherigen Zustand ein Ungleichgewicht zwischen Aufgaben und Ressourcen. Dieses Ungleichgewicht versucht die Verwaltungseinheit entsprechend der zweiten Hypothese durch eine weniger konfliktträchtige Leistungsanpassungsstrategie statt durch eine konfliktträchtigere Rationalisierungsstrategie zu beseitigen. Leistungsanpassung unter finanziellem Druck bedeutet Leistungsreduktion, das aber nicht nur und nicht i n erster Linie i n bezug auf den Leistungsumfang, sondern auch hinsichtlich der Leistungsintensität und der Leistungsqualität. Eine Rationalisierungsstrategie ist i n der Regel nicht kompatibel mit einer konfliktminimierenden Strategie der Leistungsanpassung; für die einzelne Verwaltung gibt es aber keinerlei Anreiz, ein höheres Konfliktniveau als unbedingt erforderlich i n Kauf zu nehmen. Wenn schon von den politischen Instanzen bei der Ressourcenkürzung das konfliktminimierende globale, pauschale Kürzungsverfahren gewählt wird, ist von den betroffenen Verwaltungseinheiten am ehesten ein ähnlich konfliktscheues Verhalten zu erwarten.

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V. Die Folge der Dominanz von Ressourcensicherungsstrategien und Leistungsanpassungsstrategien gegenüber Rationalisierungsstrategien i n den Verwaltungseinheiten sind das mehr oder weniger zufallsabhängige Fortbestehen von Ineffizienzen i n einzelnen Verwaltungsbereichen, weil der Abbau von Rationalisierungsreserven dort nicht gelingt, sowie Effektivitätseinbußen aufgrund unzureichender Möglichkeiten der Ressourcenumverteilung und unausgewogener, nicht rationaler und damit ebenfalls wiederum stark zufallsbestimmter Leistungsanpassungen. Die notwendige effiziente Nutzung der Ressourcen und die Leistungsanpassung nach übergeordneten „Dringlichkeitserwägungen" gelingen nur äußerst unvollkommen. Ein dezentrales „muddling through" ist vorherrschend. VI. Geht man davon aus, daß die Verknappung von Ressourcen möglichst geringe Effektivitätseinbußen bei der Erfüllung der Gesamtheit öffentlicher Aufgaben zur Folge haben sollte, dann wäre die Verfolgung von interorganisatorisch abgestimmten Rationalisierungsstrategien zweifelsohne wünschenswerter als die Verfolgung organisationsegoistischer Stabilisierungsstrategien. Rationalisierung bedeutet Verbesserung der Effektivität, also der Zielerreichung und der Effizienz, also der Output/ Input-Relation des Verwaltungshandelns. Sie beinhaltet — den Abbau von Leistungen m i t geringer und nicht verbesserungsfähiger Effektivität, — die Verbesserung der Effektivität nicht ausreichend effektiver Leistungen, — die Verbesserung der (durchschnittlichen) Effektivität durch Umverteilung von Ressourcen von weniger dringlichen zu dringlicheren Aufgaben sowie — die Verbesserung der Effizienz des Mitteleinsatzes. Die Sicherung der Möglichkeit einer Umverteilung sachlicher und finanzieller Ressourcen erscheint i n finanziellen Mangelsituationen noch weit notwendiger als i n Phasen finanzieller Zuwächse, da nur dadurch ein Dispositionsspielraum für die Übernahme neuer Aufgaben oder Schwerpunktverschiebungen i m Aufgabenbestand geschaffen werden kann. Die Durchsetzung eines stärker am Rationalisierungsaspekt orientierten Verhaltens der Verwaltungseinheiten erfordert aber 6 Speyer 90

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— die Schaffung von Anreizen für ein zielorientiertes und effizientes Verwaltungshandeln (ergebnisorientierte Globalsteuerung) oder alternativ eine weitgehend zentrale, an Nutzen-Kosten-Überlegungen orientierte Finanzmitteldisposition (zentrale Detailsteuerung), — die Prüfung der Maßnahmenprogramme auf Effektivität (Wirksamkeitskontrolle) sowie — die Prüfung der Effizienz der Aufgabenwahrnehmung bei einzelnen Leistungen und i n einzelnen Leistungsbereichen. Das dafür notwendige Instrumentarium steht prinzipiell zur Verfügung und ist i n der Literatur ausführlich diskutiert worden, wenn auch keineswegs alle Anwendungsprobleme schon als gelöst angesehen werden können. Stichworte i n diesem Zusammenhang sind ζ. B. „Progr ammbudgetierung ", „ Ergebnis ver antwortung ", „ Auf gabenkritik ", „Nutzen-Kosten-Untersuchung", „Folgekostenabschätzung" oder „ W i r t schaftlichkeitsrechnung". Es geht also letzten Endes u m eine zweckmäßige Kombination einzelner Steuerungsinstrumente zur Schaffung eines sachgerechten, d. h. hier: effektivitäts- und effizienzorientierten Planungs- und Kontrollsystems. Wenn derartige Steuerungssysteme i m öffentlichen Bereich bis heute nicht eingeführt sind, so liegt das weniger — an sicherlich noch existierenden — Leistungsdefiziten der einzelnen Instrumente als vielmehr am fehlenden Willen der Legislative und der politischen Spitze der Exekutive, solche Systeme zu realisieren und sie zu benutzen. M i t der Forderung politischer Entscheidungsträger nach „Rationalisierung der Verwaltung" ist nichts gewonnen, wenn die Politiker nicht gleichzeitig ihre eigenen Entscheidungen an diesen Gesichtspunkten orientieren: es kann nicht erwartet werden, daß ein eher arationales politisches Handeln durch die Verwaltung i n rationales Handeln transformiert wird. VII. Zusammenfassend läßt sich feststellen: Es gibt offensichtlich auf allen Ebenen der Verwaltung ein Spannungsverhältnis zwischen dem „natürlichen" (instinktiven) Erhaltungsstreben der einzelnen Verwaltungseinheit und dem vernunftbegründeten Streben nach Rationalisierung der Aufgabenwahrnehmung i m gesamten administrativen System. I m Unterschied zum privatwirtschaftlichen Bereich ist mangelnde Rationalisierung nicht existenzbedrohend — weder für den Einzelnen i m Sinne der Gefährdung seines Arbeitsplatzes oder wenigstens seiner Karriere noch für einzelne Verwaltungseinheiten noch für die Verwaltung als Ganzes. Ob daher das „ D i k t a t der leeren Kassen" i m Bereich der öffentlichen Verwaltung eine „heilsame Wirkung" i m Sinne einer effek-

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tiveren und effizienteren Aufgabenwahrnehmung besitzt, scheint eher zweifelhaft. So beobachtete Charles H. Levine eine offensichtliche Diskrepanz zwischen offiziellen Verlautbarungen zu den (positiven) Wirkungen von Mittelkürzungen » . . . whether i t be to "cut the fat", "tighten our belts", "preserve future options", or "engage i n a process of orderly and programmed termination"« und den eher bedenklich stimmenden Äußerungen von Behördenchefs dazu » . . . who talk of "minimizing cutbacks to mitigate catastrophe", or "making token sacrifices u n t i l the heat's off".« (Levine 1978, S. 319). Finanzieller Druck allein bewirkt jedenfalls noch kein effektiveres und effizienteres Verwaltungshandeln. Man kann allenfalls hoffen, daß die politischen Entscheidungsträger i n Exekutive und Legislative gerade i n finanziellen Mangelsituationen die Bedeutung der Verfolgung einer Rationalisierungsstrategie erkennen und die für ihre Realisierung notwendigen (politischen) Vorab- und Folgeentscheidungen zu treffen bereit sind 1 . Ist das nicht der Fall, dann steht zu befürchten, daß auch und gerade i n Zeiten finanziellen Drucks Rationalisierungsstrategien gegenüber organisatorischen Erhaltungsstrategien nicht durchgesetzt werden können. Es ist dann durchaus nicht unrealistisch zu erwarten, daß die „RessourcenVerschwendung" — mindestens relativ — i n Zeiten finanziellen Mangels eher noch größer ist als i n Zeiten finanziellen Überschusses. Verwendete Literatur Cretine, J. P.: Governmental Problem Solving, Chicago III. 1969. — Cyert, R. M . ! March, J. G.: A Behavioral Theory of the Firm, Englewood Cliffs N. J. 1963. — Levine, Ch. H. (Hrsg).: Organizational Decline and Cutback Management — A Symposium, i n : Public A d m i n i s t r a t i o n Review (1978) 4, S. 315—357. — Lüder, Κ J Budäus, D.: Effizienzorientierte Haushaltsplanung u n d Mittelbewirtischaftung, Göttingen 1976. — Pearson, J. V. / Michael , R. J. : Zero-base Budgeting — A Technique for Planned Organizational Decline, i n : Long Range Planning 14 (1981) 3, S. 68—76. — The Research and Policy Committee of the Committee for Economic Development (Hrsg.): I m p r o v i n g Productivity i n State and Local Government, New Y o r k Ν . Y. 1976. — Wolman, H. / Peterson, G. : State and Local Government Strategies for Responding to Fiscal Pressure, Paper presented at the ORSA/TIMS Meeting, Colorado Springs Col. 1980.

1 Erfahrungen ζ. Β . i n den USA, wo das PPBS Anfang der 70er Jahre m i t Verschlechterung der finanziellen Situation von der US-Bundesregierung abgeschafft wurde, ermutigen allerdings k a u m zu derartigen Hoffnungen. Vgl. dazu auch die Diskussion u m Rationalisierungsmaßnahmen bei der Deutschen Bundesbahn.

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5. Verwaltungspflege durch politische Führung Von Helmut Quaritsch Politische Führung oder „Regierung" steht zur Verwaltung in einer schwierigen Doppelbeziehung: Sie soll i m Auftrage des Wählers politisch führen, regieren, d. h. Aufgaben stellen und Richtungen weisen, sie soll dem Verwaltungsapparat notfalls auch die Sporen geben. Insofern steht die politische Führung der Verwaltung gegenüber und i n einem Verhältnis der Spannung und der Trennung. A u f der anderen Seite hängt die politische Führung ab von den Leistungen des Verwaltungsapparates. Bleiben die dem Bürger vor der Wahl versprochenen Staatsleistungen wegen Unzulänglichkeit oder Verweigerung des Apparats aus, so geht die nächste Wahl und die politische Führung verloren. Diese zweite Beziehung verbindet die politische Führung m i t der Verwaltung und scheint eine pflegliche Behandlung des Apparats nahezulegen, empfiehlt Zuckerbrot statt Peitsche. Herr Kollege Siedentopf hat die politische Führung und ihr Verhältnis zur Verwaltung m i t dem Ritt auf dem Tiger verglichen. Dieses B i l d erscheint m i r fragwürdig, denn nach der Zahl der Minister-Rücktritte und Minister-Ablösungen i n der Bundesrepublik wäre die Verwaltung wohl eher einer Versammlung von Papiertigern zu vergleichen. Das B i l d ist unglücklich, denn der Tiger ist kein Reitkamel und daher suggeriert es, die Verwaltung wolle sich gar nicht politisch führen lassen, behandle statt dessen Minister und andere Führungsinstanzen als Marionetten, die sie an den Fäden des amtlich verwalteten Sachverstandes nach Belieben tanzen lasse. Das ist zugespitzt und bildhaft ausgedrückt eine politikwissenschaftlich weit verbreitete These vom wachsenden Gewicht der Verwaltung und dem Defizit an politischer Führung. Der Autor K a r l Carstens, der die Dinge aus erster Hand kennt, hat diese Besorgnis etwas süffisant dem „theoretischen Schrifttum" zugewiesen und demgegenüber hervorgehoben, die Regierung und auch das Parlament, vor allem die Fraktionsvorstände der Regierungsparteien, seien gegenüber der Verwaltung stärker als i m allgemeinen angenommen werde 1 . Ich stimme dem zu, halte jene These noch aus einem anderen Grunde für realitätsfremd. Hinter ihr steht eine Vorstellung 1 Carstens, K a r l : Politische F ü h r u n g — Erfahrungen i m Dienst der B u n desregierung (1971), S. 335.

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von politischer Führung und von Führungserfolgen, wie sie vielleicht ein osmanischer Großwesir vorweisen könnte, der durch seine Janitscharen bockigen Provinz-Untertanen die Haut abziehen läßt. I m demokratischen Verfassungsstaat m i t Grundrechten und verwaltungsgerichtlicher Generalklausel und Bürgerbeteiligung und Interessentenanhörungen sind die sozialen Realitäten und die institutionellen Rahmenbedingungen jene Bleigewichte, die politische Führung (besonders i m Sinne von Veränderung und Reform) so erschweren. Ich möchte gegenüber den geläufigen Vorstellungen als erste These festhalten: Die Verwaltung hat nichts gegen politische Führung, sie weiß vielmehr von der Notwendigkeit politischer Führung, sie möchte nur nicht schlecht geführt werden. Die Verwaltung kostet den Steuerzahler viel Geld. Ein so teueres Instrument w i l l angemessen behandelt werden, auch durch die politische Führung. Daher meine zweite These: Soweit die politischen Spitzen der Verwaltung m i t Politikern und die einflußreichen Instanzen der Verwaltung unter parteipolitischen Aspekten besetzt werden, ist die Einsetzung fähiger politischer Führungskräfte das Pflegemittel Nr. 1. Auch eine Verwaltungsorganisation unterliegt diesem Gesetz: Ist eine Organisation ruiniert, dann nie von unten, selten von den Verhältnissen, fast stets von oben. Umgekehrt: Keine Verwaltung ist so verlottert, daß sie nicht durch eine tüchtige politische Führung wiederhergestellt werden könnte. — Es gibt gute Gründe für sog. Parteipatronage unterhalb der Staatssekretärsebene. Nichts aber könnte den Ersatz von fachlicher Tüchtigkeit durch Gesinnung rechtfertigen. Dies wäre ein sicheres M i t tel, Leistung und Leistungsmotivation aus der Verwaltung zu vertreiben. Exkurs: Was die Zeitungen i n diesen Tagen über die Regierungsumbildung i n Bonn berichten 2 , verdient unter dem Aspekt „Verwaltungspflege durch politische Führung" nicht einmal die Note „schwach ausreichend". Wenn politische Führung wichtig und notwendig und wenn ein Ministerium ein wichtiges, aber kompliziertes und arbeitsaufwendiges Instrument der politischen Führung ist, dann muß gerade der Minister auch körperlich voll leistungsfähig sein. Mutet man einem Ministerium einen kranken Minister zu, dann ist entweder das Minister i u m als selbständiges politisches Führungsinstrument unwichtig — es gehört dann als Abteilung einem anderen Ministerium zugeschlagen —, 2 Bei der Kabinettsumbildung Ende A p r i l 1982 schieden drei Minister aus (Familienministerin Huber, Arbeitsminister Ehrenberg u n d Postminister Gscheidle) u n d w u r d e n ersetzt durch A n k e Fuchs, Heinz Westphal u n d Hans Matthöfer. Matthöfer tauschte den S t u h l des Finanzministers wegen angegriffener Gesundheit gegen den des Postministers; B F M w u r d e Manfred Lahnstein.

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oder es w i r d nur von der politischen Führung für weniger wichtig gehalten, eine Einschätzung, die vielleicht richtig ist, die aber auch durch schlüssiges Verhalten niemals kundgegeben werden darf, wenn das Personal dieses Ministeriums nicht völlig demotiviert werden soll, u m es vorsichtig auszudrücken. Problematisch ist die Begründung des Sprechers der Bundesregierung: „ A u f die Frage", so las man gestern i n der Zeitung, „ w a r u m denn ein kranker Minister einen aus Gesundheitsrücksichten ausscheidenden Kollegen ablöse, entgegnete Becker, der Minister erfreue sich der besonderen Wertschätzung des Kanzlers. Dieser habe ein Interesse, ,ihn i n seiner persönlichen Arbeitsumgebung zu halten'". Verwaltungs wissenschaftlich gehört eine solche Begründung nicht i n das Jahr 1982, sondern i n die Zeit der Kabinettsregierung, etwa Friedrich Wilhelms IV. Man kann dem Bundeskanzler nur dazu gratulieren, daß er heute nachmittag einen neuen Pressesprecher bekommt und nur wünschen, daß dieser m i t dem Ansehen der politischen Führung und der Reputation verdienter Minister pfleglicher umzugehen weiß. Hängt die Leistung der Verwaltung primär von der Führungsfähigkeit der Spitze ab, so ergeben sich daraus für das Verhältnis zwischen politischer Führung und Verwaltung bestimmte Konsequenzen, die ich i n diesem Kreise von Kennern nicht erwähnen muß. Immerhin möchte ich zwei Punkte ansprechen, die offenbar aktuell sind. Bei der großen Mitarbeiterbefragung i n Hamburg 1980 sollten diejenigen Beamten und Angestellte, auf deren Arbeit sich politische Entscheidungen nach eigener Einschätzung unmittelbar auswirkten, diese Einflußnahme beurteilen. Ein beachtlicher Teil, etwa 18 v. H., sah darin keine Probleme, die größte Gruppe meinte, die Politiker sollten sich mehr u m die große Linie und weniger u m Details kümmern, und die zweite große Gruppe, die politische Einflußnahme sollte ausschließlich von den Politikern ausgehen, denen dafür eine Verantwortung übertragen ist. Mag der Politiker auf die erste Feststellung antworten, er könne die große Linie nur durchsetzen, wenn er sich u m den Teufel i m Detail kümmere, so spielt die zweite A n t w o r t auf einen Sachverhalt an, der i n den Kommunalverwaltungen keine Ausnahme mehr darstellt, nämlich die Beeinflussung einzelner konkreter Verwaltungsentscheidungen nicht von oben durch die kompetente politische Spitze, sondern von der Seite durch inkompetente Basis- und Arbeitsgruppen der herrschenden politischen Partei ohne oder auch gegen den Willen der politischen Spitze. Konnten gegen gesellschaftliche Einflußgruppen, die viel erörterten Pressure Groups, Verwaltung und politische Führung gemeinsam, gleichsam Schulter an Schulter Front machen, so ist die Auseinandersetzung m i t Parteigruppierungen schwieriger, wie ich nicht auszuführen brauche.

Helmut Quaritsch

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I n der Dreiecksbeziehung Regierung—Verwaltung—Parteibasis ist es für die Verwaltung wichtig zu wissen, wo und ob ihre politische Führung steht. Früher tauchte diese Frage häufiger i n der Beziehung zur kritischen Öffentlichkeit auf, besonders zu den Medien, gelegentlich sogar i m Verhältnis zur Justiz. Karl Carstens berichtet über den Prozeß gegen den damaligen Staatssekretär Walter Hallstein und den damaligen Botschafter Herbert Blankenhorn vor dem Landgericht i n Bonn Ende der 50er Jahre 3 . Während Hallstein freigesprochen worden war, wurde Blankenhorn wegen wissentlich falscher Anschuldigung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er eine i h m zugegangene Denunziation über einen Beamten des Wirtschaftsministeriums an dessen Vorgesetzten, den Bundesminister für Wirtschaft, ohne nähere Prüfung weitergeleitet hatte. Das Auswärtige A m t hat während der langen Dauer des Verfahrens Blankenhorn i n Schutz genommen, auch nachdem er i n erster Instanz verurteilt worden war. Carstens begründet dies m i t folgenden Überlegungen: Öffentlichkeit und Parlament haben einen A n spruch auf wahrheitsgemäße Unterrichtung. Deswegen darf man der K r i t i k an einem Beamten oder Soldaten nicht mit falschen Behauptungen begegnen. Auch darf nicht der Eindruck entstehen, als ob die Behörde etwas zu vertuschen habe. Aber auch bei dem V o r w u r f strafbarer Handlungen und einem genügend starken Verdacht müsse dem Beschuldigten ein gewisser Schutz zuteil werden, indem man seine Verdienste, falls er solche hat, hervorhebt und auf den Grundsatz hinweist, daß i n ein schwebendes Verfahren nicht durch einen vorzeitigen Schuldspruch eingegriffen werden dürfe. Es sei ein guter Führungsgrundsatz, daß sich der Vorgesetzte schützend vor seine Mitarbeiter stelle, und zwar uneingeschränkt, wenn der Beamte zu Unrecht angegriffen werde. Wenn die K r i t i k an i h m „eine gewisse Berechtigung" habe, sollte er ebenfalls nach außen geschützt werden. Carstens zitiert in diesem Zusammenhang Bismarcks Urteil über den preußischen König und deutschen Kaiser Wilhelm I.: „Er stützte und deckte seine Diener, auch wenn sie unglücklich oder ungeschickt waren, vielleicht über das Maß des Nützlichen hinaus und hatte infolgedessen Diener, die i h m über das Maß des für sie Nützlichen hinaus anhingen." — Der Bundesgerichtshof hat übrigens das erwähnte Bonner Landgerichtsurteil aufgehoben, Blankenhorn wegen erwiesener Unschuld freigesprochen und erklärt, daß Blankenhorn i m Gegenteil pflichtwidrig gehandelt hätte, wenn er das getan hätte, was das Bonner Gericht von i h m verlangt hatte, nämlich selbst weitere Erkundigungen einzuholen, bevor er die i h m zugegangene Denunziation weiterleitete (BHGSt 14, 240 ff.). Verwaltungspflege durch Schutz der Amtsträger fordert sehr viel: Denn oft genug ist die politische Führung überhaupt nicht informiert, 3

a. a. O., S. 175.

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was an der Verwaltungsbasis geschieht, und mancher Minister w i r d sich fragen, warum gerade er Suppen auslöffeln soll, deren Zutaten nicht von i h m stammen. Auch w i r d ζ. B. ein Minister m i t geringem Rückhalt i n der eigenen Fraktion eher zum Personenopfer neigen, so daß diese Verwaltungspflege von Faktoren abhängen kann, die von der Verwaltung nicht beeinflußt werden können.

I I I . Diskussion Bericht von Michael Fudis Die allgemeine Aussprache stand unter der Leitung von Herrn Professor Dr. Helmut Quaritsch, Speyer. Zu Beginn der Diskussion erinnerte Dr. habil. Kurt G. A. Jeserich, Präsidialmitglied der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e. V., Bergisch Gladbach, daran, daß „Bürokratiekritik" kein völlig neuartiges Phänomen unserer Zeit sei. Schon i n den 30er und 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts habe Robert von Mohl diese K r i t i k auf eine wissenschaftliche Ebene gehoben. Den „geistvollen Thesen" Wageners, insbesondere dem von diesem herausgestellten Zusammenhang zwischen Verwaltungs- und Aufgabenwachstum, stimmte er zu, wenngleich eine „Eigenbewegung", i m öffentlichen Dienst i n der Tat nicht zu übersehen sei. Dem von Klages befürworteten Engagement der Bürger in Bürgerinitiativen hielt Jeserich entgegen, daß derartige Zusammenschlüsse der Fachkunde der Verwaltung nichts entgegenzusetzen hätten. A n H i l f gewandt, äußerte Jeserich, daß die erste Aufgabe der Medien die Information und nicht die K r i t i k sei. Gerade diese Aufgabe werde aber nur sehr unzureichend erfüllt. So wäre es durchaus auch eine staatsbürgerliche Aufgabe der Medien, sachlich — auch über die Verwaltung! — zu berichten, denn diese verdiene es, auch einmal „liebevoll" dargestellt zu werden. Dr. Gerd Pflaumer, Ministerialdirigent i m Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn, forderte die Verwaltungswissenschaft dazu auf, nicht nur — wie Klages dies getan hätte — den „bürgerfreundlichen Sachbearbeiter", sondern auch einmal den „sachbearbeiterfreundlichen Bürger" zu erforschen. I n dem Referat von H i l f habe er eine Differenzierung der Medien i n Zeitungen und Hör- und Sehfunk, in seriöse und unseriöse Medien vermißt. Seriöse Berichterstattung sei durchaus i n der Lage, mitunter erforderlichen und dann als hilfreich empfundenen Druck auf die Verwaltung auszuüben. Insbesondere die Zeitungen sollten aber den Stellenwert der Recherche nicht unterschätzen. Unsachlicher Berichterstattung über die Verwaltung könne möglicherweise dadurch vorgebeugt werden, daß man Journalisten und Verwaltungspolitiker zusammenführe.

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Dr. Ernst Pappermann, Stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, Köln, unterstützte voll die sieben Thesen Wageners, wenngleich er sich fragte, was denn gegen die „Selbstentwicklung" der Verwaltung unternommen werden könne. Quaritsch stimmte er darin zu, daß eine gut funktionierende politische Führung erforderlich sei. Erforderlich seien aber auch, gerade i m kommunalen Bereich, gute Leistungen der Verwaltung. A n H i l f gewandt äußerte er den Verdacht, daß sich viele Medien als „professionelle Fehlersucher" und „Skandalverkünder" verstünden, ein Selbstverständnis, welches letztendlich nur zu Unglaubwürdigkeit führen könne. Senator e. h. Hilf, Intendant des Südwestfunkes Baden-Baden, wies i n einer Replik darauf hin, daß der Einfluß der Medien (insbesondere des Fernsehens) weit überschätzt werde. Die Kommunikationsforschung lasse derartige Annahmen keineswegs zu. Pflaumer gestand er zu, daß es i n einer Zeit, i n der die Zeitungen fast völlig auf Agenturen und „PR-Stellen" angewiesen seien, sehr schwierig sei, eigene fundierte Recherchen zu machen. Der von Jeserich geforderten „liebevollen" Berichterstattung hielt H i l f entgegen, daß es nicht Aufgabe der Medien sei, „PR-Arbeit" für die Verwaltung zu betreiben. Richtig sei aber, daß die Zeitungen dann gerne gesehen seien, wenn sie „statements" der Verwaltung kritiklos entgegennähmen, aber dann zum Prügelknaben würden, wenn sie sich damit nicht begnügten. Trotzdem sei i n der Tat nicht K r i t i k , sondern Information die erste und vornehmste Aufgabe der Medien. Vielen Journalisten fehle dafür aber der erforderliche Praxisbezug, was ernstzunehmende Ausbildungsprobleme offenbare. Prüfenswert erscheine daher, ob nicht für entsprechend interessierte Journalisten Verwaltungsstationen eingerichtet werden könnten. Rolf Wandhoff, Regierungspräsident a. D., Melle, vermerkte, daß es Verwaltungskritik, wie schon den Karikaturen des Simplicissimus zu entnehmen, immer gegeben habe. Auffällig sei an unserer heutigen Situation lediglich, daß diese K r i t i k i n eine Zeit falle, i n der w i r verschiedene Verwaltungsreformen gerade hinter uns hätten. Der Grund dafür liege darin, daß alle diese Reformen die „personale Seite" nicht beachtet hätten. Denn i n der Tat sei es so, daß das Unbehagen an der Verwaltung umso geringer ausfalle, je kleiner und ortsnäher diese sei. Darüber hinaus sei übersehen worden, daß der Bürger die Verwaltung nicht an objektiven Merkmalen, wie der Qualität der Verwaltungsarbeit, sondern an subjektiven, emotionalen Merkmalen, wie dem Umgang mit i h m u. ä. messe. Die Verwaltungsverdrossenheit der Bürger sei i m übrigen nichts anderes als die „Rache des kleinen Mannes". Denn wenn Verwaltung, Politik und Gerichte sich gegenseitig die Schuld an Fehlern zuschöben, müsse der Bürger den Eindruck gewinnen, daß an diesen Vorwürfen etwas Wahres ist. Völlig fehl am Platze

Diskussion

sei es, wenn Verwaltungsfachleute unter sich über Verwaltungsverdrossenheit diskutierten. Denn nicht Selbstmitleid sei gefordert, sondern „grenzüberschreitende" Zusammenführung von Verwaltungsfachleuten, Politikern, Journalisten und Bürgern. Professor Dr. Waldemar Schreckenberg er, Justizminister des Landes Rheinland-Plaz, unterstrich den von Wagener hervorgehobenen Zusammenhang von Wachstum öffentlicher Verwaltung und Wachstum öffentlicher Aufgaben. Zwischen beiden bestünde offensichtlich so etwas wie ein „Fließgleichgewicht". Der umgekehrte Fall, Wegfall einer Verwaltungsorganisation bei Aufgabenschrumpfung oder gar Aufgabenwegfall, sei jedoch kaum vorstellbar. Das hänge damit zusammen, daß die Verwaltung in der Tat auch „Aufgabenbestandserhaltung" betreibe. Es sei unmöglich, ein Kulturamt zu schließen, also müsse man es m i t neuen Aufgaben „versorgen". Trotz immensen Bettenüberhangs sei auch noch kein Krankenhaus geschlossen worden — dank der „Erfindung" neuer „Krankheitsbilder". Bei alledem handele es sich aber nicht um Eigentümlichkeiten der Verwaltung, sondern um typische Probleme von Großorganisationen, namentlich um ihre „Rückbindung" an die soziale Wirklichkeit. Die Verselbständigung zweier wichtiger Steuerungstechniken der Verwaltung, des Geldes und des Rechts, habe diese Entwicklung begünstigt. Günter Glienicke, Regierungsdirektor i m Regierungspräsidium Karlsruhe, stellte gerade bei Angehörigen des höheren Dienstes eine sinkende Motivation fest, was unter anderem darauf zurückzuführen sei, daß diese sich m i t ihren Aufgaben identifizierten. Für eine „Selbstentwicklung" der Verwaltung seien dies denkbar schlechte Voraussetzungen, denn Selbstentwicklung setze Motivation und Innovation gerade voraus. Professor Dr. Frido Wagener, Speyer, wandte sich zunächst der Frage von Pappermann zu, was man denn gegen eine sich selbst entwickelnde Verwaltung t u n könne. Er sprach sich dafür aus, das Negative ins Positive zu wenden. Beispielsweise ließe sich m i t der Sprache etwas machen. Die beste Lösung wäre aber das Vorhandensein einer realistischen Verwaltungspolitik. Warum, so fragte er, gibt es für die Großorganisation „Verwaltung" eigentlich keine „Betriebs(organisations)politik"? Die von i h m angesprochene „tragische Freiheit" der Verwaltung, selbst zu entscheiden, was sie tun wolle, sei doch eine schreckliche Freiheit, die letztendlich zu einer Lösung der Bindung an Gesetz und Recht führen müsse. A n Wandhoff gewandt meinte Wagener, daß einerseits zwischen Verwaltungsgröße und Ausmaß der Verwaltungsverdrossenheit i n der Tat ein Zusammenhang bestehen mag, daß die Bundesrepublik sich aber andererseits auch nicht eine „Laienverwaltung" leisten könne.

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Als letzter Redner hob Dr. Paul Schädler, Landrat des Landkreises Ludwigshafen/Rh. und Vorsitzender des Landkreistages RheinlandPfalz, noch einmal den Grundsatz der Einheit der Verwaltung, als oberstem Verwaltungsziel, hervor. Durch zahlreiche Vetorechte ungezählter Beteiligungs- und Mitwirkungsbehörden sei jedoch gerade dieser Grundsatz i n höchster Gefahr. Auch ein zweiter Grundsatz, die Einräumigkeit der Verwaltung, sei durch einen immensen inner- und interbehördlichen Koordinationsaufwand erheblich gefährdet. Schädler sah es als „Skandal" an, jungen Assessoren sofort ein Fachressort anzuvertrauen. Es müsse wieder so werden, daß der Referent eines M i n i steriums „unten" 'bei der Gemeinde oder dem Landkreis begonnen hat. Darin, daß die Bundesrepublik sich eine „Laienverwaltung" nicht leisten könne, sei er sich m i t Wagener einig. Aber auch die hochspezialisierte Verwaltung habe Schwächen und Fehler offenbart. Das i m rheinland-pfälzischen Kreisverfassungsrecht verankerte ehrenamtliche Prinzip möchte er jedenfalls wegen seiner belebenden Funktion nicht missen.

ZWEITER T E I L

Verwaltungspolitik als Instrument zur Erfüllung und Finanzierung öffentlicher Aufgaben

I. Referate 1. Sozialstaatlichkeit : Neubesinnung bei knappen Ressourcen* Von Detlef Merten L Der Sozialstaat ist i n seinem Höhenflug nicht nur gestoppt worden, sondern er ist auch ins Trudeln gekommen. Die Finanzmisere läßt eine Erweiterung der Sozialleistungen und einen überproportionalen A n stieg des Sozialetats zu Lasten anderer Einzeletats nicht mehr zu. I n der Zeit von 1960 bis 1980 war das Sozialbudget u m über das Siebenfache gestiegen, während sich das Bruttosozialprodukt nur knapp um das Fünffache vermehrt hatte, war die Sozialleistungsquote, also der A n teil der Sozialleistungen am Bruttosozialprodukt, von 20,7 auf 30,1 Punkte angewachsen1. Dabei ist die soziale Sicherheit i n dieser Zeit nicht nur systematisch gewachsen, sondern auch unsystematisch aufgequollen, ist es zu Auswüchsen und zu Mißbrauchsmöglichkeiten gekommen, populär gewendet: ist das vielzitierte „soziale Netz" zum Teil und für Teile zu einer „sozialen Hängematte" geworden. Der Weg vom Sozialstaat i n den Versorgungsstaat 2 schien vorgezeichnet zu sein — materiell begünstigt durch ein stetiges Wirtschaftswachstum, ideell oder ideologisch getragen von einer neo-aufklärerischen Zeitströmung m i t ihren auch negativen Aspekten: einem optimistischen Fortschrittsvertrauen, einem unrealistischen Menschenbild und einem utopischen Vollkommenheitsglauben. Übersteigerte Machbarkeitsvorstellungen ließen der Sozialpolitik — pointiert formuliert — eigentlich nur die Aufgabe, die Lücke zwischen dem Ende der Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz und dem Beginn des vorgezogenen Altersruhegeldes allmählich zu schließen. * Die nachfolgenden, m i t Fußnoten versehenen Ausführungen geben nahezu unverändert das Kurzreferat wieder, das Verf. auf der 50. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung der Hochschule f ü r Verwaltungswissenschaften Speyer gehalten hat. 1 Quelle: Sozialbericht 1980, hrsg. v o m Bundesminister f ü r A r b e i t u n d Sozialordnung, S.147. 2 Hierzu Merten, Detlef: V o m Sozialstaat zum totalen Versorgungsstaat, Die Versicherungsrundschau 1980, S. 49 ff. 7 Speyer 90

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Die Fata Morgana eines sozialen Schlaraffenlandes ist nun infolge eines realen Absinkens des Bruttosozialproduktes, einer kaum noch zu steigernden Staatsverschuldung und einer auch verfassungsrechtlich bald an die Grenzen stoßenden Belastung des Bürgers mit Steuern und Abgaben geschwunden. Gleichzeitig w i r d erstmals auf breiterer Front die Zweischneidigkeit sozialrechtlicher Vorkehrungen offenbar — vom Bundesverfassungsgericht kürzlich für arbeitsrechtliche Schutzvorschriften betont —, w i r d die Antinomie von sozialer Sicherheit für einzelne Gruppen und sozialer Gerechtigkeit für alle erkannt, w i r d die ebenso offensichtliche wie nicht gesehene Interdependenz von Sozialstaat und Steuerstaat erfaßt, die auf die beinahe banale Formel zu bringen ist, daß der Sozialstaat auf Dauer und ohne nachteilige Folgen nur das austeilen kann, was er zuvor als Steuerstaat genommen hat, daß das soziale Netz die einen auffängt, die anderen aber einfängt und einengt. Die knapper gewordenen Ressourcen und die Erkenntnis, daß die sozialstaatliche Sorglosigkeit der Vergangenheit die Krise der Gegenwart wesentlich mitverursacht hat, eröffnen die Chance einer Neubesinnung und eines Neubeginns. Dabei scheint es i m System der parlamentarischen Demokratie zu liegen, daß eine Kürzung von Sozialleistungen, ja selbst die Zurückschneidung sozialrechtlichen Wildwuchses, nicht i n Normalzeiten, sondern nur i n Notzeiten möglich ist. Der Machtgewinn i n der Demokratie läßt sich offensichtlich eher durch sichtbare Taten für den Augenblick als durch unsichtbare Vorsorge für die Zukunft erzielen, weshalb Sozialreformen seit der Rentenreform von 1957 m i t einer ins Auge fallenden Gesetzmäßigkeit stets i n Wahljahren durchgeführt werden. Die kurzen Wahlperioden erfordern zudem immer neue oder stärkere Gaben, so daß i m 20. Jahrhundert die diesseitige Sozialbeglückung zum Opium für das Wahlvolk wird. Auf diese Weise hat sich eine Sozialspirale ausgebildet, die zu immer vielfältigeren und höheren Sozialleistungen geführt hat. Die unausweichlichen Reformen müssen sowohl von sozialstaatlicher Opportunität als auch von rechtsstaatlicher Legalität getragen sein, da die Bundesrepublik nicht nur ein Sozialstaat, sondern ein sozialer Rechtsstaat und ein sozialer Verfassungsstaat ist. Ein Neubeginn setzt voraus, daß der Sozialgesetzgeber von liebgewordenen Leitbildern Abstand nimmt, die sich als Zerrbilder herausgestellt haben, daß er M i t t e l und Verfahren wählt, die sich von bisherigen Manipulationen abheben, und daß er tatsächlich ein oft zitiertes System der sozialen Sicherheit und nicht nur einen unharmonischen sozialen Flickenteppich herstellt. 3

BVerfG

N J W 1982, 1447, 1449 f.

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II. Hierzu sieben Thesen: 1. Leitbild der sozialen Sicherheit darf nicht länger die Quantität, sondern muß die Qualität der Sozialleistungen sein. Die Höhe des Sozialetats oder der Sozialleistungsquote ist kein tauglicher Indikator für die Güte des sozialen Netzes, wie auch die Anzahl der Gesetze kein Anzeichen für die Rechtsstaatlichkeit eines Gemeinwesens ist. Die Überschätzung des Quantitativen stammt noch aus der Zeit der Planungseuphorie, i n der die Zahl, nicht der Mensch i m Mittelpunkt stand. 2. Unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutzes und unter Schonung der empfindlichen, weil auf Dauer angelegten Rentenversicherung darf der status quo der Sozialleistungen nicht sakrosankt sein. Die Kürzung von Sozialleistungen muß keinen Abbau der Sozialstaatlichkeit bewirken, die als solche erhalten bleibt, ebenso wie die Eindämmung der Normenflut nicht zu einem Verlust an Rechtsstaatlichkeit führen muß. Das Gezeter von der „sozialen Demontage" muß als das gewertet werden, was es ist: als Kampfformel von Verbänden m i t Partikularinteressen, die als Demontage stets den Abbau von Vergünstigungen für die eigenen Mitglieder bezeichnen, während sie von sozialen Reformen reden, wenn es um Leistungskürzungen für Verbandsfremde geht. 3. Die Solidität, Stabilität und Kontinuität der sozialen Sicherheit muß Vorrang vor der Einführung neuer oder der Erweiterung bestehender Sozialleistungen erhalten. Gerade i n Bereichen, die auf längere Dauer angelegt sind und langfristige Dispositionen erfordern wie z.B. die Alterssicherung, muß der Bürger der Systemtreue des Gesetzgebers vertrauen dürfen, statt fortwährend Systemveränderungen befürchten zu müssen. Die Finanzierung der Sozialleistungen ist nicht nur kurzfristig, sondern insbesondere i n der Rentenversicherung auch mittel- und langfristig zu sichern — nicht nur bei Annahme optimistischer, sondern auch unter Berücksichtigung pessimistischer Prognosen. Das führt nicht zu einer sozialpolitischen Perspektivlosigkeit oder zu einer Verweigerung von Antworten auf neue soziale Fragen. Werden unnötige oder überholte Sozialleistungen abgebaut — ζ. B. Fehlbelegungen i m sozialen Wohnungsbau, Pflegegelder nach den Landespflegegeldgesetzen auch für Nicht-Bedürftige, Überversorgungen für Angestellte und Arbeiter i m öffentlichen Dienst —, so stehen auch i n Zukunft Mittel für neue soziale Reformen, z.B. für die bisher sozial nicht abgesicherten Pflegefälle bereit. 7*

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Der Gesetzgeber hat sich freilich zu der an sich selbstverständlichen Reihenfolge einer soliden Sicherung der Finanzierung vor der Inangriffnahme einer Reform bisher nicht bekannt. So hat er i n einer Krise der Sozialversicherung die Künstler eingegliedert, die Einbeziehung der Strafgefangenen angestrebt und erwägt eine Erhöhung der Witwenrenten, obwohl nicht einmal die bestehenden Rentenleistungen hinreichend finanziell gesichert sind. 4. Der Sozialgesetzgeber muß sich wieder auf den Schutz von fundamentalen Risiken konzentrieren und die i n letzter Zeit verstärkt geregelten Bagatellrisiken sowie die der Sozialversicherung auferlegten Fremdlasten 4 meiden. Trotz der i n den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegenen Realeinkommen ist die sozialstaatliche Risikoabdeckung i n tensiviert worden, während es sozialpolitisch konsequent wäre, die Fremdhilfe bei zunehmender Möglichkeit der Eigenhilfe einzuschränken. Sinn des Sozialrechts, so wie es sich i n den letzten hundert Jahren herausgebildet hat, ist es, Schutz und Vorsorge für besondere Lebenssituationen oder fundamentale Lebensrisiken zu gewähren, die i m allgemeinen eine wirtschaftliche Schwäche des einzelnen indizieren und für die er selbst keine Vorsorge treffen kann. Es ist aber nicht Aufgabe der Gemeinschaft der Versicherten oder der Steuerzahler, Bagatellrisiken zu tragen, vor denen sich jeder selbst wirksam schützen kann, oder dem einzelnen die Kosten für Lebensdispositionen abzunehmen, so daß er des m i t jedem Freiheitsgebrauch notwendigerweise verbundenen Risikos ledig wird. Wurde i n der Vergangenheit nur das besondere Schicksal zum „einklagbaren Rechtsverlust" 5 , so ist es zunehmend jedes Schicksal geworden. Betrug die Zahl der Schwerbeschädigten 1950 bei über 650 000 Kriegsbeschädigten noch nicht eine Million, so zählt die Bundesrepublik heute, fast vierzig Jahre nach Kriegsende, über vier Millionen Schwerbehinderte, so daß das Schlagwort, die Deutschen würden ein Volk von Schwerbehinderten werden, sicherlich überzeichnet, i m Kern aber berechtigt ist. Z u den Bagatellrisiken, die der einzelne tragen könnte, gehört beispielsweise die Einführung unbezahlter Karenztage i m Krankheitsfall oder eine i n der Höhe limitierte und sozial ausgestaltete Selbstbeteiligung i n der gesetzlichen Krankenversicherung. Auch i n anderen Bereichen, wie ζ. B. bei der Kasko-Versicherung für Kraftfahrzeuge, über4 Hierzu Krause, Peter: Fremdlasten der Sozialversicherung, VSSR 8, 1980, 115 ff. 5 Werner, F r i t z : Wandelt sich die F u n k t i o n des Rechts i m sozialen Rechtsstaat?, i n : ders., Recht u n d Gericht i n unserer Zeit, hrsg. von Bettermann u n d Ule, 1971, S. 362.

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nimmt der einzelne eine Eigenbeteiligung, wenn die volle Versicherung für i h n wirtschaftlich zu ungünstig wird. Ein Bagatellrisiko stellt ferner die „unechte Unfallversicherung" i m Falle des § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO dar. Danach genießen Personen den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, die „ i m Rahmen der Selbsthilfe" bei öffentlich-gefördertem oder steuerbegünstigtem Eigenheimbau tätig sind. Die sicherlich erforderliche Vorsorge i n derartigen Fällen könnte auch durch eine Versicherungspflicht, d. h. durch den öffentlich-rechtlichen Zwang zum Abschluß einer privaten Versicherung erreicht werden. Hier handelt es sich nicht um ein fundamentales Lebensrisiko, sondern u m ein objektbezogenes, dem Bauherrn zumutbares Risiko. Die Risikoübernahme erleichtert zudem Formen der Tauschwirtschaft oder der Schwarzarbeit zwecks Einsparung von Steuern und Beiträgen, was diskret als „Nachbarschaftshilfe" oder „Schattenwirtschaft" umschrieben wird. Zu den der Sozialversicherung zu Unrecht auferlegten Fremdlasten gehören die Kosten für Schwangerschaftsabbrüche. Die sowohl absolut als auch relativ hohe Zahl von Abtreibungen aus Gründen sogenannter sozialer Indikation spricht zunächst ohnehin gegen das Vorliegen echter sozialer Not. Soweit jedoch tatsächlich eine wirtschaftliche Hilfsbedürftigkeit i n einer besonderen Lebenslage besteht, wäre nach dem System der sozialen Sicherheit der Sozialhilfeträger zuständig. Da Schwangerschaft nicht eine Störung des körperlichen Zustandes ist, sondern i m Gegenteil Gesundheit indiziert, w i r d die Versichertengemeinschaft zu Unrecht mit nicht unbeträchtlichen Kosten belastet, wobei die Maßnahme i m übrigen bevölkerungspolitisch i m Hinblick auf den schlechten Bevölkerungsaufbau verfehlt ist. 5. Der sozialgestaltende muß sich wie der wirtschaftende Staat antizyklisch verhalten. A n sich könnte das System der sozialen Sicherheit volkswirtschaftlich als sogenannter eingebauter Stabilisator wirken, da i n Zeiten der Vollbeschäftigung durch Steuern und Beiträge unter gleichzeitiger Ersparung staatlicher Sozialausgaben insbesondere i m Bereich der Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe Kaufkraft abgeschöpft wird, während i n Zeiten der Rezession m i t Hilfe staatlicher Sozialleistungen Nachfragelücken geschlossen werden. Antizyklisches Verhalten würde jedoch voraussetzen, daß der Sozialgesetzgeber i n Zeiten der Hochkonjunktur bei hohem Beitragsauf kommen und geringeren Ausgaben enthaltsam lebte, was offensichtlich zuviel verlangt ist, da volle Kassen bekanntlich sinnlich machen. So hat der Gesetzgeber 1969, i n einem Wahljahr, i m Arbeitsförderungsgesetz großzügige Leistungen zur beruflichen Bildung vorgesehen, wofür 1976 immerhin 37 vom Hundert des Beitragsaufkommens der Bundesanstalt für Arbeit

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aufgewendet wurden 6 . Die Zahl der Arbeitslosen an den Geförderten war teilweise verschwindend gering. Sie betrug 1973 lediglich 5,8 vom Hundert 7 . Statt also in den fetten Jahren Rücklagen zu bilden, wurde mit vollen Händen verteilt, so daß 1975 beim Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über eine M i l l i o n Arbeitslose die Kassen geleert waren. Das ist um so schwerwiegender, als Teilbereiche der sozialen Sicherung institutionell auf eine A r t „Doppler-Effekt" angelegt sind. I n Rezessionsphasen, i n denen das Steuer- und Beitragsauf kommen sinkt, müssen Leistungen der Arbeitslosenversicherung und der Sozialhilfe verstärkt gewährt werden. M i t sinkender Zahl der Steuer- und Beitragspflichtigen steigt also die Zahl der Leistungsberechtigten, so daß sich beide Gruppen aufeinander zu bewegen und das Verhältnis von Beitragsaufkommen und Leistungsvolumen immer ungünstiger wird. Dasselbe prozyklische Verhalten war i m Wahljahr 1972 zu beobachten, als i n der Rentenversicherung als zusätzliche Leistungen die Rente nach Mindesteinkommen und die flexible Altersgrenze eingeführt wurden, die später i n den mageren Jahren nicht unwesentlich zur Rentenmisere beigetragen haben. 6. Der Sozialgesetzgeber muß von einem allzu idealistischen und unrealistischen Menschenbild, wie es für die Neo-Aufklärung bezeichnend ist, abkehren und zu einem wirklichkeitsnäheren wiederfinden. Der Sozialbürger steht nicht auf einer höheren Stufe der Menschheitsentwicklung als der Wirtschafts- oder der Steuerbürger. Wie diese hat er Schwächen, zu denen auch die Ausnutzung des Angebots an staatlichen Leistungen bis h i n zum Mißbrauch gehört. Es ist eben schon i m Grundsatz unrichtig, wenn die Bundesregierung darauf verweist, daß der Gesetzgeber stets an denjenigen denkt, der „vernünftigen Gebrauch von dem Gesetzgebungsangebot macht, und nicht bei allem, was er tut, an den denken kann, der mißbräuchlich oder die Gesetze falsch gebrauchend davon Gebrauch macht" 8 . Der Gesetzgeber muß gerade bei Leistungsgesetzen auch an die Gefahr des Mißbrauchs denken u n d ihr i m Rahmen des Möglichen zu begegnen suchen. Eine Epoche, die die Wirtschaftskriminalität zu Recht anprangert, darf vor Sozialkriminalität nicht die Augen verschließen und den 6 Quelle: Übersicht über die Soziale Sicherung, Stand: 1. A p r i l 1977, hrsg. v o m Bundesminister für A r b e i t u n d Sozialordnung, S. 272. 7 Quelle: Soziale Sicherung, a. a. O., S. 250. 8 So der Pari. Staatssekretär Haehser i n der 11. Sitzung des 9. Deutschen Bundestags v o m 17.12.1980 (Plenarprotokoll 9/11, S. 356 [B]).

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Typus des „Sozialparasiten" 0 oder des „Sozialschnorrers" 10 nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Erst die extreme Belastung des sozialen Netzes hat eine bestehende Tabuisierung durchbrochen und auch den Gesetzgeber veranlaßt, „Mißbrauchsmöglichkeiten" 11 einzugestehen und einzuräumen, daß beispielsweise die insbesondere i n ArbeitnehmerKreisen längst bekannten günstigen steuerrechtlichen Folgen einer Beschäftigungslosigkeit zu „ungerechtfertigten Vergünstigungen . . . i n besonders vielen Fällen" 1 2 geführt haben. Der Mißbrauch von Sozialleistungen muß jedoch sorgfältig von einer extensiven, aber legalen Ausnutzung gesetzlicher Möglichkeiten unterschieden werden. So hätte der Gesetzgeber rechtzeitig und nicht erst vor kurzem 1 3 Vorkehrungen dagegen treffen müssen, daß das Institut des vorgezogenen Altersruhegeldes bei einjähriger Arbeitslosigkeit nicht von Arbeitgebern und Arbeitnehmern i m einvernehmlichen Zusammenwirken zu einer A r t Belegschafts-Verjüngung benutzt werden konnte 1 4 . Die Hilflosigkeit des von seinen Bürgern enttäuschten Sozialgesetzgebers offenbart sich, wenn er sich i n einer Gesetzesbegründung darüber beklagt, die Schwerbehinderten hätten das Beitrittsrecht zur gesetzlichen Krankenversicherung „mißbraucht" 1 5 . Bei realistischer Einschätzung hätte er erkennen müssen, daß von vorteilhaften sozialversicherungsrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten immer die — versicherungstechnisch gesprochen — „schlechten Risiken" Gebrauch machen. Insbesondere darf dem Bürger nicht Mißbrauch vorgeworfen werden, wenn der Sozialgesetzgeber infolge seiner kurzsichtigen und kurzatmigen Gesetzgebungstechnik offensichtliche Fehler begeht und Möglichkeiten der Ausnutzung schafft, wie dies jüngst bei der Öffnung der gesetzlichen Krankenversicherung für Beamte und Selbständige zu 9

Isensee, Josef: Demokratischer Rechtsstaat u n d staatsfreie Ethik, i n : Essener Gespräche zum Thema Staat u n d Kirche, 1977, S. 26. 10 υ. Arnim, Hans Herbert, W D S t R L 39, 1981, 344. 11 Vgl. Begründung der Bundesregierung zum E n t w u r f eines Zweiten Gesetzes zur Verbesserung der Haushaltsstruktur, BT-Drucks. 9/842 v o m 28. 9. 1981, S. 1. 12 a. a. O., S. 67, r. Sp. 13 Durch § 128 A F G , eingefügt durch A r t . I § 1 Nr. 48 des Arbeitsförderungs-Konsolidierungisgesetzes v o m 22.12.1981 (BGBl. I S. 1497). 14 Vgl. hierzu Faude, Michael: Vorzeitiges Ausscheiden älterer M i t a r b e i ter — Leistungsmißbrauch oder arbeitsmarktkonforme Instrumentalisierung der Sozialgesetzgebung?, ZRP 1982, 20 ff., insbes. 22 ff. 15 Vgl. Begründung der Bundesregierung zu A r t . I Nr. 1 (§ 176 c RVO), B T Drucks. 9/845 v. 28. 9.1981, S. 12.

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einem Minimalbetrag i m Falle einer „geringfügigen" der Fall gewesen ist 1 6 .

Beschäftigung

7. M i t Manipulationen, ζ. B. bei der Rentenanpassung, m i t der Verschiebung von Finanzmassen oder Beitragssätzen, ζ. B. zwischen A r beitslosenversicherung, Rentenversicherung und Krankenversicherung, sowie einer Fülle von Strukturgesetzen, Konsolidierungsgesetzen, Dämpfungsgesetzen und Dämpfungs-Ergänzungsgesetzen kann es diesmal nicht getan sein. Der Sozialgesetzgeber muß zu langfristigen und langatmigen Regelungen übergehen, damit das Vertrauen des Bürgers i n den Sozialstaat wächst. Dieses Vertrauen mußte angesichts der inkonsequenten und widersprüchlichen Haltung des Sozialgesetzgebers i n den letzten Jahren schwinden, wie beispielsweise das Problem der Beteiligung der Rentner an ihrer Krankenversicherung schlagartig zeigt. Der schon einmal eingeführte Beitrag der Rentner zur Krankenversicherung — vom zuständigen Bundesminister als „Unrecht" gebrandmarkt — wurde zu Beginn eines „Reformjahrzehnts" vom Gesetzgeber abgeschafft und die geleisteten Beiträge wurden, wenn auch i n pauschalierter Form, zurückerstattet 17 . Einige Jahre später w i r d nun dieses „Unrecht" i n verschärfter und gesteigerter Form wieder eingeführt. M i t Widersinnigkeiten und gesetzgeberischen Pannen erweckt der Sozialgesetzgeber den Eindruck, daß er der Legastheniker unter den Legistikern ist. III. Als Perspektive bietet sich für den Gesetzgeber gerade bei knapper werdenden Ressourcen eine verfassungsorientierte Sozialpolitik an. Der Sozialgesetzgeber kann zwar über das verfassungsrechtlich Erforderliche hinausgehen, darf aber — von Katastrophen und (echten) Notfällen abgesehen — auch i n wirtschaftlich schlechten Zeiten nicht hinter der Verfassung zurückbleiben. Hierzu sechs Leitsätze: 1. I m Hinblick auf den Gleichheitssatz ist es verfassungsrechtlich bedenklich, wenn unter vergleichbaren Verhältnissen das Nettoeinkommen von Sozialleistungsempfängern höher ist als das der Beschäftigten. So kommt es bei den Transferleistungen zu sogenannten „Umkipp-Effek18

Hierzu Isensee, Josef: Sozialversicherungsfreiheit bei geringfügiger Beschäftigung, ZRP 1982, 137 ff. 17 Vgl. A r t . 3 § 5 F i n Ä n d G v. 21.12.1967 (BGBl. I S. 1259), das „Gesetz über den Wegfall des von Rentnern f ü r ihre Krankenversicherung zu tragenden Beitrags" v o m 14.4.1970 (BGBl. I S. 337) sowie die Ausführungen des damaligen Bundesministers Arendt i n der 160. Sitzung des 6. Deutschen Bundestags v o m 16.12.1971 (Sten.Ber. S. 9234 [B]).

Sozialstaatlichkeit: Neubesinnung bei knappen Ressourcen

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ten" 1 8 . Infolge der Einkommensgrenzen können Arbeitnehmer mit niedrigerem Bruttoeinkommen ein höheres Nettoeinkommen erzielen als diejenigen, die infolge ihres höheren Bruttoeinkommens von vornherein keine Transferleistungen erhalten. Bei der Sozialhilfe können die Sozialleistungen für Familien mit mehr als drei Kindern höher als die Nettoeinkünfte eines Familienvaters i n vergleichbarer Situation 1 9 sein. Die schon erwähnte Uberversorgung für Arbeiter und Angestellte i m öffentlichen Dienst führt dazu, daß diese bei Erreichen der Altersgrenze eine Gesamtversorgung von weit mehr als 100 vom Hundert ihres letzten Nettoarbeitsentgelts erhalten 2 0 , so daß der Nichtbeschäftigte gegenüber dem Beschäftigten bevorzugt wird. Die Ursache liegt darin, daß die öffentlichen Arbeitgeber 1967 eine Gesamtversorgung von 75 vom Hundert der Bezüge garantiert haben, inzwischen aber die Belastung mit Steuern und Abgaben selbst bei Durchschnittsverdienern mehr als 30 vom Hundert des Bruttoarbeitsentgelts beträgt, so daß dem Beschäftigten als Nettoarbeitsentgelt oftmals weniger als 70 vom Hundert des Bruttoeinkommens verbleiben. Konsequent zu Ende gedacht spricht der Gleichheitssatz auch gegen die bruttolohnbezogene Rentenanpassung, weil dadurch die realen Rentenerhöhungen inzwischen die realen Lohnerhöhungen weit übersteigen. Nach Angaben der Bundesregierung bezog ein Rentner nach 45 Versicherungsjähren i m Jahre 1969 65,1 vom Hundert, i m Jahre 1979 72,5 vom Hundert des Nettoarbeitsentgeltes eines vergleichbaren A r beitnehmers 21 . Infolgedessen fordert die Wissenschaft i n weitgehender Einigkeit eine Abkehr von dem (reinen) Bruttolohn-Prinzip 2 2 . Dies 18

Vgl. Zeppernick, Ralf: Das Transfersystem i n Deutschland — eine Bestandsaufnahme, Genossenschaftsforum 1981, 392 ff.; ferner dens., Probleme der Umverteilung, i n : K u r s k o r r e k t u r e n i m Recht, 1980, S. 39 f. 19 Vgl. hierzu Deininger, Josef: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche u n d private Fürsorge, 1981, S. 104 ff. (108 f.); Frank, Werner, VSSR 9, 1981, 229. 20 Hierzu Vergleich des beamtenrechtlichen Versorgungssystems m i t den Versorgungssystemen für Arbeitnehmer i m öffentlichen Dienst u n d i n der privaten Wirtschaft (Gutachten der „Treuarbeit"), BT-Drucks. 7/5569 v. 6. 7. 1976, insbes. S. 152, 154, 156; ferner v.Maydell, Bernd: Basisversorgung (Beamtenpension u n d Altersruhegelder der gesetzlichen Rentenversicherung) und Ergänzungsversorgungen (Zusatzversorgung i m öffentlichen Dienst u n d i n der gewerblichen Wirtschaft einschließlich der Privatversicherung), i n : Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes, Bd. 17, S. 24 ff., insbes. S. 39; Dornbusch, Hans-Ludwig, DÖV 1982, S. 54 ff., insbes. S. 57. 21 Sozialbericht 1980, hrsg. v o m Bundesminister f ü r Arbeit u n d Sozialordnung, Nr. 72, S. 21. 22 Vgl. Gutachten des Sozialbeirats über langfristige Probleme der A l t e r s sicherung i n der Bundesrepublik Deutschland, BT-Drucks. 9/632 v. 3. 7.1981, I I I B S. 11; Gutachten der Wissenschaftlergruppe des Sozialbeirats zu l ä n gerfristigen Entwicklungsperspektiven der Rentenversicherung, BT-Drucks. 9/632 v. 3.7.1981, D I , S.45ff.; Transfer-Enquête-Kommission, Das Transfer-

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könnte auch i n modifizierter Form erfolgen, wenn die Verzerrungen der Besteuerung der Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung und der Beamtenpensionen beseitigt würden, wofür i m übrigen ein — bisher nicht erfüllter — verfassungsrechtlicher Auftrag vorliegt 2 3 . Besondere Schwierigkeiten w i r f t die Gleichheit i n der Zeit auf. Der vielzitierte und vielmißbrauchte „Generationen vert rag" i n der Rentenversicherung ist eben kein Vertrag, sondern einseitiges Diktat. Infolge des ungünstigen Bevölkerungsaufbaus müssen innerhalb der jungen Generation die jetzigen und künftigen Sozial versicherten mit ihren Beiträgen für Rentenleistungen aufkommen, die sie selbst i n dieser Höhe wahrscheinlich nie erhalten können. I m Ergebnis muß also ein Geschlecht Schulden begleichen, die andere aufgehäuft haben — nicht um Not zu lindern, sondern u m Freigiebigkeit zu finanzieren und Macht zu stabilisieren. Während heute drei Beitragszahler eine Altersrente aufbringen müssen, werden i m Jahre 2030 auf fünf Beitragszahler drei bis vier Rentner entfallen 2 4 . Selbst bei unverändertem Rentenrecht müßten die Beitragssätze zu diesem Zeitpunkt zwischen 30 und 40 vom Hundert liegen 2 5 . Da die Rentenfinanzen mittel- und langfristig nicht gesichert sind, ist es sozialpolitisch verfehlt, eine weitere Verkürzung der Lebensarbeitszeit zu erwägen, zumal sie die strukturelle A r beitslosigkeit ohnehin nicht beheben kann und zudem medizinisch besystem i n der Bundesrepublik Deutschland, S. 249 ff. Schmähl, Winfried: Die Diskussion über Veränderungen des Rentenanpassungsverfahrens i n der Bundesrepublik Deuschland, ZVersWiss 69, 1980, 315 ff.; ders., E i n beitragssatzorientiertes Anpassungsverfahren als M i t t e l des Belastungeausgleichs zwischen Erwerbstätigen u n d Rentnern i n der gesetzlichen Rentenversicherung, Modifizierte B r u t t o - u n d modifizierte Nettoanpassung, Terminologisches und Inhaltliches, D R V 1981, 377 ff. 23 BVerfGE 54, 11 (39). 24 Z u den langfristigen Problemen der Rentenversicherung vgl. Gutachten des Sozialbeirats über langfristige Probleme der Alterssicherung i n der B u n desrepublik Deutschland, BT-Drucks. 9/632 v. 3.7.1981; Dettling, Warnfried (Hrsg.), Schrumpfende Bevölkerung — Wachsende Probleme?, 1978; U r sachen des Geburtenrückgangs — Aussagen, Theorien u n d Forschungsansätze zum generativen Verhalten, Schriftenreihe des Bundesministers für Jugend, Familie u n d Gesundheit, Bd. 63, 1979; Grohmann, Heinz: Wege zur Bewahrung der langfristigen Stabilität der Rentenversicherung i m demographischen, ökonomischen u n d sozialen Wandel, D R V 1981, 265 ff.; Lübeck, Elke / Steeger, Walter: Ergebnisse von Modellrechnungen zur langfristigen Vorausberechnung der Rentenausgaben, D R V 1981, 290 ff.; Schwarz, K a r l : Die langfristige E n t w i c k l u n g der Rentenbelastung, D R V 1979, 16 ff.; Das Transfersystem i n der Bundesrepublik Deutschland — Bericht der Transfer-Enquête-Kommission, 1981, S. 229 ff.; zum „Altenquotienten" vgl. i m einzelnen Wagner, Baidur i n : Dettling (Hrsg.), Schrumpfende Bevölkerung, S. 121 f.; Bericht der Transfer-Enquête-Kommission, S. 230. 25 Wagner, B a l d u r i n : Dettling (Hrsg.), Schrumpfende Bevölkerung (FN 24), S. 119 (Modell A : 29,2%; ModeU Β : 38,9%); Sozialbeirat (knapp 35%), B T Drucks. 9/632, Nr. 80 S. 40; Transfer-Enquête-Kommission (35,5%), Das Transfer-System (FN 24), S. 231.

Sozialstaatlichkeit: Neubesinnung bei knappen R e s s o u r c e n 1 0 7

denklich ist. Daß frühzeitigere Renten für die einen durch Steuern und Beiträge von anderen finanziert werden müssen, w i r d i n der sozialpolitischen Diskussion allzu gern übersehen. 2. Da die Sozialversicherungsanwartschaften, insbesondere soweit sie auf Beitragszahlungen der Versicherten und ihrer Arbeitgeber beruhen, den verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz genießen 26 , ist die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers begrenzt. Auch deshalb muß er sich vor unsoliden Experimenten und Reformen hüten und sich etwas mehr — wie von Richtern des Bundesverfassungsgerichts kürzlich empfohlen 2 7 — wie ein „ehrbarer Kaufmann" gerieren, statt sozialpolitische Wechselreiterei zu betreiben. 3. Der verfassungsrechtliche Schutz für Ehe und Familie, die als rechtlich institutionalisierte Formen des Beistands und der Selbsthilfe auch i n Notzeiten Fremdhilfe erübrigen, darf nicht Lippenbekenntnis bei gleichzeitigem Abbau steuerrechtlicher oder sozialer Vergünstigungen bleiben. 4. Die berufliche Ausbildungsförderung zählt nicht zum verfassungsrechtlich geschützten Kern der sozialen Sicherheit. Aus dem Freiheitsund Abwehrrecht des A r t . 12 GG läßt sich nicht ein Recht auf Sozialleistungen herausinterpretieren, insbesondere wenn eine individuelle Ausbildungsförderung für jede „der Neigung, Eignung und Leistung" entsprechende Ausbildung ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Erfordernisse gewährt werden soll 2 8 . Gerade i n diesem Bereich wäre eine Ersetzung der Sozialleistungen durch Darlehen verfassungsrechtlich unbedenklich. 5. Die Verfassung ließe eine stärkere Differenzierung zwischen Deutschen und Ausländern zu, zumal letztere, ζ. B. beim Kindergeld, teilweise überproportionale Sozialleistungen erhalten. Jeder Staat ist zunächst für die Existenzsicherung seiner eigenen Staatsangehörigen verantwortlich, und Ausländer sind von Verfassungs wegen, ζ. B. bei den wirtschaftlichen Grundrechten, deutlich schlechter gestellt als Deutsche. 26 Vgl. BVerfGE 53, 257 (289 ff., 291 f.); 55, 114 (131); 58, 81 (109); hierzu auch Krause, Peter: Eigentum an subjektiven öffentlichen Rechten, 1982. 27 Vgl. Abweichende Meinung des Präsidenten Dr. Benda und des Richters Dr. Katzenstein zum Beschluß des Ersten Senats v o m 1. J u l i 1981, BVerfGE 58, 129 (133); Fritzsche, Hans-Achim, Der Staat ist kein ehrbarer Kaufmann, B B 1982, 937 ff. 28 § 1 Abs. 1 S G B I . Vgl. i n diesem Zusammenhang Merten, Detlef: Z u r Problematik der Aufnahme sozialer Rechte i n das Sozialgesetzbuch, B l S t SozArbR 1975, 357 ff.

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6. Stärker als bisher müssen die Grundrechte als Schranken für die Steuer- und Abgabenbelastung des einzelnen erschlossen werden, da diese zu Freiheitsverlusten führt. Unter Berücksichtigung der Grundrechtsrelevanz steuerrechtlicher Eingriffe ist dann zu prüfen, ob staatlich gewährte Sozialleistungen wegen der damit verbundenen Belastung anderer verhältnismäßig sind, d. h. ob der Eingriff auf seiten des belasteten Bürgers noch i m Verhältnis zu dem mit den Sozialleistungen erzielten Nutzen steht. Das Prinzip „Freiheit", das die Verfassung an ihre Spitze gestellt hat, fordert eine Selbstbeschränkung des Staates und die Anerkennung der Selbstverantwortung des Bürgers. Eine Neubesinnung der Sozialpolitik bei knappen Ressourcen muß nicht zu einem Abbau der Sozialstaatlichkeit, sondern kann auch zu einer Konzentration auf das Wesentliche und Notwendige führen. Allerdings ist die „deutsche Krankheit" so weit fortgeschritten, daß sie sich durch sozialpolitische Sanierungskosmetik nicht mehr überdecken läßt, sondern eine Operation erforderlich macht. Je rascher und gründlicher diese erfolgt, u m so eher ist die Krise des Sozialstaats zu heilen.

2. Ungleichgewichte in der finanzpolitischen Willensbildung und ihre verfassungstheoretischen Konsequenzen Von Hans Herbert von A r n i m Ich möchte versuchen, einige wenige finanzpolitische Probleme, die m i r wichtig erscheinen, aus verfassungstheoretischer Sicht zu erörtern*. Vielleicht werden Sie fragen, warum ich ausgerechnet die Finanzpolitik herausgesucht habe. Die Beschäftigung mit „Finanzen", auch mit denen des Staates, gilt ja vielen immer noch als etwas Minderwertiges. Von Jean Jacques Rousseau stammt gar das Wort, Finanzen seien etwas für Sklaven. Auch der deutsche Idealismus war von der Verachtung finanzieller Aspekte durchdrungen. A l l dies hat seine Spuren noch i n der Staatsrechtslehre von heute hinterlassen: Man glaubt häufig, die öffentlichen Finanzen links liegen lassen zu können. Günter Dürig, der Mitverfasser des bekannten Grundgesetzkommentars, leitet eine Sammlung wichtiger staatsrechtlicher Gesetze m i t einer Auflage von 2 Millionen mit folgendem Hat an die Studenten ein: „ W e n n Sie nicht müssen, steigen Sie da bitte nicht ein. Das brauchen und verstehen n u r wenige Experten." 1

Gemeint ist der X.Abschnitt des Grundgesetzes, der „Das Finanzwesen" betrifft. Der Vorwurf Josef Isensees, die Staatsrechtslehre sei mit „Finanzblindheit" geschlagen2, mag polemisch übertrieben sein, trifft aber wohl durchaus den Kern. Diese Entwicklung ist bedauerlich. Es geht hier nämlich um mehr als nur u m das Auslassen eines Bereichs unter anderen. Es leidet das Verständnis vom Staat insgesamt, denn die Analyse der Finanzen ist für die Erfassung und die K r i t i k der staatlichen Willensbildung unverzichtbar. Auch hier lassen sich Klassiker beschwören: Jean Bodin hat die Finanzen anschaulich die Nerven des Staates genannt. Joseph Schumpeter hat hervorgehoben, daß sich allgemeine politische Entwicklungen in der Finanzpolitik besonders intensiv — sozusagen wie durch * Unveränderte, lediglich m i t einigen Fußnoten versehene Fassung des Vortrages. 1 Grundgesetz (mit Grundvertrag u n d anderen Gesetzen), Beck-Texte i m Deutschen Taschenbuchverlag, 20. Aufl., Stand: Oktober 1980, S. 19. 2 Isensee, Josef: Steuerstaat als Staatsform, FS Hans-Peter Ipsen, 1977, 409 (412).

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eine Lupe vergrößert und verdeutlicht — zeigen. Geld ist eben exakt meßbar; hier werden Entwicklungen schneller manifest als anderswo. So gesehen, ist es wohl auch kein Zufall, daß der Kampf u m die Bewilligung von Steuern mit dem Schlachtruf „No taxation without representation" die Geburt der neuzeitlichen Demokratie i n Amerika eingeläutet hat. Und auch für die französische Revolution, mit der Europa der Neuen Welt die Erstgeburt der Demokratie streitig machte, lassen sich finanzpolitische Ursachen ausmachen, vor allem die immense Verschwendung des Ancien Régime. Bevor ich nun darlege, warum ich mich mit Ungleichgewichten i n der finanzpolitischen Willensbildung befassen möchte und was darunter verstanden werden soll, zwei Beispiele vorneweg: Beispiel

1

Wer ein Erwerbseinkommen erzielt, muß Einkommensteuer an den Staat zahlen; i m Falle eines vierköpfigen Haushalts m i t einem Verdiener beginnt die Einkommensteuerpflicht bei einem Jahreseinkommen von 8532 D M 3 . Dagegen erhält dieselbe Familie, wenn sie kein Erwerbseinkommen (und auch kein sonstiges Einkommen) bezieht, vom Staat Sozialhilfe i n Höhe von ca. 20 000 DM, die i n voller Höhe steuerfrei bleibt. Dieser Unterschied überrascht. Denn beides: die Sozialhilfe und der steuerliche Grundfreibetrag werden mit der gleichen Erwägung begründet; jedem soll sein ökonomisches Existenzminimum gesichert werden. Dieses kann i m einen Fall aber nicht niedriger sein als i m anderen. Beispiel

2

Die Sozialrenten sind seit der Rentenreform von 1957 dynamisiert; gleiches gilt seit Anfang der 70er Jahre auch für die Kriegsopferversorgung. Das hat seinen guten Sinn: Die Zahlungsempfänger sollen nicht zu Leidtragenden der Geldentwertung gemacht werden; darüber hinaus sollen sie auch am realen Wachstum beteiligt werden. Geht es dagegen u m die Erhebung von Mitteln beim Steuerzahler, so t r i t t eben das ein, was man beim Rentenempfänger vermeiden wollte; der Steuerzahler w i r d i n extremer Weise von der Geldentwertung gebeutelt: Wenn die Einkommen beispielsweise u m 5 Prozent steigen, nimmt das Aufkommen des Staates an Einkommensteuer infolge des progressiven Tarifs, sagen wir, u m 10 Prozent zu. Dabei ist hervorzuheben, daß dieser Effekt keinesfalls nur hohe Einkommen erfaßt: schärfer noch als die direkte Progression greift nämlich die indirekte Progression zu, die 3 Die Lohnsteuerpflicht beginnt wegen des Einbaus verschiedener Pauschalen und weiterer Freibeträge i n die Lohnsteuertabellen bei 12 330 D M .

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daherriihrt, daß die Teile des Einkommens, welche die Grundfreibeträge überschreiten, sogleich m i t 22 Prozent besteuert werden. Und die Grundfreibeträge werden eben auch von kleinen Einkommen überschritten. Diese automatischen Steuererhöhungen sind besonders bedenklich, soweit sie lediglich auf nominellen, d. h. den Kaufkraftschwund nur ausgleichenden, Einkommenserhöhungen beruhen; denn insoweit muß der Steuerzahler ein Mehreinkommen progressiv versteuern, welches er der realen Kaufkraft nach gar nicht erhält. War, um i m Beispiel zu bleiben, die öprozentige Einkommenssteigerung lediglich Ausgleich für Geldentwertung i n gleicher Höhe, so bewirken die sog. heimlichen

Steuererhöhungen,

daß d i e S t e u e r z a h l e r e i n b e -

trächtlich niedrigeres Realeinkommen erhalten als vorher. Die Zusatzbelastungen und Belastungsverschiebungen, die sich dabei ergeben, sind tendenziell umso größer, je höher die Geldentwertungsrate ausfällt. Nach Berechnungen von Experten machen die inflationsbedingten heimlichen Steuererhöhungen i n den vier Jahren 1981 bis 1984, wenn der Tarif nicht geändert wird, über 50 Milliarden D M aus. Die beiden Beispiele signalisieren Unausgewogenheiten und führen damit letztlich, wie ich meine, zu einer Kernfrage der pluralistischen Gemeinschaft i n der Bundesrepublik. Diese Kernfrage geht dahin, ob es Richtigkeitskriterien gibt, die über den Gruppenstandpunkten stehen, ja ob es sie überhaupt geben kann. Dies ist deshalb fraglich, weil die pluralistische Sozialphilosophie darauf zu beruhen scheint, daß niemand i m vorhinein m i t Sicherheit sagen kann, was für die Gemeinschaft richtig ist. Ernst Fraenkel, der als theoretischer Vater des Pluralismus gilt, hat dies auf die Formel gebracht, es gebe kein a prioriGemeinwohl 4 . „Richtig" scheint dann allein das zu sein, was sich i m Kampf der Gruppen und Meinungen i m nachhinein, a posteriori, ergibt. Daraus w i r d dann i n der Praxis leicht ein unbegrenztes Toleranzgebot abgeleitet, das uns unfähig zu machen droht, effektive Mißstände und Fehlentwicklungen, wenn sie nur unter M i t w i r k u n g etablierter politischer Kräfte Zustandekommen, überhaupt noch als solche zu erkennen und beim Namen zu nennen. I n Wahrheit hat Fraenkel diese Konsequenz selbst gar nicht gezogen. Er hat vielmehr immer wieder hervorgehoben, daß es neben dem „streitigen Sektor", auf den der pluralistische Kampf sich bezieht, auch einen „unstreitigen Sektor" geben müsse, über dessen Geltung auch i n einer pluralistischen Gemeinschaft Einigkeit bestehen muß, wenn sie lebensfähig bleiben soll 5 . 4 Fraenkel, Ernst: Deutschland und die westlichen Demokratien, 7. Aufl., 1979. 5 Fraenkel, Ernst, i n : Nuscheier, Franz / Steff ani, Winfried (Hrsg.): P l u r a lismus — Konzeptionen u n d Kontroversen, 3. Aufl., 1976, 150 (156).

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A u f dieser Grundlage möchte ich zwei Thesen aufstellen. Die erste lautet: Was i m politisch-sozialen Bereich „richtig" ist, läßt sich zwar positiv meist nicht bestimmen. Andererseits kann man doch bisweilen eindeutig negativ sagen, daß etwas unrichtig ist. Diese Feststellung ist — entgegen dem ersten Schein — keine verbale Spielerei. Zugrunde liegt die Vorstellung, daß trotz des Vorliegens eines Bouquets von unterschiedlichen Entscheidungsmöglichkeiten, die alle als auch noch richtig zu akzeptieren sind, doch andererseits bestimmte, diese Bandbreite überschreitende Möglichkeiten eindeutig als unrichtig festgestellt werden können. E i n derartiges Vorgehen ist übrigens der Philosophie von altersher vertraut. Schon Aristoteles antwortete auf die Frage, was gerecht sei, Gerechtigkeit sei die Vermeidung von Ungerechtigkeit. A u f mein erstes Beispiel angewandt, ergibt sich folgendes: Niemand kann zwar genau sagen, wie hoch das finanzielle Existenzminimum für eine vierköpfige Familie anzusetzen ist, ob 8500 oder 20 000 DM. Andererseits liann man, wie ich meine, die Aussage treffen, daß es definit i v unrichtig ist, wenn jemand von einem Erwerbseinkommen Steuern zahlen muß, obwohl dieses erheblich niedriger ist als die steuerfreien Leistungen der Sozialhilfe. Meine zweite These geht dahin, daß man nicht nur auf die Entscheidungen als Ergebnisse gemeinschaftserheiblicher Willensbildungsprozesse sehen, sondern daß man auch die Willensbildungsprozesse selbst, die Organisation, die Verfahren und Methoden der Willensbildung ins Auge fassen muß. I m Ansetzen am Verfahren scheint m i r ein Weg zu liegen, der i n der pluralistischen Welt den Zugang zu den Problemen auch dann erleichtert, wenn es sich nicht um solche Verfahren handelt, die das Grundgesetz ausdrücklich garantiert. Die Konzentration auf die Analyse der Willensbildungsverfahren ist aus drei Gründen angezeigt: Erstens besteht zwischen dem Inhalt einzelner Entscheidungen und dem Prozeß der Entscheidungsfindung ein innerer Zusammenhang: Ist das Verfahren, i n dem Entscheidungen Zustandekommen, unausgewogen oder sonst fehlerhaft, so w i r d der Tendenz nach auch der Entscheidungsinhalt unrichtig sein. Daraus folgt, daß man eine Entscheidung auch dann als unrichtig ansehen kann, wenn das Verfahren fehlerhaft war — und zwar auch und gerade dann, wenn man nicht weiß, wie die inhaltlich richtige Entscheidung auszusehen hat. Die Ermessensentscheidung des bestochenen Beamten ist fehlerhaft, unabhängig davon, ob sich auch ihre inhaltliche Unrichtigkeit erweisen läßt. Zweitens: Das Ansetzen am Verfahren, am Prozeß der Entscheidungsfindung, trägt weiter als das Ansetzen am Entscheidungsinhalt, weil die Kriterien für die angemessene Ausgestaltung des Entschei-

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dungsprozesses — bzw. des Fehlens dieser Kriterien — meist leichter feststellbar sind als die inhaltliche Richtigkeit der Entscheidungen selbst. Drittens: Der verfahrensmäßige Ansatz drängt sich auch unter einem quantitativen Gesichtspunkt auf. Mängel der Verfahrensordnung strahlen meist auf eine Vielzahl von einzelnen Entscheidungen aus, nämlich auf alle nach dieser Ordnung zustandegekommenen. Wer sich m i t der Kontrolle von Gemeinschaftsentscheidungen befaßt, multipliziert also durch den verfahrensmäßigen Ansatz seine Effektivität. Auch diese Überlegungen sind als solche keineswegs neu, sondern gehören zu den Kernerkenntnissen der Organisationslehre. Die Aufgabe besteht n u n darin, Kriterien für die Richtigkeit der gemeinschaftserheblichen Willensbildungsverfahren zu entwickeln. Diese Aufgabe ist i m Rahmen eines Kurzvortrags natürlich nicht zu bewältigen; sie bezeichnet, genaugenommen, ein ganzes Forschungsprogramm. Ich möchte aber versuchen, einige Überlegungen über die Richtung anzustellen, i n die hier weitergedacht werden könnte. Zunächst einmal w i r d man die zahlreichen Arten von unterschiedlichen Verfahren, i n denen gemeinschaftserhebliche Entscheidungen Zustandekommen, ordnen müssen. Hier kann man wohl zwei Grundkategorien ausmachen, die ich schlagwortartig als Abwägungsverfahren und als Kampfverfahren (bezeichnen möchte. Beim Abwägungsverfahren geht die Intention der Entscheidungsinstanz auf die Ermittlung des Richtigen — oder soll jedenfalls dahin gehen. Wesentlich ist, daß es dem (oder den) Entscheidenden auf die sach- und wertorientierte Richtigkeit, nicht auf die möglichst weitgehende Berücksichtigung eigennütziger Interessen ankommt. Haupttyp dieser Kategorie ist die richterliche Entscheidungsfindung, deren Methodik Gegenstand der Rechtswissenschaft ist. Dagegen sind Kampf ν erfahren dadurch gekennzeichnet, daß die A k teure sich — anders als der Richter — nicht von übergeordneten Wertoder sonstigen Richtigkeitserwägungen leiten lassen, sondern von dem Bestreben, ihre eigenen Interessen möglichst weitgehend zu fördern. Diesem Bereich sind typischerweise zuzuordnen: die wettbewerbliche Marktwirtschaft, deren Erforschung Gegenstand der Volkswirtschaftslehre ist, und der Interessenkampf von Gewerkschaften und Arbeitgebern, also ihre — i n letzter Konsequenz bis zum Arbeitskampf gehenden — Verhandlungen und Entscheidungen. Auch diese durch den Willen und die Macht der Interessenten bestimmten Verfahren können unter bestimmten Voraussetzungen durchaus einen Trend zur (inhaltlichen) Richtigkeit besitzen, etwa weil die Interessen sich i m Ergebnis 8 Speyer 90

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angemessen auspendeln. Die Gedanken von Adam Smith hatten ja gerade deshalb so große Durchschlagskraft, weil er dargelegt hatte, daß der Wettbewerb zu bestmöglichen Entscheidungen für die Gemeinschaft auch dann führen kann, wenn der einzelne Wettbewerber nur an seinen eigenen Vorteil denkt. Die beiden Verfahrenskategorien stellen unterschiedliche Anforderungen -an Organisation und Ausgestaltung. Bei den Abwägungsverfahren ist die Unabhängigkeit und Sachlichkeit der Entscheidungen von ausschlaggebender Bedeutung. Bei den Kampfverfahren ist es vor allem wichtig, daß die Durchsetzungsmacht der Beteiligten einigermaßen ausgewogen ist, damit nicht die eine Seite der anderen ihre Bedingungen oktroyieren kann. Von hier aus wäre z.B. das kollektive Lohnbildungsverfahren i m öffentlichen Dienst zu untersuchen, i n dem — notfalls nach einem Streik — die Arbeitsbedingungen für Angestellte und Arbeiter i m öffentlichen Dienst festgelegt werden. Hier spricht — i m Gegensatz zur kollektiven Lohnbildung i n der privaten Wirtschaft — viel für eine fundamentale Ungleichgewichtigkeit. Die Mehrheit »der Stuidienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts hat dafür eine Reihe von Gründen genannt 6 , auf die ich aus Zeitgründen jetzt aber nicht weiter eingehen kann. Wie die Gesetzgebung und der gesamte ihr vorgelagerte Prozeß der Willensbildung i n die beiden Grundkategorien eingeordnet werden kann, ist fraglich. Die seit über zwei Jahrzehnten aufkommende Neue Politische Ökonomie zählt auch das Gesetzgebungsverfahren zu den Kampf verfahren. Dies ist jedoch, wie ich meine, eine zu einseitige Betrachtung. Der Gesetzgebungsprozeß weist auch Elemente des Abwägungsverfahrens auf. Wenn das Bundesverfassungsgericht ein M i n i mum an Abwägungsüberlegungen beim Gesetzgeber voraussetzt, so ist dies i m Regelfall durchaus kein realitätsfernes Postulat. Wahrscheinlich w i r d man die Frage nach der Einordnung der Gesetzgebung nicht m i t einem Entweder-oder, sondern nur m i t einem Sowohl-als-auch beantworten können. Jedenfalls w i r d man auch bei der Gesetzgebung nicht nur die einzelnen gesetzgeberischen Produkte, sondern auch das Verfahren ins Auge fassen müssen, wozu nicht nur der äußere, durch Verfassungen und Geschäftsordnungen geregelte Ablauf, sondern auch die innere Methodik der Gesetzgebung, die vor allem ein Abwägen des Für und Wider umfaßt, gehören. Die beiden eingangs erwähnten Beispiele deuten darauf hin, daß jedenfalls i n der finanzpolitischen Gesetzgebung ein Ungleichgewicht 6

Bericht der Kommission, 1973, 342 ff.

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besteht, welches — unter Heranziehung der hier schon vielfach bestehenden Vorarbeiten — eingehend zu analysieren wäre. Eine fundamentale Unausgewogenheit des Verfahrens läßt sich aber schon jetzt feststellen. Ich meine damit die angesprochenen heimlichen Steuererhöhungen. Man mag ja darüber streiten, welche Abwägungen der Steuergesetzgeber bei der Änderung von steuerlichen Belastungen anstellen muß. Nicht streiten kann man m. E. aber darüber, daß er überhaupt das Für und Wider von Steuererhöhungen abwägen und seinen Willensbildungsprozeß vor Augen und unter M i t w i r k u n g der Öffentlichkeit vornehmen muß. A n solchen öffentlichen Abwägungen jedweder A r t fehlt es aber. Der Mangel der heimlichen Steuererhöhungen besteht gerade darin, daß sie ohne jede Willensbildung und Abwägung des Gesetzgebers erfolgen. Hans-Jürgen Papier hat dargelegt, daß dies auch verfassungsrechtlich relevant ist. Er hält ein solches Verfahren für verfassungswidrig und beruft sich dabei auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Mindestanforderungen des inneren Gesetzgebungsverfahrens 7 . Die Prognose über eine voraussichtliche Entscheidung des Gerichts muß aber w o h l zurückhaltender ausfallen, wenn man das restriktive Zinsenbesteuerungsurteil von 1978 m i t ins Auge faßt 8 . Das schließt die Feststellung, daß es sich hier um ein definitiv unrichtiges Verfahren handelt, aber nicht aus. Diese Feststellungen sind auch keineswegs nur akademische Prinzipienreiterei, etwa deshalb, w e i l der Gesetzgeber derartige Steuererhöhungen, würde er sie tatsächlich öffentlich beschließen, durchaus vornehmen dürfte. Lassen Sie mich dies zum Schluß noch kurz begründen; die Begründung hängt wieder m i t der Unausgewogenheit zwischen den staatlichen Besteuerungs- und Ausgabenentscheidungen zusammen: Während i n früheren Zeiten das Parlament als Bollwerk gegen ein Zuviel an Staatsausgaben und Steuern fungierte, hat sich sein Wirken heute umgekehrt, so daß die Parlamente ihrerseits vor einem Zuviel an Ausgaben gebremst werden müssen. Dies kommt ja auch i n Art. 113 GG zum Ausdruck, der der Regierung die Möglichkeit gibt, das Parlament an finanzpolitischen Entscheidungen zu hindern, die den Haushaltsausgleich gefährden. Die Regierung leistet allerdings oft keinen allzu großen Widerstand. Entscheidend wichtig ist der Widerwille der Bürger gegen Steuererhöhungen. Gegen ihn kann der politische Druck zu Mehrausgaben sich meist nicht oder nur dann durchsetzen, wenn die 7

Papier, Hans-Jürgen: Besteuerung u n d Eigentum, DVB1.1980, 794. BVerfGE 50, 57. Die Entscheidung hat aUerdings heftige K r i t i k erfahren: Vogel, Klaus: N J W 1979, 558; Kröger, Klaus: J Z 631 (632); v.Arnim, Hans Herbert: S t R K - A n m . R 20, §20 Abs. 1 Ziff. 4 EStG, S. 2 ff. Es wäre w ü n schenswert, wenn das Bundesverfassungsgericht Gelegenheit erhielte, seine Rechtsprechung zu überprüfen. 8

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Notwendigkeit solcher Mehrausgaben und Mehrbelastungen den Bürgern wirklich einsichtig gemacht wird. Daraus kann sich insgesamt eine gewisse Ausgewogenheit von Druck und Gegendruck ergeben. Diese Hemmung gegen eine zu hohe Abgabenbelastung und zu hohe Staatsausgaben w i r d nun aber durch die heimlichen Steuererhöhungen geschwächt oder gar lahmgelegt, denn sie spülen überproportionale Steuermehreinnahmen i n die öffentlichen Kassen, ohne daß das Parlament die Steuergesetze i n irgendeiner Weise verschärfen und dafür dann auch die Verantwortung übernehmen müßte und ohne daß die mit Gesetzesänderungen verbundene Einschaltung der Öffentlichkeit und damit die Aktivierung von Gegenwehr und Kontrolle erfolgte. Abhilfe könnte dadurch geschehen, daß der Tarif sozusagen „auf Räder" gestellt würde, so daß das Belastungsniveau und die Belastungsrelation, die der Gesetzgeber ursprünglich m i t seinem Steuergesetz erreichen wollte, auch bei Einkommenssteigerungen beibehalten würde 9 . A u f jeden Fall müßten die durch Geldentwertung bewirkten Verzerrungen ausgeschaltet werden. Daß hier durchaus Lösungsmöglichkeiten bestehen, zeigt ein Blick auf unsere westeuropäischen Nachbarstaaten, von denen viele bereits einen solchen Ausgleich gesetzlich institutionalisiert haben.

9 v.Arnim, Hans Herbert: Steuerrecht bei Geldentwertung, B B 1973, 621 (626); vgl. auch v.Arnim, Hans Herbert / Bor eil, Rolf /Schelle, K l a u s : Geldentwertung u n d Steuerrecht (Nr. 24 der Schriftenreihe des K a r l - B r ä u e r - I n stituts des Bundes der Steuerzahler), 1973.

3. Staatsverechuldung ale Begrenzung für öffentliches Handeln Von Dieter Duwendag

Über den Umgang des Staates m i t Geld und Kredit haben insbesondere die Deutschen verheerende Erfahrungen machen müssen — nach zwei kriegsbedingten Überschuldungen des Staates m i t nachfolgender Hyperinflation und Währungsreform. Zwar sind derartige Gefahren wegen der rechtlich-institutionellen Vorkehrungen und wegen der völlig andersartigen Gläubigerstruktur der heutigen Staatsschuld derzeit nicht erkennbar, doch gibt es andere Gefahrenmomente 1 . Ein wichtiges, auf das i m folgenden eingegangen werden soll, ist die Einschränkung staatlicher Aktivitäten als Folge öffentlicher Verschuldung. Denn was i m Augenblick der Schuldenaufnahme als tatsächliche Entlastung und als zusätzlicher Handlungsspielraum für die öffentlichen Haushalte willkommen war und ist, erweist sich bei etwas längerfristiger Betrachtung unter den verschiedensten Aspekten als Korsett, als Begrenzung für staatliches Handeln. Der zur Verfügung stehende Raum erlaubt nur eine knappe Skizze der hauptsächlichen Tendenzen. I. Dimensionen der Staatsverschuldung Die deutsche Nachkriegs-„Ära" der Staatsverschuldung begann i m Jahre 1974. Bis dahin, also i n den ersten 25 Jahren seit der Währungsreform, hatten Bund, Länder und Gemeinden insgesamt 171 Mrd. D M an Schulden angehäuft. Was danach, also von 1974 bis 1981, folgte, war schon atemberaubend: I n diesen nur acht weiteren Jahren stieg der staatliche Schuldenberg von 171 auf 546 Mrd. DM, also u m 375 Mrd. DM, das ist eine Steigerung u m 220 °/o desjenigen Betrages, für den man zuvor 25 Jahre gebraucht hatte. Schrittmacher dieser Entwicklung waren der Bund und die Länder m i t einem Anstieg von je 306 bzw. 318%, während die Gemeinden nur 1 V o m Verf. ausführlicher dargelegt i n „Staatsverschuldung — Notwendigkeit u n d Gefahren", Baden-Baden 1982. — Die umfassendste Debatte zu den gegenwärtigen Problemen der Staatsverschuldung enthält der Sammelband: Simmert, Diethard B. / Wagner, K u r t - D i e t e r : Staatsverschuldung k o n t r o vers, Bonn 1981.

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6 4 % zulegten 2 . Auch die Pro-Kopf-Verschuldung spiegelt diese Entwicklung wider: waren es 1973 erst 2700,— DM, so 1981 bereits 8900,— D-Mark, das ist ein Plus von 225 °/o. Die Staatsverschuldung wäre heute sicher kein Thema, wenn sie nicht dieses atemberaubende Tempo vorgelegt hätte. Und es gibt nur wenige Vergleichsgrößen, die m i t diesem Tempo Schritt gehalten haben: So ζ. B. der Anstieg der Arbeitslosenquote von 1,3 Vo (1973) auf 5,5 °/o (1981), die Explosion des DM-Rohölpreises i m Gefolge der beiden ölpreisschübe m i t einer Steigerung von über 900 °/o (1973 bis 1981) und — damit zusammenhängend — der drastische Umschwung der deutschen Leistungsbilanz seit 1979. Die Entwicklung dieser Faktoren hat zweifellos m i t zu der hohen Nettokreditaufnahme des Staates beigetragen, indem sie die Staatsausgaben direkt verteuerte und die öffentlichen Haushalte vor neue konj u n k t u r - und strukturpolitische Herausforderungen stellte. Die Wege zur Lösung dieser Aufgaben, i m Kern also die Frage nach der adäquaten Verwendung der öffentliche Kredite, müssen dagegen skeptisch beurteilt werden. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß die Staatsverschuldung die gesamtwirtschaftlichen Probleme eher noch verschärft und damit zugleich die eigenen, die öffentlichen Handlungsspielräume eingeengt hat. Dabei w i r d keineswegs verkannt, daß es höchst respektable Gründe für die Staatsverschuldung gibt: Zum einen die Finanzierung von öffentlichen Investitionsausgaben, zum anderen die Finanzierung von stabilisierungspolitischen Maßnahmen zur „Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts", wie es i m Grundgesetz (Art. 109, 115), ähnlich aber auch i n anderen Gesetzen heißt. Beide Verschuldungsgründe sind also rechtlich eindeutig abgesichert. Trotzdem bleibt Unbehagen. Weder sind die „öffentlichen Investitionsausgaben" und die „Einnahmen aus Krediten" (ζ. B. Brutto- oder Nettogrößen?) klar abgegrenzt, noch bestehen eindeutige Kriterien dafür, wann eine Störung des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" vorliegt. Unbehagen folgt aus den A r t . 109, 115 GG aber auch insofern, als diese Vorschriften eine A r t Blankoscheck für permanente Staatsverschuldung ausstellen: Einmal, weil auch i n konjunkturellen „Normallagen" eine Kreditfinanzierung bis zur Höhe der öffentlichen Investitionsausgaben zulässig ist, besonders aber, weil die investitionsüberschreitende Kreditaufnahme einem Phantom, genannt „gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht", hinterherläuft. W i r haben seit 1974: Dauerarbeitslosigkeit i n Millionenhöhe, anhaltende Wachstumsschwäche und — i n den letzten drei Jahren — riesige Leistungsbilanzdefizite. Wer wollte hier von einem 2 Z u aUen Zahlenangaben vgl. Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, div. Jge.

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„Gleichgewicht" sprechen? Die Opposition hat verschiedentlich den Gang nach Karlsruhe angedroht, u m die zu hohe Staatsverschuldung per Richterspruch entscheiden zu lassen 3 . Aber: Ist das „gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht" justiziabel? Bei allem Respekt vor der juristischen Kunst, der Klagebrief nach Karlsruhe dürfte wohl nicht einmal das Porto lohnen. I I . Verwendung der Staatskredite Was haben die staatlichen Schuldenmanager m i t den aufgenommenen Krediten gemacht? Die generelle A n t w o r t lautet: Sie haben den Weg freigeschaufelt für eine Ausdehnung des Staatskorridors und für eine überproportionale Steigerung der konsumtiven Staatsausgaben, damit zugleich aber auch die Bedingungen dafür geschaffen, daß der private Konsum hoch gehalten wurde. Diese Aussage und ihre Schlußfolgerungen sind nun näher zu belegen. Beginnen w i r mit der sog. Staatsquote, d. h. den Staatsausgaben i n °/o des Bruttosozialprodukts (BSP zu Marktpreisen), und zwar hier mit der „großen" Staatsquote, das sind die gesamten Ausgaben des gemeinsamen Haushalts von Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen i n % des BSP. Diese Quote ist von 40,9 % i n 1973, dem Jahr vor Beginn der „Schulden-Ära", bis 1980 um 6,4 Prozentpunkte auf 47,3 °/o gestiegen 4 . Das bedeutet, daß die Ausgaben des öffentlichen Gesamthaushalts prozentual weitaus stärker zugenommen haben als das Sozialprodukt. Demgegenüber hat sich die Abgabenquote, d. h. das Aufkommen an sämtlichen Steuern und Sozialbeiträgen i n % des BSP i m gleichen Zeitraum nur unmerklich erhöht, nämlich u m 1,5 Prozentpunkte (1973: 39,3%; 1980: 40,8%). Die Summe aus Abgaben- und „sonstiger" Einnahmenquote des Staates betrug 1973 42,1 % und 1980 43,8 % 5 . Hier hat sich also i n kurzer Zeit eine riesige Deckungslücke aufgetan, zu der verschiedene Faktoren beigetragen haben: Die Verbesserung der staatlichen Sozialleistungen i n nahezu allen Bereichen, diverse Erleichterungen i m Lohn- und Einkommensteuerbereich (1975, 1978/79, 1981), 8 So hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion i m J u n i 1982 beschlossen, w e gen der die Höhe der Investitionsausgaben übersteigenden Nettokreditaufnahme des Bundes i m Jahre 1981 ein Normenkontrollverfahren zu beantragen (vgl. „Handelsblatt", Nr. 118 v o m 24.6.1982, S. 1). 4 A l l e Zahlenangaben aus: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1981/82, BundestagsDrucksache 9/1061 v o m 20.11.1981, S. 280/81 (Angaben f ü r 1980 vorläufig). 5 „Sonstige" Einnahmen des Staates: Vermögenseinkommen u n d -Übertragungen, Abschreibungen, sonstige laufende Übertragungen. Diese „sonstige" Einnahmequote betrug 1980 3,1 °/o des BSP gegenüber 2,8 °/o i n 1973,

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konjunkturbedingte Rückgänge des Aufkommens an Steuern und Sozialabgaben sowie nicht zuletzt demographische Veränderungen, so insbesondere der stärkere Anstieg der Rentenbezieher i m Vergleich zu den Beitragszahlern. Innerhalb der Ausgaben des öffentlichen Gesamthaushalts stellten die Sozialleistungen (abgesehen von den staatlichen Zinszahlungen; s. u.) den expansivsten Budgetfaktor dar. Sie sind von 1973 bis 1980 u m nahezu 100 Vo gestiegen, und zwar zu einem Großteil bedingt durch Netto-Verbesserungen und durch einen Ausbau der staatlichen Sozialleistungen. I n die skizzierte Deckungslücke ist nun die Staatsverschuldung gesprungen. Ohne sie hätte erstens der Staatskorridor nicht i n dem Ausmaß, wie tatsächlich geschehen, ausgedehnt werden können. Gravierender jedoch ist zweitens, daß die Staatsverschuldung überhaupt erst den Weg frei gemacht hat für eine Umlenkung knapper M i t t e l i n den staatlichen und privaten Konsum, hier insbesondere über die progressive Ausweitung der Sozialleistungen, die j a ganz überwiegend i n den privaten Konsum fließen: a i r dies i n einer Zeit, i n der es entscheidend auf eine Stärkung der investiven Verwendimg angekommen wäre. Die Konsequenzen für den öffentlichen Handlungsspielraum liegen auf der Hand: Es wurden harte soziale Besitzstände geschaffen und — vielleicht noch schlimmer — Ansprüche und Erwartungen geweckt, daß es auch i n Zukunft so weitergehen wird. Diese Spirale zurückzudrehen oder wenigstens zu stoppen, w i r d politisch nur sehr schwer durchsetzbar sein. Keineswegs soll damit einem Kahlschlag der Sozialleistungen das Wort geredet werden, sehr wohl aber den Grenzen des Sozialstaats. Viel wäre schon gewonnen, wenn das Gewicht der Sozialleistungen, ihre Zuwachsraten, gedämpft werden könnte. E i n grundlegend anderer Weg, u m die öffentlichen Haushalte aus ihrer „kreditfinanzierten Handlungsohnmacht" herauszuführen, ist nicht erkennbar.

I I I . Transferbudgets Was für die gesamten Sozialleistungen gesagt wurde, gilt pars pro toto auch für die darin enthaltenen Transferleistungen der Gebietskörperschaften (in der Abgrenzung der Finanzstatistik: „Laufende Zuschüsse"). Sie umfassen die Einkommensübertragungen an private Haushalte (Wohn- und Kindergeld, Sozialhilfe, Finanzhilfen zur Sparund Ausbildungsförderung etc.), die Zuschüsse an Sozialversicherungen und an die Bundesanstalt für Arbeit sowie die Subventionen an private und öffentliche Unternehmen (z. B. Bundesbahn). Setzt man die Transferzahlungen i n Beziehung zu den Gesamtausgaben der jeweiligen Körperschaften, so erhält man Transferausgabenquoten. Sie weisen von

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1973 bis 1982 bei allen Gebietskörperschaften eine überproportionale Entwicklung auf: beim Bund von 35,0 auf 39,0 °/o, bei den Ländern von 9,3 auf 10,5 °/o und bei den Gemeinden (Gv.) von 10,7 auf 15,6 °/oe. Die Finanzierung dieses Ausgabenanstiegs wurde letztlich wiederum durch die Staatsverschuldung ermöglicht, indem sie teils direkt für diese Zwecke eingesetzt wurde, teils die Voraussetzungen dafür schuf, daß M i t t e l aus anderen, insbesondere investiven Verwendungen abgezogen werden konnten. Wie die Sozialleistungen haben auch die Transferzahlungen ganz überwiegend die verfügbaren Einkommen und den Konsum der privaten Haushalte gestützt. Dadurch wurde nicht nur dem Anspruchsdenken Vorschub geleistet und die staatlichen Manövriermöglichkeiten eingeengt, sondern auch gesamtwirtschaftliche Probleme verschärft, vor allem i m außenwirtschaftlichen Bereich. Darauf w i r d noch einzugehen sein. I V . Folgekosten der Staatsverschuldung Zins- und Tilgungsverpflichtungen sind die unmittelbaren „Folgekosten" der Staatsverschuldung. Nettotilgungen, also ein absolutes Zurückführen des staatlichen Schuldenstandes, hat es während des Betrachtungszeitraums nicht gegeben. Es erfolgten lediglich Umschuldungen fälliger RückZahlungsverpflichtungen, aber keine Entschuldungen. Daran ist nichts Ungewöhnliches, und es ist auch i m Bankenund Unternehmensbereich — für beide Gruppen jeweils zusammengenommen — durchaus gang und gäbe. I n wachsenden Volkswirtschaften müssen auch die monetären Forderungen und Verbindlichkeiten mitwachsen, selbst wenn es sich nur u m ein rein nominelles Wachstum handelt. Dies gilt prinzipiell auch für den Staat, es sei denn, man vert r i t t die Auffassung, die Staatsquote müsse wieder zurückgedreht werden. Forderungen nach einer Konsolidierung der öffentlichen Haushalte beziehen sich daher i m allgemeinen darauf, die Wachstumsrate der Staatsquote und damit auch der Nettokreditaufnahme zu reduzieren. Das bedeutet nicht, daß der staatliche Umschuldungsbedarf keine Probleme aufwerfen würde. A l l e i n die Größenordnungen (1981: rd. 60 Mrd. DM) haben — mitbedingt durch den hohen A n t e i l von „ K u r z läufern" an den Staatsschuldtiteln — die Selbstalimentierungskraft des Kapitalmarktes strapaziert und eine reibungslose Umschuldung bisweilen erschwert. Dies hatte auch Ausstrahlungswirkungen auf die Unterbringung der Nettokredite, kurz: die Staatsverschuldung selbst kann die weiteren schuldenpolitischen Aktivitäten der öffentlichen Haushalte erschweren. β Quelle f ü r Grunddaten: Finanzberichte 1977—1983 des B M F ; eigene Berechnungen; Angaben f ü r 1982: „Soll"-Größen.

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Die Zinsausgaben sind zum expansivsten Budgetfaktor bei Bund und Ländern geworden, beim Bund 1982 m i t einem A n t e i l von 9 , 3 % (1973: 2,7 %), bei den Ländern m i t 6,0% (1973: 2,3%), während die Zinsausgabenquote der Gemeinden nur von 5,0 auf 5,5 % stieg 7 . A l l e Gebietskörperschaften zusammen zahlten 1982 45 Mrd. D M an Zinsen, das ist exakt der Betrag, den die Gemeinden (1981) für ihre Investitionen ausgaben. Mittlerweile werden bereits mehr als 50 % der staatlichen NettoKreditaufnahme von den Zinskosten regelrecht „aufgefressen". Ob man diese oder eine andere Zurechnung vornimmt: Mark bleibt Mark, auch i n den öffentlichen Haushalten, und jede „Zinsmark" geht anderen Verwendungszwecken verloren, begrenzt den staatlichen Handlungsspielraum. Darüber hinaus werden alle zukünftigen Parlamente und Regierungen durch den aufgelaufenen und weiter steigenden Zinskostenblock „gefesselt". V. öffentliche Investitionsausgaben Bei den Ländern fällt auf, daß ihre Personal- und Sachausgaben i n % ihrer Gesamtausgaben seit 1973 nahezu konstant geblieben sind, während sie bei den Gemeinden stark anstiegen. Der Bund konnte seine Personal- und Sachausgabenquote dagegen deutlich verringern. Damit ist aber auch schon fast alles Positive gesagt, denn den Rückschlag bei den öffentlichen Investitionsausgaben w i r d man schwerlich positiv w ü r digen können. Sie umfassen neben den Sachinvestitionen auch die „mittelbaren" Investitionsausgaben i n Form von Darlehen, Beteiligungen und Investitionszuschüssen an private und öffentliche Unternehmen. Von 1973 bis 1982 sank der Anteil der Investitionsausgaben an den Gesamtausgaben beim Bund von 19,4 auf 14,4 % , bei den Ländern von 23,8 auf 17,8 % und bei den Gemeinden von 35,7 auf 26,0 % 8 . Dies ist u m so bemerkenswerter, als ein eigens hierfür kreiertes Programm — das „Zukunftsinvestitionsprogramm" (ZIP) — der seit Jahren rückläufigen staatlichen Investitionsquote entgegenwirken sollte. Bemerkenswert ist dieser Rückgang aber auch angesichts der drastischen Zunahme der Staatsverschuldung, deren sachliche Rechtfertigung neben den stabilisierungspolitischen Aufgaben ja gerade i n der Finanzierung von öffentlichen Investitionen liegt. Da die Durchführung von staatlichen Investitionen überwiegend nicht an gesetzliche Leistungszusagen geknüpft ist, hat sich die prekäre Finanzsituation der Gebietskörperschaften offensichtlich i n diesem Bereich als gleichsam „freier Spitze" am stärksten ausgewirkt. 7 8

Quelle für Grunddaten: a. a. O.; eigene Berechnungen. Ebenda.

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Bei realer (preisbereinigter) Betrachtung sieht die Entwicklung noch schlechter aus, hier insbesondere bei den öffentlichen Sachinvestitionen wegen des enormen Anstiegs der Bau- und Bodenkosten. Das bedeutet, daß „ein erheblicher Teil der von den Gebietskörperschaften i n den letzten Jahren aufgenommenen hohen Schulden real keinen entsprechenden Effekt i n der Verbesserung der Infrastruktur gehabt (hat)" 9 . Als Ergebnis ist festzuhalten, daß die öffentlichen Investitionsausgaben prozentual i n etwa i n dem Maße zurückgegangen sind, wie die Zinsausgaben und Transferzahlungen — also konsumtive Ausgaben — gestiegen sind. Die öffentlichen Investitionen haben also die Zeche für die Verbesserung des Sozialstaats und für die Folgekosten der Staatsverschuldung bezahlt. Die Folgen sind, vor allem bei realer Betrachtung, eine weitere Begrenzung für öffentliches Handeln. Denn die Qualität staatlichen Handelns und des Angebots an öffentlichen Gütern ist sicher nicht unabhängig von der materiellen Infrastruktur, d. h. aber: von den öffentlichen Investitionen. VI. Lastverschiebung durch Kreditfinanzierung? Man hat der Kreditfinanzierung von öffentlichen Investitionen ein schönes Argument und einen schönen Namen gegeben: „pay as you use" (Musgrave), das ist die sog. Nutzen- und Lastverschiebungsfunktion. Staatsverschuldung ist also so etwas wie eine A r t „Zeitmaschine" 1 0 — zum zeitlichen Transport von Investitionsnutzen und Finanzierungslasten i n die Zukunft. Weshalb sollte die heutige Steuerzahlergeneration die staatliche Sachkapitalbildung mittels Steuern „auf einen Schlag" finanzieren, wo doch auch spätere Generationen noch davon profitieren? Das klingt i m ersten Moment plausibel. Indessen, auch das pay-as-youuse-Argument hat seine Tücken. Zunächst ist keineswegs sicher, ob künftige Generationen ungeteilte Freude am Nutzen der heutigen I n vestitionen haben werden. So mag die Hinterlassenschaft von bestimmten öffentlichen Investitionen an der Bedarfslage späterer Generationen vorbeigehen oder sie m i t erheblichen personellen und sachlichen Folgekosten belasten. Dieser Folgekosten können sie sich durch Stillegung von Kapazitäten zwar entledigen, der Kapitaldienst bleibt jedoch i n jedem Falle. Die facettenreiche und kontroverse Diskussion über die Eignung der Staatsverschuldung zu einer „fairen", „gerechten", „angemessenen" zeitlichen Lastverschiebung können w i r hier nicht i m einzelnen nachzeich9 „Die Ausgaben der Gebietskörperschaften seit M i t t e der siebziger Jahre", i n : Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, Nr. 1, 1981, S. 25. 10 Vgl. Thormählen, Thies: Ist die Staatsverschuldung eine „Zeitmaschine"? i n : K o n j u n k t u r p o l i t i k , H. 2/3, 1980, S. 77 ff.

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nen 1 1 . W i r betrachten i m folgenden nur die finanzielle Ebene und einige Konsequenzen für den staatlichen Handlungsspielraum. Die Zinszahlungen für kreditfinanzierte öffentliche Investitionen werden von einem Teil der zukünftigen Generation, den Steuerzahlern, aufgebracht. A u f der anderen Seite fließen sie, zumindest teilweise, einem anderen Teil der künftigen Generation, den Gläubigern der Staatsschuld, als Zinsempfängern wieder zu. Für die zukünftige Generation als Ganzes gilt demnach: „We owe i t to ourselves" {Mishan). Gesamtwirtschaftlich gesehen ergibt sich daraus für die künftige Generation also keine zusätzliche Belastung i n Form von Einkommensminderungen bzw. einer Einbuße an realen Gütern (Ausnahme: Staatsverschuldung i m Ausland). Ob damit verteilungspolitische Probleme — Steuerzahler hier, Zinsempfänger dort — verbunden sind und daraus Handlungszwänge für die Umverteilungspolitik des Staates entstehen, ist empirisch kaum schlüssig zu beantworten. Jedenfalls setzt die Erzielung von Zinseinkünften nicht die Existenz einer Staatsschuld voraus. Das Tempo der staatlichen Nettokreditaufnahme hat, wie bereits einleitend dargelegt, zu einem überproportionalen Anstieg des m i t Zinsen zu bedienenden Schuldenstandes geführt und damit den finanzpolitischen Handlungsspielraum eingeengt. Von 1973 bis 1981 ist der öffentliche Schuldenstand jahresdurchschnittlich u m 15,5 €/o gestiegen, die Zinsausgaben der Gebietskörperschaften — trotz des zwischenzeitlichen (1974—1978) starken Rückgangs des Zinsniveaus — m i t rd. 17 °/o sogar noch etwas mehr. Die Entwicklung der öffentlichen Einnahmen (ohne Kredite), aber auch der gesamten Staatsausgaben, ist weit dahinter zurückgeblieben. Da von Nettotilgungen der Staatsschuld nicht auszugehen ist, w i r d ein i n kurzer Zeit sprunghaft erhöhter Schuldenstand und die damit verbundene Ausweitung der Zinszahlungen als bleibende Last auf spätere Generationen fortgewälzt („ewige Schuld"). Angesichts der gesamtwirtschaftlichen Perspektiven und der öffentlichen Finanzplanungen für die nächsten Jahre ist ferner davon auszugehen, daß die staatliche Nettokreditaufnahme und die Zinslasten auch künftig prozentual stärker zunehmen werden als die Staatseinnahmen (ohne Kredite). Schließlich ist m i t spürbaren Entlastungen aufgrund einer nachhaltigen Senkung des Zinsniveaus kaum zu rechnen. I n welche Konsequenzen mündet diese Entwicklung? Die Finanzierung der progressiv steigenden Zinszahlungen kann erstens durch Ausgabenkürzungen an anderer Stelle erfolgen. Dies bewirkt eine Ein11

Vgl. dazu i m einzelnen: Gandenberger, Otto: Theorie der öffentlichen Verschuldung, i n : Handbuch der Finanzwissenschaft, hrsg. v o n F. Neumark u.a., Bd. I I I , 3. Auflage, Tübingen 1980, S. 27 ff.; Duwendag, Dieter: Staatsverschuldung — Notwendigkeit u n d Gefahren, a. a. O., S. 38 ff.

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schränkung des sonst, d. h. ohne zusätzliche Zinsverpflichtungen, möglichen höheren Angebots an öffentlichen Gütern u n d stellt insofern eine „Last" (Einbuße) f ü r künftige Generationen dar. Zweitens können die Zinsverpflichtungen zu einer nochmals erhöhten Nettokreditaufnahme führen, w e i l zu ihrer Finanzierung „ordentliche" Einnahmen aus anderen — insbesondere investiven — Verwendungszwecken abgezogen und die so entstandenen Lücken i m Wege der Kreditaufnahme geschlossen werden müssen. Sollen beide Effekte vermieden oder abgeschwächt werden, bleibt drittens n u r die Finanzierung der steigenden staatlichen Zinslast mittels Steuererhöhungen. Diese Konsequenz scheint, allein oder kombiniert m i t den anderen Finanzierungsalternativen, unausweichlich. D a m i t ist öffentliches Handeln auch i m Bereich der Steuerpolitik als Folge des rapiden Anstiegs der Staatsverschuldung i n den letzten Jahren bereits vorprogrammiert. Aus alledem können sich Begrenzungen des staatlichen Handlungsspielraums auf den verschiedensten Ebenen ergeben. Sie werden unter dem Begriff „Steuerfriktionen" zusammengefaßt 1 2 u n d zielen auf vielfältige Gegen- u n d Ausweichreaktionen künftiger Generationen als Folge der steuerlichen Anspannung: Zunehmende Steuerwiderstände, sinkende Steuermoral, „Entfremdung" zwischen Bürgern u n d Staat, Ausweichen i n die „SchattenWirtschaft" u. ä. Diese Reaktionen können zu Produktivitätseinschränkungen i m privaten Bereich sowie zu Minderungen der Steuereinnahmen u n d Sozialabgaben führen, damit aber auch zu Reduzierungen öffentlicher Leistungen. V I I . Konjunkturpolitische Probleme Die drei Dauerprobleme der deutschen Wirtschaft i n den letzten acht Jahren waren u n d sind: — Dauerarbeitslosigkeit i n Millionenhöhe, — anhaltende Wachstums- u n d Investitionsschwäche, — Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Die Finanz- u n d Schuldenpolitik hat versucht, sich diesen Problemen m i t Macht entgegenzustemmen — die gute Absicht w i r d nicht bezweifelt. Nur, w i e hat m a n das getan? Erstens durch eine überproportionale Ausweitung der konsumtiven Ausgaben, insbesondere der Sozial- bzw. Transferleistungen des Staates (vgl. I I u n d I I I ) . Zweitens durch kreditfinanzierte Konjunkturprogramme, seit 1974 insgesamt 16 kleinere und größere Programme, also i m Durchschnitt zwei qro Jahr (das ist deut12 Vgl. Gandenberger, Otto: Staatsverschuldung ohne Grenzen? i n : Der langfristige Kredit, H. 21/22, 1980, S. 660.

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sehe Gründlichkeit i n Sachen „Konjunkturpolitik"). Man hat hierdurch versucht, einen allgemeinen Nachfragemangel zu bekämpfen, wo alles auf investitionsfördernde Maßnahmen zur Arbeitsplatzbeschaffung und zur Strukturanpassung i m Gefolge der beiden ölpreisschübe angekommen wäre. Durch die Ausweitung der Sozialausgaben und die nachfrageorientierten Konjunkturprogramme keynesianischen „Strickmusters" hat die Finanz- und Schuldenpolitik die Schlüsselgröße zur Lösung der genannten Probleme sträflich vernachlässigt, nämlich die Förderung rentabler, arbeitsplatzschaffender privater Investitionen. Die Frage, ob ohne diese Politik eine noch weitere Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Lage eingetreten wäre, kann empirisch nicht exakt beantwortet werden. Fest steht nur, daß die Probleme geblieben sind und sich ζ. T. sogar noch drastisch verschärft haben (Arbeitslosigkeit). Der u. E. falsche Ansatz der Konjunkturtherapie und die überwiegend konsumtive Verwendung der Staatsverschuldung (Abzug von M i t t e l n aus investiven Zwecken) hat mit zu einer Verschärfung der genannten Probleme beigetragen. Die Finanz- und Schuldenpolitik hat sich dadurch selbst immer wieder i n Handlungszwang gebracht und stets neue kreditfinanzierte Programme erforderlich gemacht: Eine Blockierung öffentlichen Handelns i n den falschen Kanälen. V I I I . Außenwirtschaftliche Zwänge Die beiden Ölpreisschübe haben eine Wohlstandsumverteilung i m Weltmaßstab m i t sich gebracht — zugunsten der OPEC, zu Lasten der öl-importierenden Länder. Die schlichte Tatsache ist, daß w i r einen Teil unseres Realeinkommens, unseres Lebensstandards, an die ö l l ä n der abtreten mußten. Der i m Inland verteilbare Einkommenszutüachs wurde dadurch geschmälert. Die Verschlechterung der realen Austauschverhältnisse m i t dem Ausland, der sog. „Terms of Trade", w i r d für den Zeitraum von 1978 bis 1981 auf 2 0 % beziffert, insbesondere bedingt durch den zweiten ölpreisschub (1979/80), durch Preissteigerungen bei anderen Importgütern und durch die (reale) DM-Abwertung (vor allem gegenüber dem US-Dollar seit Herbst 1980). Die hierdurch bewirkte Verringerung des realen Einkommensspielraums i n der Bundesrepublik w i r d auf etwa 5 % des Bruttosozialprodukts geschätzt 13 . Wie sehen nun die Fakten zur Entwicklung der Realeinkommenspositionen bei den verschiedenen sozialen Gruppen aus? Vorangestellt sei zunächst die Entwicklung des realen Sozialprodukts, das i n den letzten vier Jahren (1978—1981) insgesamt um 9 , 5 % gestiegen ist 1 4 . 13 Vgl. Schlesinger, H e l m u t : Geldpolitik u n d Bankenrentabilität, i n : Deutsche Bundesbank, Auszüge aus Presseartikeln, Nr. 97 v o m 2.11.1981, S. 1. 14 1978: + 3,6%; 1979: + 4,4%; 1980: + 1,8%; 1981: — 0 , 3 % .

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Etwa i m Gleichschritt damit verlief die Entwicklung des realen verfügbaren Einkommens der privaten Haushalte, das sich von 1978 bis 1981 insgesamt u m 8,9 °/o erhöhte 1 5 . Demgegenüber haben sich die Unternehmereinkommen i n dieser Zeit drastisch reduziert. Von 1978 bis 1981 sank die „Gewinnquote" 1 6 von 19,6 auf 15,6%, und die realen Einkommensverluste der Unternehmen werden allein für 1980/81 auf 2 5 % veranschlagt 17 . Die Gegenüberstellung verdeutlicht, daß die Verschlechterung der „Terms of Trade" bisher einseitig zu Lasten der Unternehmenseinkommen gegangen ist. Was hat nun die Staatsverschuldung m i t alledem zu tun? Sie hat — wie bereits ausgeführt —, durch verstärkte Sozial- und Transferleistungen sowie Steuererleichterungen die privaten Einkommen gestützt, damit aber auch den Privatkonsum und — wegen des hohen Importanteils — letztlich die Leistungsbilanzdefizite verschärft. Kurz gesagt, w i r alle haben als Konsumenten deutlich über unsere Verhältnisse gelebt. Sichtbarer Ausdruck: die Bundesbank hat 1979/80 rd. 33 Mrd. D - M a r k an Währungsreserven verloren, und der Bund hat allein i n den Jahren 1980/81 47 Mrd. D M an Krediten i m Ausland aufnehmen müssen. Denn irgendwie mußten unsere ungebrochenen Ansprüche ja finanziert werden, nämlich aus der Substanz (Währungsreserven) und durch Kapitalimporte. Wieder wurden die Handlungsmöglichkeiten — hier die außenwirtschaftlichen von Bund (Kapitaldienst-Leistungen an das Ausland) und Bundesbank (Zwang zur Hochzinspolitik, u m Kapitalimporte attraktiv zu machen) — durch Staatsverschuldung begrenzt. Indem die Staatsverschuldung die privaten Einkommen und Konsumausgaben alimentierte, hat sie zugleich die Notwendigkeit einer rechtzeitigen Anpassung der Ansprüche der privaten Haushalte an die veränderten außenwirtschaftlichen Bedingungen kaschiert und verzögert. I X . Zusammenfassung Das Wachstumstempo der Staatsverschuldung und deren überwiegend konsumtive Verwendung haben tiefe Spuren i n den Budgets der öffentlichen Haushalte hinterlassen und sie — was den Handlungsspielraum 15

1978: + 3,4%; 1979: + 4,1 Vo; 1980: + 1,9%; 1981: — 0 , 5 % . Z u den A n gaben vgl. Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1981/82, a. a. O., S. 79 (1979 und 1980 vorläufige Ergebnisse; 1981: Schätzung). 16 A n t e i l der Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit i. e. S. am Volkseinkommen, d . h . ohne Vermögenseinkommen der privaten Haushalte sowie ohne Einkommen aus Wohnungsvermietung u n d von Unternehmen des F i nanzsektors. Vgl. „Gesamtwirtschaftliche E n t w i c k l u n g u n d Unternehmenserträge i m zweiten H a l b j a h r 1981", i n : Monatsberichte der Deutschen B u n desbank, Nr. 3, 1982, S. 15 ff. 17 Vgl. Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, Nr. 12, 1981, S. 5.

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Dieter Duwendag

betrifft — i n eine Sackgasse manövriert. Einige Beispiele wurden vorstehend genannt, zwei weitere seien noch kursorisch angefügt. Obwohl der empirische Nachweis schwer zu erbringen ist, w e i l w i r die nichtrealisierten privaten Verschuldens plane nicht kennen, sind Verdrängungseffekte privater Investoren von den Kreditmärkten durch den zinsrobusten Staat (dessen Verschuldungspläne uns ex ante bekannt sind und der sie stets ohne Abstriche durchgeführt hat) nicht auszuschließen. Dies gilt sowohl für Zinsabschwung- (1974—1978) wie für Zinsaufschwungphasen (1979—1981). Sofern es zu einem derartigen „crowding-out" gekommen ist, stellt sich für die öffentlichen Haushalte gleichsam das Obligo, durch eine gezielte Politik der Förderung privater Investitionen die eingetretenen Verdrängungseffekte nachträglich wieder wettzumachen („das K i n d aus dem Brunnen zu holen"). A u f der monetären Ebene kann es zu mancherlei Zielkonflikten zwischen der Geldpolitik und der Staatsschuldenpolitik kommen, da beide Politikbereiche die gleichen Steuerungsgrößen beeinflussen 18 : die Zinssätze und die Bankenliquidität. Außerdem schlägt sich — wie jeder Kredit — auch die öffentliche Kreditaufnahme i n einer Erhöhung der Zentralbankgeldmenge nieder. Hierdurch können die Geldmengenziele der Bundesbank unterlaufen bzw. die Bundesbank zu einem gegensteuernden Verhalten gezwungen werden. Überforderung des Kapitalmarktes und „Zinsführerschaft" (des Bundes) seien als weitere Stichworte zu kapitalmarktpolitischen Problemen der Staatsverschuldung genannt, die die Bundesbank unter Handlungszwang setzen bzw. ihr Handeln begrenzen können. Abschließend ein kurzer Ausblick. Die Bundesbank hat wiederholt betont: „Was w i r brauchen, ist eine ,Reindustrialisierung' der Bundesrepublik, die es uns ermöglicht, die Dinge wettbewerbsfähig zu produzieren, die auf den Weltmärkten nachgefragt werden 1 9 ." Der bis vor kurzem amtierende Bundesfinanzminister: „ W i r brauchen eine grundlegende Modernisierung unserer Wirtschaft, das heißt vor allem mehr Investitionen, u m die Lösung wirtschaftlicher Strukturprobleme zu beschleunigen . . , " 2 0 . 18 Vgl. i m einzelnen: Duwendag, Dieter: Monetäre Grenzen der Staatsverschuldung, i n : P o l i t i k u n d M a r k t — Wirtschaftspolitische Probleme der 80er Jahre, hrsg. von D. Duwendag u n d H. Siebert, Stuttgart, New Y o r k 1980, S. 65 ff. 19 Pohl, K a r l Otto: Geldwertstabilität u n d Wirtschaftswachstum, i n : Deutsche Bundesbank, Auszüge aus Presseartikeln, Nr. 100· v o m 13.11.1981, S. 4. 20 Matthöfer, Hans: Einbringungsrede zum Haushaltsgesetz 1982 vor dem Deutschen Bundestag, i n : B u l l e t i n des Presse- u n d Informationsamtes der Bundesregierung, Bonn, v o m 18. 9.1981.

Staatsverschuldung als Begrenzung für öffentliches H a n d e l n 1 2 9

Schließlich der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: „Die Dynamik muß von den Investitionen kommen 2 1 ." Es gab einmal ein Zukunftsinvestitionsprogramm, kurz genannt ZIP. Was w i r heute offensichtlich brauchen, ist ein „Modernisierung sinvestitionsprogramm", ein MIP. Vom ZIP zum M I P ! Nur, und das ist unsere Auffassung, ein solches M I P muß vorrangig über die Förderung privater Investitionen laufen. Denn: M i t der vorhandenen staatlichen Infrastruktur können w i r leben, m i t einer permanenten Arbeitslosigkeit, Wachstums» und internationalen Wettbewerbsschwäche dagegen nicht.

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Jahresgutachten 1981/82, a. a. O., S. 156.

9 Speyer 90

4. Zur Problematik einer Konsolidierung der öffentlichen Haushalte 4 Von Konrad L i t t m a n n Die Finanzpolitiker hierzulande treiben ein eigenartiges Spiel. Seit den Zeiten Erhardscher Kanzlerschaft verkünden sie i n rhythmischen Intervallen den öffentlichen Verwaltungen, daß eine neue Phase der Konsolidierung ihrer Haushalte beschlossen sei. Doch der i n der Verwaltung Erfahrene weiß diese Zeichen wohl zu interpretieren. Er hat aus den Konsolidierungsversuchen der Vergangenheit seine Lektion gezogen und die lautet: Ein Behördenchef, der unter der Flagge der Sparsamkeit zu segeln hat, verhalte sich wie ein guter Skipper bei starkem Sturm. Er meide möglichst geschickt die Untiefen der allgemeinen und speziellen Haushaltssperren sowie das Riff des Einstellungsstopps — und er klammere sich i m übrigen fest an die Hoffnung, daß sich auch der schlimmste Sturm einmal legen wird. Dann segle er auf altem Kurs weiter. Soviel zu den Konsolidierungsbemühungen i n der Bundesrepub l i k während der „Vorachtziger Jahre". Seitdem hat sich die Situation grundlegend geändert. Was von den Medien vor kurzem noch flott als Sommertheater '81 persifliert wurde, verliert jetzt seinen komödiantischen Beiklang. Die Finanzpolitik muß i m säkularen Bezug Weichen stellen, und die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte w i r d damit zu einer der heikelsten Aufgaben deutscher Politik. K e i n Zweifel, zumindest Politik und Verwaltung stehen — von wenigen Ausnahmen abgesehen — den Erfordernissen der Konsolidierung recht unbeholfen gegenüber. Was die Ziele, was den zeitlichen Ablauf, was die Strategien und die Verfahren der Konsolidierung betrifft, so sind schon diese Grunderwägungen durch Unsicherheiten, durch das Suchen nach neuen Wegen, aber auch durch das Eingehen schmerzlicher Widersprüche geprägt. Ich beginne m i t einer simplen Frage: Weswegen besteht eigentlich ein Bedarf an Konsolidierung? Die vordergründige A n t w o r t — beispielsweise für den Bundeshaushalt 1982 — heißt: Ohne Konsolidierung * Unveränderte Fassung des a m 29.4.1982 gehaltenen K u r z vor träges. 9*

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Konrad Littmann

würde die vorgegebene Grenze der Netto-Neuverschuldung von ursprünglich 26,7 Mrd. DM, nach der jüngsten Revision von annähernd 30 Mrd. DM, überschritten. Diese aus der mittelfristigen Finanzplanung abgeleitete und i m Haushaltsgesetz festgelegte Verschuldungsgrenze stellt allerdings für sich allein kein plausibles Argument dar, den Haushalt '82 reduziert zu fahren. Tatsächlich beanspruchen andere Sachverhalte, beanspruchen vor allem Trends i n den öffentlichen Ausgaben und i n den öffentlichen Einnahmen mehr Interesse. Für die Gebietskörperschaften gilt die Aussage, daß die gesamtwirtschaftliche Steuerquote — also das Verhältnis von Steueraufkommen zu Sozialprodukt — während der letzten drei Jahrzehnte m i t 24 ± 1 °/o nahezu konstant geblieben, die Staatsausgabenquote hingegen von 30 auf 35 °/o gestiegen ist. Das i m Trend kräftigere Wachstum der öffentlichen Ausgaben i m Vergleich zum Wachstum der Steuern, das natürlich nur die Zunahme der öffentlichen Kreditaufnahme reflektiert, w i r d auch i n Zukunft anhalten, falls der Gesetzgeber nicht die Einnahmesituation der Gebietskörperschaften verbessert oder die öffentlichen Ausgabenströme energisch kürzt. Die Scherenbewegung zwischen öffentlichen Ausgaben und Einnahmen verstärkt sich darüber hinaus nicht unwesentlich, wenn die Finanzen der Sozialversicherung i n den Zusammenhang eingefügt werden. Prognosen lassen bei der gesetzlichen Rentenversicherung langfristig sogar einen extrem hohen Konsolidierungsbedarf erwarten. Das erste Ziel der Konsolidierung besteht also nach Ansicht vieler Sachverständiger darin, die Finanzierungssalden der Haushalte so rasch wie möglich zu verringern, u m für die künftige Politik wieder Handlungsspielraum zu erhalten. Die Schaffung des politischen Handlungsspielraums sei erforderlich, w e i l i n der Bundesrepublik eine faktische Schuldengrenze nahezu erreicht wäre, w e i l nämlich der Schuldenstand schon jetzt eine Höhe auf weise, die kaum mehr überschritten werden dürfe, ohne daß bedenkliche Vertrauensverluste der Bürger i n den Staat einträten. Außerdem nehme bei weiteren Kreditaufnahmen der spätere Schuldendienst immer größere Teile der öffentlichen Haushalte i n Anspruch, d. h. die Schuldaufnahme heute schränke insoweit unmittelbar die politischen Handlungsalternativen i n der Zukunft ein. Die knappe Skizze mag genügen. Damit Sie die Konsequenzen einer Konsolidierungspolitik, die auf diesem Hintergrund betrieben wird, besser verstehen können, darf ich zur Illustration über einen nicht untypischen Fall berichten, der sich u m die Jahreswende ereignete. Zwischen einer Bundesverwaltung und einem süddeutschen Unternehmen bestehen vertragliche Beziehungen über die langfristige Liefe-

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rung von Gerät. Das jährliche Auftragsvolumen ist bis Ende der 80er Jahre i m Vertrag festgelegt. Aufgrund der angespannten Finanzsituation, genau, aufgrund der Beschlüsse der Bundesregierung zum Haushalt '82 storniert die Bundesverwaltung die Aufträge für das laufende Wirtschaftsjahr. Sie gibt jedoch zwecks Vermeidung von Konventionalstrafen zu erkennen, daß sie ab 1984 — nach erwarteter Überwindung des finanziellen Engpasses — die jetzt stornierten Aufträge zusätzlich zu den vertraglich vereinbarten abwickeln wolle. Der Kasus beinhaltet vielleicht aus administrativer Sicht eine ganz vernünftige, zumindest eine clevere Entscheidung. Wenn auch m i t zeitlichen Umdispositionen, so erhält die Verwaltung letztendlich doch das erforderliche Gerät. Und zur Konsolidierung des Haushaltes 1982 hat die Verwaltung außerdem durch den vorübergehenden Verzicht einen wertvollen Beitrag, hier i n Höhe von mehreren hundert Millionen DM, geleistet. Unglücklicherweise verträgt sich diese administrative Beurteilung aber außerordentlich schlecht m i t einer ökonomischen Wertung des gleichen Vorgangs. Zunächst: Die Auftragsstornierung während einer Rezession hat bei einem Unternehmen oftmals eine Minderauslastung der Produktionskapazitäten zur Folge, die sich entweder i n Entlassungen oder i n Kurzarbeit niederschlagen dürfte. M. a. W., die beabsichtigte Konsolidierung des staatlichen Haushaltes während der Rezession bew i r k t eine unbeabsichtigte Destabilisierung i m privaten Sektor. Oder aus anderer Perspektive: Konsolidierung heute heißt Verzicht auf politischen Handlungsspielraum heute, u m dafür morgen ein größeres politisches Aktionsfeld zu haben. I n Anbetracht von annähernd einer halben M i l l i o n Menschen, die aus konjunkturellen Gründen arbeitslos sind, erscheint der Verzicht auf politisches Handeln heute sehr bemerkenswert. Und weiter: Die Absicht der Verwaltung, die stornierten Aufträge ab dem Jahre '84 nachzuholen, konterkariert geradezu das Ziel der Konsolidierungspolitik, politischen Spielraum wenigstens für die Zukunft zu schaffen. Bei genauer Analyse sind die Konsequenzen dieses Verhaltens schlicht erschreckend. Sehe ich es recht, so haben sich Bund und Länder während der vergangenen anderthalb Jahrzehnte i n eine Attitüde der fiskalischen Parallelpolitik, also i n eine Perversion moderner Haushaltspolitik treiben lassen. Das Unvermögen, dem sinnlichen Reiz voller Kassen zu widerstehen, hat selbst i n der Hochkonj u n k t u r die öffentlichen Hände zu einem Ausgabeverhalten verleitet, bei dem strukturelle Defizite zur Finanzierung der Ausgaben nicht verschmäht wurden. Und wie eine absurde Variation der Berliner Verballhornung „Spare i n der Not — dann hast D u Zeit dazu" w i r d nunmehr die Konsolidierung i n die Rezession verlagert. Knapper Kommentar:

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Konrad L i t t m a n n

Die Frage der Zeitwahl bei der Konsolidierung öffentlicher Haushalte ist schlechter gar nicht zu lösen. Selbstverständlich liegt der Einwand nahe, daß die wirtschaftliche Betrachtung den Phänomenen nicht gerecht wird. Denn politische wie administrative Prozesse können bekanntlich von ganz anderen Kriterien gesteuert werden als gerade von jenen, die die Ökonomen i n ihren Analysen verwenden. Überspitzt formuliert heißt der Einwand: Eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte ist i n der Realität leider nur unter dem Diktat leerer Kassen machbar, w e i l nur dann Politik und Verwaltung sich so verhalten, daß wenigstens kurzfristige Erfolge zu erzielen sind. Die unerwünschten wirtschaftlichen Konsequenzen müßten — so unbefriedigend das Ergebnis auch sein mag — dabei hingenommen werden, u m das höhere Gut, u m die Aktionsfähigkeit der staatlichen Politik zu gewährleisten. Bei allem Respekt vor nichtökonomischen Fakten bin ich wiederum doch nicht willens, diese Erwiderung zu akzeptieren: Eine so miserable Einschätzung ihrer Fähigkeiten hat weder die Politik noch die Verwaltung verdient. Als Zwischenergebnis fasse ich zusammen: Entgegen der herrschenden Ansicht, eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte sei das Gebot der Stunde, verschärft die Kürzung des Haushaltsvolumens zur Zeit die angespannte wirtschaftliche Situation. Dessen ungeachtet bleibt die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte selbstverständlich eine außerordentlich wichtige Aufgabe, eine Aufgabe, die nur später i n A n griff genommen und die i n mittlerer sowie langer Frist erfüllt werden muß. A n dieser Stelle ist es zweckmäßig, eine grundsätzliche Erwägung einzuschieben. Die Konsolidierung kann erfolgen entweder m i t Operationen, die die öffentlichen Einnahmen erhöhen oder/und m i t Maßnahmen, die die öffentlichen Ausgaben senken. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, bemerke ich nur am Rande, daß die Möglichkeiten einer kräftigen Erhöhung der Steuerquote recht skeptisch zu beurteilen sind. Ein Anziehen der Steuerschraube bei den privaten Haushalten empfiehlt sich kaum, da schon bei dem gegenwärtigen Status unerwünschte Begleiterscheinungen sichtbar werden. Als pars pro toto erwähne ich den Komplex der Schwarzarbeit, der ja zu einem nicht geringen Teil steuerbedingt ist. Auch die Unternehmensbesteuerung bietet nur noch wenige Ansatzpunkte zur Erhöhung, zumal die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie nicht nur durch Steuern und Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung, sondern auch durch zahlreiche, ähnlich wirkende Auflagen (von der Lohnfortzahlung bis zum Umweltschutz) belastet wird. Höchstens der Abbau einiger spezifischer Steuervergünstigungen erscheint i n diesem Zusammenhang diskutabel, aber

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der quantitative Ertrag derartiger Reformen darf de facto nicht allzu hoch veranschlagt werden. Mehrere Umstände lassen es dagegen zweckmäßig, wenn nicht sogar notwendig werden, die Ausgabenseite als primären Ausgangspunkt der Konsolidierungspolitik zu wählen. Insbesondere sind die Determinanten wichtiger Ausgabekategorien — auch i n Gesetzen — so festgelegt, daß unter den gegebenen Bedingungen die Ausgaben i m Zeitablauf unabweisbar steigen, und zwar i n nicht wenigen Fällen vermutlich schneller als das Sozialprodukt. Die projizierte Entwicklung der Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung bis zum Jahre 2030 — die Ihnen sicherlich bekannt ist — charakterisiert diesen Trend. Demgegenüber ist ein Abflachen der w i r t schaftlichen Entwicklung bei gleichzeitig tiefgreifenden Änderungen i n der Bevölkerungsstruktur als wahrscheinlich zu unterstellen. Das bedeutet, auch die Entwicklung der öffentlichen Einnahmen w i r d ungünstiger verlaufen. Die Wirtschaftsordnung wäre gefährdet, sollte die Ausdehnung der öffentlichen Ausgaben nicht praeter propter an das Wachstum der Gesamtwirtschaft und damit an die Entwicklung des Steueraufkommens adjustiert werden. Was folgt hieraus? Nun, Politik und Verwaltung müssen lernen, daß der finanzielle Spielraum, der gegenwärtig ihre Entscheidungen so ungemein beengt, auf lange Zeit noch das Handeln des Staates und der Kommunen bestimmen wird. Konsolidierungskonzepte, die an den öffentlichen Aufgaben und Ausgaben anknüpfen, fordern zunächst — wenngleich nicht ausschließlich — den Gesetzgeber. Nach den Erfahrungen der Vergangenheit ist freilich nur dann m i t einer Änderung i m Verhalten der Regierungen und Parlamente zu rechnen, wenn institutionell die Möglichkeiten öffentlicher Verschuldung während der Hochkonjunktur drastisch verringert werden. Unter anderem halte ich es für geboten, A r t . 115 GG sowie die entsprechenden Normen der Landesverfassungen dahingehend zu überprüfen, ob nicht ein engerer Rahmen für die Kreditaufnahme des Staates gezogen werden sollte, indem ζ. B. die Kreditaufnahme ausschließlich zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zugelassen wird. Nebenbei, die Schweiz lebt m i t noch rigideren Beschränkungen der öffentlichen Kreditaufnahme bekanntlich nicht schlecht. Die institutionelle Vorkehrung scheint m i r die einzige Gewähr dafür, daß der unselige Hang der Politiker zur Parallelpolitik gebrochen wird. Außerdem stehen die Politiker bei einer strengen Begrenzung der Kreditaufnahme unter einem ständigen Zwang, öffentliche Aufgaben und Ausgaben kritisch zu durchforsten, da Steuererhöhungen als alter-

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natives Mittel der Konsolidierung auch i n Phasen der Hochkonjunktur keine positive Resonanz beim Wahlvolk finden dürften. Einige Bemerkungen noch zur politischen Seite der Angelegenheit: Die aktuell häufig vertretene Forderung, Haushaltseinsparungen müßten gleichmäßig alle Ausgaben treffen, reizt durchaus zum Widerspruch. Es ist wahrlich nicht einzusehen, warum Prioritäten und Posterioritäten nur bei expandierenden öffentlichen Haushalten gesetzt werden sollten. Weiter: Ob die i n den USA — ebenfalls unter Konsolidierungsaspekten — entwickelten Verfahren der Haushalts- und Finanzplanung, namentlich ob Zero-Base-Budgeting und Sunset-Legislation einen sinnvollen Beitrag zur Lösung der Probleme liefern, ist nach den fehlgeschlagenen Versuchen der Carter-Administration höchst zweifelhaft. Von größerer Wichtigkeit sind m. E. genaue Analysen der langfristigen Entwicklungstendenzen öffentlicher Ausgaben, u m insoweit wenigstens eine Basis für politische Entscheidungen zu gewinnen. Nur i m Vorbeigehen erwähne ich, daß Dienstrechtsreformen, die eine größere Flexibilität i m öffentlichen Bereich herbeiführen, stets die Konsolidierungsbestrebungen unterstützen. Außerdem verweise ich auf den schwierigen Komplex der Privatisierung, der seit dem 75er Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen intensiv diskutiert wird, der sich jedoch bedauerlicherweise bislang i n der einschlägigen Literatur interessanter als i n der Wirklichkeit darstellt. I n ähnliche Richtung zielen Erwägungen über optimale Instrumente zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben: Der Staat muß seine Aufgaben ja nicht stets durch ausgabenintensive Maßnahmen, er könnte sie doch auch zuweilen durch ausgabeunwirksame Operationen erfüllen. A u f eine Kurzformel gebracht: Erwägen, ob zum Beispiel Gebote oder Verbote an die Stelle öffentlicher Investitionen und öffentlicher Dienstleistungen treten können. Was insoweit für den Gesetzgeber gilt, ist sinngemäß auf die Verwaltungen übertragbar. Erfolg oder Mißerfolg der Konsolidierungspolitik hängt wiederum i n erster Linie davon ab, wie die Verwaltungen auf Sparmaßnahmen langfristig reagieren. Solange Haushaltskürzungen von der Administration — wenn überhaupt — nur durch vorübergehende Einsparungen beantwortet werden, solange muß der Versuch der Konsolidierung öffentlicher Haushalte scheitern. Ich halte es daher für ungemein wichtig, auf die Verwaltungen i n dem Sinne aufklärend zu wirken, daß während der 80er Jahre die finanziellen Engpässe nicht als kurzfristige Entgleisung, sondern als ein Dauerzustand einzuschätzen sind.

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I m übrigen gilt die Regel: Je knapper die Mittel, desto ausgeprägter die Konkurrenz um die Höhe der Haushaltsansätze. Ich meine, das Konkurrenzmoment selbst muß den Verwaltungen nicht unbedingt zum Nachteil gereichen. Allerdings ist es erforderlich, Vorkehrungen zu treffen, daß der verwaltungsinterne Konkurrenzmechanismus zur Rationalisierung der Administration führt. Das ist der entscheidende Punkt. Ohne auch nur entfernt Vollständigkeit anzustreben, darf ich stichwortartig einige Anregungen geben, die vielleicht einer Diskussion wert wären. Erste Aussage: Die öffentlich-verwaltungsinternen Steuerungsmechanismen sind — i m Gegensatz zu den privatwirtschaftlichen — i m Prinzip nicht darauf angelegt, eine rationale Aufgabenerfüllung herbeizuführen. Zuweilen verhindern sogar die geltenden Normen eine w i r t schaftliche Erfüllung der Aufgaben. Wenn ζ. B. bei der Dienstpostenbewertung auch die Zahl der untergeordneten Bediensteten ein Entscheidungskriterium darstellt, kann es nicht verwundern, wenn eine Neigung zur Stellenausdehnung besteht. Empfehlung: Prüfen, ob derartige Normen nicht aufgehoben und ersetzt werden sollten durch K r i terien, die Anreize zur Einsparung geben. Beispielsweise: Besondere Beförderungschancen für jene Bedienstete, die zur Erzielung nachhaltiger Haushaltseinsparungen unmittelbar beigetragen haben. Eine zweite Anregung, die sich auch i n den sehr interessanten Empfehlungen der KGSt zur Konsolidierung wiederfindet: Haushaltskürzungen können am besten dann zu sinnvollen Verwaltungsrationalisierungen beitragen, wenn auf möglichst niedriger Ebene selbständige Haushaltsentscheidungen getroffen werden. Während der frühen 60er Jahre hatte an der Berliner F U jedes Institut seinen eigenen Titel zu bewirtschaften, also z.B. die Entscheidung Dienstreise, Ferngespräch oder Brief unter dem Diktat recht knapper Ressourcen selbst zu fällen. Das Verfahren erwies sich als außerordentlich hilfreich, sparsam zu wirtschaften. Bei Kürzungen der Haushaltsansätze ist die konsequente Dezentralisierung der Haushaltsführung wahrscheinlich sogar der einzige Weg, bei dem die Arbeitsfähigkeit der Verwaltungen nicht zusätzlich durch organisatorische Verwerfungen belastet wird. Dritte Bemerkung: Private Investitionen dienen nicht selten dem Zweck der Rationalisierung, öffentliche Investitionen führen — ausgewiesen oder nicht — immer nur zu Folgekosten, oftmals sogar zu sehr hohen. Ich stelle m i r ganz naiv vor, daß es beispielsweise bei der Errichtung einer EDV-Anlage eine Reihe von Funktionen geben müßte, die bisher von Mitarbeitern der Behörde erbracht worden sind und die nunmehr die Maschine übernehmen soll. Tatsächlich werden aber nach

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allen Erfahrungen durch die EDV keine Mitarbeiter freigesetzt, sondern es werden vielmehr neue eingestellt — Operatoren, Locherinnen usw. Frage: Wo bleibt da der Rationalisierungseffekt? Nun, die an den EDVAnlagen Beschäftigten verweisen m i t Stolz auf zahlreiche Dienste, die sie zusätzlich und freiwillig erbringen. Sie sammeln Daten, sie kontrollieren und informieren und informieren. . . . Wie die Dinge jedoch liegen, werden zur Beschaffung der Informationen weitere Mitarbeiter benötigt und zur Verwertung der Informationen vor allem größere Papierkörbe gebraucht. Und wer die Moral der Geschichte noch nicht versteht, dem biete ich ein letztes Exempel. Die ineffizienteste Investition, die eine öffentliche Verwaltung vornehmen kann, ist — wie der Kundige weiß — die A n schaffung eines Trockenkopierers, der i n der Behörde unbeschränkt benutzt werden darf. Diesen letzten Hinweis dediziere ich m i t Respekt jenen optimistischen Kollegen, die da glauben, die deutsche öffentliche Verwaltung könne ihre Aufgaben gar nicht mehr wirtschaftlicher erfüllen. Ich befürchte, der unerbittliche Zwang der Fakten w i r d uns i n Zukunft lehren, wie sparsam, wie wirtschaftlich öffentliche Verwaltung sein muß.

I I . Beiträge: Übernahme oder Selbstentwicklung öffentlicher Aufgaben durch die Verwaltung 1. Einleitung Von Heribert Bickel Übernahme oder Selbstentwicklung öffentlicher Aufgaben durch die Verwaltung — ein Thema, das sich als ein Aspekt der Gesamtveranstaltung begreift und von daher seine Konturen erhält. Dabei w i l l ich mich m i t dem Begriff der „öffentlichen Aufgabe" nicht näher auseinandersetzen. Nur so viel: „öffentlich", damit sind das Gemeinwesen und seine Mitglieder, die Menschen und Bürger i n ihrem Verhältnis zum Staat als Staatsvolk, zur Gemeinde als Gemeindevolk sowie als Mitträger oder Teile der vielfältigen Erscheinungsformen körperschaftlicher Verwaltung angesprochen. Der Begriff „öffentlich" w i r d so m i t spezifischen Organisationsformen gekoppelt und auf diese Weise der sonst uferlose Inhalt begrenzt, u m nicht jede der Öffentlichkeit dienende Tätigkeit — wie ζ. B. die dem freien Handel obliegende Bedarfsdeckung — zu erfassen. Und gerade durch die Träger der Organisation — i m gewaltenteiligen Rechtsstaat i n erster Linie durch die Parlamente und die von diesen gewählten Regierungen — werden die verwaltungspolitischen Leitlinien gesetzt und damit die Verwaltungspolitik i n den Formen der Politikformulierung und der Politikdurchsetzung bestimmt. A u f diese Weise w i r d das Feld der öffentlichen Aufgaben festgelegt, wobei die Verfassung — insbesondere durch die i n i h r gewährten Freiheiten, Rechte und Garantien — allerdings Grenzen zieht. Übernahme öffentlicher Aufgaben diurch die Verwaltung hat von daher zwei Aspekte: Einmal, ob i n der Öffentlichkeit und damit i n der Gesellschaft sich abzeichnende Angelegenheiten als öffentliche Aufgabe 'durch die Verwaltungspolitik bestimmt u n d verwirklicht werden sowie zum anderen, ob sie durch die Verwaltung selbst wahrgenommen und erledigt werden sollen. Lassen Sie mich zwei Beispiele i n den Vordergrund rücken, die nicht den exemplarischen Bereichen des Arbeitsmarktes, der Gesundheit oder des Nahverkehrs entnommen sind, die i n der Podiumsdiskussion näher beleuchtet werden: Es geht u m K i n -

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dergärten und Altenbetreuung durch Sozialstationen. Gesellschaftliche Entwicklungsprozesse, geänderte familiäre Strukturen und Wohnformen, Mobilität unid Arbeitsplatzsituation, nicht zuletzt medizinischer Fortschritt haben diesen Bereichen ein anderes Gepräge gegeben, öffentliche Aufgabe ja — Übernahme durch die Verwaltung ist indes nicht immer geboten. Kirchen und gesellschaftliche Verbände können diese Aufgaben, die sie von ihrem Selbstverständnis her zum Teil sogar als ihre eigenen Angelegenheiten begreifen, ebenso bewältigen, auch wenn sie evtl. staatlicher Hilfe bedürfen. Daran ändert auch ein Zuviel an Gesetzen — wie ζ. B. die Kindergartengesetze der Länder — nichts. Auch die „Indienstnahme Privater für öffentliche Aufgaben" — wie ζ. B. die Bevorratungspflicht für Erdölerzeugnisse durch private Unternehmen und die damit verbundenen Handlungspflichten — belegt, daß nicht alle öffentlichen Aufgaben durch die Verwaltung erledigt werden müssen. Hier bietet sich eine breite Palette der Erledigungsformen an. Die Kehrseite der Übernahme öffentlicher Aufgaben ist — wie i n den gestrigen Vorträgen deutlich wurde — die Selbstentwicklung gerade dieser Aufgaben durch die Verwaltung. Uber die Selbstentwicklung der Verwaltung hat Frido Wagener gesprochen und diesen Prozeß exemplarisch durch seine Thesen belegt. Neben einer fehlgesteuerten oder unterlassenen Verwaltungspolitik als Ursache der Selbstentwicklung der Verwaltung scheinen -mir drei Hinweise erwähnenswert: Einmal die Tendenz der Fachverwaltungen, sich stets auszudehnen. Fachleuten ist es vielfach eigen, ihren Aufgabenbereich extensiv zu sehen, insbesondere dann, wenn sie i n Fachverwaltungen isoliert und nicht i n das allgemeine Verwaltungsgefüge eingebunden sind. Zum zweiten: Der oftmals übertriebene Ehrgeiz der Selbstdarstellung i n der Verwaltung. Stichworte wie „ A m t für Öffentlichkeitsarbeit", „Pressestelle", „Protokollreferent" oder „kommunale Mitteilungsblätter" machen vieleicht deutlich, was ich sagen w i l l . U n d zum Dritten: Verwaltungszweige, die von einem Aufgabenrückgang bedroht sind, werden oft erfinderisch. Ich denke dabei nicht nur an Fachverwaltungen, die m i t dem Kriegsfolgenrecht betraut sind oder einer gewissen Veränderungsdynamik unterliegen, wie das Beispiel der Straßenneubauämter belegt, sondern auch an andere Bereiche, die durch strukturelle Änderungen oder durch Bevölkerungsrückgang Substanzverluste zu erwarten haben. Lassen Sie mich i n 'diesem Zusammenhang beispielsweise an die Landwirtschaftsschulen erinnern, die i n den 60er Jahren wegen der Strukturveränderungen i m landwirtschaftlichen Bereich einen Ausblutungsprozeß durchmachten: Sie suchten und fanden ein Surrogat i n der Entwicklung zur landwirtschaftlichen Beratungsstelle, die über ihren enge-

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ren Aufgabenbereich bis h i n zur Betreuung der Landjugend und Landfrauen w i r k t . Hier wäre es sicherlich sachgerecht gewesen, den freiwerdenden Sachverstand insbesondere i m Bereich des Umweltschutzes über die Eingliederung in eine größere Verwaltungseinheit zu nutzen. Indes der Ressortegodsmus ist oft stärker als das Maß sachlicher Notwendigkeit, vor allem dann, wenn der Gruppenegoismus beruflich organisierter Fachverbände hinzutritt u n d der Handlungsmaßstab nicht allein am Gemeinwohl ausgerichtet wird.

2. Generelle Analyse Von Waldemar Schreckenberger Zwischen dem Wachstum „öffentlicher" Aufgaben und dem Wachst u m der Verwaltung besteht ein Zusammenhang. Es ist leicht nachzuweisen, daß nuit der Ausweitung öffentlicher Aufgaben auch die staatlichen u n d kommunalen Verwaltungen gewachsen sind. G i l t bei Wegfall oder Schrumpfung von öffentlichen Aufgaben etwas entsprechendes? Diese Frage ist schwieriger zu beantworten. Es gibt anscheinend eine A r t von Fließgleichgewicht zwischen Behörde und Aufgabenbestand. Die Behörde sucht zunächst einen extern bedingten Aufgabenzuwachs ohne größere Organisationsveränderungen aufzufangen. Die Orgianisationseinheiten übernehmen zusätzliche Kompetenzen. Findet eine Überschreitung der Kapazitätsgrenzen statt, so werden zumindest vorübergehend auch Qualitätsverluste bei der Erledigung der übertragenen Aufgaben hingenommen. Die Forderung nach neuen Stellen u n d zusätzlicher Sachausstattung ist — zumal bei knapper werdenden M i t t e l n — nur schwer durchsetzbar. Auch w i r d meist nur ein längerfristiger Bedarf m i t der Ausweitung der Behörde honoriert. I n dieser Sicht ist die Größe und Ausstattung der Verwaltung i m wesentlichen vom Bestand und der Qualität der i h r anvertrauten Aufgaben abhängig. Die Veranstalter 'dieser Tagung rücken einen anderen Aspekt der öffentlichen Verwaltung i n das Blickfeld. Sie weisen auf die Selbstentwicklung öffentlicher Aufgaben durch die Verwaltung hin. Sie machen damit auf einen wichtigen Sachverhalt i n der Verwaltung i m modernen Industriestaat aufmerksam. Denn es ist durchaus belegbar, daß die Verwaltung versucht, ihren Aufgabenbestand zu erhalten oder i m Interesse des Bestandes der Organisation, Aufgaben auszudehnen oder andere Aufgaben zu übernehmen oder gar neue Aufgaben zu entwickeln. Ich kann hier nur einige Beispiele nennen: — Die Kulturämter kamen i n Schwierigkeiten, als die Flurbereiniigungen weitgehend abgeschlossen waren. Sie versuchten, teilweise m i t Erfolg, neue Aufgaben i m Rahmen der Stadtentwicklung u n d Städtesanierung zu gewinnen und zu entwickeln.

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— Der Aufgabenbestand der Straßenneubauämter hängt von der Straßenbauplanung und den dafür verfügbaren M i t t e l n ab. Es handelt sich u m Faktoren, die i n den letzten Jahren erheblichen Schwankungen unterlagen. Der Abbau oder die Anpassung der Straßenbaubehörden an den veränderten Aufgabenbestand erwies sich aber als sehr schwierig. Die Behörden wurden zu Protagonisten des Straßenbaues, die auf eine Veränderung der Planungsprioritäten drängten oder versuchten, Ersatzmaßnahmen zu übernehmen. — Die Landesplanungsibehörden haben sich hohe Verdienste u m die Raumordnung als einer wichtigen Voraussetzung für eine sinnvolle Raumniutzung erworben. Die Instrumentarien, insbesondere das punkt-axiale Raumordnungsprinzip, wurden immer mehr verfeinert. Da der Raum eine knappe Ressource bildet und Raumordnungsstrukturen i m Hinblick auf ihre Langzeitwirkung nur beschränkt disponibel sind, schrumpfte die A t t r a k t i v i t ä t der Landesplanungsbehörden. Sie versuchten 'dies durch die Übernahme oder die Entdeckung neuer Aufgaben zu kompensieren. Dies gilt vor allem für die Entwicklung neuer Konzeptionen zur Entwicklungsplanung, die auch i n Bereiche der Ressourcen- und Aufgabenplanung erstreckt worden ist. — Seit Jahren besteht an den Krankenhäusern ein Bettenüberhang. Der Abbau dieser Überkapazität, der sich zunächst i n der Krankenhauszielplanung vollziehen sollte, erweist sich i n der Praxis als äußerst schwierig. Die Organisationskonzepte, die i m Interesse der Effizienz der Krankenversorgumg größere Einheiten vorsahen, w u r den zunehmend i n Frage gestellt. Der Fortbestand kleinerer Krankenhäuser kam auch dem Bettenbestand zugute. Darüber hinaus verschaffte die Entdeckung neuer Krankenversorgungsbilder einen neuen Bettenbedarf und minderte den Druck, größere Veränderungen vorzunehmen. — I m Interesse des Sachzusammenhanges ist aber auch auf ein anderes Beispiel hinzuweisen. Ich meine die Professionalisierung der Parlamente. Eine von „Vollzeitparlamentariern" besetzte Parlamentsbürokratie steht unter dem Zwang, -ihre Legitimation durch die Entwicklung immer neuer Aufgaben oder durch Übernahme exekutiver Fragestellungen unter Beweis zu stellen. Es ist zu vermuten, idaß die Professionalisierung der Parlamente erheblich zur Steigerung der öffentlichen Aufgaben des politisch-administrativen Systems beigetragen hat. Versucht man für den dargelegten Sachverhalt eine Erklärung zu finden, so fällt ins Auge, daß zwischen dem politisch-administrativen

Generelle Analyse

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System und dem sozialen System der Bedürfnisse eine unterschiedliche Veränderungsdynamik besteht. Hier zeigt sich, daß bei Großorganisationen wie der öffentlichen Verwaltung oder den Parlamenten die Rückbindung an die soziale Wirklichkeit auf Schwierigkeiten stößt. Die Verwaltung antwortet auf die soziale Differenzierung öffentlicher A u f galben m i t einer differenzierten Arbeitsteilung. Gleichzeitig müssen w i r jedoch erkennen, daß m i t zunehmender Differenzierung von Organisationen diese eine eigene Veränderungsdynamik entwickeln. Das System-Umwelt-Verhältnis w i r d durch zunehmende Aufgabenund Organisationsdifferenzierungen flexibler. Die zunehmende Komplexität von Großorganisationen erschwert aber auch die für die A n passung notwendigen Kommunikationsprozesse. Dies gilt vor allem für längerfristige zentrale Steuerungsleistungen, wie Koordinationsund Integrationsfunktiionen, der Gesamtorganisation. Die Komplexität begünstigt anscheinend auch die Tendenz, eine sellbstproduzierte Umwelt aufzubauen, welche die Organisation igegen Umweltveränderungen immunisiert und stabilisiert. Das soziale System w i r d nur noch über organisationsbedingte Schemata wahrgenommen. Diese erschweren aber sozial vermittelte Erfahrungen und die sich hierauf stützenden notwendigen Korrekturen. Eine wichtige Rolle spielt für die Eigendynamik von Großorganisationen die fachwissenschaftliche Professdonalisierung. Der i n erster L i nie seiner Disziplin verpflichtete „Fachmann" beansprucht eine verselbständigte Kompetenz, aus fachspezifischer Sicht Aufgaben zu definieren. Diese Kompetenz beeinflußt die Frage der Notwendigkeit von öffentlichen Aufgaben u n d ihre Lösungsmöglichkeiten. Denn es ist die rhetorische Funktion von Aufgabendefinitionen, d. h. von Problemstellungen, den Rahmen für mögliche Lösungen und Antworten abzustekken. Das politisch-administrative System bevorzugt heute zwei Steuerungsmittel, nämlich: Geld und Recht. Als wichtige Elemente der bürokratischen Struktur des politisch-administrativen Systems tragen sie erheblich zur Verselbstständigung dieses Systems bei. Sie sind Elemente einer Entscheidungsorganisation, die, wenn sie nicht hinreichend kontrolliert wenden, die Treffsicherheit bei der Lösung sozialer Probleme gefährden können. Man denke bei der Steuerung über Finanzmittel an die Indexierung von finanziellen Leistungen oder die Subventionierung wirtschaftlicher Aktivitäten, ohne daß ausreichend Rücksicht auif die Ressourcen oder die Steuerungsleistung monetärer Mechanismen genommen wird. 10 Speyer 90

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Waldemar Schreckenberger

Beim Recht ist es vor allem die normative Perfektionierung, die den situativen Bedarf häufig verfehlt. Eine professionalisierte Sprache schafft zusätzliche Verständigungsprobleme. Worin ist eine Lösung zu suchen? Es gibt keine einfache Lösung. Der moderne Staat ist auf hochkomplexe Großorganisationen angewiesen. Es müssen vielmehr unterschiedliche Korrekturstrategien entwickelt werden. Als bevorzugte Instrumente bieten sich zum Beispiel an: Rechtsvereinfachung, Beschneidung der Staatsaufgaben, Kontrolle der Verselbständigungstendenzen, Koordination und Integration von Organlisationsprozessen, Ausbildung interdisziplinär geschulter Generalisten.

3. Exemplarischer Bereich Arbeitsmarkt Von Josef Stingi

Den Handlungsrahmen der Arbeitsverwaltung bestimmt das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) aus dem Jahre 1969, das inzwischen 8 große Novellierungen, insgesamt aber über 30 Änderungen i n den knapp 13 Jahren erfahren hat. Hinzu kommt das Anordnungsrecht nach § 191 AFG. Die jüngste Gesetzesänderung durch das Ar^beitsförderungskonsolidierungsgesetz (AFKG), das am 1.1.1982 i n Kraft trat, machte nicht weniger als 7 neue Anordnungen notwendig, von denen die Zumutbarkeitsanordnung am meisten Schlagzeilen machte. Die weitere Umsetzung des Hechts durch Erlasse usw. kommt hinzu. Wenn von Mitarbeitern und in der Öffentlichkeit immer wieder Klage geführt w i r d über die verwirrende Erlaßflut, so kann ich dem nur beipflichten. Der Gesetzgeber sollte hier endlich mehr Ruhe einkehren lassen zum Wohle der Menschen, denen die Dienste der Arbeitsverwaltung gelten. Die Schwerpunkte i n der Aufgabenstellung werden der Arbeitsverwaltung größtenteils von außen gesetzt. Die Verhältnisse zwischen Angelbot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt der Quantität und der Qualität nach richten sich ja nur am Rande nach Maßnahmen der A r beitsmarktpolitik, entscheidend dagegen nach dem Wirtschaftswachstum, dem Strukturwandel, nach den Beziehungen zwischen Bildungsund Beschäftigungssystem und nach saisonalen Einflüssen. Die Arbeitsverwaltung muß also mehr reagieren als agieren. Nun hat die finale Ausrichtung des A F G eine Richtung gewiesen zu vorausschauender Arbeitsmarktpolitik, also dem Agieren mehr Gewicht zugedacht. Das gilt für kurzfristig wirkende Instrumente und Maßnahmen wie Kurzarbeitergeld, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), Förderung der Arbeitsaufnahme oder produktive Winterbauförderung, vor allem aber für die langfristig wirksame Förderung beruflicher Bildung, sei es Ausbildung, Fortbildung oder Umschulung. Steht bei kurzfristig wirksamen Maßnahmen der zahlenmäßige Arbeitsmarktausgleich i m Vordergrund, so ist die Förderung beruflicher Bildung der entscheidende Weg, um strukturelle Arbeitslosigkeit zu vermeiden, bei der Angebot und Nachfrage der Qualität nach nicht zusammenpassen. 10

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Josef Stingi

Diese arbeitsmarktpolitische Vorwärtsstrategie erfährt derzeit leider erhebliche Einschränkungen. Sie sind sowohl haushaltsbedingt als auch personell verursacht. Das rapide Ansteigen der Arbeitslosenzahlen macht riesige Aufwendungen für Unterstützungsleistungen notwendig. Da dies auch aus den seit 1, 1.1982 auf 4 % erhöhten Beiträgen nicht zu finanzieren ist, muß der Bund erhebliche Zuschüsse leisten. Es ist begreiflich und auch gerechtfertigt, daß diese Zuschüsse bei ohnehin schwieriger Haushaltslage so gering als möglich bemessen werden. Also werden Einsparungsmöglichkeiten geprüft, bei denen sich der Blick naturgemäß auf die sogenannten „Kann-Leistungen" richtet. Das aber sind gerade die Bereiche, die eine aktive Arbeitsmarktpolitik ermöglichen sollen. W i r muß ten sehr eindringlich darauf hinweisen, daß manche Einsparung ibei arbeitsmarktpolitischen Instrumenten die Pflichtleistungen eriiöhen wird, w e i l letztlich aus der Einsparung etwa bei A B M oder bei der Förderung beruflicher Bildung höhere Arbeitslosenzahlen erwachsen. Das andere große Hindernis für eine möglichst wirksame Erfüllung der Aufgaben, die der Arbeitsverwaltung gestellt sind, ist die Personalsituation. Da die fast 2 Millionen Arbeitslosen zunächst einmal ihr Geld bekommen müssen, das sie zum Lebensunterhalt brauchen, sind vor allem die Leistungsaibteilungen der Arbeitsämter überlastet. Weil Stellenmehrungen wiederum aus Haushaltsgründen abgelehnt wurden, muß wenigstens vorübergehend durch Umsetzungen aus der Arbeitsvermittlung und der Berufsberatung die Notsituation überbrückt werden. Auch die Hauptstelle i n Nürnberg und die Landesarbeitsämter haben zeitweise Personal i n die Arbeitsämter abgeordnet. Zieht man aber Personal aus der Arbeitsvermittlung z. B. ab, so schränkt das die Leistungsfähigkeit dieser Abteilung ein, obwohl ja gerade bei hoher A r beitslosigkeit die Arbeitsvermittlung besonders aktiviert werden müßte. Andererseits konnte der eben angesprochene Personalausgleich bis jetzt i n so engen Grenzen gehalten werden, daß Horrormeldungen, wonach Arbeitsvermittlung oder Berufsberatung nicht mehr stattfänden, nicht nur überzogen, sondern absolut falsch sind. Zusätzlich haben w i r die Mitarbeiter aufgerufen, Vorschläge zur Ai^beitsvereinfachung zu unterbreiten, was ein großes Echo fand. Neue Belastungen dagegen ergeben sich aus der Änderung des Bundeskindergeldgesetzes, dessen Durchführung ja der Arbeitsverwaltung übertragen ist. Noch mehr aber schlägt die Gesetzesänderung bezüglich der 59jährigen Arbeitslosen zu Buche. Hier müßten w i r auf Grund der sehr komplizierten Gesetzesregelung praktisch hoch qualifizierte Betriebswirte i n jedes Arbeitsamt setzen, u m diese i m Prinzip zu begrüßende Neuregelung durchzuführen.

Exemplarischer Bereich Arbeitsmarkt

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Und als letztes (ist das Gesetz zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung zu nennen, dessen Durchführung ebenfalls der Bundesanstalt für Arbeit übertragen wurde. Abgesehen davon, wie w i r das ohne Stellenmehrung personell bewältigen sollen, erhebt sich die Frage, ob w i r uns nicht das Vermittlungsgeschäft auf die Dauer kaputt machen, wenn w i r als Dienstleistungsbehörde gleichzeitig Polizeiaufgaben wahrnehmen sollen. Ich glaube, Sie werden m i r zustimmen, daß sich die Arbeitsverwaltung gegenwärtig i n ihrer Aufgab enbewältigung i n keiner beneidenswerten Lage befindet.

4. Exemplarischer Bereich Gesundheit Von Hans-Joachim Jahn I. Allgemeines zum Gesundheitswesen Dem Einzelnen und der Gesellschaft ist es „aufgegeben", das „höchste Gut" des Menschen, die Gesundheit, das „körperliche, geistige und soziale Wohlbefinden", zu schützen, zu pflegen und bei Verlust wieder herzustellen 1 ; man könnte auch sagen: treuhänderisch zu verwalten. Dazu bedarf es der Erfahrungen aus einer langen Menschheitsgeschichte ebenso, wie der neuesten Erkenntnisse medizinischer Wissenschaft u n d Therapie. Unübersehbar geworden ist die Fülle von M i t t e l n und Methoden zur Abwendung des Krankseins. Es gibt viele medizinische Schulen, Lehrmeinungen und therapeutische Verfahren. Jeder w i l l weitestgehend die verbesserten Möglichkeiten der medizinischen Versorgung wahrnehmen. Nicht zuletzt deshalb sind Rechtsnormen erforderlich, die das Ganze i m Zaum einer gewissen Ordnung halten. So haben sich vor allem i n den modernen Industriegesellschaften, ungeachtet ihrer unterschiedlichen sozial- und medizingeschichtlichen Vergangenheit, vergleichbare soziale und gesundheitliche Sicherungssysteme entwickelt. Hervorzuheben ist dabei die zunehmende Verlagerung der Verantwortlichkeiten aus der persönlichen i n die öffentliche Zuständigkeit. Die Gründe hierfür sind vielfältig und reichen weit zurück i n die Vorzeit der Industrialisierung 2 . Insbesondere w a r es die Wechselbeziehung zwischen sozialem Wandel und medizinischem Fortschritt 3 , welche die Menschen veranlaßte, sich zum Schutz gegen die Wechselfälle des Lebens außerhalb der Familie i n großen Solidargemeinschaften, vorab der Sozialversicherung, zusammenzuschließen. Solidarversicherung und staatliche Versorgung sind die materiellen Säulen der modernen Gesundheitssicherung. 1 Vgl. Präambel zur Satzung der Weltgesundheitsorganisation, 1946. Vgl. hierzu Schaefer, H.: Gesundheit i m Grenzbereich zwischen Leib u n d Seele, i n : Der Mensch u n d seine Gesundheit, Hrsg. v. Landeszentrale f. Gesundheitsbildung i n Bayern e. V., München 1974, S. 9—10. 2 Fischer , Α.: Geschichte des deutschen Gesundheitswesens. Bd. I, B e r l i n 1933, S. 13 ff. 3 Jahn, H. J.: Medizinischer Fortschritt und sozialer Wandel, i n : E n t w i c k l u n g u n d Fortschritt, Hrsg. H. Reimann u. E. W. Müller, Tübingen 1969, S. 363—374.

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Der Einzelne kann sich eines Netzes gewiß sein, welches ihn, wenn Gefahr i m Verzuge, m i t optimalen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten auffängt. Die herausragenden Institutionen des Gesundheitswesens sind die ambulante und stationäre medizinische Versorgung. Daneben sollte an sich gleichrangig der öffentliche Gesundheitsdienst m i t seiner Gesundheitsfürsorge und Gesundheitsüberwachung stehen. Daß dem nicht so ist, -und die Gesundheitsämter einen Funktionsverlust erlitten haben, hat Gründe, die einerseits auf verbesserte hygienische Verhältnisse, andererseits aber auch darauf zurückzuführen sind, daß die neuen epidemiologischen und ökologischen Aufgaben des öffentlichen Gesundheitsdienstes, z. B. die langfristige Krankheits- u n d Todesursachenforschung und der Umweltschutz, erst noch entwickelt werden müssen 4 . Von entscheidender Bedeutung für das Funktionieren des Gesundheitwesens sind, neben einer zielstrebigen Gesundheits- und Sozialpolitik, die Kostenträger. Die Krankenversicherung, zuständig für die Übernahme der Kosten der ambulanten und stationären medizinischen Versorgung, die Rentenversicherung analog für die stationäre Heilbehandlung i n Sanatorien und Heilstätten, sowie die Versorgungseinrichtungen des Bundes u n d der Länder m i t ihren Sonderaufgaben. Hinzu kommt noch eine Vielzahl privater und betrieblicher Zusatzversicherungen. Bedingt durch die unablässig fortschreitende Entwicklung der Medizin i m allgemeinen, erlangen i m besonderen zwei Bereiche der medizinischen Versorgung zunehmende Bedeutung. Das ist einmal der gerontologische Sektor 5 und zum anderen das nicht minder weite Feld der Psychiatrie! 6 . II. Kommunale Gesundheitsaufgaben Die igerontologischen und psychiatrischen Probleme machen verständlich, w a r u m vor allem die Großstadtverwaltungen vermehrte Gesundheitsaufgaben zu bewältigen haben. Sowohl die moderne Psychiatrie m i t ihrer Forderung nach gemeindenaher Therapie, als auch die neuen Möglichkeiten geriatrischer Behandlung und Rehabilitation setzen neue Maßstäbe für den Bau und die Sanierung von Krankenhäusern, Rehabilitationskliniken und Einrichtungen der Dauerpflege. 4 Dewein, P.: Die Z u k u n f t des öffentlichen Gesundheitswesens, i n : ö f f e n t liches Gesundheitswesen, H. 43, 1081, S. 575—577. 5 Schubert, R.: Schwerpunkte i n der Geriatrie 3. Hrsg. v. R. Schubert u. A . Störmer, München 1974, S. 7 ff. V g l hierzu: Jahn, H J., Lebenslage älterer Menschen als Problem f ü r Wissenschaft u n d Praxis, i n : Freizeitverhalten älterer Menschen. Exemplarische Untersuchung zur interdisziplinären Gerontologie. Hrsg. v. D. Blaschke u. J. Franke, Stuttgart 1982, S. 1—34. 6 Vgl. Bericht über die Lage der Psychiatrie i n der Bundesrepublik Deutschland — Deutscher Bundestag, Drucksache 7/4200.

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Zwar gibt es i n den Städten und Gemeinden stets eine beachtliche Anaahl von sogenannten freigemeinnützigen Krankenhausträgern, ζ. B. die Kirchen, jedoch hat die jeweilige Kommune vor allem auch deswegen die Hauptlast zu tragen, w e i l sie i n jedem Falle verantwortlich ist für die ausreichende medizinische Versorgung der Bürger. Mögen auch seit Inkrafttreten der Krankenhausfinanzierungsgesetze die unmittelbaren großen finanziellen Belastungen f ü r die Kommunen etwas zurückgegangen sein, die mittelbaren u n d insbesondere die laufenden Kosten und Vorleistungen sind nach wie vor sehr hoch und i n ihrem weiteren Anstieg kaum vorausschaubar. Entsprechend schwierig sind deshalb auch die jeweiligen Pflegesatzverhandlungen mit den Krankenkassen und ihren Verbänden. Einer der Hauptverursacher dieser Entwicklung ist zweifellos der medizinisch-technische Fortschritt m i t seinen diagnostischen und therapeutischen Verbesserungen auf allen Gebieten, besonders der Chirurgie. Aber auch i n der Strahlenheilkunde, und natürlich i m Gesamtbereich der Inneren Medizin, sind durch neue medizinisch-technische Gerätschaften, zentrale Laboreinrichtungen und medikamentöse Behandlungsmethoden, Mehrausgaben entstanden, die, wenn man die steigenden Personalkosten noch hinzuzählt, den Haushalt einer bundesdeutschen Großstadt erheblich belasten u n d überfordern. Z u fragen bleibt, ob diese so viel beklagte Kostenexplosion i m Gesundheitswesen unabwendbar w a r und ist, und ob i m besonderen die Städte und Gemeinden sich m i t dieser steigenden Ausgabenflut abfinden müssen. Zu ersterem sei der Standpunkt vertreten, daß Abhilfe möglich ist; aber nur dann, wenn es i n umfassender Weise gelingt, neben der Rehabilitation, der Wiederherstellung nach E i n t r i t t des Gesundiheitsschadens, mindestens gleichrangig dem Gedanken der Prävention, der Schadensvorbeugung, Geltung zu verschaffen. Vonnöten ist dazu allerdings ein Wandel i n der allgemeinen Geisteshaltung; ein Erfordernis, dem sicherlich nicht von heute auf morgen, sondern nur i n einem langwierigen Prozeß gesundheitspädagogischer und gesundheitspolitischer Bemühungen entsprochen werden kann. Die andere Frage, ob die Gemeinden sich abfinden müssen mit diesem übergroßen Belastungszuwachs aufgrund vermehrter Gesundheitsaufgaben, kann m i t Hinweisen auf kurzfristig veränderbare Regelungen handfester beantwortet wenden. Gelänge es zum Beispiel, die Mehrgleisigkeit der medizinischen Versorgung i m A l t e r abzuschaffen, dergestalt, daß die für ein Arbeitsleben lang zuständigen Träger der

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Sozialversicherung auch danach, d. h. bis ans Lebensende, die volle Verantwortung für jede A r t von medizinischer Versorgung zu tragen haben, dann wären bei der Kostenregelung des stationären Pflegefalles klare Verhältnisse und eine spürbare Entlastung geschaffen. Man sage auch nicht, daß dies deshalb kein vordringliches Anliegen sein könne, weil sich an der eigentlichen Maßnahmendurchführung und deren Kosten nichts ändere, sie würden ja nur zuständigkeitshalber verlagert. Dem ist entgegenzuhalten, daß selbst dann, wenn nur diese Vereinfachung erreicht würde, für alle Beteiligten eine wesentlich erträglichere Situation gegeben wäre als die noch bestehende. Es ist jedoch für den, der die Auswirkungen der Unterscheidung i n stationäre Krankenhausbehandlung, getragen von der gesetzlichen Krankenkasse einerseits und i n stationäre Altenpflege auf eigene bzw. auf Kosten der Sozialhilfe andererseits, kennt, keine Frage, daß bei deren Wegfall allein schon ein beachtlicher Teil der vielen teuren Krankenhausbetten für „Langzeitlieger" eingespart werden könnte 7 . Neben diesen genannten Schwerpunkten der medizinischen Versorgung treten andere Gesundheitsaufgaben der kommunalen Sozial- und Gesundheitsverwaltung etwas in den Hintergrund. Jedoch verdienen sie es eigentlich nicht, als nachrangig eingestuft zu werden. Das bet r i f f t vor allem den bereits schon erwähnten öffentlichen Gesundheitsdienst des Gesundheitsamtes m i t seinen hoheitlichen und fürsorglichen Aufgaben. Des weiteren sind zu nennen: die vorbeugenden Erholungsund Gesundheitsmaßnahmen für Kinder, Jugendliche und Mütter. Die Verzahnung von Sozial- und Gesundheitswesen t r i t t besonders hervor bei der Kombination von schulischen, beruflichen und therapeutischen Einrichtungen für die große Zahl von Behinderten und — nicht zu vegessen — für Suchtkranke aller A r t . Es handelt sich dabei u m Aufgaben, die zumeist i n enger Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Verwaltung und freigemeinnützigen Verbänden erfüllt werden. Der Kreis muß — was die Betrachtung von Details anbetrifft — ein weit offener bleiben; jedoch dürfte, wenn man noch den Zusammenhang zwischen Sport, Freizeitgestaltung und Gesundheit m i t einbezieht, i n groben Umrissen das Ausmaß der kommunalen Gesundheitsaufgaben erkennbar werden und damit auch der hohe Stellenwert der öffentlichen Verwaltung für die Pflege der Volksgesundheit.

7 Vgl. Vorschläge des Deutschen Städtetages zur sozialen Sicherung für pflegebedürftige Menschen, i n : Bayerischer Wohlfahrtsdienst, Nr. 7/8, 1979, S. 77 ff.

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I I I . Übernahme oder Selbstentwicklung Die alternativ klingende Formulierung: Übernahme oder Selbstentwicklung, d. h. hier: öffentlicher Gesundheitsaufgaben durch die Verwaltung, (es müßte w o h l heißen: Übernahme oder Selbstentwicklung von Gesundiheitsaufgaben durch die öffentliche Verwaltung) ist nicht zu verstehen etwa i m Hinblick auf eine entweder/oder Forderung, sondern als Vorspann für die eigentliche Frage nach dem Handlungs- und Entscheidungsspielraum der öffentlichen Verwaltung, i m besonderen der Sozial- und Gesundheitsverwaltung einer Großstadt. Keine Frage ist, daß allgemein jede Verwaltung zunächst einmal Aufgaben zu übernehmen hat. Das liegt auch ganz i m Sinne des Wortes Verwaltung, abgeleitet von verwalten, i m Auftrage etwas tun, von anderen bevollmächtigt, zu handeln. Aber bereits schon bei den A b wandlungen, obwalten oder gar walten, was i m Volksmund stets m i t schalten, also walten und schalten, gekoppelt ist, kommt das eigendynamische Element dieser Begrifflichkeiten deutlich zum Ausdruck. Unter Verwaltung und verwalten kann auch niemals nur das bloße Befolgen und Erfüllen von Aufträgen gemeint sein, die der Verwaltung von außerhalb stehenden Kräften und Instanzen etwa als unverrückbare Aifoeitsvorlage erteilt werden. Das schmälert freilich nicht den Grundtatbestand, daß die öffentliche Verwaltung zur Exekutive, zur vollziehenden Gewalt zählt und dem Prinzip der Gewaltenteilung bzw. Recht und Gesetz verpflichtet ist. Die Probleme liegen i m Detail, nämlich dort, wo es um die Regelung der Bedingungen geht, unter denen eine öffentliche Vewaltung die i h r grundsätzlich zugewiesenen Aufgaben „bewältigt": Daß es sich dabei nicht nur u m die Schaffung gewisser technischer, wirtschaftlicher und personeller Voraussetzungen handeln kann, vergleichbar m i t der Ausstattung und Arbeitsorganisation eines Produktionsbetriebes, ist zwar einleuchtend; dennoch erscheint es ratsam, immer wieder auf diesen substantiellen Unterschied hinzuweisen. Die Versuchung ist offensichtlich stets gegeben, Zweige der öffentlichen Verwaltung zu bedenkenlos als „Betrieb" zu verstehen. Mag auch für den unternehmerischen Zweig der öffentlichen Verwaltung — für die sogenannten Versorgungsbetriebe — die Orientierung an den produktionsnotwendigen Reglementierungen und Methoden privater Wirtschaftsunternehmungen noch so nützlich sein 8 , für den pflege8 Thiemeyer, Th.: Betriebswirtschaftslehre der öffentlichen Betriebe. T e i l 1 u. 2, i n : WiSt Wirtschaftswissenschaftliches Studium, 10. Jg. H. 8 u. 9, 1981, S. 367—400 u. 417—448.

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rischen Zweig, also für die Sozial- und Gesundheitsverwaltung gelten i n hohem Maße andere, insbesondere weniger materiell meßbare K r i terien; wobei — und das muß, u m keine MißVerständnisse aufkommen zu lassen, immer gleich hinzugefügt werden — selbstverständlich auch die kommunale Sozial- und Gesundheitsverwaltung nicht davon befreit sein kann, ihre Leistungen an den Kriterien Zweckmäßigkeit und Erfolg messen zu lassen. A n dieser Stelle sei eine Zäsur erlaubt, d. h. alle weiteren Ausführungen sollen sich auf die spezielleren Bedingungen richten, unter denen die öffentliche Verwaltung einer Großstadt ihre Gesundheitsaufgaben wahrnimmt, einschließlich der Chance, eigene Vorstellungen zu entwickeln und i n der Praxis umzusetzen. A l l e n voran steht die Sicherstellung der ambulanten und der stationären medizinischen Versorgung, dann der öffentliche Gesundheitsdienst und, neu hinzugekommen, der Umweltschutz. Die ambulante medizinische Versorgung ist eindeutig die Domäne der freien Ärzteschaft und ihrer Organisationen, zuzüglich der ebenfalls privatwirtschaftlich arbeitenden Apotheken. Die stationäre medizinische Versorgung obliegt m i t sehr unterschiedlicher Gewichtigkeit sowohl kommunalen als auch freigemeinnützigen Krankenhäusern, z. B. der Kirchen und des Roten Kreuzes. Hinzu kommen noch private stationäre Behandlungsstätten und Kliniken. Eine Aufgabe und zugleich Problem für sich ist, wegen ihrer sozialversicherungsrechtlichen Abspaltung, die Langzeitpflege, vor allem der anzahlmäßig ständig zunehmenden, chronisch erkrankten und behinderten alten Bürgern i n stationären Pflegeeinrichtungen. Der öffentliche Gesundheitsdienst m i t seinen Aufgaben der Hygiene, Bekämpfung von übertragbaren Krankheiten, Nahrungsmittelkontrolle und dergleichen, zählt nur insoweit zum unmittelbaren Zuständigkeitsbereich der Kommunalverwaltung, als die hierfür erforderlichen Institutionen, vor allem das Gesundheitsamt, ausnahmsweise nicht von staatlicher Seite unterhalten werden. Beim Umweltschutz, erst seit kurzem als eigenes kommunales A u f gabengebiet geschaffen, ist noch unklar, ob er zweckmäßigerweise der Ordnungsverwaltiung oder der Sozial- und Gesundheitsverwaltung eingegliedert werden soll. Da annähernd 90 °/o der Gesamtbevölkerung ten u n d stationären medizinischen Versorgung tersgrenze kostenmäßig voll abgesichert sind, lichen zwei Bereiche, i n denen die Sozial- und

bezüglich der ambulanvor Erreichung der A l bleiben so i m wesentGesundheitsverwaltung

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einer Großstadt Gesundheitsaufgaben mit beachtlichen Möglichkeiten, deren Gestaltung zu beeinflussen, wahrnehmen kann. Dazu gehören einmal das Krankenhauswesen, also der Bau und der Betrieb, sowie die Sanierung unid Ausstattung von Krankenhäusern, und zum anderen die Pflege und Versorgung derjenigen, die als Behinderte nicht oder nicht mehr den vollen materiellen Schutz von Seiten der Sozialversicherungsträger erhalten, und demzufolge auf die Sozialhilfe angewiesen sind. Das betrifft — was allerorts bitterste K r i t i k herausfordert — auch eine Vielzahl von Bürgern, die ein Arbeitsleben lang auf die vorzügliche soziale und gesundheitliche Sicherung vertrauen konnten, und im Alter erfahren müssen, daß ihre Lebensleistung nicht ausreicht, um einen Anspruch auf Kostenübernahme der stationären Pflege durch „ihre Sozialversicherung" zu begründen. Jedoch soll auch dieses aktuelle Diskussionsfeld verlassen werden, um wenigstens kurz auf den zuerst genannten Bereich, das Krankenhauswesen, etwas näher einzugehen. Die Möglichkeiten der Städte und Gemeinden, nach eigenen Vorstellungen das Krankenhauswesen auf den Stand modernster medizinischer Erkenntnisse zu bringen, sind zwar durch die gesetzliche Neuregelung der Krankenhausfinanzierung vom Jahre 1972 eingeschränkt, d. h. die jeweiligen Bundesländer haben wesentlich größere Kompetenzen erhalten, insbesondere was die Krankenhausbedarfsplanung und die Verteilung der Finanzierungsmittel anbetrifft. Dessen ungeachtet, liegt es noch immer i n erster Linie an den Kommunen selbst, ob überhaupt ein neues Krankenhaus gebaut, bzw. das alte saniert wird. Das Stadtparlament fällt die Vorentscheidung nicht nur über grundsätzliche Gestaltungsfragen, sondern auch schon über eine differenzierte Raum- und Funktionsplanumg. Der weitere Weg ist zwar alles andere als nur Formsache, z.B. die Aufnahme i n den Krankenhausbedarfsplan, jedoch gilt die allgemeine Erfahrung auch hier, daß nämlich der bestens ausgearbeitete Plan auch die größere Chance hat, von den i h n zu beurteilenden übergeordneten Instanzen, die da sind: Oberste Baubehörde u n d fachlich zuständiges Landes- bzw. Staatsministerium, anerkannt und genehmigt zu werden. Ob und inwieweit eine öffentliche Sozial- und Gesundheitsverwaltung eigene Vorstellungen planen, entwickeln und zur Geltung bringen kann, hängt weniger von den letztinstanzlichen Entscheidungsträgern ab, sondern viel eher von Vorgängen, die sich darunter und i m weiten Vorfeld abspielen. Zunächst einmal muß natürlich der grundsätzliche

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Beschluß vorliegen, ein neues K l i n i k u m zu bauen. Dafür, daß ab diesem Zeitpunkt bis zur tatsächlichen Eröffnung des neuen Krankenhauses Jahrzehnte vergehen können, gibt es Beispiele. Ebenso dafür, daß dieses zeitaufwendige Verfahren, außer i n Finanzmiseren, auch i n dem mangelhaften Zustandebringen oder gar Fehlen einer allgemein als akzeptabel gelten könnenden Grundkonzeption sein Ursache haben kann. Verantwortlich für deren Erstellung ist selbstverständlich auch in einer kommunalen Selbstverwaltungsorganisation das entscheidungsbefugte politische Gremium, das ehrenamtliche Stadtparlament m i t seinen Fachausschüssen. Ebenso selbstverständlich kann aber auch von diesem nicht verlangt werden, daß es sich selbst die Konzeptionen liefert, womöglich noch beschlußfertig ausgearbeitet. Wer aber soll es sonst tun? Doch nur m i t der gleichen Selbstverständlichkeit die hauptamtliche, fachkompetente Sozial- und Gesundheitsverwaltung 9 . Erweist sich nun die Fachverwaltung als nicht ausreichend i n der Lage, das, vielleicht schon seit Jahren nach einer Lösung drängende, Problem konzeptionell i n den Griff zu bekommen, dann allerdings t r i t t das ein, was an sich nicht sein soll und i m Grunde auch nicht sein kann: der dilettantische Eingriff externer Kräfte i n die Fachverwaltung. Kommt dann noch hinzu, daß die bedarfstragende Verwaltung m i t der bauplanenden und bauausführenden i n weitere Kompetenzstreitigkeiten gerät, dann ist jene Konfusion i n einer Großstadtverwaltung gegeben, die zwar zu einem Dauerbrenner für unzählige Diskussionen i n den politischen Gremien führt, nicht aber zu der baldmöglichsten Lösung des Problems. Unter Umständen w i r d ein Krankenhaus überhaupt nicht, oder erst nach langer Verzögerung gebaut, vielleicht durch ein „höheres" Machtwort, mit größter Wahrscheinlichkeit aber dann nicht mehr i n bestmöglicher Weise. Worauf es also ankommt, damit der hier angesprochene Problemlösungsprozeß weitgehend reibungslos, ohne zeitlichen Verzug u n d damit ohne die sonst zwangsläufig eintretenden Kostensteigerungen durchgeführt werden kann, ist zu allererst das Vorhandensein einer hochqualifizierten, funktionsfähigen und auch m i t der erforderlichen wissenschaftlichen Befähigung ausgestatteten Fachverwaltung. Sie muß i n der Lage sein, auf der Grundlage eines ständigen Informationsflusses zwischen i h r und dem, was sich i m sozial- und gesundheitspolitischen Tagesgeschehen an Notständen und Erfordernissen abzeichnet, ohne zeitlichen Verzug die Gewichtigkeiten der Probleme zu erkennen und konkrete 9 Kroll, F./Lange, St.: Durchführung v o n Krankenhausprojekten aus der Sicht des Trägers, i n : Das Krankenhaus, Zentralblatt f ü r das deutsche K r a n kenhauswesen, 68. Jg., 9, 1976 (Sonderdruck).

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Lösungsmöglichkeiten vorzuschlagen. Ist die Fachkompetenz der Verwaltung unstrittig, dann entwickelt sich alles andere folgerichtig, gemeint ist, die sachkundige Bedarfsermittlung und Bedarfsplanung, die Ausarbeitung von Diskussionsvorlagen und Grundkonzeptionen, die Organisation und Koordinierung der einzuschaltenden verwaltungsinternen und -externen Fachkönnerschaft, das Einrichten ständiger A r beitsgruppen, das Einholen von Gutachten und Informationen ζ. B. über die Verwirklichung ähnlich gelagerter Projekte, das Ausarbeiten immer genauer und differenzierter werdender Beschlußvorlagen an die Fachausschüsse, bis dann schließlich, solchermaßen eingeleitet, die vorentscheidende politische Weichenstellung von Seiten des Stadtparlamentes durch entsprechende Abstimmung und Beschlußfassung erfolgen kann. Hat diese ihre Bestätigung bzw. das Vorhaben die endgültige Genehmigung durch das Fachministerium gefunden, so beginnt nun die praktische Umsetzung der Projektplanung. Die bislang vorherrschende A k t i v i t ä t der Sozial- u n d Gesundheitsverwaltung geht dabei begreiflicherweise über i n jene der Bauverwaltung. A n der grundsätzlichen Federführung i n der Krankenhausplanung ändert sich dadurch nichts, zumal ja nach der jetzt vorhersehbaren Fertigstellung des neuen Klinikums, dieses als weiteres Glied der kommunalen stationären medizinischen Versorgung dem Dezernat öffentliche Sozial- und Gesundheitsverwaltung zugeordnet sein w i r d 1 0 . IV. Resümee A m Beispiel des großstädtischen Krankenhauswesens läßt sich nachweisen, daß die kommunale Verwaltung zwar grundsätzlich ihre öffentlichen Aufgaben vom Gesetzgeber als Auftrag übernimmt, daß aber damit lediglich der Rahmen für die Aufgabenbewältigung abgesteckt sein soll und demzufolge die Selbst- und Weiterentwicklung des Aufgegebenen und Übernommenen konsequenterweise allergrößte Bedeutung zukommt. Es wurde versucht, i n aller Kürze aufzuzeigen, was für Risiken bestehen, wenn die Voraussetzungen nicht erfüllt sind, gemäß dieser Einsicht handeln zu können. Sie sind es vor allem dann nicht, wenn die bedarfstragende Fachverwaltung personell und arbeitstechnisch unzulänglich ausgestattet ist, und wenn die politischen Gremien der Selbstverwaltung — aus welchen Gründen auch immer — nicht bereit sind, noch so plausible Vorschläge und Argumentationen der Fachkompetenz anzuerkennen. Mögen sich auch sehr spektakuläre Negativbeispiele gerade i m Hinblick auf den Krankenhausbau anführen lassen; sie dürfen nicht ver10 Laux, E.: Management von Krankenhausbetrieben, i n : Wirtschaftliches Krankenhaus, Wibera-Fachschriften, Bd. 9, Düsseldorf 1977, S. 9—15.

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allgemeinert werden! Die öffentlichen kommunalen Verwaltungen waren bislang typischerweise fähig, den ihnen eingeräumten Freiraum für die Entfaltung und Verwirklichung eigener Vorstellungen innerhalb der gesetzen Normen zweckentsprechend zu nutzen. Daß allerdings infolge der knapper werdenden Finanzmittel die sozial- und gesundheitspolitische Auseinandersetzung um die jeweiligen Aufgabenziele härter geworden ist, und demzufolge sich auch für die öffentliche Verwaltung die Chancen erheblich verringert haben, optimale Projektierungen durchzusetzen, kann nicht verschwiegen werden. U m so größer ist die Verantwortung der politischen und administrativen Führung einer großstädtischen Selbstverwaltung, angefangen beim Oberbürgermeister über die weiteren politischen Wahlbeamten bis h i n zu den ehrenamtlichen Stadträten, dafür zu sorgen, daß der noch verbleibende Rest an Freiraum zur „positiven" Selbstentwicklung öffentlicher Aufgaben erhalten bleibt und nicht zwischen den Mahlsteinen von Kompetenzstreitigkeiten, parteipolitischen Querelen und persönlichen Animositäten zerrieben wird. Die sozialphilosophische Klage, der Mensch unserer Zeit sehe sich zunehmend nur noch einer „verwalteten Welt" ausgeliefert, belastet ohnehin schon als bedenkliche Ideologie über die Maßen das Verhältnis zwischen Bürger und Staat.

5. Exemplarischer Bereich Nahverkehr Von Gottfried Schmitz I. Zur Einordnung und Abgrenzung Was unter „Nahverkehr" nachfolgend für das Ziel dieser Darlegungen zu verstehen ist, bedarf zunächst — wenn auch nur stichwortartig — einer kurzen Erläuterung. Denn den Nahverkehr getrennt vom übrigen Verkehrsgeschehen zu behandeln, i h n aus vorhanden systembedingten Zusammenhängen herauszulösen, ist nicht unproblematisch, vor allem wenn man z.B. an den Verkehrsbereich denkt, der durch die Deutsche Bundesbahn abgedeckt wird. Es w i r d auch bei dem nicht einheitlichen Grundverständnis sicher auch nicht ausreichen, eine kurze Definition voranzustellen. Es soll deshalb eine Abgrenzung über eine Kurzbeschreibung der für unser Thema wichtigen charakteristischen Merkmale dieses Verkehrsbereichs versucht werden. Zunächst einmal soll nur der Personenverkehr Gegenstand der Betrachtung sein und die sonstigen Verkehrsleistungen (Transport von Gütern, Nachrichtenübermittlung u.a.) außer acht bleiben. Aber auch für Umfang und A r t des Personenverkehrs sind wechselnde Rahmenbedingungen zu beachten, die zuweilen einen erheblichen Einfluß auf die Anforderungen i m Personenverkehr haben. Dies gilt ζ. B. für wichtige Ausgangsgrößen, nämlich die Zahl, A r t und Länge der Wege und die benutzten Verkehrsmittel. So wurden nach einer Befragung zum Verkehrsverhalten i m Zeitraum 1975—77 ermittelt, daß 40°/o aller Wege Fußwege waren oder m i t dem Fahrrad zurückgelegt wurden. Dabei handelt es sich naturgemäß nur u m Wege über kürzere Entfernungen; d. h., 90 °/o der Fußwege und 64 % der Fahrradwege waren kürzer als 2 km. Fast 50 °/o aller Wege wurden m i t dem P K W zurückgelegt und davon waren wiederum etwa die Hälfte nur bis zu 5 k m weit. Interessant und nicht unwichtig für die zeitliche Verteilung des Verkehrsaufkommens ist das Ergebnis, daß die Zahl der Freizeitwege m i t 30 Ό/ο höher liegt als die Zahl der Wege von oder zum Arbeitsplatz mit 24'%. Dagegen ist die Zahl der „Versorgungswege" m i t rd. 2 7 % vergleichsweise hoch. Dieses Verkehrsverhalten der Bevölkerung ist nicht nur von Gewohnheiten und gesellschaftlichen Leitbildern, sondern auch von den wirtschaftlichen und finanziellen Rahmenbedingungen und mehr noch von der sog. A t t r a k t i v i t ä t der Verkehrsmittel i m Bei l Speyer 90

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reich des Individualverkehrs und des öffentlichen Personennahverkehrs abhängig. Eine weitere Einengung betrifft die Beschränkung auf den Personennahverkehr. Doch was ist nah? Fünf bis zehn Kilometer sind für einen Fußgänger (natürlich nicht für den engagierten Wanderer des Pfälzerwaldvereins, des Odenwaldclubs oder des Sauerländischen Gebirgsvereins) eine kaum zumutbare Entfernung, für den Radfahrer eine m i t t lere Strecke und für den Autofahrer eine sehr kurze Entfernung. Für den Bus i n der Innenstadt ist diese Entfernung anders zu bewerten als i m Überlandverkehr. Die mittlere Bewegungsgeschwindigkeit, und bei der Beschränkung auf die Fälle der Benutzung eines Fahrzeuges, die Reisegeschwindigkeit und nicht nur die reine Entfernung spielt die entscheidende Rolle. Was über eine dreiviertel bis eine Stunde regelmäßiger Reisezeit oder über 50 k m hinausgeht, dürfte i n der Regel nicht mehr unter Nahverkehr einzuordnen sein. Eine gewisse Hilfe bei der Abgrenzung leisten auch die Reisezwecke. Sicher geht es beim Nahverkehr vor allem, aber nicht nur um die tägliche Beförderung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte, u m den Einkauf, um den Schulbesuch, um die Beteiligung an Bildungs- und kulturellen Veranstaltungen, um die Tageserholung, um den Arztbesuch, u m die Erledigungen bei Verwaltungsbehörden u. ä. Die zunehmende „Verstädterung", die Ausbreitung der Siedlungstätigkeit, die Vergrößerung des Angebotes auf all diesen Gebieten, die neuen Stadtstrukturen haben zu einem stärkeren Auseinanderrücken der entsprechenden Funktionsbereiche geführt. So hat sich der Nahverkehr über eine Stadt, einen Kreis hinausentwickelt. Aus dem Stadtverkehr und dem Verkehr m i t den Nachbarorten wurde weithin, besonders i n Ballungsräumen, ein Regionalverkehr. Eine weitere Kennzeichnung des Nahverkehrs ist möglich durch die verwendeten Verkehrsmittel: Straßenbahnen (einschl. U-Bahnen und Hochbahnen), Linienbusse, nicht bundeseigene Eisenbahnen (z. B. OEG i m Raum Mannheim — Heidelberg oder die SWEG), sowie die S-Bahnen, Nahverkehrszüge der Deutschen Bundesbahn, gewisse Schifffahrtslinien und die Kraftdroschken bestimmen i m wesentlichen das äußere Erscheinungsbild des Personennahverkehrs, stehen i n teils lebhafter Konkurrenz zueinander und unter bestimmten Bedingungen auch i n Abhängigkeit voneinander, wobei sich die einzelnen Systeme i m Zeitablauf und i n den Verkehrsräumen ganz unterschiedlich entwickelt haben. Und schließlich handelt unser Thema vom sog. öffentlichen Personennahverkehr. Dieser dient jedermann, seine Verkehrsmittel müssen alle befördern, soweit sie es wollen. Seine Fahrpläne und Tarife müssen

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den öffentlichen Verkehrsinteressen entsprechen. Abgrenzungskriterium ist nicht die Eigentümerschaft des Verkehrsbetriebes, sondern die Tatsache der jedermann zugänglichen Verkehrsleistungen des Betriebes. Diese Feststellung ist deshalb nötig, weil es andere Formen von Nahverkehr gibt — i m Bereich des Individualverkehrs, i m Werksverkehr, bis h i n zur Pkw-Fahrgemeinschaft — die für die Konkurrenzlage des ÖPNV nicht irrelevant sind. M i t zum Erscheinungsbild des ÖPNV gehört aber auch die bunte Mischung, was die Trägerschaft dieser Verkehrsarten und Verkehrsmittel angeht. Wenn auch kein Zweifel daran besteht, daß die von diesen als Wirtschaftsunternehmen arbeitenden Betrieiben angebotenen Beförderungsleistungen wirtschaftliche Leistungen sind, für die ein Entgelt zu zahlen ist, so sehr bedarf diese Feststellung doch auch der Ergänzung. I m Verständnis der Bürger und Nutzer, aber auch der politisch Verantwortlichen, hat diese Ware oder Leistung doch — wenigstens teilweise — einen anderen Charakter angenommen. Für nicht wenige gehört eine attraktive und kostengünstige Verkehrsbedienung heute schon zu den Aufgaben der modernen öffentlichen Leistungsverwaltung i m Rahmen der Daseinsvorsorge des Staates. Dazu sollte man sich auch i n Erinnerung zurückrufen, daß viele Straßenbahnen und Eisenbahnen ursprünglich von privaten Unternehmen gegründet und betrieben wurden. „ I n dem Maße, i n dem diese Bahnen M i t t e l der zentralen, regionalen oder örtlichen Wirtschafts- und Strukturpolitik sowie einer entsprechenden Daseinsvorsorge wurden und i n dem sie soweit gemeinwirtschaftliche Erwartungen und Auflagen i n bedeutendem Umfange erfüllen mußten, zog sich das private Unternehmertum aus dieser verkelhrlichen Betätigung weitgehend zurück und trat die öffentliche Hand der verschiedenen Stufen an ihre Stelle." (Labs, Walter, a.a.O., S. 28 f.). Bei all diesen Elementen und bei ihren jeweiligen Rahmenbedingungen, die zur kurzen Kennzeichnung des ÖPNV herangezogen wurden, haben sich i n den letzten Jahrzehnten ζ. T. umwälzende Veränderungen vollzogen. Dies gilt vor allem für die Struktur der Nachfrage, die Mobilität, Mobilitätsbereitschaft oder Mobilitätsfähigkeit der Bevölkerung, die technischen Verkehrssysteme selbst, die Umgewichtungen bei den Verkehrszwecken, die Reichweite der Verkehrsbeziehungen, die neuen Verkehrsmittel, die veränderten wirtschaftlichen und verkehrspolitischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Konkurrenzsituation zu anderen Verkehrsmöglichkeiten oder die Ansprüche unserer Bevölkerung an die Qualität des Leistungsangebotes. Die Entwicklung von Opas Straßenbahn bis zur modernen U-Bahn oder S-Bahn i m regionalen Verkehrsverbund ist die eine Seite, und eine andere die vom expandierenden kommunalen Verkehrsunternehmen 11*

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zur defizitträchtigen, oft ungeliebten öffentlichen Einrichtung, die ihre Leistungen teilweise abbaut, um die Defizite nicht ins uferlose anwachsen zu lassen. I L Veränderte Rahmenbedingungen, neue Ziele, zusätzliche Instrumente Etwa i n der zweiten Hälfte der sechziger Jahre begann zunächst i n der Fachwelt, dann i n der breiten Öffentlichkeit ein Umdenkungsprozeß i n den verkehrspolitischen Vorstellungen und Prioritäten. Während vorher die Förderung des ungestüm wachsenden Individualverkehrs i m Vordergrund stand (die „autogerechte Stadt"!) wurde diese einseitige Förderungspolitik immer mehr i n Frage gestellt. A u f die Darstellung der Stationen dieser verkehrspolitischen Diskussion muß hier verzichtet werden. Sie begann m i t dem Sachverständigengutachten von 1964 über Vorschläge zu Lösungen der kommunalen Verkehrsprobleme und führte zu einem sich zunehmend verstärkenden sachlichen und finanziellen Engagement des Bundes, der Länder und der Kommunen i n Sachen Nahverkehr, ohne daß man heute schon überall i n Stadt und Land von einer befriedigenden Gesamtlösung der Struktur-, Organisations- und Finanzierungsprobleme i m Nahverkehr sprechen könnte. I n verschiedenen Verdichtungsräumen sind vorhandene U-Bahn- und SBahnsysteme erheblich ausgebaut worden, i n anderen wurden sie erst eingeführt, gleichzeitig bzw. i m Zusammenhang damit wurden dort neue Kooperationsformen wie Verkehrsverbünde verwirklicht und i n manchen Räumen kommt eine Neuordnung gerade erst i n Fluß, wie ζ. B. hier i m Rhein-Neckar-Raum. I m Gegensatz zu den Ballungsregionen ist man i n Flächenregionen generell über Modellversuche noch gar nicht hinausgekommen. Bezeichnend für den politischen Stellenwert des ÖPNV ist eine A n t wort der Bundesregierung zum Thema Öffentlicher Personennahverkehr auf eine Kleine Anfrage i m Bundestag vom 15.1. 81 (Drucksache 9/1273). Dort heißt es: „Die Bundesregierung mißt dem öffentlichen Personennahverkehr einen hohen Stellenwert zu . . . Der öffentliche Personennahverkehr muß weiter ausgebaut werden, denn er ist energiesparend, umweltfreundlich, hat hohe Verkehrssicherheit und geringen Raumbedarf. Er dient der Mobilitätssicherung, trägt zur verkehrlichen Entlastung der Ballungszentren bei und ist Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Für die Gemeinden i n und außerhalb von Ballungsräumen ist der öffentliche Personennahverkehr vor allem i m Berufsund Schülerverkehr unverzichtbar." Damit kommen w i r zu einem weiteren Problemkreis. Die mit der staatlichen Förderung des ÖPNV verfolgten Ziele sind nämlich nur

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z. T. verkehrspolitischer Natur. Dies ergibt sich ganz deutlich aus den Adjektiven i m vorgenannten Zitat. Das heißt, der ÖPNV w i r d zunehmend verstanden als Instrument der Stadt- und Regionalentwicklung, Raumordnung (Ordnung der Verdichtungsräume), Umweltpolitik, Energiepolitik und der Sozialpolitik. Es kann also nicht die Rede davon sein, daß der ÖPNV nur f ü r die 5 „ A " s da sei: Auszubildende, Ausländer, Arme, A l t e und Arbeitslose. Eine Betrachtung der verkehrsstatistischen Gesamtdaten führt zu folgendem Ergebnis: Von 1970 bis 1980 fiel der A n t e i l des öffentlichen Personennahverkehrs am gesamten Verkehrsaufkommen (beförderte Personen) von 23,0 °/o auf 20,5 °/o zurück, der Individualverkehr erhöhte seinen A n t e i l von 75,4 €/o auf 77,7 % , und auf den übrigen Personenverkehr (Taxi- und Mietwagenverkehr, Schienenpersonenfernverkehr usw.) entfielen 1,6 °/o bzw. 1,8 °/o. Angesichts dieser Datenentwicklung kann dem deklarierten Vorrang des ÖPNV gegenüber dem Individualverkehr nur Geltung verschafft werden durch eine fortlaufende Verbesserung des Leistungsangebotes. Denn bei der erreichten und immer noch zunehmenden Motorisierung (1965 rd. 9,7 Mio Pkw, 1971 rd. 15,5 Mio, 1980 23,2 Mio, 1985 etwa 26 Mio) w i r d die Zahl derer, die die freie Wahl unter den Verkehrsmitteln haben, immer größer. Die Attraktivitätssteigerung w i r d i m I n - und Ausland angegangen durch — verkehrsplanerische Maßnahmen (integrierte Nahverkehrskonzepte) für den Individualverkehr und den öffentlichen Personennahverkehr — Ausbau der Verkehrsinfrastruktur — Kooperation der Verkehrsträger (integriertes Leistungsangebot, abgestimmtes Verkehrsnetz, gemeinsamer Tarif, einheitlicher Fahrplan, Verkehrslastenausgleich), — Maßnahmen zur Umverteilung des Verkehrs durch planerisch-ordnungspolitische und betrieblich-technologische Maßnahmen, die räumlich und sektoral wirken. Dementsprechend haben sich die Planungs-, Investitions- und Verwaltungsaufgaben auf allen Ebenen erheblich intensiviert und erweitert. Man denke nur an die erforderlichen Untersuchungen und die m i t erheblichem Aufwand erstellten Planungskonzepte, die vorbereitenden und begleitenden wissenschaftlichen Forschungsarbeiten, an die von

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keinem zu übersehenden oft gigantischen Projekte, die zur Trennung der Verkehrsarten und Verkehrsebenen i n den Großstädten offenbar erforderlich sind, oder an die neuen Kooperationsgesellschaften und Verkehrsverbünde. I I I . Die wichtigsten Instrumente zur Bewältigung der modernen Nahverkehrsaufgaben Abgesehen von den verkehrspolitischen Programmen des Bundes und der Länder sowie der Spitzen-, Interessen- und sonstigen Verbände und unter Ausklammerung der m i t dem Verkehrsbetrieb selbst verbundenen Verwaltungsaufgaben liegen die Schwerpunkte der von den verschiedenen beteiligten öffentlichen Hände zu bewältigenden Aufgaben — i m Investitionsbereich, d. h. i n der Planung oder besser Plandurchsetzung, i n der Gewährung von Zuschüssen und i n der Durchführung der Baumaßnahmen, — i m Bereich der organisatorischen Neuordnung und — wenn bisher auch weniger spektakulär, auf rechtlichem Gebiet. Ohne daß die technischen und finanziellen Probleme und deren verwaltungsmäßige Bewältigung i m Bereich der Verkehrsinfrastruktur verkleinert oder die Kompetenzverlagerungen i n Teilbereichen, wie etwa die Verlagerung der Förderung des Schülerverkehrs auf die Kreise, unterschätzt werden sollen, als das schwierigste Problem erweist sich doch das der organisatorischen Neuordnung des ÖPNV, und zwar sowohl i n den Verdichtungsräumen wie i n den ländlichen Räumen. Hierbei geht es u m Übernahme neuer Aufgaben (bei bisher nur bedienten, nun aber i n die Verantwortung kommenden Gemeinden und Kreise) Aufgaben- und Kompetenzverlagerungen tionsgesellschaften) und

(Zweckverbände, Koopera-

die m i t der Aufgabenverlagerung verbundene Umschichtung der Finanzierungsverantwortung.

N u n ist die Zusammenarbeit der Verkehrsträger an sich kein neues Tätigkeitsfeld i m kommunalen Bereich. Schon seit Jahrzehnten werden unter Anpassung an die Fortentwicklung der Verflechtungsbeziehungen innerhalb der Städte und zwischen den Gemeinden aus unternehmerischer Einsicht oder aus kommunalpolitischer Weitsicht die verschiedensten Kooperationsformen der Verkehrsträger bis h i n zu Fusionen und Gemeinschaftsgründungen von regionalen Verkehrsbetrieben

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praktiziert. Dafür ließen sich zahlreiche Beispiele anführen (ζ. B. Bochum-Gelsenkirchener Straßenbahnen AG, Vestische Straßenbahnen GmbH, Westfälische Verkehrsgesellschaft m.b.H. m i t mehreren Regionalgesellschaften, Oberrheinische Eisenbahngesellschaft (OEG), Hamburger Hochbahn A G usw.). Auch enthält das Personenbeförderungsgesetz i n § 8 einen gewissen sanften Druck zur Zusammenarbeit der Verkehrsträger und gibt den Genehmigungsibehörden auf, wo nötig, auf eine bessere Zusammenarbeit hinzuwirken. So haben auch hier i n unserem südwestdeutschen Raum die Bundesländer m i t den verschiedensten M i t t e l n die Kooperation zu fördern gesucht. Typisch hierfür ist das Nahverkehrsprogramm des Landes Baden-Württemberg von 1976, das Nahverkehrsräume auf der Basis von Mittelbereichen abgrenzt und für diese Nahverkehrsräume Nahverkehrskommissionen einrichtet. Deren Aufgabe ist es, Nahverkehrsprogramme aufzustellen, die die Grundsätze für die Verbesserung und Neuordnung des ÖPNV nach diesem Programm konkretisieren sollen. Die Nahverkehrskommissionen w u r den grundsätzlich bei den Landratsämtern als unteren Verkehrsbehörden gebildet. I n ihnen sind regelmäßig vertreten das Regierungspräsidium, der Regionalverband, das Landratsamt, die Ober- und Mittelzentren, die Industrie- und Handelskammer und alle Nahverkehrsunternehmen des betreffenden Nahverkehrsraumes. Die Mittel und Möglichkeiten solcher Beratungsgremien sind naturgemäß beschränkt. Über ihren Wirkungsgrad soll hier auch gar nicht referiert werden. Es soll damit nur angedeutet werden, welche Koordinationsaufgaben m i t der Verwirklichung eines regionalen Konzeptes für die Neuorganisation oder die Verbesserung der Verkehrsbedienung i m ÖPNV verbunden sind. Vom Ausmaß und vom Wirkungsgrad her am weitesten entwickelt sind die Kooperationsformen des Nahverkehrs i n den Verdichtungsräumen. Nach dem Zustandekommen des Verkehrsverbundes i m Raum Hamburg i m Jahre 1965 ist diese Form enger Zusammenarbeit, die gelegentlich schon einer teilweisen Verschmelzung von Nahverkehrsunternehmen sehr nahekommt, intensiv weiterentwickelt worden. Die Unternehmen geben zwar i n einer solchen Organisation ihre rechtliche Selbständigkeit nicht auf, sie beschränken aber freiwillig ihre w i r t schaftliche Selbständigkeit, indem sie ihre Aufgaben z. T. auf den Verkehrsverbund übertragen, der nicht nur Marktforschung und Marktanalyse, sondern auch die Netz- und Linienplanung betreibt, den gemeinsamen Fahrplan und Tarif festlegt, die Einnahmen aufteilt und die Öffentlichkeitsarbeit besorgt. Solche Verkehrsverbünde gibt es inzwischen i n Frankfurt, Hannover, Hamburg, Rhein-Ruhr, Stuttgart und München. I n der Zunahme der Zahl der beförderten Personen, etwa zwischen 1 °/o und 6 Ό/ο allein von 1979 bis 1980/81, w i r d allgemein ein Be-

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leg für die Richtigkeit dieses Weges i n der Nahverkehrspolitik für die Verdichtungsräume gesehen. Und mangels einer sinnvollen Alternative lassen sich die verantwortlichen Kräfte auch nicht von den i n der Öffentlichkeit bekannten Defiziten abschrecken. So steigt die sog. Kostenunterdeckung des Nahverkehrs i n den Ballungsräumen von 1981 bis 1985 von 1505 Mio D M auf 2397 Mio DM. (Bundestagsdrucksache 9/1273) Z u diesem Kapitel sei auch noch eine orts- oder besser raumbezogene Ergänzung i m Hinblick auf die Koordinationsaufgabe erlaubt. Eine besondere Spezialität stellt nämlich die Neuordnung des öffentlichen Personennahverkehrs i n einem von Ländergrenzen durchschnittenen Raum dar. Hier i n unserem Rhein-Neckar-Raum lassen w i r uns auch nicht abschrecken, Zug u m Zug und Stück für Stück eine regionale Nahverkehrskonzeption zu verwirklichen. A u f der Basis einer regionalen Verkehrsuntersuchung und einer Wirtschaftlichkeitsuntersuchung für den öffentlichen Personennahverkehr w i r d hier ein grenzüberschreitendes Nahverkehrssystem entwickelt, das bereits Eingang i n die verbindlichen Regionalpläne gefunden hat und von den drei Ländern i m Grundsatz akzeptiert wurde und auch aktiv gefördert wird. Es wurde eine Nahverkehrsgemeinschaft gegründet, die einen Verkehrsverbund, der den typischen Problemen dieses Verdichtungsraumes und seiner Randzonen angepaßt ist, vorbereiten soll. Dieser Nahverkehrsgemeinschaft gehören sechs kommunale Verkehrsunternehmen und die Deutsche Bundesbahn sowie die Gebietskörperschaften der Kreisebene (elf), die drei Länder Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz sowie der Raumordnungsverband Rhein-Neckar an. Insgesamt handelt es sich also u m 23 Mitglieder. Über den Ausbau eines Regionalbahn/SBahn-Netzes der Deutschen Bundesbahn finden z. Z. Verhandlungen zwischen den Ländern und dem Bund statt. Innerhalb der Nahverkehrsgemeinschaft werden die technischen vertraglichen und finanziellen Konzepte für eine erste Verbundstufe erarbeitet. Eine regionalspezifische Konzeption für diesen Verdichtungsraum w i r d Elemente der herkömmlichen Verkehrsverbünde i n Verdichtungsräumen vereinen müssen m i t den konzeptionellen Ansätzen für eine Neuordnung des öffentlichen Personennahverkehrs i m ländlichen Raum, wie sie auch für Außenstehende sehr lehrreich i m sog. Hohenlohe-Modell, eines berühmt gewordenen Landkreises i n Baden-Württemberg, praktiziert werden. Zusammenfassend lassen sich die Merkmale der Entwicklung dieser öffentlichen Aufgabe etwa folgendermaßen charakterisieren: — Unter dem Druck der veränderten Rahmenbedingungen — Motorisierung, Änderung der Wohnstandortpräferenzen der Bevölkerung, Entwicklung neuer Stadtstrukturen, Kostenentwicklung — erfolgte

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eine Umorientierung der raumordnungs- und verkehrspolitischen Zielsetzungen i n bezug auf die Stellung und den Einsatz des öffentlichen, insbesondere des schienengebundenen, Nahverkehrs. — Neben verkehrspolitischen Zielsetzungen werden noch andere, insbesondere sozialpolitische und umweltschutzpolitische Ziele verfolgt, was gelegentlich m i t einer „Funktionsüberladung" dieser Aufgabe verbunden ist, die oft zu komplexen und schwer durchführbaren Lösungsvorschlägen führt. — Kennzeichnend ist darüber hinaus die Entwicklung von einer sektoralen Einzelaufgabe zu überörtlichen Verkehrssystemen, in denen die einzelnen Verkehrsmittel und Verkehrsträger unter Einordnung i n ein übergreifendes Konzept ihre relative Selbständigkeit verlieren und nunmehr teilweise „fremdgesteuert" werden. — Die Verschiebung der Interessenlagen und die komplexen Aufgabenstellungen haben auch eine teilweise Verlagerung der Finanzierungsverantwortung zur Folge. Diese Verlagerung geht sowohl i n vertikaler als auch i n horizontaler Richtung vor sich, teils „nach oben zum Staat" und teils „nach außen" auf andere Kommunen und kommunalen Verbände. — Gefordert w i r d deshalb eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Gemeinden, Kreisen und Verkehrsträgern i m Sinne einer regionalen Gemeinschaftsaufgabe. — Damit ist i n der Regel auch eine Auslagerung der Verwaltungsaufgaben auf gemeinschaftliche Institutionen verbunden. — Schwierigkeiten macht immer noch die nicht eindeutige „Verortung" der anstehenden Verwaltungsaufgaben. Dies ist die eigentliche Ursache für die Auseinandersetzungen um die Frage, auf welcher Ebene und von wem welche Zuständigkeiten und Verantwortungen übernommen werden sollen. Bezeichnend hierfür sind die Versuche des Bundesverkehrsministeriums, den Kreisen eine A r t Gesamtverantwortung für den öffentlichen Personennahverkehr zuzumuten oder den Ländern hoffnungslos unrentable Strecken der Deutschen Bundesbahn anzudienen, begleitet von der generellen Politik der Bundesbahn, sich i m Nahverkehr aus der Fläche zurückzuziehen und sich auf den Nahverkehr der Verdichtungsräume zu konzentrieren. Die Entwicklung dieser öffentlichen Aufgabe „öffentlicher Personennahverkehr" ist unter allen Aspekten noch i m Fluß. Der Mangel einer einheitlich verordneten Rezeptur hat mindestens die gute Seite, daß die direkt Betroffenen nach problemorientierten Lösungen suchen müssen. Und dies scheint nicht der falscheste Weg zur Lösung einer aktuellen öffentlichen Aufgabe zu sein.

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Literaturhinweise Konzept zur Verbesserung des öffentlichen Personennahverkehrs, Schriftenreihe des Bundesministers f ü r Verkehr, Heft 41, Hof/Saale 1971. — Zielsetzungen des Bundesministers für Verkehr f ü r die Unternehmenspolitik der Deutschen Bundesbahn u n d für den öffentlichen Personennahverkehr, Schriftenreihe, Herausgegeben v o m Bundesminister f ü r Verkehr, Heft 49, Bonn-Bad Godesberg 1975. — Vorschläge f ü r eine Neuordnung des organisatorischen Rahmens für den öffentlichen Personennahverkehr, Schriftenreihe, Herausgegeben v o m Bundesminister für Verkehr, Heft 53, Bonn-Bad Godesberg 1977. — Verband öffentlicher Verkehrsbetriebe VÖV, Vorrang für den öffentlichen Personennahverkehr — Wege und Ziele — K ö l n 1973. — Brockhoff, Caprasse, Durynek, Gutknecht, Layritz, Leopold, Lipps, Zipp: Kooperation i m öffentlichen Personennahverkehr. Hrsg. v. Gutknecht, R u dolf / Lehner, Friedrich / Mroß, Max, Düsseldorf 1973. — Rückzug der Schiene aus der Fläche, i n : Informationen zur Raumentwicklung, Hrsg. Bundesforschungsanstalt f ü r Landeskunde und Raumordnung, Bonn-Bad Godesberg, Heft 4/5 1976 m i t Beiträgen von Winter, Schmidt-Aßmann, Gauser, Sinz, Knop, Kraemer, Sudenfuß, K a n z l e r k i u n d Labs. — Labs, Walter: Personennahverkehr, Schriftenreihe Fortschrittliche Kommunalverwaltung, Hrsg. Dr. Rüdiger Göb, Band 23, K ö l n u n d B e r l i n 1971. — Winter, D.: Stellenwert der Verbände i m Rahmen der Bundesverkehrspolitik, i n : Verkehrsverbünde, Schriftenreihe der Deutschen Verkehrswissenschaftlichen Gesellschaft e.V., Reihe B, B d 51, Düsseldorf 1979. — Z u m Verlust verurteilt? Die wirtschaftlichen Grundlagen des öffentlichen Personennahverkehrs. Hrsg. v. Deutscher Industrie- und Handelstag, Bonn 1970. — Ausländische Erfahrungen m i t Möglichkeiten der räumlichen und sektoralen Umverteilung der städtischen Verkehrsauswertung von OECD-Fallstudien; bearbeitet von Manfred Droste, Forschungsprojekt BMBau, Schriftenreihe „Städtebauliche Forschung" des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen u n d Städtebau 03.063, Bonn 1978. — Grundsätze des Deutschen Landkreistages zum öffentlichen Personennahverkehr i n der Fläche, i n : der landkreis, Heft 12/1981, S. 709 f. — Oettle, K a r l : ökonomische Probleme des öffentlichen Verkehrs, Schriften zur V e r w a l t u n g u n d öffentlichen Wirtschaft, Bd. 28, Baden-Baden 1981. — Oettle, K a r l : Raum wirtschaftliche Aspekte einer Betriebswirtschaftslehre des Verkehrs, Veröffentlichungen der Akademie für Raumforschung und Landesplanung: Abhandlungen, Bd77, Hannover 1978. — Heinze, G. Wolfg a n g / H e r b s t , Detlef / Stühle, Ulrich: Verkehrsverhalten und verkehrsspezifische Ausstattungsniveaus i n ländlichen Räumen, Veröffentlichungen der Akademie für Raumforschung und Landesplanung: Abhandlungen, Bd78, Hannover 1980. — Haushaltsbefragung zum Personennahverkehr, i n : V e r kehrsnachrichten, Heft 4, Bonn 1982. — Verkehrsuntersuchung Rhein-Neckar, — Regionalverkehrsplan, Zusammenfassung —, durchgeführt i m A u f t r a g des Bundesverkehrsministeriumis und der Straßenbauverwaltungen Rheinland-Pfalz, Hessen, Baden-Württemberg von Κ . H. Schaechterle, Fritz, Pampel, G. Holdschuer, Neu-Ulm, H a m b u r g 1978. — Deutscher Bundestag, A n t w o r t der Bundesregierung auf die K l e i n e Anfrage der Abgeordneten Dr. Schulte, Seiters u. a. betr. öffentlicher Personennahverkehr, Drucksache 9/ 1273 v o m 15.1. 81. — Bekanntmachung des Ministeriums f ü r Wirtschaft, M i t telstand und Verkehr über das Programm zur Verbesserung des öffentlichen Personennahverkehrs i n Baden-Württemberg (Nahverkehrsprogramm) v o m 3. Dezember 1976, Gemeinsames Amtsblatt des Landes Baden-Württemberg, 1977, Nr. 7. — Bericht der Bundesregierung über die E n t w i c k l u n g der K o stenunterdeckung i m öffentlichen Personennahverkehr, Bundestagsdrucksache 9/1658 v o m 17.5.82.

III. Diskussion Bericht von Else Kirchhof und Wolfgang Schmidt-Streckenbach, Speyer Die allgemeine Aussprache stand unter der Leitung von Herrn Professor Dr. Dr. Klaus König, Speyer I. 1. Die Diskussion wurde von Herrn Hans Günther Dehe, Mainz, eröffnet, der i n Ergänzung zu den Vorträgen von Merten und Littmann nochmals das Problem der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte aufgriff. Er führte aus, daß es i n der Realität der Haushaltskonsolidierung sowohl gute als auch schlechte Beispiele gebe, eines der schlechten, nämlich das Problem des Verschiebens finanzieller Lasten von der staatlichen auf die kommunale Ebene, sei hier jedoch nicht genügend erwähnt worden. Beispielhaft führte er dazu die Krankenhauslasten an, obwohl nach dem Krankenhausfinanzierungsgesetz Ländersache, und daneben die Ausweitung der Schwerbeschädigtenfälle durch kulante Ausweiserstellung, wodurch die Einnahmenseite des öffentlichen Personennahverkehrs zusätzlich belastet werde (20 °/o der Benutzer seien schwerbeschädigt). Dieses Abwälzen finanzwirksamer Aufgaben auf die Gemeinden habe eine Überlastung des kommunalen Finanzausgleiches m i t der Maßgabe der Mittelreduzierung bei anderen staatlichen Verpflichtungen zur Folge. 2. Herr Professor Dr. Bert Rürup, Darmstadt, bejahte zunächst die These Duwendags von der Kapitalvergeudung, die seines Erachtens jedoch darin bestehe, daß bei wachsender Staatsverschuldung öffentliche Investitionen zurückgefahren werden, was gleichzeitig eine bedeutende Rücknahme der staatlichen Wachstumsimpulse und der Zukunftsvorsorge bedeute. Der Aussage Duwendags, die bisherigen 16 Konjunkturprogramme der Bundesregierung hätten keine Wirkung gezeigt, könne er sich nicht anschließen. Erfolglos seien diese Konjunkturprogramme nicht gewesen. Sie seien einerseits Reaktionen auf Finanzdefizite aufgrund von Steuerausfällen gewesen, waren sie darüber hinaus expansiv, seien die Beschäftigungszahlen i n der Tat aber gestiegen. Daher sei der Indi-

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kator „Arbeitslosenzahl" für die Erfolgsbemessung der Konjunkturpolitik nicht geeignet. Er stimme auch nicht der von Duwendag befürchteten Verschiebung der Schuldenlast auf künftige Generationen zu. Wenn der Staat seine Ausgaben aus Krediten finanziert, entziehe er stets zu diesem Zeitpunkt dem privaten Sektor Ressourcen. Es finde daher zwar eine zeitliche Lastverschidbung statt. Innerhalb einer geschlossenen Volkswirtschaft stünden sich aber stets Schuldner und Gläubiger gegenüber, so daß die zukünftigen Generationen m i t den Zinsen auch die Ansprüche auf die Zinsen erbten. Deshalb lebten w i r nach Maßgabe der internen Staatsverschuldung nicht auf Kosten unserer Kinder. 3. Herr Regierungsdirektor Günter Glienicke, Karlsruhe, stellte an alle vier Referenten des Vormittags die Frage, ob sie bei ihren Thesen von der Prämisse ausgegangen seien, die Bundesrepublik befinde sich z. Zt. i n einem Konjunktur tief oder ob w i r bereits an den Grenzen des Wachstums angelangt seien. 4. Herr Oberregierungsrat Rainer Holtschneider, Köln, bezog sich ebenfalls auf die Vorträge aller Referenten des Vormittags und führte aus, daß die gesamte Thematik die z. Zt. stattfindende fundamentale gesellschaftspolitische Auseinandersetzung zu diesem Bereich einschließe. Er müsse jedoch monieren, daß dazu alle Referenten eine konservative Meinung vorgetragen hätten. Insbesondere sei nicht reflektiert worden, welche Bevölkerungsgruppen letztendlich die geforderten Einschnitte i n die sozialpolitische Realität zu tragen hätten und welche gesellschaftlichen Folgekosten, ζ. B. i m Bereich der Psychiatrie, daraus entstünden. Er habe hier die Vermittlung der gesellschaftlich relevanten Gegenpositionen vermißt und diesen V o r w u r f müsse er an die Tagungsleitung richten. Herr Professor König griff als Diskussionsleiter diesen V o r w u r f auf und erwiderte, daß sich bei dieser staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung die Hochschule in der Darstellung ihrer verschiedenen Lehrmeinungen repräsentiere. Dem Plenum stehe es frei, hierzu k r i tisch Gegenpositionen zu beziehen. Er erbitte dazu aber eine sachliche, sich thematisch orientierende Replik. 5. Herr Dr. Ernst Pappermann, Köln, knüpfte an den Podiumsvortrag von Herrn Professor Jahn an und bezog sich beispielhaft auf die Bereiche Wirtschaftsförderung, K u l t u r p o l i t i k und internationale Partnerschaften. Er bemerkte, daß nach seinen Beobachtungen oft eine Automatik derart eintrete, daß, sobald eine Gemeinde eine Aufgabe i n diesen Bereichen gefunden habe und sie wahrnehme, die Landesregierung dem gesamten Bundesland flächendeckend diese „Segnung" be-

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scheren wolle. Damit trete bei den freiwilligen Aufgaben beinahe eine Fremdbestimmung der Gemeinden ein. Er sehe deshalb das Problem kritischer als Professor Jahn, dem er die Frage stelle, ob diese Beurteilung der Realität nicht gerechter werde. II. 1. Herr Prof. Dr. Hans-Joachim Jahn, Nürnberg, entgegnete, die von Pappermann angesprochenen Schwierigkeiten seien i h m bekannt, sie träten insbesondere beim Krankenhauswesen auf. Die Meinung einer vorherrschenden Fremdbestimmung der Gemeinden i n diesem Bereich könne er jedoch nicht teilen; eine personell gut ausgestattete Fachverwaltung könne sich hier auch gegenüber dem Fachministerium durchsetzen. 2. Herr Prof. Dr. Dieter Duwendag, Speyer, erwiderte zunächst die Ausführungen von Rürup m i t dem Hinweis, er plädiere für die Förderung privater Investitionen, weil deren arbeitsplatzschaffende Effekte i m Vergleich zu öffentlichen Investitionen höher zu veranschlagen seien. Auch zur Wirkungsbeobachtung der Konjunkturprogramme könne er einen sichtbaren Erfolg nicht feststellen, unbeschadet der Tatsache, daß die Beschäftigtenzahl — ζ. T. demographisch bedingt — gestiegen sei. Der ausschließliche Blick auf die Beschäftigtenzahl sei verfehlt, weil sich private Wachstumsschwäche nicht daran bemessen lasse. Auch sei ihm die von Rürup als Untermauerung seiner Thesen verwendete Saldenmechanik bekannt, er weise jedoch mit Nachdruck darauf hin, daß die „Zeitmaschine Staatsschuld" die Steuerpolitik der Zukunft mit der Folge programmiere, daß dadurch die Handlungsspielräume zukünftiger Regierungen eingeschränkt würden. Zur Frage von Glienicke führte er aus, konjunkturelle Phänomene hätten seinem Referat nicht zugrunde gelegen. Den Vorwurf Holtschneiders wies Duwendag entschieden zurück. Denn alle Referenten verträten hier eine Meinung, die das Resultat der Abwägung verschiedener Positionen und Informationen sei. So seien ζ. B. bei der Betrachtung des Problems der Arbeitslosigkeit sowohl die Berichte des wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften als auch die Analysen der Bundesbank herangezogen worden. Bei sich widersprechenden Ergebnissen neige er zu den Berechnungen der Bundesbank. Stimmten diese, dann sei die Gewinnkompression der Unternehmen i n den letzten Jahren der Grund für die Irivestitions- und Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft. Deshalb plädiere er für ein „Modernisierungsinvestitionsprogramm" i m Bereich der Unternehmen i m Sinne einer angebotsorientierten W i r t schaftspolitik.

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3. Herr Prof. Dr. Dr. Detlef Merten, Speyer, ergriff das Wort und dankte zunächst Dehe für seinen Beitrag über das Problem der Verschiebung finanzieller Lasten zwischen Bund, Ländern und Kommunen, den er i n seinem Referat aus Zeitgründen nicht berücksichtigen konnte. Glienicke entgegnete er, die Bundesrepublik sei seiner Meinung nach an die Grenzen sozialer Sicherung gelangt. So werde die jüngere Generation, die jetzt und künftig die Altersrenten finanzieren müsse, i m Jahre 2030 wegen des ungünstigen Bevölkerungsaufbaus die flexible Altersgrenze selbst wahrscheinlich nicht i n Anspruch nehmen können. Er warne deshalb nachdrücklich vor neuen Sozialleistungen, insbesondere aber vor sozialpolitischen Geschenken i n Wahljahren, da diese nicht zu finanzieren seien. Eine langfristige Konsolidierung sei wichtiger als kurzfristige Reformen. Er setze sich allerdings i n erster Linie für die Beschneidung unnötigen Wildwuchses und für die Abschaffung von Systemwidrigkeiten bei den staatlichen Sozialleistungen ein. 4. Als letzter Redner nahm Herr Prof. Dr. Hans Herbert v. Arnim, Speyer, zu den Beiträgen aus dem Plenum Stellung und antwortete Glienicke, seinem Referat hätten strukturelle, nicht aber konjunkturelle Überlegungen zugrunde gelegen. Erstere würden mit dem Nachlassen des Wachstums immer wichtiger. Zum Beitrag von Holtschneider führte er aus, daß es nach seinem Verständnis die Aufgabe der Gesellschaftswissenschaften sei, die sozioökonomische Entwicklung kritisch zu beobachten und analysieren. Die K r i t i k aber müsse von der jeweiligen gesellschaftlichen Situation ausgehen. Diese habe sich jedoch i n den letzten 15—20 Jahren bemerkenswert verändert und auch für die Sozialwissenschaften zu einem Lernprozeß geführt. Hier sei vor allem auf eine Veränderung i n den Objekten ihrer Wirkungsanalysen hinzuweisen. Sei man früher von der weitgehenden Machbarkeit staatlicher Entscheidungen ausgegangen, so hätten sich heute Grenzen gezeigt. Beispielhaft wies er auf die Ernüchterung hin, die der Planungseuphorie früherer Jahre gefolgt sei. Der Prozeß staatlicher Willensbildung trete daher verstärkt i n den Blickpunkt der Sozialwissenschaften, wobei neben „Staatsversagen" auch „Marktversagen" gleichermaßen Interesse gewinne. Sein Interesse gelte aber der Frage, ob es jenseits der Realität gruppenpluralistischer Auseinandersetzungen etwas Gemeinsames i m Sinne einer für die Gemeinschaft richtigen Lösung gebe? Angesichts der fortgeschrittenen Zeit verzichtet Herr Prof. Dr. Konrad Littmann auf seine Replik. König spricht den Referenten, Podiumsteilnehmern und Diskussionsrednern aus dem Plenum seinen Dank aus und schließt die Diskussion ab.

DRITTER T E I L

Personalpolitik als Teil der Verwaltungspolitik

I . Referate 1. Herausforderungen im Rückblick Neuaufbau und Wandel des öffentlichen Dienstes nach 1945 Von Rudolf Morsey

I. Von den Folgen der mehrfachen politischen Systemwechsel dieses Jahrhunderts blieb der Staatsdienst, dessen Angehörige die entsprechenden Umbrüche weder verursacht noch herbeigeführt hatten, nicht verschont 1 . Sie standen 1918 wie 1933 zur Verfügung der neuen Machthaber und trugen damit jeweils zur Durchsetzung bzw. Festigung ihrer Herrschaft bei 2 . Dafür wurden sie i m ersteren Falle belohnt — durch Verankerung der Institution des Berufsbeamtentums i n der Reichsverfassung von Weimar —, i m zweiten Falle, soweit sie nicht Anhänger der Hitler-Partei waren oder wurden, bestraft. Nach 1933 erfolgten einschneidende „Säuberungen" 3 und andere personal- und beamtenpolitische Weichenstellungen, aber keine wesentlichen strukturellen Änderungen i m und am Staatsdienst. Dessen Angehörige waren allerdings vom Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft — und das hieß: i n einem über das Reichsgebiet h i n zeitverschobenen Prozeß, der sich vom Spätherbst 1944 bis 1 Geringfügig überarbeitete u n d m i t Belegen, vor allem neuester L i t e r a tur, versehene Fassung meines Referats v o m 29. A p r i l 1982. 2 Vgl. zuletzt Mommsen, Hans: Beamtentum u n d Staat i n der Spätphase der Weimarer Republik, i n : Deutsche Verwaltungspraxis 32, 1981, S. 194 ff.; Morsey, Rudolf: Beamtenschaft u n d V e r w a l t u n g zwischen Republik und „neuem Staat", i n : Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, hrsg. von K a r l - D i e t r i c h Erdmann u n d Hagen Schulze. Düsseldorf 1981, S. 151 ff.; ders., Verfassungsfeinde i m öffentlichen Dienst der Weimarer Republik — ein a k tuelles Lehrstück?, i n : Politische Parteien u n d öffentlicher Dienst (Godesberger Taschenbücher, Bd. 19). Godesberg 1982. 3 Vgl. Majer, D i e m u t : „Fremdvölkische" i m D r i t t e n Reich. E i n Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtssetzung und Rechtspraxis i n V e r w a l t u n g u n d Justiz. Boppard 1981; Hasenkamp, Holger J.: Die Freie Hansestadt Bremen und das Reich 1928—1933! Bremen 1981, bes. S. 236 ff.; Dimpker, Heinrich: Die „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums". Nationalsozialistische Personalpolitik i n Lübeck. Jur. Diss. K i e l 1981.

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zum 8. M a i 1945 erstreckte — wie von vielfältigen Kriegseinwirkungen erheblich betroffen, personell und institutionell, muß ten jedoch auf Befehl der Siegermächte „bis auf weiteres" i n ihren Ämtern verbleiben. Die Feststellung, daß mit der Kapitulation des Reiches automatisch — wie das Bundesverfassungsgericht 1953 urteilte — alle „zum Deutschen Reich bestehenden" Beamtenverhältnisse erloschen seien 4 , war die nachträgliche juristische Konstruktion eines Sachverhalts, den die betroffenen Zeitgenossen ganz anders erlebt hatten 5 . Augenscheinlich erloschen waren zunächst nur die zentralen und regionalen staatlichen Verwaltungsorganisationen sowie die der Wehrmacht und der NSDAP m i t ihren zahllosen Gliederungen 6 . Die verbliebenen Zweige des öffentlichen Dienstes standen, wie das gesamte öffentliche Leben i m besetzten Deutschland i n dieser säkularen Ausnahmesituation, zur Disposition der Sieger. Deren jeweilige Militärregierungen waren, aus Eigeninteresse w i e zur Existenzsicherung der Bevölkerung, darauf angewiesen, über eine funktionierende Verwaltung verfügen zu können bzw. sie so rasch wie möglich wieder aufzubauen. Dem administrativen Wiederaufbau lag von Seiten der vier Mächte der Anti-Hitler-Koalition — wobei die deutschen Ostgebiete von vornherein aus der zunächst geplanten gemeinsamen Verwaltung des Reiches ausgegliedert blieben — keine einheitliche Zielsetzung zugrunde. Infolgedessen vollzog sich der Wieder- bzw. Neuaufbau des öffentlichen Dienstes i n „Potsdam-Deutschland" zunächst ausschließlich innerhalb der einzelnen Zonen, und dort nach jeweils unterschiedlichen Vorstellungen und i n unterschiedlichem Tempo. Darin eingeschlossen war eine 4 Entscheidung v o m 17. Dezember 1953; vgl. BVerfGE Bd. 3, S. 58 ff. Dazu vgl. Hatterihauer, Hans: Geschichte des Beamtentums. K ö l n 1980, S. 442: Von der Schuld des deutschen Staatsdienste unter der Herrschaft Hitlers sei „niemals vorher u n d danach so w ü r d i g u n d eindeutig die Rede gewesen" wie i n diesem Urteil, das die Entnazifizierung i n einem doppelten Sinne „erledigt" habe. 5 Die Rechtsordnung i n Deutschland zwischen Herbst 1944 u n d J u n i 1945 hat Michael Stolleis als „müitärisch kontrollierten Schwebezustand" bezeichnet, der „weder rechtlich geordnet noch anarchisch genannt werden k a n n " ; offenkundiges NS-Recht sei „selbstverständlich" von den Gerichten nicht mehr angewandt worden. Rechtsordnung u n d Justizpolitik 1945—1949, i n : Bericht über die 33. Versammlung deutscher Historiker i n Würzburg 26. bis 30. März 1980. Stuttgart 1982, S. 115. β Der Berliner Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung", Eduard Geilinger, der das Kriegsende i n B e r l i n erlebt hatte, beschrieb i n einem A r t i k e l „Der letzte A k t i n der Hauptstadt des D r i t t e n Reiches" (NZZ Nr. 935 vom 15. J u n i 1945) die Auflösung der Zentralverwaltung folgendermaßen: „ I m m e r zahlreicher w u r d e n die Auflösungserscheinungen [seit Ende A p r i l ] . I n den Höfen der Ministerien verbrannte man Aktenstöße. E i n Beamter nach dem anderen verschwand. Die öffentlichen Gebäude verwaisten. Die V e r w a l t u n g brach zusammen. Die Unordnung wuchs ins Groteske."

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unterschiedliche Weiterbeschäftigung des vorgefundenen bzw. die Wiedereinstellung des vom Militärdienst, aus Kriegsgefangenschaft oder Evakuierung zurückkehrenden Personals; die tradierten bürokratischen Strukturen und Verwaltungsabläufe blieben zunächst unverändert 7 . Das allerdings galt nicht für die von der Sowjetunion besetzten Gebiete. I n der SBZ erfolgte erstmals i n der deutschen Verwaltungsgeschichte ein radikaler Bruch m i t der Vergangenheit. Mitte September 1945 erklärte die Sowjetische Militäradministration das Deutsche Beamtengesetz von 1937 für aufgehoben. Damit wurde das Berufsbeamtentum als Strukturprinzip des öffentlichen Dienstes beseitigt 3 und i m Gefolge einer gezielten Ersetzung früherer NSDAP-Mitglieder durch Kommunisten (in den entscheidenden Funktionen) die Verwaltung erneut, nur unter anderem Vorzeichen, gleichgeschaltet 9 . Deren weitere Entwicklung ist nicht mehr mit derjenigen i n den drei Westzonen vergleichbar; sie muß hier außer Betracht bleiben 1 0 .

II. I n den drei Westzonen konnte die Verwaltung ihre Arbeit zunächst auf kommunaler und regionaler Ebene weiterführen bzw. nach kurzer Unterbrechung wieder aufnehmen. Voraussetzung dafür war ein personeller Wechsel vor allem i n den jeweiligen Spitzenstellungen. Dort erfolgte er meistens rasch und reibungslos, wobei vor allem die amerikanische Seite auf vorbereitete „Weiße Listen" m i t den Namen politisch unbelasteter Personen zurückgreifen konnte 1 1 . Angesichts millionenfacher Existenznot der Bevölkerung i n einer Trümmerwüste nie gekannten Ausmaßes und infolge des Fehlens übergeordneter (Zentral-) 7 Die erste Anordnung des bayerischen Ministerpräsidenten Fritz Schäffer vom 20. August 1945 über den „Dienstbetrieb der Behörden" begann m i t dem Hinweis, daß i n allen Angelegenheiten dieses Dienstbetriebs „einheitlich u n d ausschließlich nach den allgemeinen Verwaltungsrichtlinien" zu verfahren sei. Weiter sei „straffe Dienstzucht" Voraussetzung dafür, daß die „schweren Aufgaben der V e r w a l t u n g " gemeistert werden könnten; jeder unzulässige Eingriff i n die „einheitliche Ausrichtung u n d Lenkung" des Dienstbetriebs gefährde die E r f ü l l u n g der behördlichen Aufgaben. Druck: Bayerisches Gesetz- u n d Verordnungsblatt Nr. 3 v o m 25. Oktober 1945, S. 1 f. 8 So Benz, Wolf gang: Versuche zur Reform des öffentlichen Dienstes i n Deutschland 1945—1952. Deutsche Opposition gegen alliierte Initiativen, i n : Vierteljahrshef te für Zeitgeschichte 29, 1981, S. 219. 9 Vgl. Weber, Hermann: Kleine Geschichte der DDR. K ö l n 1980, S. 26 f. 10 Dazu vgl. Hattenhauer, Hans: Geschichte des Beamtentums, S. 428 ff. 11 Die reißerisch aufgemachte Darstellung von Wuermeling, Henric L.: Die weiße Liste. Umbruch der politischen K u l t u r i n Deutschland 1945. F r a n k f u r t 1981, ist i n jeder Hinsicht unergiebig.

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Behörden ergaben sich die vordringlichsten Aufgaben der zwangsläufig bürgernahen Orts- und Regionalverwaltungen von selbst 12 . Von einer Aufbruchstimmung konnte keine Rede sein. Die Verwaltung der Not i m Auftrag und als Erfüllungsgehilfe der Besatzungsmächte war eine ebenso undankbare wie schwierige Aufgabe unter extremen Bedingungen, zu denen auch die Sorge um das eigene existenzielle Überleben gehörte. Die Bewältigung der administrativen Aufgalben gelang dadurch, daß sich die Verwaltung konzentrierte und i n ihrem Selbstverständnis nicht (oder jedenfalls nicht entscheidend) getroffen fühlte. Eine Leistung sui generis w a r die Bewältigung des säkularen Problems, i n der Trümmerwüste auch noch Millionen von Vertriebenen und Flüchtlingen unterbringen zu müssen. Die Zwänge der Wiederaufbausituation überschatteten Überlegungen über mögliche oder notwendige Reformen oder strukturelle Änderungen des öffentlichen Dienstes. Für dessen Entnazifizierung gab es auf deutscher Seite keinerlei Konzept. Ohnedies hatten sich die Siegermächte die politische Säuberung vorbehalten, die i m Zusammenhang der Kollektivschuldthese als Kombination von Säuberung, Bestrafung und Umerziehung vor sich gehen sollte. Sie erfolgte i n den drei Westzonen m i t unterschiedlicher Zielsetzung, Intensität und Rigorosität, i n jeweils mehreren Schüben. Einstufungen i n verschiedenartige Kategorien von Belasteten (mit entsprechend gestufter Bestrafung) bis h i n zu formaler „Entlastung" geschahen teils schematisch — so wurde zunächst die gesamte höhere Ministerialbürokratie interniert —, teils entsprechend individueller Belastung. Deren Ermittlung beruhte weitgehend auf Selbstangaben der Betroffenen i n den berüchtigten von ihnen auszufüllenden Fragebogen, von denen der m i t Abstand ausführlichste und inquisitorischste derjenige war, den die amerikanische Militärregierung verwandte. Sie besaß und nutzte zudem eine ihr gebotene — bei der Konzeption dieser Fragebogen nicht vorhersehbare — Möglichkeit, die millionenfachen Einzelangaben zu überprüfen 1 3 . 12 Vgl. Hattenhauer, Hans: „ D i e V e r w a l t u n g beschränkte sich auf die O r ganisation der nächstliegenden Uberlebensmaßnahmen. Probleme, die gestern lebenswichtig erschienen sind, erledigten sich unter der Wucht des Z u sammenbruchs von selbst." Geschichte des Beamtentums. S. 423. 13 Beim Einmarsch i n München w a r den amerikanischen Truppen die voUständige Mitgliederkartei der N S D A P m i t ca. 8 M i l l i o n e n Eintragungen, plus Anträgen von ungefähr 2 M i l l i o n e n Anwärtern, i n die Hände gefallen. Vgl. den Bericht i n Nr. 1 der „Neuen Zeitung" (München) v o m 18. Oktober 1945, die am 25. Oktober Einzelheiten über die Entdeckung dieses kostbaren F u n des mitteilte, der offensichtlich bis dahin geheimgehalten worden war.

Herausforderungen i m Rückblick

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I m Z u g e der E n t n a z i f i z i e r u n g 1 4 e r f o l g t e n Massenentlassungen i n V e r w a l t u n g w i e Justiz, d e r e n A n g e h ö r i g e z u j e w e i l s ü b e r p r o p o r t i o n a l h o h e n A n t e i l e n , gemessen a n der P a r t e i z u g e h ö r i g k e i t der G e s a m t b e v ö l k e r u n g , M i t g l i e d e r oder F u n k t i o n ä r e der N S D A P gewesen w a r e n 1 5 . V i e l e v o n i h n e n w u r d e n — angesichts d e r daraus r e s u l t i e r e n d e n D e s o r g a n i s a t i o n u n d S t i l l e g u n g ganzer V e r w a l t u n g s z w e i g e — rasch w i e d e r e i n gestellt, z u e i n e m späteren Z e i t p u n k t aber e r n e u t p o l i t i s c h ü b e r p r ü f t u n d , j e nachdem, z u m z w e i t e n M a l auf k ü r z e r e o d e r l ä n g e r e D a u e r entlassen b z w . a n d e r w e i t i g b e s t r a f t . Insgesamt b l i e b e n j e d o c h n u r sehr w e n i g e e n d g ü l t i g draußen. A n d i e S t e l l e s u s p e n d i e r t e r oder entlassener B e a m t e r t r a t e n A n g e h ö r i g e a n d e r e r B e r u f e . Sie s t a n d e n i n g e n ü g e n d g r o ß e r A n z a h l , a l l e r d i n g s n i c h t m i t entsprechender Q u a l i f i k a t i o n , z u r V e r f ü g u n g 1 6 . A u ß e r d e m d r ä n g t e n B e a m t e aus d e n f r ü h e r e n B e r l i n e r Z e n t r a l i n s t a n z e n u n d der W e h r m a c h t s v e r w a l t u n g , aber auch d i e aus d e n deutschen Ostgeb i e t e n v e r t r i e b e n e n oder geflüchteten, i n n e u e T ä t i g k e i t . B e i l e t z t e r e n e r w i e s sich d i e p o l i t i s c h e Ü b e r p r ü f u n g zunächst als s c h w i e r i g , so daß der A n s c h e i n e n t s t a n d , a l s sei d e r A n t e i l entsprechend „ B e l a s t e t e r " w e sentlich g e r i n g e r als d e r j e n i g e d e r i n d e n W e s t z o n e n ansässigen B e amten17. 14 Dazu vgl. Niethammer, L u t z : Entnazifizierung i n Bayern, F r a n k f u r t 1972; Henke, Klaus-Dietmar: Politische Säuberung unter französischer Besatzung. Die Entnazifizierung i n Württemberg-Hohenzollern. Stuttgart 1981; Springorum, Ulrich: Entstehung und A u f b a u der V e r w a l t u n g i n RheinlandPfalz nach dem Zweiten Weltkrieg