Würde und Last der Arbeit: Beiträge zur neutestamentlichen Sozialethik 9783170309241, 9783170309258, 3170309242

Arbeit ist ein soziales Phänomen erster Güte. Wie arbeitende Menschen gesehen werden und sich selbst sehen, wie Arbeit b

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Würde und Last der Arbeit: Beiträge zur neutestamentlichen Sozialethik
 9783170309241, 9783170309258, 3170309242

Table of contents :
Deckblatt
Titelseite
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Arbeit – Praxis und Ethos. Eine Einführung in neutestamentliche Ansätze
1. Offene Fragen
2. Methodische Optionen
3. Thematische Spannweiten
4. Theologische Potentiale
5. Neutestamentliche Perspektiven
Literatur
Arbeit und Arbeiten. Begriffe und ihre Sinnfülle im Neuen Testament
1. Arbeiten im Neuen Testament und in seinem Umfeld. Eine begriffliche Annäherung
2. „Arbeiten“ im lukanischen Doppelwerk
3. Jesus, der Zimmermann. Arbeiten bei Markus und Matthäus
4. Das Werk Gottes und die Arbeit im Johannesevangelium
5. Paulus und seine Arbeiter im Herrn
6. Ertrag
Literatur
Arbeiten und Teilen – Überlegungen zum sozialen Handeln und zur solidarischen Versorgung im Neuen Testament
Einleitung
1. „Christus – ein Mann der Arbeit“? Kritische Rückfragen an die biblische Begründung der „Spiritualität der Arbeit“ in der Enzyklika „Laborem exercens“
2. Überblick über die Aussagen des Neuen Testaments zur Welt der Arbeit und zur solidarischen Praxis des Teilens
3. Das reformatorische Berufsethos und seine antimonastische Grundhaltung
4. Das neuzeitliche Arbeitsverständnis in Spannung zum tätigen Leben der Christenmenschen: Zur theologischen Würdigung der Arbeit als Parergon (Karl Barth)
Literatur
Prekäre Arbeitsverhältnisse Lohn und Lohnverzug im Alten Testament
1. Damit die Arbeit lohnt: Arbeit und Lohn
2. Abhängig beschäftigt – Die Geburt des Lohnarbeiters
3. Lohnarbeit und Arbeitslohn
4. Der ausbleibende Lohn
5. Würde ist nicht nur ein Konjunktiv – Ertrag
Literatur
Wie streng hielt man den Sabbat im Frühjudentum? Praktische Überlegungen zu einem theologischen Thema
1. Sozio-ökonomische Implikationen
2. Praktische Aspekte frühjüdischer Sabbatobservanz in Palästina
3. Überlegungen zu praktischen Aspekten frühjüdischer Sabbatobservanz in der Diaspora
4. Überlegungen zu praktischen Aspekten der frühchristlichen Sabbatobservanz
Literatur
Zur sozialen Wahrnehmung der Bestattungsarbeiter im kaiserzeitlichen und frühchristlichen Ägypten
1. Einführung
2. Fragestellung und Forschungsstand
3. Berufsbezeichnungen: παρασχίσται, ταριχευταί, ἐξωπυλῖται, ἀλλόφυλοι
4. Aus dem Archiv des thebanischen Choachyten Osoroeris
5. Zensusdeklaration einer Familie von νεκροτάφοι
6. Der Brief des Psenosiris
7. Die Geschichte des Patermuthios
8. Schluss
Literatur
Harte Arbeit? Arbeitsformen und Arbeitsbedingungen im römischen Imperium
1. Arbeitsformen
2. Rechtsgrundlagen
3. Arbeitsbedingungen
4. Fazit: Harte Arbeit?
Literatur
Jenseits der Arbeit. Mußestunden, Festfreuden und Humor Jesu
1. Thema
2. Erste Textbeobachtungen
3. Eingangsthesen
4. Begriffsdefinitionen
5. Der Rhythmus von Arbeit und Erholung bei Jesus
6. Festfreuden Jesu
7. Humor Jesu
8. Ergebnis
Literatur
Mittelbare Lebensgefahr. Die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit in Mk 3,1–6 parr.
1. Matthäus: Das eine Schaf als Lebensgrundlage
2. Markus: Die Heilung der Hand als Piqquach Nefesch
3. Lukas: Die wichtige rechte Hand
4. Heilung zur Arbeit
5. Ermöglichung von Arbeit und Wahrung des Schabbats
Literatur
Arbeit und Nächstenliebe. Der Durchbruch des Glaubens (Mk 2,1–12)
1. Arbeit in Mk 2,1–12
2. Der Text von Mk 2,1–12
3. Exegetische Basisdaten
4. Detailauslegung: Abschnitt-für-Abschnitt
5. Motivanalytische Vertiefung: Der Begriff „καρδία“ und seine Bedeutung in Mk 2,1–12
6. Analyse der Akteure – und ihres unterschiedlichen Verhaltens
7. Arbeit und Nächstenliebe
Literatur
Arbeiter im Weinberg. Der Beruf der Jünger Jesu
1. Einführung
2. Gleichnisse im Neuen Testament
3. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16)
4. Die Einladung an die Jünger
Literatur
Hören und Handeln Maria und Marta – lukanisch und johanneisch
1. Dienen vs. Hören? (Lk 10,38ff.)
2. Handeln und Sprechen (Joh 11)
3. Handeln in der Stille (Joh 12,1–8)
Fazit
Literatur
„Nichtsnutzige Sklaven“ – Zur Konzeptualisierung von Arbeit in den Gleichniserzählungen des lukanischen Sondergutes
1. Einleitung: Die Frage nach der erzählten Arbeitswelt des lukanischen Doppelwerkes
2. Figurenwelt, sozialer Aufstieg und die Frage nach einem Wandel in der Wertung von körperlicher Arbeit
3. „Nichtsnutzige Sklaven“ – Ansätze einer Unterscheidung von „höherer“ und „niederer Arbeit“
4. Fazit und Ausblick
Literatur
Arbeit am Weinstock. Joh 15,1–8 im Spiegel des antiken Weinbaus
1. Einleitung
2. Textbeobachtungen: Extratextuelle Verweise in Joh 15,1–8 auf die Arbeit des Winzers
3. Die Vielfalt der möglichen Verweise auf die Arbeit des Winzers in Joh 15,2
4. Die Relation von Joh 15,2 und Joh 15,6
5. Die Bedeutung der Reinigungsmetaphorik und der Bezug zum Fruchttragen
6. Exegetischer Ertrag und Schluss
Quellen
Literatur
Paulus der Arbeiter. Die Missionspraxis und der Lebensunterhalt des Völkerapostels
1. Das strategische Konzept
2. Merkmale guter Arbeit
3. Lebensunterhalt durch Arbeit
4. Das Recht des Apostels
5. Der Verzicht des Apostels
Literatur
Von der eigenen Hände Arbeit leben – Arbeitsethos in der paulinischen Tradition
1. Die Mahnung zur Arbeit und paulinisches Arbeitsethos im ersten Thessalonicherbrief
2. Die Rezeption des paulinischen Arbeitsethos in der Paulustradition
3. Ein Fazit
Literatur
Ora et labora in der Offenbarung des Johannes – Ein Kapitel neutestamentlicher Sozialethik
1. Einleitung: Thema, Forschungsstand, Methode
2. Historische und theologische Verortung der Offb
3. Semantische Felder „Ethik“ und „Arbeit“
4. Offb 18,1–24 – Vernichtung von Berufen und Arbeit
5. Fazit
Literatur
Autorinnen und Autoren
Register (Bibelstellen)

Citation preview

Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament Band 209

Herausgegeben von Walter Dietrich Ruth Scoralick Reinhard von Bendemann Marlis Gielen Heft 9 der elften Folge

Thomas Söding Peter Wick (Hrsg.)

Würde und Last der Arbeit Beiträge zur neutestamentlichen Sozialethik

Verlag W. Kohlhammer

NT Neues Testament an der Ruhr

1. Auflage 2017 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-030924-1 E-Book-Format: pdf: ISBN 978-3-17-030925-8 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ..........................................................................................................

7

Thomas Söding Arbeit – Praxis und Ethos Eine Einführung in neutestamentliche Ansätze ..............................................

9

Peter Wick Arbeit und Arbeiten. Begriffe und ihre Sinnfülle im Neuen Testament ..........................................

27

Traugott Jähnichen Arbeiten und Teilen. Überlegungen zum sozialen Handeln und zur solidarischen Versorgung im Neuen Testament ............................................

41

Christian Frevel Prekäre Arbeitsverhältnisse. Lohn und Lohnverzug im Alten Testament ...................................................

57

Markus Tiwald Wie streng hielt man den Sabbat im Frühjudentum? Praktische Überlegungen zu einem theologischen Thema ............................

73

Mareile Haase Zur sozialen Wahrnehmung der Bestattungsarbeiter im kaiserzeitlichen und frühchristlichen Ägypten ...............................................................................

83

Marcus Sigismund Harte Arbeit? Arbeitsformen und Arbeitsbedingungen im römischen Imperium ................ 105 Kurt Erlemann Jenseits der Arbeit. Mußestunden, Humor und Festfreuden Jesu ................................................... 121

6

Inhaltsverzeichnis

Steffen Leibold Mittelbare Lebensgefahr. Die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit in Mk 3,1–6 parr. ...................... 137 Alexander Weihs Arbeit und Nächstenliebe. Der Durchbruch des Glaubens (Mk 2,1–12) ................................................... 153 Esther Brünenberg-Bußwolder Arbeiter im Weinberg. Der Beruf der Jünger Jesu ............................................................................... 171 Philippe Van den Heede Hören und Handeln. Maria und Martha – lukanisch und johanneisch ............................................ 179 Reinhard von Bendemann „Nichtsnutzige Sklaven“. Zur Konzeptualisierung von Arbeit in Gleichniserzählungen des lukanischen Sondergutes ......................................................................... 193 Jan Heilmann Arbeit am Weinstock. Joh 15,1–8 im Spiegel des antiken Weinbaus ................................................ 209 Robert Vorholt Paulus der Arbeiter. Die Missionspraxis und der Lebensunterhalt des Völkerapostels .................. 225 Christian Münch Von der eigenen Hände Arbeit leben – Arbeitsethos in der paulinischen Tradition .................................................... 237 Beate Kowalski Ora et labora in der Offenbarung des Johannes. Ein Kapitel neutestamentlicher Sozialethik ................................................... 253 Autorinnen und Autoren ................................................................................. 273 Register (Bibelstellen) .................................................................................... 277

Vorwort

Arbeit ist Last und Würde. Wer keine Arbeit hat, wünscht sich oft eine gute Arbeit. Wer arbeitet, stöhnt nicht selten unter ihrer Last, sei es, weil die Bedingungen unmenschlich oder die Bezahlungen ungerecht sind, sei es, weil sie entfremdet, sei es auch, weil der eigene Arbeitsfleiß zu wünschen übrig lässt. Das Neue Testament öffnet die Augen für beide Seiten der Arbeit: für ihre Last und für ihre Würde (die sogar in ihrer Last bestehen kann, während die Arbeit in prekären Konstellationen der Würde der Menschen widersprechen kann). Nicht selten findet sich im Urchristentum die Forderung, tatkräftig zu arbeiten; nicht selten wird auch gewarnt, dass sich Menschen von ihrer Arbeit auffressen lassen oder ihren ganzen Lebenssinn auf Arbeit gründen. Entscheidend ist die theologische Perspektive. Die Durchblicke sind vielfältig. Es wird vom himmlischen Lohn und von der Mühe des Glaubens geschrieben, aber auch vom Geschenk der Muße und von der Größe der Verheißung, die durch keine Arbeitsleistung ermessen werden kann. Alltägliche Arbeit wird als solche ernstgenommen und kann im Abrackern für das Reich Gottes transzendiert werden. Aber Gnade ist ein Geschenk, das unverdient gemacht wird und gerade dadurch Energien freizusetzen vermag. Im Blick auf das Reich Gottes wird der Arbeitsalltag der Menschen aufgewertet, gerade weil es nicht als Ergebnis einer großen Arbeitsleistung verkündet wird, sondern als Ende aller Mühen, als Jenseits aller Arbeit, als Vollendung aller Gerechtigkeit. „Neues Testament an der Ruhr“ ist ein lockerer Arbeitsverbund von Exegetinnen und Exegeten im Umkreis des Ruhrgebiets, die nach Themen fragen, die „vor Ort“ relevant sind und nur in einer Pluralität von Problemstellungen, Methoden und Perspektiven diskutiert werden können. Nach dem Band über die „Stadt“ (BWANT 198) steht jetzt die „Arbeit“ im Mittelpunkt. Das Buch soll kein Kompendium der Sozialethik sein, sondern an signifikanten Beispielen aus den frühesten christlichen Gemeinden und ihrer Umwelt zeigen, wie Arbeit erfahren, dargestellt und gedeutet wird, im Licht eines Gottesglaubens, der nicht nur die Feste, sondern auch den Alltag der Welt beleuchtet. Es dient damit der biblischen Grundlegung einer Theologie der Arbeit. Der Band beginnt mit drei einführenden Beiträgen, von denen der erste den Problemstellungen im Grenzgebiet von neutestamentlicher Ethik und Sozialgeschichte gewidmet ist (Thomas Söding), der zweite das neutestamentliche Wortfeld exploriert (Peter Wick) und der dritte vom Neuen Testament aus charakteristische katholische und evangelische Rezeptionslinien nachzeichnet (Traugott Jähnichen). Es folgen vier Aufsätze, die den neutestamentlichen Befund kontextualisieren: erstens im Rückblick auf Arbeit und Lohn im Alten Testament (Christian Frevel), zweitens im Seitenblick auf das Sabbatverständnis und die Sabbatpraxis im Frühjudentum (Markus Tiwald), drittens im Ausblick auf den prekären Beruf der Bestattungsarbeiter in Ägypten (Mareile Haase) und viertens im Rundblick auf das römische Imperium und seine Arbeitsmoral (Marcus Sigismund).

8

Inhaltsverzeichnis

Sieben Artikel beleuchten signifikante Aspekte der Jesustradition in den Evangelien. Zu Beginn steht ein Überblick, der zeigt, dass Jesus in seinem Leben nicht nur Arbeit kann (Kurt Erlemann). Danach folgen Tiefbohrungen, die an bestimmten Texten und Themen das Forschungsfeld explorieren. Untersucht werden arbeitsethische Aspekte der Heilungsgeschichten: Die Heilung der verdorrten Hand (Mk 3,1–6 parr.) ermögliche lebenserhaltende Arbeit (Steffen Leibold); der Durchbruch durch das Dach des Hauses bei der Heilung des Gelähmten (Mk 2,1– 12) sei Arbeit im Dienst der Nächstenliebe (Alexander Weihs). Im Blick steht auch die Arbeit in der Nachfolge Jesu: Das Gleichnis der Arbeiter im Weinberg spiegelt den Beruf der Jünger (Esther Brünenberg-Bußwolder); Maria und Martha geben bei Lukas und Johannes unterschiedliche Bilder arbeitender Frauen (Philippe Van den Heede). Zwei Beiträge ergänzen das Spektrum: Die Gleichnisse des lukanischen Sondergutes irritieren die zu erwartende Affirmation fleißiger Arbeit (Reinhard von Bendemann); das johanneische Weinstockgleichnis (Joh 15,1–8) lässt sich besser verstehen, wenn Arbeitstechniken antiker Winzer im Blick stehen (Jan Heilmann). Zwei Beiträge beleuchten verschiedene Seiten des Corpus Paulinum. Einerseits stellt sich Paulus selbst mehrfach als Arbeiter vor (Robert Vorholt); andererseits entwickelt sich in der Paulustradition ein Arbeitsethos, das weit über das Neue Testament hinaus Spuren hinterlassen hat (Christian Münch). Den Abschluss bildet eine Darstellung der Johannesoffenbarung: Beten und Arbeiten gehören zusammen und haben in dieser Verbindung eine spezifische sozialethische Prägung (Beate Kowalski). Im Überblick zeigt sich, dass es im Neuen Testament keine einheitliche Arbeismoral gibt, aber vielfältige Ansätze und Formen, sowohl die Last als auch die Würde der Arbeit zu schätzen. Die Entwicklung dieser Perspektiven im Aufbruch der jesuanischen und christlichen Bewegung, ihre Verbindung mit den großen Themen des Reiches Gottes, der Sendung Jesu, der Heilshoffnungen und der Erfahrungen von Gottes Gegenwart ist für das Urchristentum in seinem historischen Kontext typisch und wirkt in der Geschichte des Christentums vielfältig nach, so dass die aktuelle Bedeutung neu entdeckt werden kann. Wir danken Daniel Klinkmann und Dr. Esther Brünenberg-Bußwolder für die redaktionelle Betreuung des Bandes; wir danken den Herausgeberinnen und Herausgebern der „Beiträge“ für die Aufnahme des Bandes in die Reihe und dem Verlag für die verlässliche Drucklegung. Bochum, im August 2016

Thomas Söding und Peter Wick

Arbeit – Praxis und Ethos. Eine Einführung in neutestamentliche Ansätze Thomas Söding

1.

Offene Fragen

„Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“ (2Thess 3,10), lautet ein forsches Urteil, das der Zweite Thessalonicherbrief im Namen des Apostels Paulus fällt, um ein hohes Arbeits-Ethos zu fördern.1 Der Autor führt sein Urteil aus, indem er einen Bezug zur Praxis herstellt: „Wir hören nämlich, dass einige von euch ungeordnet leben, weil sie nicht arbeiten, sondern alles Mögliche treiben. Denen gebieten wir und mahnen sie im Herrn Jesus Christus, dass sie in Ruhe arbeiten und ihr eigenes Brot essen“ (2Thess 3,11f.). Der aktuelle Bezug begrenzt die ethische Reichweite und fokussiert die theologische Perspektive der Arbeitsmaxime. Der Passus ist aber signifikant. Er kommt dem Ersten Thessalonicherbrief nahe (1Thess 4,11f.). Er reagiert auf Gen 3,19: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“, verbindet aber die Last der Arbeit, die das Leben jenseits von Eden kennzeichnet, mit der Würde der Arbeit, die durch die Hoffnung auf Vollendung nicht gemindert, sondern gesteigert wird. Die Sentenz hat eine Parallele in der jüdischen Weisheit (PsPhok 153f.)2 und findet ein Echo in der Didache (Did 12,3f.)3. Sie öffnet, von der Peripherie aus, einen Blick auf ethisch relevante Orientierungsprozesse, die im eschatologischen Horizont des Neuen Testaments notwendig werden, und zwar in den unterschiedlichen Situationen der Verkündigung Jesu, aber auch des Aufbruchs zur österlichen Mission. Unter der Adresse des Paulus wird im Neuen Testament nicht eine sozialdarwinistische Parole ausgegeben, sondern eine sozialethische Maxime aufgestellt. Sie muss in ihrem situativen, literarischen und theologischen Kontext konkretisiert werden: Was ist „Arbeit“? Was ist „Essen“? Wer will nicht arbeiten, wer soll dann nicht essen? Warum soll nur essen, wer arbeiten will? Gilt die Umkehrung: Wer arbeitet, soll auch essen – und zwar genug? Wer die Sentenz nicht aus dem Kontext löst, kann nach Alternativen und Grenzen suchen. Was ist mit den Kranken und den Schwachen, die wollen, aber nicht können und Hunger leiden? Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–20) ruft sie in Erinnerung. Was ist mit denen, die arbeiten können, aber nicht wollen und sich der Belehrung verweigern? Ist nicht das Gleichnis vom Guten Hirten (Mt 18,12ff. par. Lk 15,4–

1 2 3

Vgl. Hoppe, arbeiten, 92–103. „Sei tätig, damit du von deinem Eigenen leben kannst“; vgl. van der Horst, Pseudo-Phokylides. Vgl. Niederwimmer, Didache, 226f.

Thomas Söding

10

7) gerade an ihnen interessiert? Hat 2Thess 3,10 sie aus dem Blick verloren? Oder ist die Mahnung gerade ein Ausdruck der Suche nach denen, die verloren gehen? Der Vers ist ein Türöffner, um die Praxis und das Ethos der Arbeit im Neuen Testament4 genauer zu untersuchen. Die Artikel in den führenden Lexika konzentrieren sich auf die Lebensverhältnisse urchristlicher Protagonisten und die ethischen Aspekte des Themas, insbesondere die Aufforderung zur Arbeit im Sinne von 2Thess 3,10.5 Beides sind wichtige Ansätze. Aber die kulturellen, die anthropologischen und theologischen Dimensionen der Arbeit, ihrer Last und Würde, dürfen nicht im Schatten stehen. Was kann und soll Menschen, die glauben, ihre Arbeit – oder auch ihre Arbeitslosigkeit – bedeuten? Wie sollen sie ihre Arbeit gestalten? Wie sollen sie die Arbeit anderer wertschätzen und unterstützen? Welche Arbeitsbedingungen können und sollen sie vorfinden? Welche Arbeitsfelder eröffnen sich ihnen: in der Gesellschaft und in der Kirche? Welche Zukunft hat die Arbeit, wenn die Gottesherrschaft nahekommt? Wie steht es mit dem himmlischen Lohn für irdische Arbeit? Ohne die methodische Berücksichtigung der anthropologischen, soteriologischen, ekklesiologischen und eschatologischen Dimensionen erklärt sich weder die Sozialgeschichte noch die Sozialethik der Arbeit im Neuen Testament, so wie es umgekehrt keine neutestamentliche Theologie der Arbeit geben kann, die nicht mit historischen und soziologischen Methoden geerdet ist und ihre ethischen Konsequenzen transparent macht.6 Gelingt dies, sind allerdings sowohl die neutestamentliche Sozialethik und Sozialgeschichte als auch die neutestamentliche Theologie um eine wichtige Konkretion reicher.

2.

Methodische Optionen

Die Arbeitsthematik ist eine Domäne der sozialgeschichtlichen Exegese.7 Sie betrachtet die neutestamentlichen Schriften als Quellen, die Rückschlüsse auf die soziale Lage, die soziale Zusammensetzung und die soziale Aufgabe der Jesusbewegung und der frühesten christlichen Gemeinden erlauben. Insofern ist sie deskriptiv, im Gefolge der historisch-kritischen Exegese, methodisch verbündet mit der Judaistik und der Alten Geschichte, die seit langem auch sozialgeschichtliche Themen traktiert.8 In ihren detaillierten Beschreibungen hat sie jedoch eine ganze Reihe von Problemen erkannt, die nach wie vor hoch strittig sind: Wie arm waren 4 5 6 7

8

Vgl. Horsley, Economics; Longenecker/Liebengood, Economic Vgl. Schelkle, Arbeit, 622–624; Schottroff, Arbeit, 153f. In den Handbüchern diskutiert Schrage, Ethik, 238–244 am relativ genauesten das Thema. Methodologisch: Kee, Christian Origins; Blasi, Early Christianity; Rohrbaugh, Social Sciences; inhaltlich: Malherbe, Social Aspects; Meeks, Urban Christians; Theißen, Soziologie; Stambaugh/Balch, Umfeld; Stegemann/Stegemann Sozialgeschichte; Kee, Christianity; Pichler, Arbeitsethos; Dormeyer, Arbeit; Horsley, History of Christianity 5; Still/ Horrell, First Urban Christians; Zwickel, Leben und Arbeit; fokussiert: Fiensy/ Hawkins, Galilean Economy; Hermann-Otto, Reiche und Arme, 86–100. Pars pro toto: Alföldy, Sozialgeschichte.

Arbeit – Praxis und Ethos

11

Jesus und seine Jünger wirklich?9 Wie freiwillig war ihre Armut? Wie intensiv war Jesus an Themen der Arbeit und des Geldes interessiert? Wie verändert sich der jesuanische Ansatz im Laufe der Zeit und in den Weiten der Missionsräume von Judäa über Samarien bis in die ganze Ökumene (Apg 1,8)? Eine erste Grundsatzfrage stellt sich mit Blick auf die historische Relativität und die theologische Autorität des Neuen Testaments. Die Kontingenz der Bibel ist jenseits des Fundamentalismus unstrittig; die Autoritätsfrage ist aber brennend, und zwar einerseits kirchlich, weil die Glaubensgemeinschaft als Lesergemeinde aus der Bibel Orientierung sucht, andererseits akademisch, weil die normativen Erwartungen derart groß sind, gerade beim Neuen Testament, dass sie massiv die Wirkungsgeschichte beeinflussen, damit aber auch die Forschungsstandpunkte und –fragestellungen heute. Die Exegese muss entmythologisieren, aber auch fokussieren. Die historisch-kritische Exegese (in ihren zahlreichen Transformationen) ist essentiell am einzelnen Text interessiert; sie ist darin theologisch unhintergehbar, weil sie auf diese Weise die geschichtliche Referenz und Kontingenz, die Vielfalt und transformative Dynamik der Heiligen Schrift erschließt. Der canonical approach ist hingegen am facettenreichen Gesamtbild der Heiligen Schrift interessiert; er erlaubt es, ein ganzes Panorama an Bildern der Arbeitswelt zu rekonstruieren, die in den neutestamentlichen Schriften entworfen werden und nicht von vornherein auf einige wenige ethische essentials reduziert werden dürfen. Wie genau diese Bilder historische Realitäten widerspiegeln oder verändern wollen, ist in jedem Einzelfall zu untersuchen. Aber die kanonisch gewordenen Konzepte sind wirkungsgeschichtlich weit mächtiger geworden als die historischen Verhältnisse, die sie beschreiben oder verzeichnen, um sie zu reformieren oder zu stabilisieren. Sie können nur dann als Konstruktionen erkannt werden, wenn sie mit der sozialgeschichtlichen Forschung historisch-kritischer Provenienz konfrontiert werden; aber sie erweitern das Forschungsspektrum erheblich und lassen den theologischen Stellenwert historischer Phänomene aus der Relation mit den kanonisch gewordenen Texten differenzierter bestimmen. Wenn der canonical approach nicht einer Harmonisierung Tribut leistet, kann er so etwas wie eine schriftgemäße Theologie inspirieren. Die Arbeit ist ein bislang kaum beackertes Forschungsfeld für eine neutestamentliche Theologie der Arbeit und ihre sozialethische Dimension. Eine zweite Grundsatzfrage stellt sich mit Blick auf die verschiedenen Gattungen innerhalb des Neuen Testaments.10 Zum einen bietet die Erzählforschung die Möglichkeit, eine narrative Ethik und ein narratives Ethos zu beschreiben; gerade auf dem Feld der Arbeit kann diese Methode zu einem hohen Forschungsertrag führen, weil die Beschreibungen von (gerechten oder ungerechten, erfolgreichen oder vergeblichen) Arbeiten ebenso indirekte wie starke Ethos-Impulse aussenden können, indem sie das Sehen, das Urteilen und das Handeln trainieren. Zum anderen sind die direkten Appelle nicht nur ethisch, sondern auch soziologisch und theologisch relevant: Sie lassen Voraussetzungen und Plausibilitäten erkennen, die normativ gemeint sein können, aber (weder damals noch heute) nicht schon deshalb als Gebot Gottes zu gelten haben; von der Ethik aus können 9 10

Vgl. nur Schmeller, Brechungen; Tiwald, Wanderradikalismus. Vgl. Zimmermann/van der Watt in Kooperation mit Luther, Language; Volp, Metapher.

Thomas Söding

12

sie mehr oder weniger tiefe Einsichten in das Handeln Gottes, in das Bild des Menschen und in die Sendung der Kirche ermöglichen oder auch verstellen. Beim Thema Arbeit sind die zeitgeschichtlichen Bedingtheiten nicht nur offenkundig, sondern auch programmatisch: Die Weisungen wollen ja direkt Lebensverhältnisse und Lebenseinstellungen ändern. Desto schärfer stellt sich das Problem, wie eine beanspruchte Normativität zu verstehen und zu gewichten ist. In beiden Rücksichten stellt sich die Frage nach der Genese und der Geltung neutestamentlicher Ansätze eines Arbeitsethos, also sowohl nach religions-, sozial- und kulturgeschichtlichen Einordnungen als auch nach Kriterien sittlicher Urteilsbildung. Eine dritte Grundsatzfrage stellt sich mit Blick auf die exegetische Methodologie selbst. Das Problem entsteht an der Grenze zwischen Deskription und Präskription. Die genuine Intuition der sozialgeschichtlichen Exegese war und ist eine kirchen-, traditions- und theologiekritische. Insofern ist die programmatische Berufung darauf, nur deskriptiv vorgehen zu wollen, kritisch zu betrachten; meist lassen sich die Auspizien einer sozial sensiblen und engagierten Marktwirtschaft (früher oft eines Sozialismus mit menschlichen Antlitz) unschwer erkennen; die lutherische Berufsmoral (die eher ein Signnum der bürgerlichen Neuzeit ist) wird oft im Neuen Testament gefunden. Diese Voreinstellungen sind nicht zu vermeiden, müssen aber transparent werden, so wie umgekehrt normativ interessierte Studien ihre historische Bodenhaftung nicht verlieren dürfen. Darüber hinaus stellen sich schwierige Grundsatz- und Anwendungsprobleme. Zum einen muss der Status der historischen Recherchen bestimmt werden: Partizipiert das, was auf der Ereignisebene rekonstruiert werden kann, an der Normativität des Anfangs, die in kirchlichen Kontexten dem Neuen Testament oft unterstellt wird? Oder bestückt es nur das Wissensarchiv (und bisweilen das Kuriositätenkabinett) der Kulturgeschichte? Zum anderen fragt sich, ob die erkennbar normativ gemeinten Positionen – seien sie ethisch oder soteriologisch geeicht – ihrerseits ein sozialgeschichtliches Potential haben, weil sie Verhalten verändern und Institutionen reformieren wollen. Die Sozialgeschichte muss sich einer Sozialethik des Urchristentums öffnen, kann dann aber ekklesiologische und anthropologische Fragen nicht unberührt lassen – so wie umgekehrt die sozialen Fragen wesentliche Dimensionen der Theologie konkretisieren. Die Arbeit steht im Fokus, weil hier persönliches Engagement mit sozialer Struktur verbunden ist und lebensgeschichtlicher Alltag in Spannung zum gottesdienstlichen Fest steht.

3.

Thematische Spannweiten

Jesus bringt das Evangelium der Gottesherrschaft nach Galiläa (Mk 1,14f. par. Mt 4,17; vgl. Lk 4,18), aber auch nach Judäa und Jerusalem (Mk 11,1–11 parr.); von Israel aus – so die österliche Überlieferung (Mt 28,16–20 u.ä.) – geht es in die ganze Welt. Diese Dynamik bestimmt den Ansatz einer neutestamentlichen Soziologie und Theologie der Arbeit. Über sie kann nicht ohne das brennende Problem der Arbeitslosigkeit gesprochen werden, das ohne öffentliches Sozialsystem vor allem für Witwen und Waisen zu einer dramatischen Herausforderung wurde, die

Arbeit – Praxis und Ethos

13

nicht ohne die Solidarität derer im Gottesvolk zu meistern war, die etwas haben und besaßen, ohne es nur für sich zu verbrauchen (vgl. Apg 6,1–6). Während Johannes der Täufer sich auf den Jordan konzentriert und die Menschen, die er ruft, zu einer wenigstens symbolischen Unterbrechung ihres Alltags anleitet, weil der Weg in die Wüste das äußere Zeichen der inneren Umkehr ist, macht Jesus sich auf den Weg dorthin, wo die Menschen leben und arbeiten, fasten und beten, leiden und sterben.11 Deshalb spiegelt sich in den Evangelien ein weites Feld der Arbeitspraxis und des Arbeitsethos, das thematisch fokussiert werden muss. Die Dynamik der Mission wird nachösterlich nicht geringer, sondern eher noch größer. Es bleibt bei der Logik der Zuwendung, der Partizipation, der Konversion. Deshalb entsteht durch das Evangelium zwar die Kirche, aber keine Sekte, sondern mitten in der Welt ein Haus des Glaubens mit offenen Fenstern und Türen. Die Missionsarbeit greift in die Arbeitswelt des Imperiums ein; Fragen des Berufsethos, der Kompatibilität von Glaube und Arbeit, des Lohnes für alle Mühen und der Befreiung aus der Sklaverei entstehen mitten in den Dialogen über Glaube, Hoffnung und Liebe.

3.1

Die Berufswelt

Die Welt der Berufe wird durch die im Neuen Testament rekonstruierte Missionsbewegung nicht zerstört, sondern für das Evangelium aufgeschlossen und durch das Evangelium verändert. Jesus war Zimmermann oder Bauarbeiter, Petrus und Andreas, Jakobus und Johannes waren Fischer, Paulus war Zeltmacher. Maria Magdalena, Johanna, Salome und andere Frauen aus Galiläa, die Jesus laut Lk 8,1ff. nachgefolgt sind – waren sie Hausfrauen wie die Schwiegermutter des Petrus (Mk 1,29ff. parr.), die vom heimischen Herd ins Freie aufgebrochen sind, oder marginalisierte Existenzen, die sich in der Nachfolge Jesu selbst gefunden haben, oder unabhängige Frauen wie Lydia, die Unternehmerin aus Philippi (Apg 16,14f.), die durch ihre Großzügigkeit zu Jesus und zu sich selbst gefunden haben?12 Der „Schriftgelehrte“, der nach Mt 13,52 ein „Jünger des Himmelreiches“ geworden ist – ist er nur eine Metapher oder ein charakteristischer Nachfolge-Typ, vielleicht gar das alter ego des Evangelisten?13 Der Zöllner Levi (Mk 2,13ff.), der Zöllner Matthäus (Mt 9,9), der Oberzöllner Zachäus (Lk 19,1–10) – sind sie nur Imaginationen der Menschenfreundlichkeit oder Figuren der Zeitgeschichte Jesu? Der Synagogenvorsteher Jaïrus, der Jesus um die Gesundheit seiner Tochter bittet – ist er das Paradebeispiel einer missionarischen Erfolgsgeschichte, die zu Propagandazwecken erfunden worden ist, oder einer Anhängerschaft, die von Anfang an auch einige der Bessergestellten umfasst (Mk 5,21–34.35–43 parr.), so wie Paulus nach der Apostelgeschichte Synagogenvorsteher hat missionieren können (Apg 18,1– 17)?

11 12 13

Zur Signifikanz dieser Bewegung vgl. Söding, Verkündigung, 140–166. Vgl. (mit weitreichenden ekklesiologischen Postulaten) Schüssler-Fiorenza, Memory. Diskussion bei Luz, Matthäus, 363ff.

Thomas Söding

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Die Berufswelt im Umkreis Jesu bildet ein fruchtbares Problemfeld. Einerseits interessiert die Sozialgeschichte: Aus welcher Schicht stammen Jesus und die Seinen? Aus welcher Schicht stammen die Gegner und Skeptiker, die Desinteressierten und Aggressoren? Wie beeinflusst der status der Nachfolge ihre missionarischen Möglichkeiten, ihr Zusammenleben, ihre Hierarchien und Initiativen? Nach Joh 7,15 wird Jesus kritisiert, dass er nichts Gescheites gelernt habe, also zu den underdogs der judäischen Wissensgesellschaft zähle, die sich nicht herausnehmen dürften, mit Wahrheitsanspruch über göttliche Dinge zu sprechen. Nach allen Evangelien ist Jesus aber ein beschlagener Exeget, nach der synoptischen Tradition auch ein begnadeter und begehrter, wenngleich umstrittener Prediger in der Synagoge. Ähnlich die Apostel: Nach der Apostelgeschichte werden sie vom Hohen Rat als Ignoranten eingeschätzt (Apg 4,13), gewinnen aber durch freimütiges, schriftgemäßes, überzeugendes Reden Neid und Anerkennung. Nicht nur Paulus, auch Petrus wird bei Lukas zu einem Mann von Welt, der Gottes Wort polyglott verkündet. Werden hier Brüche zwischen historischen Fakten und literarischen Stilübungen sichtbar oder Spannungen, die aus der Geschichte hervorgehen? Zu diesem Pool von Forschungsfragen gehören auch die sozialen Kontakte Jesu: Von wem lässt er sich einladen? Mit wem diskutiert er? Für wen macht er sich stark? Welche sozialen Schranken überwindet er? Wo hält er Abstand? Die Größe dieses Fragenpools lässt sich aber erst dann ermessen, wenn auch die urchristliche Missionsgeschichte in den Blick gerät14: Männer und Frauen, Sklaven und Freie, Juden und Griechen haben nach Paulus durch die Taufe zur Einheit in Christus gefunden (Gal 3,26ff. vgl. 1Kor 12,13; Kol 3,11). Gab es bestimmte Berufe, selbstgewählt oder auferlegt, die eine Disposition für die Konversion haben begründen oder erschweren können?15 Hat der Eintritt in die Ekklesia berufliche Konsequenzen? Sind bestimmte Berufe Voraussetzungen für bestimmte Dienste? Verändert die Kirchenmitgliedschaft – was der Zweite Thessalonicherbrief signalisiert – die Einstellung zur beruflichen Arbeit? Eine Ekklesiologie des Neuen Testaments, die diese Fragen berührt, gewinnt an standing, auch wenn das Thema bislang kaum im Blick steht. Eine weitere Kaskade von Frage ergießt sich, wenn man die Arbeitswelt in der neutestamentlichen Metaphorik erforscht. Einerseits vergleicht Jesus sich selbst mit einem Arzt, der die Kranken heilt (Mk 2,17 parr.; vgl. Lk 4,23); nach der Matthäus- und ähnlich nach der Johannespassion lehnt er es jedoch ab, ein Heerführer zu sein, der himmlische Legionen kommandiert (Mt 26; vgl. Joh 18,36), und nach dem lukanischen Sondergut lehnt er es ab, ein Erbschlichter zu sein, obwohl er als moralische Autorität und juristische Instanz auf dem Finanzmarkt geschätzt worden zu sein scheint (Lk 12,13f.). Sein Beruf ist der eines Propheten, freilich nicht im Palast oder im Tempel, sondern auf der Straße, und eines Lehrers, freilich nicht an eine feste Schulform gebunden, sondern von Haus zu Haus und Synagoge zu Synagoge ziehend (Mk 1,39 parr.). Passt dieser Beruf zu einem Messias, den seine Jünger in ihm gesehen haben? War das Lehren überhaupt ein Beruf oder der Ausstieg aus einer Karriere? Dieselben Fragen stellen sich bei den Jüngern. Die Fischer vom See Genezareth sollen „Menschenfischer“ 14 15

Kulturgeschichtliche Zugänge öffnet Ebner, Stadt. Kegler/Eisen, Art. „Verfemte Berufe“.

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(Mk 1,18f parr.) werden, auch wenn das Wort einen schrägen Klang hat. Jesus nennt seine Jünger nach der Redenquelle „Arbeiter“ im Weinberg des Herrn (Mt 9,37f. par. Lk 10,2). Was steht dabei im Blick? Ihre Mühe? Ihr Lohn? Ihre Professionalität? Die Paulusbriefe schwenken in dieselbe Sprache der Arbeit ein, wenn sie die Dienste der Kirche beschreiben – bis an die Grenze der hauptberuflichen Tätigkeit in den Pastoralbriefen. Anderseits interessiert das Bild der Berufswelt, das die Evangelisten mit den Augen Jesu betrachten lassen. Seine Gleichnisse sind ein Panoptikum des Lebens in Palästina, das vom König bis zum Bettelmann reicht, von der Hausfrau bis zur Witwe, vom Bauern bis zum Unternehmer, vom Winzer bis zum Fischer, von der Bäckerin bis zur Näherin, vom Priester bis zum Rabbi, vom Richter bis zum Hirten, vom Arzt bis zum Tagelöhner, vom Sklavenhalter bis zum Großgrundbesitzer, vom Verwalter bis zum Türhüter. Wie werden die Männer- und die Frauenberufe in den Gleichnissen beschrieben und gesehen? Welche theologische Bedeutung haben die Berufsbilder der Gleichnisse? Wenn die Parabeln die Nähe der Gottesherrschaft dort aufweisen, wo die Menschen leben und arbeiten, lassen sie dann das Wirken Gottes auch in der Berufstätigkeit erkennen? Die anthropologischen und ethischen Konsequenzen wären weitreichend. Die Sozialgeschichte hilft, den Hintergrund der Gleichnisse zu erhellen; die Gleichnisse sind aber so farbig, dass sie ihrerseits von der Situation der Tagelöhner bis zur Logik der Banker und von der Macht der Könige bis zur Ohnmacht der Armen Facetten des Alltags und Festtags in Palästina widerspiegeln – weil sie das Licht des Evangeliums auf die Szenen richten. Antworten können nicht pauschal gegeben werden; sie liegen aber auf einem nicht zu schmalen Korridor, den die Suche der frühen Gemeinden nach einer Zukunft in der Welt und jenseits ihres Endes bildet. Auf der einen Seite gilt: In der Perspektive Jesu und der Apostel gibt es keine unreinen Berufe, die von der Mitgliedschaft in der Nachfolge oder der Kirche ausschließen. Auch Zöllnern und Soldaten (vgl. Mt 8,5–13 par. Lk 7,1–10) steht die Tür offen (vgl. Apg 10–11). Freilich können sie nicht weitermachen wie bisher, sondern müssen ihre Berufe nach den Prinzipien der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit ausüben; ein Vorbild ist Zachäus (Lk 19,1–10); die Standespredigt des Täufers nach Lk 3,12ff. zeigt beiden Berufsgruppen Möglichkeiten sozialverträglicher Professionalität. Dieser jesuanische Ansatz scheint weite Teile des Urchristentums stark beeindruckt zu haben, wenn man den neutestamentlichen Zeugnissen folgen darf. Die Götterpriester sind die einzigen, die sich durch einer Konversion nach einer neuen Arbeit umsehen müssten (vgl. Apg 14,11–18). Auf der anderen Seite werden, wie die Gleichnisse Jesu zeigen, männliche wie weibliche, herrschaftliche wie prekäre Arbeiten zu Orten, an denen die Nähe Gottes aufleuchten und erfahren werden kann. Ob es sich um Kochen und Backen, Hüten, Ackern und Winzern, um Fischen und Handwerkern handelt – jede dieser Tätigkeit ist nicht nur lebensnotwendig; sie kann auch zum Einfallstor des Glaubens werden, wenn mit den Augen Jesu die Nähe Gottes erkannt wird: Sie ist nicht von besonderen Tugenden, die bei der Arbeit geübt werden, abhängig, sondern mit der Arbeit als solcher gegeben, weil Gott sie nicht ins Abseits verbannt, sondern für seine Herrschaft öffnet, selbst riskante Finanztransaktionen nicht ausge-

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nommen. Auch hier wird eine Perspektive geöffnet, die später im Neuen Testament für Glaubenserfahrungen und Gewissensappelle geöffnet wird. Arbeit ist nicht Gottesdienst, sondern Weltdienst; als solcher hat sie einen theologischen Wert, weil sie zum Alltagsleben von Menschen gehört, die im Glück des Glaubens nicht abheben sollen, sondern Standfestigkeit und Zielstrebigkeit gewinnen sollen.

3.2

Die Arbeitsmoral

Schon im Paradies wurde gearbeitet, wenngleich ohne Mühe (Gen 1,28; 2,15). Außerhalb des Gartens Eden ist die Arbeit Auflage und Aufgabe, sie ist wichtig, überlebensnotwendig und kulturell prägend (Gen 3,17–19). Der Dekalog verbindet den Arbeitsauftrag mit dem Gebot der Sabbatruhe: „Sechs Tage sollst du arbeiten und all dein Werk tun. Aber der siebte Tag ist Sabbat für den Herrn“ (Ex 20,9f. par. Dtn 5,13f.; vgl. Ex 34,21).16 Damit ist eine Spur alttestamentlicher Arbeitsethik gelegt, die sich breit ins Neue Testament zieht. Wo führt sie hin? 2Thess 3,10 scheint eindeutig, ist aber nicht undialektisch. Eine erste Ebene bildet das Pathos des Nachfolgerufes. Das Berufungswort: „Kommt, mir nach!“ (Mk 1,18), zeigt, dass im Horizont der Basileia die Arbeit nicht einmal das halbe Leben ist. Es gibt Wichtigeres, als Fische zu fangen oder Netze zu flicken (Mk 1,16–20 parr.) – nicht weil die alltägliche Arbeit zu verachten wäre, sondern weil eine größere Arbeit wartet: die im Weinberg des Herrn (Mt 9,37f.; Lk 10,2) und auf den Feldern voller Korn, die zur Ernte reif sind (Joh 4,38). Dass die Jünger, von Jesus gerufen, in vorösterlicher Zeit nicht ihren Beruf an den Nagel gehängt, sondern ihre Berufsarbeit unterbrochen haben, um Zeit für die Verkündigung zu gewinnen, zeigen die Evangelien in facettenreicher Farbigkeit; erst nach Ostern verändert sich mit der Organisation der Juden- und Völkermission von Jerusalem aus die berufliche Situation der Apostel grundlegend. Ihnen wird, zufolge der Aussendungsrede (Mk 6,6b-13 parr.; Lk 10,1–14), die Verkündigung selbst zum Beruf, von dem sie leben sollen, angewiesen auf die Unterstützung derer, die sie zu Hörern des Wortes machen. Noch die Professionalisierung der Episkope und der Diakonie, die sich in den Pastoralbriefen abzuzeichnen beginnt, steht in der Fluchtlinie dieses Ansatzes, der bis heute fortwirkt.17 Der Apostel Paulus selbst bildet als Arbeiterpriester18 die Ausnahme von der Regel – und muss erklären (1Kor 9), dass er von seiner eigenen Hände Arbeit lebt, weshalb er mit hoher persönlicher Glaubwürdigkeit – direkt oder indirekt – zum Arbeitsfleiß 16

17 18

Vgl. Dohmen, Exodus, 120: „Arbeit und Ruhe werden nicht wie in der Antike – und besonders im Orient – zwischen Menschen, z.B. Herren und Sklaven, verteilt, sondern zwischen Arbeitstagen und Ruhetagen. Der … Schabbat … lässt die Arbeit in einem anderen Licht erscheinen. Wenn allen Ruhe abverlangt wird, dann ist auch die Arbeit … kein auf andere Menschen abzuschiebendes oder zu beseitigendes Übel, sondern eben etwas ‚Normales‘.“ Die andere Linie zum Umgang mit Wanderpropheten in der Didache zieht Löhr, Lohn, 187–206. Vgl. Vorholt, Paulus, 67–81.

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mahnen kann (vgl. 1Thess 4,11).19 Zu diskutieren bleibt viel: die Transformation der vorösterlichen in die nachösterliche Mission mit allen Arbeitsaufträgen, einschließlich der beruflichen Konsequenzen; die Konkretisierung des Glaubens wie der Nachfolge am Arbeitsplatz, sei es zu Hause oder in der Firma; die besonderen Probleme der Sklavinnen und Sklaven; die Stellung der Frauen innerhalb wie außerhalb des Hauses; der Stellenwert der Arbeit im Glaubens- und Gemeindeleben; die Bedeutung guter Arbeit für die Hoffnung auf Vollendung. Eine zweite Ebene bildet die Weisheitsrede Jesu, von der Mahnung vor der Sorge im täglichen Kampf ums Dasein (Mt 6,25–34 par. Lk 12,22–33) bis zur Bitte um das tägliche, das nötige Brot (Mt 6,11 par. Lk 11,3) und vom memento mori, das zu verdrängen den reichen Kornbauern mit seiner riesigen Scheune zum Narren macht (Lk 12,13–21), bis zur Beratung, das Geld am besten so anzulegen, dass es die meisten Zinsen bringt: im Himmelreich (Lk 16,9–13). Die Weisheitsrede richtet sich – auf der Ebene der Evangelien, wahrscheinlich aber auch auf der Ebene der Verkündigung Jesu selbst20 – nicht speziell an diejenigen, die berufen und bevollmächtigt sind, das Evangelium missionarisch zu verkünden, sondern auch an diejenigen, die vor Ort, im Haus, in der Familie, auf dem Marktplatz und bei der Arbeit den Glauben bezeugen, nicht zuletzt in ihrem Lebensstil. In dieser Weisheitsrede wird die Fixierung des Lebens auf Beruf und Arbeit, Familie und Kinder, Geld und Prestige aufgebrochen, damit Gott ganz neu ins Spiel des Lebens kommen kann; wenn das geschieht, öffnen sich neue Perspektiven auch im Arbeits-, Berufs- und Familienleben, in der Liebe zu Kindern, im Umgang mit Geld21, in der Freude an einem Ansehen, das in Gottes Augen Bestand hat. Welche Möglichkeiten entstehen, wie sie sich zur Umgebung verhalten, was sie an Veränderungen im Miteinander der Geschlechter und der Generationen, der Schichten und der Stämme bewirken, bleibt zu erforschen.22 Es bleibt auch zu prüfen, ob in der paulinischen23 und jakobeischen24 Weisheitsrede diese jesuanische Linie weiter ausgezogen oder umgebogen wird. Eine dritte Ebene bilden die Gleichnisse Jesu. Sie machen zwischen Faulheit und Gerissenheit, Übereifer und Schlamperei, Gewissenhaftigkeit und krimineller Energie viele verschiedene Arten und Weisen ansichtig, einen Beruf auszuüben, auszufüllen oder auszunutzen. Von häuslicher Gewalt gegen Sklavinnen und Sklaven ist ebenso die Rede wie von treuer Pflichterfüllung im Dienst am Nächsten (Mt 24,45–51 par. Lk 12,42–48), von professioneller Sorgfalt (Mt 13,47–50) ebenso wie von herzlicher Sorglosigkeit (Mk 4,26–29), von gütiger Patronage (Mt 20,1–16) ebenso wie von übler Revolte (Mk 12,1–12 parr.), von korrupter Justiz (Lk 18,1–8) ebenso wie von großzügigem Geldverleih (Lk 7,41ff.). Die Realistik der jesuanischen Parabeln lässt sich allenfalls mit der antiker Satiren vergleichen. 19

20 21 22 23 24

Einen gnadentheologischen Grund für den paulinischen Lohnverzicht, der durch den „Ruhm“ vor Gott kompensiert werde, erkennt Harnisch, Lohn, 25–43. Aber das erklärt noch nicht das Recht auf Lohn. Vgl. Ebner, Jesus. Vgl. Ebner, Gott und Geld. Der kulturgeschichtliche Ansatz von Meeks, World, verlangt sowohl eine historische Differenzierung als auch eine theologische Transzendierung. Vgl. Horrell, Solidarity. Vgl. Konradt, Jakobusbrief.

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Sie wirft ethische Fragen auf, die aber nicht in Schwarz-Weiß-Kontrasten beantwortet, sondern dialektisch gewendet werden. Einiges entspricht der Erwartung: Der Demütige kommt besser weg als der Übermütige (Lk 17,7–10), der Ausdauernde besser als der Augenblicksmensch (Mk 4,13–20 parr.), derjenige, der sich eines Besseren besinnt und anpackt, besser als derjenige, der leere Versprechungen macht (Mt 21,28–32). Aber anderes bringt zum Nachdenken: Der betrügerische Verwalter wird zum amoralischen Vorbild für die Kinder des Lichtes (Lk 16,1–8), der Spekulant schneidet besser ab als der Skrupulöse (Mt 25,14–30 par. Lk 19,11–27); Kinder, die spielen, geben eine bessere Orientierung als Erwachsene, die geschäftig sind (Mt 11,16–19 par. Lk 7,31–35). Die Parabeln werfen das Problem einer narrativen Ethik auf, das im Arbeits-Gebiet zu konkretisieren wäre. Durch ihre Kommunikationsmethode stellen sie vor die Frage, mit welchen ethischen Voreinstellungen zur Arbeit Jesus er bei seinen Hörerinnen und Hörern rechnet, welche Irritationen von ethischen Konventionen er inszeniert und welche alten oder neuen Standards er setzt. Die Apostelgeschichte und die Briefe haben die parabolische Ethik nicht weitergeführt. Aber auch sie arbeiten mit vorausgesetzter, irritierter und neu justierter Ethik. Eine vierte Ebene bildet die Arbeitsethik. Von Johannes dem Täufer wird – wenngleich nur durch Lukas – eine Standespredigt überliefert, die paradigmatisch für die prekären Berufe der Zöllner und Soldaten ethische Mindeststandards aufstellt (Lk 3,12ff.). Die Aufnahme dieser Regeln in das Evangelium zeigt, dass Lukas sie als gültig erachtet. Jesus selbst hat eine vergleichbare Standesethik der neutestamentlichen Überlieferung zufolge aber nicht vertreten – was nicht heißt, dass er sich von ihr distanziert oder desinteressiert abgewendet hätte. Sein Zugang ist der über die irdische Ungerechtigkeit und die himmlische Gerechtigkeit, die sich auf Erden auswirken soll, auch in der Arbeitswelt. Jesu Herz schlägt für die Armen, wie das der Propheten und der Weisheitslehrer Israels.25 Seine Option für die Armen bringt ihn zu seiner ökonomieethischen Position: Die effektive Caritas (Lk 10,25–37), der gerechte Mindestlohn (Mt 20,1–16), die zuverlässige Pflichterfüllung (Lk 16,11) stehen weit oben auf seiner moralischen Agenda. Die Seligpreisungen der Armen (Mt 5,3–12par. Lk 6,20–23), die bei Lukas mit Weherufen an die Adresse der Reichen kontrastiert werden (Lk 6,24ff.), reflektieren, fundieren und transzendieren eine Ethik der Solidarität, aber auch der Sympathie. Ob und wie dieses Ethos zu einer Arbeitsethik führt, verlangt genauere Forschung. Die Antwort wird oft nur indirekt zu erschließen sein: in den Frauen- und Männerrollen, die von Jesus besetzt werden, in den Voraussetzungen und Konsequenzen der Machttaten und der Gleichnisse, in den Tendenzen der Toraexegese. Explizite Ethik entwickeln hingegen die Briefe. Sie folgen der jesuanischen Option für die Armen; sie richten ein besonderes Augenmerk auf die Situationen von Sklavinnen und Sklaven26. In den Diskursen über Reinheit und Unreinheit, Götzenfleisch und Opferkult werden viele berufsspezifische Fragen berührt – und insofern moralisiert, als auch rituelle Fragen im Blick auf die Ethik diskutiert werden. Wie dies begründet wird und welche Konsequenzen sich für eine Ethik der

25 26

Vgl. Berges/Hoppe, Arm und Reich. Hintergrund: Hermann-Otto, Sklaverei.

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Arbeit ergeben, ist von großer Erklärungskraft, sowohl für das Ethos als auch die Ethik des Urchristentums. Eine fünfte Ebene bildet die Arbeitsruhe am Sabbat.27 Wie hat sie das Judentum zurzeit Jesu verstanden und gehalten? Welche Rolle spielen die schöpfungsund sozialethischen Begründungen der Tora? Wie ist die therapeutische Arbeit Jesu am Sabbat einzuordnen und auszudeuten? Welche Relevanz erhalten die Sabbatdispute, die alle Evangelien schärfen, in nachösterlicher Zeit? Wie werden die Arbeit im Lichte des Sabbats und der Sabbat im Lichte der Alltagsarbeit gesehen? Die judaistische Forschung hat neue Türen geöffnet; die neutestamentliche Exegese muss durch sie hindurchgehen. Auf allen Ebenen gibt es keine eindeutigen Antworten auf die Forschungsfragen. Auf allen zeigt sich aber das Gewicht des Themas, das oft unterschätzt wird. Wie bei den Berufswelten markieren die neutestamentlichen Texte einen Korridor, der breit genug für verschiedene Lebenssituationen und soziokulturelle Konstellationen ist, aber auch klar genug, um die Gottesoption zu ziehen Einerseits gibt es so etwas wie eine systemimmanente Logik, die aber implizit bleibt. Eine angefangene Arbeit soll beendet, sie soll sach- und fachgerecht bewerkstelligt werden. In der theozentrischen Perspektive des Evangeliums ist die Begründung für diese nachhaltige Konzentration nicht allein eine Überlebensstrategie oder eine Förderung des Wirtschaftskreislaufes, sondern eine Annahme der Arbeit als Arbeit, die nicht den Lebenssinn ausmacht, aber den Lebensunterhalt garantieren soll. Andererseits werden Arbeitsverhältnisse, Arbeitslöhne und Arbeitserfolge nach ethischen Grundsätzen bewertet. Im Vordergrund steht die Gerechtigkeit, individualwie sozialethisch, je im Horizont der Zeit. Dieser Maßstab ist charakteristisch, aber nicht spezifisch biblisch, sondern kompatibel mit der Moralphilosophie der Zeit. Der Bezug auf Gott und seine Gerechtigkeit hat eine doppelte Funktion: Er löst die Frage nach dem Wert des Lebens von der Herstellung gerechter Verhältnisse auf Erden und kann sie deshalb desto offener fordern und fördern; er zeigt die notwendige Begrenztheit allen menschlichen Strebens, ohne es zu denunzieren, und konzentriert es auf das, was möglich ist, ohne einem resignitativen Pragmatismus zu verfallen. In theologischer Perspektive wird die Begründung mit der Entlastung der Arbeit so verbunden, dass ihre soziale Dimension in den Vordergrund tritt, sowohl als Ort der Gottes- und Selbsterfahrung wie auch des Dienstes am Nächsten.

4.

Theologische Potentiale

Die Einsichten in sozialgeschichtliche Dynamiken auf dem Feld der Arbeit forcieren die Frage nach den theologischen Erkenntnispotentialen. Sie müssen die besonderen Bedingungen neutestamentlicher Ethik berücksichtigen. In der Perspektive der Reich-Gottes-Verkündigung wie der Auferstehungshoffnung und im

27

Vgl. Müllner/Dschulnigg, Feste, 11–14.67–73.

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Zuge der urchristlichen Missionsbewegung, der vor- wie der nachösterlichen, öffnen sich die Zusammenhänge, in denen alttestamentlich die Sozialethik entwickelt ist.28 Dort ist auf der Ebene der kanonischen Texte die Einheit des Volkes, des Landes und des Gesetzes im Zeichen des einen Gottes prägend geworden. Aus neutestamentlichem Blickwinkel wird jedoch prägend, was in der Tora, den Propheten und den Schriften angelegt ist: Gottes Volk wird aus allen Völkern zusammengerufen; Gottes Land ist die ganze Erde; und Gottes Gesetz ist sein lebendiges Wort, das mit Jesus Christus identifiziert wird. In diesen Horizonten ergibt sich die Notwendigkeit einer Neudimensionierung der Ethik. Sie kann nicht bei einem von Gott als Einheit gestifteten Volk ansetzen und sich dann für Fremde öffnen, sondern muss sich auf die Gläubigen beziehen, die fremd in der Welt sind (vgl. 1Petr 1,1) und genau diese Welt für das Evangelium gewinnen sollen, indem sie das Licht des Evangeliums leuchten lassen. Sie kann nicht auf die Verhältnisse eines kleinen Landes bezogen bleiben, sondern muss sich der weiten Welt öffnen und sich deshalb auf viele Lebensstile und -kulturen einlassen, auf unterschiedliche politische Systeme und Produktionsbedingungen. Sie kann nicht mit der prinzipiellen Akzeptanz eines Gesetzes rechnen, das dem Willen Gottes entspricht, sondern muss den Glauben, dass Gott sein Wort sagt, um Menschenleben zu retten, allererst verbreiten und sich dabei mit konkurrierenden Vorstellungen auseinandersetzen, die nicht nur irritieren, sondern auch inspirieren können und deshalb nicht nur kritisiert, sondern auch transformiert und integriert werden können. Unter dieser Rücksicht ist es nicht unproblematisch, dass in der christlichen Sozialethik oft ein hermeneutischer Primat des Alten Testaments gilt und das Neue Testament nur eine Nebenrolle spielt. Die grundlegende Bedeutung der Bibel Israels für Jesus und die urchristlichen Gemeinden steht außer jedem historischen und theologischen Zweifel. Desto freier kann aber die theologische Debatte die revolutionären Neuerungen reflektieren, die in die Richtung einer Internationalisierung, Globalisierung und Personalisierung drängen. Erstens Universalität und Konkretion: Arbeit ist ein interkulturelles, internationales, intersoziales Phänomen; sie kann nie nur besprochen, sie muss immer getan werden. Deshalb sind sowohl die prinzipielle Universalität wie auch die paradigmatische Konkretion konsequent. Viele der überlieferten Modelle, Weisungen, Bilder, Erzählungen, Gebete bringen Fragen der Arbeit so zur Sprache, dass sie an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Berufen und in verschiedenen Situationen Orientierung zu geben vermögen. Der Monotheismus ist die kulturelle Voraussetzung der Universalität, ob philosophisch mit dem Argument des Logos oder theologisch (zudem) mit der Schöpfung, der Geschichte und der Vollendung. Zweitens Radikalität und Realistik: Für die Jesustradition und das gesamte Urchristentum ist – jedenfalls in den kanonisierten Texten – die Entschiedenheit für Gott, seine Herrschaft, seinen Sohn, seinen Geist, kennzeichnend. Daraus folgt eine radikale Entschiedenheit, Gottes- und Nächstenliebe zu verbinden. Die Arbeit bleibt davon nicht unberührt. Der Verdacht einer sukzessiven Verbürgerlichung steht im Raum; er wird durch den Gegenverdacht eines Verbalradikalismus 28

Vgl. Söding, Sozialethik, 146–188.

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nicht schon ausgeräumt, verlangt aber eine Bearbeitung sine ira et studio. Ist der angeblich genuin jesuanische „Wanderradikalismus“ tatsächlich in einen paulinisch orchestrierten „Liebespatriarchalismus“ umgebrochen worden29, oder sind die Verhältnisse nicht vor- wie nachösterlich sehr viel differenzierter gewesen, so dass immer missionarisches Reisen und stabilitas loci, Armut und Reichtum, Erwerbsarbeit und Verkündigungsarbeit in ein – jeweils zeit- und situationstypisches – Miteinander gebracht worden sind?30 Eine wichtige Aufgabe ist es, Lebensformen der Nachfolge und des Glaubenslebens zu unterscheiden; die Texte sind wie die Forschung an herausragenden Einzelpersönlichkeiten, an spektakulären Wenden und extremen Entscheidungen interessiert; aber die leisen Töne, die weisen Ratschläge, die vernünftigen Erwägungen werden im Neuen Testament nicht verachtet, weder in den Evangelien und der Apostelgeschichte noch in den Briefen. Der Realismus der Arbeitsethik ist genauso theologisch begründet wie die Radikalität, mit der Arbeit nicht mehr und nicht weniger als Arbeit ist. Drittens Gnade und Leistung: Weil die Biblische Theologie die Arbeit ideologisch entlastet, so dass sie nach den Prinzipien ethischer Ökonomie zu beurteilen ist, stellt sich die Frage nach ihrer theologischen Bedeutung. Die Debatte steht im Schatten der These von Max Weber, es gebe eine direkte Verbindung zwischen dem Protestantismus und dem Geist des Kapitalismus, weil Luther aufgrund seiner Gnadentheologie alle Berufe auf- und gleichgewertet habe und Calvin so verstanden worden sei, dass wirtschaftlicher Erfolg ein Hinweis auf Erwählung sei.31 Diese These ist aus Eindrücken der Moderne gewonnen, besonders in den USA. Sie hat allerdings zu starken Reaktionen der Exegese geführt, die nach den neutestamentlichen Ansätzen einer solchen Arbeitsethik gefragt und sie als Weichenstellungen gedeutet hat. Das Ergebnis sind regelmäßig starke Projektionen, die nicht erklären können, weshalb sich in anderen Konfessionen auf derselben biblischen Basis andere Traditionen und Mentalitäten herausgebildet haben. Hinter der Debatte steckt jedoch ein tieferes Problem, weil in der Reformation die Rechtfertigungslehre als Kritik religiösen Leistungsdenkens aktualisiert worden ist; obwohl die biblischen, speziell die paulinischen Parameter damit stark verschoben worden sind, hat dieser Ansatz dazu beigetragen, dass das Leistungsdenken überhaupt – auch in der Exegese – in Misskredit geraten ist, zumal in der modernen Banalisierung der Gnadentheologie, der Mensch brauche nichts zu seiner Rechtfertigung zu tun, während es im Protestantismus ursprünglich darum geht, dass er nichts zu seiner Rechtfertigung tun könne. Freilich zeigt der Blick auf das Phänomen, auf die Ethik und auf die Theologie der Arbeit im Neuen Testament, dass eine theologische Herabsetzung menschlicher Arbeitsleistung ohne Anhalt an den Texten ist. Sicher gibt es nicht nur Erwerbsarbeit, sondern auch Missionsarbeit, die von Beckmessern als Faulheit eingestuft worden ist (so wie sich die Juden wegen der Sabbatruhe dieses Vorwurfs in der Antike zu erwehren hatten, Faulpelze zu sein); gewiss wird auch der Wert des Lebens nicht an der Arbeitsleistung festgemacht. Aber die Gnade, biblisch verstanden, schaltet menschliche Freiheit nicht aus, sondern ein. Gott wirkt an dem Menschen nicht ohne sie, sondern mit 29 30 31

So die einflussreiche These von Theißen, Soziologie. Vgl. Söding, Auf leisen Sohlen, 45–68. Weber, Ethik.

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ihnen. Gnade ist nicht Willkür, sondern himmlische Gerechtigkeit. Deshalb ist von Arbeit und Mühe, von Lohn und Bezahlung vergleichsweise oft die Rede, wo die Heilshoffnung angesprochen wird, und zwar sowohl in den Evangelien als auch in den Briefen des Neuen Testaments. Der theologische Grund besteht darin, dass die Erlösung nicht jenseits der Gerechtigkeit, sondern in ihrer göttlichen Vollendung geschieht und dass die Zukunftshoffnung das gegenwärtige Leben nicht marginalisiert, sondern transzendiert. In dieser eschatologischen Perspektive, die bereits die Gegenwart erfasst, wird die Arbeit also nicht nur entzaubert, sondern aufgewertet: als eine personale und soziale Aktivität, die den Prinzipien der Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit folgen muss und darin mit Gott verbinden kann.

5.

Neutestamentliche Perspektiven

Die neutestamentliche Exegese hat, wenn sie sich dem Thema Arbeit widmet, nicht nur große Probleme zu lösen, sondern auch große Möglichkeiten zu nutzen. Eine erste Möglichkeit besteht darin, in der interdisziplinären Zusammenarbeit mit der Judaistik, der Alten Geschichte und der historischen Soziologie die Arbeitsbedingungen und -verhältnisse zu recherchieren, die im Palästina der Zeit Jesu und in den urchristlichen Missionsgebieten herrschten, im Umfeld des sich entwickelnden Christentums, aber auch für die Mitglieder der christlichen Gemeinden selbst. Diese Forschung erlaubt Aussagen über die soziale Zusammensetzung der Jesusbewegung und der frühen Kirche; sie hat aber auch selbst einen ethischen Wert, weil sie den Alltagsbedingungen der Menschen Aufmerksamkeit schenkt, die sich für Jesus entschieden haben. Je facettenreicher das Bild wird, desto näher ist es an der Realität. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, den theologischen Stellenwert von Arbeit und Arbeitslosigkeit zu bestimmen. Hier sind die neutestamentlichen Texte selbst auf ihre impliziten und expliziten Wertungen und deren Begründungen hin zu befragen. Arbeit ist theologisch wichtig, weil sie gesellschaftlich und familiär, personal und sozial wichtig ist. Arbeit ist Mühe und Anstrengung; sie hat aber ihre eigene Würde. Die Last der Arbeit resultiert aus den Widrigkeiten der Umstände, spiegelt aber auch wider, dass Arbeit auf der Erde notwendig ist; erst im Himmel braucht es keine Arbeit mehr. Die Würde der Arbeit resultiert daraus, dass sie ein Medium der Gottesbegegnung ist und dass sie – ob religiös wahrgenommen oder nicht – sowohl der Selbstverwirklichung und der Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse wie der Lebensermöglichung anderer zu dienen vermag. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, eine Ethik der Arbeit neutestamentlich zu begründen – nicht ohne Rekurs auf das Alte Testament und nicht ohne die Auseinandersetzung mit philosophischer Rationalität, aber doch so, dass im Horizont der Gottesherrschaft die Fragen aufgeworfen und programmatisch beantwortet werden, was gute und schlechte Arbeit, guter und gerechter Lohn, solidarische und unsolidarische Praxis ist. Durch die strategische Ausdehnung des Mis-

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sionsraumes, die ebenso programmatische Überwindung religiöser, politischer, kultureller und sozialer Grenzen entstehen neue Herausforderungen, die keineswegs immer bewältigt wurden, aber die Möglichkeit von Lösungsstrategien aufzeigen und darin die sozialethische Debatte erheblich stimulieren. Alle drei Möglichkeiten sind eng miteinander verbunden, weil eine Theologie und Ethik der Arbeit historisch eingebunden sein muss, wenn sie nicht platonisch werden soll, und weil die konkreten Arbeitsverhältnisse, die im Neuen Testament innerhalb wie außerhalb der Gemeinden sichtbar werde, im Fokus theologischer Grundoptionen mit erheblichen ethischen Implikationen stehen. Die paulinische Maxime: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“ (2Thess 3,10) wird im Neuen Testament durch die jesuanische Anweisung an die Jünger austariert: „Gebt ihr ihnen zu essen“ (Mk 6,37 parr.). Mag das eine Wort Paulus, das andere Jesus zugeschrieben sein und mögen beide Worte in ganz unterschiedlichen Kontexten wirken, zeigt die Speisungsgeschichte doch, dass Nachfolge harte Arbeit ist und dass Essen ein elementares Bedürfnis ist, dessen Befriedigung nach dem Maßstab der Gerechtigkeit nicht nur eigene Anstrengungen voraussetzt, sondern auch den Einsatz derer, die es können, für diejenigen, die sonst Hunger leiden würden. Dass die Jünger den Tausenden nicht helfen könnten, wenn Jesus nicht wäre, zeigt schlaglichtartig Notwendigkeit und Grenze dessen, was Arbeit in Gottes Augen sein und bewirken kann.

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Thomas Söding

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Arbeit – Praxis und Ethos

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Arbeit und Arbeiten. Begriffe und ihre Sinnfülle im Neuen Testament Peter Wick

1.

Arbeiten im Neuen Testament und in seinem Umfeld. Eine begriffliche Annäherung

Neben ἐργάζομαι und κατεργάζομαι (arbeiten, tun, machen, schaffen) und ihrer Derivate und verwandten Wörter ἐργασία (Arbeit, Tätigkeit, Gewerbe, Gewinn; in Lk 12,58 sich Mühe geben), ἐργάτης (Arbeiter, Handarbeiter, z. B. Mt 10,10; Lk 10,7; 1 Tim 5,18; Mt 9,37; Mt 20,1.2.8; Lk 10,2; Apg 19,24f)1, ἐνεργέω (wirksam sein, sich betätigen), συνεργέω (mitarbeiten, unterstützen, helfen), ἔργον (Arbeit, Aufgabe, Werk, Lk 13,27; Phil 3,2), sind im Neuen Testament zahlreiche weitere Begriffe semantisch mit der Arbeitswelt eng verbunden. So etwa κτάομαι (erwerben arbeiten), πράσσω (tun, machen, ausführen), πρᾶξις (Tat; Mt 16,27; Lk 23,51; Apg 19,18; Röm 8,13; Röm 12,4; Kol 3,9), ἐξαρτίζω (vollenden, ausrüsten ausstatten) τελέω und ἐκτελέω (vollenden, fertig machen; profan: arbeiten), ἑτοιμάζω (bereiten, zubereiten, bereit sein), παρασκευάζω und κατασκευάζω (zubereiten, herstellen, bauen, ausstatten), ποίημα (Werk, das Geschaffene), παρασκευή (Erarbeitung, Rüsttag), σεμνότης (Würde, Ehrbarkeit, Achtbarkeit), σπουδή (Fleiß; Röm 12,11), ἀργός (faul, ohne Arbeit, Mt 20,3) und ὀκνηρός (faul, arbeitsscheu; Mt 25,26; Röm 12,11). πόνος (Kol 4,13), πονέω (nicht im NT), μοχθέω (nicht im NT) und μόχθος (2 Kor 11,27; 1 Thess 2,9; 2 Thess 3,8), ἄθλος (vgl. συναθλέω in Phil 1,27; 4,3) bezeichnen die Last, Mühsal und den Schmerz, die mit der Arbeit verbunden sind.2 Dies gilt im NT auch für κόπος (Mühe; Joh 4,38 für die Erntearbeit; 1 Kor 3,8; 1 Thess 2,9) und κοπιάω (sich abmühen, arbeiten, schuften; Lk 5,5; Röm 16,6; 1 Kor 4,12; Phil 2,16).3 In der semantischen Nähe zu diesen Wörtern stehen auch φορτίον (Last, Ladung; Mt 11,30; Gal 6,5), φορτίζω (belasten; Mt 11,28; Lk 11,46), βάρος (Last, Gewicht, Fülle; Mt 20,12). So gibt es im Griechischen wertneutrale Begriffe für arbeiten wie ἐργάζομαι und andere, in denen wie im lateinischen labor die Bedeutung von Arbeit und Last zusammenfallen. Die Berufe des Zimmermanns, des Fischers, des Landarbeiters, des Tagelöhners, des Zeltmachers, des ἀρχιτέκτων (Architekten), des τεχνίτης (Kunsthand-

1 2 3

Dazu Heiligenthal, Art. „ἐργάζομαι κτλ“, 120–123. von Reden, Art. „Arbeit, 963–969, hier 964. Kegler/Eisen, Art. „Arbeit/Lohnarbeit“, 16–22, 16f. Harnack, Κόπος (Κοπιᾶν, Οἱ Κοπιῶντες) im frühchristlichen Sprachgebrauch, 1–10.

Peter Wick

28

werker), der Purpurhändlerin (πορφυρόπωλις; Apg 16,14), des Gefängnisaufsehers (δεσμοφύλαξ (Apg 16,27) und in einem erweiterten Sinne auch des Soldaten werden genannt. Sklaven kommen oft vor und werden auch in Bezug auf unterschiedliche Arbeitsfelder, in die sie eingespannt waren, genannt. So ist der παιδαγωγός (1 Kor 4,15; Gal 3,24f) ursprünglich ein Sklave, der einen Jungen zur Schule bringt.

2.

„Arbeiten“ im lukanischen Doppelwerk

Das Verb ἐργάζομαι entfaltet im Neuen Testament eine eindrückliche Sinnbreite. Der Verfasser der Apostelgeschichte berichtet davon, dass Paulus in Korinth als Handwerker gearbeitet (ἠργάζετo) hat. Er war Handwerkskollege (ὁμότεχνος) von Aquila und Priska. Sie waren Zeltmacher (Apg 18,3). Mit ihnen arbeitete Paulus unter der Woche und am Sabbat ergriff er das Wort in der Synagoge. Eine interessante Parallele zu dieser Darstellung des Paulus finden wir später als rabbinisches Ideal unter anderem in den Sprüchen der Väter von Rabban Gamliel III aus der nachmischnischen Periode. „Rabban Gamliel, der Sohn von Rabbi Jehuda ha-Nassi, sagt: Schön ist das Studium der Tora zusammen mit einer Berufsausübung (wörtlich: Weg der Welt), die Mühe um beides lässt die Sünde vergessen. Jede Tora aber, die nicht durch Arbeit (malacha) begleitet wird, hebt sich am Ende selbst auf und führt zur Sünde.“ (Avot 2,2)4.

Das Verb ἐργάζομαι verbindet in der Apg aber nicht nur Paulus mit seinen jüdischen Landsleuten durch ihre Arbeit miteinander in Korinth, sondern auch die Juden und die Völker vor Gott. Wenn sie ihn fürchten und Gerechtigkeit wirken (ἐργάζομαι), sind sie ihm angenehm (Apg 10,35). Zwischen diesen beiden Stellen wird ἐργάζομαι über Gott ausgesagt. Der Verfasser lässt Paulus in seiner Rede in Antiochien in Pisidien den Propheten Habakuk zitieren, durch den Gott - mit einer Alliteration verstärkt - spricht: Ich wirke ein Werk (ἔργον ἐργάζομαι ἐγὼ). Gott arbeitet und tut ein Werk (Apg 13,41). Im lukanischen Geschichtswerk wird das Verb ἐργάζομαι noch einmal in Lk 13,14 im Zusammenhang einer Heilung durch Jesus am Sabbat verwendet. Der Synagogenvorsteher beruft sich auf die Tora und sagt: An sechs Tagen soll der Mensch arbeiten (ἐργάζομαι). Die Ruhe des siebenten Tages steht dem Arbeiten gegenüber. Das Arbeiten selbst aber ist von Gott verfügt. So erscheint dieses Verb in der LXX zum ersten Mal ganz zu Beginn des zweiten Schöpfungsberichts noch ehe der Mensch von Gott geformt worden ist. Der Erdboden scheint teleologisch daraufhin geschaffen worden zu sein, um vom Menschen bearbeitet zu werden (Gen 2,5). Arbeiten hat so im lukanischen Doppelwerk nicht nur eine durchwegs positive Bedeutung, sondern Arbeiten oder Wirken ist unauflöslich mit der Ge-

4

Übersetzung nach Die Mischna, 12.

Arbeit und Arbeiten – Begriffe und ihre Sinnfülle im NT

29

schöpflichkeit des Menschen verbunden und lässt diesen an Gott insofern partizipieren, als das auch Gott arbeitet und ein Werk wirkt. Ruhen bildet den Gegensatz dazu. Ähnliches gilt für das Werk (ἔργον) selbst. Die sogenannte erste Missionsreise des Barnabas und Saulus gilt als Werk, zu dem der Heilige Geist sie berufen hat (Apg 13,2) und das sie erfolgreich erfüllen (Apg 14,26; so auch rückblickend Apg 15,38). Der Pharisäer Gamaliel bezeichnet das umstrittene Wirken der Apostel in Jerusalem als Werk, bei dem es sich noch zeigen wird, ob es von Menschen oder von Gott stammt (Apg 5,38). Die Verbindung von „mächtig in Worten und Werken“ ist ein Ideal, das Mose gemäß der Stephanusrede erfüllt (7,22). Im Lk entspricht Jesus diesem Ideal (Apg 24,19). Gute Werke zu tun ist für die Apostelgeschichte eine Folge der Umkehr zu Christus und eine Tugend des neuen Weges (Apg 9,36; 26,20). So ist das ἔργον im Doppelwerk beinahe durchwegs ein positiver Begriff, eine hohe Tugend und Bezeichnung der ersten Missionsreise. Ein negativ konnotiertes Werk muss durch den Kontext als solches bezeichnet werden. Wenn Werke der Hände kultisch verehrt werden, wird scharfe Kritik erhoben (7,41). In Lk kann das Töten der Propheten als ein Werk im ganz negativen Sinn bezeichnet werden (Lk 11,48). Dasselbe gilt auch für den Arbeiter (ἐργάτης). Übeltäter können als Arbeiter der Ungerechtigkeit bezeichnet werden (Lk 13,27). Die Handwerker und Goldschmiede in Ephesus haben angestellte Arbeiter (Apg 19,25). Die Schüler Jesu werden auch zur Arbeit ausgesandt und explizit mit Arbeitern verglichen (Lk 10,2.7). Das Verb κοπιάω wird verwendet, um das vergebliche harte Arbeiten der Fischer durch die Nacht hindurch zu bezeichnen: „Meister, wir haben durch die ganze Nacht hindurch geschuftet“ (Lk 5,5). Paulus präsentiert sich den Ältesten von Ephesus in der Abschiedsrede in Milet als Vorbild, der sich mit seinen eigenen Händen für seinen Unterhalt und für die Unterstützung der „Schwachen“ abgemüht hat (κοπιάω). Alle sollten es so halten (Apg 20,34f). Dieses Verb bezeichnet im lukanischen Doppelwerk Arbeit im Sinne von „schuften“ und „sich abplagen“ um eines Zieles willen. So wird es auch in Lk 12,27 verwendet: Die Lilien schuften und (κοπιάω) und spinnen nicht für ihre prachtvolle Kleidung. Sie verrichten keine Frauenarbeit um ihrer Kleidung willen.5 Ebenso säen die Raben nicht und ernten nicht und bauen keinen Speicher und keine Scheune, denn Gott nähert sie (Lk 12,24). Sie verrichten keine Männerarbeit für ihre Nahrung. Eine Spannung tut sich hier im lukanischen Werk auf: Wer Gott vertraut, sorgt sich nicht um Essen und Kleidung und verzichtet darauf, dafür zu schuften, da es doch Gott ist, der ihn speist und kleidet. Ein solcher kann ganz nach Gottes Reich trachten (Lk 12,32). Doch um dieses Reiches willen kann er offensichtlich freiwillig Plackereien auf sich nehmen, wie Paulus dies tut.6 5 6

Im Sinne von Frauenarbeit/von Reden, Art. „Arbeit“, 963–969, 968. Gegen Hoppe, arbeiten, 97, der in den Sprüchen vom Sorgen (Lk 12,22–32; par Mt 6,25– 34) keine Relativierung der Wertschätzung der Arbeit sehen will. Ähnlich löst auch Dormeyer, Arbeit, 98–113, 98f.112 diese Spannung auf. Doch die mühevolle Arbeit steht im Text im direkten Gegensatz zur Sorglosigkeit und dem Vertrauen. Arbeit zur eigenen Existenzsicherung verträgt sich nicht mit dem Vertrauen auf

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3.

Jesus, der Zimmermann. Arbeiten bei Markus und Matthäus

Im Markusevangelium bezeichnet Jesus seine Salbung durch eine Frau als gutes Werk, welches sie gewirkt hat, beziehungsweise als gute Arbeit, die sie gearbeitet hat (Mk 14,16: καλὸν ἔργον ἠργάσατο). Der Hausherr, der sein Haus verlässt, gibt seinen Sklaven Vollmacht (ἐξουσία), einem jeden seine Arbeit (Werk; ἔργον) (Mk 13,34). Arbeitsauftrag und die Befähigung dazu sind hier eng miteinander verbunden. Die Arbeit im Haus ist ausdifferenziert, Aufgaben sind verteilt. Schon bei Platon begegnet das Ideal der Ausdifferenzierung der Arbeit. Besser sei es für die Gemeinschaft, wenn jeder mit seiner Arbeit auf etwas spezialisiert sei und dabei auch bleibe (Politeia 2,370.374; 3,421d.434; Nomoi 8,846f). Jesus ist in seiner Vaterstadt als der Zimmermann bekannt (Mk 6,3). Er ist Handwerker.7 Gemäß dem Matthäusevangelium gilt er als Sohn des Zimmermanns (Mt 13,55). Seine ersten Jünger besucht er bei ihrer Arbeit als Fischer und ruft sie von dort in die Nachfolge (Mk 1,16–20). Auch der Zöllner Levi wird bei seiner Berufsausübung berufen (Mk 2,14). Im Matthäusevangelium ist es geradezu notwendig, dass die Menschen die guten Werke der Schüler Jesu sehen (Mt 5,16). Solche Werke sollen gewirkt werden (Mt 26,10). Die Werke von Christus werden Johannes dem Täufer mitgeteilt (Mt 11,2). Diese Werke beweisen seine Legitimität. Werke können aber auch missbraucht werden, wenn sie nicht mit der Lehre übereinstimmen (Mt 23,3.5). So zeigen sie eine falsche Frömmigkeit und eine falsche Weisheit (Mt 11,19). Übeltäter sind solche, die Gesetzlosigkeit wirken (7,23: ἐργαζόμενοι). Das Verb ἐργάζομαι kann aber auch ganz elementar die Arbeit auf dem Felde oder den Handel bezeichnen und zwar beide in einem positiven Sinn (Mt 21,28; 25,16). Die ausgesandten Schüler Jesu werden sprachlich Arbeitern gleich gestellt (Mt 9,37.38; 10,10). Lohnarbeit ist eine Selbstverständlichkeit (Mt 20,1.2.8).8 Vor allem in den Gleichnissen werden Lohnarbeiter und Sklaven nicht irgendwie abqualifiziert, sondern erfahren durch Jesus als Erzähler und Gott als Akteur innerhalb der Gleichnisse Würde und Wertschätzung. Die mühevolle Arbeit kommt wie in Lk 12,27 im Wort von den Lilien des Feldes in den Blick. Die Lilien rackern sich nicht ab und spinnen nicht für ihre prachtvolle Kleidung (Mt 6,28f: κοπιάω). Jesus stellt ihr Nichtstun als Vorbild für die Sorglosigkeit dar. Mit dem sogenannten Heilandsruf fordert Jesus οἱ κοπιῶντες καὶ πεφορτισμένοι (Mt 11,28) – die sich Abmühenden und Beladenen

7 8

Gott. Martin Hengel schreibt zu Recht in Bezug auf diese Spannung von einer Unterbrechung. Die Nähe der Gottesherrschaft lässt die Notwendigkeit der Arbeit in den Hintergrund treten. Die so gewonnene Sorglosigkeit führt zum Dienst an der Gottes Herrschaft (Hengel, Arbeit, 424–466, hier 442–447. Zur vielfältigen Arbeit des Zimmermanns Hoppe, arbeiten, 93. Mrożek, Lohnarbeit, 97: Gerade in Palästina ist die Lohnarbeit während des Prinzipats weit verbreitet. Zur Situation der Lohnarbeiter zurzeit Jesu Hezser, Lohnmetaphorik, 95f.

Arbeit und Arbeiten – Begriffe und ihre Sinnfülle im NT

31

– auf, zu ihm zu kommen. Hier kann man von diesen Begriffen her an die durch schwere körperliche Arbeit Geplagten und an die Lastenträger denken.9

4.

Das Werk Gottes und die Arbeit im Johannesevangelium

Im Johannesevangelium spielt das Werk (ἔργον) eine zentrale theologische Rolle. Jesus ist gekommen, um ein Werk zu tun (Joh 4,34; 7,21). Er tut gute und große Werke (Joh 5,20; 7,3; 15,24). Gute Werke sind in Gott getan, beziehungsweise gewirkt oder erarbeitet (Joh 3,21: εἰργασμένα). Gott selbst gibt Jesus ein Werk und viele Werke, um sie zu tun (ποιέω Joh 5,36; 6,30; 9,4; 14,11; 17,4). Jesus wird noch größere Werke tun (Joh 5,20). Gott verrichtet wie Jesus ein Werk (Joh 6,29) und viele Werke (Joh 9,3; 10,37f). Die Jünger werden befähigt, dieselben und noch größere Werke zu tun (Joh 14,12). Allerdings tun Menschen auch böse Werke (Joh 3,19.20; 7,7). Gott und Jesus sind im Johannesevangelium eng mit ihrem jeweiligen Werk verbunden, wobei das Werk zwischen Singular und Plural oszilliert. In Einheit mit dem Vater erarbeitet Jesus auf der Erde etwas. Verbunden mit dem Werk spielt so auch das Verb „wirken/arbeiten“ eine zentrale Rolle: „Mein Vater wirkt (arbeitet; ἐργάζεται) bis jetzt und auch ich wirke (arbeite; ἐργάζομαι; Joh 5,17).“ Gegen Ende des Evangeliums im Hohepriesterlichen Gebet bekennt Jesus, dass er das Werk vollbracht hat, das Gott ihm gegeben hat (Joh 17,4). Arbeiter selbst spielen keine Rolle im vierten Evangelium. Ernten (θερίζω) ist eine Mühe (κόπος), aber solches Abmühen und Arbeiten (κοπιάω) wird als Aufgabe der Jünger positiv gedeutet (Joh 4,38). Der ganze Weg Jesu Christi und sein Heil können im Johannesevangelium als Werk beziehungsweise als Arbeit zusammengefasst werden. Das gewirkte Werk beziehungsweise die gearbeitete Arbeit wird zu einem theologischen Zentralbegriff. Das ganze Offenbarungswirken Jesu kann unter dem Begriff „Werk“ subsumiert werden. Dieses eine große Werk besteht aus vielen Werken. Das Werk bezeugt Jesus als Sohn Gottes (Joh 10,25). Die Menschen sollen durch diese Werke zum Glauben kommen (Joh 10,37f).10 Allerdings scheint diese „Arbeit“ besonders bestimmt zu sein. Jesus muss nichts abarbeiten. Im Gegensatz zu den Synoptikern zieht er nicht durch die Lande, um das Evangelium zu verkünden. Seine Arbeit scheint in seinem Sein und Leben selbst zu liegen. Ab dem ersten Kapitel reagiert Jesus auf bestimmte Situationen, die ihm begegnen und nimmt sie zum Anlass von Heilungen und Lehrgesprächen. Das Werk Jesu ist vor allem bestimmt durch sein Bleiben (Joh 9

10

Die Verwendung von κοπιάω in Mt 6,28f unterstützt eine solche Deutung. Das Verb φορτίζω wird in 11,30 mit dem Substantiv φορτίον (Last) wieder aufgenommen. Erst in Mt 23,4 wird dies auf die Lasten bezogen, die Pharisäer und Schriftgelehrte durch ihre Torainterpretation den Menschen auflegen. Deshalb sollte Mt 11,28 zuerst auf die körperliche Arbeitslasten und erst sekundär auf solche durch Lehre bezogen werden (gegen Luz, Matthäus, 219). Heiligenthal, Art. „ἔργον“, 123–127, hier 124f.

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1,38f), sein Reagieren (Joh 2,3–7) und sein reaktives Lehren (Joh 3,1–22). Entsprechend dazu scheint auch das Werk der Jünger vor allem aus ihrem Bleiben zu bestehen. Indem sie bleiben, bringen sie Frucht (Joh 15,4). In allen Evangelien begegnet uns somit eine hohe Wertschätzung der Arbeit, des Wirkens und des Werkes. Es ist selbstverständlich, dass die Menschen ihrer Arbeit nachgehen müssen. Es gibt keine Abwertung bestimmter Arbeiten. Nur wenn die Arbeit für Böses eingesetzt wird, wird sie zur bösen Arbeit. Auch Jesus arbeitet. Wer arbeitet, partizipiert prinzipiell an einer Tätigkeit, die auch Gott tut. Es gehört zu Gott, Jesus und den Menschen, dass sie arbeiten und wirken. Arbeit scheint eine schöpfungsmäßige Selbstverständlichkeit zu sein. Dass Arbeit, insbesondere technische Arbeit unter den Folgen des Sündenfalls steht, spielt keine explizite Rolle. Arbeit und Arbeiten erscheint vor allem als Würde, der Aspekt der Last erscheint implizit in den Begriffen der Mühe und der Last, die aber oft ebenfalls mit Würde verbunden sind. Sogar im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16) bleibt in der Schwebe, ob diejenigen, die arbeitend die Hitze des Tages aushalten müssen, oder diejenigen, die erst spät eine Arbeit gefunden haben, schwerer zu tragen haben. Diejenigen, die nicht arbeiten können, die Blinden und Gelähmten sind die wirklich Armen und Bemitleidenswerten.

5.

Paulus und seine Arbeiter im Herrn

5.1

Arbeiten im Herrn in der Welt und für die Gemeinde

Die frühsten Schriften des Neuen Testaments stammen von Paulus. In den Paulusbriefen, die sicher von Paulus selbst stammen, werden nur zweimal „Arbeiter“ (ἐργάτης) erwähnt und zwar jeweils in einem negativen Zusammenhang. Paulus kämpft in Korinth gegen betrügerische Arbeiter (2 Kor 11,13) und in Philippi gegen schlechte Arbeiter (Phil 3,2). Arbeiter haben offensichtlich eine wichtige Funktion für den Gemeindeaufbau. Paulus schreibt über solche, die diese Funktion missbrauchen. Explizit verwenden erst die Pastoralbriefe diesen Begriff im positiven Sinn (1 Tim 5,18; 2 Tim 2,15). Mit dem Begriff „Mitarbeiter“ (συνεργός) zeichnet Paulus solche aus, die ganz besonders intensiv zusammen mit ihm an der Gemeindegründung und am Gemeindeaufbau beteiligt sind wie Priska und Aquila (Röm 16,3) oder Timotheus (Röm 16,21; 1 Thess 3,2). Weitere namentlich erwähnte Mitarbeiter von Paulus sind Urban (Röm 16,9), Titus (2 Kor 8,23), Epaphroditus (Phil 2,25), Euodia und Syntyche (Phil 4,2f), Philemon (Phlm 1), Markus, Aristarchus, Demas, und Lukas (Phm 24). Apollos und sich selbst bezeichnet Paulus als Mitarbeiter Gottes (1 Kor 3,9). Timotheus, Silvanus und sich nennt er gegenüber den Korinthern Mitarbeiter ihrer Freude (2 Kor 1,19.24; vgl. 6,1). Der Handwerker Paulus erwirtschaftet seinen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit. Diese Selbstbeschreibung des Paulus stimmt mit der Apg überein. Er schreibt den Korinthern: “und wir mühen (κοπιῶμεν) uns ab, indem wir mit den

Arbeit und Arbeiten – Begriffe und ihre Sinnfülle im NT

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eigenen Händen arbeiten (ἐργαζόμενοι ταῖς ἰδίαις χερσίν)“ (1 Kor 4,12). Mit dem Verb κοπιάω betont er die Last, die ihm diese Erwerbsarbeit neben seinen Tätigkeiten als Apostel bereitet. Zugleich betont er, dass er diese Arbeit freiwillig verrichtet, denn außer Barnabas und ihm leben alle anderen Apostel von ihrer Arbeit für das Evangelium. Doch Paulus will an seiner Person demonstrieren, dass das Evangelium ein kostenfreies Geschenk Gottes ist. Deshalb verdient er durch Handwerksarbeit seinen Lebensunterhalt selbst und verzichtet darauf, nicht zu arbeiten (1 Kor 9,6 ἐργάζομαι). Paulus baut eine rhetorische Spannung auf, indem er das Verb „arbeiten“ sehr spannungsvoll und sogar paradox verwendet. Die Apostel, die von ihrer apostolischen Tätigkeit leben, würden nicht arbeiten (1 Kor 9,6). Zugleich bezeichnet er eine solche Tätigkeit als Arbeit. Er scheut sich nicht, die Arbeit an der Gemeinde mit der schweren Arbeit eines Ochsen zu vergleichen (1 Kor 9,9), um sie dann mit dem Arbeiten (ἐργάζομαι) der Priester zu vergleichen (1 Kor 9, 12–14). Im ersten von Paulus erhaltenen Brief hat er noch eindringlicher die Last und Mühe seiner freiwilligen handwerklichen Erwerbsarbeit betont. Sie ist κόπος und μόχθος, Mühe und Anstrengung (1Thess 2,9). Paulus zählt seine Erwerbsarbeit in seinen Peristasenkatalogen als “Mühen” (2 Kor 6,5; 11,23) oder als Mühe und Anstrengung (2 Kor 11,27) auf. Die Stellung in diesen Listen des Leidens zeigt, wie sehr Paulus die Arbeit um seines Lebensunterhaltes willen belastet hat. So steht Paulus in zwei Arbeitsfeldern. Seine Tätigkeiten bezeichnet er mit ein und demselben Wort „arbeiten“ (ἐργάζομαι). Er arbeitet einerseits mit seinen Händen und andererseits am Werk (ἔργον) des Herrn (1 Kor 16,10). Auch die Arbeit für den Herrn und die Gemeinden bezeichnet er wie seine Handwerksarbeit als „Mühen“ und verweist damit auf die Last dieser Arbeit. Er und andere mühen sich ab mit ihrer Arbeit für die Gemeinde (κοπιάω). Von seinem Mühen schreibt er im Galaterbrief und im Philipperbrief (Gal 4,11; Phil 2,16; und auch Kol 1,29). Das Gründen einer Gemeinde (1 Thess 3,5) und das Pflanzen und Begießen hinsichtlich der Gemeinde ist eine Mühe (1 Kor 3,8: κόπος) und überhaupt die Mitarbeit am „Werk des Herrn“ (1 Kor 15,38; so auch 2 Kor 10,15). In Rom mühen sich Maria (Röm 16,6), Tryphäna, Tryphosa und Persis, die Geliebte (Röm 16,12) ab im Herrn, das heißt, sie sind in der Gemeindearbeit engagiert. Allerdings scheint für Paulus gerade in der Last und Mühe der Arbeit eine besondere Würde zu liegen. Paulus hat sich viel mehr abgemüht als alle anderen (1 Kor 15,10). Die Gemeinde soll sich denen unterordnen, die sich um sie abmühen (1 Kor 16,16) und sie anerkennen (1 Thess 5,12). Im ersten Brief an die Thessalonicher fordert Paulus alle dazu auf, mit ihren eigenen Händen zu arbeiten (1 Thess 4,11). Der zweite Brief an die Thessalonicher zeigt, dass nach Paulus viele versuchten, von den Gemeinden zu leben und dass dies zu Auswüchsen führte. Wahrscheinlich versuchten sie, sich für Arbeit an der Gemeinde aushalten zu lassen. Solche Arbeit wird als „unnütze Dinge“ abqualifiziert.11 Die Mühe und Anstrengung des für seinen Lebensunterhalt arbeitenden Paulus (2 Thess 3,8) wird zum Vorbild. Solche Arbeit wird nachdrücklich 11

Hoppe, arbeiten, 92–103, hier 101f., wertet diesen Text als Hinweis darauf, dass die christlichen Gemeinden gegen Ende des ersten Jahrhunderts versuchten, ihre Arbeitsmoral von der hellenistischen Arbeitswelt deutlicher abzugrenzen.

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von allen verlangt mit dem Slogan: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen (2 Thess 3,10–12). Auch Eph und Kol fordern zur Arbeit auf (Eph 4,28; Kol 3,23). So zeigt sich bei Paulus eine enorme Wertschätzung der Arbeit. Die Handwerksarbeit zur Finanzierung des eigenen Lebensunterhalts genießt eine hohe Würde, gerade auch dort, wo sie eine echte Last ist. Sie ermöglicht, das Evangelium kostenfrei zu verkünden. Gemeindegründer und Gemeindeaufbauer bleiben so gänzlich unabhängig von ihren Gemeinden. Wenn sich der Apostel, Gemeindegründer und „Theologe“ Paulus so seiner Arbeit mit den eigenen Händen rühmt, dann ist damit auch in der jungen christlichen Bewegung ein Kern gelegt, der zu einer Aufwertung des Handwerkes führen muss. Zu dieser Aufwertung kommt es schon im Neuen Testament. Der Dienst an der Gemeinde darf nicht zum Vorwand werden, nicht mit den eigenen Händen zu arbeiten. Indirekt wird die schwere körperliche Arbeit auch aufgewertet, indem der Dienst an der Gemeinde mit ihr terminologisch gleichgestellt wird. Die jüdischen Wurzeln können dafür bei Paulus nicht hoch genug veranschlagt werden. Denn im Judentum scheint erstens eine höhere Wertschätzung der Arbeit gepflegt worden zu sein als dies sonst im Hellenismus üblich war. 12 Zweitens war der Opferkult am Tempel mit der alltäglichen Arbeit terminologisch gleichgesetzt. Beide Arbeiten wurden als Abodah, als Arbeit oder als Dienst bezeichnet.13 Paulus vergleicht seine Arbeit auch mit dieser Arbeit: „Oder wisst ihr nicht, dass die die heiligen Dinge tun (ἐργάζομαι), vom Tempel essen …“ (1 Kor 9,13) Doch trotz dieses Vergleiches versteht Paulus den Dienst an der Gemeinde nicht als kultischen Dienst, sondern ordnet ihn in die Kategorie „alltägliche Arbeit“ ein und stellt hier Weichen, die in der Wirkungsgeschichte zu Selbstverständlichkeiten wurden. Dienst an der Gemeinde ist Arbeit. So bindet er unter dem Begriff Arbeit vieles zusammen: Neben der Alltagsarbeit, der Arbeit mit den Händen ist auch die Gemeindearbeit terminologisch eine solche Arbeit. Doch auch die alltägliche Arbeit im Handwerk kann Dienst an der Gemeinde sein. Beide Arbeiten bindet er mit dem Wort „sich abmühen“ zusammen, das so zum terminus technicus für das Wirken gegenüber den Mitchristen wird. 14

5.2

Das Werk Gottes und das Werk der Glaubenden

Gott schafft den Menschen durch Jesus Christus Rettung und Heil. Paulus kann dies als Werk beziehungsweise Arbeit (ἔργον) bezeichnen (Röm 14,20). In Gal fordert er die Gläubigen dazu auf, allen gegenüber das Gute zu tun (arbeiten; Gal 6,10). Paulus dankt Gott für das Werk des Glaubens der Thessalonicher (1 Thess 1,3). Doch nicht nur Gott hat ein Werk und Menschen können arbeiten, sondern Paulus schreibt dies auch abstrakten Größen zu: Der Gott gemäße Kummer schafft oder bewirkt (ἐργάζεται) Umkehr. Der Kosmos gemäße Kummer schafft und vollendet den Tod (κατεργάζεται 2 Kor 7,10). 12 13 14

Zur Arbeitswelt und den Erwerbsmöglichkeiten im Umfeld des NT bietet Herz, Arbeitswelt, 186–189 und Herz, Erwerbsmöglichkeiten, 190–198 eine gute Übersicht. Wick, Gottesdienste, 21f. Harnack, Κόπος, 5f.

Arbeit und Arbeiten – Begriffe und ihre Sinnfülle im NT

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Um sich der Bedeutung des Werkes in den unbestritten echten Paulusbriefen zu nähern, empfiehlt es sich, bei den Schriften zu beginnen, die aus deren Umkreis stammen, weil dort das „Werk“ besonders gut greifbar ist. Sowohl im Epheserbrief als auch im Kolosserbrief gibt es eine Hochschätzung der guten Werke. „Durch Gnade seid ihr gerettet … nicht aus Werken“ hält der Epheserbrief fest (Eph 2,8f). Dadurch werden die Gläubigen zu einem Schöpfungswerk (ποίημα) Christi, dessen Aufgabe es ist, in guten Werken zu wandeln (ἔργον; Eph 2,10). Das Werk des Dienstes ist Aufgabe der Heiligen (Eph 4,12). Unfruchtbare Werke der Finsternis sollen gemieden werden (Eph 5,11). Das Denken in bösen Werken soll nach dem Kolosserbrief der Vergangenheit angehören (Kol 1,21). Jetzt sollen die Gläubigen fruchtbringend in jedem guten Werk sein (Kol 1,10), welches sie tun sollen (Kol 3,17). Nach dem zweiten Brief an die Thessalonicher ist es Gott, der das Werk des Glaubens an den Thessalonichern vollendet (2 Thess 1,11). Sie sollen in jedem guten Werk stark sein (2 Thess 2,17) In den Pastoralbriefen kommt guten Werken eine zentrale Bedeutung zu. Sie werden ungefähr ein dutzend Mal verwendet. Sie gehören zur Würde und zur notwendigen Auszeichnung der Gläubigen (1 Tim 2,10; 5,10; 5,25; 6,18; 2 Tim 2,21; 3,17; Tit 2,7.14; 3,1.8.14). Betrüger und Feinde des Evangeliums werden unter anderem an ihren bösen Werken erkennbar (2 Tim 4,18; Tit 1,16). Der Dienst des Episkopos wird eigens als gutes Werk hervorgehoben (1 Tim 3,1). Auch der Evangelist tut sein besonderes Werk (2 Tim 4,5). Die hohe Bedeutung, die dem guten Werk in Bezug auf die Glaubenden zukommt, widerspricht offensichtlich nicht der Aussage, dass Gott sie gerettet hat nicht nach ihren Werken (2 Tim 1,9; Tit 3,5). Dennoch ist auch die Vorstellung einer Vergeltung nach Werken präsent (2 Tim 4,14) Auch in den unbestrittenen Briefen des Paulus liegt eine hohe Wertschätzung des Werkes vor. Gott selbst tut an und in den Glaubenden ein Werk. Er ist als Anfänger und Vollender der Hauptverantwortliche für dieses (Phil 1,6). Die Gläubigen in Rom sollen wegen einer Speise keinesfalls das Werk Gottes in Rom zerstören (Röm 14,20). Verantwortungsträger im Gemeindebau partizipieren an diesem Werk. Timotheus arbeitet an diesem Werk (1 Kor 16,10). Epaphroditus ist wegen dieses Werkes schwer erkrankt (Phil 2,30). Der gefangene Paulus will gegenüber den Philippern weiterhin Frucht des Werkes bringen (Phil 1,22). Eine ganze Gemeinde soll an diesem Werk teilnehmen. So sollen die Korinther überreich am Werk des Herrn sein (1 Kor 15,58). Eine solche Partizipation am Werk des Herrn kann zugleich zum eigenen Werk werden. So präsentiert Paulus den Korinthern ein Bild von einem Hausbau. Sowohl Gott als auch er selbst sind diejenigen, die das Fundament bei den Korinthern legen, Paulus in der Funktion eines weisen Baumeisters (1 Kor 3,10). Die Gemeinde in Korinth ist sein Werk (1 Kor 9,1). Paulus wirkt gegenüber den Gemeinden durch Wort und Werk (Röm 15,18). Er droht den Korinthern, dass er anwesend vor allem durch Werke wirken will (2 Kor 10,11). Obwohl Paulus das Glaubensfundament bei den Korinthern gelegt hat, aufgrund dessen sie gerettet sind, ist nun jeder selbst verpflichtet in, mit und durch sein Leben gut darauf zu bauen. Etwas wie ein Feuertest wird auch bei den Gläu-

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bigen ihr Werk testen, allerdings wird dieses Gericht im Gegensatz zum Gericht nach Werken in Röm 2,6 nicht über ihre Rettung oder Verwerfung entscheiden, sondern darüber, ob sie mit oder ohne Ehre mit Christus vereinigt werden (1 Kor 3,13–15). Sogar im zuerst dem Werk feindlichen Galaterbrief fordert Paulus zuletzt dazu auf, dass ein jeder das Werk von sich prüfe (Gal 6,4). Böse Werke, beziehungsweise Werke der Finsternis oder des Fleisches gilt es zu meiden und sich davon zu distanzieren (Röm 13,3.12; Gal 5,19), gegebenenfalls auch vom Bruder, der ein solches getan hat (1 Kor 5,2), denn sie verweisen auf die Finsternis (2 Kor 11,15). Gott gegebenes Ziel menschlichen Handelns sind im Römerbrief gute Werke (Röm 2,7; 13,3). Folge überfließender Gnade Gottes ist gemäß dem zweiten Brief an die Korinther, dass die Gläubigen als Empfänger überreich zu jedem guten Werk sind (2 Kor 9,8). Wer dieser positiven Wertschätzung der Arbeit und des Werkes bei Paulus folgt, kann nachvollziehen, dass es für Paulus ein Ideal ist, wenn die Menschen das Werk des Gesetzes in ihrem Herzen haben (Röm 2,15). Dennoch ist für ihn die ganze Menschheit an diesem Ideal aufgrund der Sünde gescheitert. Deshalb muss der Mensch durch Gott – durch das Werk Gottes beziehungsweise durch das Werk Christi – gerettet werden, ohne Werke des Gesetzes, an denen die Menschheit gescheitert ist (Röm 3,20). So wird der Mensch durch Glauben ohne Gesetz der Werke (Röm 3,27) beziehungsweise ohne Werke des Gesetzes (Röm 3,28) gerettet. Ohne solche Werke empfängt er Gerechtigkeit (Röm 4,2; Gal 2,16) und den Geist (Gal 3,2.5) und wird erwählt nicht aus Werken (Röm 9,2). Solche Werke werden nun ganz negativ gewertet, insofern sie im Gegensatz zum Glauben (Röm 3,28; 9,32) und zur Gnade (Röm 11,6) und zur von Gott geschenkten Gerechtigkeit (Röm 4,6) stehen. Wer sie tun will, um seine Errettung durch Christus abzusichern, verliert Christus und gerät unter die hypothetische Verfluchung all derer durch die Tora, die nicht alles tun, was in ihr geschrieben ist (Gal 3,10). Dies hebt allerdings die Wertschätzung guter Werke im Allgemeinen nicht auf.15 Zusammenfassend kann in Bezug auf die paulinische Briefliteratur festgehalten werden: Neben der hohen Würde, die der Arbeit, dem Werk und sogar der Last der Arbeit zukommt, ist Gott selber Urheber von Werken. Er selbst tut solche. Es ist eine Ehre und hohe Aufgabe, am Werk Christi mitarbeiten zu dürfen. Gute Werke sind Ziel des Lebens der Glaubenden. Der Mensch ist mit seinen Werken gescheitert. Um Gerechtigkeit zu erlangen, muss er Christus Platz machen und jegliche Arbeit einstellen. Durch die im Glauben empfangene Gnade wird er aber wieder befähigt, neue Arbeit aufzunehmen und gute Werke zu tun, sowohl mit seinen Händen als auch am Aufbau der Gemeinde. Die Tat Christi fordert den Menschen dazu heraus, jegliches Tun aufzugeben. Solch passives, ruhendes Empfangen nennt Paulus Glauben. Dieses Werk Christi befähigt den Menschen, seine Würde, die ihm von der Schöpfung her gegeben ist, nämlich zu arbeiten, zu gestalten und auf sich, seine Mitmenschen und die Schöp-

15

So schreibt Bachmann, Hinweise, 449–462, hier 461, dass bei Paulus ein dem Nomos entsprechendes Handeln gefordert wird, aber Werke des Gesetzes nicht als Eintrittsbedingungen gestellt werden dürfen. Ähnlich Dunn, Works of the law, 273–290, hier 289f.

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fung einzuwirken, wieder aufzunehmen, obwohl er gerade daran und damit gescheitert ist.16 Der Moment der Hingabe Christi wird für den Menschen zum bleibenden Fundament, dass er passiv empfängt und erlebt. Darauf kann und soll er aber wieder selbst bauen und zur Arbeit zurückkehren, die dann sogar zur Partizipation am Werk Christi selbst werden kann.

6.

Ertrag

Im Lateinischen fällt die Arbeit und die Mühe im selben Wort labor semantisch zusammen. Das passt gut zur Geringschätzung der handwerklichen Arbeit durch die römische Oberschicht.17 Dies ist bei ἐργάζομαι im Neuen Testament nicht der Fall. Wenn Arbeit den Aspekt der Last und Mühe explizit enthalten soll, wird dies in der Regel durch das Verb κοπιάω ausgedrückt. Die Evangelien, Paulus und das ganze Neue Testament stehen in der jüdischen und alttestamentlichen Tradition, die der Arbeit trotz aller damit verbundenen Mühe eine hohe Würde für alle Menschen zubilligt.18 Insgesamt kommt der Arbeit im Neuen Testament eine höhere Wertschätzung zu, als im nichtjüdischen Umfeld. Jesus und Paulus sind Lehrer und Handwerker. Die Nachfolger Jesu stammen aus einfachen Berufsgruppen. Lohnarbeiter und Sklaven erhalten in den Gleichnissen Würde und Anerkennung. Das Wirken von Jesus kann zwar in Joh als Werk bezeichnet werden, doch die Synoptiker bezeichnen seinen Dienst nicht als Arbeit. Jesus hingegen sendet die Jünger als Arbeiter in den Dienst am Reich Gottes. Gott vertrauen und sich abrackern mit schwerer Arbeit sind Gegensätze, die sich ausschließen können. Wer Gott vertraut, muss sich wegen seines Lebensunterhalts nicht abmühen sondern wird frei dafür, seine Arbeitskapazität dem Reich Gottes zur Verfügung zu stellen. Diejenigen, die sich abplagen müssen und die Lastenträger erhalten von Jesus Erleichterung. Für Paulus ist die Arbeit eine Grundaufgabe der Menschen. Er ist dafür da, Werke zu verrichten. Arbeit gehört zur Würde des Menschen. Dies gilt auch für die Arbeit, die zur Mühe und zur Last wird, wenn diese um der Gemeinde willen geschieht. Paulus rühmt sich seiner Schufterei um der Ekklesia willen. Sie besteht sowohl aus seiner Gemeindearbeit als auch aus seiner handwerklichen Arbeit. Nur gegenüber dem Werk Christi soll der Mensch mit seinen Werken zum Stillstand kommen und zum Empfangenden werden gegenüber den Früchten dieses Werkes.

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Dass die reformatorische Unterscheidung zwischen einem menschlichen Handeln coram hominibus und coram Deo in der Gefahr steht, den Menschen als Subjekt seines Tuns zu marginalisieren und so die ihm von Gott verliehene Würde zu unterminieren, hat Maschmeier, Glaube und Handeln bei Luther und Paulus, 21–44, hier besonders: 24–30, gezeigt. Cicero, de off. I 150f. Dazu Weeber, labor improbus, 125–148, hier 131–135. Zur Frauenarbeit Eichenauer, Arbeitswelt, be 292–301 und von Reden, Art. „Arbeit“, 963–969, hier 967f. Zur Arbeit im Alten Testament Hengel, Arbeit, 424–466, hier 30–442 und besonders der Beitrag von Christian Frevel in diesem Band.

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Deshalb muss der Mensch auf Werke des Gesetzes, insofern sie den Glauben ersetzen, verzichten. Allerdings führt der Glauben dazu, dass der Mensch wiederum gute Werke verrichtet. In der paulinischen Literatur zeichnet sich eine deutliche Mahnung aus: Mitgliedschaft in der Gemeinde oder sogar das Mitwirken darf nicht zum Vorwand werden, auf die Arbeit für den eigenen Lebensunterhalt verzichten zu wollen. Trotz der hohen Wertschätzung der Arbeit bleibt doch ein arbeitskritisches Ferment im Neuen Testament wirksam. Jesus ist für sein Werk aus seinem Handwerksberuf ausgestiegen. Seine Jünger hat er aus ihrem Beruf weggerufen. Jesus ruft sowohl in Mt als auch in Lk zu einem radikalen Vertrauen auf, das die Arbeit liegen lässt um des Reiches Gottes willen. Doch der Duktus der Evangelien, der Apostelgeschichte und vor allem die Briefe des Paulus zeigen, dass der Einsatz für das Reich Gottes zur echten Arbeit wird.

Literatur BACHMANN, MICHAEL, Neutestamentliche Hinweise auf halachische Regelungen, Nuovo Testamento 70, S. 449–462. DORMEYER, DETLEV, Das Verständnis von Arbeit im Neuen Testament im Horizont der Naherwartung (Mt 20,1–16), in: Dormeyer, Detlev u.a. (Hrsg.), Arbeit in der Antike, in Judentum und Christentum (Münsteraner Judaistische Studien 20), Münster 2006, 8–113. DUNN, JAMES D. G., „Works of the law“. The dialogue Continues, in: Dunderberg u.a. (Hg.), Fair Play: Diversity and Conflicts in Early Christianity: Essays in Honour of Heikki Räisänen, Leiden u. a. 2002, 273–290. EICHENAUER, MONIKA, Untersuchungen zur Arbeitswelt der Frau in der römischen Antike, Frankfurt a. Main u. a. 1988. HARNACK, ADOLF VON, Κόπος (Κοπιᾶν, Οἱ Κοπιῶντες) im frühchristlichen Sprachgebrauch, ZNW 27 (1928), 1–10. HEILIGENTHAL, ROMAN, Art. „ἐργάζομαι κτλ“, EWNT II (2011), 120–123. HEILIGENTHAL, ROMAN, Art. „ἔργον“, EWNT II (2011), 123–127. HERZ, PETER, Die Arbeitswelt, Neues Testament und Antike Kultur 2 (2011), 186–189. HERZ, PETER, Erwerbsmöglichkeiten, Neues Testament und Antike Kultur 2 (2011), 190–198. HEZSER, CATHERINE, Lohnmetaphorik und Arbeitswelt in Mt 20, 1–16. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg im Rahmen rabbinischer Lohngleichnisse (NTOA 15), Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1990. HOPPE, RUDOLF, „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“. Zur Bedeutung der „Arbeit“ im Neuen Testament, IKaZ 40 (2011), 92–103. KEGLER, JÜRGEN / EISEN, UTE E., Art. „Arbeit/Lohnarbeit“, in: Crüsemann, Frank et al. (Hrsg.), Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, 16–22. LUZ, ULRICH, Das Evangelium nach Matthäus (EKK I/2), Zürich u.a. 1990. Die Mischna, Textkritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung und Kommentar, herausgegeben von Krupp, Michael, bearbeitet von Ueberschaer, Frank und Krupp, Michael, Jerusalem 2003, 12. MASCHMEIER, JENS-CHRISTIAN, Glaube und Handeln bei Luther und Paulus. Kritische Anfragen an eine lutherische Paulusperspektive, in: Kerygma und Dogma 59 (2013), 21–44. PICHLER, JOSEF, Arbeit und Arbeitsethos im Neuen Testament. Positionen und Entwicklungen, SNTU.A 29 (2004), 5–21. STANISŁAW MROŻEK, Lohnarbeit im klassischen Altertum. Ein Beitrag zur Sozial– und Wirtschaftsgeschichte, Bonn 1989.

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VON REDEN, SITTA, Art. „Arbeit“, Der Neue Pauly 1, Stuttgart/Weimar 1996, 963–969, 964. WEEBER, KARL-WILHELM, labor improbus. Arbeit und Arbeitswelten in der frühen römischen Kaiserzeit, in: Kussl, Rolf (Hg.), Antike im Dialog. Dialog 45, Speyer 2011, 125–148. WICK, PETER, Die urchristlichen Gottesdienste. Entstehung und Entwicklung im Rahmen der frühjüdischen Tempel-, Synagogen- und Hausfrömmigkeit (BWANT 150), Stuttgart 22003.

Arbeiten und Teilen – Überlegungen zum sozialen Handeln und zur solidarischen Versorgung im Neuen Testament Traugott Jähnichen

Einleitung In kirchlichen Stellungnahmen zum Thema „Arbeitswelt“ dominieren, sofern auf biblische Traditionen Bezug genommen wird1, in der Regel Verweise auf die Schöpfungsgeschichte und die dort zum Ausdruck gebrachte Bestimmung des Menschen zum tätigen Leben.2 Eine charakteristische Ausnahme bildet demgegenüber die päpstliche Enzyklika „Laborem exercens“, die neben den alttestamentlichen Verweisen in einem Kapitel „Spiritualität der Arbeit“ explizit „Christus, ein Mann der Arbeit“3 thematisiert. Ausgehend von einer Auseinandersetzung mit den in der Enzyklika entfalteten Thesen werden in dem vorliegenden Beitrag in einem Überblick die neutestamentlichen Wahrnehmungen der Arbeitswelt und in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Praxis des Teilens dargestellt, es wird ein kritischer Blick auf die hohe Wertschätzung der menschlichen Arbeit durch die Reformatoren geworfen, bevor abschließend versucht wird, systematische Konsequenzen aus dem neutestamentlichen Befund im Blick auf die deutliche Spannung zum neuzeitlichen Arbeitsverständnis zu ziehen.

1.

„Christus – ein Mann der Arbeit“? Kritische Rückfragen an die biblische Begründung der „Spiritualität der Arbeit“ in der Enzyklika „Laborem exercens“

Die Würdigung der menschlichen Arbeit in der Sozialenzyklika „Laborem exercens“ (LE) ist für die christliche Sozialverkündigung von höchster Bedeutung.

1

2

3

Es ist ein Wagnis, als systematischer Theologe im Rahmen einer Tagung von Exegeten/innen zu referieren. Ich bedanke mich für die Einladung und bitte um Nachsicht, die exegetische Literatur zum Thema nur exemplarisch in den Blick genommen zu haben. Vgl. das Sozialwort „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“, 49. Vgl. auch die aktuelle EKD-Denkschrift „Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt.“ Eine Denkschrift, Gütersloh 2015, 19f. Laborem exercens, 55.

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Dies gilt in besonderer Weise hinsichtlich ihrer unmittelbaren Wirkungsgeschichte, da die Botschaft von LE wesentlich dazu beigetragen hat, in Polen unter kommunistischer Herrschaft die unabhängige Gewerkschaftsbewegung „Solidarnosc“ zu gründen und ihr durch die spirituelle Dimension der Enzyklika eine besondere Motivationskraft zu verleihen. Auch im Bereich des Protestantismus ist die Enzyklika überaus positiv und wertschätzend aufgenommen worden.4 LE sieht in Christus die biblische Wahrheit zum Ausdruck gebracht, dass „der Mensch durch die Arbeit am Wirken Gottes, seines Schöpfers, teilnimmt.“5 Diese Wahrheit wird durch Christus sogar in einer neuen Form zum Ausdruck gebracht, wie die Verweise von LE auf seine Tätigkeit als Zimmermann (Mt 13,55 par.) zu belegen versuchen. Daraus zieht die Enzyklika die Konsequenz, dass das Evangelium auch ein „Evangelium der Arbeit“ ist, weil der, „der es verkündete, selbst ein Mann der Arbeit war, der handwerklichen Arbeit, wie Josef von Nazareth.“6 Als eine gewisse Einschränkung eines sich unmittelbar auf Jesus berufenden Arbeitsethos wird in der Enzyklika die Warnung vor der Sorge angesprochen (vgl. Mt 6,25–34), explizit werden allerdings die Hinwiese auf die Lilien des Feldes bzw. die Vögel unter dem Himmel, die gerade nicht arbeiten (vgl. Mt 6,26–29) und welche die Freiheit von der Sorge veranschaulichen, nicht genannt. Offenkundig könnten diese Verse die intendierte Spiritualität der Arbeit relativieren. Ebenso fehlt in der Enzyklika ein Hinweis darauf, dass das öffentliche Wirken Jesu und die Berufung der Jünger mit der Aufgabe ihrer handwerklichen Tätigkeiten verbunden waren. Stattdessen betont LE die Bilderwelt der neutestamentlichen Gleichnisse, in der in der Tat die alltägliche Arbeitswelt vielfach aufgenommen wird. Die Enzyklika sieht darin einen Beweis dafür, dass und wie Jesus „mit Liebe auf die Arbeit“7 schaut. In derselben Weise nimmt die Enzyklika die Aussagen des Paulus zur Arbeitswelt auf, der – anders als Jesus und wohl die meisten Jünger, Apostel oder Lehrer in der neutestamentlichen Zeit – weitgehend auf Gaben der Gemeinden für seinen Lebensunterhalt verzichtet hat und weiterhin in seinem Beruf, dem rabbinischen Ethos entsprechend, gearbeitet hat. Ob sich jedoch Paulus seiner Berufsarbeit „rühmte“8, dürfte eine Frage der Interpretation sein. LE zitiert als Beleg 2 Thess 3,8 – diese Stelle ist wörtlich nahezu identisch mit 1Thess 2,9 –, wo Paulus seine Mühe und Plage nennt, Tag und Nacht gearbeitet zu haben, um niemandem zur Last zu fallen. Nimmt man jedoch andere Aussagen des Paulus hinzu, wie insbesondere 1Kor 4,12, wo Paulus im Kontext eines Peristasenkataloges seine Leiden als Apostel aufzählt und dabei neben Verfolgung, dem Erleiden von Schlägen oder Hunger und Durst auch seine Arbeitstätigkeit nennt, dürfte es sich kaum um ein „Rühmen“ der Berufstätigkeit im Sinn eines besonderen Arbeitsethos ge-

4 5 6 7 8

Vgl. Brakelmann, Arbeit, 39–42. LE, 55. Ebd. Ebd. LE, 57.

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handelt haben, sondern eher um ein „Rühmen“ seiner Unabhängigkeit von gemeindlicher Unterstützung, die jedoch einen hohen Preis im Blick auf die Lebensführung des Paulus gehabt hat. Die skizzierte Hochschätzung und Würdigung der menschlichen Arbeit, wie sie die Enzyklika im Blick auf Jesus und Paulus entfaltet hat, steht im Kontext von Aussagen der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ des II. Vaticanums, welche einen angemessenen technischen und vor allem humanen Fortschritt sowie eine menschengerechte gesellschaftliche Entwicklung als Zielvorstellungen der christlichen Sozialethik aufgezeigt hat. LE betont, dass diese Zielsetzung nur auf der Grundlage einer angemessenen Gestaltung und Würdigung der menschlichen Arbeit eingelöst werden kann, die ihrerseits durch eine Spiritualität der Arbeit geprägt sein muss. Dieser sozialethischen Perspektive ist mit Nachdruck zuzustimmen, da eine human gestaltete, in christlichem Sinn auf die spirituellen Traditionen der Bibel bezogene Deutung der Arbeitswelt dazu führen kann, den jeweiligen technischen Fortschritt in eine sozial gerechte und menschenwürdige Gestaltung der Arbeitswelt zu transformieren. Allerdings sollte gleichzeitig herausgestellt werden, dass diese Zielsetzung eine neuzeitliche Perspektive der Sozialethik ist, die nicht ohne weiteres mit dem Verweis auf biblische Traditionen legitimiert werden kann, sondern die sich ihrerseits durch das biblische Zeugnis hinterfragen und ggf. präzisieren lassen muss.

2.

Überblick über die Aussagen des Neuen Testaments zur Welt der Arbeit und zur solidarischen Praxis des Teilens

2.1.

Das Thema der Arbeit in der Verkündigung und Praxis der Jesusbewegung

Die menschliche Arbeitswelt spielt insgesamt im Neuen Testament, wie bereits in den kritischen Bemerkungen zu LE angedeutet, eine Nebenrolle. Dies gilt sowohl für die Evangelien wie auch für die paulinischen und deuteropaulinischen Schriften. In welcher Weise diese faktische Relativierung der menschlichen Arbeit zu interpretieren ist, soll im folgenden Überblick aufgenommen und systematisiert werden. In den Evangelien spielt die Herkunft Jesu aus einer Zimmermannstradition letztlich eine untergeordnete Rolle. Die Hinweise dazu stammen beiläufig aus dem Mund seiner Gegner, um damit einen scheinbaren weiteren Beleg seiner fehlenden Autorität zu liefern. Es sind demgegenüber keine Jesus-Worte überliefert, die einen positiven Bezug auf diese Herkunft deutlich machen. Auch in der Verkündigung Jesu lässt sich nur schwer ein Anhaltspunkt für ein „Evangelium der Arbeit“ finden, vielmehr bedeutet das Leben in der Nachfolge Jesu für die meisten seiner Nachfolger, zumindest für den unmittelbaren Jüngerkreis, die Aufgabe der bisherigen Berufstätigkeit. Die Nachfolge eröffnet vielmehr eine neue Lebens-

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welt, in der interessanterweise das Thema „Arbeit“ keine Rolle zu spielen scheint, zumindest explizit wird Arbeit nicht thematisiert. So beschreibt der auf die gescheiterte Berufung des reichen Jünglings folgende Abschnitt Mk 10,28–30 par. sehr deutlich den sozialen Bruch mit den traditionellen Familien- und damit verbunden auch Arbeitsstrukturen, den die Nachfolge mit sich bringen kann. Ebenso konkret wie dieser Bruch wird auch die „hundertfältige Frucht“ (Mk 10,30) an Häusern, Brüdern, Schwestern, Müttern, Kindern und Äckern beschrieben. Die Erwähnung der „Äcker“ könnte sich auf eine aktive, ggf. gemeinsame Bewirtschaftung dieses Besitzes beziehen, dies wird allerdings nicht genannt und die Äcker könnten ebenso durch Verkauf, wie in der Urgemeinde (vgl. Acta 5,1–11) erwähnt, der gemeinsamen Versorgung gedient haben. Insgesamt wird der Eintritt in die Nachfolge Jesu und die dort eröffnete Praxis als „in überschäumendem Maße fruchtbringend“9 beschrieben. Die hier genannte „Frucht“ der Nachfolge bezeichnet somit nicht nur eine spirituelle Dimension, sondern ganz konkret auch die Versorgung mit den zum Leben notwendigen Dingen, die insbesondere aufgrund einer solidarischen Praxis des Teilens in der Jesusnachfolge eine enorme Vervielfältigung erfahren haben. Von einem Leben der Nachfolgenden in Armut und den Erfahrungen des Mangels ist hier nicht die Rede, sondern es wird im Gegenteil durch die Nachfolge eine Lebensführung in Fülle ermöglicht, die allen Nachfolgenden zuteilwerden soll. Diese durch die Nachfolge eröffnete Fülle (vgl. auch Mk 4,8; 4,20 oder Joh 10, 10) umfasst durchaus auch die Bedingungen der alltäglichen Versorgung, was insbesondere in den neutestamentlichen Speisungsgeschichten in besonderer Weise veranschaulicht wird. Als besonders charakteristisch lässt sich diesbezüglich die Perikope Mk 6, 30–44 interpretieren: Als sich bei Einbruch des Tages die Frage nach der Versorgung der Menschenmenge stellt, argumentieren die Jünger zunächst in der Logik der traditionellen Denkweise, dass jeder für sich selbst in der Umgebung „Brot kaufen“ soll (V. 36). Jesus setzt dem in seiner Antwort eine andere Logik entgegen, indem er das Wort „kaufen“ durch „geben“ ersetzt und die Jünger auf diese Weise mit der Aufgabe konfrontiert werden, ihrerseits Verantwortung für die Menschenmenge zu übernehmen. Diese nehmen den Gedanken des „Gebens“ auf, den sie in der Praxis der Nachfolge Jesu als durchaus typisch erfahren haben, und überlegen nun, wie sie mit ihren Rücklagen für die Menschenmenge angemessen sorgen können: „Sollen wir denn hingehen und für zweihundert Silbergroschen Brot kaufen und ihnen zu essen geben?“ (V. 37) Die Frage, ob diese Geldsumme für eine so große Zahl von Menschen gereicht haben könnte, wird in der exegetischen Literatur zumeist bejaht.10 Letztlich ist 9 10

Belo, Markus, 212. Es ist sozialgeschichtlich interessant, auf die Angabe der Geldsumme von 200 Silbergroschen bzw. Denaren näher einzugehen. Anders als häufig suggeriert, dass die Jesusbewegung in radikaler Armut gelebt habe, wird hier offen von einer nicht unbeträchtlichen Rücklage gesprochen. Die Summe von 200 Denaren, die außer bei Markus noch in Johannes 6,7 genannt wird, entspricht dem guten Jahreslohn eines Tagelöhners, da man von einem Denar als Tageslohn (vgl. auch Mt 20,2) und von maximal 200 Arbeitstagen in der Landwirtschaft in Israel ausgehen kann. (Vgl. Wengst, Johannes, 220 Anm. 11) Dieser

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diese Fragestellung unerheblich, da Jesus noch einmal die zunächst ja durchaus plausible Alltagslogik der Jünger durchbricht. Die Frage „Wie viele Brote habt Ihr?“ zielt darauf, dass eine solidarische Praxis des Gebens in Gang gesetzt wird, indem die zum Leben notwendigen Güter, die unmittelbar verfügbar sind, geteilt werden. Die Bitte um den Segen für das zum Leben Notwendige und die solidarische Praxis des Verteilens dieser Güter sorgen dafür, dass mehr als genug für alle verfügbar ist. Kennzeichen der Jesusnachfolge ist es nach der Logik dieser und der anderen, von allen vier Evangelisten sehr nachdrücklich geschilderten Speisungsgeschichten, die eigenen Vorräte und Güter zur Verfügung zu stellen, damit daraus „Fülle“ für alle entsteht. Vor dem Hintergrund dieser Bezüge zur „Fülle“ in der Nachfolge der Jesusbewegung ist die Vorstellung, dass Jesus und seine Jünger in Armut und unter einfachsten Bedingungen gelebt hätten, problematisch, obwohl es ein Grundmotiv des Jesusbildes der christlichen Frömmigkeit und weithin auch der wissenschaftlichen Theologie bezeichnet. Am deutlichsten haben wohl Schriftsteller dieses Motiv zum Ausdruck gebracht. So betont Walter Jens mit Nachdruck, dass Jesus „arm geboren“ sei und im Umfeld der „kleinen Leute“ gelebt habe.11 Das hier skizzierte und in der christlichen Frömmigkeitsgeschichte weit verbreitete Motiv der Armut Jesu findet sich durchaus auch in der theologischen Fachliteratur. Obwohl die „Leben-Jesu-Forschung“12 vornehmlich „ein bestürzendes Durcheinander von angeblich zuverlässigen Jesusbildern“ produziert hat und die Rückfrage nach dem historischen Jesus theologisch angemessen wohl eher als Benennung einer Problemstellung, nicht als Lösung des Problems zu bezeichnen ist13, bleibt davon das Motiv der Armut Jesu und seiner Nachfolger seltsam unberührt. Im Gegenteil, dieses Motiv ist gegen eine in der kirchengeschichtlichen Tradition weit verbreitete Tendenz, die Würdigung der Armen durch Jesus im

11 12 13

Betrag könnte durchaus zur Speisung von 5000 Menschen ausgereicht haben. Nach BenDavid entspricht ein Denar in der Zeit des NT ungefähr einem Sachwert von 6 kg Weizenbrot. Dies ergäbe für 5000 Menschen ungefähr 120 Kilogramm Brot, nimmt man die im Johannesevangelium genannte Notiz auf, dass es sich um Gerstenbrot handeln könnte (Joh. 6,13), käme man auf eine doppelt so große Portion. Ob 200 Silbergroschen zur Speisung von 5000 Menschen ausgereicht hätten, hängt somit einerseits von der zu unterstellenden Art des Brotes ab, aber auch davon, ob die Zahlenangabe von 5000 Menschen lediglich Männer umfasst, wie Mt 14,21 notiert, oder die Gesamtmenge bezeichnet. Die abweichenden Beurteilungen im Markus- und im Johannesevangelium, wonach das Geld ausreicht bzw. nur eine geringe Speise für alle zur Verfügung stehen würde, könnte aufgrund dieser unterschiedlichen Einschätzungen erklärt werden. Ungeachtet dieser Detailüberlegungen bleibt als Ergebnis, dass die Jesusbewegung finanziell durchaus in der Lage gewesen wäre, eine so große Menschenmenge zumindest mit einer kleineren Mahlzeit zu versorgen. Vgl. Ben-David, Ökonomie, 303. Vgl. auch Schröder, Jesus, der wechselnde Preisverhältnisse in der Zeit Jesu von Gersten und Weizen diskutiert (a.a.O., 116). In der Regel betrug auch nach Schröder der Gerstenpreis die Hälfte des Weizenpreise Jens, Kanzel, 138. Vgl. Schweitzer,Leben-Jesu-Forschung, 201. Vgl. Käsemann, Jesus, 214. In der neueren Diskussion betonen Gerd Theißen und Annette Merz, Der umstrittene historische Jesus, in: Theißen, Jesus, dass die biblischen Quellen „für den historischen Jesus auswertbar“ sind und ein deutlicheres Bild ergeben, „als die deutschsprachige historische Jesusforschung in der vergangenen Generation annahm.“ (A.a.O., 30).

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Sinn einer grundlegenden Angewiesenheit auf Gott einseitig zu spiritualisieren und nicht einer „bestimmten ... soziologischen Schicht zuzurechnen“14, durch die sozialgeschichtliche Exegese seit den 1970er Jahren sogar noch verstärkt worden. Demgegenüber steht das Mitführen einer Kasse in einem deutlichen Kontrast zu der häufig unterstellten Armut und Besitzlosigkeit der Jesusbewegung. Unterstellt man, dass für 200 Denare rund 4800 Halbtagsrationen gekauft werden konnten15, so handelt es sich um einen Betrag, der die Möglichkeit eröffnet, dass davon eine Gruppe von 20 Menschen ca. 120 Tage leben konnte. Auch wenn solche Überlegungen hypothetisch bleiben, da einerseits die neutestamentlichen Geldangaben sowie der Warenwert des Denars unsicher sind und andererseits die Anzahl der durch die Jesusbewegung zu versorgenden Personen bestenfalls geschätzt werden kann, handelt es sich für die damalige Zeit um eine insgesamt recht hohe Summe, die auf jeden Fall das Niveau eines bloßen „von der Hand in den Mund“Lebens deutlich überschreitet. Die in Mk 10,28–30 und an anderen Stellen als Fülle beschriebene Versorgung auch mit materiellen Gütern in der Nachfolge Jesu erhält durch diese Angaben immerhin ein konkreteres Profil. Natürlich kann über deren Historizität nicht eindeutig entschieden werden. Da allerdings der Bericht im Johannesevangelium eine starke Parallele zum Markusbericht aufweist16, während das Fehlen der Geldsumme bei Matthäus und Lukas jeweils durch theologisch-ethische Motive erklärt werden kann – etwa, weil die Nennung einer recht großen Summe speziell das sozialethische Bemühen des Lukas, reiche Christen durch einen Bußruf in die Pflicht zu nehmen und ein Ethos der Trennung vom Besitz zu propagieren, vielleicht unterminiert hätte – spricht durchaus vieles für die Historizität der Angabe der Geldsumme in der mitgeführten Kasse. Dass das Leben in der Nachfolge Jesu eher durch Fülle denn durch Armut oder Mangel bestimmt ist, wird ferner an der dezidiert antiasketischen Haltung der Jesusbewegung deutlich. Während das regelmäßige Fasten in der unmittelbaren Umwelt der Jesusbewegung, bei den Jüngern Johannes des Täufers und bei den Pharisäern, üblich war, ist es das besondere Kennzeichen der mit Jesus anbrechenden Heilszeit, dass während dieser Zeit die Praxis des Fastens unangemessen ist. Diese Abgrenzung gegen die übliche Frömmigkeitspraxis, die Jesus in den Ruf eines „Fressers und Weinsäufers“ (Mt 11,19) gebracht hat, gehört ebenso zum besonderen Kennzeichen der Jesusbewegung, deren hervorstechendes Erkennungszeichen die Tischgemeinschaft ist, die gerade auch Randgruppen der Gesellschaft einbezieht. Die Feier der Tischgemeinschaft sowie die häufige Verwendung der Metapher des „Hochzeitsmahls“ für die eschatologische Heilszeit sind jeweils Ausdruck für die Fülle des Lebens, die Jesus den Seinen sowohl durch seine konkrete Praxis eröffnet wie auch eschatologisch als Heilsgut verheißt. Die hier in den Blick genommenen Bibelstellen, die jeweils auf ihre historische Verlässlichkeit gesondert untersucht werden müssten, lassen sicherlich nur

14 15 16

So exemplarisch Bornkamm, Jesus, 68. Vgl. Anm. 9 und explizit: Schröder, a.a.O., 115. Vgl. Wengst, a.a.O., 219.

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schwer exakte Hinweise auf die Bestimmung des ökonomischen Status der Jesusbewegung zu. Dennoch ist bemerkenswert, dass sich verschiedene, eher als Einsprengsel zu bewertende Textstellen finden lassen, die dem in der neueren sozialgeschichtlichen Forschung etwa von Theißen und Stegemann unterstellten Armutsideal bzw. dem Leben im Milieu der „kleinen Leute“ eher zu widersprechen scheinen.17 Dass Jesus und seine Nachfolger einen antiasketischen Lebensstil entwickelt haben, der nicht als zufällige Randerscheinung, sondern als Hinweis auf die in Jesus anbrechende Fülle des Reiches Gottes zu interpretieren ist, wird von den in der christlichen Frömmigkeitsgeschichte weithin dominierenden Bildern der Besitzlosigkeit Jesu und seiner Nachfolger weithin verdrängt. Hier scheint sich die bereits bei Lukas aufweisbare Tendenz einer kritischen Konfrontation reicher Christen mit den Ursprüngen der Jesusbewegung faktisch durchgesetzt zu haben, welche sozialethisch mit einer pointierten Reichtumskritik verbunden ist. Dabei droht allerdings eine gewisse Verzeichnung der Jesusbewegung zu einer asketischen, den Kynikern vergleichbaren Bewegung, wie es in der Hypothese der Wandercharismatiker am deutlichsten nachzuvollziehen ist. Diese These findet ihre stärkste Begründung in den Aussendungsreden der Evangelien. Wie diese konkrete Situation der Aussendungsreden, die offenkundig von einer starken Naherwartung geprägt ist, und die dort als Ideal dargestellte Besitzlosigkeit sich mit den in diesem Beitrag diskutierten neutestamentlichen Hinweisen zur „Fülle“ der Jesusbewegung kohärent verknüpfen lassen, bezeichnet eine zu klärende Problemstellung. Eine Widerspiegelung der antiken Arbeitswelt findet sich demgegenüber, wie in den kritischen Überlegungen zu LE angedeutet, in der Verkündigung Jesu auf der Ebene der Bildersprache der Gleichnisse. Hier findet sich insbesondere bei Markus eine Nähe zur agrarischen Lebenswelt, während bei Lukas offenkundig andere soziale Konstellationen vorauszusetzen sind, wobei zum Teil auch eine Distanzierung von körperlicher Arbeit deutlich wird.18 Insgesamt findet sich eine Vielfalt von Figuren und Bildern der antiken Arbeitswelt in den Gleichnissen, wobei jedoch kaum eine explizite Würdigung der menschlichen Arbeit aus diesem Befund zu erheben ist, sondern vielmehr Arbeit als Selbstverständlichkeit der Lebenswelt vorausgesetzt wird und die Bildebene der Gleichnisse vorrangig im Sinne des Hinweischarakters auf die Reich-Gottes-Botschaft zu interpretieren ist. Insofern wird man hier bestenfalls indirekt Belege für eine jesuanische Spiritualität der Arbeit finden können.

17 18

Vgl. Theißen, Soziologie; Stegemann, Gott, 94–120. Vgl. hierzu den Beitrag von Reinhard von Bendemann in diesem Band.

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2.2.

Die Welt der Arbeit in der paulinischen und deuteropaulinischen Briefliteratur

Anders als in der Verkündigung Jesu findet sich im Blick auf die Arbeitswelt, konkretisiert nicht zuletzt im Blick auf die Institution der Sklaverei, bei Paulus ein prägnanteres und differenzierteres Bild.19 Bei Paulus findet sich weniger eine Nähe zur agrarischen Lebenswelt, sein Kontext sind die antike Stadtkultur und die Arbeitswelt der Handwerker, wie es ja auch seine eigene Berufstätigkeit deutlich macht.20 Paulus selbst arbeitete als Korbmacher, weil er niemandem zur Last fallen wollte. Man kann dieses Arbeitsethos vielleicht als eine indirekte Kritik gewinnsüchtiger Wanderprediger, die es im Urchristentum gegeben hat und die das solidarische Ethos des Teilens für sich offenkundig ausgenutzt haben, verstehen. Zwar findet sich bei Paulus durchaus die Anerkennung des Rechtes der Apostel und Prediger auf Gewährung des Lebensunterhalts seitens der Gemeinden (vgl. 1Kor 9). Daneben findet sich bei ihm aber auch mit Nachdruck – anders als in der Verkündigung Jesu – ein Appell zur Arbeit an alle Christenmenschen. Bereits in dem ältesten Brief des Paulus an die Thessalonicher findet sich dieser Appell, indem er den Gemeindegliedern eine Selbstverantwortung einschärft und sie zur Arbeit ermuntert, damit jeder für das Seinige sorgt (vgl. 1Thess 4,11). Das Motiv, auf der Grundlage der eigenen Arbeit ggf. auch anderen, in Not geratenen Gemeindegliedern unterstützend beizustehen, findet sich hier noch nicht explizit ausgesprochen, allerdings in Eph 4,28, wo herausgestellt wird, dass Christen – anders als im Rahmen ihrer Lebensführung zuvor – nicht mehr stehlen, sondern mit eigenen Händen arbeiten, nicht zuletzt auch um den Bedürftigen davon etwas abgeben zu können. Selbstverantwortung für die eigene Lebensführung und die Möglichkeit, mit Gaben andere in Not zu unterstützen, sind hier die entscheidenden Motive zur Arbeit. Arbeit ist somit Mittel zum Zweck, wird als Notwendigkeit beschrieben, ohne dass hier eine Würdigung der Arbeit etwa im Sinn eines Arbeitsethos, das Arbeit um seiner selbst willen feiert, zu finden ist. Diese Grundhaltung wird prägnant herausgestellt in 2 Thess 3,8ff., wo Paulus als Vorbild skizziert wird, der nicht von anderen nimmt, sondern für sich selber sorgt. Dieses Ethos wird abgegrenzt von einer offensichtlich in der Urchristenheit früh gesehenen Gefahr, dass einige Christen – möglicherweise unter Bezugnahme auf bestimmte Motive der Verkündigung Jesu – gemeint haben, sich von der Arbeit dispensieren zu können, was jedoch nach Paulus lediglich zur Beschäftigung mit unnützen Dingen führt und deutlich kritisiert wird. Arbeit gilt ihm auch hier als Notwendigkeit, um für sich selbst und für andere zu sorgen. In der Negation wird diese Grundhaltung sodann kritisch gegenüber denjenigen zugespitzt, die Arbeit vermutlich mit Verweis auf religiöse Motive verweigert haben: „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen.“ (2 Thess 3,10)

19

20

Dies wird auch deutlich in der Darstellung von Schrage, Ethik, wo sich im Blick auf die Darstellung der Materialethik Jesu kein Abschnitt zum Thema Arbeit findet, wohl aber in den Kapiteln über Paulus (vgl. a.a.O., 239–244). Vgl. Berger, Paulus, 18–22.

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Dass Paulus schließlich in einem Peristasenkatalog seine eigene handwerkliche Arbeit unter das Thema der Kreuzesnachfolge und des Erduldens von Nachteilen im Dienst der Verkündigung stellt (1 Kor 4,12), ist ein weiterer Hinweis darauf, dass Arbeit in neutestamentlicher Sicht nicht idealisiert oder gar – wie in neuzeitlichen theologisch-ethischen Ermahnungen – als „Mittel sittlicher Selbsterziehung“21 gesehen werden darf. Eine gewisse Relativierung des üblichen Arbeitsethos durch Paulus ist schließlich auch seiner Argumentation im Philemonbrief zu entnehmen.22 Paulus bittet in einer psychologisch geschickten Argumentationsweise den Sklavenbesitzer Philemon darum, den ihm entlaufenen Sklaven Onesimus freundlich wieder aufzunehmen und ihn nach Möglichkeit als Gehilfen für Paulus freizustellen (vgl. Phil 12–14). Onesimus – der Name bedeutet der Nützliche (vgl. Phil 11) – hat sich als Diener des Paulus, der sich im Gefängnis befindet und weiterhin für die Verkündigung wirken will, als nützlich erwiesen und ist damit seinem Namen mehr gerecht geworden denn als Arbeitssklave. Aus dieser Argumentation lässt sich bei Paulus eine deutliche Überordnung der verkündigenden und gemeindlichen Tätigkeiten gegenüber den Anforderungen der antiken Arbeitswelt folgern. Darüber hinaus wird im Philemonbrief das Institut der Sklaverei zwar nicht grundsätzlich in Frage gestellt, aber durchaus relativiert, da eine mögliche Freistellung des Onesimus für gemeindliche Zwecke als prioritär herausgestellt wird. Zudem soll Philemon bei der Rückkehr den Onesimus als einen „geliebten Bruder“ im Alltag wie im Herrn (V. 16) anerkennen, d.h. ihn als gleichwertiges Glied in der Gemeinde, aber eben auch im Arbeitsalltag, achten. Ohne dass explizit die Institution der Sklaverei aufgehoben wird, hat Paulus in diesem seelsorgerlich motivierten Brief eine deutliche Relativierung und sogar Unterminierung der Sklaverei zumindest für den Bereich der christlichen Gemeinden formuliert, die als „Raum der Freiheit“23 konkret die „Gemeinschaft der Gleichen in ungleicher Gesellschaft“24 ermöglichen sollen. Anders als in der Verkündigung Jesu ist Arbeit somit bei Paulus ein Thema, das explizit aufgenommen und unter verschiedenen Aspekten entfaltet wird. Arbeit wird hier deutlich als notwendiges Mittel des Lebensunterhalts, zur Unterstützung von Bedürftigen sowie zur Ermöglichung gemeindlicher Tätigkeiten benannt. Im Vergleich zur Verkündigung Jesu ist somit eine gewisse Transformation zu beobachten: Während in der Jesusbewegung eine Praxis solidarischen Teilens in der Nachfolge die dominante Form der Sicherung des Lebensunterhalts gewesen zu sein scheint, wird in den paulinischen Briefen ein Ethos in den Gemeinden eingefordert, das Arbeit im Sinn der Selbstverantwortung der aktiv Tätigen versteht, um auf diese Weise zudem Möglichkeiten zu eröffnen, die Erträge der Arbeit für die Gemeindearbeit und insbesondere zur Hilfe für Bedürftige zu verwenden. Während die Jesusnachfolge als eine charismatische Aufbruchsbewegung zu kennzeichnen ist, die kaum auf die Etablierung dauerhafter Strukturen ausgerichtet war, sondern durch die Präsenz Jesu und durch seine Reich-Gottes21 22 23 24

Vgl. die entsprechende Kritik von Schrage, a.a.O., 139. Vgl. Wengst, Philemon. Wengst, Philemon, a.a.O., 102. Wengst, Philemon, a.a.O., 104.

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Botschaft zu einer spontanen Praxis des Teilens und damit der Ermöglichung einer guten Lebensführung für alle motiviert worden ist, ist bei Paulus, der ebenfalls durchaus von einer starken Naherwartung geprägt war, dieser charismatische Aufbruch transformiert worden in eine Lebensführung, die ein alltägliches Ethos der Notwendigkeit selbstverantwortlicher Arbeit zur Sicherung des Lebensunterhalts in den Mittelpunkt gestellt hat. Dieses Ethos hat wesentlich zu der Ausbildung dauerhafter Strukturen der Gemeinden und ihrer Selbstorganisation gegenüber einer oft feindlichen Umwelt beigetragen, ohne dass das Ethos solidarischen Teilens damit aufgegeben worden ist. Allerdings ist die Bedingungslosigkeit und charismatisch geprägte Unbesorgtheit des Teilens einer eher nüchternen, mit den alltäglichen Notwendigkeiten kalkulierenden Lebensführung gewichen. Sowohl eine Spiritualität der solidarischen Praxis des Teilens wie auch eine Spiritualität der Arbeit, um für sich selbst und für andere zu sorgen, lassen sich somit an Hand der neutestamentlichen Schriften in einer eigentümlichen Spannung rekonstruieren. Allerdings dürfte es schwierig sein, die Spiritualität der Arbeit unmittelbar auf Jesus zurückzuführen, da hier die textlichen Grundlagen kaum aussagekräftig sind. Eine Spiritualität der Arbeit im Sinn eines nüchternen Ethos der Selbstverantwortung, das allerdings mehr die Mühe und Last der Arbeit denn die Selbstentfaltung beinhaltet, könnte sich gut auf Paulus und dessen Praxis wie Botschaft berufen.

3.

Das reformatorische Berufsethos und seine antimonastische Grundhaltung

Eine enorme Aufwertung gerade auch gegenüber den biblischen Schriften erfuhr die Arbeit in der Wirkungsgeschichte des Christentums insbesondere durch die Reformation. Es ist deren kaum zu überschätzende Bedeutung gewesen, die traditionelle Verhältnisbestimmung von vita activa und vita contemplativa einer grundlegenden Revision unterzogen zu haben. Während in der Antike vorrangig die Lebensform der Muße und des theoretischen Studiums den freien Bürgern angemessen war und im Mittelalter das kontemplative Leben der Geistlichen den weltlichen Ständen deutlich übergeordnet wurde, hat die Reformation das alltäglich-aktive Leben im Dienst für den Nächsten und in Verantwortung vor Gott als die den Christen angemessene Haltung herausgestellt. Im Hintergrund steht hier die grundlegende Entdeckung Luthers, dass alle Christen „wahrhaft geistlichen Standes“25 sind, da durch die Taufe alle Christen prinzipiell gleichgestellt sind. So wie der Geistliche zuvor seine Tätigkeit in besonderer Weise als Gottesdienst verstand, so können und dürfen nach Luther nun alle Menschen ihre jeweilige Tätigkeit, gerade auch die Tätigkeiten der Arbeitswelt, als Gottesdienst betrachten. Arbeit bzw. das tätige Leben gilt nach Luther als Gebot Gottes für alle Menschen, wobei jeder in seinem Stand eine spezifische Aufgabe zu erfüllen hat. Im Hintergrund steht hier die mittelalterliche und durch die Reformation modifizierte 25

Luther, WA 6, 407.

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Drei-Stände-Lehre, wonach zwischen den drei Ständen keine Hierarchisierung mehr besteht, wie sie für die mittelalterliche Überordnung des geistlichen Lebens noch typisch war. Stattdessen ist in jedem Stand der Dienst am Nächsten zu realisieren, wobei Luther die konkrete Aufgabe der Einzelnen durch den von ihm pointiert geprägten Begriff des Berufes bestimmt hat. Der Beruf in diesem Sinn bezeichnet den konkreten Ort der Arbeit und zieht die von dem Einzelnen im Gehorsam gegenüber Gott bejahte Einordnung in den jeweiligen Stand nach sich. Luthers Innovation ist diesbezüglich darin zu sehen, dass er den Berufsbegriff von der ursprünglichen Beziehung auf das Ordensleben gelöst und für die Kennzeichnung der weltlichen Berufe verwandt hat. Gerade in seiner Polemik gegen das einsame, von der Familie und dem Leben in der Welt getrennte Mönchsleben hat er die Berufung des Menschen durch Gott zum tätigen Leben herausgestellt, das sich im Sinn der Nächstenliebe an den Bedürfnissen der anderen zu orientieren hat.26 Der Berufsbegriff bezeichnet in diesem Sinn „alle kontinuierlichen menschlichen Tätigkeiten, die im Dienst der Mitmenschen stehen und stehen sollen... Von der Mutter bis zum Stallknecht, vom Fürsten bis zur Hausfrau, vom Ratsherren bis zum Schuster.“27 Während das Mönchsleben als selbstgewählte Existenz sich der alltäglichen Sorgen zu entledigen trachtet, wird gerade die pflichtgemäße Berufsarbeit von Luther als das von den Christen zu tragende Kreuz interpretiert, wobei er in besonderer Weise die mit dem Beruf verbundenen Schwierigkeiten als Beweis dieser Deutung heranzieht. In diesem Sinn bekämpft die mit dem jeweiligen Beruf gegebene Verantwortung das selbstsüchtige Wesen des Menschen. Frömmigkeitsgeschichtlich prägnant zum Ausdruck gebracht hat diese Grundhaltung die lutherische Fehl-Übersetzung von Ps 90, 10: „Unser Leben währet 70 Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind es 80 Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.“ Dieser Vers im Wortlaut der an Luther angelehnten Übersetzung drückt das protestantisch geprägte, für die Neuzeit wirkmächtig gewordene Arbeitsethos treffend aus: Die Bewertung der Lebensführung ist untrennbar mit der eigenen Arbeit verknüpft, Mühe und Arbeit sind der Beweis der „Köstlichkeit“ des Lebens. Diese Übersetzung ist philologisch allerdings höchst problematisch, seit der Revision der Luther-Übersetzung von 1964 heißt es: „und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe“.28 Seit dieser theologischen Bestimmung der Arbeit als Beruf und der Deutung von Mühe und Arbeit als Ausdruck der „Köstlichkeit“ der Leidensnachfolge ist das tätige Leben zum zentralen Ort der Bewährung des evangelischen Glaubens geworden. Die Ausrichtung auf die Muße, ein Leben in der Kontemplation oder gar das mönchische Leben, welches nicht weltgestaltend wirkt, werden in diesem Horizont in einer grundsätzlichen Weise delegitimiert. Der evangelische Glaube

26 27

28

Vgl. hierzu immer noch grundlegend: Wingren, Beruf. Huber, Sabbat, 5. Luthers Interpretation bzw. Fehl-Übersetzung wurde in einer Anmerkung zu Ps 90 in der Revision von 1964 als missverständlicher Ausdruck seines kreuzestheologisch begründeten Berufsethos dargestellt. Am wortgetreuesten im Blick auf die Hebraica übersetzt hier die Zürcher Bibel: „ … und das meiste daran ist Mühsal und Beschwer.“

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zieht demgegenüber die Strebensausrichtung der Menschen nicht von der alltäglichen Wirklichkeit ab, sondern diese wird aufgewertet als ein exemplarisches Begegnungsfeld von Gott und Mensch. In der alltäglichen Berufsarbeit dient der Mensch seinem Nächsten, wie es dem Willen Gottes entspricht. Innerhalb der Sphäre der vita activa bleibt in der Reformationszeit die Verschiedenartigkeit der Tätigkeitsformen charakteristisch und diese werden ohne prinzipielle Rangabstufungen nebeneinander gestellt. Eine Engführung auf Erwerbs- oder gar Lohnarbeit ist hier in keiner Weise impliziert, wie beispielhaft Luthers Hochschätzung der Familien- und Reproduktionsarbeit zeigt. Tätiges Leben bzw. Beruf bezeichnet vielmehr alle Formen menschlicher Tätigkeit, sofern sie zur Befriedigung von Bedürfnissen im Dienste des Nächsten geschehen. Auch wenn sich dieses Motiv speziell auf die paulinische Tradition beziehen kann, ist damit dennoch ein neuer Ton angeschlagen und es erfolgt seither speziell im Protestantismus eine eigenständige Würdigung der Arbeit, die gerade in der Gleichsetzung mit dem oder z.T. sogar in der Überordnung über das geistliche Leben ihre Pointe hat. Dass eine solche Deutung, eher für den Neuprotestantismus denn für die Reformationszeit typisch, sich nur bedingt auf die neutestamentlichen Texte berufen kann, ist demgegenüber noch einmal herauszustellen.

4.

Das neuzeitliche Arbeitsverständnis in Spannung zum tätigen Leben der Christenmenschen: Zur theologischen Würdigung der Arbeit als Parergon (Karl Barth)

Das moderne Arbeitsverständnis hat sich speziell in der Zeit seit dem 19. Jh. zunehmend von seinen christlichen, speziell protestantischen Wurzeln emanzipiert. Zur Zeit der Säkularisation kirchlicher Güter glaubten sich Feudalherren und insbesondere das aufgeklärte Bürgertum dazu ermächtigt, „die unproduktive Masse geistlicher Besitztümer zu enteignen und in die Hände einer fleißigen weltlichen Menschheit zu übergeben.“29 Ein wichtiger Legitimationsgrund der Säkularisierung war die Hoffnung, die Menschheit könne sich durch Arbeit und Selbstbestimmung aus Not und Elend empor arbeiten und einen menschlichen Fortschritt herbeiführen. Das hier im Hintergrund stehende Menschenbild ist geprägt von einer „ständig erweiterten Selbstaktivierung und des gesteigerten Selbstgenusses in der Kraftentfaltung“30, die an die Stelle von Passivität und Untertänigkeit gesetzt wurden. Die Aktivierung des Menschen in der Arbeit wird seither ständig aufgewertet. Diese Aktivierung ist, z.T. anknüpfend an die reformatorische Deutung der Arbeit, als Ausdruck einer kulturgeschichtlich neuen Bewertung der Arbeit in der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen. Diese Perspektive

29 30

Sloterdijk, Chancen, 11. Sloterdijk, a.a.O., 12.

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wird im 19. Jh. in vielfacher Weise aufgenommen, wobei Arbeit nicht allein ökonomisch, sondern zunehmend als anthropologischer Grundbegriff interpretiert wird. Bereits bei Fichte wird das Ziel der Arbeit weniger in der Vermehrung des Wohlstandes gesehen, sondern dient primär der Verwirklichung der Menschwerdung des Menschen und seiner Befreiung von den Naturzwängen.31 Damit wird das ursprünglich ökonomische Verständnis der Arbeit zu einer anthropologischen Zentralkategorie transformiert32. Arbeit soll in dieser Perspektive, wie sie dezidiert auch von Schleiermacher vertreten worden ist, den Menschen veredeln, wobei die zunehmende Industrialisierung und Mechanisierung der Arbeit den Menschen unwürdige und schwere Arbeit abnehmen soll, um den humanen Sinn der Arbeit freizulegen.33 Diese Haltung ist typisch für das 19. und weithin auch für das 20. Jh., nicht zuletzt für die Arbeiterbewegung, die daran anknüpft und entsprechend reale Chancen der Verwirklichung des Menschseins für die Arbeiter einfordert. Solche emanzipatorischen Ideale sind durchaus auch von christlichen Sozialreformern beider Konfessionen aufgenommen worden, wobei es ihnen zumeist darum ging, das biblische Ethos als einen Lösungsansatz für die „soziale Frage“34 fruchtbar zu machen. Dass diese Ideale durchaus legitimierbar sind, gleichzeitig aber eine unmittelbare Bezugnahme auf biblische Texte diese in problematischer Weise verzeichnen kann, hat im Protestantismus Friedrich Naumann mit Nachdruck herausgestellt. Er bezeichnete es als Unmöglichkeit, „Jesus als Fahnenträger neuer industrialistischer Ideale, und seien es die besten, in Anspruch zu nehmen.“35 Einer direkten Verknüpfung der neutestamentlichen Botschaft mit heutigen sozialen und ökonomischen Herausforderungen wurde von Naumann eine Absage erteilt, da es keine heutige Sozialpolitik der Bergpredigt geben kann, da diese in ihrer Betonung der Freiheit von der Sorge nur schwer mit dem kalkulierenden Prinzip der Sozialversicherungen zu vereinbaren ist. Aktuelle Probleme, wie etwa Tarifkonflikte, lassen sich nicht durch biblische Belege lösen. Dennoch bleibt die Verkündigung Jesu, speziell die Bergpredigt, grundlegend, indem sie nach Naumann eine „Linie am Horizont“36 bezeichnet, die eine über den jeweiligen Status quo hinausweisende Perspektive aufzeigt und dadurch die jeweils geltenden Ideale kritisch hinterfragt und als ein Stachel gegen das gute Gewissen im Blick auf die sozialen Ideale einer Zeit wirkt. Die Spannungen des biblischen Ethos – dies gilt insbesondere wohl für die aufgezeigte solidarische Praxis des Teilens der Jesusbewegung – zum gegenwärtigen Leben sind somit stets als produktive Herausforderung zu begreifen und aufzunehmen. Im Blick auf die Deutung der Arbeit ist vom Neuen Testament her zunächst eine Kritik gegen Tendenzen einer Verabsolutierung des Arbeitsverständnisses herauszustellen. Arbeit ist für Christen nicht identitätsprägend, weil ihre Identität in der Annahme durch Gott begründet ist. Insofern ist allen Tendenzen einer sich 31 32 33 34 35 36

Vgl. Conze, Art. „Arbeit“, 179. Vgl. Honecker, Art. „Arbeit VII“, 643. Vgl. Schleiermacher, Sitte, 466. Vgl. Jähnichen, Art. „Soziale Frage“, 1473–1475. Naumann, Religion, 608. Naumann, Debattenrede 829.

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totalisierenden Arbeitswelt – gegenwärtig durch die zunehmenden Entgrenzungen von Arbeitswelt und Freizeit – eine Absage zu erteilen. Arbeit ist, wie in den paulinischen Schriften deutlich wird, ein notwendiges Tun und es kann einer solidarischen und gemeindlichen Praxis dienen. Ein in diesem Sinn überzeugendes theologisches Modell des tätigen Lebens findet sich bei Karl Barth. Er bestimmt als die zentrale Tätigkeit des Christen die Mitwirkung im Dienst der christlichen Gemeinde. Die Arbeit im engeren Sinn ist nach Barth nicht die Mitte des Tuns, sondern der Umkreis, Arbeit ist daher etwas Beiläufiges, ein „Parergon“37, als solches aber notwendig. Diese Verhältnisbestimmung dürfte weitgehend dem neutestamentlichen Befund entsprechen. Weil ein Christenmensch primär im Dienst Gottes steht, wird die Arbeitswelt relativiert, und diese Relativierung ist letztlich für ihn heilsam. Arbeit dient dazu, dass der Mensch „da sein“, dass er menschenwürdig leben kann und es ist als Voraussetzung zu fordern, dass er auch menschwürdig arbeiten darf. Sie ist Mittel und nicht Selbstzweck, nach Barth findet sich letztlich im Neuen Testament eine ganz und gar „nüchterne“38 Motivierung zur Arbeit, ohne „irgend eine(r) höhere(n) Sinngebung.“39 Dieses neutestamentlich grundierte Modell kann dem Arbeitsverständnis der Neuzeit als kritischer Spiegel dienen. Es ist eine Kritik der idealisierten und überfordernden Versprechen und Anreize der modernen Arbeitswelt, indem es gegen solche falschen Verheißungen der Selbstverwirklichung durch die Arbeit eine nüchterne Relativierung setzt. Gleichzeitig dient dieses Verständnis der Befreiung zu sachlicher Arbeit, die als solche der Würde des Menschen und seiner Humanität entspricht. Dies bedeutet konkret, dass stets die Grenze der Arbeit zu reflektieren und praktisch zu verwirklichen ist, wie sie die Sonn- und Feiertagskultur repräsentiert. Eine in diesem Sinn nüchterne „Spiritualität der Arbeit“ kann eine wichtige Orientierung gerade für Menschen in der modernen Arbeitsgesellschaft sein und sollte an die Stelle missverständlicher theologischer Redeweisen treten, etwa im Protestantismus an die Stelle der Formulierung, Arbeit unmittelbar als Gottesdienst zu verstehen. Stattdessen sind die Notwendigkeit der Arbeit, gleichzeitig ihre Grenzen und so ihre sachlichen Anforderungen – im Sinn des „Parergon“ – zu betonen. Ebenso ist angesichts verschiedener aktueller Ansätze einer „Sharing Economy“ an die solidarische Praxis des Teilens in der Jesusbewegung zu erinnern. Hier kann es ebenfalls nicht darum gehen, einen kulturellen Trend durch eine unmittelbare Bezugnahme auf das Neue Testament legitimieren zu wollen. Allerdings kann die biblische Erinnerung auch diesbezüglich orientierend wirken. In der christlichen Sozialverkündigung sollte das Thema des Teilens und damit verbunden eine Relativierung des Eigentums in neuer Weise relevant werden und auf diese Weise könnten christliche Impulse für die sich entwickelnde „Sharing Economy“ gesetzt werden.

37 38 39

Barth, Schöpfung, 558.599. Barth, KD III/4, 602f. Barth, KD III/4, 602.

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Prekäre Arbeitsverhältnisse Lohn und Lohnverzug im Alten Testament Christian Frevel

ἄξιος γὰρ ὁ ἐργάτης τοῦ μισθοῦ αὐτοῦ. Wer arbeitet, hat ein Recht auf seinen Lohn. (Lk 10,7*)

In seiner Enzyklika Laudato Si’ hat sich Papst Franziskus in bemerkenswerter Weise zur Begründung eines Existenzminimums geäußert: „Der Reiche und der Arme besitzen die gleiche Würde, denn ‚der Herr hat sie alle erschaffen‘ (Spr 22,2), ‚er hat Klein und Groß erschaffen‘ (Weish 6,7) und ‚lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten‘ (Mt 5,45). Das hat praktische Konsequenzen wie die, welche die Bischöfe von Paraguay darlegten: Jeder Campesino hat ein natürliches Recht darauf, ein angemessenes Stück Land zu besitzen, wo er seine Wohnstätte errichten, für den Lebensunterhalt seiner Familie arbeiten und existentielle Sicherheit haben kann. Dieses Recht muss garantiert werden, damit es keine Illusion bleibt, sondern konkret angewendet wird. Das bedeutet, dass der Campesino außer dem Eigentumszertifikat sich auf Mittel technischer Schulung, Kredite, Versicherungen und Vermarktung verlassen muss“1. In der Aussage zum Recht auf Grundeigentum als Existenzsicherung, auf das sich Papst Franziskus unter Verweis auf eine Verlautbarung der Bischofskonferenz von Paraguay von 1983 bezieht, ist die lateinamerikanische Situation deutlich zu erkennen. Zum gerechten Lohn – eine Frage, die in den Debatten in Westeuropa in den vergangenen Jahren sehr aktuell war –, nimmt das Dokument nicht explizit Stellung2. Entscheidend aber ist das „wie die“, mit dem der Papst die Schlussfolgerung der paraguayischen Bischöfe nur als ein Beispiel kennzeichnet. So sind Grundbesitz und dessen subsistenzwirtschaftliche Bewirtschaftung für einen Großteil der Menschen in Westeuropa keinesfalls mehr die maßgebliche Existenzsicherung: Sie stehen (wenn überhaupt) in Beschäftigungsverhältnissen und sind damit auf Lohnzahlung in angemessener Höhe angewiesen. Dass sich in Bezug auf Lohn(unter)grenzen, Lohndumping etc. zu der Enzyklika vergleichbare Aussagen in einer christlich sozialen Perspektive formulieren lassen, dürfte außer Frage stehen. Im vorliegenden Beitrag soll dazu an einige alttestamentliche Aspekte erin-

1 2

Papst Franziskus, Enzyklika Laudato Si’, Abschnitt 94. Sehr wohl aber implizit, etwa Nr. 159: „In der gegenwärtigen Situation der globalen Gesellschaft, in der es so viel soziale Ungerechtigkeit gibt und immer mehr Menschen ausgeschlossen und ihrer grundlegenden Menschenrechte beraubt werden, verwandelt sich das Prinzip des Gemeinwohls als logische und unvermeidliche Konsequenz unmittelbar in einen Appell zur Solidarität und in eine vorrangige Option für die Ärmsten. Diese Option bedeutet, die Konsequenzen aus der gemeinsamen Bestimmung der Güter der Erde zu ziehen …“.

Christian Frevel

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nert werden, ohne damit den Anspruch auf eine umfassende Bearbeitung des Themas Lohn im AT zu erheben. Zunächst werden einige grundsätzliche Überlegungen zu Arbeit und Lohn im vorhellenistischen Israel des 1. Jt.s v. Chr. angestellt, dann werden einige Anmerkungen zur Begrifflichkeit und Konzeptualisierung gemacht, um schließlich auf die biblische Problematisierung des Lohnverzugs zu sprechen zu kommen. Der Beitrag schließt mit Überlegungen, die sich an die einleitende Aussage von Papst Franziskus zur gleichen Würde aller Geschaffenen anschließen.

1.

Damit die Arbeit lohnt: Arbeit und Lohn

Unter Lohn versteht man landläufig ein geregeltes, d. h. unter den betroffenen Parteien vereinbartes Entgelt für ausgeübte Tätigkeiten oder Dienstleistungen, das kompensatorischen Zwecken dient und in einem angemessenen Verhältnis zu der erbrachten Leistung steht. Überlegungen zum gerechten Lohn im antiken Israel stehen nun vor mehrfachen Herausforderungen. Das Wissen über Arbeitsverhältnisse im antiken Israel ist insgesamt gering3. Wann und in welcher Form es überhaupt Erwerbsarbeit gegeben hat, ist nicht wirklich klar. Fragt man nach dem „Wann?“, so wird man regional differenzieren müssen. Während sich in den Städten der Jesreel-Ebene und des Bet-Schean-Beckens die spätbronzezeitliche Städtegesellschaft fortsetzt, entsteht im Bergland in der Eisen I-Zeit (ca. 1150–925 v. Chr. bzw. 1200–980 v. Chr.) eine landwirtschaftlich geprägte Dorfkultur, wo mit wenig ökonomischer Differenzierung und Spezialisierung gerechnet werden muss. Hier bestellt ein Bauer mit seinen Familienmitgliedern subsistenzwirtschaftlich sein Feld; er versorgt seine Großfamilie. Auch hier gibt es Handwerker, die dem Grad ihrer Spezialisierung entsprechend eingesetzt und entlohnt werden. So erfordert z. B. die Herstellung von Keramik, von Mühlsteinen, Olivenpressen oder Pflügen Wissen und Fertigkeiten, über die nicht jedes Mitglied einer segmentären Gesellschaft verfügt. Doch erst die Ausbildung substaatlicher und staatlicher Strukturen in der Eisen IIA-Zeit, zunächst im Norden, später dann im Süden, führt zu ökonomischer Diversifizierung und zur Herausbildung von Strukturen, die Fron und Erwerbsarbeit in breiterer Form einschließen4. Die Rede von einer Klassengesellschaft, die eine sozial stärkere Stratifizierung und Besitzakkumulation für das 8. Jh. v. Chr. anzeigt, deutet das an5. Eine Wirtschaftsgeschichte Palästinas in der Antike muss allerdings erst noch geschrieben werden6. Dazu gehört auch eine differenzierte Betrachtung der Arbeitsverhältnisse und deren Bezahlung, für die schon semantisch kaum ausreichende Informationen vorliegen. 3 4 5 6

Vgl. für einen ersten Überblick Zwickel, Leben und selbstverständlich immer noch Dalman, Arbeit. Zu den skizzierten Entwicklungen Frevel, Geschichte, 64–275. Vgl. dazu Kessler, Staat und Gesellschaft; Ders., Sozialgeschichte, 114–126. Ansätze bei Pastor, Economy; Hutton, Amos 1:3–2, 81–113; Master, Economy, 81–97; Levine, Economy, 445–453; Kessler, Wirtschaftsrecht, 11–30; Zwickel, Wirtschaftsreform, 275–294.

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Das macht ein Blick auf die Breite des Nomens ‛ӕbӕd unmittelbar klar, denn zwischen den Bedeutungen Arbeiter, Diener, Knecht, Angestellter, Sklave ist „jur[istisch] u[nd] soz[iologisch] schwer zu unterscheiden“7. Das Nomen melā‛kāh, das mit Arbeit, Werk, Dienst oder Geschäft übersetzt werden kann, wird zwar auch für die Feldarbeit (Spr 24,27), das Handwerk (1 Kön 7,14; Jer 18,3; Neh 5,16) oder den professionellen Dienst am Heiligtum (Num 4,3; 1 Chr 6,34) verwendet und meint in manchen Kontexten einfach Beruf (Jona 1,8), gibt aber kaum Aufschluss über die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse. Das Nomen śākār Lohn soll weiter unten genauer in den Blick genommen werden. Neben die semantischen Unschärfen tritt das Fehlen der epigraphischen Evidenz: Arbeitsverträge, Lohnvereinbarungen o. ä. sind für das erste Jahrtausend aus Palästina nicht belegt8. Das altorientalische Umfeld ist diesbezüglich deutlich ergiebiger: Dort sind Naturalabgaben für saisonale Arbeiten in der Landwirtschaft, im Transportwesen und im Handwerk seit dem 3. Jt. v. Chr. bezeugt9. Hinweise auf Erwerbsarbeit lassen sich am ehesten indirekt aus öffentlichen Bauprojekten oder dem Bergbau gewinnen, wenn für diese Bereiche nicht eine großflächige Fronarbeit angenommen werden soll. Gleiches gilt für die Landwirtschaft in dem Moment, wo die bäuerlich-familiäre Subsistenzwirtschaft verlassen wird und die Landwirtschaft in eine staatliche oder substaatliche Ökonomie eingebunden ist. Auch handwerkliche Spezialisierungen (Bäcker, Töpfer, Siegelschneider, Weber, Wagner etc.) lassen mit zunehmender Ausdifferenzierung der Ökonomie Raum für die Erwerbsarbeit von Männern. Erwerbsarbeit von Frauen ist sowohl in der Textilproduktion als auch saisonal in der Landwirtschaft wahrscheinlich. Auch Hebammen werden entsprechend für ihre Dienste entlohnt worden sein und „Werkverträge“ für ihre Tätigkeit abgeschlossen haben. Die Prostitution als Gewerbe bildet einen Sonderbereich bezahlter Dienstleistungen, der hier ganz ausgeklammert werden soll. Geht man also davon aus, dass es abhängige Beschäftigte gegeben hat (was kaum sinnvoll zu bezweifeln ist), stellt sich die Frage, wie der Lohn vor der Einführung des Münzgeldes im 5. Jh. v. Chr. gezahlt worden ist. Palästina wird sich hier nicht großartig vom altorientalischen Umfeld unterschieden haben. Möglich sind daher als Bezahlung Naturalien (vor allem Getreide: Gerste oder Emmer), Silber, vielleicht auch andere Metalle oder materielle Gegenwerte (Kleidung, Geräte, Wohnung etc.)10, doch über Lohnniveau, Lohnverhandlungen oder die Kaufkraft liegen de facto kaum Informationen vor11. Bezogen auf die grundsätzliche Anwendung von sozialwissenschaftlichen Modellen hat zuletzt J. S. Kloppenborg das ökonomische Nichtwissen nachdrücklich herausgestellt: „Neben der kümmerlichen Datenlage sind die Ausleger und Auslegerinnen mit einem zweiten Problem konfrontiert: dem Fehlen einer inter-

7 8 9 10 11

Ges18, 909. Für einen Arbeitsvertrag aus dem Muraššu-Archiv vgl. Weippert, Historisches Textbuch. Vgl. Neumann, Art. Lohn I. Alter Orient, in: NP (Internetquelle: http://referencework brillonline.com/entries/der-neue-pauly/lohn-e709090, letzter Zugriff: 13.10.2015). Vgl. die Angaben bei Krecher, Stol, Marten/Ries, Gerhard/Imparati, Art. Miete, 156–187. Vgl. zur Übersicht Kegler/Eisen, Art. Arbeit/Lohnarbeit, Lohn, 16–19, 357–359; Zwickel, Geld, 74–75; Kessler, Lohnarbeit, 46–60.

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pretativen Matrix. … Es fehlt regelmäßig die Kenntnis grundlegender mediterraner Werte (wie z. B. Ehre, Schande, Gastfreundlichkeit und Reinheit), sozialer und ökonomischer Strukturen und der Mechanismen des Austauschs (wie z. B. Patronat, Wohltätigkeit und Reziprozität)“12. Die vorliegende Annäherung an die Frage der Lohnzahlung steht unter entsprechendem Vorbehalt. In Bezug auf das Lohnniveau wird üblicherweise angenommen, dass die Bezahlung lediglich den minimalen Lebensunterhalt sicherte: „Es steht zu vermuten, dass der Lohn eines Sklaven und einer Sklavin in der täglichen Mahlzeit bestand (Ex 21,2). Ein Tagelöhner (śākīr) wurde für jeden Arbeitstag entlohnt (Dtn 24,15), mutmaßlich in der Höhe des Überlebensnotwendigen“13. Das wird meist aus Belegen wie Rut 2,9.14 geschlossen, wo die Schnitter am Feldrand mit Brot, gerösteten Gerstenkörnern und Wasser versorgt werden, und das als deren Lohn gedeutet wird. Dass die Höhe der Bezahlung für Arbeitsleistungen nicht unbedingt den Erwartungen eines tarifgeschulten Gewerkschaftlers entsprach, sondern das Existenzminimum oft die Untergrenze bildete, zeigen auch einige der altorientalischen Texte. Dtn 15,18 markiert aber wenigstens einen deutlichen Lohnunterschied von Sklave und Lohnarbeiter. Wenn es als Besonderheit gewertet wird, dass Ägyptens Lohnarbeiter (oder Söldner) wie fette Kälber (ke‛ӕglê marbeq) sind, deutet das im Kontrast vielleicht auch auf das üblicherweise niedrige Lohnniveau, von dem man eben nicht fett werden kann. Das Lohndrücken jedenfalls, das Mal 3,5 mit dem Terminus sozialer Unterdrückung beklagt (‛šq śekār śākîr „den Lohn des Lohnarbeiters niederdrücken“, vgl. Dtn 24,14), scheint eine deutliche Sprache zu sprechen. Der Lohn war niedrig und die Arbeitsverhältnisse oft prekär. Das Vorenthalten von Lohn war dabei jedoch, wie gleich zu zeigen ist, das größere Problem. Sicherlich besteht umgekehrt die Gefahr, die sozialkritischen Texte zu leichtfertig als Maßstab zu nehmen und daraus zu schließen, dass die Lage für Lohnarbeiter generell prekär war, doch gibt es auch Stellen, die auf angemessene und pünktliche Bezahlung schließen lassen (Esra 6,8; Ijob 31,39).

2.

Abhängig beschäftigt – Die Geburt des Lohnarbeiters

In der Regel wird der Unterschied zwischen dem Lohnarbeiter und dem Sklaven bzw. der Sklavin im Personenstatus gesehen. Der śākîr bezeichnet – so eine häufiger zitierte Definition von Friedrich Horst – „mit Ausnahme von Jer 4621, wo Söldner in Frage kommen, immer den (grund-)besitzlos gewordenen Lohnarbeiter, mit dem man kurz- oder langfristige (Js 1614; 2116, auch Lev 2553) Arbeitsverträge abschloss. Vom Sklaven, der zwar weithin die gleiche Arbeit zu tun hat, unterscheidet sich der Lohnarbeiter durch seinen personenrechtlichen Status des Freien“14. Das bietet zwar eine grundsätzliche Orientierung, doch ist die Lage de 12

13 14

Kloppenborg, Hirten und andere Kriminelle, 241–264, hier 241f. Vgl. auch die kritische Relecture der Anwendung sozialgeschichtlicher Analysen in der Geschichtswissenschaft in dem Band Maeder, Pascal/Luethi, Barbara/Mergel, Sozialgeschichte. Kegler/Eisen, Art. Arbeit/Lohnarbeit, 18. Horst, Hiob 1, 113f.

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facto komplexer. Es ist trotz der unbestrittenen Existenz von Sklaverei im Alten Orient nicht völlig klar, dass es einen zu allen Zeiten fest umrissenen Status des Sklaven gab und wie er sich vom Status des Freien unterschied. „Wie weit für die vorhellenistische Zeit von Sklaverei im Sinn einer völligen Rechtlosigkeit und Reduktion des Menschen auf seine Arbeitskraft gesprochen werden kann, ist fraglich und ein Problem der Definition“15. Wenn der Lohn eines Lohnarbeiters lediglich in der Grundversorgung mit Nahrung, Wohnung und Kleidung bestand, war der Unterschied zum Haussklaven de facto gering16. Was also genau „freier Bürger“ heißt, ist eine offene Frage. So gleicht z. B. das Heiligkeitsgesetz den Status des verarmten Schuldsklaven in Lev 25,39f. an den Lohnarbeiter an, sofern jener Volksgenosse ist. Über die Dauer von Arbeitsverträgen haben wir de facto keine oder kaum Informationen. Jes 16,14 und 21,16 sprechen je von einem bzw. drei śākîr-Jahren, doch ist unklar, ob man das auf Lohnarbeiter oder auf Söldner beziehen muss (LXX ὡς ἐνιαυτὸς μισθωτου; Vulgata quasi in anno mercennarii). Auf eine längerfristige „Lohn“-Bindung weist auch die Jakobserzählung mit den Sieben-Jahres-Zyklen. Ob es wirkliche Tagelöhner gegeben hat, die für einen Tag angestellt und entlohnt wurden, lässt sich nicht sicher sagen. Viele Stellen deuten vielleicht darauf hin, dass am Ende des Tages der Lohn zu zahlen war (Ijob 7,2; 14,6), was besonders Dtn 24,14–15, Lev 19,13 oder Tob 4,14 unterstreichen (s. u.). Damit nähern wir uns dem zweiten Definitionsmoment des „Grundbesitzlosen“, das ebenso schwierig ist. Aus den alttestamentlichen Belegen von śākîr geht nicht hervor, dass es sich um einen Grundbesitzlosen handelt. Das legt die Zusammenstellung mit dem tôšāb, dem Beisassen, zwar nahe (Ex 12,45; Lev 22,10; 25,6.40), doch gibt es keinen positiven Beleg, dass Lohnarbeiter zwingend grundbesitzlos gewesen seien. Die Annahme bezieht ihre Ratio aus der Überlegung, dass ein landbesitzender Kleinbauer sich subsistenzwirtschaftlich versorgen kann und daher keine Notwendigkeit zur Lohnarbeit besteht. Da in der segmentären Gesellschaft des frühen Israels alle in vergleichbarem Maß Grundbesitz hatten, gibt es anfänglich keine Lohnarbeiter. Durch die erbrechtliche Teilung oder den Verlust von Besitzrechten ist eine subsistenzwirtschaftliche Versorgung einzelner Kleinbauern dann nicht mehr möglich, es entstehen ökonomische Abhängigkeiten, aus denen sich die Lohnarbeit entwickelt17. Eine Erklärung für die arbeitsökonomische Ausdifferenzierung bietet also die Annahme einer Verknappung des verfügbaren Ackerlandes für Kleinbauern. Meist beschränkt sich allerdings die Erklärung nicht auf dieses Modell, sondern es wird vorausgesetzt, dass ursprünglich landbesitzende Kleinbauern ihres Besitzes beraubt wurden, sei es durch die 15 16

17

Kreuzer, Schottroff, Art. Sklaverei, 16–19, 524–530, hier 524. Das legt auch der Parallelismus Ijob 7,2 nahe, wo ‛ӕbӕd und śākîr im Aspekt der Belastung parallelisiert werden. Der ‛ӕbӕd lechzt nach Schatten, während der śākîr auf seinen po‛al wartet. Das Nomen, das wörtlich zunächst das Tun meint, wird hier wohl wie in Jer 22,13 als Lohn verstanden, der zu der Arbeit in angemessenem Verhältnis stehen muss und wohl am Ende des Tages gezahlt wird. Die Vulgata deutet den Vers im Anschluss an V. 1 auf den Söldner und bezieht das Warten nicht auf den Lohn, sondern wie Luther auf das Ende der Arbeit (et sicut mercennarius praestolatur finem operis sui), was aber die unwahrscheinlichere Auffassung ist (vgl. Sir 18,26 H). So etwa bei Nurmi, Ethik.

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gewachsenen ökonomischen Strukturen etwa in der Steuerlast oder durch die ungerechte Ausnutzung von Machtverhältnissen seitens der Elite oder der staatlichen Gewalt. „Gerät ein Bauer in Not und muss er Kredit aufnehmen, so kommt er leicht in die dauernde Abhängigkeit stadtsässiger Großbürger, denen er weitere regelmäßige Abgaben schuldet. Bis in die Gegenwart hat die Trennung von konsumorientierter Stadt und ausgebeuteter Bauernschaft das Bild des Vorderen Orients geprägt; unter dem ,Rentenkapitalismus‘ der Reichen kommt es zur Pauperisierung der ländlichen Bevölkerung, zur schon von den Propheten beklagten Fellachisierung der Bauern“18. Sieht man von dem generellen und vorurteilsbehafteten Urteil gegenüber dem Orient, das den Einfluss des späten 19. Jh.s und Max Webers nicht leugnen kann, einmal ab, weist das Zitat eine nicht unübliche, aber durchaus problematische Vermischung sozialhistorischer Modelle und Begriffe auf (Großbürger, Rentenkapitalismus, Fellachisierung), die die Entwicklung im spätvorexilischen Juda mit Analogien zu Sachverhalten der Spätantike, des Mittelalters oder der frühen Neuzeit bzw. dem Zeitalter der Industrialisierung zu erklären sucht. Diese Modelle sind nie ganz falsch, passen aber ebenso nie ganz. Wenn man sie benutzt, sollte man sich jeweils vor Augen halten, dass sie Voraussetzungen und Implikate haben, die oft anachronistisch sind. Die antike Wirtschaftsgeschichte und -theorie, die Max Weber in Empirie und Intuition so grandios in seinen Studien zu Wirtschaft und Gesellschaft begründet und umfassend skizziert hat19, ist in gegenwärtigen historischen Untersuchungen zur Sozialgeschichte eher ein Stiefkind und bedarf der dringenden Zuwendung. Dass es dazu nicht nur der Bibelwissenschaft, sondern der Berücksichtigung der Ergebnisse der Archäologie, der Wirtschaftsgeographie, der historischen Sozialforschung und noch weiterer Disziplinen bedarf, sollte außer Frage stehen. Wie dem auch sei, für die Existenz von Lohnarbeitern oder Tagelöhnern wird angenommen, dass es einen Prozess der Besitzakkumulation von „Bürgern“ gegeben hat, die durch ein Abgabenwesen zu einer Pauperisierung führte und ehemalige Bauern zu Land- und Lohnarbeitern machte. In der Exegese hat sich seit den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts der von Hans Bobek geprägte Begriff des Rentenkapitalismus als Beschreibungskategorie durchgesetzt20. Der besagt, dass „möglichst viele Bauern so in Dauerschulden zu verstricken (sind), daß sie mit all ihren jährlichen Zahlungen doch nie die bereits legendär gewordene Anfangsschuld abtragen können“21. Der Kleinbauer gerät in eine Spirale, in der er anfänglich – etwa wegen saisonaler Ernteausfälle – einen Kredit aufnehmen muss. Diesen kann er mit der lediglich auf seine familiäre Subsistenz ausgerichteten Wirtschaftseinheit nicht zurückzahlen, so dass die Schulden anwachsen und 18 19 20

21

Lang, Mensch, Arbeit, 35–56, hier 38. Vgl. Weber, Wirtschaftsethik; Ders., Wirtschaft; vgl. die von Johannes Winkelmann besorgte ältere Studienausgabe Weber, Wirtschaft. Rente meint dabei „sämtliche, auf den verschiedensten Titeln beruhenden regelmäßigen Anteile am Produkt der Bauern und Gewerbetreibenden“ (Hans Bobek, Gesellschafts- und Wirtschaftsentfaltung, 259–289, hier 280). Zur Verbreitung hat maßgeblich Oswald Loretz in seinem Beitrag, Rentenkapitalismus, in: UF 7 (1975), 271–278 beigetragen. Vgl. die ausführliche Auseinandersetzung bei Kessler, Staat, 7–12; Fleischer, Menschenverkäufer, 355–370. Bobek, Hauptstufen, 282.

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der Kleinbauer zunehmend verarmt, bis er das Land vollständig verpfändet und in Schuldknechtschaft endet. Die Kreditgeber werden dabei zu Eigentümern des verpfändeten Landes, was die Besitzakkumulation weiter verstärkt22. Die Sozialkritik der Propheten, die etwa in Am 2,7f.; 5,11; Mi 2,2; 7,3; Jes 3,14 die Übervorteilung der Armen anprangert, deutet in diese Richtung. Vor der Prominenz des Rentenkapitalismus wurde für die Besitzakkumulation häufiger ein anderer Begriff in der Exegese benutzt, der erstmalig 1886 von Paul Kleinert in seinem Kommentar zu Mi 2,2 angewandt wurde, das sog. Bauernlegen: „V. 2 sagt, worin diese ihre Uebelthaten hauptsächlich bestehen: und sie begeheren wider das Gesetz 2 Mos. 20, 17, dessen Terminus ‫ חמד‬nicht ohne Nachdruck wiederholt wird, Felder und stehlen; Häuser und nehmen; und bedrücken den Mann und sein Haus und den Menschen sammt seinem Erbe. Es ist die Übertretung der zum Schutz des Grundeigenthums und Erbrechtes gegebenen Gesetze 3 Mos. 25,23 ff. durch das Güterschlachten und Bauernlegen, welche der Prophet, wie sein Zeitgenoß Jesajah 5,8 ff. am herbsten rügt, weil dies der sicherste Weg zur Schöpfung eines unrettbaren Proletariats, zur feindseligen Sonderung der Besitzenden und Besitzlosen (Neh. 5,1 ff.) und somit zum Ruin der Nationalwohlfahrt und des Volksthums ist“23.

Hier wird eine meist im ökonomischen und politischen Handeln von Klöstern im 16. Jh. wurzelnde Praxis der Enteignung von Land und dessen Umwandlung in Gutsbesitz zur Analogie herangezogen, die ein gemindertes Besitzrecht der Bauern und die schonungslose Anwendung der Macht der Mächtigen voraussetzt. Als klassische Stellen gelten Mi 2,1–3 und Jes 5,8 (vgl. ferner Ijob 20,19). R. Kessler sieht im Bauernlegen das „Kernproblem der gesellschaftlichen Entwicklung“24 im 8. Jh. v. Chr. „Der freie ,Mann‘ wird um Haus und Feld gebracht und damit seines ,Erbbesitzes‘ beraubt“25. Das Moment der Enteignung ist dabei inakzeptables Unrecht, das weder im kanaanäischen noch im israelitischen Bodenrecht in irgendeiner Weise gedeckt ist, sondern auf Bestechung der Instanzen beruht, die eigentlich für Recht zu sorgen hätten. Rechtsbeugung ist zentrales Thema der Sozialgesetze (Ex 23,6; Dtn 16,9; 24,17 u. ö.) und einer der Standardvorwürfe der prophetischen Sozialkritik (Jes 10,2; 33,15–16; Am 2,7; 5,7.12; 6,12; Mi 7,9; Mal 3,5 u. ö.). Mit „anschlussfähigem“ Pathos beschreibt Walter Dietrich die Praxis des Bauernlegens, ohne den Begriff zu nennen: „Mit dem Schein der Legalität reißen die Reichen den Besitz sozial Schwächerer an sich, erhöhen auf diese Weise den Umfang ihres Produktivvermögens wie die Anzahl ihrer Arbeitskräfte, erwirtschaften damit einen hohen Kapitalüberschuß, investieren aufgrund der verbesserten Liquidität noch mehr Geld in Hypotheken, die wieder neuen landwirtschaftlichen Familienbetrieben den Garaus machen“26.

Momente der Enteignung und der Belegung mit Abgaben werden in den Erklärungsansätzen oft zusammen genommen. So kombiniert etwa auch R. Kessler Elemente des Bauernlegens und des Rentenkapitalismus, wenn er im Schuldenwesen die Ursache der Verarmung sieht. „Je nach Größe der Schuld verliert ein 22 23 24 25 26

Vgl. Lang, Prophetie, 53–73, 56. Kleinert, Obadjah, 55. Kessler, Staat, 59. Kessler, Staat, 59. Dietrich, Jesaja, 15.

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Bauer Haus und Feld an den Gläubiger und muß sein Dasein als landloser Tagelöhner bestreiten, oder er gerät in Schuldsklaverei und muß für seinen Gläubiger als Schuldsklave arbeiten“27. Im Hintergrund steht dabei ferner die Entwicklung von der tribalen segmentären Gesellschaft zur antiken Klassengesellschaft28. Hier ist nicht der Ort, die wirtschaftsgeschichtlichen Modelle des Bauernlegens, des Rentenkapitalismus oder die Ausbildung der antiken Klassengesellschaft näher zu betrachten, auch wenn die knappe Anzeige deutlich gemacht hat, dass weiter Klärungsbedarf besteht und eine Neubearbeitung der Fragestellung durchaus naheliegt. Hier ging es lediglich um die mit den Erklärungsansätzen verbundene Annahme, dass die Entwicklung des 8. Jh.s v. Chr., die von den Propheten kritisiert wird, insofern zur verstärkten Herausbildung der Lohnarbeit geführt hat, als dass die besitzlos gewordenen Bauern sich zur Abtragung ihrer Schuld für einen geringes – lediglich das Existenzminimum sicherndes Auskommen – als Arbeiter verdingen mussten. Wenn im Hintergrund die Verschuldung gesehen wird, diente der erwirtschaftete Lohn der Schuldentilgung, so dass mit der Lohnarbeit ein Schuldknechtschaftsverhältnis beschrieben wird. „Kleinere Bauernfamilien geraten durch Überschuldung in Schuldknechtschaft und können auf Dauer ihren Landbesitz verlieren, was sie zu einer Tagelöhnerexistenz zwingt“29.

3.

Lohnarbeit und Arbeitslohn

Vor dem Hintergrund dieses im Kern plausiblen Erklärungsansatzes ist auffallend, dass weder von Lohn noch von Lohnarbeit oder Tagelöhnern in den sozialkritischen Texten der Propheten explizit die Rede ist. Der terminus technicus śākîr kommt überwiegend in nachexilischen Texten vor, vor allem im Heiligkeitsgesetz (Lev 19,13; 22,10; 25,6.40.50.53 und davon abhängig Ex 12,45). Signifikant sind Ijob 7,1–2 und 14,6, die einen Hinweis darauf geben, dass die Entlohnung üblicherweise am Ende der Tätigkeit erfolgte. Dtn 15,18 hingegen zeigt, dass der Lohn von Tagelöhnern nicht nur in Nahrung, Wohnung und Kleidung, die dem Haussklaven zustehen (Ex 21,10) besteht, sondern (mindestens) das Doppelte als Rechnungsgrundlage dient30, wieviel auch immer das konkret ist. Dass der Lohn Verhandlungssache war, lässt Mal 3,5 vermuten, wenn der Lohn des Lohnarbeiters von den Ungerechten gedrückt wird (be‛ošqê śekar śākîr) und das der Unterdrückung der personae miserae gleichgestellt wird31. Der wohl älteste Beleg im AT liegt in der nicht personenbezogenen Verwendung als Miete im Bundesbuch

27 28 29 30 31

Kessler, Staat, 59. Vgl. dazu Kippenberg, Religion, 114–126. Kessler, Art. Gesellschaftsstruktur, in: WibiLex Internetquelle: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/19424/, letzter Zugriff 15.10. 2015). Zur Diskussion des mišnӕh als Relationsangabe Kessler, Lohnarbeit, 46–60, 52–53. Mal 3,5 dürfte sich auslegend auf Dtn 24,14 und Lev 19,13 beziehen, vgl. Noetzel, Maleachi, 290; Kessler, Maleachi, 243.

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Ex 22,14 vor. Ob die verbleibenden Belege Jes 16,14; 21,16; Jer 46,2132 und Dtn 24,1433 als vorexilisch einzustufen sind oder in die Nähe der nachexilischen Belege rücken, braucht hier nicht entschieden zu werden. Für den Lohn als vereinbarte Kompensation für geleistete Arbeit oder Dienste gibt es im Alten Testament neben den bereits erwähnten śākîr (Ex 22,14) und po‛al (Ijob 7,2) noch weitere Termini, vor allem Derivate der Wurzeln śkr und p‛l, nämlich śākār (Gen 30,32f.; 31,8; Ex 2,9; Num 18,31; Dtn 24,31 u. ö.), śӕkӕr (Spr 19,11; Jes 19,10) oder maśkorӕt (Gen 29,15; 31,7.41; Rut 2,12), pe‛ûllāh (Lev 19,13; 2 Chr 15,7; Spr 10,16; 11,18; Ez 29,20 u. ö.). Hinzu kommt noch an manchen Stellen der Begriff ḥelӕk Teil, Anteil, Gabe, Lohn. Dabei finden sich Lohnaussagen in Bezug auf die Bezahlung von Handwerkern (Jes 48,6), Bauarbeitern (Jer 22,13; 1 Kön 5,20), Webarbeiten (Jes 19,9–10; Tob 2,12), Boten (2 Sam 4,10), Erntearbeiterinnen (Rut 2,12), Ammen (Ex 2,9), Prostituierten (Gen 38; Ez 16,31.33; Hos 2,14; Joel 4,3; Spr 6,26), priesterlichen Diensten (Mi 3,11), Propheten/Wahrsagern (Num 22,17; 22.37; 24,11), Söldnern (Ez 29,19; 2 Chr 25,6) oder Reisebegleitern (Tob 5,15; 12,1). Auch hier fällt auf, dass die Frage des Lohns in der prophetischen Sozialkritik nicht thematisiert wird. Das nährt weiter die Zweifel, dass die vermehrte Entstehung der Lohnarbeit mit der sozialen Entwicklung des 8. Jh.s v. Chr. zu verbinden ist.

4.

Der ausbleibende Lohn

Die Mahnung in Dtn 24,14 führt zum letzten Schritt der Argumentation, dem Vorenthalten des Lohns gegenüber dem Tagelöhner oder Lohnarbeiter. Anschließend an die Pfandbestimmungen, die eng mit der Frage des Verschuldens verbunden sind, folgt in Dtn 24,14–15 der eindringliche Appell der deuteronomischen Sozialgesetzgebung. Dort sind in asyndetischer Reihung der śākîr, der ‛onî und der ’ӕbyôn genannt, wobei nicht ganz klar ist, ob sich der einleitende Prohibitiv lo’ ta‛ašôq („Du sollst nicht unterdrücken“) auf die drei Gruppen Tagelöhner, Arme und Bedürftige bezieht oder das śākîr wie in Ex 22,14 als Lohn aufzufassen ist und daher – in Anspielung auf die Armen in der prophetische Sozialkritik – auf den Lohn der Armen Bezug genommen wird. In jenem Fall wäre der Tagelöhner zu den Armen und Notleidenden hinzugezählt34. Während die Elberfelder oder die Zürcher vom „bedürftigen und armen Lohnarbeiter/Tagelöhner“ spricht, was 32

33

34

Jer 46,21 wird üblicherweise nach 609 v. Chr. datiert, in Jes 16,14 spricht „zwar der Prophet (…), aber so, wie ihn die Buchredaktion reden lässt“ (Beuken, Jesaja 13–27). Auch bei Jes 21,16, das üblicherweise dem Propheten zugeschrieben wird, betritt man kein sicheres Terrain (ebd., 237). Das hängt letztlich an der Beurteilung der Abhängigkeitsrichtung, die zwischen Dtn 24,14 einerseits und Lev 19,13 und Ez 18 andererseits besteht, dazu die Argumentation für eine Vorordnung von Dtn 24 bei Otto, Deuteronomium, 225–226. Auf Dtn 24,14 wird nicht nur in Mal 3,15 zurückgegriffen, sondern vermutlich auch in Tob 4,14; 4Qinstructiond 146,2; 4Q219 und 4Q220 (Jubiläenbuch). Vgl. Otto, Tora, 454.

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auch gut zu der singularischen Fortsetzung in V. 15 passt, reden Luther und die Einheitsübersetzung vom Lohn eines Notleidenden bzw. Dürftigen und Armen. Das entspricht der Lesart der LXX, die μισθὸν πένητος καὶ ἐνδεοῦς übersetzt. LXX wiederum scheint auch 1QDeutb zu bestätigen, wo śekar („Lohn“) gelesen worden ist35. Entsprechend wäre zu übersetzen: 14Du sollst den Lohn des Armen und Notleidenden nicht niederdrücken, sei er von deinen Brüdern oder von deinen Fremden, die in deinen Stadtbereichen wohnen. 15Am selben Tag sollst du ihm seinen Lohn geben und die Sonne soll nicht darüber untergehen, denn er ist arm und er [der Lohn] dient dazu, ihm die Lebenskraft zu erhalten. Dann wird er nicht den HERRN gegen dich anrufen, und es wird keine Strafe für eine Sünde über dich kommen.

Dass der ‛onî und der ’ӕbyôn sonst nirgendwo mit dem Tagelöhner zusammen genannt werden, spricht ebenfalls für die Ursprünglichkeit der LXX-Lesart. Dtn 24,14–15 bestimmt dann, dass die wirtschaftliche Notlage der Armen nicht durch ein Lohndumping ausgenutzt werden darf, und das unabhängig davon, ob es sich um einen Volksgenossen oder einen Fremden handelt36. Neben die Lohnhöhe tritt die Lohnzahlung, die nicht verzögert werden darf. Die Zahlung muss vor Sonnenuntergang erfolgen. Das wird mit dem notwendigen Lebensunterhalt und der generell prekären Situation der Armen begründet. Der Lohn dient dem Erhalt der basalen Vitalität, die mit dem Terminus nӕpӕš ausgedrückt wird (EÜ: denn er ist in Not und lechzt danach; Luther: denn er ist dürftig und erhält seine Seele damit). Geht man von der üblichen diachronen Reihung Bundesbuch, deuteronomisches Gesetz, Heiligkeitsgesetz aus, fällt auf, dass das Thema des ausbleibenden Lohns und der Ausbeutung von Lohnarbeitern im Bundesbuch noch nicht präsent war, jetzt aber auftaucht. In dem Ideal des deuteronomischen Gesetzes soll es gar keine Armen geben (Dtn 15,4) und wenn doch, dann soll diesen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit widerfahren (Dtn 15,11). Wie schon angedeutet, lässt sich das Sozialrecht des Deuteronomiums nicht leicht datieren. Geht man davon aus, dass es nicht das priesterlich geprägte Heiligkeitsgesetz Lev 19,13 voraussetzt, reagiert es im 7. Jh. v. Chr. vielleicht gerade auf den Zuwachs an landbesitzlosen Flüchtlingen nach dem Untergang des Staates Israel 722 v. Chr. Rückt man es näher an die übrigen śākîr-Belege (s. o.), ist auch ein Bezug auf die perserzeitliche Provinzgesellschaft37 und deren spezifische soziale Herausforderungen (Neh 5) denkbar. Ein noch nicht genanntes Beispiel für die prekäre Situation des Lohnarbeiters bietet Hag 1,6. Es scheint in exilisch-nachexilischer Zeit, wie häufig in Nachkriegszeiten, zu erheblichen Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln gekommen zu sein (Klgl 5,4), die die Existenz der Armen erheblich bedroht hat. Im Kontext der Diskussion um den Tempelneubau skizziert der Prophet 35

36 37

Andrew David Hastings Mayes sieht die MT-Lesart hingegen als ursprünglich an. Zunächst habe Dtn 24,15 lediglich gelautet „du sollst den Lohnarbeiter nicht unterdrücken“ und unter dem Einfluss von „seinen Lohn“ V. 15 seien der Arme und Notleidende appositionell hinzugefügt worden (Deuteronomy, 325). Anders und m. E. zutreffender z. B. die BHQ, die mit LXX und Qumran śekar für ursprünglich hält. Dass die Stoßrichtung auf die strukturelle Gefährdung der Ausländer zielt, liegt nahe. Vgl. dazu Ebach, Ruth, 42–52. Vgl. dazu Kessler, Sozialgeschichte, 138–172.

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rhetorisch zugespitzt die wirtschaftliche Lage, mit der vermutlich gegen den Tempelbau Stellung bezogen wurde: Ihr habt reichlich gesät, aber bringt wenig ein, ihr habt zu essen, aber werdet nicht satt, ihr habt zu trinken, aber werdet nicht trunken, ihr habt anzuziehen, aber keinem wird warm. Und wer sich als Lohnarbeiter verdingt, erwirbt den Lohn in einen löchrigen Beutel38.

Die ersten Beschreibungselemente sind typisch für die Schilderung von Notsituationen in altorientalischer Tradition, der Bezug auf den löchrigen Beutel setzt wahrscheinlich die Einführung von Hacksilber als Bezahlung voraus und scheint spezifischer. Der Lohn zerrinnt jedenfalls vor der Preissteigerung in den Fingern und reicht nicht aus, um den Lebensunterhalt zu sichern bzw. einen erträglichen Lebensstandard zu sichern. Vor einem solchen Hintergrund gewänne Dtn 24,15 noch einmal (zusätzlich?) Schärfe und Kontur. Entscheiden lässt sich die Frage der Datierung jedoch nur mit einer Detailanalyse des deuteronomischen Gesetzeskorpus, die hier nicht geleistet werden kann. Offenbar ist aber in Dtn 24,14–15 ein Grundproblem der Arbeitsverhältnisse angesprochen, denn die Frage des Lohnverzugs taucht in vielen, vor allem nachexilischen Stellen auf. So stimmt z. B. Lev 19,13 in diesem Aspekt mit Dtn 24,15 überein. Der Nächste darf weder bedrückt noch beraubt werden und der Lohn des Lohnarbeiters „darf nicht bis zum Morgen bei dir übernachten“, d. h. nicht zurückgehalten werden. Erinnert sei noch einmal an Mal 3,5, wo das Gericht denjenigen angekündigt wird, die die gesellschaftlich Schwachen, darunter die Tagelöhner, unterdrücken. Ich werde mich euch nähern, um Gericht zu halten, und ich werde ein schneller Zeuge sein gegen diejenigen, die zaubern oder ehebrechen oder Meineide schwören und diejenigen, die den Lohn des Lohnarbeiters, sowie Witwe und Waise ausbeutend niederdrücken und den Fremden (vor Gericht) übervorteilen und (in diesem Verhalten) mich nicht fürchten, spricht der Herr der Heere.

Der Text ist gerade in der Passage nicht leicht zu übersetzen, da nicht klar ist, ob der niedergedrückte Lohn nur den Tagelöhner oder auch Witwen und Waisen betrifft39. Die personae miserae, zu denen der Lohnarbeiter hier gerechnet wird, werden auch in Jer 7,6; Ez 22,7; Sach 7,10 in den Schutz vor Unterdrückung (‛šq) genommen. Noch schlimmer als der gedrückte Lohn ist der vorenthaltene Lohn, der in Jer 22,13 das Hauptproblem ist. Wenn sich Jer 22,15 auf den Bau des königlichen Palastes bezieht und auf Jojakim (609–598 v. Chr.) zielt40, läge hier eine der ältesten Stellen vor. Zum einen klingt das Motiv der königlichen Fron bzw. Zwangsarbeit der Volksgenossen an (vgl. 1 Kön 4,6; 5,27–28; 9,15.32; 11,28; 12,1), zum anderen wie bei Amos die Prunksucht der Elite, die ihren Luxus ohne Rücksicht auf die Armen auf Ungerechtigkeit bauen. 38 39

40

Übersetzung Leuenberger, Haggai, 95. Die recht übliche Textänderung, die hinter dem śekar śākîr die Dittographie eines ursprünglich einzelnen śākîr sieht (zuletzt Meinhold, 242) hat nicht nur das μισθὸν μισθωτοῦ gegen sich, sondern auch Dtn 15,18. z. B. Schmidt, Jeremia, 21.

68

Christian Frevel Weh dem, der sein Haus mit Ungerechtigkeit baut, und seine Obergemächer mit Unrecht, indem er seinen Nächsten umsonst arbeiten lässt und ihm seinen Lohn nicht gibt.

Das Thema der ausbleibenden Lohnzahlung bleibt bis in hellenistische Zeit relevant. Offenbar bleibt die Benachteiligung der Unterdrückten ein zentrales strukturelles Problem. Wenn Kohelet den Neid unter den Menschen beklagt, tut er das vor dem Hintergrund der Unterdrückung der Schwachen (Koh 4,1–3). Für ihn sind es Machtstrukturen, die das Unrecht an den Armen immer neu decken (Koh 5,7). Die Unterdrückung (‛ošӕq) geht Hand in Hand mit dem Raub (gezӕl), der als Aufhebung der Rechtsordnung begriffen wird. Recht und Gerechtigkeit (mišpaṭ wāṣṣӕdӕq) – die beiden Termini, die auch in der Sozialkritik der Propheten maßgeblich die Rechtsordnung beschrieben – werden den Armen geraubt. Wenn es wenigstens einen König gäbe, der eine Rechtsordnung garantiert. Ein solcher Garant fehlt und so sind die Rechtlosen ohne Tröster und Schutz dem Raub ausgeliefert. Ähnlich mahnt Ps 62,11, die Gewinnmaximierung nicht über das Recht zu stellen und die Hoffnung auf Raub zu setzen. Hier ist es der Rückgriff auf die Tradition, der mit dem bei Gott ist die Macht im folgenden Vers den Grund für die Hoffnung auf Durchsetzung einer Gerechtigkeit setzt. Dass hinter dem Raub auch das Vorenthalten von Lohn steht, wird nicht explizit gesagt, ist aber auch nicht ausgeschlossen (Lev 5,21–23; Ez 18,7.12.16.18; 22,19; Spr 22,22), gerade nicht, wenn man die Kombination der beiden Vershälften in Lev 19,13 bedenkt, wo man als Objekt des Raubes leicht den Lohn des Geringen einsetzen könnte: Du sollst deinen Nächsten nicht unterdrücken und nicht sollst du [seinen Lohn] rauben; nicht soll der Lohn des Lohnarbeiters bei dir übernachten bis zum Morgen.

Dass das nicht zu fern liegt, zeigt Sir 31,26–27 LXX (Sir 34,27 in der Vulgatazählung), wo drastisch und direkt formuliert: Den Nächsten tötet, wer (ihm) den Lebensunterhalt wegnimmt; und Blut vergießt, wer den Lohn des Tagelöhners raubt (φονεύων τὸν πλησίον ὁ ἀφαιρούμενος ἐμβίωσιν καὶ ἐκχέων αἷμα ὁ ἀποστερῶν μισθὸν μισθίου).

Etwas milder, aber mit einem Überschlag zum endzeitlichen Lohn, formuliert Tob 4,14 die gerechte und pünktliche Lohnzahlung als Selbstverständlichkeit der weisheitlichen παιδεία. Dabei ist der Anklang an Lev 19,13 und Dtn 24,15 deutlich zu erkennen: Der Lohn eines jeden Menschen (μισθὸς παντὸς ἀνθρώπου), wenn er für dich gearbeitet hat, bleibe nicht über Nacht bei dir liegen, sondern zahle ihm (denselben) sofort (παραυτίκα) aus. Und wenn du Gott dienst, wird (auch) dir (der Lohn) ausgezahlt werden. Hüte dich, Kind, in allen deinen Werken, und zeige deine Erziehung in deinem ganzen Wandel (Übersetzung: LXX.D).

Wenn auch die deutlichsten Belege damit genannt sind, ließen sich sicher noch weitere Belege vor allem aus den Prophetenbüchern und den Rechtstexten beibringen. Dabei würde auch deutlich werden, dass die Frage der Verpfändung eng mit der Lohnzahlung zusammen hängt (vgl. z. B. Dtn 24,10–15). Nicht nur die ausbleibende Lohnzahlung, sondern die Strafzahlung bei unzureichender Arbeitsleistung (sei sie nur unterstellt oder tatsächlich gegeben) war offenbar ein Druck-

Prekäre Arbeitsverhältnisse – Lohn und Lohnverzug im AT

69

mittel gegenüber den Lohnarbeitern, wie eine Inschrift aus Məṣad Ḥăšavyāhū belegt41.

5.

Würde ist nicht nur ein Konjunktiv – Ertrag

Der ausbleibende Lohn des Arbeiters ist eines der Grundprobleme der prekären Arbeitsverhältnisse. Bleibt die Lohnzahlung aus, hat der Arbeiter offenbar wenig rechtliche Möglichkeiten, sich vor Gericht auf sein Recht zu berufen. Das appellative Moment ist in nahezu allen Belegen recht stark. Im deuteronomischen Ideal ist das am deutlichsten erkennbar: Jedem Armen kommen Rechte zu und jeder Arme hat eine eigene Würde, die im sozialen Handeln nicht verletzt werden darf. Die Gewinnmaximierung darf nicht zum Vorwand für die Ausbeutung der Schwächsten werden und dem hat die Wirtschaftsordnung zu entsprechen. Der Lohn darf weder unter das Existenzminimum gedrückt noch ausgesetzt werden. Bei dieser Grundforderung spielt es keine Rolle, ob es sich um einen Fremden, Beisassen oder Volksgenossen handelt. Die Forderung nach dem Existenzminimum liegt in der unausgesprochenen Würde eines jeden Einzelnen begründet. Folgt man Dtn 24,15, ist Gott als Appellationsinstanz jedes Einzelnen letzter Garant dieser Würde, die unabhängig von Status und Herkunft ist. Lohnarbeitsverhältnisse im antiken Israel waren wahrscheinlich zu allen Zeiten prekär, da die Zahlung abhängig von der Verlässlichkeit des Arbeitgebers war. Verzögerte Lohnzahlungen und Lohnausfall führten bei den Lohnarbeitern allerdings zu dramatischen Folgen. Daher ist der Appell gegenüber denjenigen, die Tagelöhner beschäftigen, besonders eindringlich. Im Besonderen hat sich das in Texten des 5.–2. Jh.s v. Chr. niedergeschlagen. Demgegenüber war aufgefallen, dass zwar die Schuldknechtschaft in der prophetischen Sozialkritik thematisiert wird, die ausbleibende Lohnzahlung hingegen in den klassischen prophetischen Texten (noch) kein eigens akzentuiertes Thema ist. Dass die Lohnarbeit im antiken Israel im Zusammenhang mit der Entwicklung des Rentenkapitalismus oder der unrechtmäßigen Besitzakkumulation von Grundbesitzern gestanden hat, ließ sich zumindest anhand der Texte nicht plausibilisieren. Die Relevanz der hier behandelten Texte ist in Kontexten, in denen hierzulande über Mindestlohngrenzen diskutiert wird und andernorts riesige Sportstätten von Wanderarbeitern und Tagelöhnern errichtet werden, kaum von der Hand zu weisen. Strukturell zeigen sie, dass es Rahmenregelungen des Gesetzgebers braucht, um Mindeststandards zu setzen. Die Benachteiligten bedürften gegenüber den Mächtigen des besonderen Schutzes, auch wenn im Einzelnen rechtliche Regelungen schwierig bleiben. Die Texte zeigen auch, dass Gleichheitsgrundsätze und menschliche Würde auch in prekären Situationen gelten müssen und vor allem, dass die Gewinnmaximierung hinter der Existenzsicherung aller Glieder der Gesellschaft zurückstehen muss. Dabei mag es als durchaus weiterführende Anregung verstanden werden, dass in den alttestamentlichen Texten nur ein 41

Vgl. dazu Weippert, Historisches Textbuch.

70

Christian Frevel

relativer Standard formuliert wird, aber keine Lohnverhandlungen abgebildet sind. Sicher wird niemand die alttestamentlichen Texte in heutigen Kontexten unmittelbar zur Anwendung bringen wollen, dafür sind die globalisierte Wirtschaft und die postindustrielle Gesellschaft zu verschieden. Aber anregen wird man sich von den Texten lassen dürfen oder gar müssen, wenn man sich dem Gott verpflichtet weiß, der (durch das Handeln seiner Frommen) den Schwachen dem entreißt, der stärker ist, den Schwachen und Armen dem, der ihn ausraubt (Ps 35,10).

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Wie streng hielt man den Sabbat im Frühjudentum? Praktische Überlegungen zu einem theologischen Thema Markus Tiwald

Die Thematik „Sabbat in Frühjudentum und Frühchristentum“ ist ohne Zweifel ein intensiv beackertes Feld, sodass es schwer scheint, auf diesem Sektor noch aliquid novi bieten zu können. Möchte man die einschlägigen Publikationen1 auf einen gemeinsamen Grundtenor abhorchen, so ist dieser die Aussage, dass die Vorstellung einer gesamtjüdisch einheitlich normierten Sabbatpraxis für das Frühjudentum anachronistisch ist – jede einzelne Gruppierung im Frühjudentum hatte ihre eigenen Sabbathalachot.2 Auch wenn für das Frühjudentum das Einhalten des Sabbats – gemeinsam mit Beschneidung und Reinheitsvorschriften – als das Erkennungsmerkmal eines Juden gelten konnte,3 so steht doch auch außer Frage, dass die Sabbatpraxis sehr unterschiedliche Ausprägungen annehmen konnte: „Sabbath was also a major source of disputes among Jewish groups. Some advocated lessening or even abolishing Sabbath strictures that made life difficult in the Hellenistic world, but others sought to strengthen Sabbath laws.“4 Eingebettet in diese Aussagen präsentiert sich dann ebenfalls quer durch alle jüngeren Publikationen die cantus firmus-artige Versicherung, dass Jesus sich mit aller Selbstverständlichkeit mitten im innerjüdischen Sabbatdiskurs der damaligen Zeit befand. „Jesu konkrete Sabbatobservanz … bewegte sich im weiten Spektrum jüdischen Sabbatverhaltens in Palästina zur Zeit des zweiten jüdischen Tempels, 1

2 3 4

Vgl. dazu: Doering, Schabbat; Ders., Much Ado about Nothing?, 217–241. Ebenso: Ders., Sabbath, 207–253, weiters: Rowland, Sabbath, 43–55; Sanders, Judaism, bes. die Seiten 208–212. Beachtenswert auch das internationale Symposion „Sabbath: Idea, History, Reality“ an der Ben-Gurion University of the Negev in Beersheva, Israel, 2001, publiziert als Tagungsband: Blidstein, Sabbath; weiters der prägnante Artikel: Falk, Art. Sabbath, 1174– 1176. Von spezifisch neutestamentlicher Seite sind zu beachten: Mayer-Haas, Geschenk, und recht rezent: Tuckett, Jesus and the Sabbath, 411–442. Ebenfalls rezent – doch wissenschaftlich leider nicht zufriedenstellend – ist die Monographie von Instone-Brewer, Feasts and Sabbaths, die sich das ehrgeizige Ziel gesetzt hat, festzustellen, welche der späteren rabbinischen Sabbatvorschriften bereits in die Zeit des Zweiten Tempels zurückdatieren könnten. Diese und eine zweite in der gleichen Reihe von Instone-Brewer publizierte Monographie haben vernichtende Rezensionen erhalten, etwa: Schwartz, Rezension zu Instone-Brewer, Feasts and Sabbaths, in: RBL (2012). online-Edition; und Stemberger, Dating Rabbinic Traditions, 79–96. Die Datierung des rabbinischen Materials ist ausgesprochen schwierig, eine eigene Methodologie dazu steckt noch in den Kinderschuhen, wie Stemberger a.a.O. aufgezeigt hat (79–92). Daher können rabbinische Texte nur sehr mittelbar als Vergleichstexte für das Neue Testament herangezogen werden. Vgl. Doering, Schabbat, 575; ebenso: Tuckett, Sabbath, 413. Vgl. Falk, Art. Sabbath, 1174. Falk, Art. Sabbath, 1174.

Markus Tiwald

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entsprach allerdings nicht Tendenzen bestimmter priesterlicher beziehungsweise auch pharisäischer Kreise, welche die Identität Israels im Bund mit Gott nur in einer rigorosen Umsetzung des sabbatlichen Arbeitsverbots gewährleistet sahen. Es kann keine Rede davon sein, dass Jesus von Nazareth in Bezug auf den Sabbat die Grenzen des im damaligen Judentum Möglichen überschritten hätte.“5

1. Sozio-ökonomische Implikationen Von theologischer Seite bedarf die Frage nach der Pluriformität der Sabbathalachot im Frühjudentum keiner weiteren Begründung mehr. Nach dem bisher von der Wissenschaft getätigten akribischen Studium der Quellen und den sich daraus ergebenden theologischen Schlüssen scheint es nun aber interessant, einmal nicht bei den theologischen Idealvorstellungen unterschiedlicher frühjüdischer Gruppierungen anzusetzen, sondern das Thema von seinen praktischen Implikationen her anzugehen. Dabei steht zweifelsohne die Frage im Vordergrund, wieweit es einem aus einfachen Verhältnissen stammenden Juden z. Z. Jesu überhaupt möglich war, Sabbatvorschriften in die Tat umzusetzen. Unterschiedliche Sabbatpraktiken müssen nicht nur aus theologischen Divergenzen entstanden sein (deren es im Frühjudentum freilich genügend gab), sondern können gerade bei der ärmeren Bevölkerung in theologischer Unbildung oder mangelnden sozio-ökonomischen Möglichkeiten begründet liegen.

2.

Praktische Aspekte frühjüdischer Sabbatobservanz in Palästina

2.1

Kriegsführung, Selbstverteidigung und Lebensrettung

Gerade im palästinischen Frühjudentum mögen es oft praktische Gründe gewesen sein, die darüber entschieden, ob Sabbathalachot rezipiert wurden oder nicht. Dies wird etwa in der Frage deutlich, ob Kriegführen am Sabbat erlaubt ist oder nicht. 1 Makk 2,34–38 zeigt den Heldenmut der frommen Juden, die sich lieber töten lassen, als am Sabbat zu kämpfen (vgl. auch 2 Makk 6,11 oder 8,26–28). Ähnlich strenge Vorschriften sind uns auch aus dem Jubiläenbuch 50,12f bekannt (etwa 160 v. Chr.). Dennoch bewilligt 1 Makk 2,41 schließlich die Regelung, auch am Sabbat kämpfen zu dürfen, was für die Makkabäer fast einem Sprung über den eigenen Schatten gleichkommt: Schließlich war die Entweihung des Sabbats mit einer der Hauptgründe für den Makkabäeraufstand (1 Makk 1,43.45; vgl. auch 2 Makk 6,6). Auch Josephus konzediert militärische Selbstverteidigung am Sabbat (Ant 12,277; 14,63; Bell 1,146), während er den aktiven Angriffskrieg für diesen 5

Mayer-Haas, Geschenk, 680. Vgl. ebenso: Tuckett, Sabbath, 435; Doering, Schabbat, 476.

Sabbat im Frühjudentum

75

Tag ablehnt (Vita 159 und 161). Nach Bell 1,146 argumentiert Josephus im Falle eines Verteidigungskriegs mit dem Argument der Lebensrettung, die am Sabbat ja erlaubt war (ὑπὲρ μόνου γὰρ τοῦ σώματος ἀμύνονται τοῖς σαββάτοις). Lebensrettung am Sabbat ist auch den späteren Rabbinen bekannt und wird dort unter dem terminus technicus ‫( פִּקּוּ ַח נֶפֶשׁ‬piqqûah næpæš; vgl. etwa tShab 9[10],22; 15[16],16.17; bJoma 84b) abgehandelt. Wieweit man diese Vorschrift interpretieren durfte, war im Frühjudentum nicht nur im militärischen Kontext der Kriegsführung von Bedeutung, sondern gerade auch in zivilen Zusammenhängen. CD 11,16f etwa verbietet den Gebrauch von Geräten (Strick, Leitern etc.) bei der Lebensrettung am Sabbat, wenn ein Mensch in ein Bassin gefallen ist. Damit ist die Damaskusschrift wesentlich rigider als die späteren Tannaiten: „Nach tannaitischer Auffassung kann praktisch jeder passende Gegenstand und jede Handlung mit Ausnahme von Götzendienst und Unzucht und Blutvergießen zur Lebensrettung eingesetzt werden … (tShab 15[16],17; bYom 84b; ySanh 3,6 [21b]; yShevi 4,2 [35b] etc.; vgl. tShab 9[10],22).“ Die Damaskusschrift widmet sich in diesem Zusammenhang (CD 11,13f) auch der Frage, was mit Vieh zu tun ist, das am Sabbat in eine Grube fällt, und untersagt ausdrücklich, dieses herauszuholen. Auch hier sind die späteren Tannaiten nicht ganz so streng, da sie zumindest lebenserhaltende Maßnahmen erlauben, wie etwa das Füttern des Tieres in der Grube (tShab 14[15],3), auch wenn das Heraufholen verboten bleibt. Der noch spätere babylonische Talmud erlaubt dann sogar, dem Tier Decken und Kissen vorzulegen, damit es eventuell selbst aus der Grube klettern kann (bShab 128b). Wenn offensichtlich auch in rabbinischer Zeit noch Nachbesserungsbedarf bei diesen Regelungen bestand, kann man annehmen, dass diese Positionen in frühjüdischer Zeit noch weit davon entfernt waren, einhellig praktiziert zu werden. Auf diesem Hintergrund erhalten neutestamentliche Texte wie das in die Grube gefallene Schaf (Mt 12,11) oder der in den Brunnen gestürzte Ochse (Lk 14,1–6) eine neue Einbettung in die Lebensrealität der galiläischen Kleinbauern. L. Doering urteilt dazu: „Hier liegt wohl eine pragmatische, (klein-)bäuerliche, vielleicht galiläische Halacha vor, die die Sabbatheiligung zur Abwehr wirtschaftlicher Einbußen abmildert.“ Vielleicht aber spiegeln sich in diesen Gegebenheiten gar keine elaborierten, abweichenden Halachot wider, sondern nur die Usancen einfacher Bauern, die schlichtweg nicht gewillt waren, ihr Schaf oder ihren Ochsen über den Sabbat in einer Grube gefangen zurückzulassen. Darüber hinaus war das Ganze nicht zuletzt auch eine Frage des Wohlstands: Für einen armen galiläischen Kleinbauern konnte die Einbuße eines Schafes oder gar eines Ochsen existenzgefährdend sein. Die Bereitschaft, zugunsten der Sabbatheiligung die eigene materielle Existenz aufs Spiel zu setzen, war wohl auch bei frömmeren Juden nicht immer gegeben. Die späteren Nachbesserungen aus rabbinischer Zeit, die zumindest eine Versorgung des Tieres mit Nahrung konzedieren (oder gar zugestehen, dem Tier zu helfen, sich selbst aus der misslichen Lage zu befreien), sind solchen Vorbehalten geschuldet. Auch der Hinweis aus Lk 13,10–16, dass man auch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel zur Tränke führt, legt nahe, dass man es – wahrscheinlich in ärmeren und theologisch nicht so reflektierten Schichten – mit der Sabbatobservanz nicht immer so ganz streng hielt. Das soll nun keineswegs heißen, dass hier die Sabbatheiligung grundsätzlich in Frage gestellt würde – zu breit belegt

Markus Tiwald

76

die Quellenlage eindrucksvoll, dass man trotz aller Unterschiede in der theologischen Feinabstimmung grundsätzlich quer durch alle Gruppierungen des Frühjudentums an der Sabbatheiligung festhielt. Doch in der konkreten Ausführung mögen praktisch denkende, weniger theologisch argumentierende Menschen durchaus zu Zugeständnissen bereit gewesen sein. Tatsächlich zielen die hier genannten Texte – Mt 12,11; Lk 13,10–16 und 14,1–6 – argumentativ zunächst auch gar nicht auf eine kontroversielle Diskussion von Sabbathalachot ab, sondern fassen lediglich die reichlich „pragmatische“ Sabbatpraxis des durchschnittlichen galiläischen Bauern ins Bild. Dafür bedienen sich die genannten Texte stets einer Suggestiv-Frage, in der die erwartete Antwort bereits vorgegeben wird: „Wer von euch wird nicht…“ (Mt 12,11 und Lk 14,5) oder „Bindet nicht ein jeder von euch …“ (Lk 13,15). Damit wird klar, dass keine Diskussion über eine laxere Sabbatinterpretation initiiert werden soll, sondern einfach nur der Tatbestand konstatiert wird, dass die genannte Vorgehensweise bereits allgemein geübte Praxis ist. Dieses Verhalten musste dabei gar nicht durch eigene halachische Normen sanktioniert sein, sondern verdankte sich lediglich einer besseren Praktikabilität.

2.2

„Ährenraufen“ und das sabbatliche Verbot der Erntearbeit

Irdisch-praktische Motive mögen wohl auch in der Frage des Ährenraufens am Sabbat (Mk 2,23)6 eine Rolle gespielt haben. Hier sind es ja die Jünger Jesu und nicht der Meister selbst, die durch ihr Verhalten die Sabbatruhe brechen. Dass die Jünger Jesu in bewusst-theologischer Manier eine Sabbatregelung außer Kraft setzen wollten, ist kaum wahrscheinlich. Eher spiegelt die ganze Angelegenheit typisch galiläisches Kolorit: Der Wanderprophet Jesus und seine Jünger sind mit krachenden Mägen unterwegs. Die Sorglosigkeit der „Vögel des Himmels“, die der himmlische Vater ernährt (Mt 6,26), funktioniert in der Praxis nicht immer. In dieser Situation waren einfache galiläische Fischer und Bauern – wie die Jünger Jesu – wohl zu „erdig“, um asketisch zugunsten der Sabbatheiligung den ganzen Tag zu fasten. Ohnehin stellten die wenigen mit der Hand zerriebenen Kornähren kaum eine befriedigende Mahlzeit dar. Grundsätzlich könnte man hier fragen, ob sich hungernde Tagelöhner, deren es im damaligen Palästina ja reichlich gab, immer an sämtliche Speisevorschriften hielten, oder einfach nur froh waren, wenn sie auch etwas Unkoscheres zum Beißen bekamen? Den Jüngern Jesu jedenfalls war solch ein Pragmatismus zuzutrauen; in ihrer Jesusnachfolge glänzen sie auch sonst nicht durch Heldenmut (Jüngerflucht beim Prozess Jesu) oder theologische Subtilität (vgl. die „Erdigkeit“ bodenständiger galiläischer Fischer, Handwerker und Bauern, die nicht vorschnell für spirituelle Extravaganzen zu gewinnen sind und sich hartnäckig weigern, an die Auferstehung Jesu zu glauben). Freilich ist 6

Doering, Schabbat, 408–440, hält die Begebenheit nicht auf den historischen Jesus rückführbar, es liege hier „ein ‚Jünger‘-Thema vor, das mit Jesus in Verbindung gebracht wird“ (a.a.O. 413; vgl. auch 477). Allerdings hätte eine Gemeindebildung wohl Jesus in den Mittelpunkt gerückt oder das von Doering als jesuanisch anerkannte Logion Mk 2,27 (a.a.O. 414–416) an eine andere sabbatliche Konfliktsituation angebunden.

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von den Jüngern Jesu damit keine prinzipielle Infragestellung des Ernteverbots am Sabbat intendiert. Das sabbatliche Ernteverbot ist im Frühjudentum reichlich bezeugt, wie bereits L. Doering auch aufgezeigt hat, es handelt sich tatsächlich um eine „gruppenübergreifend belegte jüdische Vorschrift“.7 Allerdings scheint den Jüngern Jesu ein gewisser „Pragmatismus“ im Umgang mit religiösen Vorschriften eigen zu sein. Ähnlich unbekümmert essen sie nach Mk 7,2 ihr Brot mit „unreinen Händen“, sprich: ohne die kultischen Reinigungsriten vor dem Essen einzuhalten. Auch in Mk 7,2 geht die Handlung – ganz wie beim Ährenraufen – einzig von den Jüngern aus, ohne Zutun Jesu, und ist wohl pragmatischer Oberflächlichkeit geschuldet und keineswegs eine bewusste Provokation. Dass beide Begebenheiten später zum Aufhänger für eine Unterweisung über den tieferen Sinn dieser Vorschriften genutzt werden, deren konkrete Auswortung auf die Urkirche zurückgeht, raubt der Ausgangssituation nichts von ihrer galiläischen Ursprünglichkeit. Hier hat sich ein Reflex pragmatisch-unbekümmerter Umgangsformen des kleinen, theologisch ungebildeten Mannes mit zwar grundsätzlich akzeptierten, doch mit einer gewissen Gelassenheit gelebten Vorschriften erhalten.

2.3

Die theologische Bildung im damaligen Judentum

Eng mit unserer Frage verbunden ist ein weiterer Aspekt, jener der (theologischen) Bildung.8 Nach Philo (DeSpecLeg II 62f; QuodOmnis 81–83; DeVitCont 29–33; DeVitMos II 216; Hyp VII 11f; DeSom II 127; LegGai 156f.312f) wie auch nach Josephus (Ant XVI 43 und ContAp II 175) gab es wöchentlich am Sabbat einen Synagogengottesdienst, in dem das Gesetz vorgetragen und ausgelegt wurde,9 nach ContAp II 178.204 ist auch mit einem regelmäßigen Studium der Gesetzesvorschriften schon von Kindheit an zu rechnen.10 Cathrin Hezser hat nachgewiesen, dass diese Aussagen ein stark idealisiertes Bild entwerfen.11 Ursprünglich war das fundierte Wissen um die Tora und deren rechte Auslegung ein Privileg priesterlicher Kreise. Erst durch die pharisäische Bewegung wurde das Bemühen um rechte Tora-Observanz auch in weiten Kreisen des Mittelstandes propagiert. Grundvoraussetzung dafür war freilich ein entsprechender Bildungsgrad, der naturgemäß an einen gewissen Wohlstand gekoppelt war – Bildung kostet Geld! Für ärmere Bevölkerungsschichten im damaligen Palästina kann man mit solch einer Bildung daher nicht rechnen.12 Noch in späterer rabbinischer Zeit wurde die einfache, theologisch ungebildete Landbevölkerung mit dem pejorativen Ausdruck ‘am hā᾿āræz („Volk des Landes“) belegt: Diese Leute glänzten – 7 8 9 10 11 12

Doering, Schabbat, 574, und die pointierte Übersicht a.a.O., 573f. Vgl. dazu im Folgenden Tiwald, Hebräer, 132–142. Vgl. dazu Shum, Paul’s Use, 27–31; Lim, Holy Scripture, 113f; und Lichtenberger, Ich Adams, 257–263. Vgl. dazu Rosner, Paul, 16. Hezser, Literacy, 68. Hezser, Literacy, 496, setzt eine Alphabetisierungsrate von 10–15 Prozent für das Palästina z. Z. Jesu fest. Ähnlich urteilen Grabbe, Judaic, 151, und Stemberger, The Pre-Christian Paul, 72f.

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etwa nach bPes 49a–b; bBer 47b, bSota 22a – weder durch elaboriertes ToraWissen noch durch einen besonderen Eifer in der Befolgung der Gebote. Auch schon nach Joh 7,49 wird dem einfachen Volk theologische Unbildung vorgeworfen. In all diesen Punkten war es weniger theologischer Widerstand, an dem die strikte Tora-Observanz scheiterte, sondern Unbildung und die einfachen Zwänge der täglichen Existenz armer Menschen.

3.

Überlegungen zu praktischen Aspekten frühjüdischer Sabbatobservanz in der Diaspora

3.1

Das Judentum als „religio licita“?

Einer weit verbreiteten Meinung zufolge genoss das Judentum unter römischer Herrschaft den Status einer religio licita, der die Einhaltung des Sabbats durch reichsweites römisches Recht ermöglicht habe.13 Diese Annahme ist allerdings nicht korrekt. Gerne beruft man sich in diesem Zusammenhang auf 13 verschiedene Dekrete, die nach Josephus (Ant 14,190–264) den Juden freie Religionsausübung in den 40er Jahren des letzten vorchristlichen Jahrhunderts in verschiedenen Poleis der römischen Welt ermöglichten.14 Die hier genannten Privilegien umfassen zumeist die Befreiung vom Kriegsdienst (da man am Sabbat nicht kämpfen durfte), Befreiung von heidnischen Kulthandlungen, Befreiung davon, am Sabbat vor Gericht erscheinen zu müssen, das Recht auf eigene kultische Versammlungen, das Recht der Entrichtung der Tempelsteuer und das Recht auf eigene, koschere Märkte.15 Der Geschichtswert der hier von Josephus angeführten Dokumente ist umstritten, wird in letzter Zeit aber grundsätzlich positiv beurteilt, wenngleich Einzelheiten der Angaben falsch oder übertrieben sein mögen.16 Auch wenn man also davon ausgehen kann, dass die Juden ihre Sabbatbräuche in den hellenistisch-römischen Poleis grundsätzlich leben konnten, belegt die lokale Gebundenheit der Dekrete, dass solche Privilegien keine automatisch eintretende Selbstverständlichkeit waren, sondern ad hoc beschlossene, lokale Zugeständnisse,17 die sich oft an früher erteilten Privilegien orientierten, aber keinesfalls verpflichtend zugestanden werden mussten. Auch waren diese Privilegien keines-

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So etwa spricht noch der 1979 veröffentlichte Beitrag von Goldenberg, Sabbath, 414–447, von einem „special status“ (420), der den Juden von Rom zugebilligt worden sei, und: „Roman law was quite prepared to offer the Jewish Sabbath full recognition …“ ( 430). Vgl. dazu Doering, Schabbat, 294–306. Siehe auch: Goldenberg, Sabbath, 416–418. Vgl. Rajak, Charter, 301–354, hier 317. Zum historischen Wahrheitsgehalt von Ant 14 vgl. die Diskussion bei Doering, Schabbat, 297–299. Siehe auch: Goldenberg, Sabbath, 415, und Pucci Ben Zeev, Art. Rights, 1152– 1153, hier 1152. Vgl. Applebaum, Status, 420–463, hier 460 (vgl. 457). Ebenso Rajak, Charter, 317 und 326f., und Pucci Ben Zeev, Rights, 1153.

Sabbat im Frühjudentum

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wegs unumstritten, wie wir aus den wiederholten Konflikten zwischen der ephesinischen Stadtverwaltung und der dortigen Judenschaft erfahren (Ant 14,230, 262–264; 16,27f, 57–60, 167f, 172f). Gerade die Sabbatheiligung konnte in solchen Situationen zum Problemfall werden, wenn Juden Gerichtsvorladungen am Sabbat ausschlugen oder – zum Militärdienst einberufen – am Sabbat das Kämpfen verweigerten. Ant 16,162–173 berichtet dann von weiteren römischen Erlässen zugunsten einer freien jüdischen Religionsausübung. Hier ragt das Augustusedikt hervor (Ant 16,162–165), das Josephus in Verbindung mit einem Dekret von Gaius Norbanus Flaccus (31–27 v. Chr. Prokonsul von Asien) nennt (Ant 16,166.171). Das Flaccus-Dekret wird auch bei Philo in seiner Legatio ad Gaium 315 erwähnt; bei Philo richtet es sich allerdings an die Juden von Ephesus, bei Josephus an die Juden von Sardes (Ant 16,171). Offensichtlich waren diese Dekrete Sonderbewilligungen und nicht Fixbestand des römischen Rechts.18 Solche Privilegien mussten von späteren Kaisern oder Stadthaltern nicht weitergeführt werden – wie ja der Fall von Caligula zeigt, an den Philo in seiner Legatio ad Gaium appelliert. Der Begriff einer religio licita ist für diese Zeit ohnehin anachronistisch; er begegnet erstmals bei Tertullian (Apologeticum 21) und wird dort noch nicht als terminus technicus, sondern nur im weitesten Sinne gebraucht.19 Somit ist klar, dass die Zubilligung des Privilegs der Sabbatheiligung stets der sensiblen „balance of loyalities“20 zwischen jüdischen Vorschriften und hellenistischem Stadtrecht geschuldet war, aber keineswegs einem reichsweiten Status als religio licita. In dieser schwierigen Gemengelage lässt sich wohl annehmen, dass manche Juden in der Diaspora – weniger aus theologischen, sondern aus pragmatischen Überlegungen – durchaus dazu bereit waren, ihre Sabbatpraxis einigermaßen „moderat“ zu halten.

3.2

Allegorisch-philosophische Deutungen des Sabbats in der Diaspora

In der Diaspora standen die Juden auch angesichts des paganen Unverständnisses gegenüber der jüdischen Arbeitsfreiheit am Sabbat unter Argumentationsdruck. Diese nämlich wurde häufig als „Müßiggang“ und „Faulheit“ gebrandmarkt,21 etwa von Tacitus (Hist 5, 4, 3: septimo die otium placuisse ferunt) oder von Juvenal (Satiren 14,96–106: septima quaeque fuit lux ignava). Schon bei Aristobulos (Fragm. 5,1–8 = Eusebius: Praeparatio Evangelica 13,12,9–16)22 zeigt sich daher eine gewisse Tendenz, die Sabbatheiligung mit dem Ruhebedürfnis des Menschen zu rechtfertigen (V 1) und den Sabbat zum Tag der philosophischen

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So allerdings noch der Blickwinkel bei Instone-Brewer, Feasts, 85. Vgl. Rajak, Charter, 301, und Applebaum, Status, 460. Rajak, Jews, 358. Vgl. Doering, Schabbat, 285f. Zur Frage, wie es um die historische Zuverlässigkeit der Aristobulosfragmente bestellt ist, vgl. die Forschungsübersicht bei Doering, Schabbat, 306f., der diese in Grundzügen positiv sieht.

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„Erkenntnis der Wahrheit“ zu erheben (καὶ γνῶσιν ἀληθείας λαμβάνομεν, V 7).23 Diese Tendenzen werden später bei Philo weitergeführt und allegorisch verstärkt. Dem Vorwurf des Müßiggangs tritt Philo entgegen, indem er die Bedeutung des Sabbats für das philosophisch-kontemplative Leben unterstreicht (SpecLeg 2,64; Decal 100f). Ähnlich wie schon Aristobulos interpretiert Philo den Sabbat universalistisch als der Natur innewohnende Gesetzmäßigkeit, die von Juden wie Heiden eingehalten werden sollte.24 Um den Sabbat allerdings nicht ganz des jüdischen Propriums zu berauben, hält Philo neben der allegorischen Interpretation des Sabbats auch weiterhin an einer wortwörtlichen Observanz der am Sabbat verbotenen Handlungen fest (wie etwa Feuer anzünden, Feldarbeit verrichten, Lasten tragen oder Prozesse führen; vgl. DeMigAbr 91). Hier hebt er sich bewusst von den „radikalen Allegoristen“ ab, die er in DeMigAbr 89–94 kritisiert. Diese deuten sämtliche rituell-kultischen Vorschriften, wie die Beschneidung, den Tempeldienst, die Speisevorschriften und auch die Sabbatheiligung, lediglich in allegorisch-philosophischer Weise und sprechen der wortwörtlichen Befolgung dieser Vorschriften ihre Bedeutung ab. In der Tat ist deren Schlussfolgerung nicht ohne Stringenz: Wenn man – wie es ja auch Philo tut – die eigentliche Bedeutung dieser Vorschriften allegorisch erklären möchte, dann stellt sich die Frage, warum man überhaupt noch eine kultisch-rituelle Observanz benötigt. Dass diese Denkweise im Frühjudentum weiter verbreitet war, als zumeist angenommen, zeigt sich an Beispielen wie dem „Frevler“ Zambri in Ant 4,145–149, der die Reinheitsvorschriften bzgl. Mischehen in Frage stellt oder dem „irrgläubigen“ Ananias (Ant 20,17–53), der die Notwendigkeit der Beschneidung bestreitet. Philo antwortet auf diese Fragen mit dem Verweis, dass die allegorische Interpretation dem Geist, die wortwörtliche Interpretation hingegen dem Körper der Gesetze entspräche. Da Geist und Körper zusammengehören, dürfe man beide nicht trennen (DeMigAbr 93). Josephus beschreitet einen ähnlichen Weg, wenn er in ContAp II, 172f den wortwörtlichen Vollzug der Halachot als „praktische Einübung“ (διὰ τῶν ἔργων) innerer Haltungen durch äußere „Übungen“ (ἔργα) bezeichnet. Ähnlich sieht sich auch der Aristeasbrief 139 gemüßigt, die rituellen Vorschriften als „Zäune ohne Bresche“ und als „eherne Mauern“ (περιέφραξεν ἡμᾶς ἀδιακόποις χάραξι καὶ σιδηροῖς τείχεσιν) zu definieren, mit denen die Gesetze den Menschen äußerlich umgeben, um ihn innerlich vor Irrtümern zu schützen. All dieser Aufwand belegt den enormen Argumentationsdruck, dem eine rituell-wörtliche Observanz kultischer Vorschriften (wie der Sabbathalachot) gegenüber einem rein allegorischphilosophischen Verständnis ausgesetzt war. Gerade im hellenistisch geprägten Frühjudentum der Diaspora war die Versuchung groß, die mühsame Diskussion um schwer erklärbare Sabbatverbote dahingehend zu lösen, dass man diesen Verboten lediglich eine symbolische Deutung zubilligte und von der konkreten kultischen Observanz absah. Damit allerdings hätte das Judentum seine boundary-

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Vgl. Doering, Schabbat, 309–315. Vgl. Niebuhr, Gesetzespraxis, 16–51, hier 25.

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81

markers eingebüßt und wäre zu einer philosophischen Weltanschauungsgemeinschaft geworden.25 Liberalen, weniger frommen Juden allerdings mag dieser Weg als passabler Kompromiss zwischen Judesein und hellenistischer Weltanpassung erschienen sein.

3.3

Weitere Konzepte einer „pragmatischen“ Sabbatheiligung in der Diaspora

Ein anderer möglicher „Kompromiss“ zwischen Sabbatheiligung und hellenistischer Weltanpassung wird von Philo in De Vita Mosis 2,211 berichtet:26 Hier ist die Rede von Juden, die am Sabbat zwar die Arbeitsruhe einhalten, doch den Tag für Vergnügungen und Belustigungen, wie die Aufführungen von Schauspielern und Tänzern, nützen. Ähnlich wie in der modernen Freizeitgestaltung zum Wochenende scheinen diese Juden die Arbeitsfreiheit des Sabbats mit persönlicher Erholung verbunden zu haben. Auch dies findet nicht das Wohlgefallen Philos, der die profanen Vergnügungen mit dem spirituellen Charakter des Sabbats unvereinbar sieht. Dennoch zeigt sich auch an dieser Stelle, wie praktische Überlegungen – hier die Frage einer möglichst effizienten Freizeitgestaltung – die theologischen Fragen überlagerten.

4.

Überlegungen zu praktischen Aspekten der frühchristlichen Sabbatobservanz

Die ersten Jünger Jesu haben mit aller Selbstverständlichkeit am Sabbat und seiner Heiligung festgehalten: So ist es Lk wichtig, eine Notiz zur Einhaltung der Sabbatruhe beim Begräbnis Jesu anzubringen, ein Faktum, das sich implizit auch aus den anderen Evangelien ergibt, da die Frauen ja erst wieder am ersten Tag der Woche nach dem Grab Jesu schauen. Auch ansonsten zeichnet Lk in seiner Apg die Jerusalemer Urgemeinde als fest eingebunden in jüdische Festtagsbräuche: Pfingsten (2,1), Pessach (12,3f), das Fest der Ungesäuerten Brote (20,6) und auch das Jom Kippur-Fasten (27,927) werden von der Urgemeinde eingehalten.28 Die Apg zeigt die Urgemeinde wiederholt beim Tempelbesuch (2,46; 3,1; 5,20). Während es sich bei Lk lediglich um historische Reminiszenzen und um die Einforderung der jüdischen Wurzeln des Christentums handelt, dürfte die mt Gemeinde 25

26 27

28

Interessant ist, dass das frühe Christentum – etwa in Gestalt des Paulus – diese boundarymarkers der Kulttora aufgeben kann, da im Christus-Glauben ein neuer boundary-marker gefunden wurde. Vgl. dazu Doering, Schabbat, 353. Das hier verwendete Wort νηστεία war die gängige Bezeichnung für den Jom Kippur in Philos Schriften und meint auch in Apg 27,9 dieses Fest. Vgl. Stökl Ben Ezra, Impact, 108, Anm. 137, und 214f. Vgl. Stökl Ben Ezra, Impact, 214.

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den Sabbat sogar noch selbst gehalten haben, wenn Mt 24,20 in den mk Wortlaut „Betet aber, dass es [Mt: eure Flucht] nicht im Winter geschehe“ (Mk 13,18) einfügt „oder am Sabbat“. Das passt auch gut zur Ansage in Mt 5,18f, dass kein Jota noch Häkchen des Gesetzes vergehen werden und auch die kleinsten Gesetze erfüllt werden müssen. Die mt Gemeinde war offensichtlich noch sabbatobservant.29 Aber auch aus dem Corpus Paulinum können wir entnehmen, dass eine gewisse Zahl von Christen noch immer den Sabbat hielt:30 In Gal 4,10 und Röm 14,5f ist von Christen die Rede, die auf „bestimmte Tage“ achten. Wahrscheinlich ist damit unter anderem auch die Sabbatobservanz gemeint,31 die von Paulus – zumindest nach dem wohlwollenderen Befund des Römerbriefs – noch immer als eine Option für Christen gewertet wird (auch wenn Paulus dies keineswegs als heilsnotwenig oder verpflichtend für Heidenchristen sieht). Aus späterer Zeit haben wir in Eusebius (HE 3,27) und Epiphanius (Pan. 30,2,2) Zeugen, die von judenchristlicher Sabbatobservanz in Palästina und Syrien berichten. Es wird klar, dass es in den ersten christlichen Jahrhunderten wohl keine einheitliche christliche Praxis dem Sabbat gegenüber gab.32 „Without evidence to the contrary, the working assumption should be that most Christian Jews … continued to observe the same festivals as they had done before.“33 Dass die Sabbatpraxis im Christentum letztlich irgendwann doch zum Erliegen kam, war dabei wohl nicht nur theologischen Gründen alleine geschuldet – eventuell hatten hier auch praktische Überlegungen ihren Anteil. Auch für sabbat-observante Judenchristen musste sich schon bald die Frage stellen, ob man denn nun zwei heilige Tage hintereinander halten wollte: den jüdischen Sabbat und dann am Tag darauf den christlichen Herrentag, die κυριακή ἡμέρα. Schon alleine aus praktischen Gründen dürfte es gewisse Tendenzen in der Urkirche gegeben haben, die urchristlichen Gemeindeversammlungen vom Sabbat auf den Sonntag zu verlegen. „Overall there seems to be a trend developing at least in some circles, whereby Christian ‘liturgical’ (or quasi liturgical) gatherings are taking place on ‘the Lord’s Day’, i.e. probably Sunday, and hence not on the Jewish Sabbath.“34 Das schließt nicht grundsätzlich aus, dass „other Christians at the time may have seen no problem at all in maintaining Sabbath observance alongside their Christian convictions.“35 Auch wenn in späterer Zeit Kirchenväter (wie Eusebius und Epiphanius, s.o.) gegen diese Praxis polemisieren, gibt es aus der Frühzeit der Kirche bemerkenswerter Weise keinen einzigen Hinweis, „that early Christians challenged the principle of not working on the

29 30 31

32

33 34 35

Vgl. McIver, Sabbath, 231–243, hier 243. Vgl. dazu im Folgenden Tuckett, Sabbath, 418–421. Zur Diskussion, ob hier der Sabbat gemeint ist, vgl. Tuckett, Sabbath, 418, Anm. 27. Auch nach 1 Kor 16,2 „ist deutlich, dass die ‚heidenchristliche‘ Gemeinde von Korinth die Zeit nach der jüdischen Woche einteilte. Was sie am Sabbat tat oder unterließ, geht daraus aber nicht hervor“ (so Niebuhr, Gesetzespraxis, 23). Vgl. Tuckett, Sabbath, 425: „All this suggests that the issue of the Sabbath was one of considerable flux in the documents we have examined, and no clear or universal ‘Christian’ viewpoint emerges “ Stökl Ben Ezra, Impact, 214. Tuckett, Sabbath, 425. Tuckett, Sabbath, 425.

Sabbat im Frühjudentum

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Sabbath …“36 Damit wird wohl klar, dass zumindest in der Frühzeit der Kirche hauptsächlich praktische Gründe dafür verantwortlich waren, dass der „Sabbat“ vom „Sonntag“ abgelöst wurde, etwa die unpraktische Doppelung von Sabbat und Sonntag. Wie so oft in der Kirchengeschichte spielten wohl auch hier nicht nur rein theologische Erwägungen eine Rolle, sondern oft auch der Praxis geschuldete Entwicklungen. Auch dies sollte man mitberücksichtigen, wenn man der historischen Wahrheit die Ehre geben möchte.

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Tuckett, Sabbath, 432.

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Zur sozialen Wahrnehmung der Bestattungsarbeiter im kaiserzeitlichen und frühchristlichen Ägypten Mareile Haase

1.

Einführung

1.1

Aus einem Reisebericht des 19. Jahrhunderts „Der Friedhof wird Gabaneh genannt, und der Berg, der ihn überragt, Gebel el-Koffra, der ‚Berg der Totengräber’. Von diesen Männern sagt man, dass sie einen absonderlichen Stamm bilden, der seit undenklichen Zeiten inmitten der Gräber lebt oder in den Höhlen darüber. Außer darin, die letzte Heimstatt der ehrenwerten Einwohner von Assiut zu rüsten, besteht ihr Amt darin, Tag und Nacht Wache zu halten, um die schönen Grabkleider, die manchmal verwendet werden, vor der Habgier leichenräuberischer Fellachen zu schützen. Es scheint, dass sie damit nicht immer Erfolg haben – vielleicht sind sie nicht vertrauenswürdig, und Leichen, die vollständig weggeschafft wurden, werden manchmal in einiger Entfernung gefunden, ihrer reichen Umschlagtücher und bestickten Entaris entkleidet.1 Die Koffra gehen verschiedenen Nebenbeschäftigungen nach, um sich ihren Lebensunterhalt notdürftig zu verdienen. Unter anderem gehen sie während des Ramadan hinauf in die Berge und stellen Fallen für Hyänen auf. Das Klingeln einer Glocke tut kund, wenn das Wild gefangen ist, und unverzüglich prügeln sie den unglücklichen Tieren Ergebenheit ein und führen sie, mit einem Maulkorb versehen, in der Stadt und in den diversen Dörfern des Bezirks herum, um sie zur Belustigung der Fellachen zur Schau zu stellen.“ (Übersetzung: Mareile Haase)

So beschreibt der Brite Bayle St John (1822–1859), der um die Mitte des 19. Jahrhunderts einige Jahre lang im Land lebte und darüber mehrere Reiseberichte verfasste, im Jahr 1851 die Totengräber von Assiut in Mittelägypten.2 Der koloniale, wenn auch von sozialem Gewissen nicht unberührte, Blick des europäischen Reisenden evoziert eine Berufsgruppe, deren Wahrnehmung in der eigenen Gesellschaft von negativen Stereotypen geprägt ist und deren Schilderung gerade deshalb gut geeignet ist, die Erwartungen des viktorianischen Lesepublikums mit Exotischem, Pikareskem und Abenteuerlichem zu bedienen. Diese Totengräber des 19. Jahrhunderts stehen zu den „ehrenwerten“ Stadtbewohnern in vielfachem Gegensatz: aufgrund ihrer Ansiedlung in der Nekropole, ihrer Tätigkeiten – als Bestattungsarbeiter, Grabwächter, Abrichter und Schausteller –, 1 2

Das Entari, ein langer Leibrock, war ein charakteristischer Bestandteil traditioneller osmanischer Kleidung: Scarce, Costume, 33–102. St John, Village Life, 131f. Zu St John: Spilsbury, Art. „St John“. Zur Darstellung Assiuts und seiner Nekropolen in frühen westlichen Reiseberichten, darunter auch den Berichten St Johns – allerdings ohne umfassende Diskussion der oben zitierten Stelle: Kahl, Assiut, 59–147 (zu den Nekropolen) und 266–270 (Auszug aus St Johns Reisebericht).

86

Mareile Haase

ihrer halbvagierenden Lebensweise und ihrer prekären finanziellen Situierung sind sie suspekt und anfällig für Unterstellungen bis hin zu Grabraub und Grabschändung.

1.2

Berufstypologische und sozialgeschichtliche Einordnung

Vergleichbare Aspekte sozialer Stellung und Perzeption lassen sich auch in den Quellen der römischen Kaiserzeit ausmachen,3 von der Wahrnehmung der Bestattungsarbeiter als separater Gruppe über ihren Wohnort in den Nekropolen und die bisweilen durch Nebentätigkeiten aufgebesserte Armut bis hin zum Stereotyp des grabschändenden Grabwächters. Berufstypologisch gehören die Bestattungsarbeiter zu den Anbietern personenbezogener Dienstleistungen.4 Aus sozialgeschichtlicher Perspektive zählen sie in vielen Gebieten des römischen Reichs zu denjenigen Dienstleistern, deren Tätigkeit infamiert war.5 Noch im europäischen Mittelalter und in der frühen Neuzeit zählte das Handwerk des Totengräbers zu den „unehrlichen“ Berufen. Ist der „infamierte Beruf“ eine antike Kategorie? Bereits in der Bibel werden Ausführende von „Magie“ und Divination, Prostituierte und im NT auch Zolleinnehmer – aber nicht Bestattungsarbeiter – abgelehnt und abgewertet.6 In der römischen Welt kommemoriert eine Inschrift aus Sarsina (Umbrien) den Erwerb einer Örtlichkeit für die Bestattung, die der wohlhabende Käufer seinen Mitbürgern zur Verfügung stellt, dabei allerdings Gladiatoren, Suizidanten und diejenigen, „welche eine unreine Tätigkeit ausgeübt haben“, vom Nießbrauch ausdrücklich ausschließt (CIL I2 2123, 2. Hälfte 1. Jh. v.Chr.).7 Der Ausdruck quaestus spurcus, „unreine Tätigkeit“, ist wahrscheinlich nicht fachsprachlich8 und spiegelt zwar gesellschaftliche Ausgrenzung wider, ist aber keine rechtliche Kategorisierung. Das Adjektiv spurcus ist pejorativ, das Substantiv quaestus kann je nach Kontext negativ konnotiert sein; beide Ausdrücke können auf die Tätigkeit von Gladiatoren, Schauspielern und weiblichen wie männlichen Prostituierten bezogen werden.9 Es bleibt unbestimmt, welche Berufe in der Inschrift konkret gemeint sind, ob die moralische Unreinheit auch religiös konnotiert ist und ob der Schenker auch Bestattungsarbeiter (operae), über deren Aufgaben und soziale Marginalisierung die städtischen Verordnungen von Puteoli und Cumae Aufschluss geben,10 ausgeschlossen sehen wollte. 3 4 5 6 7

8 9 10

Vergleichend erwähnt den Text von St John auch Gascou, Allophyloi, 291f., allerdings ohne historiographische Einordnung. Bagnall, Egypt, 90. Dazu: Bodel, Dealing, 134–143; Schrumpf, Bestattung, 224–228; Bond, Occupations, bes. 86–121; Lennon, Pollution, 146–153. Kegler/Eisen, Art. „Verfemte Berufe“. Zu der Inschrift: Berrendonner, Espaces, Anm. 32 (Lit.). McGinn, Larinum, 278 Anm. 26. Bond, Occupations, 107. Zu den operae: Bodel, Organization, 147–172, hier 154–156; Castagnetti, Leges, 149– 161.

Bestattungsarbeiter im kaiserzeitlichen und frühchristlichen Ägypten

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Die Unterscheidung von Bestattungsarbeitern und -unternehmern ist wichtig. Ein möglicherweise caesarischer Gesetzestext verbietet Bestattungsunternehmern (libitinarii) die Bekleidung eines öffentlichen Amtes oder die Mitgliedschaft im Rat der Stadt, solange sie ihrer beruflichen Tätigkeit nachgehen; das Gesetz spricht dieser Berufsgruppe – anders als Gladiatoren, Schauspielern, männlichen Prostituierten und weiteren infamierten Gruppen – aber nicht grundsätzlich die Eignung für diese Ämter ab.11 Bereits diese Beispiele zeigen, dass die Kriterien der Wahrnehmung und sozialen Definition von Außenseitertum flüssig sind.12 Soziale Ausgrenzung kann fallweise permanent und sogar ererbt oder aber vorübergehend, zugeschrieben oder selbstgewählt sein. Der Grad der Entfremdung einer Gruppe von der Gemeinschaft kann sich ändern; Umwertungen sind möglich. Ausgrenzende Terminologie kann bewusst eingesetzt werden, um gesellschaftliche Differenzierungen zu betonen und zu festigen, und Rechtsbestimmungen können auf den gesellschaftlichen Ausschluss bestimmter Gruppen zielen. Die Wahrnehmung durch die Nachbarn muss nicht der Wahrnehmung durch die Autoritäten entsprechen. Außen- und Selbst-Definition stehen miteinander in Wechselwirkung.

2.

Fragestellung und Forschungsstand

Meine Fallstudie zu „Würde und Last der Arbeit“ zeigt exemplarisch, wie wichtig die papyrologischen Texte für das Verständnis des NT (und allgemeiner: des frühen Christentums) sind,13 zumal dann, wenn man antike jüdische Bestattungspraxis, wie das NT sie spiegelt, als Teil der mediterranen Praxis versteht. Denn Bestattung und Grablegung kommen im NT eine fundamentale Bedeutung zu. Nicht nur spielen die Grablegung Jesu durch Josef von Arimathäa und die Totensalbung durch die Frauen in allen vier Evangelien eine wichtige Rolle (Mt 27,57–61; Mk 15,42–47; Lk 23,50–56; Joh 19,38–42); in dem „wurde begraben“ (ἐτάφη; sepultus est) von 1 Kor 15,3f. greifen reale Bestattung und theologische Relevanz ineinander.14 Auch das „Säen“ (σπείρειν; seminare) in 1 Kor 15,35–37 und 42–44 dürfte, trotz der alten Kontroverse dazu, metaphorisch Bestattungserfahrungen der Gemeinde aufgreifen.15 Andersherum wird die Bestattung zur theologischen 11 12 13

14 15

CIL I2 593, Z. 94ff. mit Gardner, Roman Citizen, 128–134. Vgl. Bodel, Organization, 159– 161 zur finanziellen Lukrativität des Bestattungsunternehmertums. Das zeigt, in der methodischen Relevanz über die frühneuzeitlichen Beispiele hinausgehend, Scribner, Außenseiter (mit Lit.). Dazu nur die zwei laufenden Projekte: New Documents Illustrating Early Christianity (zuletzt: Llewelyn/Harrison, New Docs 10) sowie: Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament (PKNT; bisher: Arzt-Grabner, Philemon; Arzt-Grabner u. a., 1. Korinther; Kreinecker, 2. Thessaloniker; Arzt-Grabner, 2. Korinther). Arzt-Grabner u. a., 1. Korinther, 470–476 kommentieren in erster Linie den Aspekt der Auferstehung. Sellin, Auferstehung, bes. 72–79, 210–223 und 230–289; Janssen, Körper, bes. 107–146 und 184–209.

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Metapher für die Taufe in Röm 6,4 und Kol 2,12.16 Allerdings bleibt die Behandlung der Bestattungsarbeiter, trotz reicher Literatur zum Thema Bestattung im NT und frühen Christentum,17 ein Forschungsdesiderat. Wie bereits gesehen wurde, herrscht ein Spannungsverhältnis zwischen Momenten der Ausgrenzung von Bestattungsarbeitern und der Tatsache, dass ihre Tätigkeit in den Städten des römischen Reiches unverzichtbar war.18 Zur Beurteilung der Frage nach dem sozialen Status und der sozialen Wahrnehmung der Bestattungsarbeiter lassen sich verschiedene Kriterien heranziehen: die Besitzverhältnisse einschließlich der Vergütung; ihre Niederlassungen, die häufig außerhalb der Siedlungen bzw. an deren Rändern liegen; eine Tendenz zur Endogamie innerhalb der Berufsgruppe; Vorstellungen von Unreinheit und Unredlichkeit, die von außen an die Berufsgruppe herangetragen werden und zu negativen Stereotypen kristallisieren können. Ebenso kann man nach dem Rechtsstatus der Bestattungsarbeiter fragen und nach ihrer Rechtsfähigkeit, d.h. nach ihrer Stellung vor Gericht und ihren Erfolgsaussichten bei Rechtsstreitigkeiten, sowie nach ihrem Bildungsstand, wie er aus ihrem Alphabetisierungsgrad ersichtlich wird. Bei der Auswertung der Quellen erhebt sich die Frage, ob die jeweils beobachtete Situation wirklich als Hinweis auf Ausgrenzung und einen niedrigen Sozialstatus interpretiert werden soll. Die Meinungen darüber gehen auseinander. So nimmt Françoise Dunand, die das Archiv der kaiserzeitlichen Bestattungsarbeiter des Ortes Kysis/Douch in der Oase Charga interpretiert hat, an, dass die dortigen Bestattungsarbeiter aus praktischen Gründen bei der Ne-kropole und damit in der Nähe ihres Arbeitsplatzes siedelten.19 Eine entgegengesetzte Position nimmt Jack Lennon ein, der die räumliche Separation von Bestattungsarbeitern, mit Verweis auf die Verhältnisse in Ägypten, als Ausschluss aus der Gemeinschaft aufgrund ritueller Unreinheit deutet.20 Aber die beiden Sichtweisen müssen sich nicht ausschließen. Eine Antwort auf die Frage nach dem Sozialstatus und einer möglichen Ausgrenzung von Bestattungsarbeitern ist, wie zu zeigen sein wird, vom jeweiligen Kontext und von der Chronologie abhängig.

3.

Berufsbezeichnungen: παρασχίσται, ταριχευταί, ἐξωπυλῖται, ἀλλόφυλοι

Bereits Herodot (2,85–90) und später Diodor (1,91–93) berichten von vielfältigen Berufsbezeichnungen für Bestattungsarbeiter mit entsprechend spezialisierten Tätigkeitsbereichen; diese sind auch in den Papyri belegt: die παρασχίσται (wörtlich „Aufschlitzer“), die an der linken Körperseite des Leichnams den Einschnitt zur

16 17 18 19 20

Dazu nur Zimmermann, Namen, 137f., 449–452, 502–505 und 508. Statt vieler nur Volp, Tod; McCane, Death; Volp/Zangenberg, Begräbnis. Bond, Occupations, 87f. und 100f.; Lennon, Pollution, 148 und 153. Dunand, Nécrotaphes, 121f. Lennon, Pollution, 146–153, hier 150 mit Anm. 72.

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Organentnahme ausführten;21 die ταριχευταί („Einsalzer“), die die eigentliche Einbalsamierung vornahmen;22 die στολισταί, die die Mumie vielleicht bandagierten;23 die χοαχύται („Totenspenden-Gießer“), die sowohl für das Bestattungsritual selbst als auch für Totenkult und Grabpflege zuständig waren, indem sie Libationen gossen, Opfer ausführten und rituelle Texte rezitierten.24 Nεκροτάφοι, „Totengräber“, und ἐνταφιασταί, „Beisetzer“,25 sind in den kaiserzeitlichen Papyri am häufigsten belegt, aber trotz einer verhältnismäßig großen Zahl von Belegen ist es bislang nicht möglich, ihre Aufgaben eindeutig voneinander abzugrenzen. Die Belege für νεκροτάφοι beginnen sporadisch in ptolemäischer Zeit, stammen aber besonders aus den kaiserzeitlichen und byzantinischen Papyri und reichen bis in das 6. Jh. Derda vermutet, dass in dieser Zeit, in der sich der Bedarf an preiswerter Mumienbestattung in weiteren Schichten verbreitete, Gruppen von νεκροτάφοι die technischen Aspekte des gesamten Bestattungsprozesses organisierten, vom Transport der Leiche über die Einbalsamierung, die in ptolemäischer Zeit den Taricheuten oblag, bis hin zur eigentlichen Beisetzung, ohne dabei allerdings den Totenkult auszuüben.26 Ab dem 3. Jh. n.Chr. wurde zunehmend der Ausdruck ἐξωπυλῖται zu einem generischen Sammelbegriff für Bestattungsarbeiter.27 Das Wort bezeichnet wörtlich „solche, die außerhalb der Stadttore wohnen“ und ist in Ägypten in Papyri und auf Os-traka zwischen dem 3. und dem 8. Jh. belegt. Man kann also davon ausgehen, dass die Bestattungsarbeiter in dieser Zeit in der Regel in segregierten Gemeinschaften außerhalb der Siedlungen wohnten. Ihre Bezeichnung hat sich damit von ihrer Tätigkeit gelöst und bezieht sich nurmehr auf ihre Niederlassung in deren Verhältnis zur Siedlung. Ein ähnlicher Fall der Benennung einer Gruppe nach ihrem Status liegt bei den ἀλλόφυλοι vor, die Jean Gascou als Gruppe von Bestattungsarbeitern identifiziert hat.28 Die Bezeichnung erscheint in Dokumenten von der ptolemäischen Zeit bis ins 6. Jh.; die meisten Belege gehören in die byzantinische Zeit. Wörtlich bedeutet der Begriff „Fremder“,29 und gelegentlich ist dies auch in den Papyri die Hauptbedeutung; in Ägypten ist ein ἀλλόφυλος auch jemand, der in einem anderen νομός (Verwaltungsdistrikt) wohnt. Ursprünglich gehört ein ἀλλόφυλος zu einer anderen φυλή: zu einer Gruppe von Anderen, deren Mitglieder gleiche Abstammung für sich beanspruchen und/oder durch denselben Wohnort verbunden sind, während ὁμοφυλία die Zugehörigkeit zur selben Gruppe bezeichnet. Als ἀλλόφυλοι wurden die Bestattungsarbeiter also als zu einer anderen Gruppe gehörig wahrgenommen: Die Quellen weisen darauf hin, dass sich auch ihr Wohnsitz außerhalb der eigentlichen Siedlungen an marginalen Wohnorten befand – 21 22 23 24 25 26 27 28 29

Pestman, Amenothes, 1–15; Derda, Workers, 15–19. Derda, Workers, 19–21. Derda, Workers, 21f. Bataille, Memnonia, 245–283; Derda, Workers, 23–26; Pestman, Archive; Pestman, Processo; Chauveau, Egypt, 137–149; s. auch unten, Abschnitt 4. Derda, Workers, 31–33. Derda, Workers, 26–31. Derda, Workers, 34f.; Bodel, Graveyards, 50. Gascou, Allophyloi. Zum Folgenden s. LSJ s. v.

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vielleicht in der Wüste –, so dass eine mobile, sogar nomadische, Lebensweise nicht auszuschließen ist. Dies erklärt die Bezeichnung als „Fremde“, die dann vor allem soziale Distanz ausdrückt. Noch im 19. Jh. spricht St John über die Koffra als „tribe“. In seiner Arbeit zu den Nekropolenarbeitern in den griechischen Papyri beobachtete Tomasz Derda, dass in ptolemäischer Zeit die Kompetenzen der einzelnen Gruppen von Spezialisten relativ klar voneinander geschieden waren, während in der römischen Kaiserzeit die Vielfalt der Termini zugunsten weniger Kollektivbezeichnungen mit allgemeinerer Bedeutung abnahm. Als Ursache dieser Entwicklung vermutete er Veränderungen des Bestattungsrituals, das in der Kaiserzeit zunehmend vereinfacht und gleichzeitig in weiteren Bevölkerungsschichten verbreitet worden sei. Mithin erscheinen so die reduzierte Anzahl und die generische Natur der kaiserzeitlichen Bezeichnungen als Hinweis auf eine geringere Arbeitsteiligkeit mit entsprechend geringerem Spezialisierungsgrad. Auch geht Derda von einer Abnahme des sozialen Ansehens der Bestattungsarbeiter in der Kaiserzeit aus.30 Andere mögliche Erklärungen für den Befund wären zu erwägen: So könnte eine vereinheitlichte Terminologie der Berufsbezeichnungen grundsätzlich auch auf eine zunehmende Zentralisierung der Arbeitsorganisation hinweisen. Zudem wäre zu überprüfen, ob das von Derda konstatierte Abnehmen des sozialen Ansehens der Bestattungsarbeiter nicht schon wesentlich früher beginnt. So konstatierte Pieter Willem Pestman im Fall der thebanischen Choachyten bereits in ptolemäischer Zeit einen geringeren Status und eine höhere finanzielle Unsicherheit im Vergleich zum Neuen Reich.31

4.

Aus dem Archiv des thebanischen Choachyten Osoroeris

Im ptolemäischen Ägypten gehören die Bestattungsarbeiter zu denjenigen religiösen Dienstleistern, über die wir am besten informiert sind, denn sie hatten Zugang zu Gräbern, in denen sie ihre Familiendokumente sammeln und aufbewahren konnten.32 So geschützt, konnten die Schriftstücke als Papyrus-Archive die Zeit überdauern. Wie Mark Depauw bemerkte, gehörten die meisten erhaltenen demotisch verfassten Familienarchive Familien von Bestattungsarbeitern.33 Ein Beispiel sind die bilingualen Archive der thebanischen Choachyten Osoroeris und Panas.34 Die Choachyten betrieben Bestattungsunternehmen, die als Zusammenschluss mehrerer Familien organisiert waren. Sie regelten alle Aspekte 30 31 32 33 34

Derda, Workers, 35f. Pestman, Processo, XIX. Chauveau, Egypt, 137; Clarysse, Egyptian Temples, 281. Depauw, Reflections, 262 Anm. 9. Zur Scheidung zwischen den beiden Archiven, die oft wie ein homogenes Corpus behandelt werden: Pestman, Archive, bes. 10–13 und 33–38; Clarysse, Archives, 52 und 59f.

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einer Bestattung von Grabbau und Grabausstattung über die Einbalsamierung und die Überführung bis hin zur Beisetzung. Selbst waren sie für den Totenkult zuständig.35 Die Bezeichnung χοαχύτης, „Totenspenden-Gießer“, ist wohl eine interpretatio ihrer ägyptischen Bezeichnung wȝḥ-mw, „Wasserspenden-Gießer“.36 Über ihre Funktion als Spezialisten für das Funerärritual hinaus hatten sie als Pastophoren des Amenophis ein niedriges Tempelamt inne.37 Das Archiv des Osoroeris enthält unter anderem Dokumente, die einen langwierigen Rechtsstreit – die Auseinandersetzung dauerte von 125 bis 117 v.Chr. – zwischen einer Familie von Choachyten und dem griechischen Infanteriekommandanten Hermias behandeln.38 Gegenstand des Streits ist die Eigentümerschaft eines Hauses in Theben. Dass die Choachyten den Prozess gewannen, dass also die königlichen Beamten, vor denen die Verhandlung stattfand, gegen einen Militärangehörigen und Ehrentitelträger griechischer Abkunft zugunsten von Thebanern entschieden, die sich für ihre Ansprüche auf Dokumente in der Landessprache beriefen und deren Unterhaltserwerb eng mit traditioneller ägyptischer Kultur und Religion verknüpft war, erscheint zunächst überraschend. Doch betrachten wir einige Aspekte der sozialen Wahrnehmung der Choachyten genauer. In einer Passage aus dem Gerichtsprotokoll (117 v.Chr.; P.Tor.Choach. 12 II 18–22) wirft der Rechtsvertreter des Hermias den Choachyten vor, das Haus, auf das Hermias Anspruch erhebt, nicht nur in Besitz genommen zu haben, sondern auch noch Tote darin zu deponieren. Damit bezieht er sich wahrscheinlich auf die auch sonst in Ägypten nachweisbare vorübergehende Aufbewahrung mumifizierter Leichen vor der endgültigen Beisetzung.39 Das umstrittene Haus liegt am Dromos der Hera und der Demeter, also der thebanischen Gottheiten Mut und Opet. Damit führen die Bestatter ihre Tätigkeit im Bereich „der größten Göttinnen, denen tote Körper und die, die sie versorgen, ungesetzlich sind“ (τῶν μεγίστων θεῶν, αἷς ἀθέμιτά ἐστιν νεκρὰ σώματα καὶ οἱ ταῦτα θεραπεύοντες) aus. Der Rechtsbeistand des Hermias stellt die Tätigkeit der Bestattungsarbeiter in dem Haus als ein Vergehen gegen die Göttinnen dar. Der Ausdruck ἀθέμιτος, den der Text sowohl auf die Leichen als auch auf die Bestattungsarbeiter bezieht, wird auch in anderen, traditionellen wie frühchristlichen Quellen (Apg. 10,28; 1 Petr 4,3) in diesem Sinn verwendet. Anschließend (P.Tor.Choach. 12 II 23–28) führt der Kläger einen vorangegangenen königlichen Beschluss an, dem zufolge die Gruppe (ἔθνος) die Stadt zu

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Pestman, Processo, XIX; Pestman, Archive, 444–473; Vleeming, Office; Winkler, Longevity, 51. Winkler macht die Existenz von Choachyten bis mindestens ins frühkaiserzeitliche Ägypten (auch außerhalb der Zentren Memphis und Theben) – und nicht, wie früher angenommen, nur bis ins frühe 1. Jh. v.Chr. – wahrscheinlich. Bataille, Memnonia, 246f.; vgl. Pestman, Archive, 425–427. Assmann, Tod, 462f. identifiziert die Wasserspende geradezu als Kernelement des ägyptischen Totenkultes. Tempelbezogene Aufgaben: P.Tor.Choach. 12 VIII 16–22; dazu Pestman, Processo, 194 Anm. d und g; Pestman, Archive, 428–437; Vleeming, Office, 255; Bussi, Communauté, 106f. Pestman, Processo; Pestman, Archive, 361–409. So auch Bataille, Memnonia, 223, 250f. und 255; Pestman, Processo, XXI; Pestman, Archive, 9, 408f. und 439.

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verlassen und sich in der auf dem anderen, westlichen Nilufer gelegenen Nekropole im Bereich der Memnoneia anzusiedeln habe. Auch hier zeigt sich eine Übereinstimmung mit dem von St John für die Koffra gebrauchten Ausdruck „tribe“.40 In der Forschung wurde angenommen, dass die Segregation der Choachyten aus hygienischen Erwägungen vorgenommen worden sei.41 Dies ist nicht zwingend, zumal die Anordnung durch den königlichen Arzt Tatas nur übermittelt (12 II 25: προσανήνεγκεν) und nicht, wie Pestman, Derda und Bodel meinen, erlassen wurde.42 Die Anordnung ging vielmehr vom König selbst aus (12 II 26: προστεταχέναι τὸν βασιλέα). Die Invektive des Klägers scheitert an mangelnder Sachkenntnis über die Spezialisierungen der verschiedenen Bestattungsspezialisten. Der Verteidiger der Choachyten kontert im Verlauf des Prozesses, dass die vom Kläger angeführte Anordnung sich nicht auf die Choachyten bezog, sondern auf eine Gruppe von Taricheuten, und dass sie letztlich nicht vollstreckt wurde (P.Tor.Choach. 12 VIII 8–28).43 Im Gegensatz zu den Choachyten als Spezialisten für den Totenkult sind die Taricheuten als Balsamierer mit den Leichen in direktem Kontakt, so dass ein Segregationserlass aus Gründen der Infektionsprävention in ihrem Fall zumindest denkbar wäre. Doch dem Rechtsbeistand der Choachyten zufolge genießen auch die Taricheuten Immunität (P.Tor.Choach. 12 VIII 23). Derda wies darauf hin, dass zur gleichen Zeit die Taricheuten des Fayum-Dorfs Oxyrhyncha nach Ausweis von P.Tebt. III 967 (letztes Viertel 2. Jh. v.Chr.) offenbar unbehelligt innerhalb ihrer Siedlungsgemeinschaft lebten.44 Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, auf den Pestman hinwies, der in der Diskussion über eine angenommene Segregation der Choachyten aber bisher kaum Beachtung gefunden hat: Die Choachyten haben ihren Wohnsitz zum Zeitpunkt des Rechtsstreits ohnehin in Djeme (Medinet Habu), also im Bereich der Memnoneia innerhalb der Nekropole in Theben-West (P.Tor.Choach. 11, 14; 11bis I 13f.; 12 I 23–25). Wenn Pestmans Ansicht, dass sie das umstrittene Haus in Theben bestenfalls kurzzeitig als Wohnhaus nutzen,45 richtig ist, dann ergibt das Postulat einer Zwangsumsiedlung nach Theben-West keinen Sinn – zumal der Wohnsitz in Djeme in P.Tor.Choach. 12 I 23–25 ausdrücklich als vom ptolemäischen 40

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Derda, Workers, 21 deutet ἔθνος als juristischen Terminus („corporation“). Anders Pestman, Processo, 183, dessen Übersetzung „questa gente“ eine unspezifische und gleichzeitig pejorative Bedeutung voraussetzt, und Bussi, Communauté, 112f.: „com-munauté, groupe unitaire“. Derda, Workers, 20; Bodel, Dealing, 142; Bussi, Communauté, 113. Anders Pestman, Processo, 186 Anm. g. Die Formulierung „by order of … a royal doctor“ bei Pestman, Archive, 6 ist irreführend. Vgl. Pestman, Archive, 6f. Mit Pestman, Processo, 194 Anm. c möchte ich ausschließen, dass der Kläger sein Argument vorgebracht hätte, wenn ihm der Unterschied zwischen Taricheuten und Choachyten bewusst gewesen wäre. Derda, Workers, 20 mit Anm. 41. Pestman, Processo, XXI. Der administrative Wohnsitz muss mit dem Hauptaufenthaltsort nicht identisch sein, aber Pestman, Archive, 7–9, 408 und 416 denkt an Djeme offenbar als den tatsächlichen Hauptaufenthaltsort. Vorsichtiger ist Winkler, Longevity, 59 mit Anm. 62. Belege für den administrativen Wohnsitz der thebanischen Choachyten vom 4. bis zum 2. Jh. v.Chr. diskutiert Bussi, Communauté, 108–113.

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König gewährtes Privileg bezeichnet wird, das möglicherweise Steuervorteile46 für die Choachyten mit sich bringt. Möglicherweise liegt also eher ein Versuch des Klägers vor, die Choachyten vom östlichen Nilufer und damit von der umstrittenen Immobilie permanent fernzuhalten.47 Die hier behandelten Passagen sind aussagekräftig für die soziale Wahrnehmung nicht nur der Choachyten, sondern auch der Taricheuten. Aus den vorangehenden Überlegungen ergibt sich, dass Regelungen zur Segregation bestimmter Gruppen von Bestattungsarbeitern im ptolemäischen Ägypten fallweise nachweisbar sind, aber jeweils zunächst nur lokale Gültigkeit hatten, und dass über die Gründe solcher Maßnahmen oft nur spekuliert werden kann. Deutlich wird außerdem, dass die Anordnung an sich noch kein Beleg für den (im Fall der thebanischen Taricheuten nicht vorliegenden) Vollzug ist. Das Auftreten der Choachyten als geschlossene Gemeinschaft, das sich auch am gemeinsamen Wohnsitz – in Fußnähe zu dem Bereich der Nekropole, in dem sie ihre Arbeit ausübten48 – widerspiegelt, erscheint hier gerade nicht als Indiz sozialer Abwertung, sondern geradezu als Element positiver Identitätskonstruktion. Die offensichtlich pejorative Wahrnehmung sowohl der Choachyten als auch der Taricheuten seitens der Kläger ist zum Teil durch den speziellen Kontext der Rechtskontroverse situativ vorgegeben; daran wird der nicht-monolithische, fallweise kontextgebundene Charakter sozialer Wahrnehmung deutlich. Daneben dürfte die negative Wahrnehmung aber auch auf interkulturelle Vorurteile und Stereotypen zurückzuführen sein.49 Zum Teil als Reaktion auf die unscharfe Außenwahrnehmung kann eine emphatische Abgrenzung der einzelnen Gruppen von Bestattungsarbeitern untereinander erfolgen, wie sich neben dem hier angeführten Beispiel auch an anderen Belegen zeigt.50 Die hier behandelten Passagen verdeutlichen also auch die Wichtigkeit einer sauberen (etischen) Unterscheidung zwischen (emischer) Eigen- und Fremdwahrnehmung, die hier zudem mit der Unterscheidung zwischen (emischer) inter- und intrakultureller Wahrnehmung koinzidiert.

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Bussi, Communauté, 114f. Dafür spricht, dass der Rechtsbeistand der Choachyten andeutet, der Kläger plane, sich nach ihrer Umsiedlung des Hauses zu bemächtigen: 12 VIII 24–28 mit Pestman, Processo 186 Anm. g und 194 Anm. i. Pestman, Patrimonio, 112. Zu den materiellen Belegen der Tätigkeit der Choachyten Strudwick, Necropolis, 179–181. Dazu Vleeming, Office, 244; Chauveau, Egypt, 138 und 148. So verbietet der demotische P.Berlin 3115, die Satzung der 109 v.Chr. gebildeten Berufsvereinigung der Choachyten, die Zulassung von Taricheuten: Pestman, Archive, 5f., 15f. und 196–201 Nr. 61; Bussi, Communauté, 115.

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5.

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Zensusdeklaration einer Familie von νεκροτάφοι

Die Choachyten im Theben des ausgehenden 2. Jh. v.Chr. gingen einem Erwerb nach, der lukrativ genug war, um damit Immobilien zu erwerben und einen Anwalt zu bezahlen, mit dem sie aus einem mehrere Jahre dauernden Rechtsstreit erfolgreich hervorgingen. Einen mit dem Prestige der Choachyten hellenistischer Zeit kontrastierenden Einblick in die finanzielle Situation einer Familie von Bestattungsarbeitern gewährt eine Zensusdeklaration des ausgehenden 2. Jh. n.Chr. (P.Vindob. G 2011).51 Bei der alle vierzehn Jahre vorgenommenen Haus-für-Haus-Deklaration meldeten die Haushaltsvorstände alle Haushaltsmitglieder bei den lokalen Behörden. In diesen Zusammenhang gehört die im Jahr 174 n.Chr. eingereichte Zensuserklärung eines Totengräbers (νεκροτάφος) aus dem Dorf Moithymis (Meidûm) im memphitischen Gau in Mittelägypten. Zur Familie des Peteamunis, der als Haushaltsvorstand die Deklaration einreicht, gehören drei Söhne im Alter von 45, 36 und 30 Jahren, zum Teil mit ihren Frauen und Kindern. Drei Generationen leben als Großfamilie zusammen, wie besonders in der Chora häufig.52 Die Quelle zeigt, dass der Beruf des νεκροτάφος an alle männlichen Mitglieder innerhalb der Familie weitergegeben wurde. Bemerkenswert ist außerdem, dass Peteamunis im fortgeschrittenen Alter von 75 Jahren möglicherweise beruflich noch aktiv ist. Im Gegensatz zu seinen drei Söhnen ist er dabei nicht mehr kopfsteuerpflichtig, denn diese Pflicht fiel nur im Lebensalter von 14 bis 62 Jahren an. Dass er schreibunkundig ist, geht daraus hervor, dass ein professioneller Schreiber für ihn zeichnet. Die Ehefrauen der drei Söhne sind als beschäftigungslos (ἀργήν) deklariert. Anders als in den Zensuserklärungen sonst üblich wird keine Unterkunft beschrieben. Vielmehr deklariert Peteamunis sich selbst und seine Familie als ἄσκηνοι (1,8), also als „zeltlos“, was sich im Zusammenhang der Zensusdeklaration als „obdachlos“ deuten lässt.53 Es ist möglich, die Deklaration als ἄσκηνοι als Hinweis nicht nur auf einen marginalen Sozialstatus und prekäre finanzielle Verhältnisse zu sehen, die durch die anfallende Steuer noch bedrängter wurden, sondern vielleicht sogar auf eine vagierende Lebensweise. Fallweise durch wirtschaftliche Not erzwungen, kann eine solche Lebensweise einer Tätigkeit intrinsisch sein, die die Überwachung auch weiter voneinander entfernt gelegener Nekropolen ebenso vorsieht wie die Nutzung räumlich verteilter Konzessionen und die Durchführung von Leichentransporten, die nicht selten über große Distanzen hin stattfanden.

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Arzt-Grabner, Alltag, 105–109; Zdiarsky, Unsterblichkeit, 116 Nr. 76. Statt vieler nur Hobson, House. Zur horizontal wie vertikal erweiterten Familie: Hübner, Family, 33f., 43, 55 und 203. Preisigke, Wörterbuch, Bd.1, Sp. 225.

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6.

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Der Brief des Psenosiris

Besonders gut sind wir über die νεκροτάφοι von Kysis informiert, dem Hauptort der Charga-Oase in der libyschen Wüste. Hier sind nicht nur die Lebensumstände der dort im 3. Jh. tätigen Bestattungsarbeiter durch ein Papyrusarchiv erschlossen,54 sondern durch archäologische Grabungen sind auch konkrete Beispiele ihrer Arbeit bekannt. Aus den Papyri geht hervor, dass es in Kysis νεκροτάφοι gegeben haben muss, die finanziell relativ gut gestellt waren. Ein gewisser Petechon war in der Lage, seinen Söhnen neben seiner Tätigkeit, bezeichnet als κηδεία νεκροταφική, Hydreumata (Brunnen) und Jagdgebiete abzutreten (P.Grenf. II 71,14–18). Ein Brief aus dem Archiv von Kysis gibt Auskunft über den Verdienst eines νεκροτάφος (P.Grenf. II 77). Der Leichen- oder Mumientransport kostete 340 Drachmen; weitere 20 Drachmen wurden für die Leinenbandagen gezahlt; hinzu kommen Naturalien: eine Kanne Wein, zwei Kannen Öl, eine Artabe Gerste (etwa 39 Liter; dies entspricht ca. 30 kg ägyptischen Weizens). Wir wissen nicht, wie repräsentativ die Vermögensverhältnisse des Brunnen- und Jagdgebietbesitzers Petechon waren und ob er, trotz seines Grundbesitzes, nicht in der Siedlung, sondern in der Nekropole lebte, wie viele der νεκροτάφοι von Kysis. Wir können auch nicht sagen, wie viele Aufträge für Leichentransporte der νεκροτάφος von P.Grenf. II 77 im Monat oder im Jahr hatte, ob die eigentliche Beisetzung separat beglichen wurde und als Verdienst noch hinzukam und wie gut er von seiner Tätigkeit leben konnte. Um den Transport der Mumie einer Frau namens Politikē geht es vermutlich in dem Brief des Psenosiris an Apollon (P.Grenf. II 73), der aufgrund der Paläographie und der Zugehörigkeit zum Archiv der νεκροτάφοι von Kysis in das ausgehende 3. Jahrhundert n.Chr. datiert wurde.55 Der Brief56 wirft zahlreiche Interpretationsprobleme auf, da sein Inhalt nur einen Ausschnitt eines weiteren Kontexts darstellt, der dem antiken Sender und Empfänger bekannt war, sich dem modernen Leser aber nicht unmittelbar erschließt. Nach seinem ersten Bekanntwerden wurde der Text im Gefolge besonders der Interpretation Adolf Deissmanns zunächst als Dokument der Christenverfolgung aufgefasst. Man vermutete, der Brief beziehe sich auf die im Rahmen der diokle-

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Dunand, Nécrotaphes (Lit.). Eine Publikation des Archivs durch Roger Bagnall in den Graeco-Roman Memoirs der Egypt Exploration Society ist in Vorbereitung: Bagnall, Writing, 63 mit Anm. 8. Zum Fundort – nach dem Autor ein Grab in der Nekropole nördlich des Tempels von Kysis – und zur Datierung vgl. Wagner, Oasis, 355f. mit Anm. 5. Falls es zutrifft, dass die Papyri als antiker Komplex zutage kamen, handelt es sich streng genommen um ein Archiv, nicht um ein Dossier. Bibliographie: Naldini, Cristianesimo, 131–135 und 433 Nr. 21 und Llewelyn/Nobbs, P.Grenf. II 73. Außerdem: Dunand, Nécrotaphes, 124f.; Boyaval, Momie; Torallas Tovar, Embalming, 136.

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tianischen Maßnahmen angeordnete Deportation einer Christin in die Wüste. Aufgrund der Tatsache, dass Politikē57 einer Gruppe von νεκροτάφοι, also Totengräbern, übergeben wird, ist es jedoch wahrscheinlicher, dass der Brief von dem Transport einer Mumie in die Oase Charga handelt; dies entspricht auch der inzwischen vorherrschenden Forschungsmeinung.58 Akzeptiert man diese Prämisse, so wird aus dem Brief ersichtlich, dass sowohl der Transport als auch die temporäre Aufbewahrung (oben, Abschnitt 4) mumifizierter Leichen zu den Aufgaben der νεκροτάφοι gehörten.59 Im Fall der Politikē soll die Beisetzung vermutlich in Anwesenheit ihres Sohnes Neilos durchgeführt werden, auf dessen Eintreffen man wartet. Da man sich im kaiserzeitlichen Ägypten in der Regel im Heimatort beisetzen ließ, war der Leichentransport auch über weitere Distanzen durchaus üblich. Zum Zweck der Identifizierung wurden Name und Bestimmungsort der Verstorbenen, eventuell nebst weiteren Details, direkt auf der Mumie und/oder auf separaten Holztäfelchen angebracht. Die Untersuchung dieser Mumientäfelchen – oder präziser: Transporttäfelchen60 – und einschlägiger Papyri durch Bernard Boyaval und Hans-Joachim Drexhage zeigt, welchen finanziellen und logistischen Aufwand man betrieb, um sicherzustellen, dass Mumien bei der Überführung ihren Bestimmungsort erreichten.61 Das belegt nicht nur die Bedeutung, die die Hinterbliebenen dem Vorgang beimaßen, sondern zeigt indirekt auch die nicht unerheblichen Transportrisiken. Den von Drexhage und Boyaval gesammelten Quellen möchte ich das Transporttäfelchen des Sarapion in Wien hinzufügen; hier wird der Umladeort Akanthon eindringlich wiederholt.62 Vor diesem Hintergrund erhält die von Llewellyn und Nobbs vorsichtig geäußerte Vermutung,63 der Mumientransport habe im vorliegenden Fall seinen Bestimmungsort verfehlt und der Brief des Psenosiris beziehe sich auf die Korrektur dieses Fehlers, besondere Plausibilität. Unumstritten ist, dass die Phraseologie des Briefes eindeutig christlich ist; in Psenosiris und Apollon, die der Brief als πρεσβύτεροι kennzeichnet, wurden folgerichtig christliche Presbyter vermutet. Damit wäre der Brief nicht nur als eines der ältesten Dokumente von Bedeutung, die die Anwesenheit von Christen in der Oase Charga belegen.64 Es ist auch möglich – wenn auch nicht zweifelsfrei nachweisbar –, dass es sich auch bei Politikē um eine Christin handelte. Wäre dies der Fall, dann zeigte der Brief außerdem, dass Arbeiter im traditionellen Bestattungsgewerbe auch für christliche Bestattungen zuständig waren. Dass die Gruppe der 57 58 59

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„Politikē“ wurde als Eigenname, als Bezeichnung für eine Bewohnerin einer Polis wie Alexandria oder als „Prostituierte“ gedeutet. Den Wandel der Forschungsmeinung zeichnet O’Callaghan, P.Grenf. II 73, nach. Zumindest ein weiterer Mumientransport durch die νεκροτάφοι von Kysis ist durch den zum Archiv gehörigen, oben bereits erwähnten P.Grenf. II 77 (267–274 n.Chr.) direkt belegt. Zu dieser Untergruppe der Mumienetiketten Kaiser, Mumientäfelchen, 57–59 (Lit.) und 104–109 (Katalog-Beispiele). Drexhage, Mumientransport, 171–173; Boyaval, Transport, 109–115. Kaiser, Mumientäfelchen, 108 Nr. 60. Llewelyn/Nobbs, P.Grenf. II 73, 619f. Zum frühen Christentum in der Oase Charga Wagner, Oasis, 355–365.

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νεκροτάφοι, denen Politikē anvertraut wird (τοῖς καλοῖς καὶ πιστοῖς ἐξ αὐτῶν τῶν νεκροτάφων), ebenfalls christlich wäre, wie in der Forschung häufig angenommen, ist allerdings nicht sicher: der im Brief verwendete Ausdruck καλὸς καὶ πιστός muss nicht zwingend auf eine christliche Orientierung deuten; πιστός kann generell als „vertrauenswürdig“ oder „zuverlässig“ wiedergegeben werden und wird in dieser Bedeutung gerade auch auf Boten, Wächter, Zeugen und dergleichen angewandt.65 Wahrscheinlicher ist, dass der Verfasser des Briefs zwischen vertrauenswürdigen und weniger vertrauenswürdigen unter den νεκροτάφοι unterscheidet. Der Brief spiegelt damit eine differenzierte, nicht einseitig negative Wahrnehmung dieser Bestattungsarbeiter wider. Sicher kann man sagen, dass bestimmte νεκροτάφοι mit christlichen Amtsträgern, den Presbytern, zusammenarbeiteten. Dass vermutlich eine traditionelle Mumienbestattung vorliegt, spricht nicht dagegen. Denn in Ägypten wurden bis in die christliche Zeit hinein Maßnahmen zur Leichenkonservierung getroffen, wenn man auch häufig auf eine Öffnung des Körpers und die Entnahme der Organe verzichtete.66 In dieser reduzierten Form ist Mumifizierung in Ägypten bis in das 7./8. Jh. n.Chr. nachweisbar, auch in monastischen Kontexten.67 Christliche Mumifizierungen sind auch durch einschlägige Phraseologie und Symbole auf Mumientäfelchen wahrscheinlich zu machen.68 In der Nekropole von Kysis reichen die Belege für intentionelle Mumifizierung bis in das späte 4. Jh. n.Chr. oder darüber hinaus;69 die paläoanthropologische Untersuchung der dortigen Mumien zeigt, dass die Balsamierer pharaonischen Mumifizierungstraditionen folgten und verschiedene Qualitätsstufen anboten.70 David Frankfurter vermutete, dass es nicht zuletzt Bestattungsarbeiter wie die νεκροτάφοι waren, die zur Aufrechterhaltung traditioneller Religion in Ägypten bis in christliche Zeit beitrugen, indem sie traditionelle Bestattungstechniken und Funerärriten – und damit direkt oder indirekt auch die intrinsisch damit verknüpften osirianischen Vorstellungen – fortführten,71 eine interessante Idee, deren Beweis allerdings aussteht.

65

66 67 68 69 70 71

Belege: LSJ s. v.; Preisigke, Wörterbuch, Bd. 2, Sp. 310, s. v.: „zuverlässig, treu, glaubhaft“; die Bedeutung „glaubenstreu“ mit Bezug auf Christen beruht auf dem PsenosirisBrief und ist somit kein unabhängiger Beleg. Eine ausgesprochen christliche Bedeutung der Wendung wird auch von Llewelyn/Nobbs, P.Grenf. II 73, 627f. zurückgewiesen. Fischhaber, Mumifizierung, 33–44. Belege: Dunand, Practices; Torallas Tovar, Embalming (Lit.). Beispiele: Wagner, Oasis, 356 Anm. 5; Torallas Tovar, Mummy Labels (Lit.). Chronologie: Dunand, Nécrotaphes, 123 mit Anm. 23 und 126; Dunand u. a., Douch I, 51f., 57 und 261–264. Dunand, Nécrotaphes, 123f.; Dunand u. a., Douch I, 201. Frankfurter, Religion, 72f.

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98

7.

Die Geschichte des Patermuthios

Eine andere Option stellt die Geschichte des Patermuthios vor. Die Erzählung lässt sich dem Genre der Konversionsgeschichten zuordnen, und die Rolle des νεκροτάφος wird, wie unten gezeigt wird, erst unter dieser Voraussetzung vollständig deutlich. Die Passage ist Teil der Historia monachorum in Aegypto, einer in der uns vorliegenden Form um 395 n.Chr. kompilierten Sammlung von Hagiographien und Wundererzählungen über die ägyptischen Wüstenväter dieser Zeit.72 Kapitel 10,3–24 erzählt das Leben des ägyptischen Mönchs Patermuthios, eines ehemaligen νεκροτάφος. Dessen vorkonversionelle Biographie, verortet bei den Ἕλληνες, den Anhängern der traditionellen Religion, ist kurz aber prägnant. Er wird als ἀρχιλῃστής beschrieben, was ich in diesem Zusammenhang eher als „Erzräuber, Obergauner“ auffassen möchte denn als „Räuberhauptmann“,73 und war für seine Schlechtigkeit (10,3) und sogar als Mörder (10,6: ἀνδροφόνος) berüchtigt. Die Lebensweise der νεκροτάφοι ist den Zeitgenossen suspekt; die Nekropolen befanden sich am Fruchtlandrand an der Schwelle zur Wüste und waren für ihre Gefährdung durch Räuber berüchtigt.74 Als sich im 4. Jh. christliche Mönche in die Wüsteneinsamkeit zurückzogen, wählten auch sie die Gräber als Wohnstätte und hatten sich mit den dort anwesenden Vagabunden auseinanderzusetzen, eine Situation, die literarisch in der Historia monachorum verarbeitet ist. Als Patermuthios dabei ist, die Behausung einer christlichen Einsiedlerin zu überfallen, bleibt er auf dem Dach hängen, weder in der Lage, ins Innere zu gelangen, noch, sich selbst zu befreien. Gezwungen, den Rest der Nacht auf dem Dach des μοναστήριον zu verbringen, fällt er zwischendurch in kurzen Schlummer und hat dabei seine „Chance auf Rettung“ (πρόφασις σωτηρίας; occasio salutis), also sein Konversionserlebnis. In einer Traumvision befielt ihm eine königliche Gestalt: „Wache nicht länger über die Gräber (περὶ τοὺς τάφους), während du nach diesen kleinen Räubereien trachtest“. Durch Verlagerung des eigentlichen Konversionserlebnisses in das Medium Traum wird, so möchte ich vorschlagen, hier das Problem gelöst, dieses entscheidende Moment zu plausibilisieren und zu verbalisieren. Die Aussage des Textes, dass Patermuthios über Gräber wache, illustriert die Doppelrolle der νεκροτάφοι als Bestattungsarbeiter und Grabwächter, wie sie auch bei den Koffra von Assiut zu sehen war, und legt nahe, dass er wie diese seine Wohnstätte in der Nekropole hatte. Nun aber soll Patermuthios den Weg der Tugend wählen und Christ werden. So wird er Gründer einer Mönchsgemeinschaft und Wüstenasket – ein Christ, der für andere Christen Krankenfürsorge, Totenwache, Totengebet und Bestattung übernimmt; in Kap. 10,9–19 werden Episoden seiner christlichen Totenfürsorge

72 73 74

Edition der griechischen Fassung: Festugière, Historia monachorum. Zur Datierung Schulz-Flügel, Historia monachorum, 17. Pace Festugière, Historia monachorum, 68 Anm. 19: „chef de brigands“. Belege bei Gascou, Vie, 112.

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erzählt. Ich möchte diese neue Totenfürsorge gleichsam als performativen Ausdruck seiner Reue und Umkehr, seiner μετάνοια, auffassen. Gleichzeitig wird die Wertschätzung der Bestattung als Dienst am christlichen Nächsten deutlich. Patermuthios gibt seine vorherige Tätigkeit also nicht vollständig auf, sondern stellt sie vielmehr in den Dienst seines christlichen Glaubens, indem er weiterhin Tote für die Beisetzung vorbereitet und bestattet. Diese Kontinuität erhält, wie ich meine, ihre volle Bedeutung erst im Lichte der für die Konversionserzählung charakteristischen narrativen Struktur, ein Umstand, der in der bisherigen Forschung zu der Passage meines Wissens nicht hervorgehoben wurde. Denn die Dreiteilung der Biographie in den Konversionspunkt, ein „Davor“ und ein „Danach“ sowie die betonte Unvereinbarkeit der vorkonversionellen Lebensweise mit der anschließenden, religiös bestimmten, sind charakteristisch für die Struktur von Konversionserzählungen. Hier erhält die vorkonversionelle Tätigkeit, nach Art eines Spiegelbildes, eine nachkonversionelle Umgestaltung. Und es ist gerade die vorkonversionelle Verortung der Tätigkeit als νεκροτάφος bei den Ἕλληνες, die deutlich macht, wie negativ der Begriff νεκροτάφος hier besetzt ist. Wenn Patermuthios vor seiner Konversion als Dieb, Einbrecher und Mörder charakterisiert wird, so dient dies der dramatischen Inszenierung seines Sinneswandels im Rahmen didaktischer Hagiographie. Gleichzeitig dürfte diese Episode die Wahrnehmung der νεκροτάφοι in der Gesellschaft als materiell Ungesicherte und potentielle Straftäter widerspiegeln. Es ist vermutlich im Gefolge dieser von den antiken Quellen suggerierten Wahrnehmung, dass André-Jean Festugière an der Stelle den griechischen Ausdruck νεκροτάφος als zweideutig auffasste – gemeint sei jemand, der Gräber aushebt, und zwar im Sinne des Totengräbers wie des Grabschänders – und seiner Übersetzung die pejorative Bedeutung „violateur de tombes“ zugrunde legte. Denn Festugière war offensichtlich nicht nur vom Kontext geleitet, sondern auch von Rufins im beginnenden 5. Jh. entstandener lateinischer Fassung,75 die den νεκροτάφος als sepulcrorum violator wiedergibt.76 Jean Gascou hat darauf aufmerksam gemacht, dass für νεκροτάφος an der Stelle analog zu den Papyri die reguläre Bedeutung „Bestattungsarbeiter“ zugrunde zu legen ist.77 In Fortführung dieser Überlegung scheint mir wichtig, daß Rufins Formulierung explizit macht, was im griechischen Text – durch die Bezeichnung des Patermuthios als „Erzgauner“ und Mörder – nur angelegt ist. Im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung stellt sich die Frage, wie Rufins Auffassung zustande kommt. Ist sie dadurch bedingt, dass seine griechische Vorlage (nicht nur) an dieser Stelle von der uns vorliegenden abwich?78 War er mit dem Idiom des ägyptischen Griechisch, zu dem das Wort νεκροτάφος gehört, nicht ausreichend vertraut, und handelt es sich demnach um ein unbeabsichtigtes Missverständnis?79 75 76 77 78 79

Lateinischer Text: Schulz-Flügel, Historia monachorum, 311–318. Zur Datierung SchulzFlügel, Historia monachorum, 27 und 46f. Festugière, Historia monachorum, 68 Anm. 20. Gascou, Vie, 110. Wie schon Festugière, Problème, vermutete. Zum Verhältnis vom lateinischen zum griechischen Text auch Schulz-Flügel, Historia monachorum, 3–5 und 48–67. Gascou, Vie, 110.

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Oder übersetzt, ja bearbeitet er frei und nimmt dabei Korrekturen vor?80 Ich vermute, dass entweder Rufins Vorlage oder er selbst an dieser Stelle pejorative Konnotationen des Wortes νεκροτάφος, die seinen Zeitgenossen vertraut gewesen sein müssen,81 intentionell aktiviert. Suggeriert wird hier, dass, wer wie die νεκροτάφοι professionell mit den Toten und Gräbern zu tun hat, sich auch an ihnen bereichert – eine Sichtweise, die sich noch in St Johns Darstellung der Koffra findet.

8.

Schluss

Mein Beitrag befasste sich mit der Frage, wie die sozio-ökonomische Position von Bestattungsarbeitern und -unternehmern und ihre soziale Wahrnehmung im kaiserzeitlichen und frühchristlichen Ägypten zwischen Notwendigkeit und Ablehnung, zwischen Integration und Ausgrenzung bestimmt werden können. Aspekte der sozialen Wahrnehmung der Bestattungsarbeiter wurden anhand der gängigsten Berufsbezeichnungen beleuchtet, die zum Teil negative Stereotypisierungen reflektieren (Abschnitt 3). Aspekte der Rechtsfähigkeit (Abschnitt 4) und des finanziellen Status von Bestattungsarbeitern wurden ebenso behandelt wie der Ausschluss von Bestattungarbeitern aus der dörflichen oder städtischen Gemeinschaft durch Ansiedlung am Rande der Siedlungen, bei oder in den Nekropolen (Abschnitt 5). Der Brief des Psenosiris (Abschnitt 6) und eine Passage aus der Historia monachorum (Abschnitt 7) illustrieren den Übergang zwischen traditioneller und frühchristlicher Auffassung von Bestattungsarbeitern und ihren Funktionen und Rollen. In der Forschung geht man häufig davon aus, dass sich die soziale Wahrnehmung der Bestattungsarbeiter im Zuge des Übergangs zum Christentum in Richtung auf eine höhere Wertschätzung ihrer Tätigkeit wandelte. Die hier betrachteten christlichen Dokumente widerlegen diese Ansicht nicht, aber es wäre verfehlt, daraus auf eine lineare Entwicklung zu schließen. Die Quellen zeigen, situativ verortet, auch in vorchristlicher Zeit dynamische Wahrnehmungskriterien sowie eine Dialektik von Innen- und Außenwahrnehmung und von sozialer und kultureller Perzeption, die insgesamt ein differenzierteres Bild nahelegen, das sich in den christlichen Quellen nicht grundsätzlich ändert. Ein Modell, welches auf die Frage nach dem Status der Bestattungsarbeiter und ihrer sozialen Wahrnehmung nur binäre Antworten lieferte, würde diese Gemengelage verkennen.

80 81

So auch Moschos, Kontinuität, 269 mit Anm. 15. Einige Belege für solche Konnotationen sind bei Gascou, Vie, 111f. gesammelt.

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Harte Arbeit? Arbeitsformen und Arbeitsbedingungen im römischen Imperium Marcus Sigismund

Stärker noch als die anderen althistorischen Forschungsgebiete hat die Sozialgeschichte mit durchaus bekannten, aber immer wieder neu ins Gedächtnis zu rufenden methodischen Problemen zu kämpfen, die der folgenden, ausdrücklich nur kursorischen Übersicht zum Thema Arbeit in der römischen A ntike vorangestellt sein sollen. Zu betonen ist vor allem die oftmals breite Streuung der zu verwendenden Quellen:1 Diese betrifft zum einen den chronologischen Rahmen; denn die für manche Fragestellung vergleichsweise dürftige Quellenlage nötigt oft dazu, in der Zeitschiene benachbarte Quellen heranzuziehen, um überhaupt eine Aussage treffen zu können. Der Aspekt der Streuung betrifft aber auch, zumal in der Beschäftigung mit dem römischen Reich, den geographischen Rahmen; denn die Rahmenbedingungen des Alltags sind historisch gewachsen, und können in jedem Reichsteil des römischen Weltreiches ein wenig (oder aber auch deutlich) anders sein. Als weiteres Problem zu nennen wäre die forschungsgeschichtliche Tatsache, dass wohl kein anderes Gebiet der althistorischen Forschung so massiv von den unterschiedlichen politischen und wirtschaftsökonomischen Theorien des 20. Jahrhundert beeinflusst – um nicht zu sagen belastet – worden ist. Der Themenkomplex „Arbeit“ ist hiervon besonders betroffen, insofern z.B. die kommunistische Forschung die vermeintlichen Arbeitsheere von Sklaven und ausgebeuteten Tagelöhnern aus der Perspektive des neuzeitlichen Klassenkampfes betrachten musste und so zu einer anderen Darstellung antiker Arbeit gelangen, als es im Westen der Fall war.

1

Vgl. so auch Tacoma, Labour Market, [online verfügbar: http://media.leidenuniv.nl/legacy/the-labour-market.pdf (Abruf: 24.8.2015); zitiert wird diese online-Version], 3: „However, for all their richness, the sources do not cover all parts of the subject equally well and need context and interpretation. Elite attitudes have often formed the starting-point for discussions of labour, but it is an open question to what extent the moral taxonomy of acceptable and non-acceptable economic behaviour penetrated lower down the social scale.“

Marcus Sigismund

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1.

Arbeitsformen

1.1

frei - unfrei

In Anknüpfung an das einleitend Gesagte sind die modernen Kategorien von frei und unfrei in der historischen Sichtweise mit Vorsicht zu gebrauchen. Denn die römische Gesellschaft betreibt soziologisch betrachtet eine „offene Sklaverei/ open slavery“,2 d.h. der Sklave hatte die realistische Möglichkeit seine persönliche Freiheit wiederzuerlangen (wovon zahlreiche manumissio-Belege Zeugnis ablegen).3 Unter dem Blickwinkel der Arbeitsform war es demnach möglich, dass ein Handwerker seine Arbeit zunächst als Sklave, später dann als juristisch freie Person ausübte. Inwieweit man bei diesem Freigelassenen dann aber die Kategorie „frei“ verwenden kann, wenn dieser nach den moralisch-ethischen Vorstellungen dieser Epoche automatisch fest ins Klientelsystem gebunden wurde, ist diskutabel. Ganz zu Recht findet sich daher in der angloamerikanischen Literatur für Sklaven und Freigelassene der Begriff “servile population“.4 Da dies aber eher ein rechts-philosophisches Problem ist, sei dies hiermit nur kurz genannt und nicht weiter ausgeführt. In Hinsicht auf die gesellschaftliche Wirklichkeit der römischen Antike interessanter scheint ein demographischer Aspekt: Eine nicht geringe Zahl an Arbeiten der letzten 10–15 Jahre beschäftigt sich mit der Frage, in welchem quantitativen Verhältnis Arbeit von Sklaven und sogenannte „Freie Arbeit“ steht. Die Frage ist nicht ganz leicht zu klären, da uns keine im engeren Sinne quantitativen Quellen vorliegen. Es scheint aber doch deutlich, dass das Bild der älteren Forschung nicht korrekt war. Diese ging von einem ausgesprochen hohen Anteil an Sklaven aus. Ein freier Arbeitsmarkt wurde von der älteren Forschung i.d.R. negiert. Typisch (und forschungsgeschichtlich lange Zeit prägend) sind z.B. die Ansichten von Moses I. Finley und Morris Keith Hopkins: So postulierte Finley: „In early societies, free hired labour (though widely documented) was spasmodic, casual, marginal.“ 5 Hopkins glaubte sogar, dass das römische Reich eine Gesellschaft ohne freien Arbeitsmarkt gewesen sei.6

2 3

4 5 6

Das Gegenteil wäre das closed-slavery system, wie es in den Südstaaten der USA vorlag. Vgl. hierzu ausführlich Temin, Labor Market, 524f. Interessanterweise dokumentieren die ägyptischen Census-Listen keine männlichen HausSklaven mit einem Alter höher als 32. Da es sich um Haussklaven handelt, können wir eine berufsbedingte umfassende Mortalität in dieser Gruppe ausschließen, die manumissio als üblicher Brauch ist die einfachste Erklärung. So wurden z.B. weibliche Sklaven i.d.R. freigelassen, wenn sie mehr als drei Kinder geboren hatte. Vgl. hierzu: Bagnall/Frier, Demography, 71.342f. Vgl. Tacoma, Labour Market, 5. Finley, Ancient Slavery, 68. Vgl. zur Position von Finley auch Brunt, Free Labor, 81–100. Vgl. Hopkins, Conquerors, 14. Als Folge dieser Grundannahme postuliert Hopkins weiter (ebd., 111): „ In a society without a market in free labor, recruitment by force (i.e. slavery) was probably the only method of securing large numbers of full-time dependents with particular skill “

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Dieser älteren Position7 ist nunmehr die Auswertung etwa von antiken Arbeitsverträgen entgegen zu halten; auch die starke gesellschaftliche Position der Berufsverbände (collegia) spricht eine deutliche Sprache.8 Ganz offensichtlich existierte ein breites Arbeitsmarktsegment mit freiem Handwerk und freier Lohnarbeit.9 Das zahlenmäßige Verhältnis von Sklaven und freien Arbeitern unterscheidet sich dabei je nach geographischer Region und ländlicher sowie städtischer Struktur. In Italien beispielsweise war Schätzungen zufolge jeder dritte Landbewohner Sklave, in der Stadt Rom nahezu jeder Zweite. In Ägypten dagegen haben Auswertungen von Censuslisten ergeben, dass gerade einmal 10% der Bevölkerung dem Sklavenstand angehörten.10 Die großen servilen Arbeitsheere der spätantiken römischen Latifundien sind im römischen Ägypten (wie schon im ptolemäischen) nicht nachweisbar.11 Die Existenz eines freien Arbeitsmarktes erklärt sich im Übrigen auch schon aus der betriebswirtschaftlichen Logik, da der freie Arbeiter den betriebswirtschaftlichen Regeln des „hire and fire“ unterworfen war, wohingegen ein Sklave permanent versorgt werden musste (wodurch Fixkosten entstanden). Und so mahnt schon Cato der Ältere den angehenden Agrarunternehmer, sich da anzusiedeln, wo es genügend freie Arbeiter (operarii) gibt, die nach Möglichkeit immer nur tageweise anzuwerben sind.12 Für die berufliche Praxis hatte die rechtliche Stellung im Übrigen keine Bedeutung. Die antiken Quellen zeigen vielmehr deutlich auf, dass servile und freie Personen die gleiche Art von Arbeit verrichteten.13 Das trifft sowohl auf z.T.

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So freilich noch Nippel, Erwerbsarbeit, 54–66, hier: 60: „Die Möglichkeiten [für freie Arbeit; Erg. Sigismund] waren aber begrenzt; […] Ein Arbeitsmarkt im Sinne eines durch Angebot und Nachfrage bestimmten Preisregularisierungsmechanismus hat sich nicht herausgebildet.“ Vgl. auch das Urteil von Tacoma, Labour Market, 6: „Whatever the proportions, the labour force will therefore have consisted of both significant numbers of freeborn people and significant numbers of slaves and freedmen.” Vgl. so schon Kloft, Arbeit, 200–221, hier: 218f.: „Alle vorgelegten Quellenzeugnisse […] machen es wahrscheinlich, daß freie Arbeit in der griechisch-römischen Antike im Verhältnis zur Sklaverei einen wesentlich höheren Stellenwert besitzt, als dies gemeinhin angenommen wird.“ Die Vermutung von Marcus Prell, Sozialökonomische Untersuchungen, 156, dass sich ein bedeutender Prozentsatz der freien Arbeitskraft aus Freigelassenen rekrutierte, ist nicht zu belegen und wird z.B. durch die Existenz von Ausbildungsverträgen mit offenkundig jüngeren freien Personen in Frage gestellt. Vgl. Temin, Labor Market, 526; Hopkins, Conquerors, 99–102; Bagnall/Frier, Demography, 48f. und 71; die methodischen Probleme zeigt auf: Scheidel, Progress, 49–61. Vgl. Hengstl, Arbeitsverhältnisse, 4. Vgl. auch die Übersicht über verschiedene Regionen des Reiches bei Garnsey, Non-Slave Labour, 34–47, hier: 35f. Cato, agr. 1,3 mit 5,4 (im Folgenden verwende ich für Cato die Ausgabe und Übersetzung von Hartmunt Froesch [Stuttgart 2009]). Die späteren Agrarschriftsteller greifen diesen Rat auf. Vgl. Weeber, Art. „Arbeit“, in: Ders., Alltag, 17–22, hier: 20. Dies gilt anscheinend für alle Reichsteile. Bereits in ptolemäischer Zeit subsummieren die Zenon-Papyri unter dem Begriff σώματα freie wie unfreie Personen jeglichen Alters und Geschlecht Vgl. Hengstl, Private Arbeitsverhältnisse, 988 Anm. 1.

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Marcus Sigismund

hochqualifizierte Berufe zu, wie etwa die Tätigkeit des Architekten,14 der auch von Sklaven ausgeübt wurde, als auch auf eher unqualifizierte Diensttätigkeiten, wie die der Amme.15 Diese grundsätzliche Gleichstellung von freier und unfreier Arbeit gilt sowohl für die Stadt, als auch für die ländlichen Strukturen.16 Hier wurde die Landwirtschaft in der römischen Kaiserzeit relativ stark von den Großstrukturen der Latifundien geprägt.17 Der freie Kleinbauer, der – mit wenigen Sklaven und seiner Familie – seinen Hof eigenständig bewirtschaftete, ist für die Agrarstruktur der Prinzipatszeit zunehmend eher untypisch,18 gleichwohl anzutreffen.19 Dennoch dokumentieren die Quellen (leider aus der vorntl. Zeit) hinreichend, dass ein Arbeitsmarkt für mercenarii (freie Lohnarbeiter) existierte, die in längerfristigen Stellungen, als Saisonkräfte oder auch tageweise in der Landwirtschaft tätig waren.20 Die Anwerbung solcher Kräfte war schon zu Catos Zeiten (2. Jh. v.Chr.) üblich,21 und wird noch für die Zeit Cäsars belegt.22 Dabei sind die Ausführungen Varros bezeichnend und sicherlich für die römische Antike allgemeingültig (rust. 1,17,2f.): „Alles Ackerland wird von unfreien Menschen, von Freien oder von beiden bebaut. Von Freien, wenn sie selbst das Land bestellen, wie viele Arme mit ihrer Familie, oder mit Lohnarbeiter [mercenarii], wenn sie mit der Mietarbeit von Freien die Hauptdinge, wie Weinlese und Heuernte, verrichten; und diejenigen, die wir ‚obaerarii [Schuldner]‘ nennen und die nun zu Hauf in Asien, Ägypten und Illyrien sind.“23

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Vgl. Tacoma, Labour Market, 6; Brunt, Free Labor, 82. Vgl. Tacoma, Labour Market, 6. Im Übrigen finden wir auch die berufliche Weiterqualifizierung von Sklaven. Vgl. hierzu die Lehrverträge: BGU IV 1125; PMich V 346a; StudPal XXII 40; POxy IV 724; POxy XIV 1647; BGU IV 1021. Belege entnommen aus Hengstl, Private Arbeitsverhältnisse, passim. Vgl. Backhaus, Lohnarbeit, in: Mommsen/Schulze, Handarbeit, 93–107. Speziell zu Handwerkern im römischen Dorf vgl. Kudlien, Anniversarii vicini, 66–84. Inwieweit das für Judaea galt, ist diskutabel. In den Evangelien wird Großgrundbesitz nur selten angesprochen (z.B. Gleichnis von den anvertrauten Talenten; Mt 25,14–30), ist jedoch offenkundig existent. Wahrscheinlich war ein Großteil des Landes in der Hand von Pächtern. Hierfür spräche auch die offenkundig hohe Zahl an überschuldeten Bauern und die durch antike Quellen bezeugten Versuche, die Schuldarchive zu verbrennen. Vgl. hierzu: Goodman, Jewish Revolt, 417–427. Aber auch hier gibt es große regionale und zeitliche Unterschiede. So galt Norditalien als relativ arm; das Einkommen variierte (wie heute auch) mit dem Markt. Vgl. Seneca, benef. 6,38,3: „Einen Bauern richtet die Höhe des Getreidepreises auf“ (Übersetzung Manfred Rosenbach [Darmstadt 1999]). Jedoch klagt Cassius Dio zuweilen über Missernten (z.B. 54,1,1f.; vgl. auch Plinius, epist. 10,8,5). In vielen Fällen wird man von einer Subsistenzwirtschaft ausgehen müssen. Vgl. Prell, Armut, 208 und ebd. die Kapitel 4.1.2 und 5.3. Vgl. das Gleichnis von den ungleichen Söhnen (Mt 21,28–31). Vgl. methodisch: Backhaus, Lohnarbeit. Vgl. Cato, agr. 4; 13,1. Vgl. Sueton, Iul. 42,1. Übersetzung entn. aus Prell, Armut, 208.

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Varro nennt somit den freien Kleinbauern, den freien Landarbeiter gegen Lohn, und jene, die sich in einer Art von Schuldknechtschaft befinden. Dass diese Verhältnisse auch in ntl. Zeit als normal galten, bezeugt schließlich Columella, der zwar zunächst davon ausgeht, dass der Grundbesitzer seinen Hof mit der familia rustica (also zunächst mit den Angehörigen und den hauseigenen Unfreien) bewirtschaftet, gleichwohl seinen Vorgängern darin folgt, dass man zuweilen auf angeworbene Erntearbeiter zurückgreifen muss.24 Ein Nebeneinander von freien und unfreien Arbeitern findet man im Übrigen auch da, wo man es nach populärwissenschaftlichen Vorstellungen am wenigsten erwarten würde: in den Bergwerken und Steinbrüchen.25 Dabei zeigt die Entlohnung, dass es sich keinesfalls um technische Spezialisten, sondern um normale, ungelernte Arbeiter handelte.26 Vor diesem Hintergrund wird sich der vorliegende Beitrag – darin anderen einschlägigen Untersuchungen folgend – nicht eigens mit der Sklaverei auseinandersetzen, zumal Sklaverei kein Phänomen der Ökonomie, sondern des Rechts ist.27

1.2

Mann und Frau

Die Rolle der Frau in der Arbeitswelt wird in den antiken Quellen recht selten thematisiert und findet leider auch in vielen wissenschaftlichen Untersuchungen nicht den gebührenden Niederschlag.28 Jedoch war die Arbeit von Frauen (möglicherweise mit Ausnahme der Oberschicht) allgemein üblich. Sie ist vergleichsweise gut dokumentiert für die ländlichen Regionen, wo man die vilica ganz selbstverständlich neben ihrem Mann, dem vilicus (d.h. dem Verwalter), in die Tätigkeits-Struktur der großen Landgüter eingebunden findet, und wo mit Bezug auf die kleinen Landgüter ganz selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass die Bäuerin ihre Aufgaben erledigt.29 Aber auch in den Städten war zumindest in Unter- und Mittelschicht eine Arbeitstätigkeit von Frauen eher die Regel. Rund 100 Frauenberufe sind terminologisch bekannt, wobei auffällt, dass diese vielfach eine geschlechtsspezifische Prägung aufweisen, und dem häuslichen Sektor, der Erziehung oder der Textilproduktion zugewiesen werden können.30 So finden wir etwa die Amme (nutrix), die 24 25 26

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Vgl. Columella, rust. 3,21,10. Vgl. Prell, Armut, 159. Siehe zum Vergleich unten. Nach CIL III 949, XI verdiente der Bergmann in Dakien 105 Denare in einem halben Jahr, umgerechnet ca. 9 Asse am Tag. Das ist ein ausgesprochen niedriger Lohn, insb. angesichts der harten Arbeit unter Tage. Vgl. so auch Tacoma, Labour Market, 6. Die methodische Problematik zeigt auf: Scheidel, Feldarbeit, 405–431; das Fehlen der Thematik in einschlägigen Untersuchungen kritisiert auch schon Tacoma, Labour Market, 11. Vgl. Weeber, Art. „Frauenarbeit“, in: Ders., Alltag, 92–95, hier: 93. Skeptisch gegenüber einer regelmäßigen Mitarbeit von Frauen in der Landwirtschaft zeigt sich freilich Wilfred Nippel (Erwerbsarbeit, 58) mit Verweis auf: Scheidel; Ders., Silent Women, in: Greece and Rome 42 (1995), 202–217 und 43 (1996), 1–10. Vgl. Tacoma, Labour Market, 12.

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Hebamme (obstetrix) und die Erzieherin (educatrix/ paedagoga), aber auch die Kosmetikerin (ornatrix) und die Fischverkäuferin (piscatrix).31 Dieses Berufsprofil ist – anders als vielleicht in der modernen Arbeitswelt – freilich naheliegend und darf nicht verwundern, da Arbeiten wie etwa Lastenträger im Hafen biologisch bedingt eher ungeeignet für den Großteil der Frauen war. Mit Hinblick auf die Purpurhändlerin Lydia in Apg 16,14f. sei notiert, dass auch in der gehobenen Mittelschicht Frauen aktiv gewesen sind: aus Pompei kennen wir die Ziegelei-Besitzerin Eumachia, die zugleich – und das zeigt ihre gesellschaftliche Stellung – Schirmherrin des Collegiums der Walker war.32 Dabei impliziert das erhaltene Datenmaterial, dass die Ausbildung der freien Frau eher informell in den Familien stattfand, was im unerklärlichen Gegensatz zu den erhaltenen Ausbildungsverträgen für Sklavinnen steht.33

2.

Rechtsgrundlagen

Wie auch in der modernen Arbeitswelt, werden sowohl die Arbeitsform als auch die Arbeitsbedingung34 nicht unwesentlich vom rechtlichen Hintergrund der Arbeit bestimmt. Zu unterscheiden sind einmal mehr die unfreie Arbeit der Sklaven (deren Rechtsstatus a priori determiniert ist) und die sogenannte freie Arbeit. Letztere wird durch den Arbeitsvertrag bestimmt. Die Übereinkunft über ein Arbeitsverhältnis35 konnte mündlich oder schriftlich erfolgen.36 Wichtig ist, dass es sich um einen Konsensualkontrakt handelt.37 Der lateinische Rechtsterminus lautet locatio conductio operarum.38 Im Wesentlichen beinhalten solche Verträge die Rahmenbedingungen auf der einen Seite der Bereitstellung von Arbeitsleistung und des Sich-Verdingens, auf der anderen Seite des In-Anspruch-Nehmens von Dienstleistungen. Die in der Schriftform fixierten Regelungen unterscheiden sich kaum von den Heutigen: Geregelt wurden 31 32 33 34

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38

Vgl. Weeber, Frauenarbeit, 93. Hinzukommen noch Tätigkeiten in der Unterhaltungsbranche, in den Gaststätten und als Prostituierte. Vgl. Weeber, Frauenarbeit, 95. Vgl. Tacoma, Labour Market, 13. Als Arbeitsbedingungen im weitesten Sinne werden sämtliche Einflussfaktoren auf die menschliche Arbeitsleistung im Betrieb bezeichnet. Hierzu zählen auch die Höhe und Gestaltung des Arbeitsentgelts sowie das materielle Umfeld der Arbeit, d.h. z.B. Ergonomie, Beleuchtung oder Lärmpegel des Arbeitsplatzes als auch das Arbeitsumfeld (z. B. Sozialklima, Führungskräfte, Aufstiegsanreize). Vgl. zum folgenden Weeber, Art. „Arbeitsvertrag“, in: Ders., 25; Kloft, Arbeit, 213ff. Eine gute rechtsgeschichtliche Übersicht über die Thematik bietet: Zimmermann, Obligations, dort chapter 12: Locatio conductio. Erhalten sind u.a. Verträge aus Dakien. Vgl. Prell, Armut, 158 Anm. 70. Rechtsphilosophisch bestehend aus zwei negotii, die per Konsens geklärt werden: die zu erbringenden Leistungen (operae) und die hierfür zu leistenden Entschädigungen (merces). Die Alternative wäre ein Realvertrag. Letzterer kommt nicht durch Willenseinigung, sondern erst durch eine bestimmte Handlung zustande. Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Gaius, inst. 3,89; 3,128; 3,135. In nachntl. Zeit in den Digesten geregelt unter locati conducti (19,2).

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i.d.R. die Arbeitszeit, die Dauer des Arbeitsverhältnisses, die Anzahl der freien Tage, aber auch die Frage der Verpflegung des Vertragnehmers und Aspekte wie eine Konventionalstrafe für eigenmächtiges Fernbleiben von der Arbeit oder für verspätete Lohnzahlungen (i.d.R. das doppelte des Tagesverdienstes). Trat eine Störung des Arbeitsverhältnisses ein, konnten die Parteien auf Basis des Arbeitsvertrages ein privatrechtliches Gerichtsverfahren anstrengen. Hiervon zu unterscheiden sind die Verträge locatio conductio operis. Diese könnte man nach heutigen Vorstellungen am ehesten mit einem Werkvertrag vergleichen: der conductor verpflichtet sich zur Herstellung der vom locator bestellten Arbeitsleistung. Typisch hierfür sind Aufträge an Schneider, Schreiner usw.39 Ganz generell erscheinen die Arbeitsbedingungen in den erhaltenen Arbeitsund Ausbildungsverträgen vergleichsweise erträglich.40 Die Tatsache aber, dass Aspekte wie Fernbleiben von der Arbeit oder Konventionalstrafen bei verspäteter Lohnzahlung vertragliche geregelt wurden, deutet darauf hin, dass solche Missstände in der Praxis der Arbeitswelt mit einer gewissen Häufigkeit auftraten und hierdurch unterbunden werden sollten. Problematisch ist aus heutiger Sicht vor allem die Unsicherheit auf Seiten der Arbeitnehmer: so trugen sie normalerweise das Krankheitsrisiko;41 nach Beendigung der Vertragslaufzeit drohte immer die unversorgte Arbeitslosigkeit. Im stärker hellenistisch geprägten Sprach- und Rechtsraum ist als weiterer Rechtsterminus der Begriff παραμονή zu notieren,42 der ganz unterschiedliche Vertragstypen bezeichnen kann (u.a. auch die Freilassung von Sklaven), darunter aber auch die Vertragsbasis der Arbeit (Arbeitsparanome).43 Die Verträge umfassen im Wesentlichen die gleichen Inhalte wie die römisch-lateinische Form, weisen aber das Spezifikum auf, dass sich der Arbeitnehmer gegen eine zu verzinsende Kreditsumme beim Arbeitgeber für einen bestimmten Zeitraum verdingt und dann in einem festen Dienstverhältnis ohne vorab festgelegte Arbeitsaufgaben befindet. Der Paranomevertrag ist daher eher ein Kreditsicherungs- und Rückzahlungsvertrag, und kein Arbeitsvertrag im herkömmlichen Sinne.44 Daneben existieren zahlreiche Verträge, die man am ehesten als Werkverträge bezeichnen könnte.45 Je nach geographischer Region (und Tradition) handelt es sich um die verbriefte Gestellung des Dienstnehmenden zur Verrichtung festgelegter Dienste oder Tätigkeiten (vorwiegend ägyptisches Modell) oder um einen Ver-

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40 41 42 43 44 45

In der Praxis scheint die Unterscheidung freilich problematisch gewesen zu sein. Vgl. Gaius, inst. 3,142 (Mitte 2. Jh. n.Chr.; Übersetzung entn. aus Prell, Armut, 158 Anm. 70): „Wenn ich deshalb einen Walker Kleidungsstücke zum Reinigen und Auffrischen oder einem Flickschneider zum Ausbessern gegeben habe, ohne daß gleich ein Arbeitslohn festgesetzt worden wäre, und ich später so viel geben will, wie wir ausmachen, so ist es umstritten, ob ein Dienst- oder Werkvertrag zustande kommt.“ Vgl. u.a. die Zeugnisse in: Hengstl, Arbeitsverhältnisse. Vgl. Weeber, Arbeitsvertrag, 25. In vielen Verträgen indes gar nicht vorzufinden, dort das Verb παραμένειν. Vgl. Hengstl, Arbeitsverhältnisse, 11. Vgl. so auch schon Hengstl, Arbeitsverhältnisse, 32. Vgl. hierzu ausführlich Hengstl, Arbeitsverhältnisse, 53–57.

Marcus Sigismund

112

trag, nach dem der Arbeitnehmer einen Gegenstand empfängt und bearbeitet zurückgibt (griechisches Modell).46 Ein feststehender juristischer Terminus scheint hierfür nicht zu existieren.47

3.

Arbeitsbedingungen

3.1

Ansehen von Arbeit

Bekannt ist aus römischer Zeit die negative Bewertung der Arbeit durch die höhere Gesellschaft.48 Zwar war man auf der einen Seite stolz, dass der große L. Quinctius Cincinnatus, Diktator des Jahres 458 v.Chr. im Krieg gegen die Aequer, der Sage nach vom Acker weg das Amt übernommen hatte und nach erfolgreichem Kriegszug wieder dorthin zurückgekehrt war – mithin also Landwirt war. Jedoch wurde dies vor allem akzeptiert, weil man sich der agrarischen Vergangenheit verbunden fühlte, und den Aspekt der Selbständigkeit hervorhob. Auf die abhängig arbeitende Bevölkerung (d.h. in der Praxis: mit einem Arbeitsvertrag arbeitend) sah die Oberschicht de facto aber abfällig herab,49 was sich sinnfällig in der populären römischen Erzählung spiegelt, nach der dem zum kurulischen Ädil gewählte Cnaeus Flavius der Amtsantritt durch den sitzungsleitenden Beamten verweigert wurde, da er ein scriba (ein professioneller Schreiber) sei, und sich diese Tätigkeit für einen Ädil nicht gezieme.50 Der klassische Beleg zur negativen Bewertung abhängiger Arbeit ist freilich eine Passage aus Ciceros de officiis (1,42[150f.]): „Was ferner die handwerklichen Berufe und Erwerbszweige angeht, welche als eines Freien würdig, welche für schmutzig [sordidus] zu gelten haben, so haben wir etwa folgendes mitgeteilt bekommen. Zunächst werden die Erwerbszweige mißbilligt, die sich der Ablehnung der Menschen aussetzen, wie die der Zöllner, der Geldverleiher. Eines freien unwürdig und schmutzig sind die Erwerbsformen aller Tagelöhner, deren Arbeitsleistung, nicht handwerkliche Geschicklichkeit erkauft werden. Denn es ist bei ihnen gerade der Lohn ein Handgeld für ihren Sklavendienst. Für schmutzig muß man auch diejenigen halten, die von den Großhändlern Waren erhandeln, um sie sogleich weiter zu verkaufen. Denn sie dürften nichts voranbringen, ohne gründlich zu lügen. Es gibt aber nichts Schändlicheres als Unwahrhaftigkeit. Alle Handwerker befassen sich mit einer schmutzigen Tätigkeit, denn eine Werkstätte kann nichts Edles an sich haben. […] Wenn der Handel im kleinen Rahmen erfolgt, so muß man das für schmutzig erachten; wenn dagegen im großen und umfangreichen Geschäft, indem er vieles von überallher beibringt und es vielen ohne Betrug zur Verfügung stellt, dann darf man ihn durchaus nicht tadeln […]. Von allen den Erwerbszweigen aber, aus denen 46 47 48 49 50

Vgl. Hengstl, Arbeitsverhältnisse, 57. Vgl. Hengstl, Arbeitsverhältnisse, 59. Vgl. auch weitere Beispiele bei Zimmermann, Obligations, 389. Der Landwirt, auch der Kleinbauer, wird solange gesellschaftlich anerkannt, wie er selbstständig arbeitet. Vgl. Weeber, Arbeit, 17. Die Erzählung, die freilich auf das Jahr 304 v.Chr. zurückverweist, findet sich bei Livius 9,46 und Gellius 7,9 (mit Verweis auf Piso, annales).

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irgendein Gewinn gezogen wird, ist nichts besser als Ackerbau, nichts einträglicher, nichts angenehmer, nichts eines Menschen, nichts eines Freien würdiger.“51

Wichtig hieran: es geht Cicero nicht darum, dass ungelernte Arbeit oder Handwerk körperlich anstrengend sein kann – ganz im Gegenteil: die Landwirtschaft, die nicht minder anstrengend ist, wird ja ausdrücklich empfohlen. Es geht auch nicht darum, dass die Arbeiten im Sachsinne schmutzig sind: denn das trifft Zöllner und Geldverleiher ja eher nicht. Es geht Cicero einzig und alleine um das Ansehen der Tätigkeit, um das Sozialprestige (s. auch u. 3.4). Die Arbeit bzw. Tätigkeit an sich wird jedoch nicht negativ bewertet. In der Aussage Ciceros – wie auch der anderen diesbzgl. antiken Zeugnisse – tritt dem Leser weniger eine objektive Reflexion zur Arbeit, sondern vielmehr eine polemische Abwertung der unteren Klassen entgegen. Dem steht gegenüber ein eigenständiges Selbstbewusstsein der arbeitenden Gesellschaftsschichten, das trefflich von Petron dargelegt wird, wenn er den Lastenträger Korax – in den Augen seines Arbeitsgebers ein „arbeitsscheuer Gesell (detractor ministerii)“ – sagen lässt: „Als Mensch habe ich Dienst genommen, nicht als Gaul. Und ich bin nicht weniger ein freier Mann als ihr, mag mich mein Vater auch als armen Schlucker hinterlassen haben!“52

Noch mehr Selbstbewusstsein spricht aus den freien Handwerkern, die sich in collegia zusammenfanden53 und auf ihren Grabsteinen oft die Arbeitswelt abbildeten. Nicht zuletzt aus diesen spricht ein gewisser Stolz auf die – oft „harte“ – Arbeit, wie etwa aus dem inschriftlichen Zusatz auf dem Grabstein des Schiffsbauers P. Longidienus: „P. Longidienus P. f. ad onus properat – P. Longidienus, Sohn des Publius, ist fleißig bei der Arbeit [onus = Last, Bürde].“54 Gerne wird auf Grabinschriften auch betont, dass ein Handwerker ein Meister seines Faches war,55 und sehr eindrücklich ist auch die Darstellung des gallischen Rheinschiffers Blussus, der mit prallem Geldbeutel in der Linken und einer prachtvoll gekleideten Ehefrau zur Rechten von der Frontseite seines Grabsteines herabblickt, während die Darstellung des Treidelkahns in voller Fahrt auf der Rückseite des Grabsteins zeigt, womit Blussus sein Geld verdient hat.56 Und es gab sehr viele Berufsfelder, in denen man stolz auf seine Arbeit sein konnte: alleine aus dem Westen des Reiches sind durch Inschriften 225 städtische Berufe bekannt,57 hinzu kommen noch die ländlichen Arbeitsbereiche, die i.d.R. durch die Literatur besser zu erkennen sind, aber terminologisch oft durch die

51 52 53 54 55 56

57

Übersetzung Heinz Gunnermann, Stuttgart 2003. Petron 117,11f. Übersetzung Wilhelm Ehlers, Düsseldorf/Zürich 52004. Mehr als 150 solcher collegiae sind belegt. Vgl. Prell, Armut, 148. Darunter gab es auch Vereinigungen von Sackträgern (saccarii), Schauerleuten (geruli) und Lastträger (baiuli). Entn. aus Weeber, Arbeit, 22. Weitere Quellenbelege ebd. CIL XII 722/ ILS 7715, hier entn. aus: Drexhage, Wirtschaft. Vgl. ebd. 303. Siehe auch das Digitalfoto der Vorderseite auf (Abruf 1.10.2015): http://www.museum-digital.de/westfalen/singleimage.php?imagenr=455&inwi=1&w= 1440&h=770. Vgl. Prell, Armut, 147.

Marcus Sigismund

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Tätigkeit und weniger durch Berufsbezeichnungen benannt werden. Hinzuzunehmen sind auch jene Berufe, die nicht „gewöhnlich und Schmutzig sind“ (vulgares et sordidae), also Gutsbesitzer, Großkaufleute und Unternehmer. Diese machen freilich nur einen kleinen Prozentsatz der Bevölkerung aus. Sie sind aber bei der sozialgeschichtlichen Interpretation des NT mitzubedenken, denn sie begegnen uns z.B. im Gleichnis von den bösen Weinbergspächtern (Mt 21,33–41 par.), denn es verpachtet ja offenkundig ein gutsituierter οἰκοδεσπότης, der danach in ein anderes Land reisen kann und auch nach seiner Wiederkehr die Knechte schickt, um den Pachtertrag einzufordern. Zu diesen gutsituierten Unternehmern zählt auch der ἀργυροκόπος Demetrios, der die Handwerker und Zuarbeiter in Ephesus zur Unruhe aufstachelt, als er Einnahmeverluste durch die Predigt des Paulus befürchtet (Apg 19,23–40).

3.2

Gelernte und ungelernte Arbeit

Die Zahl der ungelernten Arbeiter ist schwer zu schätzen, da sie in den Quellen stark unterrepräsentiert sind. Auch ist der Begriff problematisch, da die Antike keinen Berufsabschluss kennt, wie wir ihn heutzutage in Deutschland voraussetzen.58 Gemeint sind im Folgenden Handlangerarbeiten wie nichtspezialisierte Tätigkeiten im Baugewerbe oder im Transportwesen. Gerade in den Städten muss die Zahl der derartig Beschäftigten schon alleine aufgrund des öffentlichen Bauwesens groß gewesen sein.59 Auch das Transportgewerbe war naturgemäß weitaus personenintensiver als heute. Schätzungen zufolge bedurfte alleine die Abhandlung der Schiffe, die von Ostia kommend über den Tiber Rom versorgten, permanent rund 3.000 Personen.60 Wenden wir uns den ländlichen Tätigkeitsfeldern zu, so ist z.T. schwer zu ermessen, was gelernte und was ungelernte Arbeit ist. Deutlich wird jedoch bei den Agrarschriftstellern, dass wir auch hier spezialisierte und unspezialisierte Tätigkeiten haben, und es Leute in einem festen Arbeitsverhältnis und solche auf Tageslohnbasis gibt. So empfiehlt Cato (agr. 10,1; 11,1) beispielsweise für ein Ölgut von 240 iugera Land (ca. 60 ha): 1 Verwalter, 1 Verwalterin, 5 Arbeiter (operarii), 3 Ochsenknechte, 1 Eseltreiber, 1 Schweinehirten, 1 Schafhirten (Summe Fixpersonal: 13 Personen). Für die Olivenernte empfiehlt Cato über einen redemptor (dem antiken Pendant zur neuzeitl. Zeitarbeit) „50 ansässige Leute

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Gleichwohl existiert ein Ausbildungswesen. Je nach Handwerk ging der discipuli/ discentes 1 bis 5 Jahre in die Ausbildung, und erhielt wohl am Ende ein schriftliches Zeugnis seines magister Erhaltene Ausbildungsverträge dokumentieren die Arbeitszeit, Entlohnung, Verpflegung, Bekleidung, Umfang und Art der Beschäftigung in der Lehre. Eine Übersicht vermitteln: Weeber, Art. „Berufsausbildung“, 49f.; Schulz-Falkenthal, Lehrlingsausbildung, 193–212. Alleine für den Bau der Caracalla-Thermen wurden gut begründeten Schätzungen zufolge 6.000–10.000 ungelernte oder nur leicht angelernte Kräfte benötigt. Vgl. Tacoma, Labour Market, 9. Vgl. Tacoma, Labour Market, 9.

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(adsiduos homnes) einzustellen“.61 Letzteres ist hervorzuheben, da es anscheinend in allen Reichsteilen umherziehende Erntehelferkolonnen gab. Derartige Arbeitskräfte begegnen uns übrigens auch immer wieder im NT. So befinden sich im Boot des Zebedäus eben nicht nur Jakobus und Johannes, als diese von Jesus berufen werden, sondern auch Tagelöhner (mercenarii; Mk 1,20). Eine eher negative Einstellung den Tagelöhnern gegenüber hat Johannes, der von diesen nicht erwarten, dass sie als Hirte ihr Leben einsetzen (Joh 10,12f. – ὅτι μισθωτός ἐστιν). Gleichwohl zeigt dies auf, dass Lohnhirten in ntl. Zeit bekannt waren.

3.3

Löhne

Der Aspekt des Ungelernten bzw. Gelernten schlug sich – nicht anders als heute – in den Löhnen nieder. Mit Bezug auf den Auszahlmodus ist vorab festzuhalten, dass der Begriff „Tagelöhner“ (mercennarius) insofern irreführend ist, als ein solcher Arbeiter durchaus längere Zeit, z.B. eine Saison lang, angestellt sein konnte. Er hat aber seinen Lohn anscheinend täglich erhalten. Zumindest gibt das (zugegeben deutlich nach der ntl. Zeit anzusiedelnde) Preisedikt des Diokletian (301 n.Chr.) unter der Überschrift „De mercedibus operariorum“ für 22 der 26 aufgeführten Tätigkeiten einen Tageslohn an. Demnach erhielt beispielsweise eine Weberin für rauhe Stoffe 12 Denare pro Tag, ein Maurer 50 Denare, und ein Kloakenreiniger 25 Denare.62 Verfolgt man die komplette Liste, so wird ein deutliches Gefälle zwischen einfachen und handwerklich-gelernten Tätigkeiten deutlich. Die Obergrenze bei gering-qualifizierten Tagelöhnern liegt bei rund 25 Denare am Tag, was in etwa der Hälfte eines normalen Handwerker-Einkommens entspricht.63 Spezialisten, wie etwa Figurenmaler (die dem Edikt zufolge ebenfalls einen Tageslohn ausgezahlt bekommen) konnten es auf bis zu 150 Denare bringen. Jedoch umfasste diese Summe i.d.R. die Barauszahlung sowie den Gegenwert an ausgeteilter Kost, die in etwa einem Gegenwert von 10 Denare entsprach.64 Somit blieb einem ungelernten Tagelöhner kaum ein realer Lohn übrig. Das Schreien des um den Lohn geprellten Erntehelfers in Jak 5,4 wird vor diesem Hintergrund allzu verständlich. In der Summe kann die Situation von Tagelöhnern nur als prekär bezeichnet werden. Alle diesbzgl. Modellrechnungen zeigen, dass es einem ungelernten bzw. geringqualifizierten Tagelöhner (und das gilt auch für männliche Tagelöhner) unmöglich war, für eine weitere Person zu sorgen. D.h. vice versa, dass in nichtoder geringqualifizierten Haushalten alle erwachsenen Familienmitglieder arbei-

61 62 63 64

Cato, agr. 144. Hierbei handelt es sich aber um denarii communes (Rechnungsdenare), die man nicht so ohne weiteres mit Denaren der ntl. Zeit gleichsetzen darf. Weeber, Art. „Tagelöhner“, 243–247, hier: 245; vgl. Prell, Armut, 205f. Vgl. hierzu Prell, Armut, 199f. mit Anmerkungen, insb. Anm. 347.

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116

ten mussten. Ein qualifizierter Handwerker dagegen konnte theoretisch eine dreiköpfige Familie unterhalten, sofern sie keine zu hohen Ansprüche stellen65 Die Relation von ungelernter und gelernter Arbeit wird aber sehr deutlich. Daneben gab es für viele Berufe eine Art Akkord- bzw. Stücklohn, der mit der Qualität der Ware verknüpft war (z.B. Schafscherer, Schreiber, Weber [Lohn pro Pfund Wolle] u.ä.).66 Ein Schuster erhielt laut Lukian für ein paar Schuhe 7 Obolen (= 4 Sesterzen und 2 Asse [1 attische Drachme = 6 Obolen = 1 Denar]) abzgl. Material (gall. 22); ein Paar Frauen-Sandalen kosteten 1 Doppeldrachme (dial. meretr. 7,2). Ntl. bekannt ist der eine Denar Tageslohn aus Mt 20,1–14. Dieser Wert scheint sich lange gehalten zu haben, denn bereits im Tobitbuch (5,15; wohl um 200 v.Chr.) findet sich ein Denar als Tageslohn angegeben, dort allerdings zuzüglich Unterhalt (μισθὸν διδόναι δραχμὴν τῆς ἡμέρας καὶ τὰ δέοντά σοι). Diesen Wert kennen wir auch aus zwei Inschriften in bzw. nahe Pompei: nach CIL IV 6877 erhielten die operarii Kost und 1 Denar, nach CIL IV 4000 freilich lediglich 5 Asse.67

3.4

Soziale Durchlässigkeit

Zu betonen ist die zwar nicht quantifizierbare, aber in der Sache evidente soziale Durchlässigkeit der römischen Gesellschaft. Bekannt ist die Inschrift eines städtischen Censors im afrikanischen Mactaris, der vorgibt, aus armen bäuerlichen Verhältnissen zu stammen, und die Stationen seines Aufstieges benennt (CIL VIII 11824).68 Petron (38,7; 46,8) stichelt mehrfach gegen einen gewissen Pompeius Diogenes, der es als Lastträger zu einem beträchtlichen Reichtum gebracht haben soll. Der Bäcker Eurysaces brachte es seiner Grabinschrift zufolge in Rom auf eine Betriebsgröße von 100 Beschäftigen.69 Ein sozialer Aufstieg war also durchaus möglich. Gleichwohl heißt dieser Erfolg nicht, dass die Leistung von der Oberschicht anerkannt wurde: Martial lästert über die in seinen Augen „Neureichen“ (epigr. 3,59): „Feines Bologna, dir gab ein Schuster Spiele, ein Walker gab sie, Modena, dir. Wo wird es der Kneipenwirt tun?“. Entscheidend ist also nicht der wirtschaftliche Erfolg, sondern (s.o., 3.1) das Sozialprestige. Umgekehrt können Familien auch durch unvorhergesehene Unglücksfälle sozial absteigen. Zwar sind die Hetärengespräche des Lukian fiktiv, gleichwohl sozialgeschichtlich bezeichnend, wenn die Witwe Krobyle zu ihrer Tochter sagt:

65

66 67 68 69

Jedoch arbeiten die Modellrechnungen i.d.R. mit den Daten des Preisedikts, die nicht repräsentativ für die gesamte Antike und für alle geographische Regionen sein müssen. So kann beispielsweise nach tBM VII 1 ein Ernte-Arbeiter für zwei Sela = 8 Denare angeworben werden. Vgl. Prell, Armut, 172. Weitere inschriftl. Belege bei Prell, Armut, 173. Vgl. Weeber, Arbeit, 20. Vgl. Prell, Armut, 157.

Harte Arbeit – im römischen Imperium

117

„Denn auf anderer Weise können wir mit dem Leben nicht fertig werden, liebe Tochter. Weißt du nicht, wie kümmerlich wir uns die zwei Jahre, seit dein seliger Vater tot ist, haben durchschlagen müssen? Als er noch lebte, da hatten wir von allem zur Genüge. Er war ja Kupferschmied und stand groß da in Piräus […] Nach seinem Tode verkaufte ich zunächst seine Zangen, den Amboß und seinen Hammer für zwei Minen, und davon lebten wir die nächsten sieben Monate. Dann webte ich, krempelte Wolle oder spann und verdiente uns mühselig das tägliche Brot.“70

3.5

Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarktpolitik

Vielfach wurde der Arbeiter nur tageweise, für die Saison71 oder im Bauwesen bis zur Beendigung der Arbeiten angestellt. Danach drohte die finanziell unversorgte Arbeitslosigkeit. Dass dieses Problem bzw. die daraus resultierende gesellschaftspolitische Gefahr erkannt wurde, zeigen einige Aktivitäten bzw. Gesetze, die man anachronistisch als Arbeitsmarktprogramme bezeichnen könnte (wenngleich der politische Hintergrund fast aller dieser Aktionen kontrovers diskutiert wird). So ordnete Caesar an, dass Viehzüchter unter ihren Hirten mindestens ein Drittel Freigeborener einzustellen haben (Sueton, Iul. 42,2). Vespasian soll bewusst auf die Anwendung neuer Techniken im Tempelbau in Rom verzichtet haben, damit das arme Volk eine Möglichkeit auf Arbeit und Verdienst erhielt (Sueton, Vesp. 18). Dennoch blieb das Problem der Arbeitslosigkeit bis in die Spätantike hinein virulent. Und so beklagt sich Dion von Prusa (7,105), dass es bestimmt nicht leicht sei für Tagelöhner, in den Städten Arbeit zu finden.72 Jedoch dürfte es eine Diskussion bzgl. der Arbeitslosen gegeben haben, die wir auch heute noch kennen, denn Epiktet meint, wer arbeiten wolle, würde eine Arbeit finden: „Fürchtet wohl irgendein guter Mann, es möchte ihm an Nahrung fehlen? Es fehlt den Blinden, es fehlt den Lahmen daran nicht. Wird es denn einem guten Mann daran fehlen? Keinem guten Kriegsmanne fehlt es an einem, der ihm Sold gibt. Jeder Tagelöhner, jeder Schuster findet einen, der ihm etwas zu verdienen gibt. Sollte denn ein guter Mann niemanden finden?“73

3.6

Arbeitszeit

Im Prinzip wurde gearbeitet, sobald und solange genug Licht zum Arbeiten da war (insb. in der Landwirtschaft).74 Varro (rust. 1,13,2) beschreibt wie die anderen Schriftsteller der Landwirtschaft, dass die familia rustica noch vor Tagesan-

70 71 72 73 74

Lukian, dial. meretr. 6 (Übersetzung entn. aus Prell, Armut, 249). Vgl. Columella, rust. 3,21,10. Vgl. Weeber, Art. „Arbeitslosigkeit“, 22–24, hier: 24. Epiktet, diss. 3,26,27 (Übersetzung entn. aus Prell, Armut, 162). Vgl. Columella, rust. 11,1,14; nach Varro, rust. 1,13,2 erfolgten erste Arbeiten und Frühstück (vgl. Ps. -Vergil, mor. 1–19) z.T. schon vor Tagesanbruch.

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bruch ihre erste Mahlzeit einnahmen, um dann mit dem Gutsverwalter bei Tagesanbruch auf die Felder zu gehen. Der Einbruch der Dämmerung beendete die tägliche Arbeit.75 Bzgl. der Arbeitszeiten in den Städten können wir nur mutmaßen. Die Quellen berichten aber glaubhaft davon, dass in den Geschäften der Städte den ganzen Tag über gearbeitet wurde, und die meisten Läden bis zum Einbruch der Dunkelheit geöffnet blieben;76 Martial beschwert sich wohl nicht zu Unrecht darüber, dass die Hämmer der Schmiede den ganzen Tag hinweg Lärm verbreiteten (epigr. 12,57,4). Andererseits zeigen die Öffnungszeiten der Thermen (i.d.R. ab mittags geöffnet), dass es durchaus für viele (selbst für Sklaven, vgl. Columella, rust. 1,8,2) die Möglichkeit einer Auszeit gab.77 Wahrscheinlich wird die Arbeitszeit der Antike für die einzelnen Individuen ähnlich unterschiedlich gewesen sein, wie heute auch. Die einzige rechtliche Regelung der Arbeitszeit ist relativ dürftig und zudem spätantik: Die Digesten geben vor, dass die Arbeiter ausreichend Zeit zum Essen, zur Beschaffung von Nahrung und zur Körperpflege erhalten sollen (38,1,50). Die zahlreichen Feiertage blieben übrigens meistens ohne Einfluss auf die Arbeitszeit, da sie nur das öffentliche Leben betrafen. Die Privatwirtschaft konnte (mit kleineren Einschränkungen) ungetrübt ihren Arbeiten nachgehen. Lediglich an einigen wenigen Festen, wie den Saturnalien, gehörte es zum guten Ton, seinen Arbeitnehmern und Sklaven Freizeit zu bewilligen – alles andere war Verhandlungssache. Die jüdische Sabbatruhe stieß bei römischen Autoren auf absolutes Unverständnis,78 was vice versa zeigt, dass diese auch in der Diaspora verbreitet war. Selbst das Verbot des ferias polluere (Entweihung der Feiertage) galt ausdrücklich nicht für die Landarbeit. Cato hebt hervor, dass man zwar nicht pflügen und säen, wohl aber ausbessern und reinigen dürfe (Cato, agr. 2,4; Columella, rust. 2,21).

3.7

Arbeitsschutzklauseln

Wenngleich die Arbeit in zahlreichen antiken Gewerbezweigen sicherlich unter modernen Gesichtspunkten als überaus hart betrachtet werden kann, darf man nicht übersehen, dass es in der römischen Antike durchaus Ansätze gab, das Los der Arbeiter zu verbessern. So konnte beispielsweise ein Urlaubsanspruch vertraglich geregelt werden. Wie einem Papyrus (BGU XIV 1647) zu entnehmen ist, gab es sogar Regelungen für Sklaven, da der Text von 18 Tagen Urlaub für die Sklavin in einer Weberei berichtet. Ob das freilich üblich war oder eher eine Ausnahme darstellt, muss offen bleiben. 75 76 77 78

Vgl. Columella, rust. 11,1,18; Vergil, georg. 4,132f. Vgl. Martial, epigr. 9,59,21; Petron 12,1. Vgl. Weeber, Art. „Arbeitszeit“, 25–27, hier: 26. Seneca urteilt nach einem Zitat des Augustinus (civ. 6,11), dass man so doch ein Siebtel seines Lebens vertue; Tacitus wirft den Juden indirekt Faulheit vor (hist. 5,4,3).

Harte Arbeit – im römischen Imperium

119

Strafen und Gewalt im Arbeitsverhältnis sind in den antiken Quellen fassbar. Z.B. war in der Berufsausbildung das Nacharbeiten versäumter Dienstzeit gängige Praxis,79 die pädagogischen Züchtigungen wurden toleriert. Jedoch wurden regelrechte Brutalitäten mit deutlichen Sanktionen belegt (s. Digesten 9,2,5,3; 9,2,13,4f.).80 Eine Art von Kündigungsschutz scheint es nicht gegeben zu haben.81 Das mag aber auch daran liegen, dass die Werkverträge automatisch mit Abgabe des Werkes enden, und die „normalen“ Arbeitsverträge i.d.R. a priori terminiert sind. Tröstlich ist es immerhin für die Hinterbliebenen, dass (zumindest nach spätantikem Recht), der Lohn auch ausgezahlt werden musste, wenn der Arbeitnehmer zu Tode gekommen war.82

4.

Fazit: Harte Arbeit?

Betrachtet man Arbeit nicht aus der Perspektive der gehobener Gesellschaft entstammenden Literatur, sondern auf Basis der Fachschriftsteller, Papyri, Inschriften und Gesetze, so erhält man ein differenziertes Bild. Sicherlich wird so mancher Werktätiger – nicht anders als heute auch – seine Arbeit als hart und belastend empfunden haben, und objektiv wird sie das – ebenso wie heute – in vielen Fällen auch gewesen sein. Hieraus ein rein negatives Bild von Arbeit in der Antike abzuleiten, wäre aber verfehlt, und der bezeugte Stolz der Handwerker Landwirte und Geschäftsleute auf ihre Arbeit spricht für sich. Darüber hinaus zeigen die zahlreichen erhaltenen Verträge und gesetzlichen Regelungen erstaunlich viele Analogien zur modernen Arbeitswelt. So wird möglicherweise eine Bewertung der antiken Arbeitswelt immer unter dem Präjudiz moderner Vorstellungen stehen müssen. Ein spannendes Thema antiker Sozialgeschichte bleibt die Fragestellung allemal.

Literatur BACKHAUS, WILHELM, Bemerkungen zur Bedeutung von Lohnarbeit und Sklavenarbeit in der römischen Landwirtschaft, in: Mommsen, Hans / Schulze, Winfried (Hg.), Vom Elend der Handarbeit: Probleme historischer Unterschichtenforschung, Stuttgart 1981, 93–107. BAGNALL, ROGER S. / FRIER, BRUCE W., The Demography of Roman Egypt (Cambridge Studies in Population, Economy and Society in Past Time 23), Cambridge 1994. BRUNT, PETER A., Free Labor and Public Works at Rome, in: JRS 70 (1980), 81–100. DREXHAGE, HANS-JOACHIM u.a. (Hg.), Die Wirtschaft des römischen Reiches (1.–3. Jahrhundert): eine Einführung, Berlin 2002. 79 80 81 82

Vgl. Hengstl, Private Arbeitsverhältnisse, 90. Vgl. auch Weeber, Berufsausbildung, 50. Vgl. Zimmermann, Obligations, 387. Vgl. Digesten 19,2,19,9; dazu Zimmermann, Obligations, 386.

120

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FINLEY, MOSES I., Ancient Slavery and Modern Ideology, London 1980. FINLEY, MOSES I., The Ancient Economy, Berkeley / Los Angeles 21985. GARNSEY, PETER, Non-Slave Labour in the Roman World, in: Ders. (Hg.), Non-Slave Labour in the Greco-Roman World (Cambridge Philological Society. Supplementary Volume 6), Cambridge 1980, 34–47. GOODMAN, MARTIN, The first Jewish Revolt. Social Conflict and the Problem of Debt, in: JJS 33 (1982), 417–427. HENGSTL, JOACHIM, Private Arbeitsverhältnisse freier Personen in den hellenistischen Papyri bis Diokletian, Bonn 1972 (zugl. Diss. Freiburg i.Br. 1971). HOPKINS, KEITH, Conquerors and Slaves (Sociological Studies in Roman History 1), Cambridge 1978. KLOFT, HANS, Arbeit und Arbeitsverträge in der griechisch-römischen Welt, in: Saec. 35 (1984), 200–221. KUDLIEN, FRIDOLF, Anniversarii vicini. Zur freien Arbeit im römischen Dorf, in: Hermes 112 (1984), 66–84. NIPPEL, WILFRED, Erwerbsarbeit in der Antike, in: Kocka, Jürgen u.a. (Hg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt / New York 2000, 54–66. PRELL, MARCUS, Sozialökonomische Untersuchungen zur Armut im antiken Rom. Von den Gracchen bis Kaiser Diokletian (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 77), Stuttgart 1997. SCHEIDEL, WALTER, Feldarbeit von Frauen in der antiken Landwirtschaft, in: Gymnasium 97 (1990), 405–431. SCHEIDEL, WALTER, The Most Silent Women of Greece and Rome: Rural Labour and Women’s Life in the Ancient World, in: Greece and Rome 42 (1995), 202–217 und 43 (1996), 1–10. SCHEIDEL, WALTER, Progress and Problems in Roman Demography, in: Ders. (Hg.), Debating Roman Demography (Mn.S 211), Leiden / Boston u.a. 2001, 49–61. SCHULTHEß, OTTO, Art. „Misthos“, in: RECA 15,2 (1932), 2078–2095. SCHULZ-FALKENTHAL, HEINZ, Zur Lehrlingsausbildung in der römischen Antike, in: Klio 54 (1972), 193–212. TACOMA, LAURENS E., The Labour Market, in: Claridge, Amanda / Holleran, Claire (Hg.), A companion to the city of Rome (Blackwell companions to the ancient world), Oxford (im Druck); online verfügbar unter der url: http://media.leidenuniv.nl/legacy/the-labour-market.pdf (Abruf: 24.8.2015). TEMIN, PETER, The Labor Market of the Early Roman Empire, in: Journal of Interdisciplinary History 34 (2004), 513–538. WEEBER, KARL-WILHELM, Art. „Arbeit“, in: Ders., Alltag im Alten Rom, Düsseldorf 31995, 17–22.

Jenseits der Arbeit. Mußestunden, Festfreuden und Humor Jesu Kurt Erlemann

1.

Thema

Ein Band über Arbeit in den Evangelien wäre ohne die Frage nach dem Bereich jenseits der Arbeit unvollständig. Hatte Jesus auch Freizeit? Und wenn ja, was machte er da? Konnte Jesus fröhlich und ausgelassen feiern? Hatte er Humor, konnte er lachen? Diese Fragen werden in der neutestamentlichen Theologie unter anderem deshalb wenig beachtet, da die Evangelien davon wenig erkennen lassen; die Textbasis scheint zu schmal, um über Mußestunden, Festfreuden und Humor Jesu zu sinnieren.1 Gleichwohl hat es seinen tieferen, praktisch-hermeneutischen Sinn, darüber nachzudenken.

1.1

Ein Thema, das keines ist?

Das gestellte Thema ist ungewöhnlich und reizvoll zugleich. Es beleuchtet eine Facette der Darstellung Jesu, die eher zwischen den Zeilen aufzuspüren ist. Muße, Humor und Festfreuden Jesu sind in den Evangelien nicht eigens thematisiert. Muße und Humor scheinen gar keine Rolle zu spielen; im Fokus steht die Botschaft Jesu, nicht das, was er in seiner „Freizeit“ tat. Jesu Botschaft ist äußerst wichtig und wird mit der entsprechenden Ernsthaftigkeit wiedergegeben. Humor gibt es allenfalls in Spurenelementen zu entdecken. Im Grunde könnte man es sich einfach machen und mit der Feststellung schließen: Von Mußestunden Jesu wissen wir nichts, und Humor passt nicht zur Ernsthaftigkeit Jesu bzw. der Jesusdarstellung. Das Thema wäre auf die Festfreuden Jesu zu begrenzen, von denen wir wenigstens hier und da etwas expressis verbis lesen können.

1.2

Ein hermeneutisches Grundinteresse!

Trotzdem ist es nicht nur reizvoll, sondern von hohem Interesse, den Text gleichsam gegen den Strich zu bürsten und über Mußestunden, Humor und Festfreuden Jesu intensiver nachzudenken. Der Grund ist ein theologischer und ein hermeneutisch-didaktischer zugleich: Jesu Botschaft heißt „Evangelium“, frohe Botschaft.

1

Grundsätzlich zum Thema Kirche, Theologie und Humor vgl. Holthaus, Lachen, 7–11.

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122

Diese Botschaft hat also Freude zum Inhalt und soll froh machen! Die Ernsthaftigkeit der Jesusdarstellung in den Evangelien und erst recht die Freudlosigkeit in Predigt und Unterricht, die das Image der Kirchen weithin prägt, passen nicht zum Anspruch, Freude zu verbreiten, froh zu machen. Genauso, wie Freizeit und Muße notwendig sind, um Energie, Motivation und Kreativät für die Arbeit entwickeln zu können, genauso braucht eine „frohe Botschaft“ sichtbare und spürbare Zeichen der Freude bei dem, der sie verbreitet. Anders gesagt: Soll die Verkündigung des Evangeliums authentisch, glaubwürdig herüberkommen, muss der Verkündiger etwas von der Freude seiner Botschaft ausstrahlen. Ein Jesus ohne Humor und Festfreude ist eine Verzerrung, und gottlob haben die Evangelien, trotz ihres (zu vollem Recht) ernsthaften Anliegens, Spurenelemente des Humors und der Festfreude Jesu aufbewahrt. Dasselbe gilt für seine Muße(stunden); sie stehen zwar nicht im Fokus der Texte, schimmern aber an verschiedenen Stellen durch. Aus dem vorigen Absatz ergibt sich das erkenntnisleitende Interesse des kleinen Aufsatzes: Es gilt, Spurenelemente von Muße, Humor und Festfreuden Jesu zu entdecken, die die Authentizität seiner Botschaft und die Glaubwürdigkeit kirchlicher Verkündigung unterstreichen, biblisch-theologisch begründen und mit neuem Leben erfüllen können.

2.

Erste Textbeobachtungen

„Der Menschensohn ist gekommen, isst und trinkt; so sagen sie: Siehe, was ist dieser Mensch ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder!“ (Mt 11,19par. Lk 7,34). Diese nicht eben schmeichelhafte, polemisch gemeinte Auskunft aus dem Mund der Gegner Jesu ist ohne Anhalt an der historischen Wirklichkeit nicht verständlich. Das Verhalten Jesu und seiner Jünger gab offenbar willkommenen Anlass, über ihn herzuziehen und ihn zu verunglimpfen. Jesus verhielt sich nicht regelkonform, was sich an vielen Themen und Texten feststellen lässt. Die Fastenfrage ist ein Beispiel: Die Jünger Jesu (und wohl auch er selbst) verzichteten, im Gegensatz zu Täuferjüngern und Pharisäerjüngern, aufs Fasten (Mk 2,18). Jesus begründet den Verzicht unter Hinweis auf die besondere Zeit seiner irdischen Wirksamkeit und die neue Botschaft, die er bringt: Jetzt ist die Freudenzeit der „Hochzeitsvorbereitungen“, und dazu passt Fasten nicht (Mk 2,19–22). Manche Sprüche Jesu sind ernsthaft, aber auch humorvoll-ironisch zu deuten. So sorgen zum Beispiel das Wort von den Perlen, die man nicht vor die Säue werfen soll (Mt 7,6) oder die karikierende Darstellung der Pharisäer in Mt 6,6,5– 7, Hyperbeln wie Mt 8,22 („Lass die Toten ihre Toten begraben!“) oder Mt 19,24 („Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme.“) sowohl für Entsetzen als auch für Schmunzeln, wenn man sich das Gesagte einmal bildhaft vorstellt. Diese Sprüche verraten einen gewissen Humor Jesu. Dass Jesus nicht unentwegt nur arbeitete, sondern sich zwischenzeitlich zurückzog, ist an mehreren Stellen der Evangelien überliefert (Mk 1,35.45; 3,7 u.a.).

Mußestunden, Festfreuden und Humor Jesu

123

Was er an seinen Rückzugsorten tat, ist noch genauer zu betrachten. – Was die Festfreude Jesu anbelangt, sind die Evangelien am gesprächigsten: Jesus feierte häufig im privaten Rahmen, entzog sich aber auch nicht den öffentlichen Wallfahrtsfesten. Fazit: Die Evangelien bieten Ansatzpunkte, um Mußestunden, Humor und Festfreuden Jesu genauer zu erkunden. Um die Textbasis besser abstecken zu können und die Aussagen methodisch gesichert auswerten zu können, sind Definitionen notwendig. Sie erfolgen, nach kurzen Eingangsthesen, im nächsten Schritt.

3.

Eingangsthesen

Erstens: Die Evangelien verstehen sich als Glaubenszeugnisse, haben die Heilsbedeutung Jesu von Nazareth und seines Kreuzestodes sowie die frohe, lebensverändernde Botschaft der nahen Herrschaft Gottes zum Inhalt. Das bedingt eine Fokussierung auf die ernsthafte Seite Jesu, auf sein Wirken und sein kérygma. Zweitens: Trotzdem lassen die Evangelien eine fröhliche, feiernde und humorvolle Grundstimmung Jesu durchscheinen. Sie verschafft der „frohen Botschaft“ biographische Authentizität. Drittens: Die moderne Unterscheidung zwischen Arbeit und Freizeit taugt nicht als Parameter der Textanalyse.

4.

Begriffsdefinitionen

Vor der Textanalyse sind grundlegende Begrifflichkeiten wie Arbeit, Freizeit und Humor zu klären. Dabei ist von grundlegenden Unterschieden zwischen modernen und antiken Auffassungen auszugehen.

4.1

Arbeit und Freizeit

Die große Mehrheit der Bevölkerung zur Zeit Jesu kennt kein Leben ohne körperliche Arbeit.2 Um die Lebensgrundlagen zu sichern, musste gearbeitet werden; „Freizeit“ bzw. Muße war nur für eine kleine gesellschaftliche Elite ein Thema. Daran änderte sich bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts wenig. Da antike Kommentare zu Arbeit ausschließlich von der Bildungselite stammen, ist das negative, abschätzige Bild von Erwerbsarbeit einseitig und wenig aussagekräftig. Arbeit, so Hesiod, ist Folge uralter menschlicher Hybris, kein erstrebenswerter Zustand, mit

2

Zum Folgenden vgl. Krauß-Siemann, Art. Muße, 495–497.

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124

dem man sich zufrieden geben dürfte, eher ein notwendiges Übel für alle diejenigen, die keine andere Chance hatten als zu arbeiten.3 Diese Eliteschicht erhob skolé, die Muße, die von Arbeit und Sorgen freie Lebenssituation, gegenüber der Arbeit (askolía) zum Lebensideal. Ihr Inhalt waren zweck- und nutzfreie Tätigkeiten, vor allem die theoría, die geistige Betrachtung und Durchdringung des Lebens. – Ähnlich wird in Rom die Muße (otium) der Arbeit (negotium) gegenübergestellt und hochgeschätzt. Otium diente der Ruhe und der Erholung, ihr Inhalt war die Beschäftigung mit den Künsten. Die moderne Gegenüberstellung von Arbeit und Freizeit verdankt sich der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Die heutige Hochschätzung der Freizeit bis hin zur „Freizeitgesellschaft“ geht mit dem modernen Begriff von Arbeit (Arbeit als Erwerbsarbeit) einher; demnach dient Arbeit dazu, die Existenzgrundlage und einen gewissen Wohlstand zu erwirtschaften. Freizeit, ursprünglich funktional als notwendige Zeit zur Regenerierung verstanden, hat in den letzten Jahrzehnten eine enorme Aufwertung erlebt; Erwerbsarbeit wird mehr und mehr der Ermöglichung und Finanzierung von Freizeit(aktivitäten) zugeordnet („arbeiten, um zu leben“). Daneben gibt es aber auch die, nicht zuletzt durch die protestantische Arbeitsethik geförderte, Haltung „leben, um zu arbeiten“. Hier wird die Zweckbestimmung des Lebens einseitig auf die Arbeit und ihren sozialen, moralischen Stellenwert reduziert.

4.2

Humor und seine Spielarten

Humor (von lat. humor, Feuchtigkeit, Flüssigkeit, Saft) bezeugt, von der hippokratischen Medizin herkommend, ein ausgeglichenes Säfteverhältnis (der humores naturales) im menschlichen Körper.4 In der Neuzeit verbindet sich Humor mit Spott und Komik; sein Ziel wird in der Korrektur abweichenden Verhaltens gesehen. Eine eindeutig positive Konnotation, als Fähigkeit, den Widerwärtigkeiten des Lebens und den Schwächen der Menschen mit einem Lächeln zu begegnen und beides so aushaltbarer zu machen, erhält der Humor ab dem 18. Jahrhundert.5 Wichtige Spielarten des Humors sind Witz, Ironie und Satire. Charakteristikum des Witzes ist „seine Kürze, Scharfsinn und besonders […] seine plötzliche Zuspitzung in der Pointe.“6 Der Witz dient nicht nur der Aufheiterung („risus

3 4

5 6

Hesiod, Op. 47–49; 289–314. Vgl. Schelkle, Art. „Arbeit III“, in: TRE 3 (1978), 622–624, hier 622. Holthaus, Lachen, 13; Ossowski, Humor, in: 4–8 Zeitschrift für Kindergarten und Unterstufe 9 (2011), 6–8; Gubler, Humor, 229–232. – Die Angaben zu diesem Punkt verdanke ich der 2015 an der Bergischen Universität Wuppertal eingereichten Masterthesis „Christentum und Humor“ von Anne Hansen. Rissland, Humor, 18f; McGhee, Humor. „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“ bringt dieses Verständnis auf den Punkt. Nuster, Humor, 6.

Mußestunden, Festfreuden und Humor Jesu

125

gratia“), sondern auch einer innovativen Sicht der Dinge. Witze sind seit der Antike bekannt.7 Umstritten ist, ob Lachen auf Kosten anderer erlaubt sei.8 – Ironie ist in der Antike ein rhetorisches Mittel und dadurch charakterisiert, dass sie das Gegenteil von dem aussagt, was sie eigentlich mitteilen möchte. Sie ist damit durchaus missverständlich. Widersprüche des Lebens werden distanziert kommentiert.9 Die Bewertung der Ironie ist uneinheitlich.10 – Satire (von lat. satira bzw. satura, gefüllte Fruchtschale) benutzt alle möglichen Mittel wie Fabel, Utopie, Witz, Ironie, Karikatur, Parodie und Travestie, um bestimmte Missverhältnisse zu entlarven, lächerlich zu machen und auf diese Art und Weise die Welt zu verbessern.11 Antike Satiren sind reichlich überliefert; der Gattungsbegriff wurde von Lucilius geprägt, der die römische Gesellschaft in seinen Epigrammen und Dialogen schonungslos aufs Korn nahm.12

5.

Der Rhythmus von Arbeit und Erholung bei Jesus

Die Evangelien lassen erkennen, dass Jesus nicht nur unentwegt gewirkt hat – auch wenn auf diesen „aktiven“ Phasen naturgemäß der Schwerpunkt der Darstellung liegt; Jesu „untätige“ Seite ist vergleichsweise uninteressant, um seine göttliche Sendung und Heilsbedeutung herauszustellen. Sie wird aber, gleichsam en passent, mittransportiert.

5.1

„Arbeit“ in Leben und Wirken Jesu

Mt 13,55 und Mk 6,3 definieren Jesus über seinen Stand als Zimmermanssohn. Die Herkunft aus der Handerwerkerfamilie, vielleicht sogar seine eigene Tätigkeit als Zimmermann, ist sein zweites Standbein neben seiner Verkündigungstätigkeit als Rabbi (Mk 9,5; 10,51; 11,21). In seinen Gleichnissen dient die Arbeitswelt regelmäßig als Bildspender. Lohnarbeit und Skaverei werden nicht negativ bewertet, sie gehören zum Alltag selbstverständlich dazu. Das gilt auch für 2 Thess 3,6–11: Das Aufgeben der Arbeit aufgrund falscher eschatologischer Versprechungen (2 Thess 2,1f.!) wird scharf kritisiert. Im Kontrast dazu steht Jesu Wort vom Nichtsorgen Mt 6,26–28: Das Wohl des Menschen ist kein Ergebnis seiner 7

Die älteste bekannte Sammlung von Witzen ist der Philogelos, der 265 Witze nach Kategorien unterteilt und durchaus auch mit den Mitteln des Obszönen und Makabren arbeitet (Weeber, Humor, 64). 8 Kuschel (1994, 36ff.) verweist auf den Gegensatz zwischen Platon und Aristoteles an diesem Punkt. 9 Nuster, Humor, 18; Holthaus, Lachen, 16f. – dort werden noch weitere Formen des Humors beschrieben. 10 März, Humor, 18: Ironie wird teils negativ (als Täuschung) gewertet, teils positiv, als erzieherisches Mittel, um das Gegenüber von Verblendung zu heilen („sokratische Ironie“). 11 Holthaus, Lachen, 15; Nuster, Humor, 19; Lauer, Humor, 191. 12 Weeber, Humor, 130f.

126

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Arbeit; die „arbeitsfreien“ Lilien auf dem Feld werden genauso von Gott versorgt wie der arbeitende Mensch. Arbeit ist, so die Aussage, nicht der Sinn des Lebens oder der Weg zum Heil. Bezeichnend ist, dass für körperliche und für gemeindlich-missionarische Arbeit derselbe Begriff (kólpos) verwendet wird (Mt 9,37f.; 10,10; Lk 10,2.7; 1 Thess 2,9). Arbeit wird demnach nicht differenziert; die Tätigkeiten sind gleichrangig. Fazit: Arbeit gilt im biblischen Denken als notwendiges Übel, als selbstverständlicher Teil gesellschaftlichen Lebens und wird auch nicht kritisiert. Eine Verklärung der Arbeit als Lebenssinn und -inhalt ist ebenfalls nicht erkennbar.

5.2

Das Sabbatgebot: Rhythmus von Arbeit und Ruhe

Der biblische Bezugsrahmen für die Frage nach Jesu „Freizeitverhalten“ bzw. nach seinen Mußestunden ist zu allererst die in Gen 2,2 festgelegte Abfolge von Arbeit und Ruhe. Das Sabbatgebot verweist auf den Schöpfergott, der das Gebot, von der Arbeit zu ruhen, in seiner Schöpfungsordnung verankert hat. Der Sabbat wird zum Tag der Ruhe und der Betrachtung dessen, was man in der Woche gearbeitet hat, erklärt. Körperliche Arbeit gilt als eine unter mehreren Folgen des Sündenfalls (Gen 3,17–19). Himmlische Ruhe wird im Hebräerbrief zum Synonym für die frühchristlichen Zukunftshoffnungen (Hebr 3,7–4,11; ausweislich Jes 32,18). Die Schöpfungsordnung von Gen 2,2 wird von Jesus radikal uminterpretiert: Sinn und Zweck des Sabbats ist es nicht, alle Arbeit ruhen zu lassen, sondern ihn als Gelegenheit wahrzunehmen, auszuruhen und heilvoll zu wirken (Mk 2,27). Der Sabbat ist um des Menschen willen geschaffen, und so soll das Wohl des Menschen auch im Mittelpunkt stehen. Sollte dies „Arbeit“ bedeuten, ist das eben so. Nicht Arbeit an sich wird durch das Sabbatgebot verboten, sondern ihre Ausrichtung auf die Sicherung der eigenen Existenz, so die Texte. Wer sich sechs Tage in der Woche um das eigene Wohl und das der Familie kümmert, soll am Sabbat auf Gott, den Schöpfer und Erhalter des Lebens schauen und in seinem Sinne sein eigenes Wohl, das der Mitmenschen und der Kreatur in den Vordergrund rücken. Härter ausgedrückt: Wem es möglich ist, sechs Tage lang sein Auskommen zu erwirtschaften, hat die Verpflichtung, am siebten Tag davon etwas zurückzugeben! Fazit: Jesus setzt, so die Evangelien, das Sabbatgebot nicht außer Kraft, sondern interpretiert es um: Der Sabbat ist für den Menschen da, das heißt zu seinem und seiner Mitmenschen Wohl. Das bedeutet Verzicht auf Erwerbstätigkeit, Einladung zum Innehalten und Aufruf, das eigene Wohlergehen zu nutzen, um Menschen in Not aufzuhelfen. Was für die Gegner Jesu wie verbotene „Arbeit“ aussieht, ist für Jesus gerade die Erfüllung des Willens Gottes.

Mußestunden, Festfreuden und Humor Jesu

5.3

127

Rückzug und Mußestunden Jesu

Die Evangelien stellen Jesu Wirken in den Vordergrund ihrer Darstellung. Berichtenswert ist nur das, was er wirkte und bewirkte. Zwischen öffentlicher „Arbeit“ und Wirksamkeit bei privaten Feierlichkeiten gibt es gleitende Übergänge. Jesus wirkt – bei jeder Gelegenheit, öffentlich und privat, unterwegs und im Haus. Zweck seines Wirkens ist das Wohl der Menschen, und da macht es keinen Unterschied, wann und wo er es bewirken kann. Phasen, in denen Jesus nichts tut, scheinen nicht berichtenswert. Gebet, Luftholen und Vorbereitung neuen Wirkens Trotzdem kommen Phasen des Rückzugs und der Erholung in den Blick. So heißt es öfter am Ende intensiver Wirkungsphasen, dass Jesus sich auf einen Berg, in die Einöde oder ans jenseitige Seeufer zurückzieht (Berg: Mt 14,23;17,1; Lk 6,12; Joh 6,3; Einöde: Mk 1,35.45; 6,31; Lk 5,16; jenseitiges Seeufer: Mk 6,31; Lk 5,1– 3; 8,22; andere Orte: Mt 15,21 [Tyrus und Sidon], Mt 26,36 [Gethsemane], Lk 9,18; 11,1 [undefiniert]). Sinn und Zweck des Rückzugs ist in aller Regel das Gebet (Mt 14,23; 26,36; Mk 1,35; Lk 5,16; 6,12; 9,18; 11,1). Der Rückzug zum Gebet fungiert als retardierendes Element im narrativen Plot und bereitet die nächste Phase der Wirksamkeit bzw. einen zentralen Punkt der Verkündigung vor (Mt 14,23: Seewandel; Mt 15,21: erste Heilung unter Nichtjuden; Mt 26,36: Passion; Mk 1,35.45: Verkündigung in ganz Galiläa; Lk 5,16: Heilung des Gelähmten; Lk 6,12: Berufung der Zwölf; Lk 8,22: Sturmstillung; Lk 9,18: Petrusbekenntnis; Lk 11,1: Vaterunser; Joh 6,3 vgl. Mk 6,31: Speisung). Das Gebet ist in Lk 5,16f. direkt auf die Kraft zum Heilen bezogen. Erholung, Kraft tanken als Motiv des Rückzugs kommt in Mk 6,31 zur Geltung: Jesus schickt die Jünger an einen einsamen Ort, um auszuruhen, „denn es waren viele, die kamen und gingen, und sie hatten nicht Zeit genug zum Essen“.13 Mk 1,35.45 deutet einen bewussten Rückzug Jesu an („Jedermann sucht dich“, V.35), ein freilich erfolgloser Versuch („doch sie kamen zu ihm von allen Enden“; V.45). Joh 6,3 weist in eine ähnliche Richtung. Die Verklärung – esoterische Sonderoffenbarung Der Rückzug Jesu mit drei Jüngern auf einen hohen Berg Mt 17,1parr. hat eine Sonderstellung. Inhalt ist die Verklärung, das heißt eine exklusive Offenbarung der Identität Jesu durch Gott selbst. Der Vorschlag des Petrus, an diesem guten Ort Zelte aufzuschlagen, um dort zu verweilen, geht unter; Ziel ist nicht das Verweilen, sondern die Epiphanie Gottes und die Vorbereitung auf die Passion Jesu. Flucht als Rückzugsmotiv Ein letztes Motiv für den zeitweiligen Rückzug aus der Öffentlichkeit ist die Flucht: Jesus wird mehrfach von Gegnern attackiert und muss fliehen. Tötungsbeschlüsse der Volksoberen zwingen ihn zum Rückzug (Mk 3,7: an den See; Joh

13

Laut Mk 6,34 scheint Jesus doch mitgefahren zu sein.

Kurt Erlemann

128

11,54: in die judäische Wüste bzw. in die Stadt Ephraim), ebenso spontane Tötungsversuche (Lk 4,30: ohne Zielangabe; Joh 8,59: aus dem Tempel hinaus; Joh 10,39f.: an das andere Jordanufer). Joh 6,15 bietet ein gegenläufiges Motiv: Das Volk will Jesus nach dem Speisungswunder zum König machen; Jesus entweicht allein auf einen hohen Berg. Fazit: Muße zum Gebet und zur Beobachtung der Welt Die Evangelien schildern häufig Rückzugsszenarien. In der Mehrzahl der Fälle dient der Rückzug dem Luftholen und dem Gebet. Beides läutet eine neue Phase des Wirkens Jesu ein. Das Gebet markiert die Rückbindung an Gott und legitimiert den nächsten, innovativen, möglicherweise umstrittenen Schritt im Wirken Jesu (Ausweitung des Missionsfeldes, Steigerung der Wunderaktivität, Passion) bzw. einen besonders wichtigen Punkt in der Verkündigung (Vaterunser, Einsetzung des Zwölferkreises, Petrusbekenntnis). Von Muße im eigentlichen Sinne ist nichts zu erkennen. Allerdings sind Jesu Gleichnisse und die Wahrnehmung der Not seiner Mitmenschen undenkbar ohne ausgiebige Beobachtung seiner Umwelt. In diesem Bereich hat Jesus mit hoher Wahrscheinlichkeit Muße gehabt; en passent entwickelt sich eine solche Beobachtungsgabe nicht. – Kreative Pausen, um neue Wundermittel zu entwickeln oder Gleichnisse zu formulieren, scheinen indes nicht erwähnenswert, wenn nicht sogar unnötig, da Jesu Geistbegabung völlig ausreicht und für immer neue Kraft und Vollmacht sorgt.14

6.

Festfreuden Jesu

Am ergiebigsten sind die Evangelien in der Darstellung der Festfreuden Jesu. Jesus war sowohl auf privaten Feiern als auch auf großen Wallfahrtsfesten am Jerusalemer Tempel präsent. Das Thema Fest und Feier ist darüber hinaus ein wichtiges Motiv seiner Reich-Gottes-Verkündigung.15

6.1

Jesus als Gast auf privaten Feiern

Ob auf einer Hochzeitsfeier, bei privaten Festmählern oder beim Passahmahl mit seinen Jüngern – die Evangelien zeigen einen Jesus, der am sozialen Leben seiner Zeit teilnimmt und Gelegenheiten zum Feiern nicht auslässt. Das Johannesevangelium lässt die Wirksamkeit Jesu mit einer privaten Hochzeitsfeier beginnen. Auf der Hochzeit zu Kana ist er zusammen mit seiner Mutter und seinen Jüngern eingeladen (Joh 2,1–11). Das ist der festliche Rahmen für das erste semeíon Jesu: die Verwandlung von Wasser in Wein. Wein steht für den überfließenden Luxus der messianischen Zeit. Gaumenfreuden im Überfluss 14 15

So pointiert im lk. Doppelwerk. Charisma gleicht hier auch mangelnde Ausbildung aus, vgl. die Gabe der parrhesía in Apg 4,13; 28,31. – Dazu Erlemann, Reden, 79–91. Zum Folgenden vgl. Heininger , Feste, 38–42. Und Ders., Tischsitten, 34–37.

Mußestunden, Festfreuden und Humor Jesu

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kennzeichnen Jesu Wunderwirken auch sonst (Mk 6,30–44parr.: Speisungswunder; Lk 5,1–11par. Joh 21,1–14: Fischwunder). Jesu Zeit wird als Anbruch der messianischen Heilszeit bzw. als Vorbereitungsphase auf die eschatologische Hochzeit Gottes bzw. des Messias mit Israel gedeutet (Lk 14,15–24par. Mt 22,1– 14: Gleichnis vom (Hochzeits-)Mahl; Mt 25,1–13: Gleichnis von den zehn Jungfrauen). In dieser Zeit verbietet sich Fasten von selbst (Mk 2,18–22). Jesus isst und trinkt mit den Sündern und Zöllnern (Mt 9,9–13par. Lk 5,27–32; Lk 19,1– 10). Jesu Salbung durch die Sünderin ist ein kostspieliges Fest (Lk 7,36–50parr.). Lukas sieht Jesus selbst mit den Pharisäern Tischgemeinschaft halten (Lk 11,37– 54; 14,1ff.). Jesu öffentliche Wirksamkeit endet in einem letzten Mahl mit den Jüngern (Mk 12–25). Diese Szene wiederum endet mit einem Ausblick auf das eschatologische Mahl im Reich Gottes (V.25). Am Brotbrechen erkennen die Jünger schließlich den Auferstandenen (Lk 24,13–35). Ein Grund zum Feiern ist die erfolgreiche Suchaktion nach den Verlorenen (Gleichnisse Lk 15); ein weiterer Grund zu ausgiebiger Freude ist der Sturz Satans aus dem Himmel (Lk 10,17– 24par. Mt 11,25–27).

6.2

Jesus als Jerusalem-Wallfahrer

Jesus entzog sich nach Auskunft der Evangelien auch nicht den öffentlichen Wallfahrtsfesten. Die Synoptiker sehen ihn zum Passafest nach Jerusalem ziehen (Mk 14,1parr.). Er feiert mit den Jüngern das Passamahl (Mk 14,12–25parr.) und stirbt als das eigentliche Passalamm, das von den Jüngern als Sühnopfer in Form von Brot und Wein gegessen wird (vgl. Mk 14,1; Lk 22,15). Die Wallfahrt Jesu zum Passafest bedeutet nach Auskunft der Synoptiker zugleich die Ablösung des Jerusalemer Tempelkultes durch das einmalige und dauerhafte Selbstopfer Jesu (vgl. Hebr 10,12: Jesus als das Jom-Kippur-Opfer). Das Johannesevangelium kennt mehrere Wallfahrten Jesu zum Tempel nach Jerusalem. Seine öffentliche Wirksamkeit startet mit Tempelreinigung und Tempelwort vor dem Passafest (Joh 2,13–25). Wiederum nach einem semeíon (Joh 4,43–54; vgl. Joh 2,1–11) zieht Jesus zu einem weiteren Fest16 nach Jerusalem (Joh 5,1), um dort seine Haltung zum Sabbat und seine Vollmacht als Gottessohn zu demonstrieren (Joh 5,2–47). Nach Speisungswunder und Brotrede (Joh 6) geht Jesus inkognito zum Laubhüttenfest, wo er von den Ioudaíoi schon erwartet und gesucht wird (Joh 7,1–14). Themen seiner Predigt sind wiederum der Sabbat und seine messianische Identität (Joh 7,14–39). – Nach seinem letzten Wunderzeichen (Joh 11: Erweckung des Lazarus) geht Jesus ein letztes Mal zum Passafest (Joh 11,55ff.), wo er am Rüsttag als das unschuldige Lamm, das der Welt Sünde trägt, am Kreuz stirbt (Joh 1,29; 19,14.31.42; vgl. 1 Kor 5,7).

16

Das Fest wird unterschiedlich identifiziert. Hengstenberg, Evangelium des heiligen Johannes, 288f. schwankt zwischen Passa und Purim. Kap.7–10 sieht Hengstenberg zwischen Laubhüttenfest und Tempelweihfest spielen. Weiß, Johannes-Evangelium tippt auf das Purimfest zwischen Dezember und Passa; Joh 6,1ff spiele einen Monat später als Joh 5, 193.229.

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130

Die johanneischen Wallfahrten nach Jerusalem folgen keiner biographischen Chronologie, sondern einem theologischen Gestaltungsprinzip des Evangelisten.17 Jerusalem steht für die Heimat Jesu, der Tempel für den Ort der Konfrontation mit den Ioudaíoi und für die Offenbarungsreden Jesu. Die Konfrontation folgt regelmäßig dem Wunderwirken in Galiläa mit überwiegend positiven Reaktionen des Volkes und der Bezeugung der messianischen Identität Jesu. Die Wunderzeichen im Vorfeld der Wallfahrten (Joh 2: Weinwunder [V.13!; Joh 4,45]; Joh 4: Heilungswunder [Joh 5,1!]; Joh 6: Speisung [Joh 6,4; 7,1!]; Joh 11: Erweckung des Lazarus [Joh 11,55; 12,9–11!]) schaffen äußerlich eine wachsende Erwartungshaltung der Jerusalemer Bevölkerung (Joh 11,56!) sowie ein wachsendes Konfliktpotenzial und stellen innerlich den Tempelkult in Frage: Das Weinwunder verlagert das messianische Fest nach Galiläa; die Heilung des Nichtjuden durchbricht die ethnisch-kultischen Schranken; das Speisungswunder verlagert das Passa, die Erweckung des Lazarus die Heil schaffende Institution in die Person Jesu. Jesus selbst ist, ausweislich der Ich-bin-Worte, das Leben in Fülle und der Weg dorthin!

6.3

Fest und Feier als Verkündigungsmotiv

Dass Jesus dem Wein nicht abgeneigt war, zeigen nicht nur das Weinwunder von Kana und der Spruch vom Weinsäufer (Mt 11,19par. Lk 7,34).18 Die Evangelien bieten eine reichhaltige Metaphorik rund um den Wein, um die Heilsbedeutung Jesu und das Privileg der Erwählung zu umschreiben: Jesu Botschaft ist wie junger Wein (Mk 2,22); Jesus ist der Weinstock, die Jünger sind die Reben (Joh 15,1– 8); das Privileg der Erwählung wird mit einem Weinberg verglichen (Mk 12,1– 12parr.); das Arbeitsfeld der Christinnen und Christen ist der Weinberg Gottes (Mt 20,1–16; 21,28–32); Wein lässt Wunden heilen (Lk 10,34) und gehört zum eschatologischen Mahl im Himmelreich dazu (Mk 14,25). Die ambivalente Verwendung der Kelchmetapher (Mk 10,38; 14,23f.36) weist das Feiern als „Lohn“ der Lebenshingabe aus und betont zugleich die Festfreude trotz des drohenden Leidens und Todes (vgl. Apg 5,41; 1 Petr 4,13; Jak 1,2!). Dasselbe gilt für die Vermischung von Wein und Galle am Kreuz (Mt 27,34).

6.4

Fazit: Festfreude Jesu als Signal des neuen Weges Gottes

Die Evangelien stellen Jesus als fröhlichen, feiernden Messias dar, der mit seiner Feststimmung die Verkündigung des eschatologischen Festes Gottes unterstreicht. Die Festfreude Jesu kennt keine Grenzen – weder, was das Maß noch was den Kreis der Mitfeiernden angeht. Der messianische Überfluss und die überschwängliche Festfreude Gottes lassen Feiern und Freude hier und jetzt als das 17 18

Ausführlich dazu Erlemann, Feinstruktur von Joh 1–12, 390–403. Das Feiern und Weintrinken unterscheidet Jesus, ausweislich Lk 1,15 und 7,33, grundsätzlich von Johannes dem Täufer.

Mußestunden, Festfreuden und Humor Jesu

131

Gebotene erscheinen – selbst angesichts von Leiden und Sterben. Feiern und Festfreude sind, anders gesagt, eine einzige prophetische Zeichenhandlung Jesu, die die baldige Umkehrung aller irdischen, ungerechten, leidvollen Verhältnisse passend-selbstredend in Szene setzt.19 Die synoptischen Evangelien lenken die Festfreude des Passafestes weg von der Erinnerung an die Befreiung aus Ägypten hin zur Befreiung von Sünden und zum neuen Bundesschluss im Geschick Jesu. Wallfahrt und Festfreude Jesu beziehen sich nicht auf den Exodus der Wüstengeneration, sondern auf die Erlösung der messianischen Generation durch seine Selbsthingabe als Passalamm. – Für das Johannesevangelium sind die Wallfahrtsfeste Ausgangspunkt für die Konfrontation der „Heimat“ Jesu bzw. der Ioudaíoi mit seiner messianischen Identität, die durch die vorlaufenden Wunderzeichen eigentlich bereits geklärt ist. Die letzte Passawallfahrt bringt die endgültige Klärung über Glauben und Unglauben, über Licht und Finsternis sowie den Sieg des unschuldigen Lammes über den ungläubigen kósmos. Bei keiner Wallfahrt wird die äußerliche Festfreude Jesu zur Schau gestellt. Jesu eigentliche Festfreude manifestiert sich abseits der institutionalisierten Freude, in der galiläischen Provinz und in der Begegnung mit den „Verlorenen“ der Gesellschaft. Diese Darstellung der Festfreude samt ihrer Eschatologisierung in der basileía-Botschaft hat eine implizit tempelkritische Funktion.

7.

Humor Jesu

Dem Fokus der Evangelien entsprechend, die Heilsbedeutung Jesu und seiner Botschaft in ihrer Tragweite und Ernsthaftigkeit herauszustreichen, finden sich humorvolle Züge am Jesusbild nur in Spurenelementen.20 Die historische Wirklichkeit lässt aber einen durchaus humorvollen, fröhlichen und lachenden Jesus vermuten; ein „Fresser und Weinsäufer“, der zum Lachen in den Keller geht, wie die Westfalen sagen, ist nur schwer vorstellbar. Obwohl kein Lachen und keine Witze Jesu überliefert sind, finden sich doch Aussprüche Jesu, die zum Schmunzeln anregen bzw. die sich als Spott und Ironie verstehen lassen.

7.1

Satirische Überzeichnung

Gegenstand satirischer Überzeichnung sind in Mt 6,5–7 die Heuchler und Nichtjuden: Man sieht die Heuchler förmlich in den Synagogen und Straßenecken stehen und öffentlich beten, damit sie jeder sehen kann; man hört die Nichtjuden förmlich daherplappern, um Aufmerksamkeit und Erhörung zu erheischen. Ihre Heuchelei wird durch die Karikatur ans Tageslicht befördert, zugleich wird eine Antifixierung erzeugt: Wer will sich schon so blamieren?! „Darum sollt ihr ihnen 19 20

Vgl. Erlemann, Jesus, 35. Eine Zusammenstellung humorvoll zu verstehender Worte Jesu findet sich bei Holthaus, Lachen, 60–65.

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132

nicht gleichen!“ (Mt 6,8a). Während diese Darstellung noch ein Schmunzeln erzeugen kann (und soll?), ist die Darstellung der Pharisäer in Mt 23 allenfalls sarkastisch-polemisch zu nennen und lädt nicht mehr zum Lachen ein. Das Staterwunder (Mt 17,24–27) trägt ebenfalls satirische Züge: Jesus unterläuft mit dem Wunder die unangemessene Forderung der Tempelsteuer und sorgt für großes Schmunzeln bei Leserinnen und Lesern.

7.2

Ironie, schwarzer Humor und Sarkasmus

Hyperbeln Jesu wie Mt 8,22 („Lass die Toten ihre Toten begraben!“) oder Mt 19,24 („Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme“) unterstreichen die radikalen Konsequenzen der Nachfolge bzw. die schiere Unmöglichkeit, als Reicher ins Himmelreich zu kommen. Die Jünger, so Mt 19,25, reagieren entsetzt auf den Vergleich Jesu. Mt 23,24 („Ihr verblendeten Führer, die ihr Mücken aussiebt, aber Kamele verschluckt“) und Mt 7,3 (Splitter und Balken) karikieren selbstgerechtes, pharisäisches Verhalten. „Lasst die Toten ihre Toten begraben“ verweist ironisch darauf, worauf es bei der Nachfolge ankommt: die richtigen Prioritäten zu setzen, ohne Wenn und Aber. Die Formulierung „Tote, die ihre Toten begraben“ ist vordergründig schwarzer Humor; hintergründig und metaphorisch verstanden, wird die Sorge um die Toten den „Toten“, das heißt denen, die nicht glauben, überlassen. Ähnlich reizt das Bild vom Kamel und Nadelöhr vordergründig zum Schmunzeln, hintergründig erzeugt es Entsetzen. Die Hyperbeln bewegen sich zwischen Ironie, schwarzem Humor und Sarkasmus. Weitere Bildworte mit ironischem Anstrich sind das vom Splitter und Balken (Mt 7,1–5), von den Perlen, die man nicht vor die Säue werfen soll (Mt 7,6), das Wort von den Ersten und Letzten (Mt 19,30; 20,16), die Metaphern von den blinden Blindenführern und den hübsch übertünchten Gräbern (Mt 23,16–27), von den Pharisäern, die gar nicht merken, dass sie blind sind (Joh 9,39–41) sowie das Diktum zur Steuerfrage (Mk 12,16f.). Das Wort von den Kindern und den Hunden, gerichtet an die tyrische Bittstellerin (Mk 7,24), grenzt an Polemik; der Humor liegt hier eher bei der Frau, die das Wort aufgreift, sich den Schuh anzieht und damit ihre Hartnäckigkeit unter Beweis stellt. Der Vergleich Gottes mit einer Hausfrau, die wegen eines Bagatellbetrags das Haus auf den Kopf stellt und am Ende mit ihren Nachbarinnen ein Freudenfest feiert, setzt religiösen Humor voraus (Lk 15,8–10). – All diese Logien zeigen einen Jesus, der schlagfertig und souverän agiert. Ironie, satirische Überzeichnung und sogar schwarzer Humor sind Mittel, die das unterstreichen. Jesu Sprachstil, mit dem er geltende Werte und Verhaltensmuster umwertet, ist provozierend.21

21

Mit Bloch, Jesus, 74.

Mußestunden, Festfreuden und Humor Jesu

7.3

133

Der lachende Jesus in den Apokryphen

Deutlich mehr zum Lachen gibt es in den apokryphen Jesusdarstellungen. Schon gleich nach seiner Geburt habe Jesus „mit dem lieblichsten Lächeln“ gelacht.22 Der Lehrer in KThom 6–8 zum Beispiel steht gegenüber seinem Schüler Jesus recht inkompetent da. „Als nun die Juden den (Lehrer) Zachäus trösten wollten, da lachte der Knabe laut und sagte: „Jetzt soll das deine Frucht tragen, und die Herzensblinden sollen sehen. Ich bin von oben her da, damit ich sie verfluche und nach oben rufe, wie mir der aufgetragen hat, der mich um euretwillen gesandt hat“ (KThom 8).23

7.4

Fazit: Ironisch-satirische Umkehrung geltender Werte

Die Evangelien zeichnen einen Jesus, der mit Ironie, Sarkasmus und schwarzem Humor die Klarheit seiner Botschaft unterstreicht und mit seinen Gegnern schlagfertig und souverän umgeht. Ironische Logien und Hyperbeln sind dazu angetan, zu provozieren und etablierte Werte auf den Kopf zu stellen. Sie entlarven die herrschende Moral als Heuchelei und stellen die Absurdität „normaler“ Verhaltensmuster heraus. Die apokryphen Evangelien, die eher unterhalten wollen, als Glaubenszeugnisse zu sein, haben mit dem humorvollen, lachenden Jesus deutlich weniger Berührungsängste als die kanonischen.24

8.

Ergebnis

Das über Jahrhunderte kultivierte Bild vom ernsthaften Jesus, vom leidenden Menschensohn, der durch seine Lebenshingabe bis hin zum Tod am Kreuz den Menschen Erlösung brachte, ist einseitig. Die paulinische Fokussierung auf die theologia crucis, verbunden mit einer leibkritischen Grundhaltung und einer auf Verzicht ausgerichteten Ethik ist das Urmodell christlich-kirchlicher Frömmigkeit über die Konfessionsgrenzen hinweg. Sie lässt, zumal in der heutigen Spaßund Freizeitgesellschaft, Kirche als freudlose, weltfremde und verstaubte Institution erscheinen, die dem Anspruch, die „frohe Botschaft“ zu verkündigen, wenig gerecht wird. Doch wird diese kirchliche Grundstimmung weder Paulus gerecht (der durchaus im Leben stand und unentwegt zur Freude trotz äußerer Bedrängnisse aufrief), noch den Evangelien. Letztere fokussieren das befreiende Wirken Jesu in Wort und Tat und verarbeiten zugleich theologisch seinen Kreuzestod mithilfe alttestamentlicher Deutungsmuster vom leidenden Gottesknecht, vom Passahlamm etc. Doch daraus den 22 23 24

Bericht der Hebamme über die Geburt in der Höhle, in: Auszug aus dem lateinischen Kindheitsevangelium der Arundel-Handschrift (Übersetzung in Hennecke, Apokryphen, 309f.). Text nach Hennecke (siehe vorige Anm.), 295. Vgl. Läpple, Jesusgeschichten, 15. Dazu Hartenstein, Wundererzählungen.

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134

Schluss zu ziehen, Jesus habe nicht gelacht, nicht ausgelassen gefeiert und über seiner Sendung keinen Sinn für Humor entwickelt, ist voreilig und fatal. Die Evangelien geben durchaus Hinweise auf die fröhliche Seite Jesu und auf Zeiten der Erholung von seinem Wirken. Man könnte sogar mit Anhalt an den Texten die Gegenthese aufstellen und sagen: Das Wirken Jesu hatte ein einziges Ziel: den Menschen die Vision eines Lebens in Fülle mit bunten Farben vor Augen zu malen: Die basileía Gottes ist im Anbruch und erhellt schon jetzt das Leben derer, die unter Unrecht, Krieg, Mangel und Tod leiden! Jesus ist gleichsam der „Promoter“ der Gottesherrschaft und streut mit seinen Worten und Taten „Werbeclips“ unter die Menschen, Appetithäppchen gleich, die Lust auf den „Hauptfilm“ machen sollen.25 Er tut das, indem er ausgelassen feiert und den Menschen durchaus humorvoll den Spiegel vorhält. Er verzehrt sich nicht in Fasten und Freudlosigkeit. Er stellt sein Leben zwar in den Dienst seiner Botschaft und geht am Ende den Weg ans Kreuz; aber dieser Weg ist ein Weg der Lebensfreude, der „Hochzeitsvorbereitungen“, und er dient den Menschen als lebendiges Beispiel dafür, wie man sich das Leben in Fülle vorstellen darf: ein Leben in Überfluss, mit viel Lachen und ausgelassener Freude, mit Ruhe und Erholung dazu. Wer das nicht begreifen mag, weil er Religion und Moral allzu ernst nimmt, verpasst dieses ultimative Angebot Gottes und bleibt außen vor (vgl. die Gleichnisse Lk 14f.!). Wer anderen Menschen die Freude nicht gönnt, wird zu einem „Letzten“ (Mt 20,1–16). Wer Gottes befreiende Barmherzigkeit nicht teilen mag, verliert sie (Mt 18,25–37). Wer jedoch Jesu Einladung folgt, an seine Vision glaubt und sich auf sie einlässt, hat das Leben schon jetzt und darf mitfeiern (Lk 14,15–24; Joh 5,24f.). Das ist die frohe Botschaft, die Jesus mit seinem Leben authentisch vertrat. Sie entsprechend weiterzugeben, ist ein wichtiger Schlüssel dazu, Kirche wieder attraktiv und glaubwürdig zu machen.

Literatur BLOCH, PETER, Der fröhliche Jesus. Die Entdeckung seines Humors in den Evangelien, Stuttgart 1999. ERLEMANN, KURT, Beobachtungen zur Feinstruktur von Joh 1–12, in: Christian Strecker (Hg.), Kontexte der Schrift Bd. 2: Kultur, Politik, Religion, Sprache – Text (FS Wolfgang Stegemann), Stuttgart 2005, 390–403. DERS., Jesus der Christus: Provokation des Glaubens, Neukirchen-Vluyn 2011. DERS., Lizenz zum Reden. Die lukanischen Apostel zwischen Geist und Rhetorik, in: Axel von Dobbeler u.a. (Hgg.), Religionsgeschichte des Neuen Testaments (FS Klaus Berger), Tübingen/Basel 2000, 79–91. DERS., Vision oder Illusion? Zukunftshoffnungen im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn 2014. GREMMELS, CHRISTIAN, Art. „Freizeit“, TRE 11 (1983), 572–578. GUBLER, MARIE-LOUISE, Die kostbare Perle Humor, in: Diakonia Internationale; Zeitschrift für die Praxis der Kirche 38 (2007), 229–232. 25

Dazu Erlemann, Vision, 41.

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135

HARTENSTEIN, JUDITH, Die Wundererzählungen in apokryphen Evangelien – Hinführung, in Zimmermann, Ruben (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Bd. 1, Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 781–788. HEININGER, BERND, Feste und Feierlichkeiten (NTAK 2, 2005), 38–42. DERS., Tischsitten (NTAK 2, 2005), 34–37. HOLTHAUS, STEPHAN, Das Lachen der Erlösten. Warum Glaube und Humor zusammengehören. Basel/Gießen 2003. KRAUß-SIEMANN, JUTTA, Art. „Muße“, TRE 23 (1994), S. 495–497. KUSCHEL, KARL-JOSEF, Christus hat nie gelacht? Nachdenken über eine Theologie des Lachens in „ernster Zeit“, in: International Journal of Orthodox Theology 2/4 (2011), 7–21. LÄPPLE, ALFRED, Außerbiblische Jesusgeschichten. Ein Plädoyer für die Apokryphen, München 1983. LAUER, WERNER, Humor als Ethos. Eine moralpsychologische Untersuchung, Bern u.a. 1974. MÄRZ, FRITZ, Humor in der Erziehung. Bemerkungen über eine pädagogische Rarität, München 1967. MCGHEE, PAUL E., Humor. Origin and Development, San Francisco 1979. NUSTER, JOSEF, Humor – Gottesgabe und Kind der Lebensfreude. Anregungen auf dem Weg zu einer christlichen Kardinaltugend des Humors, Wien 2010. OSSOWSKI, EKKEHARD, Humor oder der „Ernst des Lebens“. Welche Rolle und welche Bedeutung hat der Humor im „ernsthaften“ Kontext von Unterricht und Schule? In: 4–8 Zeitschrift für Kindergarten und Unterstufe 9 (2011). RISSLAND, BIRGIT, Humor und seine Bedeutung für den Lehrerberuf, Bad Heilbrunn/Obb 2002. SCHELKLE, KARL HERMANN, Arbeit III (Neues Testament), TRE3 (1978), 622–624. WEEBER, KARL-WILHELM, Humor in der Antike, Mainz 1991.

Mittelbare Lebensgefahr. Die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit in Mk 3,1–6 parr. Steffen Leibold

Die Heilung des Menschen mit der verdorrten Hand in Mk 3,1–6 parr. ist ein klassisches Beispiel zur Frage, wie das Thema ‚Arbeit‘ in den neutestamentlichen Texten behandelt wird. In allen Stellen der synoptischen Evangelien ist die Perikope am Schabbat als einem Tag verortet, zu dem es seit alttestamentlicher Zeit eine immer weiter verzweigte Lehre zu den Tätigkeiten gibt, die erlaubt oder verboten sind. Auch die Einleitung zur Heilung nimmt diese Lehre mittels des jeweils unterschiedlich verorteten ἔξεστιν (‚Ist es erlaubt?‘ oder ‚Es ist erlaubt‘) auf.1 Doch nicht die Frage nach der jesuanischen Schabbathalacha soll nun die Perspektive auf diese synoptische Perikope bestimmen, stattdessen wird die Aussagekraft der Heilungserzählung zu einem weiteren Teilbereich des Themas ‚Arbeit‘ in den Blick genommen. Um diesen Zugang aufzuschließen, wird bei der Rezeption dieser Geschichte eingesetzt: Im Kommentar des Hieronymus zu Mt 12,13 findet sich eine kurze Rede des an der Hand gelähmten Menschen, die dem so genannten Nazoräerevangelium zugeordnet werden kann.2 Nach Jörg Freys Übersetzung sagt er Folgendes: „Ich war Maurer und verdiente mit [meinen] Händen [meinen] Lebensunterhalt; ich bitte dich, Jesus, dass du mir die Gesundheit wieder herstellst, damit ich nicht schimpflich um Essen betteln muss.“

Diese wenigen Worte eröffnen eine Lesart der Heilungserzählung, die den Menschen mit der verdorrten Hand in den Mittelpunkt stellt: Er möchte nicht länger unter der Schande stehen, seinen Lebensunterhalt nicht mit seinen eigenen Händen verdienen zu können, er möchte stattdessen das Betteln um Essen gegen die Ehre eintauschen, selbständig arbeiten zu können. Mit dieser Ansicht zur Arbeit steht der Mann in einer möglicherweise besonders ländlich ausgeprägten jüdischen Tradition der „Hochschätzung der Handarbeit“3, in der Betteln über die Gegenüberstellung von Ehre und Scham negativ konnotiert wird.4 Gegen eine vorschnelle Verbindung der Rede des Maurers mit der synoptischen Heilungserzählung spricht nun, dass der Mensch mit der verdorrten Hand

1 2 3 4

Zu ἔξεστιν als Bestandteil halachischer Terminologie zum Schabbat vgl. Doering, Schabbat. 450, Anm. 297. Zur Forschungslage vgl. die knappe Einführung bei Frey, Hilfe /Hier. comm. in Matt. zu Mt 12,13, 873–877, hier 873. Frey, Hilfe, 874. Vgl. Frey, Hilfe, 874f. In diesen Zusammenhang gehört vor allem Lk 16,3.

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in Mk 3,1–6parr. eine rein passive Rolle einnimmt. Er ist reines „Demonstrationsobjekt“5 für die halachische Auseinandersetzung zur Schabbatobservanz; er wird nicht einmal gefragt, ob er denn überhaupt geheilt werden möchte.6 Aus diesem Grund geht Frey bei der Rede des Maurers von einem Teil einer apokryphen Fassung aus, die narrativ anders als die synoptischen Perikopen aufgebaut sein musste.7 So plausibel nun diese Schlussfolgerung ist, so sehr besteht aber dennoch eine mindestens durch Hieronymus’ Kommentierung vollzogene Verbindung zwischen dem synoptischen Text (des Matthäusevangeliums) und der wörtlichen Rede des dezidiert an der Hand gelähmten Mannes. Vielleicht können die Worte des Maurers nicht im Sinne „einer narrativen Applikation“8 der Perikope in Mt 12,9–14 verstanden werden,9 doch lohnt es sich dennoch, nach Spuren in den synoptischen Schabbatheilungen in Mk 3,1–6parr. zu suchen, die trotz einer Fokussierung der Texte auf eine halachische Diskussion auch auf die Arbeitsfähigkeit des am Ende geheilten Menschen weisen. Über diesen Zugang fällt zugleich auch ein neues Licht auf die jesuanischen Begründungen der Heilung am Schabbat.

1.

Matthäus: Das eine Schaf als Lebensgrundlage

Da sich eine (klare) „Abhängigkeit vom redaktionellen Text des Matthäusevangeliums“10 nur an wenigen Stellen des fragmentarischen Nazoräerevangeliums erkennen lässt, bietet die Konfiguration des Hieronymus vor allem eine rein rezeptionsästhetische Begründung für die Spurensuche in Mt 12,9–14: Der raum-zeitliche Rahmen der Perikope ist die Synagoge am Schabbat. In ihr befindet sich ein Mensch mit einer ‚verdorrten‘ Hand (χεῖρα ξηράν). Diese Wiedergabe des Befundes verdeutlicht, dass die Hand wie für Pflanzen11 möglich als unzureichend mit Flüssigkeit versorgt verstanden wird. Das „Fehlen vitaler Körpersäfte an dieser Stelle“12 analog zu Pflanzen bedeutet nun, dass eine normale Funktion nicht mehr möglich ist: Wie eine vertrocknete Pflanze keine Frucht mehr bringen kann,13 kann eine verdorrte Hand nicht mehr adäquat eingesetzt werden. Mit diesen knappen Angaben aus Mt 12,9.10a sind die Bedingungen abgesteckt, unter denen die anderen Besucher der Synagoge in Mt 12,10b eine halachische Frage stellen: εἰ ἔξεστιν τοῖς σάββασιν θεραπεῦσαι; – ‚Ist es erlaubt, am

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Frey, Hilfe, 874. Vgl. dagegen bspw. Joh 5,5. Vgl. Frey, Hilfe, 874–876. Luz, Matthäus, 241. Vgl. auch Fiedler, Matthäus, 250, Anm. 49, leider ohne weitere Begründung. Frey, Nazoräerevangeliums, 623–654, hier 633. Vgl. Starnitzke, Menschen, 436–441, hier 437. Starnitzke, Menschen, 437. Vgl. Mk 4,6 im Kontext von Mk 4,1–9.

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Schabbat zu heilen?‘ Diese Frage wird im Judentum nicht pauschal beantwortet,14 und auch Jesus reagiert, indem er in Mt 12,11 einen konkreten Fall schildert: τίς ἔσται ἐξ ὑμῶν ἄνθρωπος ὃς ἕξει πρόβατον ἓν καὶ ἐὰν ἐμπέσῃ τοῦτο τοῖς σάββασιν εἰς βόθυνον, οὐχὶ κρατήσει αὐτὸ καὶ ἐγερεῖ; – ‚Wer von euch wird ein Mensch sein, der ein einziges Schaf hat, und, wenn es am Schabbat in eine Grube fällt, es nicht ergreifen und herausziehen wird?‘

Mit dieser Schilderung bewegt sich der matthäische Jesus zum einen jenseits aller überlieferten ähnlich gelagerten Fälle zur Rettung von Tieren,15 zum anderen wird aber auch der Eindruck erweckt, als setze er über die rhetorische Gestaltung der Antwort „eine selbstverständliche, nicht etwa umstrittene Praxis voraus.“16 Die Besonderheit dieses Falles liegt nun in der Betonung des einzigen Schafes (πρόβατον ἓν) des Menschen, welches am Schabbat aus der Grube und damit vor dem drohenden Verenden gerettet wird. Möglicherweise ist diese Erzählung durch „ländlich-ärmliche[.] Verhältnisse[.]“17 determiniert, in denen „[d]er arme Bauer […] auf sein einziges Schaf angewiesen“18 ist – das Schaf ist die einzige Grundlage des Lebens und Überlebens des Menschen.19 Wird nun an dieser Stelle der Erzählung ein Schnitt gesetzt, lässt sich die verdorrte Hand, die im Mittelpunkt des halachischen Diskurses steht, mit dem einen Schaf des Menschen gleichsetzen. So wie der Mensch der jesuanischen Antwort auf sein Schaf als Existenzsicherung angewiesen ist, so ist der Mensch der Perikope auf gesunde Hände angewiesen. Während die Rede des Maurers im Nazoräerevangelium primär vor dem Hintergrund von Scham und Ehre verstanden werden kann, liegt der Fokus in Mt 12,11 eher auf der schlichten Notwendigkeit, mittels ‚Hand‘-Arbeit zu (über-)leben. Auch der nachfolgende Vers Mt 12,12a kann aus dieser Perspektive gedeutet werden: In einem Schluss vom Kleineren auf das Größere20 wird der Mensch dem Schaf übergeordnet. Zwar ist nun die Analogie von verdorrter Hand und Schaf aufgehoben, doch weil im Gegensatz zu Mt 12,11 nicht mehr konkret das einzige Schaf betont wird, wird stattdessen allgemein die Verbindung von halachischer Fallerzählung und Kontext in den Vordergrund gestellt: Wenn die Rettung eines Schafes möglich ist, dann umso mehr die Heilung der verdorrten Hand des Menschen. Der über eine Kausalstruktur angeschlossene Teilsatz Mt 12,12b nun bezieht sich auf den Sachverhalt der Existenzsicherung, deren Wiedereinrichtung21 als Gutes (καλῶς) verstanden werden kann und am Schabbat erlaubt (ἔξεστιν) ist. 14 15 16 17 18 19

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Vgl. Doering, Schabbat, 449f. zu den Textstellen in rabbinischer Literatur, die ein Verbot der Heilung am Schabbat beschreiben. Vgl. Doering, Schabbat, 459. Luz, Matthäus II, 238. Luz, Matthäus II, 239. Luz, Matthäus II, 239. Vgl. auch Fiedler, Matthäus, 249. An dieser Stelle fällt die Nathanparabel aus 2 Sam 12,1–4 ein, in der der arme Mann ebenfalls nur ein Schaf hat, welches vom reichen Mann für ein Gastmahl geschlachtet wird; vgl. auch Luz, Matthäus II, 239. Vgl. bspw. Luz, Matthäus II, 239, Fiedler, Matthäus, 249 oder Doering, Schabbat, 460. Im Rahmen des Beispiels aus Mt 12,11 geht es um die Wiederherstellung; die Formen von ἀποκαθιστάνω in Mt 12,13parr. stützen diese Lesart.

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Doering weist nun darauf hin, dass die Argumentationsstruktur in Mt 12,12 „nicht ohne stillschweigende zusätzliche Annahmen für schlüssig befunden werden kann“22: Um die kausale Abhängigkeit des Tun des Guten von der vorhergehend erzählten „halachische[n] Analogie“23 und dem darauf folgenden Schluss a minori ad maius zu erklären, sucht er nach einer „übergeordneten Perspektive“24 (des Schabbatbruchs Jesu25) und findet sie in der Liebe und Barmherzigkeit aus Mt 12,7. Damit folgt er der Linie von Luz, für Mt 12,9–14 „eine grundsätzliche Unterordnung des Sabbatgebots unter die Liebe“26 anzunehmen. Zwar wird die Liebe als „nichts dem jüdischen Gesetz Fremdes“27 verstanden, dennoch wird eine klare Abgrenzung zur Diskussion um das Prinzip der Lebensrettung als einem erlaubten Schabbatbruch, des so genannten Piqquach Nefesch,28 angenommen: „Während rabbinisch Lebensrettung eine Grenze für das Sabbatgebot ist, wird bei Matthäus die Liebe zu seiner Mitte.“29 So sehr nun diese Deutung über den Kontext der Perikope plausibilisiert werden kann, so sehr wird über diesen Zugang aber auch der Blick auf die Besonderheit der Wendung πρόβατον ἓν in Mt 12,11 verstellt: Während Luz diese syntaktische Figur trotz der Betonung, dass „[d]er arme Bauer […] auf sein einziges Schaf angewiesen ist“30, argumentativ nicht weiter auswertet, verbindet Doering Mt 12,11 zuerst mit Lk 14,5 und versteht beide Verse als Ausdruck einer „erleichternde[n] Praxis in (klein-) bäuerlichem Milieu“31, wodurch die Zuspitzung von Mt 12,11 auf die pure Existenzsicherung zu Gunsten allein „wirtschaftlicher Einbußen“32 abgeschwächt wird.33 Doering weist zwar im Anschluss daran auf die Besonderheit des Zahlwortes in Mt 12,11 hin, doch wird im Kontext dieses Hinweises allein die Deutung einer „erleichternde[n] Praxis“34 des bäuerlich geprägten Galiläas ohne eine Nuancierung wiederholt. Mit πρόβατον ἓν als Nukleus der Auslegung von Mt 12,11f. allerdings kann das Prinzip des Piqquach Nefesch wieder eingeholt werden: Zwar wird dieses Prinzip nicht explizit genannt, doch kann das Thema der Existenzsicherung als Teil einer Rettung aus mittelbarer Lebensgefahr angesehen werden: Ohne das einzige Schaf ist das eigene Leben letztendlich ebenso in Gefahr wie ohne die Möglichkeit, mittels ‚Hand‘-Arbeit für sich

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Doering, Schabbat, 461. Doering, Schabbat, 460. Doering, Schabbat, 461. Zur Deutung der Heilung in Mk 3,1–6parr. generell als ein Schabbatbruch vgl. Doering, Schabbat, 452ff. und 461f. Luz, Matthäus II, 239. Luz, Matthäus II, 240. Vgl. allgemein zu Piqquach Nefesch als Form des erlaubten Schabbatbruchs die Zusammenfassung bei Doering, Schabbat, 566–568. Luz, Matthäus II, 240. Vgl. auch Doering, Schabbat, 461f. Gilt diese Liebe Gottes dann auch innerhalb der Beispielrede Jesu für das in die Grube gefallene Vieh? Luz, Matthäus II, 239. Doering, Schabbat, 460. Doering, Schabbat, 460. Vgl. Luz, Matthäus II, 239, Anm. 17, der auf die Differenz zwischen Mt 12,11 und Lk 14,5 auch in Bezug auf das Zahlwort hinweist. Doering, Schabbat, 461.

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selbst sorgen zu können. Es drohen ökonomische Schwierigkeiten35 und möglicherweise auch soziale Probleme: „Man denke an die Angst vor Isolierung, vor dem Aufgegebenwerden durch andere Menschen, vor dem Zur-Last-Fallen.“36 (Ist der Mensch zugleich das Oberhaupt einer Hausgemeinschaft – nämlich pater oder mater familias –, lässt sich die Gefährdung des Lebens auch auf die weiteren Familienmitglieder ausdehnen!37) Deshalb muss das eine Schaf am Schabbat aus der Grube gerettet werden, und deshalb der Mensch am Schabbat geheilt werden – deshalb muss Gutes getan werden.38 Was in Mk 3,4 explizit erwähnt ist und im Rahmen dieser Perikope durchaus verstörend wirkt, ist in Mt 12,11 über eine „halachische Analogie“39 narrativ entfaltet.40 So befindet sich der matthäische Jesus wieder näher an pharisäischer resp. rabbinischer Schabbathalacha,41 wenngleich eine derartige Ausgestaltung dieses Prinzips an keiner Stelle der antik-jüdischen und rabbinischen Literatur erkennbar wird.42 Vor diesem Hintergrund findet nun in Mt 12,13 die Heilung der verdorrten Hand des Menschen statt. Auch wenn kein eindeutiger Heilungsakt Jesu zu identifizieren ist, muss doch von einem Heilungsvorgang ausgegangen werden, einerseits wegen des zentralen Themas dieser Perikope (θεραπεύω in Mt 12,10b und ὑγιής in Mt 12,13), und andererseits wegen der Reaktion der Pharisäer in Mt 12,14 in Verbindung zur Intention in Mt 12,10b.43 Es bleibt nun allerdings unklar, ob 35

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Vgl. bspw. den Rechtsspruch in Ex 21,18f., nach dem ein im Streit Verletzter für die Zeit seiner Genesung im Liegen (‫שׁכָּב‬ ְ ִ‫ ) ְונָפַל לְמ‬entschädigt werden mus Vgl. auch Stambaugh/ Balch, Umfeld, 108 zur rudimentären Armenversorgung im römischen Reich, die stellenweise nur das Betteln (neben dem Stehlen) als Möglichkeit einer Versorgung zuließ. Theissen, Wundergeschichten, 249. Im Rahmen der Perikope scheint dieser Aspekt eher nicht im Vordergrund zu stehen, da der Mensch in der Synagoge anzutreffen ist, doch kann sinnvollerweise nur an diesem Ort eine halachische Diskussion über die Schabbatobservanz verortet sein, außerdem ist er unverbunden zu allen anderen Menschen positioniert. In der synoptischen Parallelstelle Mk 3,1–6 wird der Mensch deutlich als ‚Randfigur‘ beschrieben, der vor der halachischen Diskussion mit den anderen Menschen in der Synagoge in die Mitte (des Geschehens) geholt werden muss (Mk 3,3: ἔγειρε εἰς τὸ μέσον). Vgl. Kegler/Eisen, Soziale Sicherung, 539. Vgl. zum Begriff des (Tun des) ‚Guten‘ (Mt 12,12: καλῶς) als Ausdrucksmöglichkeit einer Schabbathalacha, die über ihre Grenze des Piqquach Nefesch den Menschen in den Mittelpunkt stellt, besonders Abschnitt 2 zu Mk 3,4. Insgesamt bleibt der Anschluss von Mt 12,12b an die vorhergehenden anderthalb Verse etwas sperrig, doch liefert die Bezugnahme auf das Prinzip der Lebensrettung am Schabbat (unter Zuhilfenahme der markinischen Parallelstelle) eine plausiblere Interpretation als die (alleinige) Betonung der Liebe Gottes über Mt 12,7. Doering, Schabbat, 460. Die Rettung des Tieres in Mt 12,11 muss noch nicht als Ausdruck einer Lebensrettung verstanden werden, vgl. dazu auch Doering, Schabbat, 460, Anm. 351. Es geht in Mt 12,9– 14 nur implizit um Lebensrettung (aus mittelbarer Gefahr). Diese Deutung von Mt 12,9–14 stärkt die Wahrnehmung von Mt 24,20 als Ausdruck (einer Form von) antik-jüdischer Schabbathalacha; vgl. in diesem Sinne wohl Luz, Matthäus II, 233, der von einem „konsequent[en]“ Halten des Schabbats durch die „matthäische Gemeinde“ spricht. Zum Prinzip des Piqquach Nefesch vgl. Doering, Schabbat, 566–568. Vgl. zur Heilung durch ein Wort (bezogen auf die synoptische Parallelstelle Mk 3,1–6) Doering, Schabbat, 446–448 mit der plausiblen Schussfolgerung, dass die auch in Mk 3,3

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der „Konflikt-Charakter“44 der Erzählung nun deutlich darauf hinweist, dass die Pharisäer der synoptischen Evangelien zu diesem konkreten Fall der Schabbatobservanz eine Position vertreten, die eine unmittelbare Heilung verbietet: Die von Doering aufgeworfene Frage, ob sich ihre Halacha „in der Fluchtlinie der späteren tannaitischen“45 befindet, in der eine Heilung am Schabbat grundsätzlich nur erlaubt ist, wenn sie im Rahmen einer alltäglichen Handlung „nebenbei entsteht“46, wird überlagert durch die Ablehnung der konkreten Heilung der verdorrten Hand am Schabbat als Ausdruck einer erzählerisch vermittelten Ausweitung47 des Prinzips der Lebensrettung.48 Der Blick auf Mt 12,11 hat gezeigt, dass im Mittelpunkt der Perikope die Existenzsicherung durch die eigene Arbeitsfähigkeit steht. Über diesen Zugang ergibt sich nun die Möglichkeit, die Intention dieser Perikope geerdeter zu verstehen als zahlreiche Versuche, hinter der Heilung am Schabbat eine eschatologische Perspektive zu sehen, die auf eine endzeitliche Wiederherstellung des erkrankten Menschen fokussiert:49 In erster Linie geht es um die Ermöglichung eines gegenwärtigen Lebens ohne Existenznot. Dass Heilungen in neutestamentlichen Texten nicht immer theologisch (weit) über die reine Wiederherstellung der Gesundheit des Menschen hinausweisen müssen, sondern schlichtweg auf ihre „tatsächliche physiologische Wirkung“50 hin erfolgen können, zeigt der im direkten Anschluss an die Schabbatheilung überlieferte Vers Mt 12,15, der ohne eine Einbettung in halachische Diskurse oder theologische Konzeptionen davon berichtet, dass Jesus viele Menschen heilt (καὶ ἐθεράπευσεν αὐτοὺς πάντας).51

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genannte, der Konstatierung der Heilung vorausgehende Wendung λέγει τῷ ἀνθρώπῳ in Mk 3,5 (wie in Mt 12,13) „die Beweislast nicht tragen [kann].“ Er geht bei Mk 3,1–6parr. von einem „die Erfahrung mehrerer Sabbatheilungen komprimierenden Bericht“ aus und verweist auf die Sabbatheilungen in Lk 13,13 und Lk 14,4, die Berührungen durch Jesus nennen. Vgl. auch Kahl, Sabbat, 313–335, hier 331, der von einer „im Geheimen geschehe[n] Heilung“, die nicht auf Jesus zurückzuführen ist, als „besondere Pointe“ (von Mk 3,1–6) spricht. Er liest Mk 3,1–6 im „Makrotext[…] des Markusevangeliums“, in dem es vor allem um eine Beschuldigung Jesu geht, doch weist er selbst direkt im Anschluss auf diese Ansicht darauf hin, dass die markinische Passionserzählung keinen Bezug auf die Schabbatheilungsperikope nimmt. Über diesen Zugang verdeckt Kahl überdies das Moment der Handlung im Rahmen des in Mk 3,4 genannten Piqquach Nefesch. Doering, Schabbat, 446, zur synoptischen Parallelerzählung Mk 3,1–6. Doering, Schabbat, 449. Doering, Schabbat, 449. Vgl. die betreffenden Stellen aus rabbinischer Literatur ebd. In mYom 8,6, bYom 84b oder tShab 15[16],13 (vgl. Doering, Schabbat, 453) wird das Prinzip der Lebensrettung auch mit Heilungen verbunden, doch heben diese Stellen eher auf eine direkte Gefährdung des Lebens ab (vgl. auch Schaller, Sabbat, 125–147, hier 141f.), die eine Gabe von Medikamenten ermöglicht, währenddessen Mt 12,9–14parr. die Rettung aus mittelbarer Gefahr in den Blick nimmt. Allerdings ist Doerings Deutung über die eher allgemein gehaltene Frage aus Mt 12,10 durchaus plausibel; vgl. auch die ähnlich gelagerte Variante in Lk 6,7, die im Gegensatz zu Mk 3,2 nicht explizit auf die Heilung des zuvor genannten Menschen rekurriert. Vgl. dazu bspw. Doering, Schabbat, 454–457. von Bendemann, Heilungen, 273–312, hier 275. Wie in Mt 12,9–14 ist hier θεραπεύω genannt.

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2.

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Markus: Die Heilung der Hand als Piqquach Nefesch

Während die „halachische Analogie“52 aus Mt 12,11 das Thema der Lebensrettung allein indirekt über die Betonung der Existenzsicherung des Menschen in den Blick nimmt, findet sich in Mk 3,1–6 ein expliziter Verweis auf das Prinzip des Piqquach Nefesch. Das Setting dieser Perikope ist fast gleich zu Mt 12,9–14 – allein die Frage nach der Möglichkeit einer Heilung am Schabbat wird in Mk 3,2 von der Figurenrede auf die Gedanken der Pharisäer reduziert –, doch unterscheiden sich die Erzählungen über die Begründung der Heilung der verdorrten Hand. Nachdem Jesus den Menschen in den Mittelpunkt rückt, ergeht anstelle einer Beispielerzählung folgende Frage: ἔξεστιν τοῖς σάββασιν ἀγαθὸν ποιῆσαι ἢ κακοποιῆσαι, ψυχὴν σῶσαι ἢ ἀποκτεῖναι; – ‚Ist es am Schabbat erlaubt, Gutes zu tun oder Schlechtes zu tun, ein Leben zu retten oder es zugrunde gehen zu lassen?‘ Die Frage des markinischen Jesus ist als ein Parallelismus konstruiert, dessen beiden Kolen jeweils antithetisch aufgebaut sind – es ist eine „doppelte[…] Alternativfrage“53. Der zweite Teil des Parallelismus hebt auf einen halachischen Sonderfall der Schabbatobservanz ab: Piqquach Nefesch als die Rettung aus Lebensgefahr.54 Verglichen mit den Fällen, die in der Schabbathalacha unter diese Ausnahme subsumiert werden können,55 nimmt sich die verdorrte Hand aber nicht als lebensgefährdend aus – sie hätte auch am kommenden Tag geheilt werden können!56 Damit nun der zweite Teil von Mk 3,4 nicht als eine maßlose Übertreibung Jesu verstanden werden muss,57 wird er in der Auslegung über syntaktische Modellbildungen abgeschwächt: Dschulnigg fasst die Struktur des Verses als synthetischen Parallelismus auf, der sich „am Kern aller ethischen Weisungen [orientiert], dass das Gute immer zu tun und der Mensch und dessen Wohl immer zu 52 53 54

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Doering, Schabbat, 460. Doering, Schabbat, 450. Vgl. dazu Doering, Schabbat, 452. Vgl. auch Dautzenberg, Leben, 154–158. Vgl. dagegen aber auch bspw. Back, Jesus of Nazareth, 113f., der direkt auf die „eschatological overtones“ dieser Wendung abhebt, die allesamt aber nicht durch die Perikope selbst gedeckt sind (zur Differenz zwischen der Wendung aus Mk 3,4 und τὴν ψυχὴν αὐτοῦ σῶσαι in Mk 8,35 vgl. bereits Dautzenberg, Leben, 156, ebenso wie Doering, Schabbat, 455). Backs Deutung, die Einleitung ἔξεστιν sei Ausdruck der Kritik Jesu, bei einer Heilung am Schabbat halachisch zu argumentieren, bleibt unbelegt. Vgl. Doering, Schabbat, 453 (vgl. auch Anm. 57). Vgl. dazu bspw. Schmithals, Markus, 196. Vgl. auch Dschulnigg, Markus, 109, der eine Vertagung der Heilung „bei einem charismatischen Wanderpropheten, der nicht ortsfest war“, als schwierig erachtete, doch nimmt diese Überlegung den Evangeliumstext als eine literarische Konstruktion nicht ernst genug, indem sie die wenig plausible Deutung impliziert, dass Textabschnitte wie die Heilungserzählung in Mk 3,1–6 nicht unabhängig von einer bestimmten Vorstellung vom historischen Jesus verstanden werden können. Überdies stellt dieser Gedanke die jesuanische Ansicht zur Heilung in Mk 3,4 in das Licht einer nur vorgeschobenen Begründung. Vgl. Gnilka, Markus, 127 sowie Kahl, Lebensbewahrung, 315. Dietzfelbinger, Sabbatheilungen, 281–298, hier 289 schlussfolgert hermeneutisch fragwürdig aus der fehlenden Lebensgefahr: „Jesus selbst wollte seine Sabbatheilungen von jener Voraussetzung her nicht gerechtfertigt wissen.“

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fördern ist.“58 Vom Piqquach Nefesch ist bei ihm dann nicht mehr die Rede, stattdessen fasst er auf kanonischer Ebene zusammen: „Das Gute ist Inbegriff des Willens Gottes (vgl. Röm 12,2; 13,3)“59. In ähnlicher Weise legt Doering den Vers letztlich auch aus: Seiner Ansicht nach „ordnet nun Jesus sein heilendes Handeln am Sabbat zwischen dem allgemeinen ‚Tun des Guten‘ und dem speziellen ‚Lebenretten‘ ein“, mit dem Ergebnis, „daß es als sachgemäße Fortschreibung der Lebensrettung in Richtung der übergeordneten Motivation ‚Gutes Tun‘ zu stehen kommt.“60 Der Hintergrund dieser Deutung besteht in dem Versuch, eine plausible Erklärung zu finden, weshalb die Unterlassung einer guten Tat zugleich das Tun des Bösen ist:61 Indem Doering nun die Lebensrettung als eine Konkretion des Tuns des Guten versteht, kann eine unterlassene Hilfeleistung auf dieser Ebene zugleich mit dem Bösen verbunden werden. Der erste Teil von Mk 3,4 thematisiert allerdings nicht die Unterlassung einer (guten) Tat, sondern allein eine allgemeine Unterscheidung zwischen dem Tun des Guten und dem Tun des Bösen, die per se ohne eine Konkretion durchaus Zustimmung bei den pharisäischen Gesprächspartnern des markinischen Jesus gefunden haben wird, ebenso wie auch der zweite Teil des parallelen Ausspruchs, der allein das Prinzip der Lebensrettung am Schabbat, auch in einer eher allgemeinen Weise, in den Mittelpunkt rückt. Um den beiden Teilen von Mk 3,4 in ihrer je eigenen Bedeutung gerecht werden zu können, empfiehlt sich eine getrennte Betrachtung der beiden Kolen. Dieser Zugang wird durch gegenwärtige Forschung zum Parallelismus membrorum gestützt: Andreas Wagner unternimmt den Versuch, die „kognitiv-noetische Dimension“62 dieser syntaktischen Figur neu zu bestimmen. Dabei bedient er sich des Begriffes der ‚Stereometrie‘, den er im Kontext ‚des Gedankenausdrucks‘ als „eine Formulierungsweise“ versteht, „die durch verschiedene Aussagen die Plastizität des Gemeinten, die bei nur einer Aussage nicht dargestellt werden kann, zum Ausdruck zu bringen versucht.“63 Über diesen Zugang eröffnet der Parallelismus membrorum einen „Erkenntnisraum[…], in dem sich das Verstehen hin und her bewegen kann und das damit eine dynamische Dimension hat.“64 Dass eine synthetisierende Wahrnehmung in diesem Modell an ihre Grenzen stößt, zeigt in plastischer Weise die Konfiguration des Prinzips der ‚Stereometrie des Gedankenausdrucks‘ mit zahlreichen Beispielen ägyptischer Kunst, deren „Prinzip der Bildgestaltung […] nicht auf einer perspektivischen Gesamtsicht, auf einem geschlossenen Darstellungssystem [beruht], sondern […] in der Addition von Einzelgegenständen [besteht], die unverbunden in ihrer je typischen Ansicht zu

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Dschulnigg, Markus, 110. Vgl. auch Doering, Schabbat, 451 zu weiteren synthetisch-klimaktischen Varianten. Dschulnigg, Markus, 110, Anm. 150. Doering, Schabbat, 452. Vgl. Doering, Schabbat, 452f.; vgl. bereits Bultmann, Theologie, 18 zu dieser Richtung: „[E]in Drittes, ein heiliges Nichtstun, gibt es nicht.“ Wagner, Parallelismus membrorum, 1–26, hier 5. Wagner, Parallelismus membrorum, 12. Wagner, Parallelismus membrorum, 17. Wagner lehnt sich an Janowski, Konfliktgespräche, 18 an.

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einem Ganzen kumuliert werden.“65 Wird nun Mk 3,4 in diese Definition eingeordnet, rückt das im zweiten Teil dieses Verses thematisierte Prinzip der Lebensrettung wieder in den Bereich einer direkten Erklärung der Schabbatpraxis des markinischen Jesus: Die Heilung der verdorrten Hand ist auch Ausdruck des Piqquach Nefesch!66 Zu Recht schließt sich die Frage an, worin die Gefährdung des Lebens des Menschen mit der verdorrten Hand besteht. Der klinische Befund lässt nicht auf eine akut lebensbedrohliche Erkrankung des Mannes schließen,67 sodass der Referenzpunkt an anderer Stelle gesucht werden muss. Wird nun ausgehend von der Hand als Körperteil mit bestimmten Funktionen auf die ‚Hand‘-Arbeit des Menschen als Schaffung seines Lebensunterhaltes fokussiert, kann die Existenzsicherung als Zielpunkt der Argumentation Jesu in Mk 3,4b angenommen werden. Wie bereits in Mt 12,9–14 geht es auch in der markinischen Parallelstelle um die Rettung des Lebens aus der mittelbaren Gefahr der Existenznot, die hier dezidiert als eine Ausweitung des Prinzips des Piqquach Nefesch verstanden werden will.68 Da nun diese Auslegung zur Lebensrettung am Schabbat an keiner anderen Stelle der antik-jüdischen Literatur bezeugt ist, folgt der markinische Jesus zwar (wie auch in Mt 12,9–14) keiner bekannten Konkretion des Piqquach Nefesch,69 bewegt sich aber durch die reine Nennung der Lebensrettung (ψυχὴν σῶσαι) dennoch im Rahmen dieses bekannten Prinzips.70 Die Heilung Jesu ist Lebensrettung und mit Mk 3,4a zugleich ein Beispiel für das Tun des Guten (ἀγαθός) am Schabbat. Dass dieses Tun auch im Rahmen der 65 66

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Wagner, Parallelismus membrorum, 24. Vgl. auch Gombrich, Kunst, 60f. Leben bedeutet manchmal auch einfach nur Überleben; gegen Kollmann, Wundergeschichten, 87, der das Gegenteil postuliert, um seine über Mk 2,27 verlaufende Deutung von der Vorordnung des Menschen vor dem Schabbat einzuleiten. Vgl. zu einem Zusammenhang von ‚Hand‘-Arbeit und Leben auch Dtn 24,6: ‚Man soll nicht eine Handmühle oder den oberen Mühlstein als Pfand nehmen – dann nimmt man das Leben (‫ )נֶפֶשׁ‬als Pfand.“ Vgl. bspw. Braulik, Deuteronomium, 178, der darauf hinweist, dass „die Pfändung der Mühle oder ihres [nach Braulik der Ehefrau aus Dtn 24,5; SL] Reibsteines“ als Teil der häuslichen ‚Hand‘-Arbeit „das Existenzminimum“ betrifft. Siehe bereits Kapitel 1. Im Rahmen der Besprechung der Perikope von der Heilung der gekrümmten Frau (Lk 13,10–17) schlugen Schüler der 7. Jahrgangsstufe der Leibniz-Gesamtschule DuisburgHamborn vor, die Heilungen durch Jesus am Schabbat insofern unter das Prinzip der Piqquach Nefesch subsumieren zu können, als die Erkrankungen die Menschen einfach daran hindern, ihr Leben wie gewünscht als ein erfülltes Leben leben zu können. Sie bezeichneten diese Ausweitung des Prinzips der Lebensrettung als „indirekte Lebensgefahr“. Vgl. Doering, Schabbat, 454: „Durch diese Ausdehnung verläßt Jesus […] die Pfade bekannter zeitgenössischer Sabbathalacha“. Vgl. dagegen Doering, Schabbat, 453, der eine Verbindung von Heilung und Lebensrettung als nur „implizit“ versteht; sie „muß von den Hörer(inne)n gefunden werden.“ Doch findet sich bei ihm durch die rasche Synthetisierung beider Teile des Parallelismus membrorum auch nicht die Möglichkeit, nach einer Referenz für die Lebensrettung beim Menschen mit der verdorrten Hand zu suchen. Stattdessen betont er das Tun des Guten als „den übergreifenden Wert hinter dem Lebenretten“. Vgl. auch Dautzenberg, Leben, 156, der für Mk 3,4 eine weite Auslegung des Prinzips des Piqquach Nefesch über die akute Lebensgefahr hinaus konstatiert, hinter σῶσαι aber ein eher allgemeines „Handeln zur Erhaltung und Bestärkung des Lebens“ sieht.

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Schabbathalacha mitsamt der Grenze des Piqquach Nefesch erfolgt, ergibt sich dabei zwar nur implizit, ist aber über die semantische Tiefe des biblischen Begriffes71 gedeckt: Alttestamentlich kann gut in Abgrenzung zu schlecht immer auch für den Menschen förderlich72 bedeuten. Erst eine Konfiguration mit dem zweiten Teil der Rede Jesu macht diese Deutungsmöglichkeit sichtbarer. Die Alternative aus Mk 3,4a, Böses zu tun, bleibt für sich betrachtet am unverständlichsten und kann am ehesten als notwendige Vervollständigung im Rahmen einer antithetischen Konstruktion der beiden Kolen des Parallelismus verstanden werden. Erst in einer Konfiguration mit dem zweiten Teil der syntaktischen Figur besteht die Möglichkeit, unterlassene Heilung als Konkretion des Tuns des Bösen zu klassifizieren.73 Die Betrachtung der synoptischen Parallelstellen Mt 12,9–14 und Mk 3,1–6 vor dem Hintergrund des vierten Fragments des Nazoräerevangelium hat ergeben, dass die ‚Hand‘-Arbeit des Menschen auch in den neutestamentlichen Texten als Kern dieser Schabbatheilung betrachtet werden kann: Zwar liegt der Fokus nicht auf der Vermeidung von Schande durch die Bettelei des Maurers, doch zeigt sich über die „halachische Analogie“74 aus Mt 12,11 sowie die Bezugnahme auf das Prinzip des Piqquach Nefesch in Mk 3,4b, dass die ‚Hand‘-Arbeit des Menschen als reine Existenzsicherung, die Leben und Überleben garantiert, als Grund für die Heilung angesehen werden kann.

3.

Lukas: Die wichtige rechte Hand

Im Vergleich zu Mk 3,1–6 bietet die dritte synoptische Parallelstelle Lk 6,6–11 keine wesentliche Neuerung in der Begründung d er Heilung am Schabbat. Wie Mk 3,4b weist auch der zweite Teil der jesuanischen Rede in Lk 6,9 mittels der Wendung ψυχὴν σῶσαι auf das Prinzip des Piqquach Nefesch hin.75 Dass nun die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Menschen76 auch in dieser Perikope als Begründung für die Heilung am Schabbat gelten kann, wird durch die Näherbestimmung der verdorrten Hand als rechte Hand (ἡ χεὶρ αὐτοῦ ἡ δεξιὰ) in Lk 6,6 verstärkt: In neutestamentlichen Texten übernimmt die rechte Hand zentrale Aufgaben wie bspw. die Almosengabe in Mt 6,3, aber auch die Verführung (zum

71

72 73 74 75 76

Vgl. auch das Verständnis von ‚Gutes tun‘ als ‚Tun des Willen Gottes‘ bei Doering, Schabbat, 450f. Nach Baumgarten, ἀγαθός, 11 können καλός (vgl. dazu Mt 12,12; siehe Abschnitt 1) und ἀγαθός als „synonyme[.] Wechselbegriff[e]“ betrachtet werden. Vgl. dazu Stoebe, Art. ‫ טוֹב‬gut, 652–664, hier 658–661 sowie bspw. die Erwähnung in Dtn 1,39LXX, in der wie in Mk 3,4 ἀγαθός und κακός verwendet werden. Vgl. zu dieser Verbindung Doering, Schabbat, 452f. Doering, Schabbat, 460. Vgl. allein zu dieser Einschätzung bspw. Wiefel, Lukas, 125: „Die Heilung des Kranken bedeutet Lebensrettung“. In Lk 6,8 wird der Mensch dezidiert als Mann (ἀνήρ) bezeichnet.

Mittelbare Lebensgefahr (Mk 3,1–6 par.)

147

Ehebruch) in Mt 5,30; insgesamt wird die rechte Seite vor allem mit „Vorstellungen des Glücks, des Erfolgs und der Rettung verbunden“77. Auch über zahlreiche alttestamentliche Texte wird diese lukanische Verstärkung gestützt: Dort wird (auch) die menschliche rechte Hand allgemein als „Tat- oder Leistungshand“78 verstanden. Aus diesem Grund kann Lk 6,6–11 im Rahmen der bestehenden Ergebnisse zu Mk 3,1–6 und Mt 12,9–14 verortet werden. Neben der Heilung der verdorrten Hand hält das Lukasevangelium mit Lk 13,10–17 und Lk 14,1–6 noch zwei weitere Heilungen am Schabbat bereit: In der ersten Erzählung heilt Jesus eine seit achtzehn Jahren durch einen Geist am Rücken gekrümmte Frau.79 Im Anschluss an die an dieser Stelle durch eine Berührung erfolgte Heilung (Lk 13,13) gibt Jesus, der in der Synagoge lehrt (Lk 13,10), eine halachisch klingende Begründung für diese Tat (Lk 13,15f.). Wie in Mt 12,11 wird ein konkretes Beispiel aus der bäuerlichen Welt gewählt,80 allerdings mit dem Unterschied, dass an dieser Stelle allein eine Verbindung zwischen der gekrümmten Frau und dem zur Tränke geführten Ochsen bzw. dem Esel hergestellt werden kann. So steht nicht mehr die Sicherung der Existenz im Vordergrund, sondern mehr das Motiv des Erhaltens eines normalen Zustandes:81 Im Gegensatz zur „halachische[n] Analogie“82 des matthäischen Jesus ist erstens nicht dezidiert ein Nutztier gemeint, und zum zweiten befindet sich das Tier nicht in einer ausgewiesen lebensbedrohlichen Situation, sondern soll allein (über eine alltägliche Tätigkeit) versorgt83 werden (wie an jedem anderen Tag auch). In Lk 14,1–6 wird die Heilung eines ‚Wassersüchtigen‘84 am Schabbat im Haus eines Pharisäers berichtet, die wie bereits in Lk 13,10–17 durch eine Berührung Jesu erfolgt (Lk 14,4: die Heilung wird über ἰάομαι dezidiert genannt) und auch erst im Anschluss durch eine halachisch klingende Begründung (Lk 14,5) ergänzt wird: In dieser Rede Jesu wird auf die Rettung eines Sohnes85 oder eines Ochsen aus einem Brunnen am Schabbat rekurriert. Über diese traditionsgeschichtlich analogielose Kombination86 wird die Heilung nun zum einen in den Bereich des Prinzips des Piqquach Nefesch gerückt.87 Zum anderen werden über 77 78 79 80 81 82 83 84 85

86 87

Von der Osten-Sacken, δεξιός, 685f. Soggin, Art. ‫י ָמִ ין‬, 660. Vgl. zum möglichen Befund und seinen sozialgeschichtlichen sowie theologischen Implikationen Hübenthal, Hexenschuss, 615–626, hier 618–625. Vgl. Doering, Schabbat, 465, der wie in Mt 12,11 „an eine abweichende pragmatische kleinbäuerliche Regelung“ denkt. Wahrscheinlich liegt auch hier eine Form von Arbeitsunfähigkeit vor, doch steht sie nicht im Mittelpunkt der Perikope. Doering, Schabbat, 460. Vgl. auch Doering, Schabbat, 466. Vgl. zur Diagnose der ‚Wassersucht‘ die Überlegungen bei Le Roux, Durst, 631f. Neben ‚Sohn‘ (υἱός) gibt es auch wichtige Textzeugen für die Variante ‚Esel‘ (ὄνος). Zur Textkritik an dieser Stelle vgl. bspw. Eckey, Lukas, 648 mit Anm. 451, der sich wie auch Bovon, Lukas, 477f. für den ‚Sohn‘ als lectio difficilior entscheidet. Vgl. auch Doering, Schabbat, 458f. zur möglichen Redaktionsgeschichte dieses Verses. Vgl. zur Rettung von Menschen aus Brunnen o.ä. am Schabbat als Ausdruck von Piqquach Nefesch die Verweisstellen bei Doering, Schabbat, 201–204. Vgl. zur Deutung der Heilung als Lebensrettung auch Bovon, Lukas, 478, der allerdings keine Differenz zwischen Mensch und Tier erkennen lässt, obgleich das Prinzip des Piqquach Nefesch nur auf die

Steffen Leibold

148

die Näherbestimmung des Menschen als Sohn auch die sozialen Verbindungen eines Menschen in den Blick genommen, die auch ökonomische Auswirkungen haben können: Ohne einen Sohn ist die eigene Versorgung im Alter gefährdet.88 Über diesen Zugang lassen sich im Gegensatz zu Lk 13,10–17 Verbindungslinien zur Rettung aus mittelbarer Lebensgefahr der Erwerbslosigkeit in Mk 3,1–6parr. ziehen, wenngleich dieses Motiv allerdings nur in einer deutlich abgeschwächten Form89 hinter der Mischform aus Lk 14,5 erkennbar wird.90

4.

Heilung zur Arbeit

Im Mittelpunkt der Heilungen am Schabbat in Mk 3,1–6parr. steht die Wiederherstellung der Hand als Ausdruck der Existenzsicherung des Menschen. Die Ausdehnung des Prinzips des Piqquach Nefesch auf den Bereich der mittelbaren Lebensgefahr durch eine prekäre ökonomische Lage sowie soziale Ausgrenzung determiniert die Logik der Erzählung, nach der die Frage ins Leere laufen muss,

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90

Rettung von Menschen bezogen wird. Auch bleibt offen, weshalb nun dieses Prinzip bei dem Mann mit der verdorrten Hand angewandt werden kann. Vgl. zur Altersversorgung und zum Problem der ‚Sohnlosigkeit‘ im TaNaCH die Überlegungen bei Frevel, Alter, 38–42. Allerdings ist in Lk 14,5 nicht dezidiert der eine Sohn gemeint. Die Verbindung ergibt sich nur, wenn wie in Mt 14,11 die Heilung der konkreten Erkrankung mit dem Retten des Tieres bzw. des Menschen gleichgesetzt wird (vgl. dazu Kapitel 1). Wird der ‚Wassersüchtige‘ mit dem Tier bzw. dem Sohn der jesuanischen Erklärung aus Lk 14,5 identifiziert, kann über ein Verständnis von ‚Wassersucht‘ als eine Form von Diabetes der Drang zu trinken in den Blick genommen werden, der den Menschen nach Le Roux, Durst, 631 „letztlich umbringt.“ ὑδρωπικός bildet nach Stob. anth. 4,33,31 auch eine Metapher für Gier, die auch für die lukanische Darstellung der Pharisäer in Anschlag gebracht werden kann (Lk 11,37–44; 16,14) – vgl. dazu Le Roux, Durst, 631f. –, sodass die Heilung auch metaphorisch als „Aussicht“ verstanden werden kann, „dass die Pharisäer die Botschaft Jesu hören und auch von ihm geheilt werden“ (Le Roux, Durst, 632). Die Auslegung von Lk 6,6–11 als ein Ausloten der Möglichkeiten der Schabbathalacha ermöglicht es, auch die textkritisch bemerkenswerte Episode in Lk 6,5D als eine Form eines erlaubten Schabbatbruchs zu verstehen, die halachisch begründet sein muss: Weiß der Mensch, was er tut, hat er seine Tätigkeit zuvor halachisch abgesichert; ist das nicht der Fall, ist der am Schabbat Arbeitende ein Übertreter des Gesetzes. Vgl. dagegen Doering, Schabbat, 439f., der dieses ‚Wissen‘ um das Arbeiten am Schabbat nicht halachisch einordnet, sondern mit seiner Vorstellung vom paulinischen Gesetzesverständnis – mit der Gewissheit der Freiheit vom Gesetz gemäß Röm 14,22b.23a – konfiguriert und als weitere Möglichkeit die Vollmacht des Menschensohns als Rechtfertigung für den Schabbatbruch vorschlägt. Gegen die erste Variante einer Verbindung mit Röm 14,22b.23a spricht allerdings jenseits aller möglichen Deutungen des paulinischen Gesetzesverständnisses die unterschiedliche inhaltliche Gestaltung des zweiten Teils des jeweiligen Ausspruchs: Während in Lk 6,5D ein Nicht-Wissen betont wird, ist es in Röm 14,22b.23a ein (aktives) Zweifeln; auch die von Doering zusätzlich herangezogene Stelle Gal 2,17f. lässt den Menschen aktiv sein. Zur zweiten Variante vgl. auch die bei Doering selbst (aaO, 416–423) vorgebrachten Deutungsmöglichkeit des Menschensohnwortes (dort Mk 2,28) als auf den Menschen selbst bezogen.

Mittelbare Lebensgefahr (Mk 3,1–6 par.)

149

warum die Hand nicht an einem anderen Tag ohne die Notwendigkeit einer halachischen Diskussion geheilt worden ist. In dieser Spur können nun weitere Gründe für die Heilung der verdorrten Hand gesucht werden, die sich von der primären Begründung ableiten lassen: Zum einen lässt sich eine arbeitsökonomische Deutung anschließen, nach welcher die Rettung aus mittelbarer Lebensgefahr zur Ermöglichung der ‚Hand‘Arbeit deshalb erfolgt, damit der Mensch am folgenden Tag wieder arbeiten gehen kann. Darauf baut eine kultpraktisch orientierte Deutung auf, nach welcher es die am Schabbat erlangte Fähigkeit, sofort wieder mittels ‚Hand‘-Arbeit für die Sicherung der eigenen Existenz zu sorgen, ermöglicht, alle folgenden Schabbattage wieder bewusst als Tage der Arbeitsruhe halten zu können. Auch eine eschatologische Perspektive wird durch die Fokussierung auf die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit ermöglicht: Der Schabbat als Ausdruck der Vollendung der Schöpfung (Gen 2,2f.) fungierte im antiken Judentum im Rahmen einer Urzeit-Endzeit-Entsprechung der prälapsarischen Welt und der kommenden Heilszeit als eine Art zeichenhafter Vorbote für die zukünftige Welt.91 Durch die Heilung der verdorrten Hand hat Jesus nun den urzeitlichen Menschen wiederhergestellt, der als ein Zielpunkt der zukünftigen Gottesherrschaft gilt.92 Allerdings ist der urzeitliche Mensch nicht ohne Aufgabe: Er sollte im Garten Eden arbeiten (Gen 2,15)!93 Dass diese Wiederherstellung am Schabbat geschieht, kann nun auch dergestalt verstanden werden, dass der Mensch vor dem Schabbat eingeordnet wird,94 wie auch die Menschenschöpfung dem Schabbat vorausgeht.95

91 92

93 94 95

Vgl. bspw. Schaller, Jesus, 146f. zum wöchentlichen Schabbat in seiner Beziehung auf den „einstigen Schöpfungssabbat“ und als „Abbild der endzeitlichen Vollendung“. Vgl. dazu Kollmann, Wundergeschichten, 88f. Vgl. auch Doering, Schabbat, 455, der ohne einen expliziten Verweis auf den Schabbat als besonderen Tag festhält, „daß im Zeichen der Gottesherrschaft in Entsprechung zu den Schöpfungsgegebenheiten (vgl. Mk 2,27[f]) der Mensch mit seinen Bedürfnissen dergestalt in den Mittelpunkt gestellt wird, daß sein Heilwerden, seine Wiederherstellung, nicht der Arbeitsruhe nachgeordnet werden darf.“ Zu Recht plädiert er für eine Zurückhaltung bei der Inanspruchnahme der Urzeit-Endzeit-Entsprechung des Schabbats, „da in keinem Jesus-Logion der Sabbat explizit als Hinweis auf die eschatologische Vollendung interpretiert wird“ (a.a.O., 456). Vgl. generell Westermann, Genesis, 299–302, bes. 302 zur Arbeit als „Bestimmung“ des urzeitlichen Menschen, „wie Gott ihn geschaffen hat“. Vgl. Doering, Schabbat, 416–423 zu Mk 2,27f. So auch Kollmann, Wundergeschichten, 87. Vgl. auch Dietzfelbinger, Sinn, 297, der den Zusammenhang einer Heilung am Schabbat mit dem theologischen Gehalt dieses Tages (im Rahmen seiner eschatologisch ausgerichteten Interpretation) etwas fragender erstellt: „Wenn aber der Sabbat darin seinen Sinn hat, daß der Mensch an ihm in entscheidender Weise Gottes Herrschaft als nahe, befreiende und verpflichtende Herrschaft erfahren soll, muß dann nicht Jesus gerade den Sabbat nutzen als den Tag, an dem er, wenn die Gelegenheit sich ergibt, Gottes Zur-Herrschaft-Kommen demonstriert? Wenn schon der Sabbat in hervorgehobener Weise der Tag Gottes ist – darin stimmt Jesus mit dem zeitgenössischen Judentum überein –, dann muß an ihm auch in hervorgehobener Weise Gottes Werk am Menschen geschehen.“

Steffen Leibold

150

5.

Ermöglichung von Arbeit und Wahrung des Schabbats

Die starke Fokussierung auf die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Menschen als Ausdruck der Rettung aus mittelbarer Gefahr ist im Rahmen fehlender Absicherung bei Arbeitsunfähigkeit in der Antike verständlich. Gegenwärtig ist die Lage weltweit deutlich vielschichtiger, sodass der Schwerpunkt einer Aktualisierung der exegetischen Ergebnisse – besonders in Deutschland mit seiner staatlichen Gewährleistung zumindest eines niedrigen Lebensstandards – ganz allgemein auf dem Einsatz der Kirche als Trägergemeinschaft dieser Perikopen liegen sollte, Arbeit zu ermöglichen. Auch Arbeitslosigkeit bei voller Arbeitsfähigkeit kann sich auf das Leben eines Menschen auswirken: Zwar liegt keine mittelbare Lebensgefahr durch eine fehlende ökonomische Absicherung vor, doch kann sich eine derartige Konstellation insgesamt negativ auf die Person auswirken, wie sie als Referenzpunkt im Zentrum der Schabbathalacha steht. Die explizite Verortung der synoptischen Perikopen im Kontext zeitgenössischer Diskussion um die Wahrung des Ruhetages Schabbat weist auf der anderen Seite darauf hin, dass die Fokussierung auf den arbeitenden Menschen im Rahmen der Schabbatobservanz zu verstehen ist: Mk 3,1–6parr. ist in seinem Einsatz für Arbeitsfähigkeit zugleich ein starkes Plädoyer für eine lebendige Auseinandersetzung mit dem Thema der Ruhe von der Arbeit, bei dem die Kirche noch viel vom Judentum lernen kann und sollte.

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Mittelbare Lebensgefahr (Mk 3,1–6 par.)

151

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Arbeit und Nächstenliebe. Der Durchbruch des Glaubens (Mk 2,1–12) Alexander Weihs

1.

Arbeit in Mk 2,1–12

In Mk 2,3f. wird eindrucksvoll, plastisch und konkret Arbeit beschrieben: Vier Menschen tragen auf einer Pritsche einen Gelähmten herbei (V. 3), sie steigen auf das Dach des Hauses, in dem sich Jesus aufhält, decken das Dach ab, indem sie es aufgraben1, und seilen den auf der Pritsche liegenden Gelähmten in den Innenraum des Hauses ab (V. 4). Dass es sich hierbei um eine ausgesprochen mühevolle Arbeit handelt, die Kraft, Anstrengung und Ausdauer erfordert, wird umso deutlicher, je genauer man sich das in dem Erzählzug vorausgesetzte Bild eines typischen palästinischen Wohnhauses2 vor Augen hält: Ein großer Raum, der von der gesamten Familie bewohnt wurde, wurde von einer einfachen, aber effizienten Flachdachkonstruktion überspannt, deren Gerüst aus Holzbalken und zu diesen Balken quer angeordneten Holzstangen bestand. Die Zwischenräume des Gerüstes wurden durch Flechtwerk aus Ästen, Zweigen und Schilfrohr ausgefüllt, das ganze Gefüge schließlich mit einer etwa 30 cm dicken Lehmschicht überzogen. Das so entstandene Flachdach war begehbar, wurde als Terrasse genutzt und war in vielen Fällen durch eine Außentreppe erreichbar. Der Erzählzug V. 3f. enthält keine Nachricht darüber, auf welche Weise die Gruppe um den Gelähmten auf das Dach gelangt. Die V. 4 genannten Elemente des „Abdeckens“, „Aufgrabens“ und „Hinunterlassens“ lassen dafür aber umso eindrücklicher die Arbeitsvorgänge des mühevollen Aufstemmens der Schicht aus getrocknetem Lehm und Füllmaterial und des Herablassens der Bahre mit dem Gelähmten durch die hierdurch entstandene Öffnung im Dach imaginieren.

1

2

Bei der Mk 2,4 gegebenen Reihung wird die Nachricht vom „Abdecken des Daches“ (ἀπεστέγασαν τὴν στέγην) (Bedeutung in Richtung: „Abtragen“) durch das spezifischere „Aufgraben“ (ἐξορύξαντες) konkretisiert; vgl. vor allem Kiilunen, Vollmacht, 88f.; zudem Ernst, Mk, 86; Lührmann, Mk, 57; Guelich, Mark, 85; Kmiecik, Menschensohn, 239 mit Anm. 14. Die Annahme einer späteren Anpassung des Textes an römische Wohnverhältnisse (palästinisches Lehmdach: ausgraben; griechisch-römisches Ziegeldach: abdecken) – so Maisch, Heilung, 17f.; Gnilka, Mk, 97; u.a. – ist nicht notwendig. Vgl. Rihbany, Sitten, 116–118; Deichmann, Art. „Dach I“, Sp. 517–536, hier bes. Sp. 524– 529; konkret bezogen auf Mk 2,3f. vgl. zudem Pesch, Mk I, 154f. mit Anm. 12; Gnilka, Mk I, 97; Ernst, Mk, 86f.; Schweizer, Mk, 29; Eckey, Mk, 91f.; France, Mark, 123; Légasse, Marc, 168; Dschulnigg, Mk, 92f.

Alexander Weihs

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Das V. 3f. geschilderte Vorgehen der Trägergruppe ist ungewöhnlich und drastisch.3 Der narrative Kontext macht aber deutlich, dass das beschriebene Handeln weder grundlos noch unüberlegt erfolgt: Die Aktion der Gruppe zielt darauf, den Hilfsbedürftigen – der den Weg nicht selbst bewältigen kann – zu Jesus zu bringen, von dem die Heilung des Gelähmten erwartet wird. Und auch das Eindringen über das Dach bleibt im direkten Erzählzusammenhang keineswegs unbegründet: Es ist notwendig, weil eine so große Menschenmenge Jesus umringt und zu ihm drängt, dass der übliche Weg, der durch die Tür des Hauses führen würde, versperrt ist (V. 2 und 4).4 Zwei Aspekte können in Hinblick auf die V. 3f. dargestellte Arbeit schon nach diesen ersten kurzen Erwägungen festgehalten werden. Zum einen, dass in der Aktion der Gruppe um den Gelähmten ein zielgerichtetes und solidarisches Verhalten vor Augen gestellt werden soll. Zum anderen, dass die konkrete Gestaltung der Verse 3f. darauf ausgelegt ist, die Dynamik, die Energie, die Entschlossenheit und den unerschütterlichen Willen der Handelnden zu betonen. Beide Aspekte spielen eine wichtige Rolle, wenn man nach weiteren Bedeutungen und Konnotationen fragt, die der Arbeit der Träger (V. 3f.) vom Gesamt der Erzählung Mk 2,1–12 und im Licht des Erzählganzen des Markusevangeliums zuwachsen.

2.

Der Text von Mk 2,1–12

Der Text von Mk 2,1–12 lautet5: [1] Und er ging wieder hinein nach Kafarnaum nach (einigen) Tagen, (und) es wurde bekannt, dass er im Haus ist. [2] Und es versammelten sich viele, so dass kein Platz mehr war, nicht einmal vor der Tür. Und er redete zu ihnen das Wort. [3] Und sie kommen (und) bringen zu ihm einen Gelähmten, getragen von Vieren. [4] Und da sie (ihn) nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach ab, wo er war, (sie) gruben es auf (und) ließen hinab die Pritsche, auf der der Gelähmte lag. 3

4

5

Unter dem Gesichtspunkt praktischer Realisierbarkeit ist die Szene des Aufbrechens des Daches, während sich Menschen im Haus befinden, die sich zudem nicht einmal von den Abrissarbeiten stören lassen, als kaum wahrscheinlich einzuschätzen; vgl. Haenchen, Weg, 100f.; Pesch, Mk I, 154f.; Ernst, Mk, 86f.; Schweizer, Mk, 29; Eckey, Mk, 91f.; France, Mark, 123; Rose, Theologie, 182f. Das Erzählmoment steht ganz im Dienst seiner narrativen Absicht, die Entschlossenheit und den unbedingten Willen der Handelnden zu unterstreichen; vgl. Kampling, Israel, 74f. mit Anm. 62. Im Markustext ist das Vorgehen der Träger durch den Hinweis auf die nicht durchdringbare Menschenmenge, die den Eingang versperrt, eindeutig motiviert (V. 4: διὰ τὸν ὄχλον; vgl. zudem V. 2). Selbst wenn diesem Erzählzug ursprünglich das Motiv der Überlistung eines Krankheitsdämons im Hintergrund gestanden haben sollte (so Jahnow, Abdecken, 155–158; Kertelge, Wunder, 77; Böcher, Christus, 72 [mit Anm. 488] und 78–79; Gnilka, Mk I, 97–99): im Text auf der Markusebene ist davon nichts (mehr) zu bemerken; vgl. zu dieser Einschätzung u.a. Pesch, Mk I, 154 mit Anm. 10; Ernst, Mk, 86; Kiilunen, Vollmacht, 103f.; Kampling, Israel, 68; Eckey, Mk, 91f.; Dschulnigg, Mk, 92f. mit Anm. 84. Die hier von mir vorgeschlagene Übersetzung möchte sich dem griechischen Originaltext möglichst eng anschließen, gleichzeitig einen im Deutschen lesbaren Text bieten.

Arbeit und Nächstenliebe (Mk 2,1–12)

155

[5] Und als Jesus ihren Glauben sah, sagt er (zu) dem Gelähmten: „Kind, deine Sünden sind vergeben.“ [6] Es saßen aber dort einige von den Schriftgelehrten und überlegten in ihren Herzen: [7] „Was redet dieser so? Er lästert! Wer kann Sünden vergeben außer dem einen Gott?“ [8] Und sofort erkannte Jesus in seinem Geist, dass sie so bei sich überlegen, (und) sagt (zu) ihnen: „Warum überlegt ihr dies in euren Herzen? [9] Was ist leichter, dem Gelähmten zu sagen: ‚Deine Sünden sind vergeben’, oder zu sagen: ‚Steh auf, nimm deine Pritsche und geh umher’? [10] Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf der Erde“ – sagt er (zu) dem Gelähmten: [11] „Ich sage dir, steh auf, nimm deine Pritsche und geh hin in dein Haus.“ [12] Und er stand auf, nahm sofort seine Pritsche und ging hinaus vor allen, so dass alle außer sich gerieten und Gott priesen und sagten: „So etwas haben wir noch nie gesehen“.

3.

Exegetische Basisdaten

Die aktuelle Markusforschung nimmt für Mk 2,1–12 mehrheitlich einen recht komplexen literarischen Entstehungsprozess an. Ohne dass sich bisher ein Forschungskonsens abzeichnen würde, kann traditions- und redaktionsanalytisch zumindest so viel gesagt werden, dass Vieles für eine Rekonstruktion der Genese des Stücks spricht, nach der eine ursprüngliche Heilungsgeschichte durch einen streitgesprächsartigen Einschub erweitert wurde, der seinerseits wiederum ein (wohl als traditionell einzuschätzendes) Menschensohnwort integrierte.6 Als Ergebnis dieses Wachstumsprozesses entstand in Mk 2,1–12 ein Erzählstück, das sich einer eindeutigen Gattungszuordnung widersetzt. Vielmehr prägen hier wundergeschichtliche, streitgesprächsartige und apophthegmatische Elemente und Abschnitte eine Mischform individuellen Charakters. Dieser Charakter als Mischgattung wird auf der Ebene des Markusevangeliums noch dadurch unterstrichen, dass der Evangelist unter Beibehaltung der wundergeschichtlichen Gattungselemente doch zugleich zu erkennen gibt, dass er das Erzählstück 2,1– 12 – zumindest auch, wenn nicht vor allem – als ein Streitgespräch verstanden wissen will. Denn im Rahmen seiner Evangeliumskomposition bildet die Perikope 2,1–12 den Auftakt zu einer ganzen Reihe von (insgesamt fünf) Streitgesprächen, die erst mit Mk 3,6 endet.

4.

Detailauslegung: Abschnitt-für-Abschnitt

1. Abschnitt (Verse 1–2): Der Eingang des Stücks entwirft den szenischen Rahmen. V. 1 liefert die Informationen, die es möglich machen, die nachfolgend berichtete Handlung zeitlich 6

Vgl. hierzu bes. Scholtissek, Vollmacht, 147–166 und Kampling, Israel, 66–72.

Alexander Weihs

156

und lokal einzuordnen: Nach einer längeren Verkündungstätigkeit in Galiläa (vgl. Mk 1,35–39; 1,40–45) kehrt Jesus wieder nach Kafarnaum zurück. Mit dem kleinen griechischen Wort πάλιν („wieder“) stellt Markus die Verknüpfung zu Jesu früherem Aufenthalt in Kafarnaum her (vgl. Mk 1,21–34): Jesus hatte dort gelehrt, Besessene und Kranke geheilt und großen Zulauf von den Menschen der Stadt erhalten. Sobald sich herumspricht, dass Jesus wieder da ist, kommt es zu einem so großen Andrang von Leuten (vgl. Mk 1,33), dass nach der plastischen Schilderung von Vers 2 bei Jesus kein Platz mehr vorhanden ist – nicht einmal vor der Tür des Hauses. Jesus reagiert auf diese Ansammlung, indem er zu den Menschen „das Wort“ redet, das heißt: ihnen seine Botschaft des kommenden Gottesreiches verkündet. Durch diese Kennzeichnung wird auch das in den folgenden Versen berichtete Handeln Jesu – das sündenvergebende Wort und die Heilung – der Verkündigung Jesu zugeordnet, die in Wort und Tat geschieht.

2. Abschnitt (Verse 3–4): Die Verse 3f. bringen mit dem Eintreffen neuer Handlungsträger eine wesentliche Änderung der Szenerie, wobei – durch gattungstypische einleitende und expositionelle Elemente angezeigt – sich eine Wundererzählung anbahnt und zunehmend entwickelt wird: Ein Gelähmter wird von vier Helfern herbeigetragen. Da sie aber wegen der dichtgedrängten Menge nicht durch die Tür bis zu Jesus gelangen können, steigen sie auf das Lehmdach des Hauses, decken es ab, indem sie ein Loch hineingraben, und lassen durch dieses Loch den Gelähmten auf seiner Pritsche hinab zu Jesus. Nach dem wundermotivlichen Schema Gerd Theißens entspricht dieser – hier breit entfaltete – Erzählzug dem gattungstypischen Erschwernis-Motiv.7 In den außergewöhnlichen Anstrengungen, die notwendig sind, um den Kranken zum Wundertäter zu bringen, spiegelt und äußert sich das feste Vertrauen in dessen Heilfähigkeiten. Zugleich ersetzt die anschauliche Schilderung der beschwerlichen Annäherung an den Wundertäter die sonst in Wundergeschichten häufig vorzufindende ausdrückliche Heilungsbitte.

3. Abschnitt (Vers 5): V. 5 berichtet die Reaktion Jesu auf diese grundlegende Vertrauensäußerung. Jesus sieht, erkennt und beurteilt das Verhalten der Gruppe um den Gelähmten als „Glauben“, wobei der Gelähmte in diese Bewertung miteingeschlossen ist. Der ganze Zusammenhang lässt erwarten, dass Jesus nun – im direkten Anschluss – ein Heilungswort sprechen wird. Vor diesem Hintergrund kommt das – nun tatsächlich folgende – Wort der Sündenvergebung für den Leser überraschend. Jesus sieht nicht allein auf das körperliche Leiden des Hilfesuchenden, sondern richtet seinen Blick auf das Ganze des Menschen. Die Anrede τέκνον, „(mein) Kind“ hebt die nahe Beziehung zwischen Jesus und dem Angesprochenen hervor. Der 7

Vgl. Theißen, Wundergeschichten, 62; zudem auch Kampling, Israel, 68, 74f.

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Zuspruch „Kind, deine Sünden sind (dir) vergeben“ ist passivisch formuliert; als Passivum divinum verstanden, verweist diese Formulierung darauf, dass „Gott als eigentlicher Urheber“8 der Vergebung zu sehen ist. Zugleich weist die gewählte Zeitform (im Griechischen: aoristisches Präsens) auf die Sicherheit der schon gegenwärtig sich vollziehenden Sündenvergebung hin. Damit ist implizit im Vergebungswort Jesu „der Anspruch erhoben, verbindlich für und über Gott zu reden“9. In der narrativen Anlage der Erzählung kommt dem Vergebungszuspruch eine wichtige Scharnierfunktion zu, denn er bildet den Ansatzpunkt für die nachfolgend berichtete streitgesprächsartige Auseinandersetzung. Die Heilungsgeschichte biegt von hier aus in eine Streitszene um.

4. Abschnitt (Verse 6–7): Die Erzählabschnitte 4 (V. 6–7) und 5 (V. 8–10a) gehören eng zusammen. Sie werden eingeleitet von dem unvermittelten Auftreten einiger Vertreter aus der Gruppe der Schriftgelehrten. Berichtet wird ihre Reaktion auf den sündenvergebenden Zuspruch Jesu: Sie sitzen da und überlegen in ihren Herzen, wobei der Erzähler ihre auf der Handlungsebene stumm bleibenden Gedanken im Vers 7 in direkter Rede anführt – und damit den Leserinnen und Lesern zur Kenntnis bringt. Der (formal in drei Anläufen vorgetragene) Vorwurf der Schriftgelehrten ist von großer Tragweite und richtet sich nicht nur gegen Jesu Handeln, sondern auch gegen seine Person: Sie beurteilen Jesu Wort der Sündenvergebung als Gotteslästerung und begründen ihr Urteil damit, dass es einzig und allein Gott vorbehalten ist, Sünden zu vergeben.10 Sie werten Jesu Handeln also als frevlerische Anmaßung eines Vorrechts Gottes und damit als Blasphemie. Die Schwere ihrer Anschuldigung wird daraus ersichtlich, dass Gotteslästerung in der Tora mit der Todesstrafe belegt ist (vgl. Lev 24,11–16; Num 15,30f.).

5. Abschnitt (Verse 8–10a): Die Verse 8–10a schildern – breit ausgeführt – die Antwort Jesu darauf. In seinem Geist (vgl. Mk 1,10) hat Jesus die Gedanken der Schriftgelehrten sofort erkannt. Er wendet sich an sie, indem er sie nach dem Grund fragt, warum sie so in ihren Herzen überlegen. Damit legt Jesus den bisher sich im Verborgenen abspielenden Konflikt offen. Die Frage Jesu (V. 9), welches Wort leichter zu sagen sei, das der Sündenvergebung oder das der Heilung, ist nicht als eine wirkliche Alternativfrage zu betrachten, sondern sie zielt darauf, zu erkennen, dass beide Elemente letztlich auf dieselbe Quelle, denselben Ursprung zurückgehen: nämlich auf Gott. So wie das 8 9 10

Kertelge, Vollmacht, 210. Kampling, Israel, 77. Die Auffassung von Sündenvergebung als exklusiver Prärogative Gottes entspricht der gängigen theologischen Einschätzung des Judentums der Zeit. Zum Hintergrund vgl. auch Jes 43,25; 44,22; Ps 103,3; 130,4.

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eigentliche Subjekt der Sündenvergebung Gott ist (vgl. auch das Passivum divinum in Vers 5), so kann auch keine Heilung ohne den Willen Gottes geschehen. Der Vers 9 legt demnach implizit nahe, zu erkennen, dass Jesu Handeln – sowohl in seinem heilenden als auch in seinem versöhnenden Wirken – auf göttliche Vollmacht zurückgeht und auf göttlicher Vollmacht gründet. Eben dies wird im folgenden Teilvers 10a im Munde Jesu noch einmal explizit ausgedrückt: In dem Wort „der Menschensohn hat Vollmacht, Sünden zu vergeben auf der Erde“ spiegelt sich der Anspruch Jesu, gegenwärtig – hier und jetzt – die Sündenvergebung Gottes wirksam zuzusprechen, weil er sich einig weiß mit Gottes Willen und weil er von Gott zu eben diesem Handeln beauftragt worden ist. Mit dieser Antwort ist – in der Sicht des Evangelisten – auch über den Blasphemie-Vorwurf der Schriftgelehrten (aus Vers 7) endgültig entschieden: Er geht ins Leere; er ist vollkommen unsinnig. Mit diesem Aufweis der Rechtmäßigkeit seines Anspruches lässt es Jesus in der Darstellung des Markus allerdings nicht bewenden, sondern er wirbt weiterhin um die Anerkennung seiner göttlichen Bevollmächtigung. Das „Damit ihr aber wisst …“ aus Vers 10a weist erneut darauf hin, dass es darum geht, im Handeln Jesu – das heißt: in der nun unmittelbar bevorstehenden Heilung des Gelähmten – seine göttliche Beauftragung zu erkennen. Folgerichtig nimmt der nächste Abschnitt den Pfad der Heilungsgeschichte wieder auf, der mit Vers 6 verlassen wurde.

6. Abschnitt (Verse 10b–11): Die erneute Zuwendung Jesu zu dem Kranken wird durch den szenischen Kommentar des Erzählers „sagt er zu dem Gelähmten“ (V. 10b) deutlich gemacht.11 Jesus spricht nun (V. 11) genau das Heilungswort, das schon in V. 5b zu erwarten war. Betont sind dabei sowohl die Person Jesu als auch die Person des Angesprochenen. Auf das einleitende Machtwort im Indikativ folgen drei Imperative: „Ich sage dir, steh auf, nimm deine Pritsche und geh hin in dein Haus.“

7. Abschnitt (Vers 12): Der die Erzählung abschließende Vers akzentuiert in seinem ersten Teil die Unmittelbarkeit und die Sicherheit der eintretenden Heilung. Die Feststellung und Demonstration der Gesundung geschieht exakt in den im Heilungswort Jesu (V. 11) vorgegebenen Elementen: Der Gelähmte steht auf, nimmt seine Pritsche und geht vor aller Augen hinaus. Die am Schluss berichtete Reaktion der umstehenden Menge ist in den Augen des Markus die sachgemäße Reaktion auf das Geschehene. Ihr Außer-sich-Geraten ist Ausdruck der Außerordentlichkeit des Erlebten (vgl. 5,42; 6,51). Wenn diese Admiration in den Lobpreis Gottes mündet, so ist 11

Zur Deutung vgl. Klostermann, Mk, 23; Wolter, Ihr, 270f., 274f.; Dschulnigg, Mk, 91, 95.

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damit zu erkennen gegeben, dass die Menge in der vergebenden und heilenden Handlung des Menschensohnes letztlich Gott selbst am Werk sieht. Die Akklamation wird durch eine kurze direkte Rede, die als kollektive Äußerung der Menge vorgestellt ist, noch weiter ausgeführt und expliziert. In ihr wird die Einzigartigkeit der in dem vollmächtigen Handeln Jesu sichtbar gewordenen Autorität in Schlussstellung nochmals hervorgehoben. Die Leute sagen zueinander: „So etwas haben wir noch nie gesehen“. Der synchronische Durchgang durch die Perikope kann (bei aller Kürze) veranschaulichen, dass die markinische Gestalt der Erzählung – formal wie inhaltlich – weitaus geschlossener ist, als man das – vor dem Hintergrund der eher verwickelten Entstehungsgeschichte des Erzählstücks – zunächst vermuten würde. Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man einen motivlichen Zug der Erzählung genauer in den Blick nimmt, dem m. E. in vielen Auslegungsvorschlägen von Mk 2,1–12 ein weitaus zu geringes Gewicht beigemessen wird.

5.

Motivanalytische Vertiefung: Der Begriff „καρδία“ und seine Bedeutung in Mk 2,1–12

5.1.

Der Begriff „καρδία“ im biblischen Sprachgebrauch

In Mk 2,6 und in Mk 2,8 ist davon die Rede, dass die Schriftgelehrten „in ihren Herzen“ überlegen. Gleich zweimal ist damit im Kern der Erzählung das Motiv des Herzens, griechisch „καρδία“ angesprochen. Ich bin der Ansicht, dass in vielen Kommentaren und Fachstudien zu Mk 2,1–12 diesem Aspekt weitaus zu wenig Beachtung geschenkt wird.12 Der biblische Befund weist nämlich die hebräische Vokabel „‫( “לב‬lēb) („Herz“) bzw. das griechische Pendant „καρδία“ (kardịa) als zentrale anthropologische Begrifflichkeiten aus. Für das Verständnis wesentlich ist, dass – vom Alten Testament ausgehend – „Herz“ nicht nur auf den Bereich emotionaler Zustände verweist, sondern dass nach biblischer Auffassung das „Herz“ auch der Sitz von Denken und Urteilen, von Planen und Wollen ist. Das „Herz“ ist in diesem Sinne das wichtigste noëtische Erkenntnisorgan des Menschen, in dem er

12

Die geringe Beachtung der καρδία-Motivik kann nicht zuletzt dadurch illustriert werden, dass in manchen aktuellen Übersetzungen von Mk 2,1–12 die Begrifflichkeit regelrecht ausgeblendet wird: So kommt z.B. die Einheitsübersetzung (Stuttgart 1980) in ihrer Übertragung von Mk 2,6 ganz ohne die Vokabel „Herz“ aus. Und auch nicht wenige Spezialstudien zu Mk 2,1–12 bieten hier abgeschwächte Übertragungen wie: sie „dachten (bei sich)“ oder sie „dachten im stillen“ (vgl. Haenchen, Weg, 99; Maisch, Heilung, 11; Dormeyer, Analyse, 68f.); analog im Englischen z.B. Hooker, Mark, 83; analog im Französischen z.B. Lamarche, Marc, 92. Das wird m. E. der Bedeutung dieses Motivs nicht gerecht.

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auch seine Entscheidungen trifft.13 Über diese wesentlichen Funktionen hinaus wird „Herz“ in vielen biblischen Texten sogar regelrecht als die „Mitte“, das „innerste Zentrum“ des Menschen begriffen.14 Als „innerste Mitte“ des Menschen bildet das Herz dementsprechend auch den zentralen Ort der Gottesbegegnung, das heißt den Ort, der über das Verhältnis des jeweiligen Menschen zu Gott bestimmt.15 Zwei Teilaspekte aus dem weiten Feld der biblischen Herzens-Motivik scheinen mir für Mk 2,1–12 von besonderer Relevanz zu sein. Zum einen das Verständnis von „Herz“ als Mitte des Menschen, zum anderen das biblische Motiv von der Herzenskenntnis Gottes. Diesem letzteren Teilaspekt soll zuerst die Aufmerksamkeit gelten.

5.2.

Das Motiv der Herzenskenntnis (Gottes) – allgemein

Im biblischen Denken ist die Auffassung unbestritten, dass Gott die Herzen der Menschen kennt. Er kann den Menschen ins Herz blicken, er erkennt alle Regungen der Herzen. Das heißt: Gott weiß, was im „Innersten“ der Menschen vorgeht, er kennt ihre Gedanken, er weiß um ihr Planen und Wollen.16 In diesem Sinne konstatiert 1 Chron 28,9: „ … der Herr erforscht alle Herzen und kennt jedes Sinnen der Gedanken.“ 1 Sam 16,7 hält fest: „Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der Herr aber sieht das Herz“. Und das Buch der Sprichwörter (Spr 15,11) steigert: „Totenreich und Unterwelt liegen offen vor dem Herrn, wie viel mehr aber die Herzen der Menschen.“ Im biblischen Denken gilt aber auch: Nur Gott hat Einblick in die Herzen (so ausdrücklich: 1 Kön 8,39). Menschen ist diese Fähigkeit der Kardiognosie, der Herzenskenntnis verschlossen.

5.3.

Das Motiv der Herzenskenntnis (Jesu) – in Mk 2,1–12

Vor diesem Hintergrund ist es äußerst bemerkenswert, dass in Mk 2,8 diese Fähigkeit der Kardiognosie Jesus zugeschrieben wird: Jesus kann die Gedanken der 13

14

15 16

Vgl. z.B. Gen 17,17; Ex 35,21; Dtn 8,5; 15,9; 29,3; 30,14; 1 Sam 27,1; 2 Sam 7,3; 1 Kön 3,9.12; 8,17f.; Hiob 12,3; 34,10; Ps 10,6.11; 20,5; 27,8; 44,22; 49,4; 77,7; Spr 6,18; 7,3; 10,8; 19,21; Sir 17,6; 33,5; 37,12; 37,17f.; Jes 10,7; Ez 38,10; 40,4; 44,5; Dan 2,30. Vgl. z.B. in Verständnisrichtung „Mitte“: Dtn 11,18; 1 Sam 16,7; 1 Kön 8,39; 1 Chron 28,9; Ps 28,7; 33,21; 64,8.11; Spr 15,11; Hld 3,11; Jer 17,9f.; 31,33; Ez 11,19; 18,31; 36,26f.; in Verständnisrichtung „Seele, Gewissen“: 1 Sam 24,6f.; 2 Sam 24,10; Ps 51,12; 51,19. Vgl. z.B. Ex 9,34f.; Dtn 6,4f.; 30,6f.; 1 Chron 28,9; Ps 9,2; 27,8; 28,7; 33,21; 44,21f.; 86,12; Jes 6,9f.; 29,13; Jer 4,4; 31,33; Ez 2,4. Vgl. hierzu exemplarisch: alttestamentlich 1 Sam 16,7; 1 Kön 8,39; 1 Chron 28,9; Ps 7,10; 26,2; 44,22; 139,1f.; Spr 15,11; Sir 42,18ff.; Jer 11,20; 17,9f.; 20,12; neutestamentlich Lk 16,15; Röm 8,27f.; 1 Thess 2,4; Offb 2,23 (hier auf den endzeitlichen Gottessohn bezogen). Darüber hinaus: Gott als „Herzenskenner“, καρδιογνώστης: Apg 1,24; Apg 15,8; vgl. zudem auch Jesu „Durchschauen“ mit prophetischer Kraft: Lk 7,36–50; Joh 4,5–42.

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Herzen der Schriftgelehrten erkennen und sie mit eben diesen Gedanken konfrontieren. Dieses narrative Detail unterstützt zum einen die allgemeine christologische Linie des Erzählstücks, die daran interessiert ist, die besondere Vollmacht und Würde Jesu zu erweisen. Die Befähigung zur Herzenskenntnis Jesu ist in diesem Sinne als Teil seiner allgemeinen Vollmacht aufzufassen. Zum anderen setzt dieses erzählerische Detail auch in Hinblick auf die spezifischere Frage nach der Vollmacht Jesu zur Sündenvergebung eine interessante implizite Pointe. Wenn die Schriftgelehrten in Vers 7 Jesus der Gotteslästerung beschuldigen, weil er sich ein Vorrecht anmaße, das nur Gott zukommt, so gibt der Vers 8 auf diesen Vorwurf – erzählerisch geschickt – eine erste Antwort, indem – wie selbstverständlich – darauf hingewiesen wird, dass Jesus die Befähigung der Herzenskenntnis besitzt, die ja ebenfalls nur Gott zukommt. Die in Vers 10 gegebene endgültige Antwort, die Jesu sündenvergebendes Handeln mit der gottgegebenen Vollmacht des Menschensohnes begründet, ist hier also bereits vorbereitet.17 Damit sind die Implikationen der Herz-Motivik aber noch lange nicht ausgeschöpft. Es gibt noch einen weiteren Aspekt, der sogar noch stärker zur inneren Integration der Erzählung beiträgt.

5.4.

Das Herz als Mitte des Menschen und Ort der Gottesbeziehung – in Mk 2,1–12

Auf der Basis der Grundanschauung, nach der das „Herz“ die eigentliche „Mitte des Menschen“, sein „inneres Zentrum“ bildet, wachsen den Versen 6 bis 8 der Erzählung nochmals weitere Konnotationen zu. Unter Einbeziehung dieses Aspektes wird nämlich umso deutlicher, dass die Distanzierung der Schriftgelehrten über die strittige Sachfrage hinaus eine weitaus grundlegendere und auch persönlichere ist. Sie nehmen „in ihrem Herzen“, also in ihrem „Innersten“ Abstand zu Jesus, seinem Handeln und seiner Botschaft. Unterstrichen wird dies durch das direkte Umfeld: Das „Überlegen“ in ihren Herzen ist in den Versen 6 bis 8 dreimal mit dem griechischen Verb διαλογιζόμαι ausgedrückt, das im Sprachgebrauch des Markus nicht ein neutrales Abwägen, sondern ein inhaltlich unangebrachtes, zumindest aber fragwürdiges Denken bezeichnet.18 Wenn die Schriftgelehrten im ersten Teil ihres Gedankengangs (V. 7a) Jesus als „dieser da“ (griechisch: οὗτος) kennzeichnen, so hat das einen erkennbar abschätzigen Beiklang. Die Härte der Anschuldigung gegen Jesus: „Blasphemie“ (V. 7b) macht diesen Eindruck der inneren Distanzierung komplett. In dieser Haltung der inneren Distanzierung, der Abgrenzung, der Nicht-Anerkennung des Anspruchs und der Handlungsweise Jesu stellen die Schriftgelehrten das genaue Gegenbild zu der Haltung der Gruppe um den Gelähmten dar. Die 17 18

Zur besonderen erzählerischen Bedeutung des Elements der Kardiognosie vgl. den Hinweis von Kampling, Israel, 81. Vgl. bei Gegnern: Mk 11,31; bei Jüngern: Mk 8,16.17; 9,33; vgl. auch das Substantiv διαλογισμός in Mk 7, 21f.: „schlechte Gedanken“.

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Feststellung dieses – offenbar bewusst gestalteten – Kontrastes gibt Anlass dazu, das Augenmerk erneut auf die Handlungsträger der Erzählung zu lenken.

6.

Analyse der Akteure – und ihres unterschiedlichen Verhaltens

Die Verse 3 und 4 schildern das Verhalten der Gruppe um den Gelähmten, das in Vers 5 ausdrücklich als „Glaube“ qualifiziert wird. Damit korrespondiert – raumsymbolisch aufschlussreich – die Bewegungsrichtung der Gruppe: Sie bewegt sich immer auf Jesus zu, ungeachtet aller Hindernisse, die diese Annäherung möglicherweise verhindern könnten. Dargestellt wird die vertrauensvolle und entschiedene Bewegung hin zu Jesus (V. 3 ausdrücklich: πρὸς αὐτὸν, „zu ihm“). Auf der Ebene der Raummetaphorik gesprochen, heißt das: Innere und äußere Bewegung entsprechen sich. Stellt man zudem in Rechnung, dass in Vers 2 betont von der Wort-Verkündigung Jesu die Rede ist, so wird man das Verhalten der Gruppe um den Gelähmten durchaus auch als direkte Antwort auf die von Jesus verkündete Botschaft verstehen können. Ganz anders die Verse 6 und 7. Hier findet sich das genaue Gegenbild. Am Verhalten der Schriftgelehrten zeigt Markus, was für ihn „Unglaube“ ist: Die Distanzierung von Jesus, von seinem – nach Gottes Willen geschehenden – Handeln, von seiner darin zum Ausdruck kommenden Botschaft, die ein Gottesbild transportiert, das die Schriftgelehrten zu teilen nicht gewillt oder im Stande sind. Der inneren „Unbeweglichkeit der Herzen“ entspricht die äußere Darstellung der Schriftgelehrten: Ihre Haltung ist vollkommen statisch. Sie bewegen sich nicht. Sondern sie „sitzen“, wobei die griechische Vokabel κάθημαι sogar noch ein besonders hoheitsvolles Sitzen, also eine auf Distanz bedachte Haltung bezeichnen kann.19 Der im Vers 7 wiedergegebene innere Monolog führt unmissverständlich vor Augen: Die Schriftgelehrten „glauben“ der Verkündigung Jesu, auch seiner sündenvergebenden Tatverkündigung, nicht. Sie verschließen sich seinem Anspruch. Im Rahmen der Gesamterzählung Mk 2,1–12 sind die beiden Abschnitte V. 3f. und V. 6f. – als Darstellungen von „Glaube“ und „Unglaube“ – einander gewissermaßen antithetisch zugeordnet20: Wie die Herzen der Schriftgelehrten auf Distanz zu Jesus gehen, so ergibt sich spiegelbildlich für die Menschen um den Gelähmten, dass sie jegliche Distanz zu Jesus überwinden. Die Darstellung der Haltung der Schriftgelehrten als Unglaube wird im Gesamt der Perikope 2,1–12

19

20

Zum Beispiel in Richtung „thronen“; vgl. Bauer, Wörterbuch, Sp. 789f. Mit Eckey, Markus, 93 kann zudem darauf aufmerksam gemacht werden, dass auch die der Gruppe der Schriftgelehrten zugeordnete räumliche Partikel ἐκεῖ/, „dort“ (V. 6) einen „Hinweis auf Ferne“ darstellt. Vgl. Söding, Glaube, 409f.; Scholtissek, Vollmacht, 161, 168f., 172f.; Kampling, Israel, 78, 86; Kmiecik, Menschensohn, 251, 253; auch Rose, Theologie, 179f., 186, 200, 203f.

Arbeit und Nächstenliebe (Mk 2,1–12)

163

noch durch die Schilderung des Verhaltens der „Menge“ (V. 2 und 12) untermauert: Denn die „Volksmenge“ strömt auf Jesus zu (V. 2), wird Zeuge der Wort- (V. 2) und Tatverkündigung Jesu (V. 5–12a), erkennt in diesem Handeln Jesu das Wirken Gottes und gibt dieser Erkenntnis in einem Lobpreis Gottes explizit Ausdruck (V. 12b). Das entspricht auch einer wesentlichen allgemeinen Darstellungslinie des Evangelisten, der auch an anderen Stellen das Volk gegen die religiösen Autoritäten auf der Seite Jesu zeigt, vgl. Mk 11,18; 12,12; 14,2. Die spiegelbildliche Zuordnung der Verse 3f. und 6f. ist hinsichtlich der Interpretation von großer Relevanz, kann m. E. darüber hinaus aber auch als ein wesentliches Strukturmerkmal der Erzählung Mk 2,1–12 angesprochen werden. Dass die Perspektive der Spiegelbildlichkeit auch in diesem Sinne als Mittel zur Entschlüsselung der Perikope angebracht ist, wird noch aus einem weiteren Detail deutlich. Denn auch die Verse 5 und 8 entsprechen sich. Die in Vers 8 für Jesus ausgesagte Fähigkeit der Kardiognosie, der Herzenskenntnis ist nämlich auch schon für Vers 5 vorauszusetzen.21 Wie Jesus in Vers 8 die Vorbehalte der Schriftgelehrten in ihren Herzen lesen kann, so kann er in Vers 5 mit ebensolcher Sicherheit den Glauben des Gelähmten und seiner Träger „sehen“. Er kann ihn „sehen“, weil er – wie Vers 8 ausdrücklich herausstellt – den Menschen in ihre Herzen sehen kann. Und ein letzter Aspekt ist im Zusammenhang der kontrastierenden Zuordnung der Haltungen der Gruppe um den Gelähmten einerseits und der Schriftgelehrten andererseits noch zu bedenken. Markus macht nämlich im Rahmen des Erzählstücks wie auch im Gesamt seines Evangeliums deutlich, dass die Frage einer gläubigen oder ungläubigen Positionsnahme zu Jesus und seinem Anspruch keineswegs neutral, sondern von allerhöchster Bedeutsamkeit ist. Mit den unterschiedlichen Haltungen zu Jesus sind nämlich – nach Ansicht des Evangelisten – höchst divergierende anthropologische wie eschatologische Folgen verbunden. Die vertrauensvolle, glaubende Haltung des Gelähmten und seiner Träger gegenüber Jesus und seiner Botschaft führt zum Heil. Hier – im Rahmen von Mk 2,1–12: zur vollkommenen Herstellung der körperlichen und seelischen Integrität des (hilfsbedürftigen) Menschen (vgl. V. 5 und 11f.). Mit der Distanzierung von Jesus und seinem Anspruch ist dagegen Unheil verbunden, was Markus in Hinblick auf die Gestalten der Schriftgelehrten im Gesamt seines Evangeliums sukzessive verdeutlicht: Die Ablehnung Jesu führt die Schriftgelehrten zu ihrer bösen Absicht, gegen Jesus vorzugehen, ihn zu töten22 Dieses Vorgehen gegen Jesus

21

22

Dieses wurde in der bisherigen Forschung zum Text häufig übersehen. Vgl. aber den auf V. 5a bezogenen Hinweis von Kampling, Israel, 75 Anm. 63: „Indirekt wird hier bereits die Kardiognosie [V8a] vorausgesetzt“. Darüber hinaus darf Jesu Fähigkeit der Herzenskenntnis auch als Voraussetzung in Mk 3,1–6 (bes. Mk 3,5) betrachtet werden; vgl. entfernter Mk 5,30; 8,17 und zu dieser Einschätzung auch Scholtissek, Vollmacht, 158, 168 mit Anm. 410. Vgl. Mk 2,7: Vorwurf der Gotteslästerung; Mk 3,22–30: Vorwurf des Satansbündnisses; 12,12 [mit 11,27]: Verhaftungswunsch; 14,1: Tötungsabsicht; 14,43–65: Gefangennahme und Verurteilung Jesu; 15,31: Verspottung Jesu am Kreuz; vgl. zudem 7,5f; 12,38–40. Zum Zusammenhang siehe ausführlich Weihs, Deutung, 538–551; Weihs, Jesus, 143–199. Der in Mk 2,7 (noch im Geheimen) geäußerte Vorwurf der Gotteslästerung ist nach Mk

Alexander Weihs

164

wird aber – so die feste Überzeugung des Evangelisten – für die Schuldigen nicht ohne Folgen bleiben.23

7.

Arbeit und Nächstenliebe

7.1.

Die Arbeit der Helfer (Mk 2,3f.) im Licht von Mk 12,28–34

Vom Gesamt des Markusevangeliums her kann die in Mk 2,1–12 geschilderte Arbeit der Träger (V. 2,3f.) noch exakter eingeordnet und hinsichtlich ihrer Bewertung noch genauer bestimmt werden. Vor allem darf sich hier der Blick auf Mk 12,28–34 richten, wozu nicht nur allgemeine inhaltliche wie kontextanalytische Erwägungen berechtigen, sondern auch die Detailbeobachtung, dass sich mit dem Stichwort καρδία ein wesentlicher anthropologischer Begriff in exponierter Position (und in jeweils gleich doppelter Nennung) in beiden Erzählzusammenhängen (vgl. Mk 2,6.8 sowie 12,30.33) findet. In Mk 12,28–34 wird die folgende Situation vor Augen gestellt: Ein jüdischer Schriftgelehrter hat den Streitgesprächen Jesu mit seinen Gegnern zugehört und dabei Jesus als Lehrer schätzen gelernt. Nun stellt er Jesus die – hinsichtlich jeder Ethik – zentrale Frage (Mk 12,28): „Welches ist von allem das erste (das wichtigste) Gebot?“ Jesus antwortet ihm mit nicht nur einem, sondern mit gleich zwei Tora-Geboten (vgl. Dtn 6,4f.; Lev 19,18), die so eng aufeinander bezogen zu sein scheinen, dass Jesus sie als ein Gebot zur Sprache bringen will (Mk 12,29–31): „Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist (ein) einziger Herr. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und aus deiner ganzen Seele und aus deinem ganzen Denken und aus deiner ganzen Kraft! Das zweite (ist) dieses: Du sollst lieben deinen Nächsten wie dich selbst! Größer als diese ist kein anderes Gebot.“ Betrachtet man Mk 2,1–12 im Licht von Mk 12,29–31, so wird man das in Mk 2,3f. dargestellte solidarische Handeln der Helfer ganz sicher als Verwirklichung der Mk 12,31 (und 12,33) empfohlenen Nächstenliebe sehen dürfen. Anders ausgedrückt: In ihrer Arbeit zeigt, konkretisiert und realisiert sich: Nächstenliebe. Zugleich darf aber auch darauf aufmerksam gemacht werden, dass in Mk 2,1–12 keineswegs offenbleibt, woher die Helfer des Gelähmten und auch der Gelähmte selbst die Motivation für ihr Handeln beziehen: Ausdrücklich hält Mk 2,5 fest, dass Jesus ihren „Glauben sehen“ kann. Narrativ höchst eindrücklich wird in Mk 2,3f. dieser „Glaube“ der Gruppe um den Gelähmten als von nichts und niemandem aufhaltbare Hinwendung zu Jesus ins Bild gesetzt. Vertrauensvoll, engagiert und couragiert wenden sie sich an Jesus, wobei der Evangelist

23

14,64 genau der Anklagepunkt, der in der Verhandlung vor dem Hohen Rat zu Jesu Todesurteil führen wird. Vgl. Mk 12,1–12, bes. 12,9; vgl. 3,22–30; 12,38–40; vgl. zudem Kampling, Israel, 16, 214f. Zur Auslegung der „Parabel von der Tötung des Sohnes“ (Mk 12,1–12) vgl. Weihs, Jesus, 5–173; Weihs, Eifersucht, 5–29.

Arbeit und Nächstenliebe (Mk 2,1–12)

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deutlich macht, dass es sich bei Jesus um niemand anderen handelt als um den vollmächtigen „Menschensohn“ (Mk 2,10), der gekommen ist, den Willen Gottes zu erfüllen. Mk 2,3f. schildert demnach Zweierlei: Zum einen die glaubende Hinwendung zu Jesus, die nach Auffassung des Evangelisten gleichbedeutend ist mit einer ebensolchen Hinwendung zu Gott; zum anderen, dass sich diese Hinwendung zugleich im Modus der Erfüllung eines zentralen Gebotes Gottes (das der Nächstenliebe) vollzieht. Das heißt: Aus dem Mk 2,3–5 Dargestellten ist für die Rezipienten des Markusevangeliums nicht nur Nächsten-, sondern auch Gottesliebe ablesbar. Anders gesagt: Die Mk 2,3f. geschilderte Arbeit darf als Ausdruck von Gottesliebe (sensu Mk 12,29f.) aufgefasst werden. Für das Verhältnis von Mk 12,28–34 und Mk 2,1–12 gibt es demnach zwei „Leserichtungen“: Mk 2,3f. kann als Beispiel dafür verstanden werden, wie sich die Umsetzung von Gottes- und Nächstenliebe – in engster Verwobenheit – konkret vollziehen kann. Und andersherum: Die Erzählung Mk 2,1–12 kann (per Narration) anschaulich machen, woraufhin die Mk 12,31–33 von Jesus ins Licht gesetzte Gottes- und Nächstenliebe letztlich zielen: auf Heil (vgl. Mk 2,5.9–12).24

7.2.

Die Textpragmatik von Mk 2,1–12: Aufruf zum Glauben und Aufruf zum Handeln

Die angestellten Erwägungen zu Inhalt, Mikro- und Makrokontext von Mk 2,1– 12 führen zu dem Ergebnis, dass die Gruppe um den Gelähmten (Mk 2,3f.) in ihrer Haltung und in ihrem Handeln für die Rezipienten des Markusevangeliums ein ausgesprochen attraktives Identifikationsangebot darstellen kann. Dies ist für die Erfassung der Textpragmatik von Mk 2,1–12 von erheblicher Bedeutung. Denn von hier aus zeichnen sich zwei wesentliche Wirkabsichten des Erzählstücks ab. Beide haben Appell-Charakter. Der erste Aspekt: Die Erzählung Mk 2,1–12 will ein Aufruf zum Glauben sein. Betrachtet man die Haltung der Gruppe um den Gelähmten (V. 3–5) als ein vorbehaltloses Sich-wenden an Jesus im sicheren Vertrauen darauf, bei ihm Hilfe zu erlangen, dann ist der so geschilderte Glaube für eine Aktualisierung offen. Der so beschriebene Glaube ist transparent für den eigenen Glauben der Adressaten an (den auferstandenen) Jesus und für ihre eigenen, mit diesem Glauben verknüpften Hoffnungen. Die Erzählung will in diesem Sinne die Adressaten dazu aufrufen, mit ganzer Hingabe und ganzem Vertrauen zu glauben, das heißt: sich so an Jesus zu wenden, wie in der Geschichte der hilfesuchende Gelähmte und die vertrauende Gruppe um ihn sich an Jesus gewendet haben. Der zweite Aspekt: Die Erzählung Mk 2,1–12 will ein Aufruf zum Handeln sein. Betrachtet man das Handeln der Gruppe um den Gelähmten – mit der Erzählung 2,1–12 – als ein Beispiel solidarischen Verhaltens, das als ein solches dem Willen Gottes entspricht und Nächstenliebe verwirklicht, dann ist auch das 24

Es ist kaum überraschend, dass die heilshafte Bedeutung der Orientierung am Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe auch im Kontext von Mk 12,28–34 ausdrücklich herausgestellt ist: Seinem in dieser Hinsicht verständigen schriftgelehrten Gesprächspartner spricht Jesus zu: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes“ (Mk 12,34).

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Verhalten der Gruppe für eine Aktualisierung offen.25 Mk 2,1–12 lädt damit dazu ein, selbst so solidarisch, so nächstenliebend zu handeln. Es bleibt allerdings in diesem Zusammenhang eine wesentliche und sinnreiche Abstufung zu beachten: Nach Mk 2,1–12 ist es Jesus, der es vermag – durch seine göttliche Vollmacht und im Namen Gottes – letztgültig und suffizient Heil zu schaffen (vgl. Mk 2,5.9– 12). Auch wenn dies für die Helfer des Gelähmten nicht möglich ist, so wird in Mk 2,1–12 aber doch erzählt, wie und in welcher Weise sie in ihrem Handeln zu Mitwirkenden des göttlichen Heilshandeln werden. Damit ist an die Adressaten des Markusevangeliums die Frage gestellt, ob auch sie dazu bereit sind, diese Rolle der Mitwirkung im Heilshandeln Gottes anzunehmen. Untermauert und gesichert wird dieser Aufruf zu helfender Solidarität durch die in Mk 2,1–12 gegebene Darstellung des Verhaltens Jesu. Mit Blick eben darauf betont Gerd Theißen: „Wo der Einspruch gegen menschliche Not durch Offenbarung des Heiligen geschieht, da ist deren Beseitigung nicht nur wünschenswert; da ist sie schlechthin verpflichtend.“26 Das heißt: Auch und gerade dann, wenn man die in Mk 2,1–12 geschilderte Zuwendung Jesu zu dem notleidenden Menschen als ein eschatologisches Zeichen für eine noch ausstehende, erfüllte und heile Welt begreift, dann beinhaltet dieses Handeln Jesu für alle, die sich auf ihn berufen, das Moment der Verpflichtung. Die Verpflichtung, sich menschlicher Not so zuzuwenden, wie es Jesus vorgemacht hat. In der Kombination der beiden aufgezeigten Aspekte ergibt sich, dass die Erzählung Mk 2,1–12 nicht nur als ein Appell zum Glauben, sondern auch zum Handeln verstanden werden kann. Oder anders gesagt: Die Erzählung ruft ihre Adressaten dazu auf, ihren Glauben an Christus, ihren Glauben an Gott (der nach Markus mit ganzem Herzen zu lieben ist; vgl. Mk 12,30.33) auch im Sinne der Nächstenliebe (vgl. Mk 12,31.33) umzusetzen und zu leben.

7.3.

Arbeit als Nächstenliebe und Nächstenliebe als Arbeit

Die neutestamentlichen Schriften, auch das Markusevangelium, wollen sinnbeschreibend, sinnstiftend, sinnentwerfend sein. Sie wollen Werte und Normen vermitteln und vor allem für bestimmte Sichtweisen und Standpunkte werben. Das kann zu einem letzten Blick auf die Bedeutung und Bewertung der in Mk 2,3f. geschilderten Arbeit provozieren, der sich in fünf kurzen Gedanken auffächert: a) Die Erzählung Mk 2,1–12 lässt keinen Zweifel daran, was der Arbeit von Mk 2,3f. als Motivationsbasis zugrunde liegt: „Glaube“ (V. 5). In Mk 2,3f. wird demnach äußerst anschaulich und konkret gezeigt, zu welch großem Engagement 25

26

Die Personen um den Gelähmten bieten als „positive Vorbilder“ unterhalb der Ebene Jesu für die Rezipienten des Markusevangeliums ein besonders günstiges Identifikationspotential. Sie gehören (wie der Bettler Bartimäus, der Jesus nachfolgt [Mk 10,46–52], und die Syrophönizierin, die den heilshaften Charakter der Worte Jesu erkennt und voll darauf vertraut [Mk 7,24–30]) zu den „‚kleinen‘ Erzählfiguren“ des Evangeliums, die „jeweils partiell einen Aspekt des Gottesherrschaftsprogramms Jesu in die Tat umsetzen“ (Ebner, Markusevangelium [Einleitung], 164). Theißen, Wundergeschichten, 297.

Arbeit und Nächstenliebe (Mk 2,1–12)

167

und zu welch ungewöhnlichen Lösungen eine entsprechende Glaubensmotivation anregen und befähigen kann.27 b) Aus dem direkten Erzählzusammenhang und aus dem Makrokontext des Gesamtevangeliums wird deutlich: Der in Mk 2,3f. geschilderten Arbeit eignet eine spezifische Würde. Schon im direkten Erzählkontext ist sie positiv konnotiert: Sie resultiert aus der Annahme der Botschaft Jesu (vgl. V. 2), erfolgt im Zuge einer gläubigen Hinwendungsbewegung zu Jesus (vgl. V. 3–5), geschieht als aktiver Einsatz für einen zweifelsfrei Hilfsbedürftigen (vgl. V. 3f.) und führt in ihrer Endperspektive zu einem überwältigenden Erfolg (vgl. V. 5.9–12). Sie kann als Ausdruck von grundlegender Solidarität ebenso gedeutet werden wie als Ausdruck festen Glaubens. Noch stärker betont wird die besondere Dignität der Mk 2,3f. beschriebenen Arbeit, wenn man sie im Licht von Mk 12,28–34 als Konkretion der von Jesus ebenso empfohlenen wie geforderten Gottes- und Nächstenliebe (Mk 12,29–31; vgl. 12,32f.) betrachtet. An der grundlegenden Aussageabsicht besteht demnach kein Zweifel: Der Mk 2,3f. vor Augen gestellten Arbeit ist Achtung entgegenzubringen. Und doch ist darauf hinzuweisen: Die hohe Wertschätzung kommt der Mk 2,3f. geschilderten Arbeit nicht als Arbeit an sich zu, sondern ist im höchsten Maße kontextgebunden, worauf – in den letzten Punkten dieser Erwägungen – noch näher einzugehen ist. c) Betrachtet man das Mk 2,3f. geschilderte Engagement als Verwirklichung von Nächstenliebe, so ergeben sich hinsichtlich des Bezugsverhältnisses der beiden Korrelate zwei grundlegende Perspektiven: zum einen „Arbeit als Nächstenliebe“, zum anderen „Nächstenliebe als Arbeit“. Beide Perspektiven führen weiter. Die Perspektive „Nächstenliebe als Arbeit“ kann dabei zunächst – ganz basal – darauf aufmerksam machen, dass sich Nächstenliebe wirklich und tatsächlich im Modus von Arbeit zeigen kann. Ein zweiter Schritt muss über diese Basisfeststellung aber noch deutlich hinausgehen: Denn Nächstenliebe im Sinne von Mk 12,31.33 wird sich nicht in einer handlungsfernen, bloßen Einstellung, schon gar nicht in einer nur emotionalen Disposition erschöpfen können, sondern ist erst dann richtig verstanden, wenn sie als Bereitschaft zum konkreten und tätigen Einsatz begriffen wird. Dementsprechend plastisch stellt Mk 2,3f. vor Augen, dass ein solcher nächstenliebender Einsatz weder vor Hindernissen noch vor Anstrengung und Mühe zurückschreckt. d) Die Perspektive „Arbeit als Nächstenliebe“ kann dafür sensibilisieren, dass sich keineswegs in jeder Arbeit Nächstenliebe verwirklicht. Arbeit kann aus ganz unterschiedlichen Intentionen heraus erfolgen und ganz unterschiedlichen Zielen – guten wie schlechten – dienen.28 Die Mk 2,3f. geschilderte Arbeit wird erst durch den direkten Erzählzusammenhang eindeutig als positiv identifizierbar und

27

28

Mk 11,23 findet sich die eschatologisch schlüssige Lehre Jesu, nach der ein unerschütterlicher „Glaube“ im „Herzen“ sogar dazu hinreichen könne, einen Berg zu versetzen. In Mk 2,3f. wird zwar nicht vom Versetzen eines Berges erzählt, aber (auf der einfachen Erzählebene: ganz uneschatologisch) immerhin doch davon, dass der Glaube dazu animiert, angeleitet und instandgesetzt habe, ein Dach zu durchbrechen. Ein „Durchbrechen eines Daches“ kann z.B. auch in den Zusammenhang eines Einbruchsdiebstahls oder in den Kontext eines Überfalls gehören.

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ist in ihrer gesamten Tragweite erst im Horizont des Gesamtevangeliums umfassend ausgeleuchtet. e) Damit gilt für die Mk 2,3f. berichtete Arbeit: Sie ist kein Wert an sich, sondern ihr Wert bestimmt sich von den Motivationen her, die ihr zugrunde liegen, und von den Zielen her, die sie verfolgt. Vor diesem Hintergrund kann Mk 2,1–12 von den Rezipientinnen und Rezipienten nicht nur als Appell zu nächstenliebendem Engagement verstanden werden, sondern auch dazu anregen, die (bereits verrichteten oder bevorstehenden) eigenen Arbeiten daraufhin zu befragen, was genau ihnen zugrunde liegt und was genau sie verwirklichen.

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Arbeit und Nächstenliebe (Mk 2,1–12)

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Arbeiter im Weinberg. Der Beruf der Jünger Jesu Esther Brünenberg-Bußwolder

1.

Einführung

„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!“ – so lautet eine Gewerkschaftsforderung aus dieser Zeit. Wer gute Arbeit leistet und zur Stelle ist, wenn man ihn braucht, bekommt dafür auch gutes Geld. Im Umkehrschluss gilt: Wem eine gute Belohnung winkt, der strengt sich offensichtlich mehr an – eine vielfach gemachte Erfahrung. „Leistung muss sich wieder lohnen!“. Diese Forderung mag in der gegenwärtigen Wirtschafts- und Sozialordnung sein begrenztes Recht haben. Für diejenigen, die nach der elften Stunde immer noch in den Fluren der Arbeitsämter stehen, ist das ein Hohn. Gerechtigkeit prägt unser Denken und Handeln. Doch was ist ungerecht, was ist gerecht? Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen. Er ist damit beschäftigt, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Er will einen bestimmten Zustand verändern oder erhalten bzw. einen anderen Zustand erreichen oder vermeiden. Wenn es ihm gelingt, seinen Willen zu realisieren, empfindet er dies als gerecht. Gelingt es ihm nicht, empfindet er dies als ungerecht.Wie ein wenig kritischer Mensch mit einer gewissen Selbstverständlichkeit davon ausgeht, dass die Welt so ist, wie er sie sich denkt, so geht er auch davon aus, dass seine Gerechtigkeitsauffassungen mit einer objektiv existierenden Gerechtigkeit übereinstimmen. Die meisten Menschen sind sich nicht bewusst, dass ihre Gerechtigkeitsauffassungen zu einem großen Teil das Produkt ihrer subjektiven Interessenslage sind. Ob es wohl überhaupt eine Gerechtigkeit unabhängig von wertenden Subjekten gibt? Was ist gerecht? Eine nicht einfach zu beantwortende Frage. Matthäus konfrontiert mit einem Gleichnis, das die Prinzipien der menschlichen Gerechtigkeit sprengt: Alle Arbeiter im Weinberg erhalten denselben Lohn, ob sie einen Tag oder eine Stunde gearbeitet haben – was für eine Provokation.

2.

Gleichnisse im Neuen Testament

Das Gleichnis im engeren Sinn bezieht sich auf alltägliche Vorgänge, die jeder beobachten kann: die Zugabe von Sauerteig ins Mehl, die Entwicklung eines Senfkorns, ein überraschender Fund u.ä. Gleichnisse sind Bilder, die nicht einfach abbilden, sondern den Hörern und Lesern Neues erschließen. Gegenstand ihrer Betrachtung ist das Reich Gottes, das sie mit unterschiedlichen Metaphern beschreiben. Gleichnisse konfrontieren die Hörerinnen und Hörer in ihrer eigenen

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vordergründigen Welt mit einer hintergründigen Welt und neuen Lebensmöglichkeiten. Daher sind Gleichnisse unabgeschlossen und fordern heraus zur Stellungnahme und Entscheidung. Das Reden in Gleichnissen ist ein Charakteristikum Jesu. In Gleichnissen erzählt er letztlich sich selbst bzw. den Vater. Ein Handeln Jesu wird vorausgesetzt. Denn erst das Verhalten Jesu wirft die Fragen auf, auf die das Gleichnis antwortet. In den Gleichnissen kommt Jesu Glaube zum Ausdruck, sein Vertrauen in die Möglichkeiten Gottes. Die Gleichnisse setzen mit dem Anbruch des Reiches Gottes in seiner Person und seinem Wirken Jesu Anspruch voraus. Doch ist Jesus nicht der erste Gleichniserzähler. Gleichnisse begegnen in vielen Kulturen und sind im Orient besonders beliebt. Sie begegnen auch im Alten Testament und in der jüdischen Kultur und Lehrtradition der Zeit Jesu. Es war die Art, wie die Rabbinen zu lehren pflegten. Sie sagten: „Nicht sei das Gleichnis gering in deinen Augen; denn durch das Gleichnis kann der Mensch zum Verständnis der Toraworte gelangen. Gleich einem König, dem ein Goldstück im Hause oder eine kostbare Perle verlorengegangen ist. Kann er sie nicht durch einen Docht im Werte eines Asses wiederfinden? So kann auch der Mensch durch ein Gleichnis zum Verständnis der Tora gelangen.“1

3.

Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16)

3.1

Der Bibeltext 1 Denn das Himmelreich gleicht einem Menschen, einem Hausherrn, der in der Frühe gleich herauskam, um für seinen Weinberg Arbeiter anzustellen. 2 Nachdem er aber mit den Arbeitern über einen Denar für den Tag übereingekommen war, schickte er sie in seinen Weinberg. 3 Und als er um die dritte Stunde herausging, sah er andere untätig auf dem Markt stehen 4 und sagte zu jenen: Geht auch ihr in den Weinberg, und was gerecht ist, werde ich euch geben. 5 Sie aber gingen hin. Als er um die sechste und die neunte Stunde herausging, machte er es genauso. 6 Als er aber um die elfte Stunde herausging, fand er andere stehen und sagt ihnen: Was seid ihr hier den ganzen Tag untätig gestanden? 7 Sie sagen ihm: Niemand hat uns angestellt. Er sagt ihnen: Geht auch ihr in den Weinberg. 8 Als es aber Abend geworden war, sagt der Herr des Weinbergs seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen ihren Lohn. Beginne bei den Letzten bis zu den Ersten. 9 Und als die von der elften Stunde kamen, erhielten sie einen Denar. 10 Und als die Ersten kamen, meinten sie mehr zu erhalten, aber auch sie erhielten je einen Denar. 11 Als sie ihn erhalten hatten, murrten sie gegen den Hausherrn 12 und sagten: Diese letzten da haben nur eine Stunde gearbeitet, du hast sie uns gleichgestellt, die wir die Last des Tages und die Hitze ausgehalten haben. 13 Er aber antwortete und sagte zu einem von ihnen: Freund, ich tue dir kein Unrecht. Bist du nicht über einen Denar mit mir übereingekommen? 14 Nimm, was dir gehört, und geh. Ich werde diesem Letzten geben wie auch dir. 15 Darf ich von meinem nicht

1

ShirR 1,8.

Der Beruf der Jünger Jesu

173

tun, was ich möchte, oder ist dein Auge böse, weil ich gut bin? 16 So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten.

Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg lässt sich gleichsam wie ein Drama lesen, unterteilt in drei Akte. Der erste Akt hat die Anwerbung und Einstellung der Arbeiter zum Thema. Es ist gewissermaßen die Eröffnung der Situation. Im Zentrum des zweiten Aktes steht die Entlohnung – die Zuspitzung der Krise. Der dritte Akt erzählt den Schlussdisput und die Lösung.

3.2

Tagelöhner

Matthäus erzählt die Geschichte eines Weinbergbesitzers. Die Szene ist der matthäischen Zuhörerschaft durchaus vertraut. Sie ist ein Spiegel der wirtschaftlichen Situation Palästinas im 1. Jh. n. Chr. Während sich der größte Teil des landwirtschaftlichen Bodens in der Hand weniger Großgrundbesitzer befand, litt die ländliche Bevölkerung unter Verarmung. Viele Felder und Bauerngüter wurden in der damaligen Zeit mit Tagelöhnern bewirtschaftet. Für den Arbeitgeber waren sie billiger als Sklaven, da er für die Tagelöhner bei Krankheit rechtlich nicht aufkommen musste2. Ihr Tod bedeutete für ihn keinen Verlust. Für Inhaber mittlerer Betriebe war es durchaus nicht unüblich, auf den Markt zu gehen und Arbeiter zu suchen. So handelt es sich im Gleichnis vermutlich nicht um einen Großgrundbesitzer, der die Anwerbung von Arbeitern Verwaltersklaven überlassen hätte. Im Gleichnis geht der Weinbergbesitzer selbst auf den Markt. Es finden sich in der außerbiblischen Literatur zwar nur wenige Belege für direkte Arbeitslosigkeit, doch die Tatsache, dass noch am frühen Abend Arbeiter offenbar keine Anstellung gefunden haben, setzt Arbeitslosigkeit voraus (vgl. Mt 20,7).3 Der Status des Tagelöhners bietet hierfür ein besonders hohes Potential, da Tagelöhner für eine ganz bestimmte Zeit von ihrem Arbeitgeber eingesetzt wurden, seien es Stunden, Tage oder im Ausnahmefall Monate. Konkurrenz und saisonbedingte Arbeitsmöglichkeiten können als Hauptursachen für die Arbeitslosigkeit angenommen werden. Die Tätigkeit der Tagelöhner bezog sich auf Feldarbeiten und Bauarbeiten, vereinzelt auch auf andere Beschäftigungen.4

3.3

Entlohnung und Arbeitsvertrag

Der vereinbarte Lohn von einem Denar entsprach der regulären Ordnung.5 Zuweilen gab es Verköstigung zusätzlich, denn ein Denar war der Preis für ca. 10 kleine Fladenbrote, 12l Weizen kosteten ca. 4 Denare, ein Sklavenkleid ca. 30 Denare und ein Ochse ca. 100 Denare.6 Der Lohn war also vergleichsweise gering 2 3 4 5 6

Vgl. Heszer, Lohnmetaphorik, 57–63. Vgl. Applebaum, Economic Life, 657. Vgl. Finley, Economy, 73ff. Vgl. Ben-David, Wirtschaft, 66. Vgl. Heichelheim, Roman Syria, 183–188.

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(vgl. Hag 1,6). Üblicherweise begann der Arbeitstag frühmorgens bei Sonnenaufgang. Vor diesem Hintergrund drückt die viermalige Anwerbung von Arbeitern bis zum frühen Abend – die elfte Stunde entspricht etwa 17 Uhr – im Gleichnis eine ungewöhnliche Steigerung aus. Dies ist wohl dramaturgischer Stilisierungswille, der der erzählerischen Intention dient und nicht die Frage nach der Wahrscheinlichkeit der gegebenen Realität im Blick hat. Ist der Arbeitslohn auch gering, entspricht er doch einem Tageslohn. Es ist kein Lohn für die erbrachtet Leistung, sondern für die Bereitschaft zur Arbeit.7 Auffällig an der Lohnvereinbarung ist, dass der genaue Tageslohn nur für die zuerst eingestellten Arbeiter genannt wird. Die zweite Gruppe bekommt zugesichert, „was gerecht ist“. Gerecht ist aber seit der Festschreibung des aristotelischen Gerechtigkeitsbegriffs die proportionale Entsprechung von Tun und Vergeltung von Leistung und Gegenleistung.8 Die Welt der Lohnarbeit wird im Gleichnis durchkreuzt. Ein neuer, eschatologisch bestimmter Gerechtigkeitsbegriff wird eingeführt. Für die dritte und vierte Gruppe heißt es, dass es der Gutsbesitzer „genauso macht“, bei den Arbeitern der letzten Stunde wird der Lohn gar nicht mehr genannt. Einen schriftlichen Arbeitsvertrag gibt es nicht, möglicherweise einen mündlichen. Dies lässt einen Konflikt erahnen, der sich in der Auseinandersetzung zwischen dem Gutsherrn und den beiden Randgruppen der Tagelöhner manifestiert. Am Abend wird nach alttestamentlicher Tradition der Lohn ausgezahlt (vgl. Lev 19,13; Dtn 24,14f). Nun spitzt sich der Konflikt in der Aufforderung an den Verwalter zu, mit der Lohnauszahlung bei den zuletzt eingestellten Arbeitern zu beginnen (V.8), eine bewusste Umkehrung der Reihenfolge. Die Erwartungshaltung richtet sich darauf, eine entsprechend höhere Summe zu bekommen als diejenigen, die erst am Abend dazugekommen sind. Dass dies nicht der Fall ist, sorgt für Empörung und Enttäuschung. Eine Lohnauszahlung, die sich nicht an der erbrachten Leistung orientiert, sondern der Großzügigkeit des Gutsbesitzers entspricht, untergräbt die Leistungshonorierung des Wirtschaftslebens. Dabei ist nicht die Großzügigkeit Ursache des Konfliktes, sondern ihre Folgenlosigkeit für die Arbeiter der ersten Stunde. Der Konflikt besteht also zwischen der Gruppe der Ersten und der Letzten. Die Mittleren spielen keine Rolle mehr. Unverzichtbar bleibt jedoch die verbindliche Aussage den mittleren Gruppen gegenüber, sie werden einen Lohn erhalten, der „gerecht“ sei (Mt 20,4). 4In seiner Argumentation nennt der Weinbergbesitzer zwei Gründe für eine gerechte Vorgehensweise: zum einen die getroffene und erfüllte Vereinbarung – das entspricht der formalen Gerechtigkeit, insbesondere für die erste Gruppe, zum anderen seinen Willen und seine Verfügung über eigenen Besitz – das entspricht dem Besitzrecht des Eigentümers. Das Handlungsmotiv des Eigentümers ist seine eigene Güte (Mt 20,15).

7 8

Vgl. Avemarie, Jedem das Seine?, 464. Vgl. Aristoteles, Ethik 1131b.

Der Beruf der Jünger Jesu

3.4

175

Auslegung: Die Frage der Gerechtigkeit

Das Gleichnis stellt in großen Teilen die Lebenswirklichkeit der Tagelöhner im 1. Jh. n. Chr. dar – mit einer Ausnahme: dem Verhalten des Weinbergbesitzers bei der Entlohnung seiner Arbeitskräfte. Im Gleichnis geht es nicht um Lohngerechtigkeit, sondern um den Lebenslohn der Arbeiter im Weinberg Gottes. So war das rabbinische Judentum davon überzeugt, dass die endgültige Belohnung für die Lebensarbeit erst im Eschaton erfolgt, durch Gott selbst.9 Im Gleichnis spiegelt sich so die Güte Gottes. Das Gleichnis steht in einem größeren Redegang (vgl. Mt 19,23ff.) und wendet sich an die Jünger Jesu. Ziel dieses Gleichnisses ist die unmittelbar vorangegangene Aussage: Aber viele Erste werden Letzte und Letzte Erste sein (Mt 19,30). Die ganze Aussagekraft des Gleichnisses konzentriert sich auf die Botschaft von der Güte Gottes, die im Leben Jesu signifikant zum Ausdruck kommt. Erinnert der Weinberg selbst an Israel10, wird der Weinbergbesitzer nicht zuletzt aufgrund alttestamentlicher Tradition (vgl. Jes 5,1–7; Ps 80,9–15) mit Gott selbst in Verbindung gebracht. So beschreibt das Gleichnis das Verhältnis Gottes zu seinem Volk (vgl. die Einleitungsformel: Denn das Himmelreich gleicht...). Abgebildet ist nicht die Realität des Arbeitslebens, abgebildet ist die Realität im Reich Gottes. Die Gottesherrschaft gibt den Herrscher an, Gott selbst, nicht den Menschen. Analog zum Weinbergbesitzer wendet sich Gott denen zu, die in Toraferne leben. Das Gleichnis wendet sich so auch an die Menschen. Es wendet sich gegen starres Leistungs- und Anspruchsdenken und zielt auf die Begrenztheit der Werkgerechtigkeit im Angesicht der Güte Gottes.11 Damit zeigt es eine große Nähe zu paulinischem Denken und paulinischer Vorstellung von der Gerechtigkeit Gottes, die den Sünder nach Röm 3 nicht verurteilt, sondern ihn aus zuvorkommender göttlicher Initiative rettet, indem sie ihn aus Gnade und Liebe gerecht macht. Der matthäische Gerechtigkeitsbegriff betont jedoch stärker den Aspekt der mitmenschlichen Gerechtigkeit, der jedoch für das Gottesverhältnis immense Bedeutung erhält. Die Güte Gottes durchkreuzt nicht selten menschliches Gerechtigkeitsdenken und -empfinden, indem sie ein ganz eigenes, von Gottes Liebe geprägtes Gerechtigkeitsprinzip aufstellt, das die engen Grenzen menschlicher Gerechtigkeitsvorstellungen sprengt. Das im wirtschaftlichen Leben vorherrschende Leistungsprinzip hingegen führt nicht selten zu Arroganz, Neid und Missgunst. Der Lohn bemisst sich an der Leistung – ein Denken, das sich nicht nur auf das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben erstreckt, sondern weit in persönliche Lebenskonstellationen hineinwirkt. Nicht selten mangelt es jedoch diesem Gerechtigkeitsdenken an Objektivierbarkeit oder an Barmherzigkeit und Güte. Man fragt sich schlechthin, wo göttliche Güte und Barmherzigkeit im menschlichen Gerechtigkeitsdenken ihren Platz finden, ob göttliche Güte unter strengen menschlichen Gesichtspunkten überhaupt denkbar ist. Oder anders gefragt: Umfasst die Güte Gottes auch die „Ersten“ im Gleichnis? Kommen sie

9 10 11

Vgl. Weder, Gleichnisse, 223. Vgl. Münch, Gleichnisse, 189–191. Vgl. Jüngel, Paulus, 164.

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176

nicht zu kurz? Widerfährt ihnen, die wesentlich mehr gearbeitet haben als die Arbeiter der letzten Stunde, jedoch denselben Lohn erhalten, nicht Unrecht? Das Verhältnis von Güte und Gerechtigkeit bleibt äußerst spannungsreich. Die aufgeworfene Frage bleibt der Freiheit der Gerechtigkeit Gottes überlassen. Die „Ersten“ erhalten das, was „gerecht“ ist, die „Letzten“ das, was „gut“ ist. Gut ist der alttestamentlichen Tradition nach allerdings das, was dem Leben dient. Gottes Zuwendung gewährt Leben (vgl. Ps 100,5; 136,1). Der abgemachte Lohn von einem Denar steht für das, was jeder zum Leben braucht. So kommt auch der zuerst angeworbene Arbeiter nicht zu kurz, im Gegenteil: er erhält, was er zum Leben braucht, in gleicher Weise wie die anderen Arbeiter auch. Diese Gerechtigkeitsvorstellung kommt insbesondere denen zugute, die unter Benachteiligung zu leiden haben. Dass die Liebe Gottes zu den Menschen die bestehenden menschlichen Gerechtigkeitsvorstellungen durchkreuzt, bleibt für die Hörerinnen und Hörer des Gleichnisses eine Provokation, v.a. aus der Sicht der „Ersten“. Sie ist letztlich nur im Horizont einer größeren Gerechtigkeit zu fassen, wenn deutlich wird, dass es nicht um Lohngerechtigkeitsforderungen geht, sondern um Barmherzigkeit und Solidarität. Der Weinbergbesitzer ist darin ein Beispiel für die Hörerinnen und Hörer des Gleichnisses. Fordernd bleibt die Freiheit der Güte Gottes, deren Blick besonders den „Letzten“ gilt. Das Leistungsprinzip zieht Überheblichkeit einerseits sowie Neid andererseits nach sich und ruft schließlich Diskriminierung hervor. Das Gleichnis mahnt zu einer neuen Solidarität12 mit den Menschen, die nach wirtschaftlichen Leistungsvorgaben entlohnt werden können, weil sie erst in der elften Stunde eine Anstellung gefunden haben. Sie haben sie aber im Weinberg Gottes gefunden, und sie haben gearbeitet. In den Augen des Gutsherrn bedürfen sie desgleichen Lebenslohnes wie die Arbeiter der ersten Stunde, weit über den Tageslohn hinaus.

4.

Die Einladung an die Jünger

Im Zusammenhang des Gleichnisses und gemäß der matthäischen Botschaft heißt das: Der Ruf des Weinbergbesitzers zur Arbeit im Weinberg ist eine Werbung, der Ruf Jesu in seine Nachfolge, der Lohn Gottes ist das Leben, vorbehaltlos, jenseits des sich Verdienens, Erarbeitens, jenseits von Leistung, Arroganz und Missgunst, jenseits von Versagen und Angst, aber nicht ohne die Arbeit im Weinberg. Es ist die Arbeit der Jüngerinnen und Jünger Jesu – Arbeiter im Weinberg Gottes zu sein, die Bereitschaft hierfür und das Charisma mitzubringen. Die Fruchtbarkeit des Weinbergs ist im Gleichnis gesichert, er will bewirtschaftet werden. Die Arbeit ist nicht ohne Mühen, die Mittagshitze will durchschritten werden. Die Frucht der Arbeit aber ist eine neue Gerechtigkeit und Solidarität. Es geht um die Teilhabe an der Gottesherrschaft. Matthäus schildert sie in einer Reihe von eindrucksvollen Bildern: Menschen, die sich um des Himmelreiches 12

Vgl. Luz, Matthäus, 151.

Der Beruf der Jünger Jesu

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willen zu Eunuchen machen (Mt 19,12); einen reichen Jüngling, der sich einen Platz im Himmel verschaffen könnte, wenn seine Habe verkaufte und den Armen gäbe (Mt 19,21); die Frage des Petrus, was diejenigen für einen Gewinn haben, die um der Nachfolge willen alles verlassen haben und die Antwort Jesu, sie würden – wenn der Menschensohn herrscht – die zwölf Stämme Israels richten und für alles, was sie aufgegeben hätten, ewiges Leben und hundertfachen Ersatz empfangen (Mt 19,27–29). „Und viele Erste werden Letzte und Letzte Erste sein“ (Mt 19,30). Jenseits aller Rangstreitigkeiten geht es um die Werbung für die Arbeit im Weinberg.

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Esther Brünenberg-Bußwolder

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Hören und Handeln Maria und Marta – lukanisch und johanneisch Philippe Van den Heede

Allein die gemeinsame Erwähnung der biblischen Gestalten Maria und Marta reicht normalerweise aus, um daraufhin unmittelbar den Gegensatz zweier Lebensstile zu thematisieren. Nach der Tradition1 ist Maria die Figur des kontemplativen Lebens, das als porro unum betrachtet wird, während Marta der Inbegriff des aktiven Lebens ist, das indes abgewertet zu werden scheint. Viele empfinden deswegen Mitleid mit Marta: Sie hat nicht nur so viel zu tun, sondern wird zudem von Jesus selbst zurückgewiesen. Es ist dennoch zu fragen, ob diese aus der Tradition herauskristallisierte Typologie der beiden Schwestern der lukanischen Erzählung wirklich entspricht: Worin besteht die Bemerkung Jesu zu Marta? Zielt die Aussage Jesu auf ihre Arbeit? Zudem tauchen Maria und Marta ebenfalls in Joh 11,1–44 und Joh 12,1–8 mit zusätzlichen Merkmalen auf: Man bemerkt zwar schon in der johanneischen Vorstellung eine Kontinuität in der Charakterisierung der beiden Schwestern, aber gleichzeitig erweitert Johannes ihre Figur, während er sowohl die aktive Marta (Joh 11,1–44) als auch die schweigsame Maria (Joh 12,1–8) als authentische Jüngerinnen zeigt. In den zwei johanneischen Szenen tauchen die beiden Schwestern mit einer zusätzlichen Figur auf: ihrem Bruder Lazarus. Der Name Lazarus befindet sich ebenfalls im lukanischen Gleichnis vom reichen Prasser und dem Armen (Lk 16,19–31). Ebenso ist Joh 12,1–12 deutlich mit Lk 7,36–50 verwandt und zeigt zudem einige Ähnlichkeiten mit der lukanischen Erzählung von Maria und Marta (Lk 10,38–42):2 Wenn es also wahrscheinlich ist, dass ein Bezug von Joh zu Lk existiert, bleibt allerdings die Frage offen, worin diese Verbindung besteht.3

1.

Dienen vs. Hören? (Lk 10,38ff.)

Nicht selten wird in der Literatur die Episode von Maria und Marta in Lk 10,38– 42 in Bezug auf die vorhergehende Perikope in Lk 10,25–37 gedeutet.4 Ein Gesetzeslehrer, der Jesus fragte, was er tun muss, um das ewige Leben zu gewinnen, wurde aufgefordert, selbst nach dem Gesetz zu antworten: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und 1 2 3 4

Vgl. Grumett, Action; Ernst, Martha. Vgl. Dauer, Johannes; Busse, Johannes. Vgl. Gregory, Gospel?; Van Belle, Jean; Theobald, Johannes, 767–773. Vgl. u.a. Schneider, Lukas, 252; Fitzmyer, Luke, 892.

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all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst“ (Lk 10,27). Während das Gleichnis des barmherzigen Samariters als unmittelbare Erklärung für die konkrete Nächstenliebe gilt, betrachten einige Kommentatoren das Hören Marias im Kontrast zu Marta als Vorbild der Gottesliebe, die im ersten Teil des Doppelgebotes erwähnt wird.5 Eine genauere Analyse der beiden Perikopen zeigt allerdings, dass sich „keine narrativen Hinweise auf eine solche auf Lk 10,25–37 bezogene Lektüre finden [lassen]“:6 Der Situations-, Orts- und Personenwechsel in V.38 bestätigt hingegen die Unabhängigkeit der Episode, in der Maria und Marta auftauchen, von der vorangehenden Perikope. Der Bruch wird ebenfalls durch den Stil- und Gattungswechsel betont: Einerseits handelt es sich um eine Lehre in Form eines Gleichnisses, andererseits um ein Wort Jesu (Apophthegma), das durch eine Alltagssituation hervorgerufen wird. Darüber hinaus kann die Verbindung zwischen der Gottesliebe in Lk 10,27 und der Figur Maria infrage gestellt werden: In Lk 10,38–42 geht es thematisch nicht um die Gottesliebe, sondern um das Anhören des Wortes Jesu.7 Lk 10,38–42 sollte deshalb nicht mit dem unmittelbaren, sondern mit dem weiteren Kontext (9,51–10,42) ausgelegt werden, in dem die Thematik der Aufnahme bzw. Nichtaufnahme8 und der Nachfolge thematisiert wird. Der Aufenthalt Jesu und seiner Jünger bei Maria und Marta wird als eine Etappe während der umfassenden Reise nach Jerusalem (9,51–19,27) beschrieben und ist als eine der alltäglichen Begegnungen Jesu zu verstehen. Im Gegensatz zu der Ablehnung Jesu und seiner Jünger in einem samaritanischen Dorf am Anfang des Reiseberichts (9,52–56), nimmt Marta Jesus gastfreundlich auf (ὑπεδέξατο αὐτόν)“ (10,38). Nach F. Bovon wäre die lukanische Darstellung der Gastfreundlichkeit Martas unwahrscheinlich: Es sei „im Judentum kaum vorstellbar, daß eine Frau ihre Güter selber verwaltet, ihren Haushalt selber leitet und vor allem, daß sie wie hier einen Mann empfängt.“9 Es ist indes zu bemerken, dass Martas Verhalten im Gegensatz zur Sünderin in Lk 7,39 keinen negativen Kommentar an den Figuren der lukanischen Erzählung auslöst. In der rabbinischen Literatur sind die Regeln der Gastfreundlichkeit stark kodifiziert und sie betonen, dass es dem Haushaltvorstand zukommt, den Gast zu empfangen.10 Es ist aber zu berücksichtigen, dass einerseits die Datierung dieser Literatur spät anzusiedeln ist, und andererseits, dass sie „ausschließlich eine männliche Produktion ist“: Deswegen geben „die Äußerungen in Bezug auf die Frauen unweigerlich eine Zielrichtung.“ 11 Zudem setzt J. Jeremias voraus, dass „man in den einfacheren Kreisen weniger streng war 5 6 7 8 9 10

11

Vgl. u.a. Grundmann, Lukas, 225. Hentschel, Diakonia, 237. Vgl. u.a. Székely, Mary and Martha, 173f.; Zwilling, sœurs, 246ff. Hentschel, Martha und Maria, 173. Bovon, Lukas, 104f. Vgl. Bornet, Rites, 60: „Ainsi, au moment d’entrer dans la maison, le maître de maison va le premier, et le visiteur après lui; de même, en quittant la maison, l’hôte va le premier et le maître de maison aprè Cette prescription est liée à une question fondamentale: celle de la femme, qu’il serait malséant de laisser seule, ne serait-ce qu’un instant, avec l’invité [Talmud Balvi Ta`an 23b].“ Ebd., 108 (unsere Übersetzung).

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[…]. Vollends haben auf dem Lande freiere Verhältnisse geherrscht. Hier geht das Mädchen zum Brunnen, die Frau verdingt sich zusammen mit dem Mann und den Kindern für Feldarbeit, verkauft Oliven an der Tür, bedient bei Tisch [Mk. 1,31 Par.; Lk 10,38ff.; Joh. 12,2].“12 Die erste Darstellung Martas ist umso positiver zu bewerten,13 als Jesus den von ihm ausgesandten 72 Jüngern empfiehlt, die angebotene Gastfreundschaft in einem Haus anzunehmen (vgl. 10,5–7): Mit ihrem Aufnehmen handelt Marta als „Tochter des Friedens“ (vgl. 10,6). Maria ist ebenfalls am Anfang der Szene positiv dargestellt: καὶ παρακαθεσθεῖσα πρὸς τοὺς πόδας τοῦ κυρίου ἤκουεν τὸν λόγον αὐτου (10,39). Das Partizip Aorist Passiv παρακαθεσθεῖσα (Hapaxlegomenon) hat eine „reflexive Bedeutung“: Maria, hatte „sich zu den Füßen des Herrn niedergesetzt“14. Weit entfernt davon, passiv zu sein, hat Maria selbst entschieden, wo sie sein wollte. Ebenso ist Maria aktiv in ihrem Zuhören der Worte Jesu dargestellt: Das Verb ἀκούω steht im Imperfekt und unterstreicht ein dauerhaftes Verhalten des Hörens. Durch diese zwei Züge gibt Maria zu erkennen, dass sie „als Schülerin die Worte Jesu hören […] will [und] dass sie sich unter seine Jünger (vgl. 8,20) eingereiht wissen will.“15 In V.38f. zeigen Maria und Marta also zwei verschiedene Verhaltensweisen Jesus gegenüber, die beide in ihrer Spezifizität richtig und positiv zu konnotieren sind. Ab V.40a (ἡ δὲ Μάρθα περιεσπᾶτο περὶ πολλὴν διακονίαν) wird Martas Verhalten hingegen völlig im Gegensatz zu dem von Maria in V.39 dargestellt:16 Ruhe/Bewegung; Niedersetzen/Hinzutreten; Schweigen/Sprechen; Hören/περισπάω. Das Verb περισπάω, ein Hapaxlegomenon im Neuen Testament, hat eine bestimmte Bedeutungsdichte: „1. Abgezogen werden, abgelenkt werden […] 2. ganz und gar in Anspruch genommen, völlig beschäftigt, stark überlastet werden oder sein.“17 Die zweite Bedeutung (die Beschäftigung) wird üblicherweise in Lk 10,40 vorgezogen, weil Marta die sozialen Regeln einhält,18 was anscheinend Maria nicht macht. Die Bemerkung περὶ πολλὴν διακονίαν verstärkt eben diesen Eindruck: Das Wort διακονία ist „im Zusammenhang mit der Rahmenhandlung Jesus als ‚Gast‘ zu sehen; διακονία sind dann alle Aktivitäten, die zum Wohlergehen des Gastes beitragen, von der traditionellen Fußwaschung bis zum Zubereiten und Servieren der Speisen.“19 Diese Bedeutung von διακονία/διακονεῖν wird besonders von der feministischen Exegese in Frage gestellt, die Marta nicht „in the kitchen“, sondern „out of

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19

Jeremias, Jerusalem, 398. Crimella, Marta, Marta!, 148. Balz, Art. παρακαθέζομαι, 54. Busse, Unterweisung, 146. Vgl. Brutschekc, Maria-Marta-Erzählung, 42. Bauer-Aland, Wörterbuch, 1311. Vgl. Bornet, Rites, 108: „Si c’est l’homme qui offre l’hospitalité (c’est-à-dire, qui encadre la relation au visiteur), c’est bien souvent la femme qui en est la principale artisane, car c’est à elles que reviennent les tâches domestiques.“ Weymann, Frauen, 69.

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the kitchen and into the church“ sieht.20 Nach dieser Auffassung bezieht sich Lk 10,40 in ersten Linie nicht „auf den Tischdienst und (Frauen-) Arbeit im Rahmen der Gastfreundschaft“, sondern auf „die Beteiligung von Frauen an einer bereits im Sinne eines Gemeindeamtes verstandenen διακονία“21. E. Schüssler Fiorenza betrachtet ebenso Martas διακονία als eine kirchenleitende Tätigkeit von Frauen in der lukanischen Gemeinde, ähnlich wie der von Phöbe, die in Röm 16,1 als διάκονος bezeichnet wird.22 Außerdem geht sie davon aus, dass die Anwendung des Wortes κύριος in V. 39 und V.41 ein christologischer Titel sei, der zeige, dass die Perikope in der Zeit der frühen Kirche zu orten sei, und nicht in der Zeit des historischen Jesu.23 J. Jeremias hält dagegen den Ausdruck ὁ κύριος für die „Bezeichnung des irdischen Herrn.“24 Aufgrund der Verwendung des Wortes διακονία im Sinn der Kirchenleitung in der Apg (1,17; 1,25; 6,4; 12;25; 20,24; 21,19)25 betrachtet B. Escaffre ebenfalls das Wort διακονία in Lk 10,40 als lukanischen terminus technicus: „In der Apg bezeichnet er immer ein Amt in der Gemeinde. Im LkEv kommt er nur dieses eine Mal vor und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass er hier etwas anderes bedeuten sollte als im zweiten Teil des lk Werks“26. Man kann jedoch erwidern, dass die Szene und nicht ein einziges Wort ausgelegt werden muss. In ihrem Zusammenhang betrifft die Szene aber keine ekklesiastische Funktion: „The reason the words [diakon- words] apply to women in three instances in the Gospel is simply that the narrative requires appropriate words for attendance upon guests or master.“27 Andere Exegeten denken hingegen, dass das Verb περισπάομαι in Lk 10,40 la distraction28 bzw. das Abgelenktsein29 Martas betont, so dass nicht so sehr „hearing and serving“, sondern „hearing and ‚worrying‘“ gegenübergestellt wird.30 Eine dritte Auslegung31 besteht darin, dass Lukas mit der Amphibolie (bzw. mit der Mehrdeutigkeit) des Verbs spielt und so eine Ambivalenz schafft, die die zwei möglichen Interpretationen des Verbs („sich beschäftigen“ und „sich ablenken“) ermöglicht. Einerseits ist Marta nach ihrer Beschäftigung (πολλῇ διακονίᾳ) charakterisiert, bzw. in ihrer Rolle als Hausherrin, die einen Gast bewirtet. Anderseits ist sie abgelenkt und zwar kontinuierlich abgelenkt: Das Imperfekt des Verbs drückt Kontinuität aus. In diesem Sinne ist sie nach ihrer Beziehung zu 20 21 22 23 24 25

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Carter, Martha, 185ff. Hentschel, Diakonia, 239. Vgl. Schüssler Fiorenza, Gedächtnis, 211f.218. Dies., Liberation, 21–36. Jeremias, Sprache, 158. Vgl. Perroni, Maestro, 65f. Es geht um Verkündigung, Zeugnis, Mission, ausgeübt von den Zwölfen oder Paulus und Barnabas. Bezeichnend ist, dass in Apg 6, wo es sich um die Wahl der Sieben handelt, dem „Alltäglichen Dienst“ (Apg 6,1) der „Dienst für das Wort“ (Apg 6,4) gegenübergestellt wird. Escaffre, Marta, 345. Collins, Story, 109f. Vgl. Lagrange, Luc, 317. So formuliert bei Wolter, Lukas, Tübingen 2008, 400. Székely, Mary and Martha, 167. Crimella, À propos de περισπάομαι en Luc 10,40, 120–125.

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Jesus dargestellt: Sie ist abgelenkt, sie hört Jesus nicht zu, im Gegensatz zu ihrer Schwester. Genau in diesem Punkt ist die Antwort Jesu in V.41f. zu verstehen: Seine Zurechtweisung betrifft nicht ihren Dienst an sich (die Arbeit Martas), sondern ihre Haltung. In V.40bd ergreift Marta das Wort: „Herr kümmert es dich nicht, dass mich meine Schwester allein (μόνην) gelassen hat zu dienen? Sag ihr doch, dass sie mir beistehen soll (συναντιλάβηται).“ „Marta erregt Mitleid, sie ruft um Hilfe“, meint F. Bovon.32 Dennoch ist das Problem Martas nicht so sehr die Fülle der Arbeit, sondern die Tatsache, dass ihre Schwester die soziale Regel nicht einhält: Sie ist nicht mit ihr. In ihrem Wort spricht Marta nicht von zu viel Arbeit, sondern von ihrer Einsamkeit (μόνην) beim Dienen.33 Sie will, dass ihre Schwester ihr beisteht (συναντιλάβηται)34, weil der Dienst es erfordert, und zögert deswegen nicht, vor Jesus hinzutreten. Marta wird also „nicht als überforderte Hausfrau dargestellt, die Mitleid und Verständnis möchte, sondern als vom Sinn ihrer Arbeit überzeugte Frau, die ihr Anliegen gegenüber Jesus deutlich zum Ausdruck bringt.“35 Das Sprechen Martas hat zur Folge, dass sie sich Jesus aufdrängt, und zeigt, dass sie gegenüber ihrer Schwester ihren Willen durchsetzen will: Der Dienst ist für sie wichtiger geworden, als der Mensch, dem gedient werden muss. Marta ist grundsätzlich in ihrer eigenen Welt verschlossen,36 was sie hindert, die Situation zu beurteilen: Sie hört dem Herrn nicht zu. „Marta, Marta, du sorgst (μεριμνᾷς) und lässt dich beunruhigen (θορυβάζῃ) wegen vielem“, antwortet Jesus. „Auffallend ist, dass hier die Tätigkeit Martas nicht mehr mit διακονέω oder seinen Derivaten beschrieben wird.“37 Die von Jesus verwendeten Verben μεριμνᾷς und θορυβάζῃ sind aber das Pendant zum mehrdeutigen Verb περισπάομαι, das Marta in V.40 ausgesprochen hat. Das Verb μεριμνάω betrifft u.a. das alltägliche Sorgen um Nahrung und Kleidung.38 In seinem Wort zu Marta klingt ein bestimmter Vorwurf an, den Jesus später in seiner Lehre in Lk 12,22–31 thematisieren wird, wenn er seine Jünger auffordert, nicht zu sorgen: „Seid nicht besorgt für das Leben (μὴ μεριμνᾶτε τῇ ψυχῇ), was ihr essen, noch für den Leib, was ihr anziehen sollt!“ (12,22). Ein hektisches Tun könnte in der Tat das Trachten nach der βασιλεία τοῦ θεοῦ (Lk 12,31) behindern. Das zweite Verb θορυβάζω, ein Hapaxlegomenon im Neuen Testament, beschreibt im Passiv ein inneres Verhalten: „sich beunruhigen lassen, beunruhigt sein περί τι wegen etw.“39 Dieses „Etwas“ bemächtigt sich eines Menschen so sehr, dass er infolgedessen für „etwas“ anderes abgelenkt ist. Dennoch „ist nur 32 33 34 35 36

37 38 39

Bovon, Lk, 107. Vgl. Zwilling, Frères et sœurs, 142ff. Das Verb συναντιλαμβάνομαι bedeutet: „[…] mithelfen, beistehen τινί jmdm“ (BauerAland, Wörterbuch, 1565). Hentschel, Martha und Maria, 179. Martas Beschwerde beinhaltet Pronomen in der ersten Person Singular, die zeigen, dass Marta ihre Selbstreferenz ist: κύριε, οὐ μέλει σοι ὅτι ἡ ἀδελφή μου μόνην με κατέλιπεν διακονεῖν; εἰπὲ οὖν αὐτῇ ἵνα μοι συναντιλάβηται. Vgl. Zwilling, Deux sœurs, 190. Hentschel, Martha und Maria, 180. Bultmann, Art. μεριμνάω κτλ., 595. Bauer-Aland, Wörterbuch, 737.

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eines notwendig“ (ἑνὸς δέ ἐστιν χρεία).40 Jesus stellt den vielen Besorgnissen (περὶ πολλά) die eine notwendige Sache (ἑνὸς) gegenüber. Jesus kritisiert nicht den Dienst an sich, sondern die Art und Weise, wie Marta ihn verrichtet: Das Notwendige ist nicht der Dienst, sondern das Reich Gottes, das Jesus offenbart (vgl. Lk 12,31). Jesus wendet sich nur an Marta, damit sie ihr Verhalten ändert: Sie soll nicht für den Dienst, sondern für das Reich Gottes arbeiten. Im zweiten Teil seiner Antwort weist Jesus Martas Erwartung zurück, nach der ihre Schwester ihr beistehen soll. Das Reich Gottes hat die Priorität und setzt das Anhören des Wortes voraus. Deswegen hat „Maria nämlich den guten Teil erwählt“ (V.42b). Maria, die schon in V.39 als Jüngerin dargestellt wurde, zeigt hier ihr Jüngersein in seiner ganzen Radikalität: Jesus nachzufolgen, ist wesentlicher als Dienen bzw. als mit ihrer Schwester zu sein. Maria verkörpert hier die radikale Forderung der Nachfolge, die Jesus in Lk 14,26 ausdrückt: „Wenn jemand zu mir kommt und hasst (μισεῖ)41 nicht seinen Vater und die Mutter und die Frau und die Kinder und die Brüder und die Schwestern (τὰς ἀδελφὰς), dazu aber auch sein eigenes Leben, so kann er nicht mein Jünger sein.“ In Lk 14,26, wie in Lk 10,39, geht es nicht um ein a-familiäres Verhältnis.42 Jesus ist nicht gegen die Familie, aber, wie V.41f. zeigt, darf die Familie die Nachfolge nicht verhindern. „Marta behauptet, dass Maria ihr beim Dienen helfen soll. Jesus antwortet, dass sie etwas Anderes machen darf.“43 Er stellt einen bestimmten familiären Druck bzw. Autorität in Abrede. Marias Wahl besteht nicht darin, ihre Schwester allein zu lassen, sondern Jesus, der bei ihr vorbeikommt, zuzuhören.44 Es gibt eine Priorität, die erfordert, eine radikale Entscheidung zu treffen: Maria hat den guten Teil gewählt; sie handelt als Jüngerin.45 Der von Maria ausgewählte gute Teil soll ihr nicht genommen werden (vgl. V.42c). Die Erzählung endet, ohne dass die Reaktion Martas oder der anderen Gäste bekannt wird. Aufgrund des offenen Endes wird V.42b üblicherweise mit einer eschatologischen Bedeutung verstanden: Dieser Teil ist „gut“, weil es dem Willen Gottes entspricht und durch ihn seinen Wert bekommt. „Der wird ihr nicht

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42 43 44 45

Über die Textüberlieferung von Lk 10,42 siehe Perroni, Il Cristo Maestro, 70ff. Die Papyri P45 und P75 sprechen für die kürzere Variante: ἑνὸς δέ ἐστιν χρεία. Das Verb „hassen“ ist ein semitischer Ausdruck. In der matthäischen Parallele ist jedoch zu lesen: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig“ (Mt10, 37). P. Balla hat gegen G. Theißen gezeigt, dass die matthäische Version keine Milderung des lukanischen Ausdrucks ist, sondern dass sie dem Inhalt des lukanischen Wortes „μισεῖ“ richtig entspricht. Der Ausdruck „mehr lieben“ in Mt meint eine Priorität: Im Leben des Jüngers darf kein Mensch wichtiger sein als Jesus. (Vgl. Balla, Radical, 53ff.). So auch in Lk 14,26: „‚Haß‘ ist hier nicht emotional zu verstehen, sondern im Sinne einer entschiedenen Nachordnung“ (Schneider, Lk II, 321). Vgl. Theißen, Soziologie, 79ff., 106ff. Zwilling, Frères et sœurs, 148 (unsere Übersetzung). Vgl. ebd. Jesu Nachfolge ist radikal, sowohl für die wandernden Jünger als auch für die Sedentären, wie anscheinend Maria. Diese Radikalität entspricht einer fundamentalen Haltung der Jünger, die sich in verschiedenen Art und Weisen ausdrückt.

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genommen werden“ bedeutet, daß Gott als eschatologischer Richter ihn nicht zurückfordern wird, wie es üblich ist gegenüber den Bösen. Am Schluß des Textes leuchtet wie so oft die Isotopie, der Hintergrund des Jüngsten Gerichtes auf.46 Die Typisierung der beiden Frauen wird zudem durch den Vergleich mit dem Gleichnis des Sämanns verstärkt: Maria […] entspricht in ihrer Rezeptionshaltung der „fruchtbaren Erde“. […] Im Verhalten der Martha ist demgegenüber ein Echo des Geschicks der Saat zu finden, die unter die Dornen fällt.47 Solche Auslegungen laufen aber Gefahr, die Haltungen der beiden Schwestern zu verabsolutieren: Der Dienst scheint in diesem Fall immer abgewertet zu sein, weil er vom Wesentlichen ablenken kann, obwohl der Dienst im Lukasevangelium eine typische christliche Haltung ist, für die Jesus selbst ein Beispiel gegeben hat (vgl. Lk 22,27).48 Marta und Maria erscheinen zwar als zwei Typen des Christseins wegen ihres unterschiedlichen „Tuns“ (Handeln oder Hören). Dennoch handelt es sich in dieser kurzen Erzählung vielmehr um ihre Urteilsfähigkeit in einer bestimmten Situation bzw. „um Jesus und die richtige Reaktion auf die Begegnung mit ihm.“49 Jesus ist unterwegs nach Jerusalem; er kommt in einem Dorf an, das er dann bald verlassen wird. Der Teil, den Maria gewählt hat, besteht in „[der] Gegenwart des Herrn und [dem] Hören seines Wortes hier und jetzt“50. Maria hat den Augenblick bzw. das Kairos wahrgenommen und als Jüngerin Priorität gesetzt. Diese Perikope stellt deswegen eine konkrete Situation dar, die für die Jünger immer auftauchen kann: „Es geht um die Beurteilung einer Aufgabe, die sich in diesem Augenblick aufdrängt: Was ist wirklich notwendig?“51 Im Gegensatz zu Marta, die durch ihren Dienst abgelenkt wird, hat Maria den Kairos, bzw. das Kommen Jesu – nicht irgendeines Gastes, sondern „der Christus Gottes“ [9,20] – wahrgenommen und hat dementsprechend gehandelt: Sie hört ihm zu.52

2.

Handeln und Sprechen (Joh 11)

Die johanneische Erzählung stellt Marta wie in Lk sehr aktiv dar. Sie wird u.a durch ihr Handeln besonders gekennzeichnet: Marta und ihre Schwester schicken Jesus eine Nachricht über den Gesundheitszustand ihres Bruders (vgl. V.11, 3). Als sie hörten, dass Jesus kommt, ergreift sie die Initiative, ihm entgegenzugehen (vgl. V.11, 20). Nach dem Gespräch mit Jesus geht sie nach Hause zurück und ruft Maria (vgl. V.11, 28); sie ist ebenfalls diejenige, die bedient (vgl. 12,2). Marta

46 47 48 49 50 51 52

Bovon, Lk, 109. von Bendemann, ΔΟΞΑ, 149f. Vgl. Rossé, Luca, 415. Wolter, Lk, 402. Bovon, Lk, 109. Dupont, « De quoi est-il besoin ? », 119 (unsere Übersetzung). Vgl. Wolter, Lk, 402: Es geht darum, „ob man den Alltag seinetwegen [Jesus] unterbricht wie Maria, oder ob man so weitermacht wie bisher, wie Martha es tut.“

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ergreift außerdem regelmäßig das Wort (vgl. VV. 11,21.28.39). Was in Lk zu Recht unangebracht war, ist jedoch hier positiv betrachtet. Ihr erstes Wort ist – erzählerisch gesehen – ein Drehpunkt in der „Story“, sofern es die Nachricht der beiden Schwestern in V.3. wiederholt53 und so die Fortführung der Erzählung ermöglicht. Jedoch konnotiert ihr Wort ebenfalls das Bild Martas als johanneische Figur54: Ihre Aussage ist kein Vorwurf55 Jesus gegenüber, wie oft vermutet, sondern ein Wort, das der Liebe Jesu zu den Geschwistern aus Bethanien (vgl. V.11,5) entsprechend zu verstehen ist. Marta geht Jesus entgegen und empfängt ihn mit einem Wort, das zwar ihr Leiden verrät, aber auch ihren Glauben an ihn ausdrückt, obwohl er noch unvollkommen ist: Wenn sie zuerst Jesus als Wundertäter betrachtet (er hätte ihren Bruder gerettet, wenn er da gewesen wäre V.5a), zeigt schon der zweite Teil ihrer Aussage, dass sie die besondere Beziehung Jesu zu Gott erkannt hat (καὶ νῦν οἶδα ὅτι ὅσα ἂν αἰτήσῃ τὸν θεὸν δώσει σοι ὁ θεός V.22). Ihre Initiative führt sie dann zu einem Wortwechsel mit Jesus, dem sie aufmerksam zuhört („dein Bruder wird auferstehen“ [V.23]; „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ [V.25], „Glaubst du das?“ [V.26]). Sie lässt sich so „Schritt für Schritt [von ihm] auf ihrem Erkenntnisweg“56 führen, der mit ihrem eindrucksvollen Bekenntnis des Glaubens schließt: „Ja, Herr, ich glaube (ἐγὼ πεπίστευκα57), dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll“ (V.27). In Joh 11,28 wird die Beziehung Martas zu ihrer Schwester anders als in der lukanischen Erzählung dargestellt. In Lk 10,40 richtet sich Marta an Jesus, weil sie ihre Schwester bei sich haben will: Die Erfüllung ihrer Bitte hätte zur Folge gehabt, dass die Beziehung Marias zu Jesus abgebrochen würde. In Joh 11,28 wird diese Dreiecksbeziehung anders gebildet: Marta ergreift wieder das Wort und wendet sich direkt an ihre Schwester und drängt sie zu Jesus (ἀπῆλθεν καὶ ἐφώνησεν Μαριὰμ τὴν ἀδελφὴν αὐτῆς λάθρᾳ). Die Begegnung Marias mit Jesus geschieht also, weil Marta ihre Schwester ruft (ἐφώνησεν), und ihr mitteilt: „Der Meister ruft (φωνεῖ) dich“ (V.28). Wie üblich im Johannesevangelium bedient sich der Ruf Jesu der Vermittlung durch Jünger: Andreas ruft Petrus (vgl. 1,45), Philippus Nathanael (vgl. 1,48), die Samariterin ihre Landsleute (vgl. 4,28f.).58 Indem sie die Beziehung ihrer Schwester zu Jesus ermöglicht (vgl. V.28), erweist sich Marta als Jüngerin bzw. Zeugin Jesu, die sein Wort weitergibt.59 53 54

55 56 57 58 59

O’Day, Martha, 492. Aufgrund ihrer Bemühung, die Verwechslung zwischen “character and personality” bzw. „a character in the narrative“ und „a person in Jesus’life“ (Ebd., 491) zu vermeiden, betrachtet G.R. O’Day m.E. exzessiv jeden Charakterzug Martas als „the temptation to interpret Martha as a person“ (Ebd.). Die Rolle des Redebeitrags Martas muss sicher erzählerisch analysiert werden, aber Marta ist auch ein runder Charakter innerhalb der Erzählung; d.h.: eine Figur, der der johanneische Autor durch einige Züge eine bestimmte Persönlichkeit gegeben hat. Koet/North, Image, 62. Theobald, Joh, 733. „Das Perfekt verleiht […] den durch πιστεύειν ὅτι eingeleiteten Bekenntnisaussagen besonderes Gewicht, es drückt […] hier ‚Intensität‘ aus […]“ (Frey, Eschatologie, 104f.) Vgl. Escaffre, Marta, 353f. Vgl. Zumstein, Jean, 375.

Hören und Handeln – Maria und Marta

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Auffallend ist der Auftritt Marias in der Erzählung, der mit der Haltung Martas kontrastiert: „Maria saß im Haus“ (V.20). „Das ist ein Trauersitzen, die den gewöhnlichen jüdischen Klageriten entspricht.“60 Diese kurze Notiz charakterisiert Maria als eine in ihrer Traurigkeit verschlossene Figur. Dieser Aspekt stellt sich noch deutlicher durch den Vergleich der jeweiligen Begegnung von den zwei Schwestern mit Jesus am gleichen Ort heraus:61 Maria, wie Marta, hört, dass Jesus kommt (V.20 / V. 29), und reagiert identisch, indem sie zu ihm geht (V. 20 / V. 29); Maria gebraucht dann buchstäblich die Worte ihrer Schwester: „Herr, wenn du hier gewesen wärest, so wäre mein Bruder nicht gestorben.“ (V. 21 / V. 32). Dennoch liegt der Unterschied zwischen den beiden Schwestern darin, dass Marta sich für das Wort Jesu öffnet (vgl. V.22), während bei Maria ein Vertrauenswort zu ihm fehlt: Sie schweigt und erweckt so „nur den Eindruck einer Klagenden.“62 Dieser Eindruck wird durch den Kontext verstärkt: „Jesus sah, wie sie weinte (κλαίουσαν) und wie auch die Juden weinten“ (V.33). Im Gegensatz zu Marta verschließt sich Maria in ihrer Trauer, was das Fallen zu Jesu Füßen in V.32 eben veranschaulicht: Es ist der Ausdruck der Last des Todes,63 die den Zorn Jesu in V.33 auslöst. Die Reaktion Jesu (ἐνεβριμήσατο τῷ πνεύματι καὶ ἐτάραξεν ἑαυτὸν) wird von einigen Kommentatoren so ausgelegt, als ob Maria und die Juden „Jesus keine Macht über den Tod zutrauen“. Sie hätten einen imperfekten Glauben, weil „sie in ihm nur den Krankenheiler sehen, nicht aber den, der den Tod überwindet und das Leben schenkt.“64 Der Zorn Jesu in Joh 11,33 richtet sich jedoch nicht gegen diejenigen, die weinen,65 sondern gegen den Tod,66 dessen Macht Maria hindert, sich ihm zu öffnen. Ein drittes Mal ergreift Marta das Wort, nachdem Jesus gefordert hat, vom Grab Lazarus den Stein wegzunehmen: „Herr, er riecht schon, denn er ist vier Tage hier“ (Joh 11,39). Der Einwand Martas wird von einigen Autoren verwendet, um ihr Glaubensbekenntnis in Joh 11,27 als unvollständig67 bzw. defizitär68 abzuwerten. Dennoch wird die Gegenüberstellung mit dem Tod im unmittelbaren Kontext durch die Bewegung zum Grab (V.38) und die Bezeichnung Martas als „Schwester des Todes“ besonders akzentuiert. Jesus weint; Martas Glaube schwankt: Was so betont wird, ist die ungeheure Macht des Todes. Martas Bekenntnis in V.27 ist richtig; nur die grausame und brutale Realität des Todes (ἤδη ὄζει) vermag ja ihren vollkommenen Glauben in Krise zu versetzen, der dann die Unterstützung und die Ermahnung Jesu braucht: „Habe ich dir nicht gesagt, wenn du glaubtest, so würdest du die Herrlichkeit Gottes sehen“ (Joh 11,40). Jesus steht 60 61 62 63

64 65 66 67 68

Theobald, Joh, 733. Miller, Mary (of Bethany), 477. Schnackenburg, Johannes, 418. Vgl. Blanchard, L’Église mystère, 102. Anders u.a. Schnackenburg, Joh II, 419; Dschulnigg, Jesus, 202; Zimmermann, Ethik, 164. Die Gebärde des Fußfalls wäre für diese Autoren (ebenfalls) eine Geste der Verehrung bzw. der Anbetung Jesu. Theobald, Johannes, 738. So aber Bultmann, Johannes, 421. Vgl. u.a. Brown, John, 435. Das Verb ταράσσω darauf findet sich noch in Joh 12,27; 13,21; 14,1.27 jeweils in einem Zusammenhang, in dem der Tod erwähnt ist. Stimpfle, Blinde sehen, 140; Moloney, Martha and Mary, 490; Ders., Reading, 520. Zimmermann, Ethik, 163.

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an der Seite der Weinenden und Trauernden: Sein Wort zu Marta ist deswegen keine Zurechtweisung, sondern die Aufforderung, im Glauben durchzuhalten, damit sie zur Schau seiner Verheißung gelangt: ὄψῃ τὴν δόξαν τοῦ θεοῦ.69

3.

Handeln in der Stille (Joh 12,1–8)

Nur das Wunder der Auferstehung von Lazarus konnte Maria aus ihrer Trauer herausholen. Nachdem es in Joh 12,1f. wieder hervorgehoben wurde, dass Lazarus derjenige ist, den Jesus von den Toten auferweckt hat, kommt die Stunde der Maria. Marta ihrerseits „bedient“ (vgl. Lk 10,38); sie verschwindet aber sofort aus der Erzählung, ohne ein Wort gesprochen zu haben. In der ganzen Szene der Salbung schweigt Maria. Sie ist aber als Handelnde beschrieben: Sie nahm „ein Pfund echtes, kostbares Nardenöl, salbte Jesus die Füße und trocknete sie mit ihrem Haar“ (V.3). Maria erklärt ihre Geste nicht; dennoch zeigen der Wert (dreihundert Denare V.5), die Qualität (πιστικός V.3) und die Abundanz (ein Pfund V.3) des Öls70 sowie ihre Handlung ihre tiefe Liebe zu Jesus. Ihre Initiative löst dennoch den Vorwurf des Judas aus, wonach dieses Salböl für dreihundert Denare verkauft und den Armen der Erlös gegeben werden sollte (V.5). Judas verwendet ein soziales Argument (den Armen helfen), das im Gesetz steht: „Denn es wird immer Arme geben im Land, darum gebiete ich dir: Du sollst deine Hand willig auftun für deinen bedürftigen und armen Bruder in deinem Land“ (Dtn 15,11). Da der Einwand von Judas mit der Autorität der Schrift gedeckt ist, scheint er deswegen unüberwindbar. Jesus antwortet jedoch darauf: „Die Armen habt ihr allezeit bei euch“ (V.8a). Jesus nimmt Dtn 15,11 wieder auf und betont auf diese Art und Weise, dass die Forderung des Gesetzes bezüglich der Armen „allezeit“ gilt. Dennoch bleibt Jesus bei den Jüngern „nicht allezeit“: „mich aber habt ihr nicht immer“ (V.8b). Bald wird Jesus sterben und begraben werden: Die parallele Struktur zwischen V.8a und V.8b hat infolgedessen nicht die Relativierung der Hilfe für die Armen zugunsten Jesu als Ziel, sondern die Pointe des Verses liegt in der Wahrnehmung der Dringlichkeit der Zeit.71 Im Blick auf sein baldiges Sterben muss das überraschende Handeln Marias gedeutet werden: „Lass sie! Sie sollte es für den Tag meines Begräbnisses aufbewahren“ (V.7). Die Geste der Verehrung Marias ist in diesem Sinn nicht ein Beispiel, das allezeit wiederholt werden muss, weil die Bedingungen einzigartig sind: Die Deutung, die Jesus ihrer Gebärde gibt, zeigt aber, dass Maria als echte Jüngerin, die Jesus liebt, „den Kairos“ seiner Gegenwart erkannt hat. 69 70

71

Vgl. Chibici-Revneanu, Herrlichkeit, 157ff. Der Duft des Öls, der sich im Haus verbreitet (V.3), kontrastiert mit Joh 11,39: Während das Wort Martas („Herr, er riecht schon“) die Realität des Todes betont, ist der Duft hingegen ein Bild des Lebens: „Der Duft jeder Bestattungssalbung war entsprechen dem gängigen kulturellen Wissen der antiken Welt als Hinweis auf Leben über den Tod hinaus zu verstehen.“ (Kügler, Duftmetaphorik, 163). Vgl. Calduch-Benages, fragancia, 257–263. Vgl. Léon-Dufour, Jean, 449; Blanchard, L’Église mystère, 107.

Hören und Handeln – Maria und Marta

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Fazit Maria und Maria auf zwei gegensätzliche Typen – vita contemplativa (ora) vs. vita activa (labora) – zu reduzieren, entspricht weder der lukanischen noch der johanneischen Erzählung. Maria bleibt immer aktiv, auch in ihrer Kontemplation: In Lk hat sie selbst ihren Platz am Fuß Jesu gesucht (παρακαθεσθεῖσα) und hört dauerhaft Jesus zu (ἤκουεν); in Joh 12 ergreift sie die Initiative, Jesus zu salben, die zu dessen Verehrung führt. Ebenso ist das Dienen Martas an sich nicht der Grund des Vorwurfs Jesu, sondern ihr abgelenktes Verhalten; im Johannesevangelium wird ihr Handeln positiv dargestellt: Einerseits mündet ihre Begegnung und ihr Dialog mit Jesus in ihr Glaubenserkenntnis und andererseits erweist sie sich als die Überbringerin des Rufes Jesu an ihre Schwester. Durch die Gestalten der beiden Schwestern zeigen die Evangelisten bestimmte Gefahren (Abgelenktsein, schwankender Glaube, Verschlossenheit) und mögliche Wege der Nachfolge Jesu, mal durch das Vorbild Maria (das Hören [Lk]; das Handeln in der Stille [Lk und Joh 12]; die Liebe; die Bewertung des Augenblicks [Lk und Joh 11]), bald durch das Vorbild Martas (das Handeln, das Sprechen [Joh 11]). Durch ihre Schwäche und ihre Stärke stellen die Evangelisten so Maria und Marta als zutiefst menschliche Figuren dar, die den Leser ermutigen können, in den Höhen und Tiefen des Glaubens wie in der rechten Jüngerschaft Jesu standhaft zu bleiben.

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„Nichtsnutzige Sklaven“ – Zur Konzeptualisierung von Arbeit in den Gleichniserzählungen des lukanischen Sondergutes Reinhard von Bendemann

1.

Einleitung: Die Frage nach der erzählten Arbeitswelt des lukanischen Doppelwerkes

Die vielleicht am häufigsten zitierte Stellungnahme aus der antiken griechischen Literatur zur menschlichen Arbeit findet sich in den (erst später so benannten) „Werken und Tagen“ des Hesiod. Es handelt sich dabei um eine auch in der antikgriechischen Literatur weithin singuläre Hochschätzung der anstrengenden körperlichen Arbeit. Wie man aus einem biographisch gehaltenen Abschnitt der „Theogonie“ des Hesiod erfährt (Hesiod, Theogonie 22ff.), in dem der Verfasser sich selbst als einen Bauern und Hirten einführt, ist der in den Versen der „Werke und Tage“ (VV.286–316) angeredete Perses der Bruder des Dichters, der seinen Anteil am Grundbesitz der Familie durchgebracht hat und nun einen Teil des Erbteils des Dichters fordert. Weiter kann man ersehen, dass dieser Bruder durch Bestechung des „Herren“ (Hesiod, Werke und Tage 38) mit seinem zweifelhaften Plan Erfolg gehabt hat. Vor diesem Hintergrund, zugleich aber auch vor dem einer besonderen Geschichtskonzeption, die vom Verlust des Goldenen Zeitalters her ansetzt, versteht es sich, wenn Hesiod in den „Werken und Tagen“ auf der Einhaltung von gültigem Recht und der Wahrung von Grundbesitz besteht und dem „dummen Perses“ gegenüber die harte Arbeit mit den eigenen Händen vor Augen führt. Diese Arbeit erscheint dabei – wie die Wahrung des Rechts – mühselig und lastenvoll, am Ende aber überaus segensreich. Arbeit gilt als ehrenvoll, Faulheit und Trägheit dagegen werden als schändlich begriffen. Die schweißtreibende körperliche Arbeit wehrt dem Hunger und füllt die Scheunen; sie mehrt Besitz und Reichtum. Sie schafft so zugleich die Voraussetzung für ein tugendhaftes Leben, sie ist die Prämisse für das Gutsein des Menschen: Arbeit ist Geschenk der Götter. Sie erwirkt den Menschen darum nicht nur das Ansehen der anderen Sterblichen, sondern sie macht sie vielmehr auch den Unsterblichen, den Göttern, teurer / lieber.1 1

Vgl. zu diesen berühmten und oft aus ihrem Zusammenhang gelösten Versen und ihrer Rezeption: Vischer, Leben, 32–34; a.a.O., 33: Auch für Hesiod „bleiben Reichtum und Ehre erstrebenswert. Sie äußern sich freilich in anderen Formen als beim homerischen Adel, und der Weg, welcher dazu führt, ist gänzlich verschieden […]“. Vgl. Meier, Arbeit, 47–109, hier: 69–72. Zur antiken Rezeptionsgeschichte der berühmten Hesiod-Verse: Xenophon, Memorabilia I 2,56.

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Reinhard von Bendemann

Dieser so besonderen Hochschätzung harter körperlicher Arbeit bzw. einer entsprechenden Anstrengungsbereitschaft durch einen griechischen Verfasser des 7. Jahrhunderts v. Chr. stehen zahlreiche Texte der hellenistisch-römischen Zeit gegenüber, die davon ausgehen, dass der Edle und Glückliche als solcher dadurch ausgezeichnet ist, dass er nicht mit eigenen Händen zu arbeiten hat. Glückliches und erfülltes Leben wird denen zuteil, die die mühselige Erarbeitung des Lebensunterhaltes anderen überlassen können, die sich vielmehr „höheren“ Dingen zu widmen vermögen, etwa der Philosophie, der Schriftstellerei bzw. den „Wissenschaften“.2 Die grundsätzliche Unterteilung der Gesellschaft in solche, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen, und solche, die dies nicht tun müssen, bietet die fundamentale Voraussetzung hierfür. Zugleich sind die sozialgeschichtlichen Voraussetzungen überaus komplex; die historische und soziale Situation zur Zeit des Hesiod ist in keiner Weise in die neutestamentliche Zeit fortzuschreiben. Die Arbeitsfelder sowie die sozialen Bedingungen der hart Arbeitenden haben sich grundlegend geändert; und geändert haben sich entsprechend auch die Definitionen von „Arbeit“.3 Dies betrifft nicht allein die Situation der Sklaven – Hesiod war nicht Sklave, sondern frei – und weiteren, die wirtschaftlichen Strukturen der Gesellschaft mit ihrer Hände Arbeit tragenden Gruppen.4 Betroffen sind auch Konzepte der Betätigung von „Oberschicht“-Zugehörigen. Mit dem Ende der römischen Republik kommt es zu Neubestimmungen des Verhältnisses von σχολή / otium (Muße) und neg-otium. Wie sind in diesem Spannungsfeld frühchristliche Texte zu verorten? Wie wird in ihnen „Arbeit“ wahrgenommen und interpretiert? Im Folgenden wollen wir entsprechende Fragestellungen an Texten des lukanischen Doppelwerkes erproben. Im Hinblick auf dieses Werk gehen wir von der Skizze eines allgemeinen Rahmens aus. Bei allen Differenzen in der Einschätzung im Einzelnen entspricht es einem weitreichenden Konsens in der Lukasforschung: Das dem κράτιστος Θεόϕιλος zugeeignete Doppelwerk gibt uns Einblicke in die Welt einer Christenheit, in der sich ein sozialer Aufstieg vollzieht. Sozialer Aufstieg geht bei Lukas mit dem Vordringen des Frühchristentums in die Städte des römischen Imperiums einher. Die grundsätzliche Orientierung an städtischen Verhältnissen bricht sich im Lukasevangelium in vielfältiger Weise. Jesus bewegt sich in Städten, man findet ihn bei Symposien in den Häusern von vornehmen Juden (vgl. Lk 7,36–50; 2

3 4

Vgl. die Schilderung des Tagesverlaufes eines Sommertages auf seinem Landgut in Tuscien durch den römischen Aristokraten, Großgrundbesitzer und Literaten Plinius den Jüngeren an den Freund Fuscus in epistula IX 36. Das „cogito, si quid in manibus“ bezieht sich hier auf die geistige bzw. schriftstellerische Betätigung, die zudem von einem Sekretär ausgeführt wird. Das negotium (siehe unten) auf dem Landgut, in Distanz zur Stadt, ermöglicht die „geistige Spannung“ (intentio); der Briefverfasser sucht die Gemeinschaft mit eruditi. Die „bäuerlichen“ Klagen der Pächter (coloni) und damit die verwalterische Sorge für das Landgut des Plinius des Jüngeren erscheinen eher als lästige Nebenpflicht, die den Verfasser mit Sehnsucht nach den Wissenschaften (litterae) und den Geschäften (opera) in der Stadt erfüllen. Zur Ausdifferenzierung von Arbeiten und Berufen in hellenistischer Zeit vgl. Schneider, Kulturgeschichte, 70–183. Siehe zu den Umbrüchen: Grassl, Sozialökonomische Vorstellungen, 95–101.

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14,1–24 u.a.) etc. Soziale und kulturelle Verhältnisse verweisen insgesamt stärker in eine städtische Welt, als dies im Markusevangelium oder auch in der Spruchquelle Q der Fall ist; dies gilt vor allem auch für den zweiten Band des auctor ad Theophilum. In der Apostelgeschichte erscheinen die Jesuszeugen vor Vornehmen und Gebildeten: Der erste getaufte Heide ist ein römischer Militär, ein centurio; der erste Mann, den Paulus auf seinen Reisen zum Glauben führt, ist ein römischer Statthalter: Sergius Paulus (Apg 13,6f.). In Korinth gewinnt Paulus einen Vorsteher oder Patron einer Synagoge (Krispus: Apg 18,8). Die erste Person, die in Philippi zum Glauben kommt, ist eine Purpurhändlerin (Apg 16,14f.). Später spricht Paulus vor Statthaltern, gar vor Königen, er legt als römischer Bürger Einspruch beim Kaiser ein und gelangt so schließlich in die Kapitale des römischen Imperiums. Nicht nur der soziale Status, auch die entsprechenden Vermögensverhältnisse der Beteiligten ändern sich im lukanischen Doppelwerk im Vergleich zu den älteren Quellen. Christen besitzen eigene Häuser; das Haus der Maria, der Mutter des Johannes Markos, in Jerusalem hat ein Atrium (Apg 12,13f.), und Maria gehört nach Lukas eine παιδίσκη, eine eigene Magd, die als Pförtnerin fungiert. Der römische Statthalter Felix in Jerusalem erwartet von Paulus Bestechung (Apg 24,26), d.h. er hält ihn für einen Mann, der hierzu finanziell in der Lage wäre. Paulus kann in Ephesus eine σχολή anmieten, einen Hörsaal, in dem er unterrichtet (Apg 19,9) etc. Mit dieser Orientierung hin auf Figuren und Kreise mit einem gehobenen Status bzw. entsprechendem materiellen Besitz korrespondiert auch eine zunehmende Wertschätzung von παιδεία; das lukanische Doppelwerk ist insbesondere für Leser attraktiv, die eine weiter reichende Bildung erfahren haben. Lukas beherrscht die Gattungen der zeitgenössischen Literatur, er ist vertraut mit verschiedensten Bildungselementen seiner Zeit und kann damit entsprechende Erwartungen an ein literarisches Werk befriedigen. Setzt man solche Befunde insgesamt zusammen, so wird plausibel: Mit Lukas steigt das Christentum langsam sozial „nach oben“ auf. Im Hinblick auf unser Thema, die Frage nach der Konzeptualisierung von „Arbeit“, legen sich damit zunächst diachrone Frageschritte nahe: Wie ändert sich durch einen „sozialen Aufstieg“ und durch das zunehmende Niveau von „Bildung“ bei Lukas die Perspektive auf das, was bei Hesiod als harte bzw. anstrengende körperliche „Arbeit“ gilt? Wie ändern sich Konzepte und Wahrnehmungen im Vergleich zu denjenigen Schriften, auf die Lukas hier zurückblickt? Jenseits einer entsprechenden diachronen Betrachtungsweise, bzw. zunächst als ihre Voraussetzung, ist zugleich zu untersuchen, wie die Koordinaten eines Verstehens menschlicher „Arbeit“ im lukanischen Erzählwerk als solche zu erschließen sind – in der Spannung von erzählter Welt und besprochener Welt. 1. Fragt man nach der Interpretation menschlicher „Arbeit“ im Werk des Lukas in ihrem Verhältnis zu zeitgenössischen oder vorausliegenden Konzepten, so ist zunächst unklar, worauf man die Untersuchung eigentlich richten soll, da es weder in der antiken Gräzität insgesamt noch in den frühchristlichen Texten im Besonderen eine dem deutschen Begriff „Arbeit“ entsprechende Terminologie gibt.5 Kommen im Griechischen in besonderer Weise die Derivate der Stämme 5

Zu historischen, sozialwissenschaftlichen, ökonomischen und philosophischen Konzepten der „Arbeit“ vgl. (mit weiterer Literatur): Füllsack, Arbeit; Gorz, Arbeit.

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πον- (Mühe, Anstrengung), κοπ- (Mühsal, Beschwerde; das Nomen: Mk 14,6 u.a.; zum Verb s.u.), μοχϑ- (schwere, mühselige Arbeit; vgl. 1Thess 2,9; 2Kor 11,27 u.a.), ἀθλ- (ehrenvolle agonale Anstrengung o.ä.; im NT findet sich die Wurzel nur in 2Tim 2,5; Hebr 10,32) und ἐργ- (Taten, Betätigung, Tagewerk o.ä.) in Betracht, so begegnen die Wurzeln πον- sowie μοχϑ- bei Lukas gar nicht; κοπιᾶν findet sich beim Fischzug des Petrus (Lk 5,5; vgl. von Bauern: 2Tim 2,6), in der Wiedergabe von Q-Stoff in Lk 12,27 par, sowie – an einer in historischer Hinsicht sehr naheliegenden Stelle – beim Rückblick des Paulus auf seine mühevolle (Missions-)„Arbeit“ in Apg 20,35 (im zweiten Buch des Lukas nicht zufällig nur hier; vgl. 1Thess 2,9; 1Kor 15,10; 16,16; Gal 4,11; Phil 2,16; vgl. von anderen: Röm 16,6.12; das Nomen bei Lukas nur an zwei Stellen: Lk 11,7; 18,5). Dieser Befund verbindet Lukas mehr oder weniger mit der zeitgenössischen griechischen und auch der lateinischen Literatur.6 Man kann also bei Lukas nach vielerlei „Tätigkeitsformen“ fragen, ihrer erzählerischen Inszenierung und „Besprechung“, nicht jedoch nach einem Gesamtkonzept, welches dem deutschen Begriff „Arbeit“ entspräche. 2. Damit stellt sich die Frage nach einem methodischen Zugang. Wenn man von einem „sozialen Aufstieg“ der lukanischen Christenheit ausgeht (s.o.), so liegen in dieser These in Wahrheit drei verschiedene Ebenen der Beschreibung ineinander: Die erste Ebene betrifft die soziohistorische Beschreibung, das Problem der „realen“ ökonomischen Situierung. Meist wird z.B. die Frage von Armut und Reichtum bei Lukas auf diese „Realien“-Ebene bezogen. Dass diese isolierte Perspektive problematisch ist und ggf. zu kurz greift, kann man z.B. daran sehen, dass die Frage, ob Lukas denn nun der Evangelist der Armen oder der Reichen sei, in der Forschung immer noch verschieden beantwortet werden kann.7 Damit zur zweiten Ebene, der des „Status“. Wie Wayne Meeks im Anschluss an Max Weber geltend gemacht hat, ist „Status“ ein vieldimensionales Phänomen und lässt sich nicht auf soziökonomische „Ist“-Verhältnisse bzw. die Zuordnungen zu ökonomischen Schichtenmodellen reduzieren.8 Zunächst müssen demnach „zugeschriebener“ und „erworbener“ Status unterschieden werden. So wird z.B. erklärbar, dass Personen mit hohem sozialem Ansehen in einer städtischen Gemeinde nicht notwendig die ökonomischen Ressourcen besaßen oder kontrollierten. „Status“ ist nicht nur im Blick auf ökonomischen Wohlstand und Besitz, sondern auch in Hinsicht auf politische Einflussmöglichkeiten, ethnischen Hintergrund, Erziehung, familiäre Einbindung und religiöse Überzeugungen und Praxis zu differenzieren.

6

7 8

Die Begriffe lassen sich nicht in feststehende semantische Gruppen systematisieren, die sich mit Schichten vermitteln ließen, wie Stegemann/ Stegemann dies vorschlagen (Stegemann/Stegemann, Sozialgeschichte, hier: 36). Entsprechendes gilt für lateinische Begriffe wie labor, industria, ars, negotium, opera, munus, occupatio und officium. Auf eine ausführliche Auflistung der Literatur zum Problemkreis muss hier verzichtet werden. Eine traditionsgeschichtliche Vermittlung sucht Neumann, vgl. auch Kramer, Lukas. Meeks, Urchristentum, hier: 115–120; zur Differenzierung von „Schicht“ und „Status“ auch: Stegemann/ Stegemann, Sozialgeschichte, 62–64. Vgl. ferner Bourdieu, Soziologie; ders., Religion; Joas /Knöbl, Sozialtheorie, 518–557.

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Damit ist die dritte Ebene angesprochen. Hier geht es um die Frage der Inszenierung und Zuschreibung von Status bzw. statusbezogenen Werten in Texten. Diese dritte Frage-Ebene lässt z.B. die Möglichkeit zu, dass tatsächliche Trägerkreise, ein Autor oder seine Adressatenschaft, mindestens teilweise „unten“ auf einer Status-Skala stehen, jedoch in einer literarischen Statuskonstruktion Werte „von oben“ adaptieren bzw. sich an ihnen ausrichten. Eine solche Wertorientierung „nach oben“ bzw. die Adaption entsprechender Werte und Bildungselemente lässt sich im Werk des Lukas tatsächlich an verschiedenen Stellen nachweisen, und von dieser dritten Ebene her wollen wir methodisch ansetzen – ohne damit die anderen Ebenen völlig auszublenden. Es geht also im Folgenden nicht (allein) um die Frage, wie sich das Verständnis von „Arbeit“ in einer Christenheit gestaltet, zu der zunehmend auch Reiche bzw. Bessergestellte gehören; es geht auch nicht primär um die sozialgeschichtliche Verortung des Autors oder seiner Leserschaft „in höheren Kreisen“. Es geht um die Frage, wie sich Orientierungen und Zuschreibungen im Blick auf Werte vollziehen, die mit dem Status von Menschen korrelieren, die für ihren Lebensunterhalt keine anstrengende „Arbeit“ mit ihren eigenen Händen leisten müssen. In diesem Sinne wollen wir im Folgenden nach einem Wertewandel im Hinblick auf die menschliche Arbeit in Inszenierungen und Zuschreibungen der lukanischen Texte fragen. Hierfür wollen wir nicht von einzelnen Vokabeln / Termini ausgehen – da ein solcher Zugang, wie wir oben sahen, kaum möglich ist –, sondern von narrativen Konzeptualisierungen. Beschränken wollen wir uns dabei auf eine Reihe von Beobachtungen zu lukanischen Sondergutgleichnissen. Dabei interessiert uns nicht, ob diese Texte für sich genommen ein eigenes Korpus darstellen und wie ihre literarische und überlieferungskritische Vorgeschichte im Einzelnen aussieht. Wir wollen sie als Teil des Werkes des Lukas betrachten und interpretieren und diachrone Frageschritte nur insofern einbeziehen, als sie grundlegende konzeptionelle Veränderungen sichtbar machen können.9 Schon bei einer ersten oberflächlichen Betrachtung erweisen sich Gleichniserzählungen, die dem lukanischen Sondergut zugeschrieben werden, für unser Thema als interessant. Es findet sich in ihnen eine Vielzahl von verschiedenen Berufen bzw. „Arbeitsrollen“. Im Vergleich zum älteren Markusevangelium und auch zu Texten der Spruchquelle Q, die Lukas voraussetzt, ist eine deutliche Vermehrung bzw. Diversifikation festzustellen. Wir erfahren z.B. von einem Geldverleiher (Lk 7,41–43), von verschiedenen Berufsrollen im Bereich der Landwirtschaft (vgl. Lk 12,16–21; 13,6–9; 15,4–7.11–32; 17,7–10), von einem „Verwalter“ (Lk 16,1–8), einem Richter (Lk 18,1–8) oder auch von jemandem, der einen Turm bauen möchte, bzw. einem, der in den Krieg zieht (Lk 14,28–32), sowie von verschiedenen religiösen „Arbeits“rollen (vgl. Lk 10,30–35; 18,9–14).

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Zu den Einzeltexten vgl. (auswahlweise): Fitzmyer, Luke; Heininger, Metaphorik; Green, Luke; von Bendemann, Zwischen ΔΟΞΑ und ΣΤΑΥΡΟΣ.; Wolter, Lukas; ferner die einschlägigen Abschnitte, in: Zimmermann, Gleichnisse.

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2.

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Figurenwelt, sozialer Aufstieg und die Frage nach einem Wandel in der Wertung von körperlicher Arbeit

In den Sondergutgleichnissen bieten häufig Reiche und Bessergestellte die Identifikationsfiguren. In Lk 7,41f. dient ein Geldverleiher als Modellfigur; Lk 12,16– 21 arbeitet die fatalen Konsequenzen einer verfehlten Lebensdisposition aus der Perspektive eines Reichen heraus (συνάγειν; ἑτοιμάζειν; ϑησαυρίζειν ἑαυτῷ). Überreiches Haben trifft in der Exposition des Gleichnisses vom Reichen und Lazarus (Lk 16,19–31) in antithetischem Kontrast auf besitzloses Elend. Der Reiche vermag sich in Purpur zu kleiden (vgl. Est 8,15; 1Makk 8,14; 10,62; 1QGenAp XX 31; Philostratos, Vita Apollonii II 20) und verbringt sein Leben in täglicher Freude (zum εὐϕαίνειν vgl. den Monolog des reichen Toren in Lk 12,19). Im lukanischen Erzählkontext (Lk 16,19f.) stellt er die dramatische Hauptfigur dar, mit der sich die Angesprochenen zunächst identifizieren sollen; die Erzählung fokussiert, wie sich seine Geschicke dann im Jenseits umkehren. In Lk 14,28–32 soll sich die angeredete Menschenmenge in die Rolle eines Menschen versetzen, der einen Turmbau bzw. einen Feldzug mit zehntausend Soldaten plant. a) In solchen narrativen Inszenierungen der Figurenwelt kommen in den Sondergutgleichnissen sozioökonomische Verhältnisse in den Blick, die in den Gleichnissen des Markusevangeliums und auch der Spruchquelle Q weitgehend fehlen. Eine entsprechende Verschiebung des „point of view“ betrifft auch die andere Seite der Skala. Im Markusevangelium fällt z.B. auf, dass in der erzählten agrikulturellen Welt Galiläas Sklaven gänzlich fehlen. Erst im Jerusalem-Teil seiner Erzählung weiß auch Markus von Sklaven.10 In der Spruchquelle Q ist verschiedentlich von Sklaven die Rede; die in den Texten dominante Rollenperspektive ist dabei die der Identifikation mit ihren Pflichten und ihrem Los; dagegen gibt es in Q kein Indiz dafür, dass Gruppenzugehörige selbst Sklaven hätten.11 In dieser Hinsicht bietet sich in der erzählten Welt des dritten Evangeliums ein grundlegend anderes Bild: Besonders augenfällig werden die Differenzen in der erzählten Welt von Lk 17,7–10: Das „wer von euch?“-Gleichnis fordert im Eingang nämlich nicht die Identifikation des Hörers / Lesers mit dem Sklaven – diese Perspektive findet sich erst am Ende in V.10 –, sondern vielmehr sehen sich die Rezipienten in die Rolle des Sklavenbesitzers hinein versetzt und in dieser Rolle angesprochen. Die Erzählung avisiert hier also eine Leserschaft, die selbst Sklaven besitzt bzw. der eine entsprechende Rolle vertraut ist. Unter den sogenannten „Knechtsgleichnissen“ spiegelt Lk 17,7–10 dabei am plastischsten die faktische soziale und rechtliche Stellung eines Sklaven, der in diesem Fall für Feld- und Hausarbeit zuständig und seinem Herrn ganz und gar hörig ist. Zum Ausdruck kommt: Sklaven gelten als eine res, als Teil des Inventars des Hausherren. 10 11

Vgl. dazu z.B. Mk 12,1–12; 13,33–36; 14,47.66f. Vgl. als Ausgangspunkt zur Rekonstruktion der entsprechenden Q-Stücke – mit den jeweiligen Mt-Parallelen –: Lk [12,42–46]; 14,16–24; 16,13; 19,12–26; dagegen bietet innerhalb der Erzählung von dem römischen Centurio Lk 7,8 par einen Ausnahmefall. Zur Konzeptualisierung im Spruchevangelium Q (auswahlweise): Heil, Parabel, 339–370.

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Was dies bedeutet, kommt innerhalb der antiken „de agricultura“-Literatur verschiedentlich zur Sprache. Marcus Terentius Varro unterscheidet in seinen „Res rusticae“ z.B. zwischen dem sprechenden Inventar eines landwirtschaftlichen Gutes, nämlich den Sklaven, und dem halb stimmbegabten Inventar, nämlich dem Vieh, sowie dem stummen Inventar, d.h. der agrikulturell technischen Ausstattung (Varro, Res rusticae I 17,1: „alii in tres partes, instrumenti genus vocale et semivocale et mutum, vocale, in quo sunt servi, semivocale, in quo sunt boves, mutum, in quo sunt plaustra“).12 b) Die Figurenwelt der lukanischen Gleichnisse zeigt veränderte soziale Rollenverhältnisse nicht nur in Beziehung auf Sklaven und Sklavenbesitzer, sondern auch in Hinsicht auf „mittlere“ Figuren wie Tagelöhner, freie Angestellte oder Vermögensverwalter. Beispielhaft deutlich wird dies bei der Figur des οἰκονόμος in Lk 16,1–8. Bei diesem wird die Leserschaft wahrscheinlich nicht an einen Sklaven denken (vgl. anders Lk 12,42, wo οἰκονόμος auf einen Sklaven verweist), sondern vielmehr an einen relativ unabhängigen Angestellten mit Vollmachten. Auch wenn die Geschichte in ihren Auskünften sparsam ist und nicht alle Details sozial- bzw. wirtschaftshistorisch aufgehen müssen, lässt die Verwalterfigur im Gleichnis, versteht man sie im Rahmen einer agrikulturell bestimmten Wirtschaft (vgl. die Schulden in Naturalien in Lk 16,5–7), an einen vilicus denken. Über die Aufgaben und Pflichten solcher vilici finden sich zahlreiche Bestimmungen in der griechischen und römischen „de agricultura“-Literatur. In Catos Fachmonographie „De agricultura“, die einen Leitfaden für die effektive landwirtschaftliche Produktion und das Marketing des kapitalträchtigen Gutsbesitzers beschreibt, wird z.B. das Desiderat der regelmäßigen Bilanzkontrolle angesprochen. „Kontrolliere die Geld- und Getreideabrechnungen und die Ausgaben für Viehfutter und (prüfe) die Wein- und Olivenabrechnungen, was verkauft wurde, was eingenommen wurde, was aussteht, was verkauft werden kann!“ (2,5: „rationes putare argentariam, frumentariam, pabuli causa quae parata sunt […]“). Auch bei Columella, dessen Werk als Höhepunkt der lateinischen agrikulturellen Fachliteratur gilt, finden sich im Zusammenhang eines auf Effizienz gerichteten Betriebes Anweisungen für den Verwalter, wie dieser ausgebildet und geprüft werden soll. 12

Vgl. Columella, De re rustica I 7,5–7 zu den im landwirtschaftlichen Betrieb Tätigen. Allerdings handelt es sich bei Lk 17,7–10 um einen der Texte, die man in einer sozialgeschichtlichen Exegese nicht zu schematisch auf das bemitleidenswerte Geschick von Menschen in einer römischen ‚Sklavenhaltergesellschaft’ heranziehen sollte. Zu beachten sind z.B. auch Texte, die nicht nur eine menschliche Behandlung von Sklaven voraussetzen (vgl. Seneca, epistula 47,2 u.a.), sondern vielmehr zeigen, welche Aufstiegsmöglichkeiten es für Sklaven gab, die auch relativ selbständige Funktionen übernehmen und zu Vermögen kommen konnten. Die Schäfer/ Hirten-Sklaven verfügten über eine relative Unabhängigkeit; Sklaven, die als zuverlässig galten, konnten sich unabhängig bewegen; es gab für sie verschiedene Aufstiegsmöglichkeiten in der Funktion von procuratores, vilici, actores und monitores (zur Auswahl von Verantwortlichen und zur Arbeitsverteilung unter den Sklaven Columella, De re rustica I 8f.). Vgl. zur geachteten Position von Sklaven auch Philo, Quod omnis probus liber sit 35. Aus der uferlosen Literatur zum Institut der Sklaverei in neutestamentlicher Zeit und seiner Wertigkeit (jeweils mit weiterer Literatur): Fitzgerald, 141–175; Harrill, Slave.

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Besonders wird die „Treue“ gegenüber dem Herrn eingeschärft (Columella, De re rustica XI 1,7: „domino fidem ac benevolentiam exhibeat“). In den Pflichtenkatalogen der vilici entsteht damit eine Art Gegenbild zu Lk 16,1–8. Leserinnen und Leser müssen in dem Protagonisten der Gleichniserzählung vor einem entsprechenden Hintergrund tatsächlich einen „Verwalter der Ungerechtigkeit“, d.h. einen in seinem Handeln von Ungerechtigkeit bestimmten Verwalter bzw. ein Beispiel von Untreue – so die Gleichnisanwendung in V.10 – erkennen; sein drohender Statusverlust erscheint berechtigt. Allerdings wird der Verwalter nach V.8a vom „Herrn“ gelobt, sein Handeln wird als „klug“ resp. „besonnen“ bewertet. Damit kommt ein „Stachel“ in die Erzählung hinein. Und wahrscheinlich spiegeln sich die Schwierigkeiten, die man bereits in der ältesten Rezeptionsgeschichte dieser Erzählung an diesem Punkt hatte, in den verschiedenen, in sich spannungsreichen Deutungen und Anwendungen, die in VV.9–13 an die Geschichte angeschlossen sind. Setzt man die Erzählung vom Lob des „Herrn“ in Lk 16,8 her zusammen, so erscheint Pflichtverletzung als „klug“, insofern sie sich auf einen höheren Status hin orientiert, nämlich die Aufnahme in die Häuser, die in der Gleichnisanwendung von V.10 eschatologisch interpretiert sind als „ewige Zelte“ / „ewige Häuser“. Innerhalb der lukanischen Konzeption ist damit die Perspektive individuellen postmortalen Heils angesprochen. In der Sache lässt sich dies als ein Standpunkt verstehen, wie er zeitgenössisch Verhaltensweisen der Oberschicht zugeschrieben wird. Man kann diesen Standpunkt in etwa so umschreiben: Höhere Ziele und übergeordnete Werte rechtfertigen im Zweifelsfall sogar kriminelles Handeln. Für unser Thema ist die Erzählung – bei allen Schwierigkeiten, denn der Verwalter ist im gegebenen lukanischen Kontext ein Negativbeispiel für Untreue und Ungerechtigkeit – an diesem Punkt auch deshalb interessant, da sie anstrengende körperliche Arbeit als ein vitandum, als etwas zu Vermeidendes, erscheinen lässt: In einem wahrscheinlich von Lukas geschaffenen Monolog bilanziert der Verwalter in Anbetracht seiner drohenden Entlassung seine Lage und seine Handlungsmöglichkeiten. In Lk 16,3 resümiert er innerhalb dieses Monologes: „Auf Graben verstehe ich mich nicht; zu betteln schäme ich mich“ (σκάπτειν οὐκ ἰσχύω ἐπαῖτειν αἰσχύνομαι). Die anstrengende körperliche Arbeit des Ackerbaus, die Hesiod Jahrhunderte zuvor so preist (siehe oben Punkt 1), erscheint hier als schlimmste Möglichkeit eines sozialen Abstiegs und der Entehrung, deren ebenso negative Alternative die Bettelei darstellt. c) Entsprechende Beobachtungen lassen sich auch im Fall des erzählerischen Verbundes dreier Gleichniserzählungen in Lk 15 anstellen. Die drei Gleichnisse vom Verlorenen in Lk 15 stehen in einer engen narrativen Wechselwirkung. Sie bieten, zusammen gelesen, ein Passepartout einer agrikulturell geprägten Arbeitswelt. Die wahrscheinlich aus Q stammende Hirtengeschichte (Lk 15,4–7) sowie das Sondergutstück von der Frau, die ihre verlorene Drachme sucht (Lk 15,8–10), spiegeln – bei allen schwierigen Fragen der Realiendeutung en détail – insgesamt bescheidene Verhältnisse. Für das Verständnis des Gesamtkapitels entscheidend ist auf der lukanischen Ebene jedoch die dritte Erzählung (Lk 15,11–32), denn erst hier wird nicht nur Verlorenes gesucht (so in Lk 15,4–10), sondern wird die

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Umkehr eines Verlorenen Grund zu großer Freude, was nach Lk 15,7.10 auch die Sinnspitze der beiden ersten Erzählungen ausmacht. Dabei gestalten sich die Statusfragen auch in Lk 15,11–32 komplexer; sie betreffen nämlich die familiären Bande zwischen dem Vater und seinen beiden Söhnen, das Verhältnis der Brüder zueinander und vor allem – im erzählerischen Gesamtrahmen (Lk 15,1–3) wie Schlussteil der Erzählung – Fragen der religiösen Definition von Gruppenzugehörigkeiten. Wie im Zusammenhang von Lk 16, 1– 13 geht es auch in Lk 15,11–32 um die Aufnahme bzw. Wiederaufnahme in ein „Haus“. Dabei kommt ein Haushalt in den Blick, in dem es Sklaven und nicht nur Schafe (Lk 15,4–7), sondern auch kostbareres Vieh (Lk 15,23.27) gibt. Die zeitgenössische Leserschaft könnte hier an eine villa bzw. eine Latifundie denken, die so planvoll bewirtschaftet wird, wie es z.B. Cato, Varro oder Columella in ihren Werken beschreiben. Auch hier steht die Arbeitswelt als solche nicht im Fokus, entsprechende Beobachtungen können nur an wenigen Details ansetzen. In Lk 15,25 kommt der ältere Sohn vom Feld, als er von der Rückkehr des jüngeren Sohnes erfährt; man kann daraus nur indirekt schließen, dass beide Söhne in der Landwirtschaft des Vaters selbst „arbeiten“ bzw. eine entsprechende Arbeit moderieren. Die Krise im ersten Strang der „irgendein Mensch“-Geschichte (Lk 15,11– 24) markiert der Abstieg des jüngeren Sohnes nach seinem Fortgang aus dem väterlichen Haus; in dem auch hier wahrscheinlich von Lukas gebildeten inneren Monolog13 VV.17–19 bilanziert der jüngere Sohn – ähnlich wie der Verwalter in Lk 16,3f. – seine Lage und plant, seinem Vater vorzuschlagen, ihn zu einem seiner Tagelöhner (μίσϑιος) zu machen. Vorausgegangen ist seine durch Hunger in der Fremde erzwungene Tätigkeit als Schweinehirt – das Elend wird in der Weise dramatisch gesteigert, dass er in der Abhängigkeit von einem fremden Bürger nicht einmal das Schweinefutter essen darf (Lk 15,14–16). Nur indirekt wird dabei die anstrengende körperliche Arbeit des jüngeren Sohnes in der Fremde als solche als Abstieg gedeutet. D. h. der Abstieg besteht weniger in der anstrengenden Arbeit als solcher; wichtiger sind Stichworte wie „Hunger“ und die mit Unreinheit konnotierten Schweine. Erinnert der Fall als solcher an die Situation des Hesiod – ein Erbe wird geteilt und ein Erbteil geht verloren bzw. wird verspielt (siehe oben Punkt 1) –, so lautet die Lektion der lukanischen Gleichniserzählung jedoch in keinem Fall wie die des Hesiod an die Adresse seines Bruders. Das fabula docet zielt nicht auf ein „arbeite hart!“ oder „wertschätze die Möglichkeit, für deinen Lebensunterhalt selbst aufzukommen!“, „verachte die Faulheit, die ἀ-εργία!“ Vielmehr werden in einem viel umfassenderen und grundsätzlicheren Sinn der Verlust des ursprünglichen Status als „Sohn“ und der Aufstieg in Folge der Wiedereinsetzung in den ursprünglichen Status durch den Vater – als Ausdruck von μετάνοια – fokussiert (vgl. Lk 15,20–24). Es bestätigt sich also auch in den gesteigerten Dimensionen dieser besonderen Gleichniserzählung, dass „Status“ sich nicht auf die ökonomischen Verhältnisse reduzieren lässt und menschliche Arbeit insbesondere den sozialen und religiösen

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Siehe hierzu Heininger, Metaphorik, 31–82.

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Faktoren nach- bzw. untergeordnet ist. Die Wiederaufnahme ins väterliche Haus dominiert die Frage nach anstrengender Arbeit. d) Wir sehen in diesen Gleichnistexten des lukanischen Sondergutes: Der Gesichtskreis der „Arbeitswelt“ erweitert sich, die ökonomischen Dimensionen werden im Vergleich zur erzählten Welt des Markusevangeliums und auch zur Spruchquelle Q deutlich gesteigert; insbesondere zeichnet sich ein Perspektivwechsel ab: Die Adressaten orientieren sich nicht an einem Ideal, das die Unterscheidung von „Freien“ und „Sklaven“ als für die Gruppenzugehörigkeit gänzlich irrelevant betrachtet; sie finden sich selbst nicht in der Rolle von „Sklaven“ vor, sondern sie werden in Statusverhältnissen angesprochen, innerhalb derer sie die Perspektive von Sklavenbesitzern einnehmen können. In Hinsicht auf die Inszenierung der ökonomischen Verhältnisse unterteilt sich die Welt im Werk an den κράτιστος Θεόφιλος deutlicher in solche, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen, und solche, die nicht dem Erwerbszwang unterliegen bzw. die andere für sich arbeiten lassen können. Insofern kann man in sozialgeschichtlicher Perspektive tatsächlich von einem „sozialen Aufstieg“ sprechen und von diesem her einen entsprechenden Wertewandel feststellen. Anstrengende Arbeit, die mit Plackerei und Schweiß einhergeht, bietet dabei nicht die Perspektive des Wünschenswerten, wie dies in dem eingangs angesprochenen berühmten Stück aus Hesiods „Werken und Tagen“ der Fall ist. Es ist deutlich erkennbar, dass die anstrengende Arbeit mit den eigenen Händen nicht als Gottesgabe aufgefasst und nicht als ein „Gut“ begriffen wird, dass per se „gut“ machen könnte.14 In den Blick kommen „höhere Werte“, der Status der Figurenwelt bestimmt sich in komplexer Weise von sozialen und religiösen Zuschreibungen her, die mit Themen wie Sündenvergebung, Umkehr / Buße oder auch der Ausrichtung auf das individuelle postmortale Leben bei Gott einhergehen. Die Adaption von Wertvorstellungen und Bildungselementen, die man in sozialgeschichtlichen Skalierungen der „Oberschicht“ zuweisen kann, dient primär innovativen Neubestim-

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Das notwendige resp. – bei Lukas – „tägliche“ (Lk 11,3f.; lukanisch τὸ καθ᾽ ἡμέραν) Brot wird im dramatisch-episodischen Zusammenhang Lk 11,1–13 nicht daraufhin reflektiert, dass es zunächst zu erarbeiten wäre. Das Gebet fixiert nicht ausdrücklich das Gelingen der Arbeit für den Broterwerb oder auch die Sorge um den Erhalt derselben. Am Ende des Erzählverbundes Lk 11,1–13 wird zudem deutlich: Gebetet wird bei Lukas weniger um konkrete irdische Gaben wie das Brot, als vielmehr um den „heiligen Geist“ (Lk 11,13), um „Gerechtigkeit“ (Lk 18,1–9) um Glauben / Vertrauen (Lk 18,8) oder auch darum, nicht in Versuchung geführt zu werden (Lk 22,40). In entsprechenden Aussagen des lukanischen Werkes ist eine theologische Abstraktion greifbar, die erst auf der Basis einer Saturierung elementarer Bedürfnisse verständlich wird, die als solche nicht mehr grundsätzlich in Frage stehen. Sozialgeschichtlich betrachtet, kann man auch hier wieder von der Adaption einer „Oberschichts“-Perspektive sprechen. Dargestellt in Bezug auf die klassische Bedürfnispyramide von Abraham Harold Maslow, nach der bestimmte Bedürfnisse überhaupt erst wahrgenommen werden können, wenn Hunger gestillt ist, die eigene Sicherheit gewährleistet und basale soziale Faktoren nicht in Frage stehen, gestaltet sich die lukanische Bedürfnispyramide in dieser Hinsicht deutlich different zu der der markinischen Konzeption sowie auch zu der von Texten der Spruchquelle Q bzw. zum ursprünglichen Vatergebet Jesu (11,2b–4*).

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mungen des religiösen Status; es kommt in verschiedener Weise zu einem „reversal“. In dieser „Umkehrung der Werte“ bilden die materiellen und ökonomischen Fragen nur einen, wenngleich wichtigen Faktor.

3.

„Nichtsnutzige Sklaven“ – Ansätze einer Unterscheidung von „höherer“ und „niederer Arbeit“

Die Haltung zum Thema der „Arbeit“ in der antik-griechischen Literatur lässt sich, wie klassisch schon Max Pohlenz gezeigt hat, im Grundansatz auf die Unterscheidung zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit bzw. Arbeitenden und Nicht-Arbeitenden zurückführen.15 Nun liegen die Dinge, wie wir schon eingangs festgestellt haben, in der späteren hellenistischen und dann der römischen Zeit nicht so einfach, und sie stellen sich insbesondere noch einmal anders dar, wenn man zeitgenössische Umbrüche mit einbezieht, die für die körperlich Nicht-Arbeitenden in den Städten des römischen Imperiums zu einschneidenden Status-Veränderungen führten. In literarischen Zeugnissen der frühen Prinzipatszeit nimmt eine Sichtweise deutlich zu, die sich sehr allgemein so umreißen lässt: Die Situation der Nicht-Arbeit, d.h. des Nicht-Mit-Seinen-Eigenen-Händen-Arbeiten-Müssens, kann im Sinn „höherer“ Betätigungen auch als „Arbeit“, als „eigentliche Arbeit“ begriffen werden, die innerhalb des Gemeinwesens „Ehre“ und „Ansehen“ vermittelt. Meint σχολή / otium ursprünglich den (zeitweisen) Rückzug von den öffentlichen Aufgaben16, so verschieben sich die Gewichte in der Kaiserzeit teilweise derart, dass nun das otium von Oberschichtszugehörigen geradezu als neg-otium, als eigentliches „Geschäft“ und eigentlicher Bereich der Übernahme von Verantwortung bestimmt werden kann. Damit können literarische oder philosophische Betätigungen, allgemein geistige und den freien Künsten gewidmete Aktivitäten oder auch das Engagement in Vereinen zu einer Art „Arbeit“ und „Pflicht“-Erfüllung „höherer Ordnung“ im Dienst der res publica avancieren. Solche Verschiebungen kann man auch in der erzählten Welt des Lukasevangeliums angedeutet finden. Deutlich wird dies, wenn man im dritten Evangelium auf die erzählerische Konstruktion der „Zwölf“ achtet, die bei Lukas zugleich als „Apostel“ wesentliche Brückenfunktion zur Zeit der Kirche hin erhalten. Hier ist eine nochmalige Betrachtung des Sklavengleichnisses Lk 17,7–10 aufschlussreich. Lukas lässt dieses Gleichnis speziell an die Adresse der Apostel gerichtet sein, die Jesus in Lk 17,5 um „Zugabe“ von „Glauben“ / „Vertrauen“ ersuchen. Im Sinn des Lukas ist damit eine Differenzierung sowohl im Jünger- als auch im Adressatenkreis intendiert; die Gleichniserzählung richtet sich an „Jünger“ / Christen mit besonderer Verantwortung in der Gemeinde. Eine entsprechende Applikation der Gleichniserzählung auf die Apostel / Jünger mit besonderer „Dienst“-Verantwortung stellt die Anwendung in Lk 17,10 dar. Hier dreht sich 15 16

Pohlenz, Mensch, 346–371. Siehe hierzu Schlapbach, Art. „Muße“, 357–369.

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nämlich die Perspektive der Erzählung, die die Pflichten des Pflügenden und der bei Tisch dienenden Sklaven herausstellt. Fordert das Gleichnis im Eingang, wie wir schon sahen (siehe Punkt 2), die Identifikation mit dem Sklavenbesitzer, so sollen sich die angeredeten Apostel am Ende in der Rolle des Sklaven sehen und die Umsetzung des ihnen Aufgetragenen (ὃταν ποιήσητε πάντα τά διαταχϑέντα ὑμῖν) aus dieser Rolle heraus begreifen. Sie sollen sich selbst, mit einer Wendung, die auch sonst in der antiken Literatur für Sklaven belegt ist,17 als „nichtsnutzige Sklaven“ begreifen. Lukas baut mit dieser Gleichnisanwendung auf einem im frühen Christentum bereits konventionalisierten Sprachgebrauch auf. Innerhalb dieses Sprachgebrauchs gelten christliche „Zeugen“ metaphorisch als „Sklaven“ / „Knechte“. Und die ihnen obliegenden Vollzüge des Pflügens, Weidens und Bedienens bei Tisch sind zu habitualisierten Metaphern für kirchliche Leitungsdienste geworden.18 Die Zielrichtung des Gleichnisses ist damit deutlich: Die Apostel sollen in ihren leitend-verantwortlichen Funktionen das ihnen vom „Herrn“ Aufgetragene wie Sklaven praktizieren und aus ihrem Dienst und dem mit ihm verbundenen Status keine extraordinären Ansprüche ableiten. In diesem und weiteren Gleichnissen, wie z.B. Lk 12,41–48, kann man ein Widerlager zu der oben angesprochenen Verschiebung im Verständnis von otium und negotium erkennen. Dabei wird die harte körperliche Arbeit von Feld- und Haussklaven nur noch metaphorisch eingeholt; sie wird in eine Unterscheidung von „niederer“ und „höherer“ Arbeit transformiert. In diesem Transformationsprozess wird wiederum ein Wertewandel in der Konzeptualisierung von „Arbeit“ erkennbar.

4.

Fazit und Ausblick

Fassen wir kurz zusammen. Lukas kennt keinen dem deutschen Begriff „Arbeit“ entsprechenden Terminus, gleichwohl geben uns die Sondergutgleichnisse Einblicke in vielfältige Inszenierungen von Tätigkeitsbereichen und beruflichen Rollen, dies häufig jedoch nur indirekt. Auffällig ist, dass auch in den Gleichniserzählungen des Lukasevangeliums überwiegend eine agrikulturelle Welt dominiert. „Tätigkeitsbereiche“ und „Berufsrollen“ sind überwiegend in diesem Bereich verortet. Unter literaturhistorischen Gesichtspunkten ließe sich im Blick auf die Dominanz der Berufswelt des Ackerbaus noch einmal ein „refraiming“ der Texte vornehmen. In der (traditionsgebundenen) Darstellung der Lehre Jesu (vgl. Lk 8,4–15; 12,16–21; 13,6–9; 15,4– 7.11–32 u.a.) können zeitgenössische Leser einen „taste for agriculture“ wahrnehmen, der in hellenistisch-römischer Zeit als durchaus literaturfähig gilt. 17 18

Zum „nichtsnutzigen Sklaven” vgl. Mt 25,30; Vita Aesopi G 54; W 54; 140: neben dem Superlativ von κακός; siehe die Belege bei Wolter, Lukas, 569. Zum Pflügen vgl. 1Kor 9,10; vgl. 1Kor 3,6–9; zum Weiden vgl. 1Kor 9,7; Apg 20,28; Joh 21,16; 1Petr 5,2; Jud 12; vgl. Apk 2,27; 7,17; 12,5; 19,15.

„Nichtsnutzige Sklaven“

205

Wie sehr für einen gebildeten Griechen gerade die Agrikultur als das Bewährungsfeld menschlicher Existenz gelten kann, zeigt exemplarisch die eingangs angesprochene Dichtung Hesiods. Auch in römischer Zeit wird die Landwirtschaft als solche hoch geachtet.19 So nimmt z.B. Cicero in seinem Alterswerk „De officiis“ die agricultura an einer berühmten und wirkungsreichen Stelle ausdrücklich von den „schmutzigen“ Berufen aus (Cicero, De officiis I 150f.).20 Viel stärker als Markus reflektieren die lukanischen Erzählungen Statusverhältnisse, die mit der Grundunterscheidung von Menschen einhergehen, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen, und solchen, die dies nicht müssen bzw. die andere für sich arbeiten lassen. Auch im Vergleich zu Zeugnissen, die der Spruchquelle Q zugerechnet werden, ist ein deutlicher Perspektivwechsel zu konstatieren: Man blickt nicht mehr so sehr „von unten nach oben“; das lukanische Werk kennt vielmehr den umgekehrten Blickwinkel. Bei allen Schwierigkeiten der Konstruktion von „Schichten“-Modellen (siehe oben Punkt 1), kann man von einer sich abzeichnenden „Oberschichts“-Perspektive sprechen, die zwar nicht allein bestimmend ist, sich jedoch insofern auswirkt, als körperliche und auch handwerklich-künstlerische Arbeit, die gesellschaftlich niedrig gewertet wird, auch in der lukanischen Erzählung nicht positiv in den Vordergrund gestellt ist. Ein genereller Wandel in der Bewertung von Statusfragen zeichnet sich ab. Durchgängig zeigt sich dabei allerdings, dass Lukas vorrangig am religiösen Status seiner Figurenwelt interessiert ist. Die Ergebnisse im Hinblick auf die untersuchten Sondergutgleichnisse wären durch weitere Beobachtungen am lukanischen Werk zu erweitern. Auffällig ist z.B. schon, dass Jesus bei Lukas, anders als bei Markus, nicht als Bauhandwerker bzw. Zimmermann (τέκτων; Mk 6,3; vgl. Mt 13,55: Sohn eines τέκτων) gilt; in seiner Heimatstadt avisiert Jesus dagegen die Möglichkeit, dass man ihn sprichwörtlich auf die Rolle des „Arztes“ hin anspricht (Lk 4,23). Weiter zu vertiefen wäre auch die Frage, wie Lukas aus seiner Erzählgegenwart insgesamt auf das besitzlose Bettelleben der Anfangsgestalten bzw. Träger des ältesten Jesusethos zurückschaut. Die lukanische Erzählung weiß darum und reflektiert innerhalb einer eigenständigen Erzählkonzeption, dass die frühesten Jesusnachfolger – zumindest teilweise – ihre beruflichen Existenzen aufgaben, um Jesus nachzufolgen und ein besitzloses charismatisches Wanderdasein zu praktizieren (vgl. Lk 10,4.7f. par; Mk 6,8f. par.). Schon in Q wird der Begriff des „Arbeiters“ (ἐργάτης) metaphorisch auf die prophetische Verkündigungssituation bezogen. Der Arbeiter, der seines Lohnes wert ist (Lk 10,7 par; vgl. 1Kor 9,14; 1Tim 5,18; Did 13,1), ist faktisch jemand, der von anderen unterhalten wird für einen Dienst, den er selbst im Sinn der βασιλεία als vorrangig und übergeordnet begreift. Der Terminus des „Arbeiters“ hat seinen Ort nicht in der Welt harter körperlicher Arbeit, sondern bezieht sich metaphorisch auf Aktivitäten im Bereich 19

20

Zur isolierten Hochschätzung der Landwirtschaft im Übergang von der römischen Republik zur Prinzipatszeit vgl. Nörr, Arbeit, 67–105, hier: 82–85; vgl. zum Folgenden Kehoe, Art. „Landwirtschaft (Ackerbau)“, 945–977, hier besonders 955–962. Vgl. die ausführlichere Liste von verwerflichen Berufen bei Dion von Prusa, Oratio 7, 110. Dion teilt die traditionelle Ablehnung sitzender Tätigkeiten bzw. Berufe durch die Griechen (vgl. Oratio 7, 112). Vgl. Xenophon, Oeconomicus 4,1; Seneca, epistula 90,19.

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Reinhard von Bendemann

der „Mission“ (vgl. 2Kor 11,13 von konkurrierenden betrügerischen „Arbeitern“). Die Probleme, die aus dem „Betteldasein“ der frühesten Jesusbegleiter in judenchristlichen Kreisen resultieren konnten, werden dann in der Didache erkennbar. In Did 11,4–6 (vgl. 13,1–7) werden den Ansprüchen entsprechender „Arbeiter“ Grenzen gesetzt; zugleich sucht die Didache eine Art Lastenausgleich des Unterhaltes entsprechender Gestalten durch die Gemeinden: Die Dauer der Versorgung wird auf einen Tag limitiert; wer drei Tage bleibt, gilt als „Lügenprophet“. Zudem sollen die wandernden Apostel nur Brot für ihren Weg erhalten und kein Geld. In der Sache kann man in der innovativen Bestimmung von „Missions“-Aufgaben als „Arbeit“ eine Analogie zu zeitgenössischen Verschiebungen in der Definition des Verhältnisses von negotium und otium erkennen. Auf das Ganze des lukanischen Doppelwerkes gesehen, ist unter den Protagonisten Paulus die große Ausnahme, insofern er auch bei Lukas als einziger tatsächlich mit eigenen Händen durch anstrengende Arbeit für seinen Lebensunterhalt selbst aufkommt (vgl. Apg 20,34).21 In der Aesop-Fabel vom Bauern und seinen Söhnen lautet das fabula docet: „Die Fabel zeigt, dass harte Arbeit für die Menschen ein Schatz (θησαυρός) ist.“ Unsere Untersuchung ausgewählter Sondergutgleichnisse im dritten Evangelium hat gezeigt, dass eine entsprechende Aussageintention im Werk des Lukas in keiner Weise als zentral gelten kann. Von einem sittlichen Wert und der sozialen Notwendigkeit anstrengender körperlicher Arbeit, von denen Hesiod schreibt, ist bei Lukas kaum zu sprechen. Weder Jesus noch einer seiner Jünger bzw. Zeugen mahnt bei Lukas zu fleißiger Arbeit. Umgekehrt fällt auf, dass keiner der Protagonisten des lukanischen Doppelwerkes vor Faulheit (als einem Grundlaster) warnt. In Anbetracht der paränetischen Grundtendenz der lukanischen Erzählung ist dies durchaus bemerkenswert.22 Allerdings gilt, dass die Resultate der Arbeit, das Erworbene und Erwirtschaftete, die Produkte, durchaus auch für die ἐκκλησία nicht ohne Relevanz sind, insofern sie im Sinne der ἐλεημοσύνη genutzt werden können und sollen. Insofern steht bei Lukas zwar nicht die „Arbeit“ als solche im Fokus, jedoch sind ihre Ergebnisse durchaus von Belang. Die „Schätze im Himmel“ (Lk 12,33f.) sind jedenfalls auch bei Lukas nicht völlig losgelöst vom Erwirtschaften und Erarbeiten irdischer „Schätze“. Insofern kann man sagen, dass die Frage nach Konzeptualisierungen der „Arbeitswelt“, wie wir sie gestellt haben, eine von außen an das Werk des Lukas herangetragene Problematik beschreibt – sie ist kein eigenständiges Thema in der erzählten Welt. Doch kann man durchaus mit Lukas und ihn weiterdenkend fragen, was z.B. die Forderung Jesu in der Feldrede, einem jeden Bittenden zu geben und von dem Nehmenden das Eigene nicht zurückzufordern (Lk 6,30 par; im Gleichnis: Lk 7,41f.), für eine durch und durch ökonomisierte, von der Maxime des do ut des bestimmte und auf Gewinnmaximierung und Effizienz angelegte 21

22

Zu „Handarbeit“ des Paulus in 1Kor 4,12a sowie zur traditionsgeschichtlichen Differenzierung von κόπος und πόνος bei Paulus vgl. Ebner, 69–75, 161–172. Vgl. die Betonung der eigenen Arbeit der Christen in Herm Sim IX 24, 1f.; 101,2; Barn 19,10f. Die Wurzel ἀ-εργ, die Hesiod im eingangs zitierten Text für den Faulen verwendet, begegnet bei Lukas nirgends. Vgl. im Neuen Testament nur Tit 1,12; Jak 2,20; 2Petr 3,1.

„Nichtsnutzige Sklaven“

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Arbeitswelt neuzeitlicher Gesellschaften bedeutet. Dies betrifft auch die im Umfeld der Sondergutgleichnisse wiederholt anklingende Warnung vor Geldgier und Habgier (vgl. Lk 12,13–34; 16,14–31). Im Kern muss es dabei auch um die theologische Wertigkeit von Arbeit gehen, die unter einem von Gott selbst gesetzten Vorbehalt in Hinsicht auf menschliche Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten steht23 und insgesamt in die Neudefinition der Wertewelt einbezogen ist, von der Lukas in seinem Werk erzählt.

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23

Vgl. z.B. zum alttestamentlich-weisheitlichen Hintergrund von Lk 12,16–21: Heininger, Metaphorik, 113–116. Vgl. Hengel, Arbeit, in: ThBeitr 17 (1986), 174–212, hier: 179–190 zur menschlichen Arbeit in alttestamentlicher Sicht.

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Reinhard von Bendemann

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Arbeit am Weinstock. Joh 15,1–8 im Spiegel des antiken Weinbaus1 Jan Heilmann

1.

Einleitung

Das Johannesevangelium kann innerhalb des Neuen Testamentes nicht gerade als arbeitsreiches Evangelium gelten. So weisen die synoptischen Evangelien im Gegensatz zu Johannes zahlreiche Gleichnisse auf, die in Relation zur antiken Arbeitswelt zu verstehen sind. Will man in der Arbeit des architriklinos beim Symposion auf der Hochzeit zu Kana nicht eine eigene antike Berufsgruppe sehen, dann beschränken sich die im JohEv vorkommenden Berufe auf den des Hirten und des Winzers. Mit der in Joh 10 aufgegriffenen Bildwelt des Hütens von Schafen einerseits und mit der Aufnahme der Bildwelt des Weinanbaus in Joh 15 andererseits rekurriert das JohEv aber auf zwei weit verbreitete, und damit gleichsam universal verständliche Betätigungsfelder der antiken Arbeitswelt. In Joh 15,1–8 wird die antike Arbeitswelt des Weinbaus – eingeleitet durch eines der johanneischen Ich-bin-Worte – in ein beeindruckendes Bild gesetzt, indem der Vater als Winzer gezeichnet wird, der am Weinstock Jesus handelt. Im Folgenden wird der Fokus auf die vom Text her möglichen Relationen der Bildrede vom wahren Weinstock auf die antike Arbeitswelt zu legen sein. Ich verwende angesichts der unübersichtlichen Diskussion über die formgeschichtliche Einordnung von Joh 15,1ff. den traditionellen Begriff „Bildrede“ weniger um die Gattung des Textes formgeschichtlich festzulegen,2 als vielmehr in pragmatischer Hinsicht die Beschreibungssprache möglichst verständlich zu halten Es ist relativ eindeutig, dass der Text eine Relation zu verschiedenen Arbeitsschritten im antiken Weinanbau herstellt. Im Gegensatz zu zahlreichen Kommentaren gehe ich allerdings nicht davon aus, dass diese eindeutig bestimmt werden können. In der Forschung werden die außertextlichen Referenzen zu den verschiedenen Arbeitsschritten häufig vorschnell festgelegt. Dabei können ein spezifisches theologisches Vorverständnisses, philologisch-semantische Vereindeutigungen der im Text vorkommenden Verben und/oder die fehlende Tiefe des Wissens über die Praxis des antiken Weinanbaus eine Rolle spielen.3 Durch die eindeutige Festlegung der Relationen des Textes auf die antike Arbeitswelt, kann dann die Vielfalt 1

2

3

Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf Überlegungen zu Joh 15, die ich in einem anderen Zusammenhang im Rahmen meiner Dissertationsschrift aufgestellt habe. Vgl. Heilmann, Wein, 241–280. Vgl. dazu die Problematisierung bei Zimmermann, Art. Bildworte/Bildreden/Bildersprache (NT), in: Wibilex (erstellt Oktober 2012; URL: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/50003/ [letzter Zugriff: 24.09.2015]). Vgl. z.B. Ritt, Imperativ, 136–150, hier: 138.

210

Jan Heilmann

der möglichen Bezüge nicht mehr wahrgenommen werden. Dies führt dazu, dass das gesamte Deutungspotential der Perikope nur unzureichend erfasst wird. Aus methodologischer und vor allem interpretationstheoretischer Sicht ist vorab folgendes anzumerken: Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, dass weder der Horizont moderner Leser noch ein allgemeines, enzyklopädisches Wissen über den modernen Weinanbau als Maßstab für eine exegetische Untersuchung der Bildrede vom wahren Weinstock herangezogen werden darf. Für die Problemstellung hilft es aber auch nicht weiter, a) nach den vom Autor intendierten Bezüge zur antiken Weinbaupraxis zu fragen oder b) nach dem kulturellen Wissen über den antiken Weinbau der intendierten Leserschaft, womöglich in einer angenommenen johanneischen Gemeinde. Die mit a) verbundenen Probleme einer rein auf die Autorintention gerichteten Textinterpretation sind hinlänglich bekannt und müssen nicht weiter kommentiert werden. Auch die zu b) zu nennenden methodischen Schwierigkeiten (v.a. das Problem zirkulärer Argumentationen sowie des Verhältnisses des JohEv zu den Briefen) werden in der Forschung breit diskutiert, wobei sich diesbezüglich allerdings noch kein Konsens abzeichnet. Das JohEv ist als literarischer Text kein Brief, der an eine bestimmte Gemeinde adressiert ist. Das bedeutet aber wiederum nicht, es ahistorisch als rein literarisches Kunstwerk zu betrachten. Das JohEv ist als Teil einer antiken kommunikativen Beziehung zu verstehen. Die Kommunikationssituation ist m.E. jedoch mikrogeschichtlich nicht rekonstruierbar, sondern nur makrogeschichtlich modellierbar. In narratologischer Terminologie ausgedrückt geht es also um einen antiken Modell- oder Idealleser, der als im Anschluss an Levinson als „informierter Zeitgenosse“4 (im vorliegenden Fall „informiert“ über die antike Praxis des Weinanbaus5) zu modellieren ist, der aber nicht mehr scharf konturiert werden kann.6 Vor diesem Hintergrund ist im Folgenden ist aufzeigen, ob und inwiefern eine genaue Kenntnis der antiken Arbeitswelt des Weinanbaus wichtige Impulse für die Auslegung von Joh 15 bereithält. Dazu möchte ich zunächst mit Beobachtungen am Text einsteigen, um die Haftpunkte im Text zu bestimmen, auf Grundlage derer die Leser eine Relation zu ihrem Wissen (=mentale Repräsentationen) über den antiken Weinbau herstellen können. In einem zweiten Schritt werden entlang der Argumentationslinien wichtiger Forschungspositionen und auf der Grundlage der Quellen zur antiken Agrikultur die möglichen Referenzen einzeln aufgezeigt sowie auf ihre Plausibilität hin diskutiert und anschließend gewichtet. Sodann wird unter Punkt 4 die Relation von Joh 15,2 und Joh 15,6 zu thematisieren sein, woraufhin unter dem folgenden Punkt 5 die Bedeutung der Reinigungsmetaphorik und des Motivs des Fruchttragens im Rahmen des Johannesevangeliums zu skizzieren sein wird. Den Abschluss bildet der Versuch, einen exegetischen Ertrag in knapper Form festzuhalten und weiterführende Perspektiven auf das Thema Arbeit aufzuzeigen.

4 5

6

Vgl. Levinson, Intention, 221–256, hier: 227–229. Vgl. auch das Urteil Beckers, dass von einem gemeinsamen traditionellen Kulturbesitz zwischen Autor und Leser auszugehen sei: Die Herde des Hirten und die Reben am Weinstock. Ein Versuch zu Joh 10,1–18 und 15,1–17 1999, 149–178, hier: 172. Vgl. dazu die Überlegungen in meiner Dissertationsschrift: Heilmann, Wein, 24–33.

Arbeit am Weinstock

2.

211

Textbeobachtungen: Extratextuelle Verweise in Joh 15,1–8 auf die Arbeit des Winzers

Die Bildrede vom wahren Weinstock stellt eine komplexe Komposition verschiedener Metaphern dar,7 die J. van der Watt als imagery bezeichnet8 und deren Entfaltung im Textverlauf nur sehr anspruchsvoll beschrieben werden kann. Der primäre Bildspendebereich dieser Metaphern ist von der Arbeitswelt des Weinanbaus geprägt. Ich beginne mit der Betrachtung der Verse Joh 15,1 f. 1a b 2a b c

Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Winzer. Jeden Trieb an mir, der nicht Frucht trägt, nimmt er weg/bindet er hoch; und jeden, der Frucht trägt, reinigt er, damit er mehr Frucht trägt.

Eingeleitet wird die Bildrede in Joh 15 mit einem Ich-bin-Wort, in dem Jesus sich als der wahre Weinstock bezeichnet. Erweitert wird diese erste zusammengesetzte Metapher9 durch die Identifikation des Vaters als Winzer (γεωργός).10 Die Bedeutung der Metaphernkomposition wird durch die Beschreibung seine Tätigkeit in Joh 15,2 in zwei kunstvoll geformten Sätzen11 spezifiziert: In chiastischer Form stehen nicht-fruchttragende (μὴ φέρον καρπὸν) Triebe und fruchttragende (καρπὸν φέρον) Triebe (κλῆμα) gegenüber. Beide Partizipien sind attributiv zu verstehen, da ein konditionales Verständnis des ersten („wenn er keine Frucht trägt“) unwahrscheinlich ist, weil eine konditionale Übersetzung des zweiten Partizips wenig Sinn macht. Interessant ist nun das Wortspiel mit den beiden Verben αἴρειν und καθαίρειν, die jeweils die Arbeit des Winzers beschreiben. Diese beiden Verben bilden den Haftpunkt, von dem aus der Bezug zur außertextlichen Realität des antiken Weinanbaus hergestellt werden kann. Deren Bedeutung wird jedoch in einem mindestens dreistelligen relationalen Verhältnis gebildet: In der Relation zwischen a) der der Semantik der Verben αἴρειν und καθαίρειν, b) dem Bezug zum Motiv des Fruchttragens und c) dem bei den antiken Lesern vorausgesetzten Wissen über den antiken Weinbau, das hypothetisch aus den Quellen rekonstruiert werden muss. Die hierdurch entstehenden Deutungspotentiale von Joh 15,1 f. werde ich unter Punkt 3 erarbeiten. Die relative Bedeutungsoffenheit liegt in der unspezifischen Semantik der beiden Verben begründet, die als termini technici 7 8

9 10

11

Die Diskussion, inwiefern Joh 15,1 ff. als Allegorie beschrieben werden kann, ist an dieser Stelle nicht zu führen. Vgl. dazu die Diskussion bei Becker, Herde. „Imagery is understood as the (total and coherent) account, or mental picture of objects, with corresponding actions and relations, associatively (and thematically) belonging together.” (van der Watt, Family, 18 [Hervorhebung im Original]). Vgl. ausführlich van der Watt, Family, 18–20.32. Kopulative Metapher und Adjektivmetapher. Auf einen anderen Text im Neuen Testament, der die Arbeitswelt der antiken Agrikultur voraussetzt, kann hier nicht näher eingagangen werden. Vgl. das Bild des Gärtners, der Ölbäume pflegt und Triebe einpropft in Röm 9–11. Vgl. Dietzfelbinger, Abschied, 111 f.

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des antiken Weinanbaus zumindest nicht bezeugt sind. Das Bildfeld des Weinanbaus wird also nicht durch die Semantik der Verben aufgerufen, sondern primär durch das Subjekt des Satzes, den γεωργός. Αἴρειν ist mehrdeutig und kann sowohl vertikal raummetaphorisch „vom Boden aufheben“, „in die Höhe heben“, „erheben“, „erhöhen“ , „(aufnehmen und) tragen“, „to lift“, „to raise up“ verstanden werden, als auch „forttragen“, „wegschaffen“ bzw. „wegnehmen“, „to remove“ bedeuten. Das erste Bedeutungsspektrum ist weitaus besser bezeugt und hat als Grundbedeutung zu gelten.12 Καθαίρειν wiederum kann sowohl „reinigen“, „säubern“, „to cleanse“ in einem physisch-materiellen Sinn bezeichnen als auch „reinigen“, „to purify“ in einem religiös-rituellen Sinn.13 Als Fachwort für eine Tätigkeit am Weinstock („to prune“, ausgeizen, auslauben etc.) ist es mit zwei Stellen bei Philo (agr. 1,1014; somn. 2,64) nur schwach belegt, aber semantisch nah am lateinischen agrikulturellen Fachwort putare: putzen, reinigen, beschneiden15. Diesbezüglich sind wir mit dem Problem konfrontiert, dass die Fachliteratur zum antiken Weinbau überwiegend in lateinischer Sprache geschrieben wurde und aus dem griechischsprachigen Bereich kein äquivalentes semantisches Vergleichsmaterial zur Verfügung steht. Unter diesem Vorbehalt steht die o. g. Einschätzung. Unabhängig davon, ob καθαίρειν auch als agrikulturelles Fachwort gebraucht worden ist, wird mit der hierdurch aufgerufenen Reinigungsmetaphorik das Bildfeld des Weinanbaus durch die Verknüpfung mit einem zweiten metaphorischen Konzept erweitert, das in Joh 15,3 außerhalb des Weinstockbildes wieder aufgenommen und mit einer dritten Ebene, der Lehre, verknüpft wird. Dies wird unter Punkt 5 aufzugreifen sein. Dies ist jedoch nicht die einzige Stelle in Joh 15, von der aus die Leser einen Bezug zur antiken Praxis des Weinbaus gleichsam herstellen müssen. Im Textverlauf wird in Joh 15,3–5 zunächst das eingangs gezeichnete Bild auf die Jünger übertragen und im Hinblick auf das Motiv der reziproken Immanenz präzisiert (in Joh 15,3 f. implizit, expliziert in Joh 15,5). Außerdem wird die Reinigungsmetaphorik durch den Bezug zum Wort entschlüsselt (Joh 15,3). In diesen Versen werden keine neuen Aspekte des Bildspendebereiches des antiken Weinanbaus eingeführt. Erst mit der Ausführung über die Folgen für diejenigen Triebe/Jünger, die nicht am Weinstock/in Jesus bleiben, wird ab Sinnzeile Joh 15,6b mit der Abfolge der Verben βάλλειν (wegwerfen), συνάγειν (einsammeln) und [εἰς τὸ πῦρ] βάλλειν ([in das Feuer] werfen) auf konkrete Arbeitsschritte des Weinanbaus verwiesen; die Verben ξηραίνειν (austrocknen) und καίειν (verbrennen) beschreiben zwei Stadien der Degeneration der weggeworfenen Triebe. Im Unterschied zu Joh 15,2 ist die Semantik der Verben eindeutiger, sodass sich die Leser ein relativ

12 13 14

15

Vgl. Jeremias, Art. αἴρω, ἐπαίρω, in: ThWNT 1 (1933), 184–186, 184 f.; Vgl. Lidell/Scott, Art. ἀείρω. Vgl. Lidell/Scott, Art. καθαίρω. Das Verb ist hier anders anders als bei Joh mit negativer Konnotation im Sinne von „wegreinigen“ gebraucht. Philo könnte es im Übrigen auch im übertragenen Sinne auf den Weinbau beziehen und nicht als agrikulturellen Fachterminus gebrauchen. Vgl. Cato agr. 32; Colum. 11,2,41.44; Verg. georg. 2,407; Varro rust. 1,31,1; 1,36 u. ö.

Arbeit am Weinstock

213

plastisches Bild von den gezeichneten Arbeitsvorgängen machen können. Die entscheidende exegetische Frage liegt vielmehr darin, ob das Wegwerfen (βάλλειν) mit der Tätigkeit des Winzers in Joh 15,2a deckungsgleich ist. Hierauf ist unter Punkt 4 näher einzugehen.

3.

Die Vielfalt der möglichen Verweise auf die Arbeit des Winzers in Joh 15,2

Ich möchte nun auf das Wortspiel in Joh 15,2 und die damit angedeuteten Arbeitsschritte im Weinbau zurückkommen. Abhängig davon, wie man nun die Parameter des dreistellig relationalen Verhältnisses zwischen der Verbsemantik, dem Motiv des Fruchttragens und dem agrargeschichtlichen Hintergrund des Weinbaus bestimmt, lassen sich folgende Deutungspotentiale herausstellen: 1) Die meisten Exegeten interpretieren Joh 15,2a so, dass der Winzer die nicht-fruchttragenden Triebe wegnimmt, d. h. herausschneidet. Dieser Arbeitsschritt entspricht in der Arbeitswelt des Weinbaus dem Vorgang des Rebschnitts nach der Ernte bzw. vor der Vegetationsperiode, wie er bei Verg. georg. 2,401– 409, Varro rust. 1,34,2; 1,36; Plin. nat. 17,35,191–192, beschrieben ist. Varro und Plinius weisen darauf hin, dass dieser Arbeitsschritt in bestimmten Gegenden aus klimatischen Bedingungen erst im Frühjahr durchgeführt werden solle. Die fruchttragenden Triebe (Joh 15,2b) werden hingegen gereinigt, d. h. in der agrikulturellen Fachsprache: Sie werden ausgelaubt, gestutzt und ausgegeizt, sodass sie mehr Frucht tragen können (ἵνα καρπὸν πλείονα φέρῃ). Dies entspricht dem Arbeitsvorgang während der Vegetationsszeit.16 2) U. Poplutz vertritt die These, dass sich Joh 15,2 insgesamt auf einen Arbeitsgang während der Wachstumsphase, vor der Ernte beziehen, der sich von dem in in Joh 15,6 beschriebenen Arbeitsschritt unterscheidet: Joh 15,2b beziehe sich auf das Auslauben und Stutzen der für das weitere Wachstum vorgesehenen Triebe, Joh 15,2a auf das Ausgeizen, das Entfernen unerwünschter Seitentriebe. Diese Arbeitsgänge, die während der Vegetationszeit durchgeführt werden, sind bei den Agrarschriftstellern Verg. georg. 2,367–370, Varro rust. 1,31,1 f., Plin. nat. 17,35,190ff., und Cato (nach Plin. nat. 17, 35, 197) beschrieben. Drei Argumente unterstützen diese Interpretation im Vergleich zur ersten: a) Im Hintergrund von Joh 15,6 (s.u.) steht der Arbeitsschritt nach dem großen Rebschnitt nach der Ernte, der auch die Triebe betrifft, die während der vergangenen Wachstumsphase getragen haben. Dieser Arbeitsschritt, bei dem eine Menge Material anfällt, was verbrannt werden musste, ist eindrucksvoll bei Colum. 5, 5, 17; 5,6,26 beschrieben. Bei den Arbeitsschritten während der Vegetationsphase fällt hingegen zu wenig Material an, als dass es verbrannt werden müsste.17 b) Beim Rebschnitt nach der Ernte ist noch nicht erkennbar, welche Triebe im kommenden 16 17

Vgl. z. B. Borig, Weinstock, 38 f.; von Gemünden, Vegetationsmetaphorik, 168. Vgl. zu diesem Argument, das die Deutung von Poplutz stützt, von ihr aber nicht angeführt wird, Derickson, Viticulture, 34–52, hier: 50.

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Jahr Frucht tragen werden und der Text des JohEv formuliert ganz explizit, dass dies schon erkennbar ist. Beim Rebschnitt nach der Ernte wird vielmehr bestimmt, welche Triebe im kommenden Jahr Frucht tragen sollen (vgl. etwa Colum. 5,5,13). c) Diese Lesart des Bildes liegt auch aus Gründen des Sparsamkeitsprinzips näher: Eine zeitliche Dehnung der in Joh 15,2 implizierten Arbeitsvorgänge ist voraussetzungsreicher als der Bezug auf einen Arbeitsvorgang während der Vegetationszeit.18 Aus grammatischer Sicht ist es vor dem Hintergrund dieser Interpretation der Verben möglich, dass sich der mit ἵνα eingeleitete Finalsatz a) nur auf Joh 15,2b oder b) auf beide mit καὶ verbundenen Teilsätze bezieht. Letztere Möglichkeit sagte dann aus, dass beim Ausgeizen Triebe weggenommen werden, damit die anderen mehr Frucht tragen. Dies würde auch den zahlreichen Begründungen in den Quellen entsprechen, dass zu viele Triebe und das Wachsen in das Holz sich negativ auf den Ertrag auswirke (vgl. z. B. Varro rust. 1,31,2). 3) Die Semantik von αἴρειν eröffnet eine dritte Deutung. Sowohl in der LXX als auch sonst im Griechischen die Bedeutung „anheben“ (lift up) breit bezeugt (s. o.). Im Anschluss daran deutet J. C. Dillow Joh 15,2a als besondere Pflege von abgeknickten bzw. als Anbinden von pflegebedürftigen Trieben, damit sie in die Lage gesetzt werden, Früchte zu tragen.19 Als lexikalischen Parallelen führt er die Begriffsverwendung von αἴρειν u. a. auch in Joh 5,8–12; 8,59; 10,18.24 an. Für seine Deutung spricht Joh 15,4c, wo formuliert wird, dass ein Trieb gar nicht von sich aus fähig sein kann, Frucht zu tragen. Ein Problem seiner Deutung liegt darin, dass er sie nicht im Rahmen der agrikulturellen Realia absichert. G. W. Derickson greift Dillows Deutung auf und versurcht sie auf der Basis antiker Quellen zur antiken Praxis der Kultivierung von Wein und der Reberziehung zu plausibilisieren. Wie U. Poplutz sieht er im Hintergrund von Joh 15,2a/b den gleichen Arbeitsgang während der Vegetationsphase, deutet die beiden Sinnzeilen jedoch mit Verweis auf Plin. nat. 17,35 folgendermaßen: „certain nonfruiting branches were tied to the trellises along with the fruiting branches while the side shoots of the fruiting branches were being ‘cleaned up’. […] Removing the nonfruiting branches from the ground and placing them on the trellis would allow the rows of plants to benefit from unhindered aeration, considered an essential element to proper fruit development.”20 Diese Deutung kann noch durch weitere Quellenbelege bei den römischen Agrarschriftstellern fundiert werden, wie im Folgenden an Hand eines kurzen Exkurses zu den verschiedenen Anbauweisen von Wein in der Antike zu zeigen ist: Insgesamt lassen sich im antiken Weinbau sechs Verfahren unterscheiden, wie Rebstöcke kultiviert worden sind. Die verschiedenen Verfahren werden in den Quellen vielfach beschrieben: So etwa bei Varro rust. 1,8; Colum. 5,4,1– 5,5,19 (Kapitel zu den Rebpflanzungen in den Provinzen) und Plin. nat. 14, 3, 10–

18 19 20

Vgl. insgesamt Poplutz, Allianz, 828–839, hier: 831; angedeutet auch von Wengst, Klaus, Johannes, 152. Vgl. Dillow, Fellowship, 50 f. Derickson, Viticulture, 49.

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14; 17,35,164–166.21 Plinius (nat. 14,3,10) begründet die unterschiedlichen Anbauweisen mit einem ökonomischen Argument: „Je nach dem Wesen des Klimas und nach der Beschaffenheit des Bodens“ dienten die unterschiedlichen Anbaumethoden der Maximierung des Ertrages. Die Interpretation von αἴρω als „anheben“/„vom Boden emporheben“ setzte die Anbaumethode vitis prostrata – also die liegende Rebe – voraus. Genauer gesagt eine Variante davon, die bei Varro rust. 1,8,5 f. sowie Plin. nat. 17,35,185 beschrieben wird und ebenfalls im Hintergrund von P.Oxy. VLVII 3354 (28. Oktober 257 n. Chr.) steht. Hierbei werden die Reben, die zum Fruchttragen bestimmt sind, vom Boden emporgehoben und mit kleinen Stützgäbelchen abgestüzt. Nach Plinius ist diese Methode in der antiken Welt weit verbreitet: „In den meisten Ländern findet so die Weinlese von Reben statt, die auf dem Boden liegen, wie denn auch in Afrika und in Ägypten, in Syrien und ganz Asien und in vielen Orden Europas diese Anbauweise vorherrscht.“ Hierbei handelt es sich insbesondere um warme Gegenden, in denen diese Anbaumethode Vorteile bringt, wie D. Flach hervorhebt.22 Für den südlevantinischen Raum wird dies zusätzlich durch rabbinische Texte bestätigt.23 Versteht man also αἴρω in Anknüpfung an die skizzierte Anbaumethode im Sinne von aufrichten/anbinden, bezieht sich der mit ἵνα eingeleitete Nebensatz auf Joh 15,2a und b: Alle Triebe werden in die Lage versetzt, mehr Frucht zu tragen. 4) Vor dem antiken agrikulturellen Hintergrund wäre noch eine weitere Deutung möglich. Beide Verben könnten sich auf den großen Rebschnittes nach der Ernte beziehen. Denn bei diesem Arbeitsschritt werden alle Triebe so weit zurückgeschnitten, dass nur noch wenige Haupttriebe, die von allem anderen gereinigt werden, für die kommende Saison stehen bleiben. Das Partizip in 15,2b müsste man dann im Sinne von „für das Fruchttragen bestimmt“ und das Verb in Joh 15,2a im Sinne von „entfernen“ verstehen. Diese Deutung hat zumindest genauso viel Plausibilität wie Deutungsmöglichkeit 1), da nach der Ernte die Frucht bereits komplett abgeernet ist.

21

22 23

a) Emporranken der Triebe an in Reihe gepflanzten Bäumen (vitis arbustiva); b) Kultivierung der Weinstöcke durch unterschiedliche Pfahlkonstruktionen, die wiederum durch Querstreben verbunden werden konnten und an die die Triebe emporgebunden wurden (vitis iugata bzw. canteriata; ähnlich vitis compluviata und vitis cum adminiculo sine iugo); c) niedrig gehaltene Weinstöcke, wobei man die Ranken ohne Stützen am Boden ließ und „nur die traubenschweren Ruten dieser ‚Lagerreben‘ mit niedrigen Gabeln über den Boden emporgehoben wurden (vinea humi proiecta).“ (Zapletal, Wein, 28.). Vgl. ausführlich Zapletal, Wein, 23–30; Flach, Agrargeschichte, 278–280. Vgl. Flach, Agrargeschichte, 279 f. Vgl. tMinhot 8,6. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass auch die anderen Anbaumethoden im südlevantinischen Raum bekannt waren. Vgl. dazu mKil 6,1–4.7–9, zit. n. Goor, Geschichte, 9.; ferner WaR 36,2. Vgl. Goor, Geschichte, 9.

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216 Abb. Graphische Übersicht über die Deutungsmöglichkeiten αἴρω

1)

2)

3)

4)

καθαίρω

WEGNEHMEN/HERAUSSCHNEIDEN

REINIGEN

=> Rebschnitt nach der Ernte

=> auslauben, stutzen und ausgeizen während der Vegetationsszeit

WEGNEHMEN/HERAUSSCHNEIDEN

REINIGEN

=> Ausgeizen (Entfernen unerwünschter Seitentriebe)

=> Auslauben und Stutzen der für das weitere Wachstum vorgesehenen Triebe während der Vegetationszeit

ANHEBEN, VOM BODEN EMPORHEBEN („TO LIFT UP“; „TO RAISE“)

REINIGEN

WEGNEHMEN/HERAUSSCHNEIDEN

REINIGEN

=> Entfernung von Seitentrieben => Reberziehung, vom Boden aufheben und anbinden während der Vegetationszeit => Rebschnitt

=> Haupttriebe für die nächste Wachstumsphase vorbereiten nach der Ernte

Diese Mehrdeutigkeit des Ausgangsbildes ist zunächst einmal wahrzunehmen. Sie ergibt sich durch die Offenheit des Bezuges der narrativ entfalteten Metaphorik auf die konkreten, sozialgeschichtlich identifizierbaren Tätigkeiten des Winzers. Eine eindeutige Entscheidung ist zwar schwierig, der Text von Joh 15 gibt jedoch Hinweise für eine Bedeutungseingrenzung.24 Hierauf wird unten zurückzukommen sein.

4.

Die Relation von Joh 15,2 und Joh 15,6

Oben ist die Frage aufgeworfen, in welchem Verhältnis die in Joh 15,2 angedeutete Tätigkeit im Weinberg zu den in Joh 15,6 erwähnten Arbeitsschritten im Weinanbau stehen. Joh 15,6 thematisiert in der Sprache der Weinbaumetaphorik – und damit als weitere Elaboration des Gesamtbildes – die Folgen des NichtBleibens am Weinstock/in Jesus. Der Nicht-Beleibende wird (futurischer Aorist)25 wie der Trieb weggeworfen und vertrocknet. Potentiell ist ξηραίνω (austrocknen) für weitere metaphorische Ausdeutungen offen. Im Hinblick auf das 24

25

So formuliert J. van der Watt zu Recht: „The openness of the text in v. 2 is constrained by the rest of the context. […] v. 2 raises the questions that create semantic tension with the reader. […] Different phrases, semantically related on the bases of shared imagery, therefore, form an interpretative network in which this inter-relateness serves to specify the meaning of the phrase ” van der Watt, Family, 38. Vgl. BDR § 333,7.

Arbeit am Weinstock

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Verhältnis zu Joh 15,2 liegt, wie schon oben angedeutet, die entscheidende Frage darin, ob das Wegwerfen (βάλλω) der mit αἴρω bezeichneten Tätigkeit des Winzers entspricht. Deutungsmöglichkeit 3) schließt einen solchen Bezug aus, da ein Bezug zwischen dem Arbeitsschritt in Joh 15,2a eine strikte Unterscheidung zwischen den nicht-fruchttragenden und nicht-bleibenden Trieben voraussetzt. Der nicht-bleibende Trieb in Joh 15,6b könnte im Rahmen der Deutungsmöglichkeit lediglich mit dem in Joh 15, 4c–f identisch sein. Auch Deutungsmöglichkeit 2) lässt wegen der zeitlichen Distanz zwischen Vegetationsschnitt und dem Rebschnitt nach der Ernte keine Verbindung zwischen den beiden Vorgängen zu. Daher muss U. Poplutz schlussfolgern: „im weiteren Verlauf des Textes wird die Vorstellung etwas verschoben.“26 Vor dem Hintegrund der Deutungsmöglichkeiten 1) und 4) können sowohl αἴρω (im Sinne von Abschneiden) als auch βάλλω (wegwerfen) als die Arbeitsprozesse des Winzers am Ende der Vegetationszeit bezeichnen.27 Diese Deutung ist aber nicht zwingend, weil auch im Rahmen dieser beiden Möglichkeiten ein alleiniger Bezug von Joh 15,6b auf Joh 15,4c denkbar ist. In jedem Fall fällt auf, dass dem Bleiben im Folgenden eine zentrale Rolle zukommt und das Tragen von Frucht in den Hintergrund rückt.28 In Joh 15,5d wechselt der Numerus in den Plural. Die beschriebenen Handlungen – aufsammeln und ins Feuer werfen – bleiben jedoch merkwürdig subjektlos. Ausgeschlossen ist durch den Plural, dass der Winzer aus Joh 15,2 für diese Arbeitsschritte zuständig ist.

5.

Die Bedeutung der Reinigungsmetaphorik und der Bezug zum Fruchttragen

Ein Aspekt, der bisher nur am Rande behandelt wurde, ist das Motiv des Fruchttragens bzw. Nicht-Fruchttragens. Bei dem Agrarschriftsteller Columella wird mehrfach der Zusammenhang zwischen dem Rebschnitt und dem Fruchttragen hingewiesen.29 Eindrücklich ist im Vergleich zu Joh 15 die Unterscheidung zwischen Laubtrieben (pampinarii) und Fruchttrieben (fructurarii) in 5,6,28. Diese Stelle bei Columella zeigt auch, dass das JohEv mit dem Syntagma καρπὸν φέρειν (= fructum adferre) im Gegensatz zu den Verben lexikalisch ganz nah an agrikulturellen Fachsprache ist. Vor diesem Hintergrund liegt die Lesart 2 näher, da sich die Ausführungen Columellas auf die Arbeitsschritte während Vegetationszeit beziehen. Er schreibt zwei Paragraphen zuvor explizit: „Im übrigen verfährt man beim Beschneiden so, daß man die alten Triebe, an denen die Frucht des letzten Jahres gehangen ist, restlos wegschneidet.“ (5, 6, 26) Ein Problem stellt aber der 26 27 28 29

Poplutz, Allianz, 831. So exempl. für viele Thyen, 643. In grammatischer Hinsicht ist auffällig, dass sich die einzigen beiden expliziten Konditionalsätze (ἐάν…) auf das Bleiben beziehen. Vgl. Joh 15,4f.5a. Vgl. Colum. 5,5,13–19; 5,6,26–31

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Kontext der Ausführungen Columellas dar. Er schreibt explizit von der Anbaumethode der vitis arbustiva, bei der die Rebstöcke viel größer wachsen und andere Maßnahmen der Kultivierung erforderlich sind als bei den anderen Anbaumethoden. Bezüglich der anderen Anbaumethoden trifft er diese Unterscheidung nicht. Ob diese Unterscheidung übertragen werden kann, muss also offen bleiben. Die aufgezeigte Problematik macht insgesamt deutlich, dass sich die Metaphorik in Joh 15,1–8 nicht alleine vor dem Hintergrund des antiken Weinanbaus entschlüsseln lässt. Aus landwirtschaftsgeschichtlicher Sicht ist keine eindeutige exegetische Entscheidung möglich und man sollte vorsichtig sein, ein Verständnis der im Hintergrund stehenden Tätigkeiten des Weinanbaus in den Text einzutragen. Die Deutungspotentiale können nur im Rahmen des Textes des Johannesevangeliums insgesamt eingeschränkt werden. Vom Text her ist es also geboten, die Bedeutung des Motiv des Fruchttragens zunächst im Rahmen der Erzählung des Johannesevangeliums zu plausibilisieren, wobei die vom Text hergestellte Relation zur Reinigungsmetaphorik (neben dem Motiv des Bleibens in Jesus) eine zentrale Rolle spielt. Im Folgenden sind die textinternen Hinweise auf die Bedeutung dieses Zusammenhangs zu analysieren, um zu einem genaueren Verständnis von Joh 15,1 ff. zu gelangen. Von dort aus ist dann die Brücke zum Hintergrund des antiken Weinbaus zurückzukommen. Das Motiv des Fruchttragens ist den Lesern schon aus Joh 12,24 bekannt, wobei über die lexikalische Ebene (καρπός; πολύς; φέρω) eine sehr enge intratextuelle Verknüpfung hergestellt wird, die durch die Verwendung des Verbes δοξάζω in Joh 12,23 und Joh 15,8 verstärkt wird. Der Unterschied liegt darin, dass Jesus in Joh 12,24 von sich spricht, der viel Frucht tragen wird, und in Joh 15 die Jünger Frucht tragen. Von ihnen wird auch nicht explizit gesagt, dass sie sterben müssen, um Frucht zu tragen. Es ist im JohEv eine Notwendigkeit, dass Jesus weggehen muss, um verherrlicht zu werden (Joh 13,1–3.31–33). Der erste Teil der Abschiedsrede ist davon geprägt, dass die Jünger dies nicht verstehen (Joh 14,5.29.36 f). Dass es zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich ist, Jesus nachzufolgen (οὐ δύνασαί μοι νῦν ἀκολουθῆσαι Joh 13,36), steht in einer gewissen Spannung zum Argumentationsgang Jesu in Joh 12,23–26. Im ersten Teil der Abschiedsrede bleiben die Jünger noch im Unklaren darüber, wie sich ihr Verhältnis zu Jesus nach seinem Weggehen konkret aussehen wird.30 Das Bild vom wahren Weinstock bringt im Verlauf der Erzählung erstmals zum Ausdruck, wie man trotz Jesu Weggehens in ihm bleiben kann.31 Der Charakter des Bleibens wird jedoch neu bestimmt: War das Verhältnis von Jesus zu seinen Jüngern bzw. das Verhältnis in der Nachfolgerelation in Joh 12,26 noch 30

31

Er gibt ihnen lediglich das neue Gebot als Anweisung, wie sie untereinander zu leben haben (Joh 13,34 f.), er verheißt ihnen den Parakleten (Joh 14,16.26) und kündigt das Wiedersehen (Joh 14,19) bzw. seine Rückkehr an (Joh 14,3.28). Die dem traditionellen diachronen Lektüremodell geschuldete Auffassung Beckers, Joh 15,1–17 lasse „zudem die Abschiedssituation ganz vermissen“ (Becker, Herde, 171), verkennt m. E., dass das Motiv des Bleibens erst in einem Kontext seinen vollen Sinn entfaltet, in dem Abschied und Weggehen eine zentrale Rolle spielen. Das literarkritische Problem der Abschiedsrede kann im Rahmen dieses Beitrages nicht weiter diskutiert werden. Vgl. weiterführend und zur Begründung, warum die Abschiedsrede durchaus als ein literarisch kohärenter Text wahrgenommen werden kann, Heilmann, Wein, 258–262.

Arbeit am Weinstock

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hierarchisch bestimmt, wird es in Joh 15 vorausblickend als reziprokes und egalitäres Freundschaftsverhältnis qualifiziert und von einem hierarchischen Verhältnis eines Sklaven (δοῦλος) zu seinem Herrn abgegrenzt (vgl. Joh 15,14 f.).32 Das Motiv des Fruchttragens, das in einer Kausalitätsbeziehung zum Bleiben im Weinstock steht, dient in Joh 15 nun der Spezifizierung der Relation zwischen den Jüngern, dem Vater und dem Sohn: Der Vater wird dadurch verherrlicht, dass die Jünger viel Frucht tragen und Jünger sind (vgl. Joh 15,8). Die Präpositionalphrase ἐν τούτῳ (Joh 15,8a) zeigt nach K. Haldimann vorausweisend an, „worin die Verherrlichung des Vaters besteht“33; der mit ἵνα eingeleiteten Nebensatz (Joh 15,8b/c) dient als weiterführende Erläuterung. Joh 15,8 fungiert als Fazit der Bildrede vom wahren Weinstock und schließt den in Joh 15,1 begonnenen Gedankengang zum relationalen Verhältnis von Vater, Sohn und Jüngern ab.34 Die folgende Perikope (Joh 15,12–17) – die Verse 9–11 sind als Überleitung zu verstehen – kann als „zweiter Interpretationsgang“ des Weinstockbildes und damit des Verhältnisses von Vater, Sohn und Jüngern interpretiert werden, in dem eine weitere Deutekategorie herangezogen wird.35 Dieser zweite Interpretationsgang interpretiert „gleich zu Anfang die in V. 1 f. eröffnete Konstellation neu: Das Verhältnis Gott – Jesus – Jünger wird präzise mit dem Begriff ἀγαπᾶν beschrieben“36. In diesem Kontext wird auch das Motiv des Fruchttragens wieder aufgegriffen: Jesus führt in Vers 16, dem eine „ausgeprägt integrierende Funktion“37 zukommt, aus, dass er die Jünger ausgewählt (ἐκλέγομαι) und bestimmt (τίθημι) habe, dass sie hingingen (ὑπάγω) und Frucht trügen (φέρω) und ihre Frucht bleibe (μένω). Die Frucht ist nun aber nicht als Missionsfrucht zu verstehen, wie in der Forschung teilweise angenommen wurde.38 Vielmehr ist in Joh 15 das Bleiben in der durch Jesus gestifteten Liebesgemeinschaft im Blick. Das Verb ὑπάγω bezieht sich nicht auf einen Missionsauftrag an die Jünger, sondern ist in dieser Perikope – gleichsam als Wegmetapher (vgl. schon Joh 12,35 und Joh 14,5 f.) – durch das Bleiben in der durch Jesus gestifteten Liebes-/ und Freundschaftsgemeinschaft konkretisiert. Die Frucht, die in der in Aufforderung zum Untereinander lieben abschließend wiederholt erwähnt wird (15,17), besteht im „Bewahren und Bewähren der Liebe“, also der „konkreten Verantwortung füreinander“39. Das in Joh 15,12 wiederholte Liebesgebot verknüpft wiederum die Bildrede vom wahren Weinstock mit der Fußwaschungsszene in Joh 13, in der Jesus, nachdem Judas, das unreine und zerstörerische Element innerhalb der Gemeinschaft, hinausgegangen ist, den Jüngern das Liebesgebot gibt (Joh 13,31 ff.). Von hier aus lässt sich nun die Reinigungsmetaphorik aufschlüsseln:

32 33 34 35 36 37 38 39

Ausführlich untersucht worden ist das dreistellig relationale Verhältnis von Scholtissek, „In ihm sein und bleiben“, 275–316. Haldimann, Rekonstruktion, 175. Vgl. Haldimann, Rekonstruktion, 174 f. Vgl. Haldimann, Rekonstruktion, 177. Haldimann, Rekonstruktion, 177 f. Haldimann, Rekonstruktion, 216. Thüsing, Wilhelm. So schon Borig, Weinstock, 238 f., Schnackenburg, Johannes, 127. Dietzfelbinger, Abschied, 142. Vgl. dazu Dietzfelbinger, Abschied, 126.

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Jan Heilmann

Die Fußwaschung ist als vorgezogene Konkretisierung der dem Liebesgebot zugrunde liegenden Ethik zu interpretieren, an der sich die Jünger in Ihrem Handeln an- und untereinander zu orientieren haben.40 Die Jünger müssen sich die Füße waschen lassen, um Teil an Jesus zu haben (Joh 13,8); d. h. sie müssen entgegen der hierarchischen Beziehungen in einem Mahlkontext die Gabe eines sozial höher Gestellten annehmen, damit die Liebesgemeinschaft gleichsam „funktionieren“ kann. Die Reinheit der Jünger, die sie auch ohne die Fußwaschung haben (Joh 13,10), liegt darin, dass sie das Wort, das Jesus zu ihnen gesprochen hat (Joh 15,3), rein geworden sind. Dadurch dass sie das Wort angenomen haben, unterscheiden sie sich radikal einerseits von der Welt, die das Wort nicht annimmt (vgl. insb. Joh 1,10 f.), andererseits auch von den Jüngern, die Jesus, weil sie Jesu Lehre wegen der fehlenden Hörvoraussetzung des Glaubens nicht verstehen konnten, verlassen haben (vgl. Joh 6,60–66).41 Sie sind also nicht in Jesus geblieben. Die Reinheit der Jünger wird nicht durch die vermeintlich reinigende Funktion des am Kreuz vergossenen Blutes hergestellt,42 sondern besteht darin, dass sie als Gemeinschaft, die erst ganz rein wird, wenn das unreine Element, Judas, aus ihr ausgeschieden ist,43 das offenbarte Wort glaubend angenommen haben. Lenkt man von hier aus den Blick zurück auf die die Weinbaumetaphorik, zeigt dich, dass man die Bedeutung des reinigenden Handelns des Vaters gleichsam „von hinten aufrollen“ muss, wobei die Argumentation des johanneischen Jesu eine gewisse Zirkularität enthält – die Dynamik des komplexen Beziehungsgeflechtes kann nur unzureichend analytisch beschrieben werden: Die Jünger sind durch die glaubende Annahme des von dem Vater ausgehenden und inkarnierten Wortes schon rein und damit in die Lage versetzt, Frucht zu tragen.44 Nach Joh 15,7a/b ist das Bleiben der Jünger im Weinstock Jesus in der glaubenden Aufund Annahme der von Jesus gesprochenen Worte seines Vaters begründet. Joh 15,7c–e drückt die mit der in dieser Weise verstandenen reziproken Immanenz45 zwischen Jesus und den Jüngern verbundene Verheißung der Gebetserhörung aus und zeigt, inwieweit die Ebene eines verbales Geschehen (τὰ ῥήματα) mit der Metaphorik verknüpft ist: „In terms of the imagery τὰ ῥήματα/words can be seen as a way by means of which the vine/Jesus influences the branches, which of course makes the incongruent reference of the vine remaining in the branches even more intelligible.”46 Das Fruchttragen und Jüngersein, das im Bleiben in der Liebesgemeinschaft zum Ausdruck kommt, dient der Verherrlichung des Vaters und ist die Voraussetzung dafür, dass die Gebete beim Vater erhört werden (Joh 15,16). Das zuwendungsvolle, reinigende Handeln des Vaters liegt also einerseits in der Gabe der Worte, die Jesus ihnen als inkarniertes Wort weitergegeben hat 40

41 42 43 44 45 46

Vgl. exempl. Johannine Perspectives on Ethical Enabling in the Context of Stoic and Philonic Ethics 2012, 114–139, 129., der weiterführend auf van der Watt, Ethics, 147–176, hier: 152–154. Vgl. auch Thyen. JohEv, 608 f.; Moloney, John, 385 ff.; Ethics, 107–133, hier: 122–127. Vgl. dazu ausführlich Heilmann, Wein, 144–240, insb. 231–240. So aber exempl. für viele Stuhlmacher, Zeugnis, 26. Vgl. dazu Heilmann, Wein, 268–273. Siehe dazu Heilmann, Wein, 219. Vgl. dazu ausführlich Scholtissek, Immanenz. van der Watt, Family, 47.

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(Joh 15,15), und andererseits darin, dass er die Gebete der Jünger erhört. Allerdings lässt sich entsprechend der reziproken Immanenz zwischen Vater und Sohn das Handeln des Sohnes und des Vaters im Hinblick auf die Zuwendung zu den Jüngern nicht trennscharf unterscheiden. Versteht man das Ausgangsbild nun entsprechend dem Deutungsmodell 2 so, dass der Vater die nicht-fruchttragenden Triebe wegnimmt, ist damit im Blick, dass der Vater dafür Sorge trägt, dass zerstörerische Elemente des Unglaubens, die das Wort nicht annehmen, ausgeschieden werden, was angesichts der im JohEv scharf formulierten Opposition von Kosmos und Gemeinschaft als Zuspruch an die Liebesgemeinschaft verstanden werden kann. Geht man hingegen von dem Deutungsmodell 3 aus, was sich durch die starke Fokussierung auf den Aspekt des Bleibens in der Perikope insgesamt nahelegt, ist ein zuwendungsvolles Handeln des Vaters im Fokus, das darauf zielt auch Mitglieder der Gemeinschaft, bei denen das Wort nicht unmittelbar auf fruchtbaren Boden fällt, in die Lage zu versetzen, das Wort anzunehmen. Unabhängig davon wird in Joh 6 ein aussonderndes Handeln an den nicht am Weinstock bleibenden Trieben zum Ausdruck gebracht, das aber auffälligerweise im Passiv formuliert ist. Die Triebe, die nicht am Weinstock bleiben (vgl. insb. Joh 15,6) verweisen analeptisch auf die in Joh 6 narrativ inszenierte Scheidung der gläubigen Jünger von den ungläubigen Jüngern, die die Lehre Jesu nicht verstanden haben und nicht in ihm geblieben sind. In diesem Zusammenhang stellt die Metaphorik vom Vertrocknen in Joh 15,6c durchaus eine Parallele zur Metaphorik des Trinkens in Joh 6 dar, die man folgendermaßen explizieren könnte: Wer Jesu Blut nicht trinkt, also seine Lehre nicht aufnimmt,47 vertrocknet. Die starke intratextuelle Verflechtung zwischen Joh 6 und 15, v. a. aber die Verse Joh 15,3.7b zeigen, dass die Annahme der Worte Jesu (vgl. außerdem Joh 8,31 ff.) konstitutiv ist für das Bleiben am Weinstock und damit für die Zugehörigkeit der Gemeinschaft derjenigen, die an Jesus glauben.48

6.

Exegetischer Ertrag und Schluss

Vor dem Hintergrund der antiken Arbeitswelt des Weinbaus entwickelt das JohEv ein „Zugehörigkeitsbild“, wie P. von Gmünden es bezeichnet,49 das das in seiner Auslegung insofern Schwierigkeiten bereitet, als der exakte Bezug zu den einzelnen Arbeitsschritten nicht eindeutig zu klären ist. Hier ist in exegetisch-methodischer Hinsicht ein behutsames Vorgehen erforderlich. Zudem wirft die Untersuchung des agrikulturellen Hintergrundes der Bildrede vom wahren Weinstock die weiterführende Frage auf, wie konsistent die Bilder und Metaphern im Johannesevangelium insgesamt sind bzw. ob nicht gerade in der relativen Deutungsoffenheit ein besonderer Charme der johanneischen Erzählung und Theologie liegt. In 47 48 49

Vgl. dazu weiterführend Heilmann, Wein, 183–209.219–231. Vgl. weiterführend zur ethischen Dimension der Bildrede Dettwiler, Ethik, 250–263. Von Gemünden, Vegetationsmetaphorik, 166.

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jedem Fall wird man das gegen Jülichers Urteil, der Text sei „bunt und kraus“, gerichtete Fazit J. Beckers, dass die Sinnwelt in Joh 15 geschlossen sei,50 hinterfragen dürfen. Diese Probleme berühren jedoch nur einen Aspekt der komplexen Bildlichkeit – und zwar das Handeln des Vaters an dem Weinstock Jesus. Hinzu kommt die zentral ekklesiologische Dimension der Bildrede vom wahren Weinstock. In Joh 15 werden in besonderer Weise zentrale Themen der johanneischen Abschiedsrede kondensiert, wobei im Bild des Weinstocks die Existenz der Jüngergemeinschaft in der Zeit der Abwesenheit Christi als Exemplum für die nachösterliche Glaubensgemeinschaft dargestellt ist. Jesus verheißt eine neue Gemeinschaft im Weinstock Christi, der dadurch gleichsam als Abwesender trotzdem „anwesend“ ist. Die Bildrede vom wahren Weinstock veranschaulicht einerseits die „Gemeinde als eschatologisches Heilsvolk“51, wie U. Poplutz es formuliert. Andererseits bringt das Bild vom Weinstock in gewisser Weise die Existenz Christi nach seinem Tod zum Ausdruck. Der wahre Weinstock ist „Christus als Gemeinde existierend“52. Damit bietet das Johannesevangelium im Symposienkontext der Abschiedsrede ein Bild, das analog zur Brot-/Leibmetaphorik im 1 Kor53 funktioniert. Christus ist in seiner Abwesenheit als Weinstock, also in Form der Christusgemeinde auf der Welt anwesend. Auf diesen Weinstock bezieht sich das diskutierte Handeln des Vaters. In Bezug auf Impulse zum Thema „Würde und Last der Arbeit“ im Neuen Testament ist zunächst zu konstatieren, dass die Arbeit nicht primär im Fokus der Ausführungen von Joh 15 steht. In sozialethischer Perspektive würde die Frage nach dem Handeln stehen, das sich aus dem Liebesgebot ableiten ließe. Abstrahiert man jedoch von der Ebene des biblischen Textes, so lassen sich aus Joh 15,1 ff. sehr wohl weiterführende Perspektiven auf das Thema Arbeit ableiten. Und zwar im Hinblick auf Berufe, die es mit der Konstitution und Pflege von Gemeinschaft zu tun haben, wobei klassischerweise der Beruf des Pfarrers in den Blick kommen kann, dessen Tätigkeit für gewöhnlich eher vor dem Hintergrund eines anderen johanneischen Textes (Joh 10), der ebenfalls die antike Arbeitswelt im Blick hat, als die Arbeit eines Hirten (pastor) charakterisiert wird. Die Konstellation im Johannesevangelium, Jesus als Hirten handeln zu lassen und die Tätigkeit des reziprok mit dem Sohn verbundenen Vaters als die eines Winzers zu figurieren, lädt dazu ein über die Rolle eines Pfarrers/einer Pfarrerin als Winzer zu reflektieren, der sich für die Frucht seiner Gemeinde verantwortlich fühlt. Es wäre in praktisch-theologischer Hinsicht darüber nachzudenken, welche Last seine Arbeit implizieren kann (oder auch im Sinne der nicht immer nur mit angenehmen Maßnahmen verbundenen Sorge für die Unversehrtheit der Gemeinde implizieren sollte), die mit dem auf das Handeln an der Gemeinde zu applizierende, zugegeben nicht unproblematische Bild des Augeizens und Reinigens des Weinstockes gedeutet und problematisiert werden könnte.

50 51 52 53

Vgl. Becker, Herde, 177. Poplutz, Allianz, 833. Vgl. Bonhoeffer, Communio, 140–147. Vgl. v. a. 1 Kor 12,12–27 u. 1 Kor 11,23 f.

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Paulus der Arbeiter. Die Missionspraxis und der Lebensunterhalt des Völkerapostels Robert Vorholt

Die Christinnen und Christen des Anfangs sahen sich unter dem sich zunehmend deutlicher herauskristallisierenden Anspruch der universalen Geltung und Ausrichtung des Evangeliums recht bald vor die enorme kulturelle Herausforderung gestellt, die christliche Botschaft aus ihrer palästinisch-jüdischen Heimat in die Geisteswelt des griechisch-römischen Hellenismus so zu übersetzen, dass es dort heimisch werden konnte.

1.

Das strategische Konzept

Eine logistische Strategie der frühchristlichen Mission ist nur bruchstückhaft rekonstruierbar.1 Die Darstellung der Apostelgeschichte legt die Vermutung nahe, dass Paulus zunächst den Bereich jüdischer Synagogen als den bevorzugten Ort seiner Missionspredigt wählte (vgl. Apg 9,20; 13, 5.14; 14, 1f.; 17, 1–3 u.ö.). Die Synagogen waren das Zentrum aller Aktivitäten der jüdischen Gemeinden.2 Man versammelte sich zum Gottesdienst, auch außerliturgische Gemeindeversammlungen hatten in der Synagoge ihren Ort. Von Kindheitstagen an waren Paulus die religiösen und kulturellen Vollzüge einer jüdischen Diasporagemeinde vertraut. Recht bald konnte der Apostel hier erste Missionserfolge erzielen. Zielgruppe paulinischer Ansprache waren neben den geborenen Juden und den Proselyten vor allem die Gottesfürchtigen, denen das christliche Evangelium ob seiner monotheistischen Lehre und seiner attraktiven Ethik auf ihrer religiösen Sinn-Suche sehr entgegen kam.3 Wie konfliktanfällig dieses Vorgehen gewesen sein mag, lässt sich leicht erahnen.4 Der Bruch war gewissermaßen vorprogrammiert. Es verwundert kaum, dass Lukas im weiteren Verlauf seiner Schilderung vor allem private Häuser (vgl. Apg 18, 7f.; 20,7f.; 28,30f.), aber auch Marktplätze (vgl. Apg 17, 16–34) und Lehrsäle (vgl. Apg 19,9f.) als Basis christlicher Missionspredigt erwähnt. Vielleicht zählten auch Vereinsheime, möglicherweise sogar öffentliche Bildungsstandorte dazu. Es waren die kommunikativen Zentren der antiken Gesellschaft, die die frühchristliche Mission für ihre Zwecke zu nutzen verstand. 1 2 3 4

Vgl. Strecker, Mission, 270–273, hier 270. Vgl. dazu Stemberger, Art. Juden, 169f., 182f., 194f., 211–213. Schnelle, Paulus, 143. Vgl. dazu Becker, Paulus, 136.

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Dies schließt natürlich nicht aus, dass sich der Christus-Glaube zu einem beträchtlichen Teil auch über informelle Wege ausbreitete, etwa über das ganz alltägliche Glaubenszeugnis von Christinnen und Christen in ihrer jeweiligen familiären, nachbarschaftlichen oder beruflichen Umgebung. Neuere Studien rechnen gerade auch im Blick auf Paulus mit einer stark persönlich geprägten Missionspraxis im Kontext des antiken Hauses (vgl. Röm 16,23, 1 Kor 16,19) oder anderer sozialer Umfelder. Unmittelbare Begegnungen waren entscheidend.5 Gemessen an Röm 15,20 missionierte der Apostel nur dort, wo der ChristusGlaube noch nicht bekannt war. Paulus folgt auch hier dem Anspruch, Sperrspitze zu sein – sicher, um missionarische Konkurrenz zu vermeiden6, aber wohl noch mehr, um eine möglichst effiziente Evangeliumsverkündigung zu erreichen. Ausnahmen (vgl. etwa Röm 15,24) bestätigen hier nur die Regel. Im Kern jedenfalls war die paulinische Mission nach Ansatz und Methode Heidenmission.7 Paulus weiß sich gesandt als „Apostel der Heiden“ (Röm 11,13; vgl. Gal 1, 15f.; 2,2; Röm 1,5; 15,16ff. u.ö.). Durch die Beschlussfassung des Apostelkonzils (49 n.Ch.) gestützt und bestätigt (vgl. Gal 2,7f.) macht er sich auf den Weg und sucht, vielleicht mit Ps 19,4 vor Augen, möglichst alle Völker zu erreichen (2 Kor 10, 13–16). Die Zielperspektive folgt einem theologischen Programm, das zu ermessen versteht, was es bedeutet, dass Gott in Kreuz und Auferweckung des Kyrios Jesus Christus die Universalität seines Heilshandelns manifestiert hat. Paulus ist überzeugt, dass die Ekklesia als solche eine eschatologisch neu geschaffene Größe darstellt, die in der Verheißungstreue Adonais wurzelt (vgl. Gen 12,3; 18,18) und aufgrund der Weite der Proexistenz Jesu sowohl Juden als auch Heiden umfasst (vgl. 1 Kor 12, 12–27). „Die Missionsbewegung ist zentrifugal“8: Ihr liegt die Grundüberzeugung zugrunde, dass die Verkündigung des Evangeliums die Heiden nicht erst zu Gliedern des Gottesvolkes macht, sondern vielmehr aufscheinen lässt, dass sie seit jeher und immer schon zur Teilhabe am Neuen Bund berufen sind. Sein eigenständiges, selbstverantwortetes Missionsprojekt, das Paulus recht bald nach den auf dem Apostelkonzil erreichten Weichenstellungen (und damit nach einer Reihe schmerzhafter Klärungsprozesse) aufnahm, führt ihn über den antiochenischen Missionsraum hinaus nach Kleinasien und Mazedonien. Lukas zeichnet das Bild großangelegter apostolischer Pastoralreisen und kommt dabei kaum ohne Stilisierungen aus. Zieht man Informationen hinzu, die sich aus den protopaulinischen Briefen als Missionsdokumente der ersten Stunde gewinnen lassen, verdichten sich die Konturen. Paulus scheint sich an den Dimensionen des römischen Imperiums zu orientieren. Dass ihm daran liegt, in die Weltmetropole Rom zu kommen (Röm 15,23), ist sicher mehr als nur eine Freundschaftsgeste der dort ansässigen christlichen Gemeinde gegenüber. Der Apostel denkt, man mag es mögen oder nicht, in imperialen Strukturen. Das entspricht der Größe seiner Berufung, die er – freilich in kreuzestheologischer Brechung, aber doch in der 5 6 7 8

Strecker, Modalitäten, 271 im Anschluss an Stowers, Social Status, 59–82; Barton, Paul, 34–48. Vgl. Klein, Abfassungszweck, 129–144, hier 134. Söding, Kreuz, 185. Ebd. 186.

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ihm eigenen Einzigartigkeit – als Sendung realisiert. Nicht in den kleinen Dörfern, sondern in den großen Städten will er christliche Gemeinden gründen. Dabei scheint er dem Straßensystem des Reiches zu folgen. Viele der von Paulus gegründeten Gemeinden liegen an der Via Egnatia, wie Philippi, Thessaloniki oder Beröa (Apg 16f.). Paulus zieht diese Fernhandelsstraße entlang bis hinauf nach Thessaloniki. Apostelgeschichte und Briefe stimmen in der Beurteilung überein, dass der Apostel großen und reichen missionarischen Erfolg verbuchen konnte (vgl. Apg 17,4; 1 Thess 1, 6–10). Die neutestamentlichen Zeugnisse verschweigen aber umgekehrt auch nicht, dass Paulus Blessuren einstecken musste. Verfolgung, Haft und körperliche wie psychische Gewalt waren der Preis, den es für den Apostel zu zahlen galt (vgl. 1 Kor 15,11; 2 Kor 4,7ff.). Die apostolische Missionspredigt scheint einem bestimmten Curriculum zu folgen. Grundlegend ist die Übereinstimmung der Evangeliumsverkündigung mit den Hoffnungsbahnen alttestamentlicher Verheißung. Zentral ist der Glaube an den einen und einzigen Gott und Vater Jesu Christi, dem Schöpfer des Alls. 1 Thess 1,9f. spiegelt ein gerafftes Kompendium paulinischer Lehre: Am Anfang steht als allgemeines Postulat das Nein des Apostels zu Götzenkult und Götzendienst. Daraus folgt die entschiedene Hinkehr zum wahren Gott. Je klarer sich die die Abkehr von fremden Gottheiten gestaltet, umso deutlicher kann das Ausmaß der eschatologischen Hinwendung Gottes zu den Menschen einleuchten. Strenge Theozentrik bewahrte die christologische Verkündigung vor polytheistischer Auflösung. Dabei ging es jedoch niemals nur um die bloße Beschwörung eines rein formalen Monotheismus, sondern immer um die Erschließung jenes weiten Horizonts biblischer Gottesrede, die Gottes Einzigartigkeit gerade mit der Unerreichbarkeit und Unermesslichkeit seiner Liebe zu den Menschen zu beschreiben versteht. Zur Gründung neuer Gemeinden (und danach zu ihrer Betreuung) reist Paulus zu Land und zu Wasser kreuz und quer um das östliche Mittelmeer und bis nach Illyrien und Rom hinauf (vgl. Röm 15,19). Wenn er nicht selbst eine Gemeinde aufsuchen kann, fungieren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Paulus als Boten und machen sich gleichfalls auf den Weg, um Briefe, Anfragen und Weisungen zu überbringen. Das alles funktioniert auch deshalb, weil das römische Imperium die notwendige Infrastruktur bereithält. Es gibt ein dichtes Netz von Straßen, das gutes Vorankommen ermöglicht.9 Das Straßennetz umfasste ca. 300.000 Kilometer, davon waren etwa 90.000 Kilometer gut ausgebaut.10 Im Licht von 2 Kor 11,26 und Apg 20,13 kann Paulus als strammer Läufer gelten. Er wird auch andere Verkehrsmittel zu nutzen gewusst haben. Die Großraumjets der Antike waren die Schiffe. Sie vernetzten die großen Metropolen der antiken Welt.11 Unter günstigen Verhältnissen war eine beachtliche Durchschnittsgeschwindigkeit von 4,5 bis 6 Knoten zu erreichen.12 Allerdings mit wenig Komfort und unter großen Gefahren. Auch davon kann der Apostel ein Lied singen (vgl. nur 2 Kor 11,25).

9 10 11 12

Vgl. dazu Giebel, Reisen, 129–214. Schnelle, Paulus 139. Vgl. Riesner, Die Frühzeit, 280–282. Schnelle, Paulus 139.

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Die äußeren Bedingungen für die Mission waren gut. Im Imperium Romanum herrschte zu Lebzeiten des Apostels eine gut ausgebaute kommunikative Infrastruktur. Inschriftenfunde zeigen, dass das Koine-Griechisch als damalige Weltsprache verstanden werden darf.13 Paulus reichte unter den Gegebenheiten des Römischen Reiches also im Prinzip eine einzige Sprache aus, um Menschen aller Kulturen und gesellschaftlicher Schichten zu erreichen. Das bedeutet freilich nicht, dass er nicht doch auch andere Sprachen, etwa das Aramäische, in seine Missionsarbeit zu integrieren verstand. Die frühchristlichen Missionare betreten auf ihren Wegen in die Welt der Heiden kein religiös unterentwickeltes Land. Im Gegenteil: Die antike Gesellschaft strotzte vor Religiosität.14 Es gab eine Vielzahl an Gottheiten, Tempeln und Kulten. Zwar kam das traditionelle polytheistische Weltbild von Griechen und Römern in die Krise, doch zugleich sprießen neue Kulte und Religionen wie Pilze aus dem Boden. Religiöser Pluralismus und Synkretismus sind Kennzeichen der Epoche. Sie markieren zugleich die Herausforderungen, vor der die frühchristliche Verkündigung steht.

2.

Merkmale guter Arbeit

Die entscheidende Aufgabe der urchristlichen Missionare war es, den Adressaten ihrer Verkündigung von deren eigenen Voraussetzungen her und in deren eigener Sprache einen Zugang zum Evangelium zu eröffnen. Lukas stellt es als das große Pfingstwunder der Kirche dar, dass dieser Übersetzungsprozess gelingen konnte (Apg 2, 1–13). Natürlich muss im Blick auf seine Erzählperspektive mit einer Reihe von Glättungen und Stilisierungen gerechnet werden. Umgekehrt weiß die Apostelgeschichte, dass die beachtlichen Missionserfolge, auf die die junge Ekklesia blicken darf, nicht einfach vom Himmel gefallen sind. In einer Predigt, die Paulus am Ende seiner großen Missionsreise hält, lässt Lukas den Apostel Bilanz ziehen (Apg 20, 18–35). Er spricht von Gottes Gnade, von der Führung des Geistes und dem Glauben an Jesus Christus. Die Rede handelt aber auch vom Dienst, den er verrichtet, von der Pflicht, die er erfüllt, von der Kraft, Mühe und Nachhaltigkeit, die seine Verkündigung begleitet. Lukas überlässt hier wenig dem Zufall: Von Nichts kommt Nichts, will er wohl sagen. Und dass die reiche Ernte eine qualitätvolle und engagierte Arbeit voraussetzt. Paulus selbst würde dem zustimmen. Nicht von ungefähr beschreibt er die Kirche als einen großen Bau (1 Kor 3,9) und denkt dabei weniger an ein zur Übergabe bereitstehendes Fertighaus als an eine veritable Großbaustelle, auf der es nach wie vor um die Fertigstellung eines zwar längst begonnenen, aber eben noch lange nicht fertiggestellten Gebäudes geht. Mit diesem Bild kommen Dynamik und Energie ins Spiel. Alle Getauften, nicht nur die Apostel, macht der Heilige

13 14

Vgl. Rosén, Sprachsituation, 215–239, 236f. Vgl. Rüpke, Die Religion, München 2001.

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Geist zu Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Gottes (1 Kor 3,9). Sie sollen Bauarbeiter sein und nach Kräften mithelfen, den Bau zu vollenden. Dass das mitunter anstrengend sein kann, verschweigt der Apostel nicht. Dass es sich lohnt, auch nicht. Im Blick auf seine eigene Rolle auf dieser Großbaustelle formuliert der Apostel ein bemerkenswertes Postulat. Dazu bemüht er ein neues Bild. Jetzt vergleicht er sich und alle, die an Jesus Christus glauben, mit Läufern in einem Stadion (1 Kor 9,24). Auch hierbei handelt es sich (das ahnt sogar der unsportliche Verfasser) um Schwerstarbeit. Den Sieg, den alle Sportler gerne davontragen, will Paulus übrigens nicht so gedeutet wissen, dass es vielleicht nur Wenige sind, die erfolgreich ans Ziel gelangen. Es geht ihm auch nicht darum, zu sagen, dass allen Läufern – nach der Devise „Dabeisein ist alles“ – allein schon deshalb der Sieg zuteil würde, weil sie sich – in welcher körperlichen Verfasstheit auch immer – einfach in den Wettkampf hineinbegeben haben. Noch abwegiger erscheint der Gedanke, Paulus wolle zu einem innerchristlichen Konkurrenzkampf um das göttliche Heil animieren. Plausibilität verbucht hingegen die Vorstellung, dass dem Apostel daran gelegen ist, die Christinnen und Christen aller Zeiten zu ermutigen, den Glauben, die Hoffnung und die Liebe mit der Willenskraft und Anstrengung dessen zu leben, der im Wettkampf unbedingt den Sieg davon tragen will. Darin ist er ja selbst Vorbild. Nicht umsonst spricht Paulus ein ums andere Mal von der Mühe, die er als Verkünder des Evangeliums aufbringt; von der Leidenschaft, die er investiert; von der Kraft, die er aufwendet, und von dem festen Willen, alles, wirklich alles für die Sache Jesu zu geben. Was Paulus hier also betreibt, ist Motivation zum Glauben und – in der weiteren Konsequenz – zum tatkräftigen und entschiedenen Dienst am Aufbau der Ekklesia. Geradezu beispielhaft skizziert der Apostel sich selbst und sein eigenes Tun als den Lauf eines Mannes, der „nicht ziellos“ durch die Gegend läuft, und eines Kämpfers, der „nicht mit der Faust in die Luft schlägt“ (1 Kor 9,26). Damit sind klare Qualitätskriterien eingeführt: Im Blick auf die Arbeit des Apostels und auch im Blick auf die Mitarbeit aller Getauften auf der Großbaustelle Gottes geht es um die Einforderung von Zielstrebigkeit und Engagement, von Genauigkeit und Konzentration. Auch von Klugheit und Augenmaß. Das Bild, das Paulus von der Mitarbeit und vom Aufbau des Hauses Gottes malt, ist somit ein mehrdimensionales: Es spricht einerseits von der Notwendigkeit stetiger Bauarbeit, es legt andererseits Kriterien fest, die über die Qualität dieser Arbeit entscheiden. Das zeigt sich am deutlichsten zu Beginn des Korintherbriefes (1 Kor 3, 10–15): Zunächst nimmt er seinen eigenen Dienst in den Blick. Der Apostel hat das Fundament des Kirchbaus gelegt (1 Kor 3,10). So ist der alles bestimmende und unumkehrbare Moment, das durch kein „Weiterbauen“ substantiell verändert werden kann und das allen anderen Tätigkeiten in der Gemeinde vor- und übergeordnet bleibt, klar benannt. Statik und Qualität des Aufbaus entscheiden sich am Fundament Christi. Alles kommt darauf an, ob das, womit weitergebaut wird, Bestand hat oder ob nicht. Was Bestand hat, entscheidet sich wiederum an der Entsprechung zum Fundament. In 1 Kor 3,11 sagt Paulus, warum der Weiterbau nicht einfach den Gesetzen der Beliebigkeit preisgegeben sein kann: Die ein für alle Mal gezogenen Fundamente dürfen nicht eingerissen

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oder verändert werden, weil sie nicht etwa das Ergebnis privater Anstrengungen des Apostels, sondern das Werk Jesu Christi selbst sind. Nachdem so die Grundlagen des Baus umrissen sind, wendet sich Paulus der Frage nach dem Wie des Weiterbaus zu (1 Kor 3,12). Damit jedoch kein „Schürmann-Bau“ entsteht, bedarf es insbesondere in nachapostolischer Zeit der gewissenhaften „Weiterarbeit“. Dieses Weitere legt der Apostel in die Hände nachfolgender Generationen, die ihr Handeln ihrerseits zu verantworten haben. Ihnen gilt sein Fingerzeig, auf die Art und Weise, das heißt auf die besondere Qualität des Weiterbauens zu achten. Paulus unterscheidet zwischen tragfähiger und solider Maßarbeit, die er sich wünscht, und einem instabilen und maroden „Pfusch am Bau“, den er fürchtet. Dieser Unterscheidung dient die Aufzählung verschiedener Baumaterialien. Weil es dem Apostel um die mahnende Einforderung von Qualität und Beständigkeit geht, wählt er in einer ersten Reihe solche Baustoffe aus, die zwar nicht zu den entscheidenden Materialien eines Bauwerks zählen, die aber als Edelmetalle äußerst wertvoll sind. Davon wird dann solches Material abgehoben, das sich als untauglich erweist, weil es leicht brennbar oder instabil ist. Im Zuge des Weiterbaus werden in besonderer Weise die Boten des Evangeliums in die Pflicht genommen, die Verantwortung für den Weiterbau tragen. Ihre Tätigkeit, die 1 Kor 3,12 im Blick auf das Qualitätsniveau beäugte, soll nach 1 Kor 3,13 schließlich und endlich im eschatologischen Gericht Gottes beurteilt werden. Ein abschließendes Urteil steht also nicht Menschen zu. Gott allein, der Richter, wird die Qualität des Weiterbaus ans Licht bringen und seinen Bestand prüfen. So kann es nicht verwundern, wenn der Apostel festhält, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt unmöglich ist, ein definitives Urteil über Wert und Qualität der Verkünder des Evangeliums zu sprechen. Was zunächst aussieht wie Gold, könnte sich ja schon bald als Stroh erweisen, was heute weise erscheint, entpuppt sich morgen vielleicht als töricht. Erst das eschatologische Gericht Gottes wird endgültig erweisen, ob in guter Weise weitergebaut wurde oder nicht (1 Kor 3, 13–15). Gottes Gericht ist schon in alttestamentlicher Tradition mit dem Bild des Feuers verbunden (vgl. Mal 3,19). Paulus übernimmt diese Vorstellung und verbindet mit dem Feuer das Bild einer göttlichen Schmelzprüfung zum Erweis von Beständigkeit oder Untauglichkeit der Aufbauarbeiten in der Gemeinde. Dabei kommt es übrigens auf bildlicher Ebene zu einem Bruch: Die zuvor in Entsprechung zu einer qualitätvollen Verkündigungstätigkeit positiv charakterisierten Edelmetalle würden im Feuer zusammenschmelzen. Weil Paulus aber daran gelegen ist, im Blick auf den „Weiterbau“ bestimmte Qualitätsmerkmale einzufordern und dabei auch den eschatologischen Ernst und die Verantwortlichkeit eines jeden Mitarbeiters zu markieren, ist er im Zuge seiner Argumentation bereit, Ungereimtheiten auf der Bildebene zugunsten inhaltlicher Stringenz in Kauf zu nehmen. Zuletzt (1 Kor 3, 14.15) beleuchtet der Apostel die möglichen Ergebnisse der Feuerprobe. Dem positiven Ergebnis der Feuerprobe wird das negative entgegen gestellt (1 Kor 3,15). Ob dieses Bild wirklich voraussetzt, dass sich das Werk der Mitarbeiter am Aufbau der Ekklesia entweder als gänzlich solide oder aber als komplett unsolide erweisen wird, ist unwahrscheinlich. Aus seiner eigenen Biografie heraus weiß Paulus ja nur zu gut um die Grauzonen eines Lebens. So geht

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es ihm hier weniger um die Einforderung einer strahlenden Erfolgsbilanz, die zur Gänze frei bliebe von Brüchen oder Niederlagen. Aber er fordert um der Echtheit des Evangeliums willen ein ständiges Ringen der Mitarbeiter, um möglichst höchste Qualität und konfrontiert sie deshalb mit dem Wissen um Verantwortlichkeit und Rechenschaft vor Gott. Im Bild gesprochen bedeutet dies, dass nicht der Grad an Reinheit des jeweiligen Materials zur Debatte steht, sondern die Frage, ob es vor dem göttlichen Prüfungsfeuer Bestand haben wird. Die Dimension der Hoffnung, die im Hintergrund dieses Bildes steht, ist alles andere als unerheblich.

3.

Lebensunterhalt durch Arbeit

Die Apostelgeschichte verrät, dass Paulus ursprünglich das Handwerk eines Zeltmachers erlernte (Apg 18,3). Offenkundig bestritt er durch diese Arbeit seinen Lebensunterhalt – vor, aber auch nach der damaszenischen Lebenswende (vgl. 1 Thess 2,9; 1 Kor 4,12; Apg 20,34). Natürlich geht es dabei auch um Leidenschaft. Vor allem aber sichert die Arbeit dem Apostel die Unabhängigkeit. Die alte Devise „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ war für Paulus keine Option. Ihm ist vielmehr daran gelegen, niemandem schmeicheln zu müssen (1 Thess 2,5), aber auch keinem zur Last zu fallen (vgl. 1 Thess 2,9; 2 Kor 11,9, 12, 13.16). 1 Kor 9, 1–14 legt eine Auseinandersetzung frei um diese spezielle Art und Weise des Apostels, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Urkirche räumte ihren Aposteln offenbar gewisse Sonderkonditionen ein, um auf diese Weise eine kraftvolle, unbelastete Evangeliumsverkündigung sicher zu stellen. 1 Kor 9,4f. spricht von einer Verpflichtung der Gemeinde, ihren jeweiligen Apostel freizuhalten und ihm harte körperliche Arbeit zum Lohnerwerb zu ersparen. Paulus befindet sich in Korinth anscheinend in der Defensive und muss nolens volens um der Glaubwürdigkeit seines Apostolates willen auf dessen Grundfundamente zu sprechen kommen.15 In diesem Zusammenhang werden auch die Privilegien der Apostel zum Thema. Aber nicht eigentlich sein Verzicht auf den ihm als Apostel von Seiten der Gemeinde zustehenden Unterhalt steht dabei im Mittelpunkt der Debatte, sondern dessen Voraussetzungen. Offenbar war es so, dass Paulus sich in seinem Missionsraum mit einer zunehmenden Gegnerschaft konfrontiert sah, die den Apostolat des Paulus im Ganzen fundamental in Frage stellte und nicht „nur“ dieses oder jenes apostolische Sonderrecht bzw. dessen NichtInanspruchnahme.

15

Vgl. Wolff, Korinther, 189.

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232

4.

Das Recht des Apostels

Ehe der Verzicht des Paulus auf das Durchsetzen seiner apostolischen Rechte eingeschätzt und in seiner Wertigkeit bemessen werden kann, muss also die apostolische Berechtigung als solche feststehen. 1 Kor 9, 1–3 stellt grundsätzlich klar, dass und warum Paulus mit vollem Recht Apostel ist. Deshalb spricht er von dem grundlegenden Fundament seiner apostolischen Existenz, um im Anschluss daran die sich für ihn aus dem Grundlegenden ergebenden Konsequenzen zu bedenken. Im Stil griechischer Diatribe wird eine Reihe von Fragen aneinandergereiht, die positiv beantwortet werden wollen.16 Die Fragen haben unterschiedliches Gewicht: Die zweite („Bin ich nicht ein Apostel?“) steigert die erste („Bin ich nicht frei?“), die dritte („Habe ich nicht unseren Herrn Jesus gesehen?“) begründet die zweite, die vierte („Seid ihr nicht mein Werk im Herrn?“) schließlich bestätigt die dritte. Im Blick auf die erste Frage ist schon vom Kontext her klar, dass die Freiheit, von der hier die Rede ist, nicht die Freiheit vom jüdischen Gesetz (vgl. Phil 3), die Freiheit von der Sünde (vgl. Röm 7) oder eine politisch verstandene Freiheit ist, sondern die Freiheit zum Verzicht des Paulus auf die Sonderrechte eines Apostels. Die zweite Frage bringt den Apostolat des Paulus selbst ins Spiel, dessen Gültigkeit feststehen muss, ehe es Sinn macht, die mit dem Aposteldienst verbundenen Privilegien in den Blick zu nehmen. Im Licht kritischer Anfeindung erklärt sich die dritte Frage, die Paulus einer Trumpfkarte gleich hervorzieht, um den in der zweiten Frage reklamierten Anspruch jedweder Infragestellung zu entziehen. Paulus ist Apostel, weil er Jesus, den Herrn, gesehen hat (1 Kor 9,1). Dieses „Sehen“ des auferweckten Kyrios ist die grundlegende Voraussetzung seiner Berufung zum Apostel.17 Entscheidend sind die christologischen und eschatologischen Einsichten, die sich dem Apostel Paulus von Gott her in der Begegnung mit dem auferweckten Kyrios erschließen. Das „Sehen des Herrn“ meint die Wahrnehmung dieser das Leben des Paulus radikal verändernden Selbstmitteilung Gottes, in der dem Apostel aufgeht, dass Gott durch seinen Sohn Jesus Christus das eschatologische Heil schaffen wird, und dieser als solcher Inhalt des Evangeliums ist, das Paulus fortan zu verkünden hat. Schlussendlich bestätigt die vierte Frage die dritte, indem sie diesen inneren Zusammenhang von Christophanie und Sendung, Berufungserlebnis und Evangeliumsverkündigung in den Blick nimmt und in seiner konstitutiven Bedeutung für den paulinischen Apostolat hervorhebt. Das „Werk“ des Apostels, i.e. der Erfolg seiner Mission, ist der offenkundigste Beleg der Authentizität und Legitimität des paulinischen Apostolates. Die schlichte Existenz der korinthischen Gemeinde zeigt, dass der Gründer und Vater dieser Gemeinde von Gott her zum Apostel berufen ist. Das aber bedeutet, dass sich die Auferweckungsmacht des Kyrios – und darin der Heilswille Gottes – zwar vor allem, aber nicht nur in der unmittelbaren Begegnung mit dem Auferstandenen erweist, sondern auch im Wirken seines Apostels.

16 17

Vgl. Schrage, Korinther, 287. Vgl. ebd.

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Hat Paulus so das Fundament seines Apostolates beschrieben, kann er im Folgenden (1 Kor 9,4ff.) über das sprechen, was sich in der Konsequenz ergibt. Wieder ist es eine Salve von Suggestivfragen, die die Vorrechte und Privilegien eines Apostels benennen. Insofern Paulus Apostel Jesu Christi ist, stünde ihm die Inanspruchnahme dieser Vorrechte – wie allen anderen Aposteln auch – prinzipiell zu. Das ist der Rote Faden des Gedankens, der sich durch diese Verse zieht. Zunächst geht es um das Recht auf Unterhalt (1 Kor 9,4), das – so ist dem Zusammenhang nach zu ergänzen – der Sorge der Gemeinde obliegt. 1 Kor 9,5 spricht von dem Recht der Apostel auch auf Unterhalt der Ehefrau (sofern vorhanden). Die Gemeinde hätte dann die aufgrund der Missionstätigkeit nicht mehr wahrnehmbare Verantwortung des Ehemanns für den Unterhalt seiner Ehefrau zu übernehmen. Als überzeugter Zölibatär verweist Paulus hier immerhin auf das Beispiel anderer Apostel, allen voran auf Kephas und die „Brüder des Herrn“18. Der Eindruck, dass die Verse 4 und 5 tatsächlich die Unterhaltspflicht der Gemeinden für die Apostel im Blick haben, verdichtet sich noch einmal mit 1 Kor 9,6. Apostel haben das Privileg, ihren Lebensunterhalt nicht durch konventionelle Arbeit verdienen zu müssen. Sie sollen frei sein für die Ausübung ihres apostolischen Dienstes. Unter Zuhilfenahme weiterer rhetorischer Fragen stellt Paulus dann (1 Kor 9,7) drei Beispiele aus dem Berufsleben vor, um das allgemeine Recht auf Entlohnung klar vor Augen zu führen: Soldaten, Winzer und Viehzüchter beanspruchen und erhalten selbstverständlich ihren Lohn für getane Arbeit. Der weltlichen Logik stellt Paulus mit 1 Kor 9,8f. einen Schriftbeweis überbietend zur Seite. Der Apostel deutet Dtn 25,4 und das gesamte jüdische Gesetz auf den Menschen hin19 und – im Sinne seiner Argumentation – näherhin auf die Apostel. Wenn mit jeder Arbeit die legitime Erwartung des Lohnes verbunden ist, gilt dies auch für die Arbeit der Verkündigung des Evangeliums. V11 überträgt diese Einsicht auf das Verhältnis des Apostels zur Gemeinde von Korinth. In Anspielung auf das Bild von der Gemeinde als einer Pflanzung des Apostels (vgl. 1 Kor 3,6ff.) stellt Paulus fest, dass seine missionarische Tätigkeit in Korinth wesentlich zur Entfaltung des Gottesgeistes in der Gemeinde beigetragen hat. Paulus unterstreicht seinen Anspruch auf Lohn angesichts seiner erfolgreichen Arbeit. Leistung muss sich lohnen. 1 Kor 9,12 bewegt sich auf dieser argumentativen Linie, wobei der Apostel als Gründungsapostel im Unterschied zu „den anderen“ (nach ihm) in Korinth tätigen Apostel – wenn auch nur theoretisch – den größten und gewichtigsten Anspruch auf Lebensunterhalt für sich beansprucht.

5.

Der Verzicht des Apostels

Je größer das Recht, desto eindrucksvoller der Verzicht. Mit rhetorischer Brillanz kommt Paulus auf das zu sprechen, worum es ihm eigentlich geht, nämlich um den Verzicht auf seine apostolischen Privilegien. Er ist bereit, „alles“ zu ertragen, 18 19

Vgl. Wolff, Korinther, 191. Ebd. 193.

234

Robert Vorholt

was sich von 1 Kor 4, 11–13 her im Wesentlichen als eine durch den Unterhaltsverzicht bedingte Mittellosigkeit (1 Kor 4,11) erklärt oder als das bewusste Inkaufnehmen körperlich schwerer Arbeit (1 Kor 4,12). Paulus begründet sowohl den Verzicht als auch die Bereitschaft, Nachteile in Kauf zu nehmen: Nichts darf der Annahme der Frohbotschaft des Apostels im Wege stehen. Die apostolische Verkündigung soll nicht im Geringsten unter dem Verdacht stehen, nur eine bequeme Erwerbsquelle zu sein. Auf keinen Fall will der Apostel zu den „bezahlten Knechten“ zählen, deren Herzblut allein für die Lohntüte fließt. Es soll auch nicht der Eindruck entstehen, die Frohbotschaft sei eine käufliche Ware und nicht das reine Geschenk der freien Gnade Gottes. Damit nämlich wäre der Verkündigung des Evangeliums ein Hindernis in den Weg gestellt, schlimmer noch: Die Menschen wären um ihr eschatologisches Heil betrogen (vgl. 1 Kor 15,2). Um den Gedanken eindrucksvoll abzuschließen greift Paulus zurück auf eine Anordnung des Herrn (1 Kor 9,13f). Das vermeintliche Jesus-Wort wird passgenau in Anschlag gebracht durch den voranstehenden Blick auf die kultische Tätigkeit jüdischer Priester im Jerusalemer Tempel, die für die Verrichtung ihres priesterlichen Dienstes entlohnt werden, indem sie einen bestimmten Anteil der dargebrachten Gaben für sich behalten dürfen. Die Sinnlinie erwächst aus der Tatsache, dass sowohl die jüdischen Kultdiener als auch die Verkünder des Evangeliums in ihrer Tätigkeit von Gott her autorisiert sind. Was also für die Jerusalemer Kultdiener gilt, muss auch für die Diener des Neuen Bundes gelten. Darum wird die Anordnung des Kyrios (V14) mit der Formel „in gleicher Weise“ eingeleitet. Paulus paraphrasiert das Herrenwort nur, das er als bekannt voraussetzt: „Der Arbeiter ist seines Lohnes wert“ (vgl. Lk 10,7, Mt 10,10 par.). Der Clou der Zitation liegt auf der Hand. Paulus will sagen: Gleicher Lohn für gleiche, besser gesagt: ähnliche Arbeit. Auch die Apostel sollen einen Teil ihrer Opfergabe als Lohn erhalten. Apostolischer Dienst ist priesterlicher Dienst und als solcher wesentlich auf die Verkündigung des Evangeliums und die Ansage des von Gott her in Jesus Christus erwirkten Heils der Menschen konzentriert. Davon bzw. daraus sollen die Verkündiger leben. Geld würde die Preise verderben. Phil 4, 10–20 und 2 Kor 11,8 zeigen übrigens, dass Paulus kein Generalist war. Offenkundig gab es für ihn, den Arbeiter, doch immer mal wieder auch gute Gründe, finanzielle Hilfestellungen durchaus dankbar anzunehmen. Die genannten Illustrationen von 1 Kor 9, 1–14 – angefangen beim Vergleich mit der Berufswelt bis hin zu der höchsten Autoritätsstufe einer Weisung des Kyrios – zielen auf den Grundsatz, dass gute Arbeit vollen Lohn verdient. Paulus beansprucht für sich – auch wenn er auf den „Lohn“ verzichtet –, dass er ihm dennoch zusteht, weil er Apostel ist und weil er als solcher gute Arbeit leistet.

Paulus der Arbeiter

235

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Von der eigenen Hände Arbeit leben – Arbeitsethos in der paulinischen Tradition Christian Münch

Das Arbeitsethos gehört zweifellos nicht zu den herausragenden Themen des Neuen Testaments. So sehr sich Arbeit als selbstverständlicher Teil des Lebens auch im Neuen Testament spiegelt: Gegenstand theologischer oder ethischer Reflexion ist sie selten. Wenn aber doch nach Arbeit und Arbeitsethos im zweiten Teil der christlichen Bibel gefragt wird, gehören regelmäßig vor allem Stellen des Corpus Paulinum zu den angeführten Texten: „Sucht eure Ehre darin, euch ruhig zu verhalten, die eigenen Angelegenheiten zu erledigen und mit euren Händen zu arbeiten, wie wir euch aufgefordert haben.“ (1 Thess 4,11) „Wenn jemand nicht arbeiten will, soll er nicht essen.“ (2 Thess 3,10) „Wer gestohlen hat, stehle nicht mehr, sondern mühe sich lieber und tue Gutes mit den (eigenen) Händen, damit er etwas hat, um mit denen zu teilen, die es nötig haben.“ (Eph 4,28)

Das Arbeitsethos des Neuen Testaments, wenn denn von einem solchen geredet werden kann, scheint nachhaltig von Paulus bestimmt. Dieser Gedanke soll im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen und genauer gefasst werden. Einerseits ist die Arbeit ein Aspekt des paulinischen Selbstbildes als Apostel: Der Forderung im ersten Brief an die Thessalonicher, mit den Händen zu arbeiten, steht ein Paulus gegenüber, der an anderen Stellen dieses und anderer seiner Briefe viel Wert darauf legt, mit seiner Hände Arbeit für den eigenen Lebensunterhalt aufzukommen und nicht auf andere angewiesen zu sein. Andererseits hat dieses Selbstbild des Paulus schon im Neuen Testament innerhalb der Paulusüberlieferung an verschiedenen Stellen eine Rezeption erfahren. Zum erinnerten Paulus gehört seine Haltung zur Arbeit und diese wird für ein christliches Arbeitsethos fruchtbar gemacht.

1.

Die Mahnung zur Arbeit und paulinisches Arbeitsethos im ersten Thessalonicherbrief

Die Mahnung zur Arbeit in 1 Thess 4,11 ist Teil der größeren Einheit in V. 1–12 mit ethischen Mahnungen des Paulus an die Adresse der Thessalonicher, wie sie zu leben haben, um Gott zu gefallen (V. 1). Es finden sich eine Reihe von konkreten Weisungen, unter anderem die Aufforderung, seine Ehre darein zu setzen,

Christian Münch

238

ein stilles Leben zu führen, das Eigene zu tun und mit den (eigenen)1 Händen zu arbeiten (V. 11). Die Mahnung zur Arbeit wird also durch das Attribut „mit den Händen“ charakterisiert und von zwei weiteren Aufforderungen des Paulus an die Thessalonicher begleitet. Die konkreten Weisungen in V. 1–12 sind ethischen Leitgedanken zugeordnet: dem der Heiligung (V. 3), dem der Bruderliebe (V. 9) und dem, ehrbar zu leben vor denen draußen und auf keinen angewiesen zu sein (V. 12). Die Mahnungen von V. 11 sind dabei insbesondere mit dem dritten Leitgedanken verbunden, der begründend mit ἵνα („damit“) angeschlossen wird. Zugleich besteht aber strukturell eine deutliche Verknüpfung mit der Bruderliebe: Die Verse 9–12 bilden einen eigenen Unterabschnitt des Abschnitts V. 1–12, der mit Περὶ δὲ eröffnet wird (V. 9); die Mahnung, in der Bruderliebe noch reicher zu werden, und die zu ruhiger Lebensführung etc. sind im griechischen Text grammatisch von „Wir ermahnen euch aber, Brüder“ (V. 10: Παρακαλοῦμεν δὲ ὑμᾶς, ἀδελφοί) abhängig und so miteinander verbunden.2 Für die Begründung und Motivierung der Mahnung zum Lebenswandel in V. 11 ergibt sich damit eine doppelte Perspektive: einerseits auf die Bruderliebe und andererseits auf die nichtchristliche Umwelt.

1.1

„Mit den (eigenen) Händen arbeiten“

Die Formulierung „mit den (eigenen) Händen arbeiten“ (ἐργάζεσθαι ταῖς [ἰδίαις] χερσὶν) kommt in den authentischen Paulusbriefen nur noch in 1 Kor 4,12 vor, wo Paulus in dieser Weise von seiner eigenen Arbeit spricht. Das betonte „mit den eigenen Händen“ kann im Kontext von 1 Kor 4,11–13 zunächst auf die Mühe der Arbeit gedeutet werden, insofern der Hinweis auf das Arbeiten mit den eigenen Händen grammatisch vom Verb „sich abmühen“ regiert wird (V. 12: κοπιῶμεν ἐργαζόμενοι ταῖς ἰδίαις χερσίν) und als Glied in einer Satzreihe steht, in der Paulus die Entbehrungen seines Lebens als Apostel – nämlich Hunger und Durst, mangelhafte Kleidung, Misshandlung, Verfolgung und Heimatlosigkeit – beschreibt (V. 11–12). Im Kontext wäre zudem auch ein Bezug auf die Niedrigkeit körperlicher Arbeit denkbar, da Paulus im Zusammenhang mit dem mühsamen und leidvollen Broterwerb zugleich auch auf die Geringschätzung zu sprechen kommt, die ihm in seinem Aposteldienst entgegengebracht wird (V. 9– 10.13). Arbeit mit den Händen ist in der Antike der Normalfall von Arbeit. Maschinen gibt es kaum, geistige Arbeit ist ein Ausnahmephänomen begrenzter Berufsgruppen.3 Bezieht man die zeitgenössische Bewertung von Handarbeit in der 1

2 3

Der Text des Nestle-Aland (28. Aufl.) setzt „eigene“ in Klammern (ταῖς [ἰδίαις] χερσὶν). Die Bezeugung für „eigene“ ist relativ schlecht, es wird im Folgenden nicht vorausgesetzt, der Begriff stehe im Text; vgl. Holtz, Thessalonicher, 178 Anm. 187. In der Sache besteht kein Sinnunterschied, es sind die eigenen Hände gemeint. Eine Rolle spielt die textkritische Entscheidung für die Frage, wie nah die Formulierung sprachlich der in 1 Kor 4,12 kommt. Siehe Abschnitt 1.1. Zur Struktur vergleiche Holtz, Brief, 172f. Zur Arbeitswelt Neumann/von Reden, Art. „Arbeit“, in: DNP 1 (1996), 963–969; Herz, Arbeitswelt, 186–189; Kegler/Eisen, Art. „Arbeit/Lohnarbeit“, 16–22.

Von der eigenen Hände Arbeit leben – paulinische Tradition

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Umwelt des Paulus ein, so erscheint die Assoziation der Mühsal und Beschwerlichkeit durchaus plausibel. Eine Geringschätzung der körperlichen Arbeit ist eine in der hellenistischen Welt verbreitete Sicht v.a. in der Oberschicht, deren Ethos sich in der philosophischen und politischen Literatur spiegelt. Quellen wie Bilder oder Inschriften zeigen bei den anderen Bevölkerungsschichten dagegen durchaus Stolz auf die eigene Arbeit. Auch für die jüdische Welt ist eine ethische Abwertung der körperlichen Arbeit nicht anzunehmen.4 Die Spur über die eigenen Arbeitserfahrungen des Paulus führt aber noch auf eine zweite mögliche Assoziation. Von seinem eigenen Arbeiten redet Paulus (ohne explizit von Arbeit mit den Händen zu sprechen) mehrfach im Zusammenhang mit seinem Lebensunterhalt als Apostel (1 Thess 2,9; 1 Kor 9,6.11–13; vgl. 2 Kor 11,27: κόπος und μόχθος). Paulus verzichtet auf den Unterhalt durch die Gemeinden, in denen er gerade missioniert, obwohl ihm dieser Unterhalt zustünde wie allen anderen Aposteln auch (1 Kor 9,1–18; 2 Kor 11,7–9; 12,13–18; vgl. 1 Thess 2,7). Vorauszusetzen ist wohl der im Christentum auch sonst breit bezeugte Unterhalt, den wandernde Missionare von den Gemeinden bekamen, in denen sie sich aufhielten (Lk 10,5–7; Mt 10,8–10; Did 11,3–6; vgl. 1 Tim 5,17–18; Did 13).5 Paulus deutet den Unterhalt als ein Privileg, auf das er als Apostel Anspruch hat, aber verzichtet. Stattdessen erwirbt er sich seinen Unterhalt durch handwerkliche Arbeit – laut Apg 18,3 als „Zeltmacher“.6 Wie in 1 Kor 4,12 wird dabei deutlich, dass dieses Arbeiten für den eigenen Unterhalt Mühsal mit sich bringt (1 Thess 2,9; 1 Kor 9,12b; 2 Kor 11,9.27; 12,15; vgl. Phil 4,10–20). Die Arbeit für den eigenen Unterhalt ist ein wesentliches Moment des paulinischen Selbstverständnisses als Apostel. Paulus verbindet mit der Arbeit für den Lebensunterhalt im ersten Thessalonicherbrief zunächst, niemandem zur Last zu fallen (1 Thess 2,9). Darüber hinaus wird als Motiv erkennbar, den Anschein zu vermeiden, er würde sich durch die Verkündigung des Evangeliums „mit versteckter Habgier“ (ἐν προφάσει πλεονεξίας) auf Kosten der Thessalonicher bereichern (vgl. 1 Thess 2,3–5). Heilig, gerecht und untadelig – diese Attribute nimmt Paulus für sein Wirken in Thessalonich in Anspruch (1 Thess 2,10). Das Thema Unterhalt ist im korinthischen Gesprächszusammenhang dann – in beiden Briefen – offenkundig Teil der scharfen Auseinandersetzung um seine Autorität als Apostel (vgl. 1 Kor 9,1–3; 2 Kor 11,5.13; 12,11–13). Der erste Thessalonicherbrief ist vielleicht in Korinth geschrieben worden. Färben dort geführte Diskussionen und Auseinandersetzungen auf die Sicht der Arbeit im Brief an die Thessalonicher ab? Sicher zu klären ist das nicht. Auffällig sind jedenfalls die motivlichen Parallelen: Paulus will auch in Korinth nicht zur Last fallen (2 Kor 11,9; 12,13.14.16) und weist für sich wie für Titus den Gedanken zurück, sie hätten die Korinther aus Habgier übervorteilt (2 Kor 12,14–18; dort V. 17.18: πλεονεκτέω). Wie im Thessalonicherbrief (vgl. bes. 1 Thess 2,9–10) steht die Lebensweise des Paulus ganz 4

5 6

Zur Wertung der Arbeit in der jüdischen und hellenistischen Welt neben den in Anm. 3 genannten Titeln auch Hauck, Arbeit, bes. 2–62; Ders.,Art „Arbeit“, in: RAC 1 (1950), 585–590; Meyer, Arbeitsethos, 11–20; Hengel, Arbeit, 424–466, hier 425–442. Zum Unterhaltsverzicht des Paulus Theißen, Lebensunterhalt, 201–230; Pratscher, Paulus, 284–298; Hock, Tentmaking, 26–68. Zu den Schwierigkeiten dieser Berufsangabe Wolter, Paulus, 9f.

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240

im Dienst des Evangeliums und seiner Verbreitung, der kein Hindernis in den Weg gestellt werden soll (1 Kor 9,12). Die Arbeit ist darüber hinaus für Paulus Teil und Ausdruck seiner Mühe (κόπος, κοπιάω), die er auf vielfältige Weise für die Verkündigung aufbringt (2 Kor 6,5; 11,27). Diese Mühe ist wichtiges Charakteristikum seines Wirkens als Apostel und zeichnet ihn aus (1 Kor 15,10; 2 Kor 11,23; vgl. 2 Kor 10,15). Wiederholt äußert er die Hoffnung, sich nicht vergeblich gemüht zu haben (1 Thess 3,5; Gal 4,11; Phil 2,16). Die Mahnung zur Arbeit mit den Händen steht in 1 Thess 4,11 nicht für sich, sondern ist Schlussglied der Trias „ruhig sein/sich ruhig verhalten – die eigenen Angelegenheiten erledigen – mit den Händen arbeiten“. Ήσυχάζειν kann sowohl die äußere Ruhe, Frieden und Sicherheit meinen wie die innere Ruhe im Gegensatz zu Unruhe und Furcht oder als Kennzeichen der gelungenen Lebensführung. Den Begriff in den Kontext hellenistischer Popularphilosophie einzuzeichnen, ist möglich.7 Die Mahnung, die eigenen Angelegenheiten zu verrichten, ist ohne Kontext vieldeutig, mag je nach Betonung eher „bei sich bleiben und sich nicht in fremde Angelegenheiten einmischen“ bedeuten oder eher eine Aufforderung sein, die eigenen Dinge zu erledigen und nicht schleifen zu lassen. Auch hier kann nur der Kontext weiterhelfen. Insgesamt geht es um die Lebensführung der Angesprochenen, die in den drei Elementen exemplarisch vertreten ist. Zwischenergebnis: Wenn Paulus in 1 Thess 4,11 die Adressaten des Briefes auffordert, mit ihren Händen zu arbeiten, ist diese Weisung Teil einer kleinen Reihe von Weisungen zur Lebensführung. Es geht um richtige Lebensführung, in der die Arbeit ein Element ist. Dass Paulus auf die Arbeit mit eigenen Händen hinweist, muss zunächst nichts Besonderes bedeuten, da diese Form der Arbeit in der Antike der Normalfall ist. Vielleicht schwingt der Gedanke an die Mühe oder Niedrigkeit solcher Arbeit mit – sie ist trotzdem zu tun. Der Verweis auf die Arbeit mit den eigenen Händen eröffnet ein gewichtiges Assoziationspotential, wenn sie mit dem verknüpft werden kann, was Paulus über seine eigene, mühevolle Arbeit mit den Händen sagt: Sie geschieht zwar wie bei anderen Menschen auch zum eigenen Unterhalt, ist bei ihm aber zudem ein freiwilliger, bewusster Akt im Dienst des Evangeliums, um dessen Verbreitung zu fördern. Arbeit und überhaupt das Sich-Abmühen gehören in auffälliger Weise zum Selbstverständnis und Ethos des Paulus in seinem Aposteldienst. Ließe sich dies mit der Mahnung zur Arbeit an die Thessalonicher verknüpfen, steckt darin großes Potential für ein Arbeitsethos.

7

Vgl. Frey, Art. „ἡσυχία“, 1507–1509.

Von der eigenen Hände Arbeit leben – paulinische Tradition

1.2

241

„Damit ihr ein ehrbares Leben führt vor denen draußen und niemandem zur Last fallt“

Für die Weisung in 1Thess 4,11 spielt der Blick nach außen eine große Rolle. Er ist durch die Wendung πρὸς τοὺς ἔξω in der Begründung (V. 12) klar hervorgehoben. Auch weitere Elemente der Mahnung verraten die Bedeutung des Außenblicks: Betont von den eigenen Angelegenheiten (τὰ ἴδια) redet nur derjenige, der sie als etwas von den Angelegenheiten der Anderen – denen „draußen“ – Unterschiedenes wahrnimmt. φιλοτιμεῖσθαι (‚sich eine Ehre daraus machen‘) zielt auf die Anerkennung durch diese Anderen (bei Paulus noch Röm 15,20; 2 Kor 5,9).8 Die Vokabel εὐσχημόνως setzt dabei nicht nur in 1 Thess 4,12, sondern auch an anderen Stellen der Paulusbriefe Maßstäbe für ‚anständig‘ voraus, die nicht spezifisch christlich sind (Röm 13,13; 1 Kor 14,40 sowie die die anderen Begriffe des Stammes in 1 Kor 7,35; 12,23–24). Was als anständig gilt, darüber urteilt die Gesellschaft insgesamt (vgl. Mk 15,43; Apg 13,50; 17,12).9 Sehr deutlich spricht aus V. 11–12 also die Erwartung, durch die Lebensführung zur Anerkennung der Christen im Umfeld der paganen Gesellschaft beitragen zu können. Die Begründung der Mahnung enthält noch ein zweites Element: niemanden10 nötig haben (μηδενὸς χρείαν ἔχειν). Die Wendung ist geläufig, unspezifisch und darf sicher nicht gepresst werden. Notierenswert ist aber immerhin, dass Paulus in Phil 4,16 dankbar darauf zu sprechen kommt, die Philipper hätten ihm mehrfach etwas, das er nötig hatte (εἰς τὴν χρείαν μοι), geschickt – und zwar unter anderem nach Thessalonich. Das Thema des Lebensunterhaltes während seiner Missionstätigkeit ist für Paulus biographisch also offenbar auch mit Thessalonich verbunden, nicht nur mit Korinth. Das könnte auf seine Weisungen zum Lebensunterhalt der Thessalonicher Einfluss haben.

1.3

Zur Interpretation von 1 Thess 4,11–12

Die Situation, in die hinein die Mahnungen zu ruhigem Lebenswandel, zum Sichum-die-eigenen-Dinge-Kümmern und zur Arbeit gesprochen werden, ist auch unter Berücksichtigung des Finalsatzes letztlich unklar. Handelt es sich um eine allgemeine Mahnung oder gibt es einen konkreten Anlass? Welche Erfahrungen oder Ereignisse setzt der Text voraus? Die Frage nach der Situation, auf die 1 Thess 4,11–12 zielt, ist eine Schlüsselfrage der Interpretation.11 Nicht zuletzt wohl angestoßen durch 2 Thess 3,6–13 (s.u.) wird immer wieder 1 Thess 5,14 in Diskussion einbezogen („Weist die Unordentlichen zurecht!“) und 8 9 10

11

Vgl. zum Verb Rulmu, Ambition, 415. Vgl. zum Begriff auch Holtz, Brief, 180. μηδενός wird hier – wie meistens in den Übersetzungen – wegen des Kontexts als Maskulinum interpretiert („niemanden nötig haben“), nicht als Neutrum („nichts nötig haben“), da auch der erste Teil des Finalsatzes V. 12 die Menschen des Umfeldes im Blick hat. Vgl. Holtz, Brief, 181 mit Anm. 199. Zu den Schwierigkeiten Holtz, Brief, 177–179.

242

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erwogen, ob die Unordentlichen jene sind, denen wie auch im zweiten Thessalonicherbrief (vgl. 2 Thess 3,11–12) die Mahnung zur Arbeit gilt, und was ggf. weiter aus dem Attribut „unordentlich“ für die Sprechsituation oder die Intention der Mahnung zu folgern ist. Das Wort bezeichnet „den Menschen als den, der sich außerhalb der notwendigen und gegebenen Ordnung stellt. Angesichts der belegten Bedeutungsbreite wird man sich hüten müssen, die Verwendung in den Thessalonicherbriefen zu speziell einzuengen.“12 Der Bezug zur Arbeit ist möglich, aber nicht zwingend. In diesem Fall kann „Faulheit“ gemeint sein, dies ist aber nicht die einzig mögliche Weise, sich auf dem Feld der Arbeit außerhalb der gegebenen Ordnung zu stellen. Im Kontext des ersten Thessalonicherbriefs gehen die Überlegungen oft in Richtung auf einen aus der Bekehrung resultierenden, möglicherweise eschatologisch motivierten (vgl. 1 Thess 4,13 – 5,11) Enthusiasmus, der einige unter den Thessalonichern ihre alltäglichen Pflichten vernachlässigen lässt und so letztlich sozial desintegrierend wirkt.13 Der eschatologische Horizont ist aber in jüngerer Zeit sehr umstritten.14 Der erste Blick in V. 12 geht auf das Urteil derer „draußen“. Warum ist Paulus an diesem Urteil gelegen? Die Thessalonicher haben mit ihrem heidnischen Lebenswandel gebrochen (1 Thess 1,9–10). Auch sonst wird bei Paulus in ethischen Fragen eine deutliche Distanz zur heidnischen Umwelt sichtbar (Röm 12,2; 2 Kor 6,14–18; auch 1 Kor 6,1–11). Doch soll diese Distanz nicht zu einem Rückzug aus dieser Welt führen (1 Kor 5,9–10) und das Urteil der Umwelt über die Christen spielt auch andernorts eine Rolle, zum Beispiel wenn Paulus im korinthischen Götzenopferstreit geltend macht: Weder Juden noch Griechen noch der Kirche Gottes soll Anlass zum Vorwurf gegeben werden (1 Kor 10,32). Eine Mahnung an die Thessalonicher, durch die Lebensführung die Anerkennung der Umwelt zu suchen, leuchtet zunächst aus defensivem Interesse ein: Dass die Christen im paganen Umfeld immer wieder auf Unverständnis und Ablehnung ihres Glaubens stoßen, ist für das Ende des ersten Jahrhunderts gut bezeugt (1 Petr; Offb; Plinius d.J., Ep. X 96). Ähnliche Urteile wird man auch schon für die Zeit des Paulus annehmen können, so dass das Interesse, mit der Lebensführung Anerkennung zu finden oder zumindest keine weitere Ablehnung zu provozieren, verständlich wäre.15 Aber trifft es zu?16 Neben der Absicht, Schwierigkeiten zu vermeiden, 12 13

14 15 16

Delling, Art. „ἄτακτος κτλ.“, 48–49, hier 49 (Hervorhebung im Original); zum Begriff auch Holtz, Brief 251. Vgl. Holtz, Brief, 179 sowie 251: „Dann sind solche gemeint, die unter dem Druck der neuen Erfahrung, die sie mit der Annahme des christlichen Glaubens gewannen, in eine innere Erregung gerieten, so daß sie die bisherige und sie umgebende Ordnung des Lebens verließen und in aktivistische Maßlosigkeit gerieten, statt der Arbeit nachzugehen, von der sie lebten.“ Ähnlich Hengel, Arbeit, 450; Reinmuth, Thessalonicher, 103–156, hier 141. Kritisch z.B. Russel,Idle; Haufe, Brief, 75–76; zur Diskussion auch Merk, Arbeiten, 369– 375, hier 374. Vgl. Reinmuth, Brief, 141; Haufe, Brief, 76–77. Noch weitergehende, sehr spezifische Annahmen zu einer solchen Defensivsituation macht Callia Rulmu, die in der Gemeinde von Thessalonich einen Zusammenschluss christlicher Handwerker sieht (eine Art Gilde) und 1Thess 4,1–12 in einer material- und kenntnisreichen Darstellung in die Konflikte des römischen Staates mit den Vereinen einzeichnet. In diesem Konflikt erteile Paulus der Gemeinde den Rat, sich still und unauffällig zu verhalten (vgl. Rulmu, Ambition).

Von der eigenen Hände Arbeit leben – paulinische Tradition

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wird manchmal auch eine letztlich missionarische Intention vermutet, die NichtChristen durch ein überzeugendes Leben gewinnen zu wollen.17 Im Hinblick auf den zweiten Gedanken von V. 12 – niemanden nötig zu haben – kann die in der Analyse beobachtete Verbindung der Mahnung zur Arbeit mit der Bruderliebe fruchtbar werden: „Es ist nicht nur ein Gebot der Bruderliebe, dem anderen zu helfen, sondern auch, sich nicht mutwillig selbst zum Objekt der Hilfe zu machen“ – gerade in einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem Mangel und Not zum Alltag vieler Menschen gehören.18 Neben einer defensiven oder vielleicht werbenden Absicht gegenüber der Umwelt, die der erste Teil von V. 12 im Blick hat, ginge dann eine zweite, wesentliche Stoßrichtung der Mahnung zur Arbeit auf das Zusammenleben in der Gemeinde. Ist mit μηδενὸς χρείαν ἔχειν dasselbe gemeint, das Paulus an anderen Stellen – im Hinblick auf seine eigene Person – mit αὐτάρκης εἶναι (genügend haben / genügsam sein; Phil 4,11) bzw. mit αὐτάρκεια (Selbst-Genügsamkeit; 2 Kor 9,8; vgl. 1 Tim 6,6) bezeichnet?19 Die Brücke erscheint schmal und wackelig. Der Reiz liegt darin, dass hier erneut eine Verbindung zwischen der Mahnung des Paulus an die Thessalonicher und seinem eigenen Selbstverständnis als Apostel sichtbar würde. Paulus weiß sich – auch in seinem Mangel und in seinen Entbehrungen – als einer, der alles vermag durch den Herrn, Christus, der ihn mächtig macht (vgl. Phil 4,10–13).20 Geht es letztlich auch bei den Thessalonichern um eine solche Haltung?

1.4

Zwischenüberlegung: Von der Biographie des Paulus zu seinem Arbeitsethos?

Der vorausgehende Abschnitt zeigt, wie Überlegungen zur Sprechsituation der Mahnung zur Arbeit in 1 Thess 4,11 ein Schlüssel des Verständnisses sind. Anstoß dazu, die Situation in den Blick zu nehmen, bietet der Text selbst vor allem mit V. 12. Wir haben oben aber zuerst anders angesetzt und begonnen, die Weisungen zur Arbeit in 1 Thess 4,11 aus dem paulinischen Arbeitsethos als Apostel heraus zu füllen. Das eigene Arbeitsethos des Paulus, das war sichtbar geworden, hat mit seinem Apostolatsverständnis zu tun und insofern zunächst für die anderen Christen und ihr Arbeitsethos keine unmittelbare Relevanz. Grund für das Vorgehen waren philologische und biographische Brücken, die zwischen beiden Themenfeldern bestehen. Es gibt zwei weitere Argumente anzunehmen, das eigene Arbeitsethos des Paulus habe trotz seines spezifischen „Sitzes im Leben“ eine überindividuelle ethische Relevanz. Erstens: Paulus spricht von Mühe etc. nicht nur mit Bezug auf seine eigene Person, sondern erwähnt lobend auch die Last, die seine Mitarbeiter und die Gemeindeleiter tragen (1 Thess 5,12; 1 Kor 16,10.16; Röm 16,6.12), und fordert deshalb vonseiten der Gemeinde Respekt für sie ein (1 17 18 19 20

Vgl. z.B. Holtz, Brief, 180f. (mit Verweis auf 1 Petr 2,12; 1 Kor 10,32; Mt 5,16). Holtz, Brief, 181f. Ähnlich auch Hauck, Stellung, 105f; Haufe, Brief, 77. Vgl. Hauck, Stellung, 109. Zum Verständnis von αὐτάρκεια bei Paulus vgl. Heckel, u.a., Art. „Genüge/Mangel, Abschnitt ἀρκέω“, in: TBLNT I (1997), 723–725, hier 725.

244

Christian Münch

Thess 5,13; 1 Kor 16,11.16). Hier wird noch kein allgemeines Arbeitsethos sichtbar, aber immerhin eines, das nicht nur für die Person des Paulus gilt, sondern auch für wichtige Personen in der Gemeinde und das über den Begriff der Mühe auch offen ist für andere Christen (vgl. 1 Kor 15,58). Zweitens: Paulus äußert wiederholt die Vorstellung, er selbst sei Vorbild für die Adressaten der Briefe (Phil 3,17) und sie sollten ihn nachahmen (1 Kor 4,16; 11,1; Phil 3,17; 4,9; vgl. 1 Thess 1,6). Beides kann den oben beschritten Weg einer (Re-)Konstruktion des paulinischen Arbeitsethos unter Rückgriff auf das eigene Arbeitsethos des Apostels Paulus vielleicht plausibler machen. Die Verbindung zwischen Biographie und Weisung ist aber auf jeden Fall für die Rezeption des paulinischen Arbeitsethos im Neuen Testament fruchtbar geworden. Aus dem historischen Paulus wird eine literarische und erinnerte Gestalt, deren Bild mehr und mehr durch das assoziative Spiel mit den Briefen und anderen Texten bestimmt ist. Verknüpfungen, die historisch-kritische Exegese sorgfältig wägen, prüfen und mit allerlei Vorbehalten versehen muss, kommen in der literarischen Rezeption ungebremster zu Wirkung. Paulus wird zum Typus des eigenen Arbeitsethos, der mit seiner Person und Biographie zur Plausibilität der Mahnungen beiträgt.

2.

Die Rezeption des paulinischen Arbeitsethos in der Paulustradition

2.1

Die Rezeption der Mahnungen zur Arbeit aus dem ersten im zweiten Thessalonicherbrief

In beachtlicher Form begegnet das Phänomen der Rezeption des paulinischen Arbeitsethos im 2. Thessalonicherbrief. Der Brief gilt in der Forschung weithin als deuteropaulinisch, auch wenn das nicht völlig unumstritten ist.21 Die Frage mag hier offen bleiben, zweifellos zeigt der zweite Thessalonicherbrief aber in markanter Weise eine Rezeption des ersten Briefes an diese Gemeinde (durch wen auch immer) – das gilt auch und besonders für die Weisungen zur Arbeit.22

21

22

Zur Forschungslage Schnelle, Einleitung, 393–395 [der gegen eine paulinische Verfasserschaft votiert] und Niebuhr, Paulusbriefsammlung, 195–293, hier 274–276 [der Paulus für den Verfasser hält]. Die Form von Rezeption, die im Folgenden beschrieben wird, leuchtet mir eher als ein literarischer Prozess ein, d.h. als eine Auseinandersetzung mit dem Text des 1 Thess (und anderer Paulusbriefe). Dies spricht dafür, dass nicht Paulus selbst Verfasser des Briefes ist. Die Frage kann aber nicht allein auf Basis der hier behandelten begrenzten Texte entschieden werden, deshalb verzichte ich auf eine begründete Festlegung zur Verfasserfrage. – Zur Analyse von 2 Thess 3,6–13 mit Blick auf den ersten Thessalonicherbrief vgl. Trilling, Thessalonicher, 140–153.

Von der eigenen Hände Arbeit leben – paulinische Tradition

245

In 2 Thess 3,6–13 sind deutliche Bezüge zu 1 Thess 4,1–12 zu beobachten. Sie betreffen zunächst die Tatsache einer Aufforderung an die Adressaten für den eigenen Lebensunterhalt zu arbeiten. Angesichts der Seltenheit solcher Mahnungen ist das beachtlich genug. Die Formulierung der Aufforderung weicht, abgesehen von der Vokabel „arbeiten“ (ἐργάζομαι), von 1 Thess 4,11 zunächst deutlich ab. Es werden später andere Texte zu besprechen sein, die in dieser Hinsicht dem ersten Thessalonicherbrief näher kommen. Dennoch ist sehr wahrscheinlich, dass dem Verfasser der Text von 1 Thess 4,1–12 vor Augen stand. Nur einige Beobachtungen: – „In Ruhe arbeiten“ (2 Thess 3,12: μετὰ ἡσυχίας ἐργαζόμενοι) erinnert deutlich an „in Ruhe leben … und arbeiten“ (1 Thess 4,11: ἡσυχάζειν καὶ … ἐργάζεσθαι). – Die Formulierungen der Einführung (1 Thess 4,1 und 2 Thess 3,6) zeigen mehrere Berührungen im Vokabular (ἀδελφοί, κύριος Ἰησοῦς, παραλαμβάνω, παρ’ ἡμῶν, περιπατέω). – Beide Briefe erinnern daran, dass Paulus die Mahnung zur Arbeit schon während seines persönlichen Aufenthaltes in Thessalonich erhoben hat (1 Thess 4,11; 2 Thess 3,10). Der Bezug auf den ersten Thessalonicherbrief in 2 Thess 3,6–13 beschränkt sich aber nicht auf die genannte Passage, sondern greift weiträumiger aus. Das wichtige Adverb „unordentlich“ (2 Thess 3,6.11: ἀτάκτως; vgl. ἀτακτέω in V. 7) hat in 1 Thess 5,14 einen Anknüpfungspunkt mit dem entsprechenden Adjektiv vom selben Wortstamm. Im gesamten Neuen Testament kommen diese beiden Begriffe nicht noch einmal vor. Neben 1 Thess 5,14 klingt im Text auch 1 Thess 2,9 deutlich an. Wenn Paulus in 2 Thess 3,7–8 seine eigene mühevolle Arbeit für den Lebensunterhalt beschreibt, geschieht dies mit einer ganzen Reihe von Vokabeln und Formulierungen, die aus 1 Thess 2,9 bekannt sind: κόπος, μόχθος, νυκτὸς καὶ ἡμέρας ἐργαζόμενοι, πρὸς τὸ μὴ ἐπιβαρῆσαί τινα ὑμῶν. Der Vers wird in 2 Thess 3,8 fast wörtlich wiederholt. Im zweiten Thessalonicherbrief werden damit alle Aussagen des ersten zum Thema Arbeit zusammengezogen und miteinander verknüpft. Der Brief stellt dabei Zusammenhänge her, die der 1 Thess nicht oder nicht explizit vollzieht. Zum einen wird die Mahnung zur Arbeit an die Adresse der Thessalonicher mit den Selbstaussagen des Paulus über seine eigene Arbeit verbunden. Sie steht im Zentrum des Gedankengangs (2 Thess 3,7–9) und wird von zwei Mahnung zu arbeiten umrahmt. Paulus wird zum Vorbild (V. 9: τύπος) und fordert die Leser nachdrücklich auf, ihn nachzuahmen (V. 7 und 9: μιμεῖσθαι).23 Dass hiermit durchaus Impulse aufgenommen werden, die Paulus selbst – auch im ersten Thessalonicherbrief – setzt, war oben gezeigt worden (vgl. 1 Thess 1,6). Aber explizit gemacht wird der Zusammenhang im ersten Thessalonicherbrief eben noch nicht. Zum anderen verschwindet in 2 Thess 3,6–13 durch das Heranziehen der „Unordentlichen“ aus 1 Thess 5,14 im Vergleich zum älteren Brief die oben diskutierte Informationslücke, was denn eigentlich genau Anlass und Anstoß der Mahnungen zur Arbeit in 1 Thess 4,11–12 gewesen ist. Dabei verschiebt sich der Blick 23

Zur Verknüpfung der Mahnungen mit der Person, die so zum nachzuahmenden Vorbild wird auch Müller, Thessalonicher, 295–296.299–301.

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im zweiten Thessalonicherbrief. Die Mahnung hat stärker die Person und ihr falsches Handeln im Blick, die Frage nach der Außenwirkung des Tuns und nach dem Urteil der Umwelt über die Christen tritt in den Hintergrund: Die Vokabeln und Wendungen φιλοτιμεῖσθαι (‚sich eine Ehre daraus machen‘), τὰ ἴδια („die eigenen Angelegenheiten“), περιπατῆτε εὐσχημόνως πρὸς τοὺς ἔξω („anständig leben vor denen draußen“) werden nicht aufgegriffen. Aus „niemanden nötig haben“ wird „das eigene Brot essen“, um niemandem aus der Gemeinde zur Last zu fallen (1 Thess 3,12 in Verbindung mit V. 8). Die Verschiebung könnte mit 1 Thess 5,14 selbst zu tun haben: Der Vers ist Teil von Mahnungen zum Zusammenleben der Gemeinde und lenkt insofern die Aufmerksamkeit auf den christlichen Binnenraum (vgl. 1 Thess 5,12–22). Die Mahnungen zur Arbeit von den „Unordentlichen“ her zu lesen, heißt eine bestimmte Perspektive zu gewinnen.24 Die beschriebenen Rezeptionsphänomene reichen auch über den ersten Thessalonicherbrief hinaus. Wenn Paulus dort auf seine Arbeit zum Lebensunterhalt zu sprechen kommt (1 Thess 2,1–12), spielt sein Recht auf den Unterhalt durch die Gemeinde nur hintergründig eine Rolle (V.7) und ist nicht betont. Dass der Verzicht auf Unterhalt (und die damit verbundene Arbeit) den Verzicht auf ein ihm zustehendes Privileg ist, steht, wie gesehen, in den Korintherbriefen im Vordergrund. 2 Thess 3,9 benennt nun ebenfalls explizit das Recht auf Unterhalt, das Paulus hatte. „Nicht, weil wir nicht das Recht (ἐξουσία) hätten“ (2 Thess 3,9) klingt wie das Echo der korinthischen Konflikte und insbesondere des empathischen fünffachen „Haben wir nicht das Recht?“ aus 1 Kor 9,4.5.6.12 und 18 (ebenfalls mit ἐξουσία formuliert). Neu akzentuiert ist in 2 Thess 3,9 die Wirkabsicht des Verzichtes auf Unterhalt: Es geht nicht nur – defensiv – darum, Lasten für die Adressaten der Verkündigung zu vermeiden, kein Hindernis zu errichten und die Aufnahme des Evangeliums zu fördern, sondern – offensiv – darum, die Adressaten durch das Medium des eigenen Verhaltens zu belehren. Die Weisungen des zweiten Thessalonicherbriefes zur Arbeit lassen sich gut als Phänomen der Rezeption lesen.25 Deutlich erkennbar wird, wie die Weisungen und Aussagen des Paulus aus dem ersten Brief zum Gut werden, das erinnert, abgewandelt und erläutert wird – oder mit den Worten des zweiten Thessalonicherbriefes selbst: zur „Überlieferung, die sie von uns angenommen haben“ (2 Thess 3,6: κατὰ τὴν παράδοσιν ἣν παρελάβοσαν παρ’ ἡμῶν). Zugleich zeichnet sich ab, dass diese Überlieferung von der Person des Paulus nicht zu trennen ist, insofern also das „von uns“ durchaus Gewicht trägt.

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25

Dabei geht es nicht um die Frage, ob dies als Interpretation von 1 Thess 4,11–12 im historischen Sinne zutreffend ist oder nicht. Auch die Kommentare zum 1 Thess stellen ja teilweise – wohl angeregt durch 2 Thess 3,6–13 – die Verbindung zu 1 Thess 5,14 her und werten sie aus (z.B. Reinmuth, Brief, 141; vgl. auch Holtz, Brief, 251). Wichtig ist mir, dass durch das Zusammenziehen die Rezeption von 1 Thess 4,11–12 schon auf der Ebene der sprachlichen Gestalt des Textes und seiner Pragmatik sichtlich beeinflusst wird. Tradition und Traditionsbildung stark im Blick hat auch Trilling, Brief, 142.144: Er erkennt hier „Überlieferungstheologie im Werden, im Prozeß“ und überlegt sogar: „Ob hier überhaupt das Hauptgewicht des ganzen Abschnitts liegt, in dem Sinn, daß dieses ‚Prinzip‘ am Beispiel der ‚Unordentlichen‘ entwickelt werden sollte?“ (144).

Von der eigenen Hände Arbeit leben – paulinische Tradition

2.2

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Die Rezeption der Mahnungen zur Arbeit im Epheserbrief

Die Mahnung zur Arbeit im Epheserbrief (Eph 4,28b) zeigt auf kleinem Raum charakteristische Begriffe der paulinischen Rede von der Arbeit, so wie sie in der hier von 1 Thess 4,11–12 ausgehenden Untersuchung in den Blick gekommen sind: sich abmühen (κοπιάω), arbeiten (ἐργάζομαι), mit den (eigenen) Händen (ταῖς [ἰδίαις] χερσὶν), jemanden/etwas nötig haben (χρείαν ἔχειν). Es liegt eine höchst konzentrierte Reminiszens an das paulinische Arbeitsethos vor, ohne dass bei der gedrängten Kürze besondere Bezüge auf spezifischen Texte, Situationen oder Zusammenhänge erkennbar wären. Die eigene Arbeit des Paulus spielt im Epheserbrief keine Rolle, grundsätzlich setzt aber auch dieser Brief mit dem Mittel der Pseudepigraphie26 darauf, dass die Person des Paulus für die Gültigkeit der Weisungen einsteht (vgl. z.B. Eph 3,1–13; 4,1). Besondere Akzente setzt der Epheserbrief zunächst, indem die Aufforderung zur Arbeit dem Verbot zu stehlen gegenüber- und nachgestellt wird. Diebe aufzufordern, nicht mehr zu stehlen, sondern lieber zu arbeiten, scheint nun eine recht enge Anwendung des paulinischen Arbeitsethos. So eng, wie sie auf den ersten Blick wirkt, ist sie aber nicht. Zum einen steht im griechischen Text das Partizip „Stehlende“, nicht das Substantiv „Dieb“, so dass nicht ausschließlich an „berufsmäßige“ oder notorische Diebe zu denken ist.27 Zum anderen zeigt ein Blick auf den Kontext – Mahnungen gegen das Lügen, das Zürnen und gegen böse Worte (Eph 4,25–32) –, dass es um den Anderen und die Lebensgemeinschaft mit ihm schädigendes Verhalten geht. Solches soll durch die ethischen Mahnungen abgewendet werden. Zugleich verbindet der Epheserbrief mit der Mahnung, Stehlende sollten arbeiten, nicht allein den Gedanken: „dann brauchen sie für ihren Lebensunterhalt auch nicht zu stehlen“ – dieser wird nicht einmal ausgesprochen, dürfte implizit aber mitschwingen. Der Epheserbrief biegt den Gedanken vielmehr in beachtlicher Weise um: In allen bisher besprochenen Texten und Zusammenhängen ging es um Arbeit für den eigenen Lebensunterhalt, χρείαν ἔχειν bezog sich auf die eigenen notwendigen Lebensbedürfnisse. χρείαν ἔχειν steht nun auch in Eph 4,28, ist hier aber anders gewendet: Man soll sich abmühen, um ein Gut / etwas Gutes zu erarbeiten, von dem man dann denen abgeben kann, die es nötig haben. Das entscheidend Neue an der Rezeption des paulinischen Arbeitsethos im Epheserbrief ist die Ausweitung des Gedankens, Arbeit ermögliche den Lebensunterhalt, über die eigene Person (und Familie) hinaus. Arbeit kann und soll auch dazu dienen, den Unterhalt der Bedürftigen und Notleidenden zu decken.28

26 27 28

Zur Verfasserfrage Schnelle, Einleitung, 379–381; Niebuhr, Paulusbriefsammlung, 252f. Skeptisch gegenüber einer solchen Differenzierung Hengel, Arbeit, 453 mit Anm. 92, der in der Sache aber auch eine exemplarische Aussage annimmt (vgl. 454). Zu den traditionsgeschichtlichen Quellen sowie zu ähnlich gelagerten Aussagen bei den Apostolischen Väter (Herm s 9,24,1–2; Barn 19,10–11; Did 4,5–8) vgl. Hengel, Arbeit, 454–455.

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248

2.3

Die Rezeption der Mahnungen zur Arbeit in der Apostelgeschichte

In seiner großen Abschiedsrede in Milet (Apg 20,17–38) schaut Paulus auf sein Wirken als Apostel in der Provinz Asia zurück und legt Rechenschaft ab (V. 18). Im Schlussteil der Rede fällt sein Blick dabei unter anderem auf die Arbeit, die er zu seinem Unterhalt geleistet hat (V. 34–35). Zur Bilanz, die Lukas seinen Paulus hier ziehen lässt29, gehört sie offenbar mit hinzu; Arbeit ist ihm ein erwähnenswertes Element des Paulusbildes30, auch wenn in der Apostelgeschichte sonst nur Apg 18,1–3 durchschimmert, dass Paulus neben der Evangeliumsverkündigung einem Beruf nachgeht. In das Bild vom arbeitenden Paulus, das Lukas in der Milet-Rede knapp skizziert, fließen zentrale, aus der Brieftradition bekannte Elemente der paulinischen Rede von der Arbeit ein. Zunächst sind dies die schon im Zusammenhang mit dem Epheserbrief genannten Kernelemente: Paulus hat sich mit den Händen (χεῖρες) für seine Bedürfnisse (χρεῖαι), sprich seinen Unterhalt abgemüht (κοπιάω). „Arbeiten“ (ἐργάζομαι) fehlt, „sich abmühen“ markiert – wie gesehen durchaus auf der Linie paulinischer Redeweise – den Kern dessen, was die paulinische Arbeit bedeutet.31 In V. 33 klingt vielleicht der Gedanke der Genügsamkeit (αὐτάρκεια) an: Silber, Geld oder Kleider hat er nicht begehrt. In markanter Weise treten in der Rede die Hände des Paulus ins Zentrum. Sie sind Subjekt der Arbeit, sie „dienten“ Paulus für dessen Unterhalt.32 Die Hände werden endgültig zum Symbol der Arbeit. Auch der lukanische Paulus verbindet die Erinnerung an das eigene Tun mit einer didaktischen Absicht: „Zeigen“ will Paulus den Zuhörern mit seiner Arbeit, dass auch sie sich abmühen müssen. ὑποδείκνυμι ist bei Lukas stets ein Zeigen mit ausgesprochen belehrender Absicht (Lk 3,7; 6,47; 12,5; Apg 9,16). Hier klingt eine Intention an, die der zweite Thessalonicherbrief mit „(Vor-) Bild“ und „nachahmen“ zum Ausdruck gebracht hat. Auch der im Epheserbrief belegte Gedanke, die Arbeit diene nicht nur dem eigenen Unterhalt, sondern solle auch anderen helfen, ist in variierter Form zu finden. Paulus selbst entspricht nämlich diesem Ideal, insofern er nicht nur zu seinem eigenen Unterhalt gearbeitet hat, sondern ihn auch für die, die bei ihm waren, ermöglichte (V. 34). Bei den anderen, die von Paulus lernen sollen, zielt die Arbeit in analoger Weise ebenfalls darauf, dass (auch) andere davon profitieren: die Schwachen. Das abschließend zitierte Herrenwort („Geben ist seliger als Nehmen“33) lässt an Spenden und Ähnliches denken.34 29 30 31 32

33 34

Zur traditionsgeschichtlichen Beurteilung der Rede z.B. Weiser, Apostelgeschichte, 571f. Vgl. Pichler, Arbeit, 16f; Hoppe, Arbeiten, 101. Vgl. auch in den deuteropaulinischen Briefen Kol 1,29; 1 Tim 4,10. Vgl. Lindemann, Milet, 199: „Die die Worte des ‚Paulus‘ begleitende Wendung ὑπηρέτησαν αἱ χεῖρες αὗται suggeriert den Lesern, dass der Redner während der Rede geradezu theatralisch seine Hände vorstreckt.“ Zur Herkunft des angeblichen Herrenwortes Weiser, Apostelgeschichte, 580. Zur Illustration können vielleicht Mahnungen aus der Didache dienen: „5. Sei nicht wie einer, der seine Hände ausstreckt zum Nehmen, zum Geben aber sie zuhält. 6. Wenn du etwas in deinen Händen hast, so gib es als Sühne für deine Sünden. 7. Zweifle nicht, ob du geben sollst, und wenn du gibst, murre nicht; denn du wirst erkennen, wer der herrliche

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Mit Blick auf den zweiten Thessalonicherbrief hatten wir festgehalten, dass die Überlieferung des paulinischen Arbeitsethos sich mit der Erinnerung an seine Person eng zu verbinden beginnt. Schon dort führte dies zur Notwendigkeit zu „erzählen“, der Anteil narrativer Elemente in 2 Thess 3,6–13 ist im Vergleich mit 1 Thess 4,1–11 relativ groß. In der Apostelgeschichte schreitet dieser Prozess der Verbindung von narrativ präsentierter Erinnerung und ethischer Unterweisung weiter voran.

3.

Ein Fazit

Im Rückblick auf die Analyse lässt sich die Rezeption des paulinischen Arbeitsethos im Neuen Testament beschreiben: – Es zeigt sich eine Konzentration des Ethos in einem Bild mit einigen zentralen Elementen. Diese Elemente sind auch sprachlich durch bestimmte Begriffe greifbar. – Zu diesem Bild gehören die Hände. Sie sind das zentrale Symbol der Arbeit, die zu tun ist. Zugleich erhält die in den Augen mancher niedrige Handarbeit durch die Integration als zentrales Symbol im Bild ihre Würde. – Zum Bild gehört das Sich-Abmühen. Arbeit mit den Händen ist anstrengend, aber notwendig. Und die Mühe lohnt sich um ihres Zweckes willen; Arbeit steht in einem bestimmten Dienst. – Auch dieser Zweck gehört zum Bild der Arbeit. Arbeit dient dem Lebensunterhalt, und zwar nicht nur dem eigenen. Auch den Lebensunterhalt anderer soll sie gewährleisten: derjenigen, die zu mir gehören, aber auch der Bedürftigen und Notleidenden. Arbeit ist Voraussetzung für praktische Barmherzigkeit und Liebe. – Und schließlich gehört zum Bild seine Verbindung mit Paulus, der kraft des Lebensbildes, das er selbst in seinen Briefen zeichnet, zum Vorbild für die Arbeit und das Arbeitsethos der Christen wird.35 Was bestimmt frühchristliches Ethos, in diesem Fall: Arbeitsethos? Welche Kräfte regen es an und lenken seine Entwicklung? Man kann auf die Bedeutung der jüdischen Wurzeln für sein Verständnis verweisen.36 Weder das eigene Arbeitsethos des Paulus noch seine Rezeption ließe sich angemessen verstehen, ohne die jüdischen Wurzeln in den Blick zu nehmen. Man kann das Arbeitsethos aus

35

36

Erstatter deines Lohnes ist. 8. Wende dich nicht ab von dem Bedürftigen, teile vielmehr alles mit deinem Bruder und nenne nichts dein eigen; denn wenn ihr in die unvergänglichen Güter euch teilet, um wieviel mehr in die vergänglichen.“ (Did 4,5–8; Übersetzung Franz Zeller [BKV]). Nach der Rezeption des arbeitenden Paulus als Modell fragt auch Redalié, Travailler. Das Interesse gilt aber nicht speziell dem Arbeitsethos, sondern den unterschiedlichen Weisen und Akzenten der Rezeption. Jeweils mit starkem Akzent auf der rabbinischen Überlieferung Meyer, Arbeitsethos; Ebach, Art. „Arbeit II. Biblisch“.

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der Begegnung der höchst unterschiedlichen Wertungen von Arbeit in der jüdischen und der hellenistischen Welt heraus bestimmen und beschreiben37 oder in die antike Sozialgeschichte einzeichnen38. Beides, das ist sichtbar geworden, prägt die Entwicklung des paulinischen Ethos, das er im Gespräch mit den Thessalonichern und Korinther entwickelt. Doch nicht nur Faktoren der Umwelt sind ins Auge zu fassen, wenn es um prägende und lenkende Kräfte geht, sondern auch die innerhalb des frühen Christentums bestehende Spannung in der Wertung der Arbeit zwischen der jesuanischen und der paulinischen Tradition, die hier ganz außen vor geblieben ist.39 Dieser Artikel ist einen anderen Weg gegangen und hat das Arbeitsethos als Produkt einer literarischen und theologischen Rezeption paulinischer Texte zu beschreiben versucht. Die Sicht soll andere Beschreibungen nicht widerlegen oder ersetzen, im Gegenteil ist sie auf deren Ergänzung angewiesen. Es geht um die Ausbildung maßgeblicher Traditionen und um die Frage, inwiefern den Traditionen selbst innewohnende Elemente deren Überlieferungsund Rezeptionsprozess bestimmen.40 Im Falle des Arbeitsethos in der paulinischen Tradition ist dieser Prozess – angeregt durch die prägende Verknüpfung der Mahnung mit Biographie und Person – den Weg hin zu einem Bild gegangen.

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37 38 39 40

So Hengel, Arbeit; auch Hauck, Stellung. Vgl. Schottroff, „Arbeit (II) Im NT“, 153–154, auch Russell, Idle, 110–113; Rulmu, Ambition. Theißen, Legitimation; Pichler, Arbeit. Eine Variante der Fragestellung wird im Hinblick auf die Gleichnisse diskutiert in Münch, Urgestein, 25–38.

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Ora et labora in der Offenbarung des Johannes – Ein Kapitel neutestamentlicher Sozialethik Beate Kowalski

Das Nachdenken über Last und Würde der Arbeit ist gesellschaftlich und politisch aktuell. Die Forderungen nach Mindestlohn und geeigneten Konzepten, um schwer vermittelbare Langzeitarbeitslose wieder in Arbeitsprozesse einzugliedern, das Problem von Minijobs, Nebenjobs und Altersarmut, Frauen in Führungspositionen und gerechte Löhne, sind nur einige Themenfelder, die auf menschliche Lösungen harren. Arbeit ist lebensnotwendig, nicht nur aufgrund des damit verbundenen Lohns, sondern auch um persönliche Wertschätzung zu erfahren und Teil der Gesellschaft sein zu können. Erste Einblicke in die biblische Welt lassen erkennen, dass Arbeit auch in diesem geographisch und kulturell anderen Umfeld und einer anderen Zeit nicht ohne Probleme war. Im Unterschied zur gegenwärtigen Gesellschaft waren jedoch Theologen in einem größeren Maße mit der ethischen Reflexion über Arbeit beschäftigt als dies heute der Fall ist. Die Frage liegt auf der Hand, ob die theologischen Überlegungen der biblischen Verfasser für heutige Fragestellungen relevant sind. Dazu ist zunächst ein genauer Blick auf die Textbasis notwendig, bevor aus dieser aktualisierende Rückschlüsse gezogen werden. Exemplarisch geschieht dies im Folgenden an der Offenbarung des Johannes, die vor allem die Beziehung zwischen Christentum und Gesellschaft in den Blick nimmt, die Spannungen und Probleme thematisiert und sozialethische Antworten bereithält. Dies scheint auf den ersten Blick ein großes Wagnis zu sein. Die letzte Schrift der Bibel wird eher für christologische oder ekklesiologische Themen konsultiert, nicht aber für ein Kapitel der Sozialethik. Ganz gleich jedoch, ob man die Gattung der Offb als Brief, Apokalypse oder Prophetie einordnet, ethische Fragestellungen sind in allen drei literarischen Ausdrucksformen zu finden und mit ihnen eng verbunden.1 Insbesondere prophetische Heils- und Unheilsworte, Mahnworte, Weherufe, Heilszusprüche, Fremdwörtersprüche, Totenklage, Klageruf und Leichenlied können als prophetische Gattungen aufgeführt werden. Auch die Makarismen enthalten implizit ethische Wertvorstellungen. Der Begriff der Arbeit kommt in der Offb mit seinen vielfältigen Dimensionen vor. Sowohl Berufe und Berufsgruppen, als auch Arbeitsprozesse und ihre Ergebnisse werden erwähnt und gewertet. Dabei ist ein sehr breiter Begriff von Arbeit zu erkennen, der sowohl bezahlte als auch unbezahlte Arbeit, Erwerbsarbeit und christliches Handeln umfasst. Gewertet wird Arbeit in den unterschiedlichen Wertesystemen des Römischen Reiches und des entstehenden Christentums in Kleinasien, die einander diametral gegenüberstehen. Ihnen ist nur die Radikalität ihres Denkens gemeinsam. 1

Vgl. Kowalski, Prophetie, 253–293.

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Die folgenden Ausführungen werden in das Thema einführen und die Überlegungen des Propheten Johannes zum Thema Arbeit zur Diskussion stellen. Grundsätzliche Überlegungen zum Thema Arbeit in der ntl. Sozialgeschichte sowie Reflexionen über die angewandte Methode werden vorab vorgestellt. Im Fazit werden sowohl Vorzüge als auch Grenzen des ethischen Konzepts des Johannes zusammengeführt werden.

1.

Einleitung: Thema, Forschungsstand, Methode

1.1

Thema Arbeit

Sowohl im AT als auch im NT ist Arbeit lebensnotwendig und Teil des göttlichen Schöpfungsauftrags. Grundsätzlich wird sie – im Unterschied zur griechischen Philosophie (Platon, Aristoteles), die Arbeit als Sklavendienst ansieht – positiv verstanden (vgl. Sir 40,18) und nicht als Strafe Gottes.2 Der Wert der Arbeit wird mehrfach im NT betont (Lk 10,7; 1 Tim 5,18). Die Last des Arbeitens wird mit der Sündenfallerzählung in Gen 3 betont. Aber auch die Ruhe von der Arbeit ist klar geregelt durch Sabbat und Festtage.3 Kritisiert wird die Anhäufung von materiellen Gütern bzw. Arbeitsprodukten (Mt 6,19.20; Lk 12,13–21).4 Aufgrund der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Struktur ist Arbeit vor allem Handarbeit (Landwirtschaft, Handwerk) und keine technisch-industrielle Arbeit – wenn auch einfache Maschinen zur Erleichterung der Arbeit genutzt wurden.5 Dazu kommen der Groß- und Finanzhandel, Berufe mit intellektuellen Fähigkeiten sowie religiös-kultische Berufe.6 Eine Entfremdung von der Arbeit ist dem biblischen Menschen eher fremd, da die Arbeitsvollzüge mit der Existenzsicherung und dem Überleben (vgl. v.a. Spr 16,26) eng zusammenhängen. Arbeitsfelder in der Antike waren v.a. die Land- und Viehwirtschaft, aber auch die Fischerei.7 Handwerk und Handel waren hoch spezialisiert und somit durch zahlreiche Berufe vertreten; Handwerker betrieben als Händler zugleich den Vertrieb ihrer Waren.8 In ntl. Zeit dominiert eine agrarische Welt mit Bauern,

2 3

4 5 6

7 8

Vgl. auch Reiterer, Art. „Arbeit“, 917–918, 917. Vgl. Reiterer, Art. „Arbeit“, 43f; Herz, Arbeitswelt, 186–189, 186f (hier finden sich auch Belege aus der antiken Literatur). Zu den ntl. Stellen, die Herz zum Thema Arbeitswelt auflistet, findet sich jedoch nicht die Offb. Vgl. auch Reiterer, Art. „Arbeit“, 917–918, 917. Vgl. Herz, Arbeitswelt, 187f, der auf technische Einrichtungen zur Bewässerung als Ausnahme hinweist. Vgl. Herz, Arbeitswelt, 187. Als nicht handwerkliche Berufe werden im AT genannt: Schreiber, Verwalter, Torhüter (2 Chr 34,13), Sänger, Tempeldiener, liturgische Berufe (Esra 7,24). Vgl. Herz, Erwerbsmöglichkeiten, 190–198, 190–194. Vgl. Herz, Erwerbsmöglichkeiten, 194–197.

Ora et labora – in der Johannesoffenbarung

255

Hirten und Fischern9. Anders sieht es in der Apg und der Offb aus, in der Einblicke in Kulturen des Mittelmeerraums außerhalb Palästinas gegeben werden. Die Inkulturation der christlichen Botschaft geschieht in veränderte Gesellschaftsund Arbeitsstrukturen, in denen auch gehobene Gesellschaftsschichten und ihre Berufe vertreten waren. Permanente Arbeitsverträge, die einem Arbeiter eine Existenzsicherung ermöglichten, waren unüblich. Vielmehr verbreitet waren „Werkverträge“ für konkrete Arbeiten; im schlechtesten Fall wurden Tagelöhner immer nur für einen Tag angeheuert. Das Recht auf unverzüglich zu zahlenden Lohn zur Grundsicherung war zentral10, wobei dieses jedoch nicht schriftlich fixiert wurde; die Gewissenhaftigkeit des Lohngebers wurde bei mündlichen Absprachen vorausgesetzt. Das Vorenthalten von Lohn und der daraus zu Unrecht erworbene Reichtum der Arbeitgeber werden verurteilt. Einige Berufsgruppen, die eng mit dem Kult verbunden waren, genossen das Privileg der Steuer- und Zollfreiheit. Auch die Missionsarbeit wird als Arbeit verstanden. Selbst das alltägliche Leben eines jeden Christen wird mit dem Begriff ἔργον charakterisiert. Arbeit erhält damit im jüdisch-christlichen Raum auch Zeugnischarakter. Nicht nur die ethische Gesinnung des Arbeitgebers und die Sorgfalt des Arbeitnehmers, sondern auch die Art der Arbeit lassen Rückschlüsse auf die theologischen Vorstellungen der Menschen zu.

1.2

Forschungsstand

Ethische Aspekte der Johannesoffenbarung werden nur selten in der Forschung behandelt, so dass der Forschungsstand knapp skizziert werden kann. In den verschiedenen Publikationen zur ntl. Ethik wird die Offb keineswegs ausgeklammert. W. SCHRAGE widmet der Offb ein eigenes Kapitel, in dem er die Ethik als eschatologische Mahnung versteht. Schrage analysiert insbesondere die Sendschreiben und den Konflikt der Christen mit dem Staat.11 In den achtziger Jahren des 20. Jhs. sind Einzelstudien zur Offb entstanden, die je verschiedene (gesellschaftspolitische) Aspekte der Ethik in den Blick nehmen; sozialethische Fragen stehen dabei jedoch nicht im Vordergrund. A.Y. COLLINS thematisiert in ihren Publikationen zur Offb die Verfolgungssituation der Christen, die zu Verunglimpfungen und Rachevorstellungen führt.12 A. FELBER untersucht am Beispiel der Wirkungsgeschichte von Offb 21–22 in der Patristik den Zusammenhang von Ethik, Ekklesiologie und Geschichtsdeutung.13

9 10 11 12 13

Vgl. Herz, Erwerbsmöglichkeiten, 197f. Der Begriff μισθός gehört zum Wortfeld „possess, transfer, exchange“, genauer zur Unterkategorie „hire, rent out“. Gemeint ist der zu zahlende Lohn für verrichtete Arbeit. Vgl. Schrage, Ethik, 330–347. Vgl. die weiteren ethischen Handbücher: Kertelge, Ethik; Lohse, Ethik; Schürmann, Ethik; Schulz, Ethik; Wendland, Ethik. Vgl. Collins, Persecution, 729–749; Collins, Vilification, 308–320. Vgl. Felber, Jerusalem, 103–111.

Beate Kowalski

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Ein von H. RÄISANEN 1995 publizierter Aufsatz interessiert sich für die verschiedenen christlichen Antworten auf die Gesellschaft Kleinasiens. Er zeigt die religiöse und theologische Diversität im frühen Christentum auf. Die Monographie von J. KERNER ist die ausführlichste Studie zur Ethik der Offb.14 Sie nimmt einen Vergleich zwischen der Ethik des 4. Esrabuches und der Offb vor. Zu den untersuchten ethischen Motiven gehören Begriffe, die mit der Verfolgungssituation der Christen zusammenhängen, Motive aus dem Dekalog, dem Bereich des Sozialen und Politischen. Zudem untersucht er komplexe theologische Aspekte wie Sünde, Sündenvergebung und Umkehr sowie die Bedeutung der Werke. Es ist die einzige Publikation, auf die für die Sozialethik und/oder der Frage nach dem Wert der Arbeit in der Offb zurückgegriffen werden kann. Den forschungsgeschichtlichen letzten Beitrag zur Ethik der Offb hat K. SCHOLTISSEK, der sich dem Aspekt der partizipatorischen Ethik in der Offb widmet.15

1.3

Methode

Eine Notwendigkeit exegetischen Fragens ist die Klärung der historischen und theologischen Verortung einer biblischen Schrift. Eine kurze Skizzierung des Standorts der Offb wird daher der Suche nach ethischen Bewertungen des Themenfelds Arbeit vorangestellt. Da in der Offb keine Systematik zum Thema Arbeit enthalten ist, empfiehlt sich eine semantische Analyse der beiden großen Themenfelder Ethik und Arbeit. Dabei können nicht alle Teilaspekte ausgelotet, sehr wohl aber eine genauere Untersuchung des Begriffsfelds „Arbeit“ vorgenommen werden. Begriffe aus dem semantischen Feld der Arbeit und des Handelns werden sowohl für die Realitäten im Römischen Reich als auch metaphorisch für die Soteriologie verwendet. Diese „polemische Kontrasthermeneutik“ stellt in aller Deutlichkeit ethisch gewünschte bzw. verwerfliche Verhaltensweisen vor Augen16“. Diese dualistische Denkweise des Johannes, aus der die Kontrastethik resultiert, gilt es kritisch mit Blick auf ihre Konsequenzen für die Christen in der damaligen (und heutigen) Gesellschaft zu bewerten. Folgende Fragen können mit Hilfe der semantischen Analyse geklärt werden: Welche Arbeitsfelder bzw. Berufe werden in der Offb genannt? Wie wird die Arbeit dieser Berufsgruppen bewertet?

14 15 16

Vgl. Kerner, Johannes-Apokalypse. Vgl. Scholtissek, Ethik, 172–207. Zitat fast wörtlich aus Scholtissek, Mitteilhaber, 178f.

Ora et labora – in der Johannesoffenbarung

2.

257

Historische und theologische Verortung der Offb

Die Offb gehört zu den wenigen orthonymen Schriften des NT. Ihr Autor bezeichnet sich als Johannes, was ein untypisches Merkmal für apk Literatur ist. Er charakterisiert seine Schrift (1,3; 22,7.10.18.19), seine Adressaten (10,7; 11,18; 16,6; 18,20.24), seine Tätigkeit (10,11; 19,10) und seine Brüder (22,90) als prophetisch und wird im Urchristentum ein typisches Leben als Wanderprophet geführt haben. Selbstbezeichnungen sind δοῦλος (1,1), ἀδελφός und συγκοινωνός (1,9), die für Gemeindemitglieder üblich waren und nicht auf eine Leitungsfunktion hinweisen. Sein Aufenthaltsort ist die Insel Patmos, von dem die meisten Exegeten vermuten, dass es sich um einen Verbannungsort handelt.17 Aufgrund des Selbstverständnisses des Verfassers und weiterer Merkmale (Bezugnahmen zu atl. Propheten, Verwendung gattungstypischer Formen und Sprache) ist es möglich, die Offb als prophetische Schrift18 zu bezeichnen, die in Form eines Rundbriefes19 verfasst wurde. Die Offb des Johannes wird zumeist in die Zeit unter Kaiser Domitian eingeordnet.20 Die Adressaten dieser kanongeschichtlich umstrittenen Schrift leben in der römischen Provinz Asia Minor; sieben Städte, die auf der Route eines antiken Verkehrswegs liegen, werden in den Sendschreiben benannt. Ihnen ist gemeinsam, dass sie Hochburgen des römischen Kaiserkults21 und heidnischer Religionen waren. Zudem handelt es sich um das ehemals paulinische Missionsgebiet. Der geforderte Kaiserkult, der auch in den verschiedenen Berufsgilden praktiziert wird und politisch-religiöse und wirtschaftliche Interessen miteinander mischt, ist die zentrale Herausforderung, die Johannes sieht. Er sieht die Problematik um den Verzehr von Götzenopferfleisch anders als Paulus; Klarheit und Radikalität in der Haltung fordert er von seinen Adressaten. Unter den Christen haben sich Gruppen herausgebildet, die eine Kompromisshaltung vertreten. Diesen (Apostel 2,2; Nikolaiten 2,6; Juden 2,9; 3,9; Bileamiten 2,14; Isebel 2,20) spricht Johannes ihr Selbstverständnis, ihre Identität und ihre Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde ab; während er die Gemeinden direkt anredet, spricht er

17

18 19 20

21

Schreiber, Offenbarung, 568 argumentiert gegen den Verbannungsort, da Johannes nicht unter einem Pseudonym schreibt und damit sein Leben riskiert hätte; zudem seien Verbannungen von Christen in der Zeit Domitians nicht belegt. Vielmehr nimmt Schreiber einen Rückzug an und argumentiert mit Offb 18,4. Dagegen wäre jedoch festzuhalten, dass Johannes sich als Zeuge/Märtyrer versteht (1,2.9; 19,10); dass diese Existenzweise durchaus tödlich enden kann, weiß er offensichtlich (2,13; 6,9; 11,3–8; 17,6; 20,4). Das blutige Martyrium ist Partizipation an der Existenz Christi in der Offb (1,5; 3,14; 11,8). Vgl. dazu Kowalski, Prophetie, 253–293. Vgl. Karrer, Johannesoffenbarung. Gradl, Buch, 399 und passim nimmt aufgrund des medialen Selbstverständnisses der Offb als Gattung ein Buch an. Eine Spätdatierung vertreten dagegen neuerdings Aune, Revelation, I–LVIII und Taeger, Johannesapokalypse, 21f, die Trajans Regierungszeit annahmen, Witulski, Johannesoffenbarung datiert in die Zeit Hadrians. Erkenntnisse der modernen Geschichtswissenschaft haben zu einem neuen Bild von Kaiser Domitian geführt. Eine flächendeckende Christenverfolgung wird für Kleinasien nicht mehr angenommen; vgl. dazu Klauck, Sendschreiben, 153–182.

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über diese in diffamierender Weise aus einer Außenperspektive. Diese Charakterisierungen lassen Topoi von Feindbildern erkennen. Für die Sozialethik ist diese Problematik zentral: Die von Johannes stigmatisierten und diffamierten Gruppierungen haben Teil an den Arbeitsprozessen des Imperium Romanum, während die bekennenden Christen von ihnen ausgeschlossen sind. Er fordert von ihnen, die Konsequenzen des Ausschlusses mit Geduld auszuhalten und Widerstand zu leisten. Der Diffamierung der Feinde korrespondiert die Forderung der radikalen Abgrenzung.

3.

Semantische Felder „Ethik“ und „Arbeit“

Nachfolgend werden Begriffe, die zum Themenfeld der Ethik und der Arbeit gehören, in ihrem jeweiligen Kontext untersucht. Ziel ist zum einen, die Vielfalt ethischer Fragestellungen aufzuzeigen; zum anderen, den Themenkomplex Arbeit näher zu untersuchen.

3.1

Ethik

Ethische Begriffsfelder werden vielfältig in der Offb gebraucht. Es lassen sich christliche Grundhaltungen (πίστις: 2,13.19; 13,10; 14,12; ἀγάπη; ἀγαπάω: 2,4.19; 12,11:], Gottesfurcht (φοβήθητε τὸν θεόν: 4,7; 19,5), die später so genannten Kardinaltugenden (Klugheit [σοφία, νοῦς], Gerechtigkeit [δικαιοσύνη], Tapferkeit [Gegenbegriff δειλός in Offb 21,8] und Maßhalten), die klassischen Leidenschaften (Begierde [ἐπιθυμία: 18,14]22, Leidenschaft [θυμός: 12,12; 14,8.10.19; 15,1.7; 16,1.19; 18,3; 19,15])23, die insbesondere von den Wüstenvätern des frühen Christentums weiter reflektiert werden, das Themenfeld der ἁμαρτία (1,5; 18,4; ἀδίκημα: 18,5 – ἀδικέω: 2,11; 6,6; 7,2.3; 9,4.10.19; 11,5[2]; 18,5; 22,11[2]; πλανάω: 2,20; 12,9; 13,14; 18,23; 19,20; 20,3.8.10) und μετανοέω (2,5.16.21.22; 3,3.19; 9,20.21; 16,9.11) ebenso ausmachen, wie Normen und Maßstäbe des christlichen Handelns (Werke der Barmherzigkeit).24 ὑπομονή (1,9; 2,2f.19; 3,1025; 13,10; 14,12), Treue zum λόγος τοῦ θεοῦ und zur μαρτυρία Ἰησοῦ, zum Halten (τηρέω) der Gebote Gottes (ἐντολή: 12,17; 22 23

24 25

Nach Louw/ Nida, A Greek English Lexicon, gehört die Begierde zu den „attitudes and emotions“ (No. 25). Evagrius Ponticus zählt dazu die folgenden 8 Laster: Gaumenlust (στρῆνος: Offb 18,3; στρηνιάω: 18,7.9, Unkeuschheit (πορνεύω, πορνεία), Habsucht (πλούσιος: Offb 2,9; 3,17; 6,15; 13,16; πλοῦτος: Offb 5,12; 18,17), Traurigkeit (κλαίω, κόπτω, πενθέω – besonders in Offb 18), Zorn (θυμός: Offb 12,12 [Teufel]; 14,8; 18,3 [Babylon]), Akedia, Ruhmsucht (Selbstverherrlichung: Offb 18,7]; (Überheblichkeit und falsche Selbsteinschätzung [Offb 18,7]; Pracht; Glanz; Schätze, Stolz. Nach Louw/Nida gehören die Begriffe στρῆνος, στρηνιάω, θυμός, πορνεία, ἁμαρτία, ἀδίκημα, ἀδικέω zum Wortfeld der Moral und Ethik (No. 88). Geduld wird als Gebot Christi klassifiziert (λόγος).

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14,12; λόγος: 3,8.10; 22,7.926), zum Überwinden (νικάω) und zum Beten (προσκυνέω: 3,9; 4,10; 5,14; 7,11; 9,20; 11,1.16; 13,4.8.12.15; 14,7.9.11; 15,4; 16,2; 19,4.10.20; 20,4; 22,8.9; αἰνέω: 19,5) sind die ethischen Aufforderungen des Johannes. Es geht um die ausschließlich Anbetung Gottes und die radikale Abkehr von allen Götzen. Johannes argumentiert dabei anders als Paulus nicht mit dem Monotheismus, sondern postuliert eine Monolatrie. Das damit verbundene Gottesverständnis, das die Existenz von Göttern (2,14.20; 9,20; 21,8; 22,15) und Dämonen (9,20; 16,14; 18,2) nicht grundsätzlich ausschließt, hat die radikal ethischen Forderungen zur Folge. Die Ethik des Johannes orientiert sich am atl. Gesetz und den zehn Geboten, ohne jedoch den klassischen Begriff des νόμος zu erwähnen. Die ethischen Heilsimperative beziehen sich vor allem auf die richtige Haltung Gott bzw. Jesus gegenüber, die sich in der Praxis der Anbetung zeigt. Programmatisch an die Adressaten sind die Aufforderungen in 14,7; 19,5 und 19,10; 22,9 gerichtet. Als Vorbilder der rechten Anbetung fungieren der himmlische Hofstaat und die Märtyrer; das eschatologische Ziel ist die Anbetung Gottes durch alle Völker, das das atl. Motiv der Völkerwallfahrt aufnimmt. Neben diesen Substantiven, die dem semantischen Feld der Moral und Ethik zugehören, ist die ethische Dimension der Offb auch an den zahlreichen Imperativen zu erkennen, die eine programmatische Funktion haben, insofern sie direkt an die Lesenden/Hörenden des prophetischen Rundschreibens des Johannes gerichtet sind.27 Der Imperativ 2. Person Singular wird an zahlreichen Stellen der Offb gebraucht: (1,11.19; 2,1.8.12.18; 3,1.7.14; 14,13; 19,9; 21,5: γράψον); 1,11: πέμψον; 1,17; 2,10: μὴ/μηδέν φοβοῦ; 2,5.16; 3,3.19: μνημόνευε, μετανόησον; 2,5: ποίησον; 2,7.11.17.29; 3,6.13.22; 13,9; ἀκουσάτω; 3,2: γίνου, στήρισον; 3,3: μνημόνευε, τήρει; 3,11: κράτει; 3,19: ζήλευε; 4,1; 11,12: ἀνάβα, ἀνάβατε; 5,5: μὴ κλαῖε; 6,1.3.5.7; 22,17.20: ἔρχου; 6,16: πέσετε, κρύψατε; 9,14: λῦσον; 10,4: σφράγισον; 10,8: ὕπαγε λάβε; 10,9: λάβε, κατάφαγε; 11,1; ἔγειρε, μέτρησον; 11,2: ἔκβαλε; 18,20: εὐφραίνου; 13,18: (ψηφισάτω); 14,15: πέμψον, θέρισον; 14,18: πέμψον, τρύγησον; 16,1: ὑπάγετε, ἐκχέετε; 19,10; 22,9: ὅρα μή; 19,10; 22,9: προσκύνησον; 19,17: συνάχθητε; 22,11: ἀδικησάτω, ῥυπανθήτω, ποιησάτω, ἁγιασθήτω: 22,17: εἰπάτω, ἐρχέσθω, λαβέτω. Von besonderem Interesse sind die Imperative in der 2. Person Plural, die an die Adressaten der Offb gerichtet sind: 2,25: κρατήσατε; 12,12: εὐφραίνεσθε; 14,7: φοβήθητε, δότε, προσκυνήσατε; 18,4: ἐξέλθατε; 18,6: ἀπόδοτε, διπλώσατε, κεράσατε; 18,7: δότε; 19,5: αἰνεῖτε. Pragmatische Funktion haben 14,7 und 18,6, wo drei Imperative im Plural an die Adressaten gerichtet sind. Die konkrete Gottesfurcht und Anbetung werden von allen Bewohnern der Erde gefordert, die Vergeltung Babylons richtet sich an das Volk Gottes. Damit fordert Johannes eine radikale Ethik der gesellschaftlichen Abkehr und Hinwendung zu Gott; die daraus resultierende Isolation vom gesellschaftlichen Umfeld und die damit verbundenen wirtschaftlichen Folgen werden in eine neue Wertehierarchie eingeordnet, in der 26 27

Die prophetischen Worte der Offb werden in 22,7.9 mit dem Ausdruck ὁ τηρῶν τοὺς λόγους mit den Geboten Christi gleichgesetzt. Zur aktuellen Diskussion um die Gattung der Offb vgl. Gradl, Buch, 399.

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260

Armut als Reichtum angesehen wird (2,9; 3,17). Damit werden wirtschaftliche Entwicklungen und Ergebnisse implizit nur dann als ethisch gut gewertet, wenn sie eine klare Gegenposition zum römischen Kaiserkult einnehmen. Dies gelingt durch eine Umkehrung der Wertehierarchie des römischen Reiches. Arbeit erhält durch diese radikal ethische Forderung einen sehr hohen Stellenwert, der kaum mehr erreicht werden kann, ohne gesellschaftliche Anerkennung und wirtschaftlichen Erfolg einbüßen zu müssen. Auch Imperative in der 3. Person Singular sind an die Adressaten gerichtet (2,7.11.17; 2,29; 3,6.13.22; 13,9: ἀκουσάτω; 13,18: ψηφισάτω; 22,11: ἀδικησάτω; ῥυπανθήτω; ποιησάτω; ἁγιασθήτω; 22,17: εἰπάτω; ἐρχέσθω; λαβέτω). Die wichtigste Grundhaltung für ethisches Handeln wird mit dem Imperativ ἀκουσάτω genannt. Im Hören auf den Geist der Gemeinden sagt, soll das Gewissen des einzelnen gebildet werden. Angeredet und zugleich beschrieben werden die Adressaten mit Partizipien. Mit dieser Form der Anrede werden implizit ethische Ansprüche formuliert und transportiert. Die Christen in den Gemeinden Kleinasiens sollen Lesende, Hörende und Bewahrende des Geschriebenen sein. Damit wird von ihnen Offenheit und Bereitschaft für einen ethischen Lernprozess gefordert, bei dem das Überwinden mit eschatologischen Verheißungen belohnt wird. Das Traditionsgut, das bewahrt werden soll, sind die Werke Jesu, die Gebote Gottes und der Glaube an Jesus, die Bewahrung der Taufkleider und die prophetischen Worte des Buches der Offb. Auch die Makarismen beinhalten implizit ethische Haltungen, die durch das vorangestellte μακάριος als ethisch gut bewertet werden. Zu den Glücklichen werden jene Menschen gerechnet, die die Schrift des Johannes rezipieren. Das Bewahren von Worten und seiner „weißen Kleider“ ist ein weiteres Kriterium ethisch gelungenen Lebens. Aber auch die im Glauben Sterbenden, die Eingeladenen zum Mahl, die Teilhabenden an der Auferstehung und die Waschenden der Kleider gehören zu dieser Gruppe.

3.2

Arbeit

Das semantische Feld „Arbeit“ ist in vielfältiger Weise in der Offb vertreten. Insbesondere das Substantiv ἔργον kommt häufiger vor als in anderen Schriften des NT;28 damit folgt die Offb in der Statistik dem Joh. Beim Gebrauch des Verbs ἐργάζομαι steht die Offb mit nur einem Gebrauch allerdings auf dem letzten Platz der Statistik. Ein Schwerpunkt des Vorkommens von ἔργον lässt sich in den Sendschreiben erkennen. Der ἐργάτης wird in der Offb nicht erwähnt. Das Substantiv gehört nach Louw/Nida zum Wortfeld „perform“, konkret zur Unterkategorie „do, perform“, aber auch zur Unterkategorie „work, toil“. Es kann mit „Arbeit“ und „Aufgabe“ übersetzt werden; auch die Missionsaufgabe kann 28

Heiligenthal, Art. ἔργον, in: EWNT2 II (1981), Sp. 123–127, 124 erkennt eine gleichmäßige Verteilung des Begriffs ἔργον in den ntl. Schriften. Dem überdurchschnittlich hohen Vorkommen in der Offb widmet er daher keine besondere Beachtung; vielmehr haben Aussagen zur Bedeutung von ἔργον in der Offb Verweischarakter.

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gemeint sein. Auch das Ergebnis einer Handlung kann mit ἔργον bezeichnet werden.29 Ein eigenes semantisches Feld wird durch den Ausdruck κατὰ τὰ ἔργα eröffnet, das besonders in der Offb eine große Rolle spielt und mit dem das Weltgericht bezeichnet wird.30 In den Sendschreiben der Offb steht ἔργον in Zusammenhang mit den Substantiven κόπος, ὑπομονή und ὅτι οὐ δύνῃ βαστάσαι κακούς (2,2), ἀγάπη und πρῶτος (2,5), ἀγάπη, πίστις, διακονία und ὑπομονή (2,19), δίδωμι (2,23), den Possessivpronomen μου (2,26) und σου (3,2.8) und Adjektiven ψυχρός, ζεστός (3,15). Es wird unterschieden zwischen ersten (πρῶτος) und letzten (ἔσχατος) Werken (2,19), die mit der ersten Liebe verglichen werden (2,5). Im apk Hauptteil wird das Substantiv durch weitere Begriffe definiert: In 9,20 steht es in Kontext mit der Erstellung von Götzenbildern, in 14,13 wird erneut das Substantiv κόπος gebraucht. Die Taten Gottes werden mit dem Possessivpronomen σου in 15,3, die Umkehr (μετανοέω) von bestimmten Werken wird in 2,5.22; 9,20; 16,11 thematisiert. Vergeltung gemäß der Werke wird mehrfach explizit angesprochen (2,23: δίδωμι; 18,6; 22,12: ἀποδίδωμι; 20,12f: κρίνω; 22,12: μισθός31), aber auch implizit ist von Sanktionen bzw. Lohn als Folge bestimmter Werke die Rede. Das Substantiv ἔργον steht im Kontext des dualistischen Denkens des Johannes. Dementsprechend ist es je unterschiedlich konnotiert. Auf der einen Seite werden die Werke der Gemeinde und der Verstorbenen32 hervorgehoben, die sehr differenziert beurteilt werden. Positive Aspekte werden ebenso genannt wie negative, die mit der Aufforderung zur Umkehr und einer Lohnverheißung bzw. Strafankündigung verbunden werden. Die Arbeitsprozesse der Gemeinde und ihre Ergebnisse werden aufgrund ihrer ambivalenten Kompromisshaltung in den Sendschreiben kritisiert. Indem Johannes die Ambivalenz anspricht, gibt er implizit seine Vorstellung vom Wert der Arbeit zu erkennen: Arbeitsprozesse und ihre Ergebnisse sind aus seiner Perspektive dann ethisch gut, wenn sie eine klare Positionierung hinsichtlich des christlichen Glaubens beinhalten und eine radikale Distanzierung zu heidnischen Gottheiten vornehmen. Die Isolation von bestehenden gesellschaftlich vorgegebenen Normen und wirtschaftlich-ökonomischen Vorteilen als Konsequenz wird dabei erwartet. Arbeit wird an der Einstellung zur staatlich verordneten und gesellschaftlich praktizierten göttlichen Verehrung des Kaisers gemessen. Damit wird ein ethisch sehr hoher Anspruch an Arbeitsprozesse formuliert, der religiös begründet ist und keinerlei Kompromisse duldet. Die Verbindung des Arbeitsbegriffs mit ethischen Fragen lässt sich an einer Vielzahl von Verben ablesen (im Imperativ33). Zudem wird der Begriff der Arbeit 29 30 31 32 33

Heiligenthal, ἔργον, 124. Heiligenthal, ἔργον, 125. Vgl. auch 11,18. Heiligenthal, ἔργον, 125 spricht von einer Hypostasierung von Werken. Der Imperativ 2. Person Singular wird in 1,11.19; 2,1.8.12.18; 3,1.7.14; 14,13; 19,9; 21,5 (γράψον), 1,11 (πέμψον), 1,17; 2,10 (μὴ/μηδέν φοβοῦ), 2,5.16; 3,3.19 (μνημόνευε, μετανόησον), 2,5 (ποίησον), 2,7.11.17.29; 3,6.13.22; 13,9 (ἀκουσάτω), 2,25 (κρατήσατε), 3,2 (γίνου, στήρισον), 3,3 (μνημόνευε, τήρει), 3,11 (κράτει), 3,19 (ζήλευε), 4,1; 11,12 (ἀνάβα, ἀνάβατε), 5,5 (μὴ κλαῖε), 6,1.3.5.7; 22,17.20 (ἔρχου), 6,16 (πέσετε, κρύψατε),

262

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in allen Fällen (Ausnahme: 15,3) explizit mit dem Gedanken des Gerichts und der Vergeltung (Gottes) in Verbindung gebracht. „Arbeit“ zieht entweder Lohn oder Strafe nach sich; neutrale Arbeit gibt es nicht, da sie an ihrer Einstellung zu Gott gemessen wird. Voraussetzung für Lohn ist das Halten der Gebote Christi bis zum Ende und des Wortes Christi, schließlich das nicht-Leugnen des Namens Christi. Durchgehend negativ werden dagegen die Werke der Opponenten des christlichen Glaubens beurteilt. Zu ihnen gehören die Nikolaiten, Gotteslästerer und Götzendiener, die Ehebrecher mit der Ehebrecherin Isebel sowie die Hure Babylon. Ihnen wird sowohl die Möglichkeit der Umkehr angeboten, als auch Vergeltung und Vernichtung angekündigt. Johannes weiß aber auch um die mangelnde Bereitschaft der Umkehr von falschen Werken, die nicht unmittelbar sanktioniert wird. Umkehr ist jedoch eine Möglichkeit, die den Christen ermöglicht wird. Den ambivalenten Werken der Gemeinde und den negativen Werken der Opponenten werden die Werke Gottes und Christi kontrastierend mit ausschließlich positiven Konnotationen gegenübergestellt. Die Werke Christi sind als seine Weisungen und Gebote zu verstehen, an denen es uneingeschränkt festzuhalten gilt. Er kennt zudem in Allwissenheit die Werke der Gemeinde. In einem synonymen parallelismus membrorum werden die Werke Gottes mit seinen Wegen gleichgesetzt, die als gerecht und wahrhaftig charakterisiert werden. Der Grund für diese positive Charakterisierung der Taten und Werke Gottes liegt in seiner Heiligkeit und Offenbarung seiner Rechtsprüche begründet, die zur Anbetung aller Völker führen. Der Begriff ἔργον ist in der Offb sehr weit gefasst. Er bezeichnet sowohl Eigenschaften Gottes und Christi, die von den Christen in partizipatorischem Lebensvollzug übernommen werden können. Damit wird ein Begriff der Arbeitswelt sowohl für theologische und christologische Wesensaussagen, als auch für die ethische Existenz des Christen genutzt. Im Blick auf die ethische Bedeutungsdimension lässt sich beobachten, dass damit die christliche Existenz von Johannes keinesfalls als einfach oder mühelos angesehen werden kann. Vielmehr versteht er die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich und religiös Andersdenkenden im Alltag der Gemeinden als Arbeitsprozess, der Kraft, Ausdauer, Vertrauen und Glauben kostet. Der dafür in Aussicht gestellte Lohn hat einen eschatologischen Charakter und ist eng mit der Christus- und Gottesbeziehung verbunden, die nach dem Tod in vollendeter Weise den Christen geschenkt wird. Diese Form von Arbeit entfällt in der vollendeten Heilsstadt Jerusalem. Trotz dieser Bedeutungsverschiebung behält der Begriff ἔργον einen Aspekt seiner ursprünglichen Konnotation bei, insofern die christliche Existenz mit den Forderungen des römischen Kaiserkultes einhergeht, diesen als Gott zu verehren und nur unter dieser Prämisse am Wirtschaftsleben teilnehmen zu können. 9,14 (λῦσον), 10,4 (σφράγισον), 10,8 (ὕπαγε λάβε), 10,9 (λάβε, κατάφαγε), 11,1 (ἔγειρε, μέτρησον), 11,2 (ἔκβαλε), 12,12; 18,20 (εὐφραίνεσθε, εὐφραίνου), 13,18 (ψηφισάτω), 14,7 (φοβήθητε, δότε, προσκυνήσατε), 14,15 (πέμψον, θέρισον), 14,18 (πέμψον, τρύγησον), 16,1 (ὑπάγετε, ἐκχέετε), 18,4 (ἐξέλθατε), 18,6 (ἀπόδοτε, διπλώσατε, κεράσατε), 18,7 (δότε), 19,5 (αἰνεῖτε), 19,10; 22,9 (ὅρα μή), 19,10; 22,9 (προσκύνησον), 19,17 (συνάχθητε), 22,11 (ἀδικησάτω, ῥυπανθήτω, ποιησάτω, ἁγιασθήτω), 22,17 (εἰπάτω, ἐρχέσθω, λαβέτω).

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In 2,2f wird der Arbeitsbegriff sowohl auf die ethischen Haltungen der Mühe und Ausdauer übertragen, als auch auf die Beurteilung der rechten christlichen Lehre und des Aushaltens von Widrigkeiten als Christ. Als ethisch gut werden die Distanzierung von falscher Lehre und das Aushalten von Boshaftigkeiten gewertet. Diese Tätigkeiten und auch der Prozess des Aushaltens werden von Johannes als Arbeit verstanden. Auffallend ist dabei, dass die Beurteilung der christlichen Lehre (noch) zum Arbeitsfeld der gesamten Gemeinde gehört und kein spezialisierter theologischer Beruf oder ein Amt ist. Gemeindemitglieder, die sich von diesem Aufgabenbereich abgewandt haben, wird eine Sanktion angedroht, sofern sie nicht umkehren. Positiv gewendet bedeutet dies, dass der Überwachung der Orthodoxie und der Einhaltung der Orthopraxie ein sehr hoher Wert beigemessen wird. Damit ist die Grundlage für eine Institutionalisierung dieser Aufgaben gelegt. Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch im Sendschreiben an die Gemeinde von Thyatira machen. Hier steht der Arbeitsbegriff im Kontext der christlichen Tugenden ἀγάπη, πίστις und ὑπομονή sowie der Tätigkeit der διακονία. Die Ausübung der Tugenden und die diakonischen Tätigkeiten werden eigens gelobt, während die fehlende Distanzierung zur Falschprophetin Isebel mit großer Bedrängnis sanktioniert wird; diese werden näher bezeichnet mit dem Tod der folgenden Generation. Ziel dieser Bestrafung ist die Erkenntnis Gottes durch alle Gemeinden. Lohn und Strafe für die Ausübung der christlichen Tugenden, zu denen die Diakonie und die Einhaltung der rechten Lehre und christlichen Praxis gehören, wird jedem gemäß seiner Taten angekündigt. Weiters wird das Halten der Gebote und Weisungen Christi bis zum Ende als Arbeitsprozess verstanden. Der dafür in Aussicht gestellte Lohn ist die Macht über die Völker. In der Gemeinde zu Philadelphia sind die Werke mit dem Bewahren des Wortes Christi und seines Namens definiert. Den Christen wird das Bewahren in der Stunde der Versuchung als Lohn verheißen. Das Arbeitsfeld ist die Bewahrung der biblisch-christlichen Tradition. Laodizea ist eine eigenwillige Gemeinde, deren Arbeitshaltung als lau charakterisiert wird. Sie hat den Schwerpunkt auf nicht-christliche Arbeitsprozesse und –felder gelegt, die zu Reichtum geführt haben: Goldhandel, Textil- und Pharmaindustrie. Die Parusie Christi mit Tischgemeinschaft sowie die Mitherrschaft mit Gott und Christus werden im Fall der Umkehr als Lohn vor Augen gestellt. Die Arbeitsfelder, die Johannes in den Gemeinde beschreibt, sind ungewöhnlich und neu. Es handelt sich nicht um Berufe im klassischen Sinn; vielmehr werden Aufgaben des christlichen Lebensvollzugs als Arbeit anerkannt und ihnen ein sehr hoher Stellenwert zugemessen, indem sie nicht mit materiellen Gütern entlohnt werden. Lohn und Strafe sind nicht irdischer Natur, sondern haben eschatologischen Charakter. Vergeltung wird je nach den Werken bemessen. Neben diesen christlichen Arbeitsfeldern umfasst ἔργον auch die Berufsgruppe der Hersteller von Götzenfiguren und -bildern.

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3.3

Reichtum, Ware und Kaufen in der Offb

Das semantische Feld des Reichtums, der Waren und des Kaufens bzw. Handels spielt eine große Rolle in der Offb. Reichtum wird bereits im Sendschreiben an die Gemeinde von Laodicea explizit und in weiteren Sendschreiben implizit thematisiert, ein weiteres Mal in Offb 13,17 und ausführlich dann in Offb 18, wo es um den Untergang Babylons geht. Im dualistischen Denken des Johannes erhält materieller Reichtum, der aus der Verstrickung mit dem römischen Reich entstanden ist, eine negative Bewertung, die durch den Untergang desselben in Offb 18 unterstrichen wird. Echter Reichtum ist nach Johannes durch eine radikale christliche Lebensweise zu erkennen. Dieser Zusammenhang wird insbesondere im Sendschreiben an die Gemeinde zu Laodizea deutlich. Der johanneische Christus zitiert in V.17 zunächst die Position der Gemeinde, die aus drei Elementen besteht. Die Laodiceaner halten sich für reich und benötigen nichts. Die Antwort darauf folgt antithetisch, eingeleitet durch οὐκ οἶδας, die die Selbsteinschätzung mit einer fünf Elemente umfassenden Fremdeinschätzung konfrontiert. Der aus drei Elementen bestehende Rat zur Änderung dieser Sicht- und Verhaltensweise folgt in V.18. Christus wird dabei in der Rolle eines Kaufmanns gedacht, der Gold, weiße Gewänder und Augensalbe zu verkaufen hat. Durch die drei sich anschließenden Finalsätze wird die übertragene Bedeutung dieser Waren deutlich. Es geht um den wahren Reichtum, der die Schande der Nacktheit verbirgt und die Augen öffnet. Reichtum wird neu definiert: Er besteht nicht in materiellen Gütern, der durch Nähe zum Kaiserkult entstanden ist. Vielmehr wird er verstanden als ein von Christus geschenkter Reichtum, der in der Erlösung besteht. Das Verb ἀγοράζω wird auch mit soteriologischer Konnotation verwendet: Der Kreuzestod Jesu wird als Loskauf gedeutet, die Erlösten mit Losgekauften gleichgesetzt. Es handelt sich dabei um jene Menschen, die (universal) dem Lamm bedingungslos folgen und sich nicht unrein gemacht haben; sie sind ohne Lüge und Makel. Dieses dualistische Verständnis von Reichtum lässt sich auch an der Ausschmückung des himmlischen Thronsaals und dem himmlischen Jerusalem in Kontrast zur Beschreibung der Hure Babylon ablesen. Von den zahlreichen Waren, die in Offb 18 aufgelistet werden, werden keine zur Beschreibung des himmlischen Thronsaals bzw. des himmlischen Jerusalem genutzt. Lediglich Gold wird sowohl als Schmuck der Hure Babylon und Ware Babylons, als auch als Baustein des himmlischen Jerusalem verwendet. Dabei fällt jedoch auf, dass Johannes zur Beschreibung Jerusalems das Adjektiv καθαρός hinzufügt. Die meisten Waren aus Offb 18 werden nur dort erwähnt. Kostbare Güter haben nach der Offb dann ihren Wert, wenn sie auf Gott bzw. Christus ausgerichtet sind. Produkte, die unter Voraussetzung der Anerkennung des römischen Kaiserkults erworben sind, werden dagegen ethisch verurteilt. Dieser Kontrast wird deutlich, liest man die Mahnung an die Gemeinde von Laodizea in Zusammenhang mit Offb 13,17. Nicht verschwiegen werden jene Gruppen in der Offb, die zu den sozial Schwachen gehören: Zu ihnen werden die Kleinen, die Armen, die Bemitleidenswerten, die Blinden, die Nackten, die Sklaven gerechnet.

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Insbesondere die Gemeinde zu Smyrna ist von Armut betroffen. Sie wird durch die Substantive θλῖψις und βλασφημία weiter konnotiert. Die Armut resultiert aus einer bedrängenden Lebenssituation, die durch eine Gruppe, die sich selbst Juden nennt, resultiert. Diese wird von Johannes zweifach disqualifiziert: Zum einen entlarvt er diese falsche Selbstbezeichnung, zum anderen nennt er sie συναγωγὴ τοῦ σατανᾶ. Die Bedrängnis hat sogar Gefängnisaufenthalte zur Folge. Armut dürfte also als gesellschaftliche Ächtung zu verstehen sein, soziale und ökonomischen Folgen eingeschlossen. Diese Form der Armut erfährt durch Johannes eine Neudefinition, indem er der Gemeinde zuspricht, dass sie reich sei. Johannes definiert ökonomisch geprägte Begriffe neu. Im Sendschreiben zu Smyrna betrifft es den Begriff der Armut, im Sendschreiben an Laodicea den Reichtum. Arbeit und Lohn haben offensichtlich dann einen hohen ethischen Wert, wenn sie mit einer klaren Ablehnung des römischen Staates verbunden sind. An Arbeitsprozesse werden sehr hohe Ansprüche und Ideale herangetragen. Johannes weiß auch von einem Teuerungsprozess, von dem im Kontext der Öffnung des 3. Siegels als Plage die Rede ist.34 Grund dafür könnte die römische Wirtschaftspolitik mit staatlichen Kontrollen gewesen sein, die in ihrer Theorie bei Johannes jedoch nicht reflektiert wird. Gleiches gilt auch für den Begriff des Handels bzw. Kaufens. Einerseits wird das Verb ἀγοράζω im theologisch-soteriologischen Sinn genutzt. Andererseits bezeichnet es den Handel, der nur unter bestimmten Bedingungen möglich war. Voraussetzung ist die Anerkennung des römischen Kaiserkultes und des politischen Systems – in der Bildsprache des Johannes mit dem Tier bzw. der Hure Babylon ausgedrückt. Von Waren, mit denen Handel getrieben wurde, ist v.a. in Offb 18 die Rede. Der Begriff γόμος kommt nur in 18,11.12 (und in Apg 21,3) vor. Diese werden in VV.12f ausführlich aufgezählt. Auffallend an diesem Warenkatalog ist, dass es sich um kostbarste Materialien handelt. Zudem werden zuletzt Menschen / Sklaven aufgezählt, mit denen Handel getrieben wurde.

3.4

Berufsgruppen

Eine verhältnismäßig große Anzahl verschiedener Berufsgruppen wird explizit in der Offb genannt. Als erstes wird die handwerkliche Tätigkeit derjenigen beschrieben, die Figuren und Götzen herstellen. Gemeint sein könnten u.a. Silberschmiede, die die Artemis-Tempelchen in Ephesus herstellen, von denen auch Lukas weiß. Im Kontext der Offb wird Babylon-Rom als Wohnstätte von Dämonen bezeichnet. So könnte die Umschreibung alle jene Berufe umfassen, die durch ihr Handwerk die göttliche Verehrung des römischen Kaisers ermöglichen und unterstützen, indem sie sichtbare Zeichen für dessen kultische Verehrung erstellen. Johannes wertet diese Form der Arbeit als mangelnde Bereitschaft zur Um-

34

Schrage, Ethik, 340 erkennt nur in 6,6 und Kapitel 18 einen „sozialkritischen Unterton“.

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kehr und zeigt zugleich die Wertlosigkeit ihrer Arbeitsprodukte auf. Weiters unterstellt er ihnen in einem Lasterkatalog die vier Sünden des Mordes, der Zauberei, Unzucht und des Diebstahls, der in der gesamten griechischen Bibel nur hier vorkommt. Die meisten Berufsgruppen werden in Offb 18 genannt, wo es um den Fall Babylons geht. Neben kaufmännischen Berufen und der Schifffahrt werden auffälliger Weise zahlreiche Musiker und Künstler genannt. Die Erwähnung von Mühlsteinen lässt zudem auf den Beruf des Müllers schließen. Neben diesen Berufsgruppen werden auch Machthaber aufgelistet. οἱ βασιλεῖς τῆς γῆς (1,5; 6,15; 17,2.18; 18,3.9; 19,19; 21,24) – οἱ μεγιστᾶνες (6,15; 18,23) – οἱ χιλίαρχοι (6,15; 19,18) – οἱ πλούσιοι (6,15; 13,16) – οἱ ἰσχυροί (6,15; 19,18) – ἐλεύθερος (6,15) – Große (μεγιστάν: 6,15; 18,23). Sie gehen beim Untergang Babylons ebenso wenig unter wie die aufgelisteten Berufsgruppen. Eine Umkehr der gesellschaftlichen Verhältnisse ist demnach nicht das Anliegen der Offb, sondern massive prophetische Sozialkritik.35 Diese verfehlt jedoch die Verursacher – im Gegensatz zu den atl. Prophetenschriften –, da sich die Schrift an die Christen richtet, die die Ungerechtigkeit nicht verursacht haben, sondern die Leidtragenden sind. Ihre Funktion kann daher allenfalls im Sinne einer Stärkung der Christen in Form einer nüchtern-kritischen Situationsanalyse bestehen. Auch aus der Warenliste in Offb 18, die ausschließlich Luxusgüter umfasst, lassen sich Berufsgruppen erschließen. Die Waren gehören zu dem kostbarsten, die das römische Reich zu bieten hat. Durch die Erwähnung des Sklavenhandels mit dem in der Offb unüblichen Ausdruck σωμάτων καὶ ψυχὰς ἀνθρώπων, der zudem in Schlussstellung der Liste steht, wird zudem deutlich, dass die Würde von Menschen wie reine Arbeitstiere nur einen geringen Stellenwert hat und wirtschaftliche Erfolge ohne Rücksicht auf Verluste erworben wurden.

4.

Offb 18,1–24 – Vernichtung von Berufen und Arbeit

Neben den Sendschreiben gibt insbesondere Offb 18 Einblicke in die Arbeitswelt und ihre Bewertung durch Johannes. Das Kapitel besteht aus zwei Visionen bzw. Auditionen (VV.1–3.4–8), der insgesamt vier verschiedene Reaktionen folgen (VV.9f.11–14.15–17.17–20). Den Abschluss bildet eine erneute Audition (VV.21–24), die mit der Eingangsaudition einen Rahmen um den Textabschnitt legt. Während im Eingangsvers Elemente der Schöpfungserzählung vorkommen, enthält die Audition in VV.21–24 Elemente einer Antischöpfung (V.14: οὐκέτι οὐ μὴ αὐτὰ εὑρήσουσιν; VV.21–23: 6maliger Ausdruck οὐ μὴ [εὑρεθῇ/ἀκουσθῇ/εὑρεθῇ/ἀκουσθῇ/φάνῃ/ἀκουσθῇ] ἔτι). Das Kapitel ist durch 35

Schrage, Ethik, 341 kommentiert: „Hier melden sich nicht Haß und Ressentiments der Zukurzgekommenen zu Wort, die mit Befriedigung dem Ruin und Untergang der oberen Zehntausend zuschauen und nur auf einen Rollentausch aus sind, sondern hier meldet sich in der Tradition der prophetischen Sozialkritik der mit Ironie durchsetzte Zorn des Propheten über die soziale Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit.“ Die Kritik erreicht die Verursacher jedoch nicht!

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zahlreiche Wiederholungen und Variationen geprägt und hat sein atl. Vorbild in der Totenklage des Propheten Ezechiel (Ez 26–27) über Tyrus. Adressat des Klagelieds ist sowohl das irdische, als auch das himmlische Volk Gottes. Dabei geht es nicht um die Ankündigung einer Revolution, die die sozialen Verhältnisse auf den Kopf stellt. Aufgelistet werden die Konsequenzen des Untergangs Babylons für die verschiedenen Gruppen. Dabei ist der strikte Dualismus des Johannes erneut zu erkennen: Alle Völker und die Könige der Erde, die „Unzucht“ mit Babylon haben betrieben, und die Kaufleute sind an ihrer Üppigkeit reich geworden. Durch den Untergang Babylons ist der Reichtum jedoch vernichtet, so dass die Könige der Erde, die Kaufleute (der Erde) weinen und klagen. Dies wird in einem dreimal mit Variationen sich wiederholenden Weheruf über den Untergang deutlich, der in nur einer Stunde geschieht. Grund für das Wehklagen ist, dass die Waren nicht mehr gekauft werden, die aus der Verbindung mit Babylon entstanden sind. Der Reichtum wird zerstört. Auf der anderen Seite werden die Christen, die als ὁ λαός μου und οὐρανός, οἱ ἅγιοι καὶ οἱ ἀπόστολοι καὶ οἱ προφῆται bezeichnet werden, zur Freude aufgefordert, da die Vernichtung des Reichtums Babylons als Gottesgericht gedeutet wird, das ihrem Beschluss folgt. Durch V.20 wird der immense Leidensdruck deutlich, unter dem Johannes die Gemeinden stehen sieht; sie drücken sich im Rachegedanken aus, Babylon vollkommen zu vernichten.36 In Bezug auf die Thematik der Arbeit wird erneut deutlich, dass ihr ein hoher Stellenwert beigemessen wird, der sich ausschließlich an ihrer Haltung zum Staat und zur christlichen Religion misst. Arbeitsprozesse und Produkte werden vernichtet, sofern sie aus einer fehlenden Distanzierung vom römischen Kaiserkult erwachsen. Arbeit soll vielmehr Ausdruck eines klaren christlichen Glaubens und der Hinwendung zu Gott sein. Sie rückt damit in die Nähe des Gebets, das in der Offb einen breiten Raum einnimmt. Die ethischen Ansprüche an Arbeitsprozesse sind sehr hoch gesteckt und werden durch das radikal dualistische Denken weiter verstärkt. Ob sie in dieser Form in der Praxis der kleinasiatischen Gemeinden umgesetzt wurden und/oder gegenwärtig umgesetzt werden könnten, bleibt zu bezweifeln. In letzter Konsequenz würde diese Einstellung einen Rückzug aus der Gesellschaft, den Aufbau einer Parallelgesellschaft mit eigenen Wirtschaftsformen bedeuten. Inwiefern sich dies in einer immer komplexer werdenden und globalisierten Welt umsetzen lässt, bleibt dahingestellt. Aus pln Sicht wäre zudem zu fragen, ob Christen nicht einen reiferen Umgang mit Arbeitsprozessen finden könnten, der sowohl die hohen ethischen Ansprüche einerseits, als auch die Einbindung in den gesellschaftlichen Kontext andererseits ermöglicht.

36

Vgl. Mayordomo, Gewalt, 107–136.

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5.

Fazit

Die Ethik der Offb ist situationsgebunden. Sie ist als Antwort auf einen Konflikt verschiedener christlicher Gruppierungen zu verstehen, der durch kontroverse Haltungen gegenüber dem römischen Kaiserkult entstanden ist. Von Johannes favorisiert wird eine rigoristische Haltung, wie sie in den Gemeinden von Smyrna und Philadelphia praktiziert wird, die er im jeweiligen Botenspruch der Sendschreiben ausschließlich lobt. Er kritisiert Gruppierungen, die er noch zu Mitgliedern der christlichen Gemeinden zählt, die aber einen Kompromiss zwischen Kaiserkult und Christentum leben und zu Gruppierungen tendieren, die Johannes als bereits aus der Gemeinde Ausgeschlossene stigmatisiert. Die johanneische Ethik ist eine Binnenethik, die der Identitätsstärkung von Insidergruppen dient. Die Bekehrung der feindlichen Gruppen oder die Umkehrung der Gesellschaft ist nicht im Blick. Die ethische Weisung und Kritik richtet sich ausschließlich auf diese innergemeindlichen Gruppierungen. Sie verfehlt die Nichtchristen des Imperium Romanum, die für die Situation verantwortlich sind. Eine Änderung der politischen Gesamtsituation ist nicht die Intention des Joh. Die Möglichkeit des Dialogs ist außerhalb des Denkens des Johannes. Auf eine weitere detaillierte Bündelung aller Details soll im Folgenden zugunsten einer Klassifizierung der Sozialethik der Offb verzichtet werden. Es geht dabei auch um eine Bewertung, um das Aufzeigen von allfälligen Grenzen und Chancen. Dazu wird auf zwei verschiedene Denkmodelle zurückgegriffen, mit denen eine Einordnung der Offb möglich ist. Zum einen werden die vier klassischen Bewältigungsstrategien im Umgang mit Konflikten herangezogen. Damit wird postuliert, dass die Ethik der Offb aus einem Konflikt mit der damaligen Gesellschaft des römischen Reiches und als Antwort darauf entwickelt wurde. Zum anderen wird ein soziorhetorisches Modell zu Rate gezogen, das zur Einordnung von Sekten bzw. religiösen Gruppen entwickelt und auf die Offb übertragen wurde. Beide Modelle können einen Beitrag dazu leisten, das spezifische Profil der Ethik der Offb zu erkennen und bewerten. Man kann zwischen vier verschiedene Bewältigungsstrategien im Umgang mit Konfliktsituationen unterscheiden: – Die aggressive Reaktion ist durch negative Gefühle und Machtgedanken erkennbar. Konflikte eskalieren häufig durch diese Strategie. – Die defensive Reaktion bemüht sich darum, einen Konflikt durch erhöhte Anstrengungen (Leistungssteigerung) zu begegnen, so dass scheinbar Gutes zur Abwehr negative Gefühle genutzt wird. – Die abhängige Reaktion sucht in der Konfliktsituation Verbündete, von denen sie sich abhängig macht und die eigene Ohnmacht sublimiert. Cliquenwirtschaft bzw. Spaltungen von Gruppen sind die Folge. – Die depressive Reaktion tritt den Rückzug in die Isolation an.37 Dadurch werden Ressourcen nicht genutzt, die zur Überwindung eines Konflikts vorhanden sind. 37

Vgl. Maureder SJ, Sich klein fühlen, 6–7.

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Keine dieser Strategien löst den Konflikt wirklich; alle vier Reaktionen haben zudem negative Auswirkungen auf die Person oder Gruppe, die mit dem Konflikt konfrontiert ist. Sofern sich die Ethik der Offb in eine der vier Bewältigungsstrategien einordnen lässt, wären sowohl ihre Grenzen deutlich, als auch theologische Kritik möglich. Durch die radikal dualistisch ausgerichtete Ethik und den Auszugsbefehl in 18,4 scheint Johannes seinen Adressaten die depressive Variante als Lösung vorzustellen: den Rückzug.38 Wäre dies der Fall, so würde das NT eine Schrift enthalten, die eine ungesunde, nicht zum Heil führende Strategie im Umgang mit gesellschaftlich verursachten Repressionen vorschlägt. Die Folgen einer solchen christlichen Sozialethik wären drastisch, bedeuten sie doch ein christliches Schattendasein innerhalb einer Gesellschaft, das keine missionarische Wirkkraft entfalten kann. Die ökonomischen Folgen und gruppendynamischen Veränderungen einer in sich abgeschlossenen, sich selbst absondernden und abschottenden Gruppe lägen auf der Hand. Wachstumsprozesse wären nur unter Biotopbedingungen möglich. Würde man die Offb in dieser Weise verstehen, so gäbe dies berechtigten Anlass, über ihre Pragmatik und Kanonisierung nachzudenken. Der entscheidende Angelpunkt der Argumentation ist dabei das Verständnis von Offb 18,4. Ein genauerer Blick in den Text der Offb lässt durchaus auch einen anderen Blick auf die Ethik zu. Der strikte Dualismus des Johannes, der eine ethische Entscheidung herbeizuzwingen versucht und natürlich seine Grenzen hat, wird vom Verfasser am Anfang selbst durchbrochen, so dass eine differenziertere Sichtweise erkennbar wird. Im Präskript führt Johannes programmatisch den Gedanken der Erlösung durch die gegenwärtige Liebe und den vergangenen Kreuzestod Jesu ein (1,5; vgl. auch 3,939; 12,11). Damit bietet er eine fünfte Bewältigungsstrategie an, die ins Leben führen kann: Indem die Christen Kleinasiens diese bedingungslose Wertschätzung und Liebe Jesu zu ihnen erkennen und annehmen, werden sie selbst liebesfähig und befreit von aggressiven, defensiven, abhängigen und depressiven Reaktionen. Sowohl den Christen in Ephesus, als auch in Thyatira und Philadelphia ist dieser Prozess in Ansätzen nicht fremd. Die Aufforderung zur Umkehr zu dieser liebenden Haltung lässt darauf schließen, wird aber im Makrotext der Offb nicht durchgehalten. Das radikal dualistische Denken des Johannes ermöglicht es nicht, in diese Weite zu führen. Liest man nun den Aufbruchbefehl in 18,4 unter dieser Prämisse, so erhält er eine völlig andere Färbung. Dann ginge es nicht mehr um depressiven Rückzug und selbst gewählte Isolation, sondern um Befreiung und innere Freiheit, die (neues) gemeinschaftliches Handeln ermöglichen. Von einer solchen erlösten Gemeinschaft ist in der großen Schlussvision vom himmlischen Jerusalem die Rede. Bzgl. der in der Offb vertretenen Sozialethik würde das bedeuten, dass sie eben

38 39

So urteilt auch Schreiber, Offenbarung, 568, der von einem „Rückzug zur Identitätsbewahrung“ spricht. Das Verb ἀγαπάω ist hier mit der Erkenntnisformel verbunden.

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nicht aus gesellschaftlichen Bezügen herausführt (soziorhetorisches Modell: introversionist40), sondern mit einer göttlichen Intervention rechnet (soziorhetorisches Modell: thaumaturgic), die zum Heil führt. Von den Christen sind klare Entschiedenheit und Partizipation an der Existenzweise Jesu gefordert, die u.U. auch das Martyrium verlangt. Isolation von der Gesellschaft und Marginalisierung waren ja ohnehin die Folgen der Weigerung, Götzenopfermahlzeiten mitzufeiern.

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40

Vgl. Bloomquist, L. Gregory, Apocalyptic Rhetoric, in: Carey, Greg/ Bloomquist, L. Gregory (Hg.), Vision, 181–203, unterscheidet zwischen 7 verschiedenen Typologien der religiösen Reaktionen auf soziale Situationen (conversionist, revolutionist, introversionist, gnostic-manipulationist, thaumaturgic, reformist, utopian).

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MATHEWSON, DAVID, Verbal Aspect in the Book of Revelation. The Function of Greek Verb Tenses in John’s Apocalypse (Linguistic Biblical Studies 4), Leiden/Boston 2010. MAUREDER SJ, JOSEF, Sich klein fühlen, in: Jesuiten 1/2014, 6–7. MAYORDOMO, MOISÉS, Gewalt in der Johannesoffenbarung als theologisches Problem, in: Schmeller, Thomas u.a. (Hg.), Die Offenbarung des Johannes. Kommunikation im Konflikt (QD 253), Freiburg u.a. 2013, 107–136. REITERER, FRIEDRICH V. VON, Art. „Arbeit“, in: LThK3 I (1993), 917–918. REITERER, FRIEDRICH V. VON, „Arbeit“, in: Kogler, Franz (Hg.), Herders Neues Bibellexikon, Freiburg u.a. 2008, 43f. SCHOLTISSEK, KLAUS, „Mitteilhaber an der Bedrängnis, der Königsherrschaft und der Ausdauer in Jesus” (Offb 1,9). Partizipatorische Ethik in der Offenbarung des Johannes, in: Backhaus, Knut (Hg.), Theologie als Vision. Studien zur Johannes-Offenbarung (SBS 191), Stuttgart 2001, 172–207. SCHÜRMANN, HEINZ, Studien zur neutestamentlichen Ethik, hg. von Thomas Söding (SBA 7), Stuttgart 1990. SCHRAGE, WOLFGANG, Ethik des Neuen Testaments (GNT 4), Göttingen 51989, 330–347. SCHULZ, SIEGFRIED, Neutestamentliche Ethik, Zürich 1987. TAEGER, JENS-W., Johannesapokalypse und johanneischer Kreis. Versuch einer traditionsgeschichtlichen Ortsbestimmung am Paradigma der Lebenswasser-Thematik (BZNW 51), Berlin 1989. WENDLAND, HEINZ-DIETRICH, Ethik des Neuen Testaments, Göttingen 1970. WITULSKI, THOMAS, Die Johannesoffenbarung und Kaiser Hadrian. Studien zur Datierung der neutestamentlichen Apokalypse (FRLANT 221), Göttingen 2007.

Autorinnen und Autoren

Reinhard von Bendemann Prof. Dr. Reinhard von Bendemann, geb. 1961, Studium der Altphilologie, Philososphie und Theologie in Göttingen, Bern und Bonn (1981–1988), Vikariat in Bad Neuenahr (Rheinische Landeskirche; 1988–1990); anschl. Pfarrer z.A. in BonnSt. Augustin, Promotion mit einer Arbeit über die Theologie des Apostels Paulus im Fach Neues Testament an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes; 1991–1993), Wiss. Assistent an der Evang.-Theol. Fakultät der Universität Bonn (1994–1999), Habilitation ebendort mit einer Arbeit über den lukanischen Reisebericht (1999), Lehrstuhlvertretungen in Bonn und an der Christian-Albrechts-Universität Kiel (1999–2001), Prof. für frühchristliche Lite-raturgeschichte und Theologie an der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel (2002-Ende 2008), Professor f. Neues Testament und Judentumskunde an der Evang.-Theol. Fakultät der RUB seit November 2008. Esther Brünenberg-Bußwolder Dr. Esther Brünenberg-Bußwolder, geb. 1976 in Esslingen/Neckar, verheiratet, 2 Kinder, Studium der Katholischen Theologie, Pädagogik und Psychologie in Tübingen, Jerusalem und Münster, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Neues Testament an der Ruhr-Universität Bochum, Dozentin für Altes Testament an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Kapuziner in Münster. Kurt Erlemann Prof. Dr. Kurt Erlemann, geb. 1958 in Freiburg / Br., Studium der Evangelischen Theologie in München, Zürich und Heidelberg. 1986 Promotion bei Prof. D. Klaus Berger / Heidelberg über „Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen“. 1987–1990 Vikar der Badischen Landeskirche. Im Anschluß Habilitation über „Naherwartung und Parusieverzögerung im Neuen Testament. Ein Beitrag zur Frage religiöser Zeiterfahrung.“ Neben dem Schulpfarrdienst an der Internationalen Gesamtschule Heidelberg Lehrstuhlvertretungen in Hamburg und Koblenz. Seit WS 1996/97 Professor an der Bergischen Universität Wuppertal. Zahlreiche Publikationen zu Kernthemen der Theologie. Forschungsschwerpunkte: Gleichnisse und Wunder Jesu, jüdisch-christliches Gottesbild, neutestamentliche Christologie, Pneumatologie und Eschatologie, Hermeneutik biblischer Kernbegriffe. Christian Frevel Prof. Dr. Christian Frevel, geb. 1962 in Siegen, Studium der Katholischen Theologie, Orientalistik und Philosophie in Bonn, 1994 Promotion, 1998 Habilitation. 2000–2004 Professor für Biblische Theologie an der Universität Köln, seit 2004 Professor für Altes Testament an der Ruhr-Universität Bochum, seit 2015 Extraordinary Professor am Department of Old Testament Studies der University of

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Autorinnen und Autoren

Pretoria (South Africa). Zahlreiche Veröffentlichungen zu alttestamentlicher Anthropologie und Biblischer Archäologie, Pentateuchexegese und Religionsgeschichte. Mareile Haase Dr. Mareile Haase, Studium der Klassischen Archäologie, Ägyptologie, Latinistik und Etruskologie in Würzburg, Rom und Tübingen, Promotion in Tübingen. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Europäische Polytheismen an der Universität Erfurt, Assistant Professor of Classics an der University of Toronto. Seit 2007 Mitherausgeberin des Forschungsberichts Römische Religion im Archiv für Religionsgeschichte. 2014/15 Fellow am Käte Hamburger Kolleg in Bochum. Publikationen und aktuelle Forschungen zu den Kulten der „ägyptischen“ Gottheiten im antiken Mittelmeerraum, zur etruskischen Religion und zu anderen Themen der antiken Religionsgeschichte. Jan Heilmann Dr. Jan Heilmann, geb.1984, studierte von 2004–2009 Evangelische Theologie, Geschichte und Germanistik in Bochum und Wien und war anschließend Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Evangelisch- Theologischen Fakultäten in Bochum und Münster sowie Lehrbeauftragter für Alte Geschichte in Siegen. Promotion 2013 in Bochum mit einer Studie zu Wein und Blut im Johannesevangelium, seit August 2013 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evangelische Theologie der TU Dresden. Forschungsschwerpunkte: Sozialgeschichte des Lesens im frühen Christentum, johanneische Schriften, Antike Mahlkultur, Varianten in der neutestamentlichen Textüberlieferung. Traugott Jähnichen Prof. Dr. Traugott Jähnichen, geb. 1959, Studium der ev. Theologie und der Wirtschaftswissenschaften in Bochum, Bonn und Wuppertal. Seit 1998 Prof. für christl. Gesellschaftslehre an der Ev.-theol. Fakultät der RUB, Mitherausgeber u.a. der ZEE, des Evang. Soziallexikons und des Jahrbuchs Sozialer Protestantismus, u.a. Mitglied der Kammer für soziale Ordnung der EKD und der Kirchenleitung der EKvW; Forschungsschwerpunkte: Grundfragen der Sozialethik, Wirtschaftsethik, Kirchliche Zeitgeschichte. Beate Kowalski Prof. Dr. Beate Kowalski, Studium der Katholischen Theologie, Geschichte für Lehramt Sek I/II an der Ruhr-Universität Bochum (1984–1990). Promotion zum Dr. theol. an der RUB 1995, Habilitation an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck 2003. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der RUB (1990–1995); Pastorale Tätigkeiten im Erzbistum Paderborn und Bistum Osnabrück (1995–2000), Junior Fellow der Katholischen Universität Leuven (2000–2002), Lehraufträge in München, Passau und Siegen; Vertretungsprofessorin in Paderborn (2003–2004), Professorin in Limerick (2004–2006), Koblenz (2006–2008), seither am Institut für Katholische Theologie der Technischen Universität Dortmund. Forschungsschwerpunkte: Intertextualität, Johannesevangelium, Offenbarung des Johannes.

Autorinnen und Autoren

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Steffen Leibold Dr. Steffen Leibold, 2002–2010 Studium der evangelischen Theologie, Erziehungswissenschaft und Germanistik in Bochum, 2008–2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter in den Fachbereichen Altes Testament und Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, seit 2014 Lehrer an einer Gesamtschule in Duisburg, 2013 Promotion im Fachbereich Altes Testament, Publikationen u.a. zum Buch Genesis und zu biblischen Grundlagen interreligiöser Begegnungen. Christian Münch Dr. Christian Münch, geb. 1968, Akademischer Oberrat am Institut für Philosophie und Theologie der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Marcus Sigismund Dr. Marcus Sigismund, geb. 1971, promovierte in Alter Geschichte zum Dr. phil. und ist derzeit Stellvertretender Projektleiter der Editio Critica Maior der Johannes-Apokalypse sowie Mitarbeiter am Institut für Septuaginta und biblische Textforschung in Wuppertal. Forschungsschwerpunkte: Textformen der Septuaginta; Textkritik der Apk; Historiographie und Sozialgeschichte des Hellenismus und der römischen Kaiserzeit. Thomas Söding Prof. Dr. Thomas Söding, geb. 1956, Studium der Katholischen Theologie, Germanistik und Geschichte in Münster, Promotion 1985, Habilitation 1991 ebendort, 1993–2008 Professor für Biblische Theologie an der Bergischen Universität Wuppertal, seit 2008 Professor für Neues Testament an der Kath.-Theol. Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Veröffentlichungen zu zahlreichen Themen neutestamentlicher und gesamt-biblischer Exegese, Theologie und Hermeneutik. Markus Tiwald Prof. Dr. Markus Tiwald, geb. 1966, Studium der katholischen Theologie in Wien und Lyon/Frankreich (1986–1993) sowie Erwerb des biblischen Lizentiats in Jerusalem (1995–1998). 2001 Promotion. 2007 Habilitation. 2005 Gastprofessur in Rom (Antonianum). Seit 2009 Professor für Biblische Theologie und ihre Didaktik/Schwerpunkt Neues Testa-ment an der Universität Duisburg-Essen. Publikationen zum „Wanderradikalismus“, der Theologie der Logienquelle, zu Paulus und zum Frühjudentum. Philippe Van den Heede Dr. Dr. Philippe Van den Heede, geb. 1975, Studium der Romanistik in Louvainla-Neuve (Belgien). Philologische Promotion 2003. Studium der katholischen Theologie in Louvain-la-Neuve, Münster und Bochum. Promotion 2016. Seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neues Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Theologische Promotion 2016. Veröffentlichungen zum Johannesevangelium.

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Autorinnen und Autoren

Robert Vorholt Prof. Dr. Robert Vorholt, geb. 1970 in Münster/Westfalen, Studium der kath. Theologie in Münster und Paris, Priesterweihe 1999, Seelsorge im Bistum Münster, 2008 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent von Prof. Dr. Thomas Söding am Lehrstuhl Neues Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität, Habilitation im April 2012, Privatdozent an der Ruhr-Universität, September 2012 Lehrstuhlvertretung in Luzern, seit 01.02.2013 Ordentlicher Professor für die Exegese des Neuen Testaments an der Universität Luzern. Veröffentlichungen zu Paulus und den Evangelien. Alexander Weihs Prof. Dr. Alexander Weihs, geb. 1968, Studium der katholischen Theologie, Geschichte, Pädagogik und Philosophie in Münster (1989–1995). Danach Promotionsstudium der katholischen Theologie in Bonn und Bochum. Promotion in Bochum 2002. Dozent am Institut für Katholische Theologie der Bergischen Universität Wuppertal (2001–2012). Publikationen u.a. zu Markus, den neutestamentlichen Briefen, den Methoden der Schriftauslegung sowie zur Bibeldidaktik. Seit 2012 Professor für Neues Testament und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Aktuell Forschungen u.a. zur neutestamentlichen Anthropologie und Theologie. Peter Wick Prof. Dr. Peter Wick, geb. 1965, Studium der evangelischen Theologie in Basel und in Fribourg (1985–1990). Promotion 1993 und Habilitation 1999 in Basel. Visiting Researcher an der Hebräischen Universität (1994–1995). Assistenzprofessor für Neues Testament und antike Religionsgeschichte in Basel (2000–2003). Seit 2003 Professor für Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Veröffentlichungen zur Entstehung der frühchristlichen Gottesdienste, Paulus, Matthäus und der ethischen Relevanz biblischer Texte.

Register (Bibelstellen)

Gen 1,28 Gen 2,5 Gen 2,15 Gen 3,17–19 Gen 3,19 Ex 20,9f Ex 21,2 Ex 21,10 Ex 21,25 Ex 22,14 Ex 23,6

15 28 16 15 9 16 57 65 57 62 61

Lev 19,13

61

Dtn 5,13f Dtn 24,14f Dtn 24,15

16 60, 65f 60

1 Kön 7,14

56

Makk 2,34–48

74

Spr 22,2 Spr 24,27

57 56

Weish 6,7

54

Jes 10,2 Jes 16,14 Jes 21,16

61 58 58

Am 2,7f

60

Jona 1,8

56

Mi 2,2

63

Mt 6,5–7 Mt 6,11 Mt 6,25–34 Mt 7,6

131 16 39 130

Mt 8,5–13 Mt 8,22 Mt 9,9 Mt 10,10 Mt 11,16–19 Mt 11,19 Mt 13,47–50 Mt 13,52 Mt 13,55 Mt 16,27 Mt 18,12ff Mt 19,24 Mt 19,30 Mt 20,1–16 Mt 24,45–51 Mt 27,57–61 Mt 28,16–20

14 120, 130 12, 127 25 17 120, 128 17 13 28, 120 25 9f 130 130 171–178 17 86 11

Mk 1,1–11 Mk 1,14f Mk 1,16–20 Mk 1,18f Mk 1,29ff Mk 2,1–12 Mk 2,13ff Mk 2,17 Mk 2,19–22 Mk 2,23 Mk 3,1–6 Mk 4,13–20 Mk 4,26–29 Mk 5,21–34 Mk 6,3 Mk 6,30–44 Mk 9,5 Mk 12,1–12 Mk 12,28–34 Mk 13,34

12 12 16 15 12 153–170 12 13 120 74 137–149 17 16 13 28 127 123 17 162–167 30

Lk 3,12ff Lk 5,5

17 25

Register

278 Lk 10,27 Lk 10,38ff Lk 12,13f Lk 12,58 Lk 13,27 Lk 14,15–24 Lk 15,8–10 Lk 16,1–8 Lk 16,9–13 Lk 17,7–10 Lk 18, 1–8 Lk 19,10 Joh 2,1–11 Joh 3,19.20 Joh 4,34 Joh 4,38 Joh 5,20 Joh 6,29 Joh 11 Joh 12,1–8 Joh 15,1–8 Apg 1,8 Apg 10.35 Apg 13,41 Apg 16,14f Apg 16,27 Apg 18,1–17 Apg 18,13 Apg 19,25 Röm 6,4 Röm 14,20

27 177–184 14 25 27 127 130 197 17 18, 202–203 18 13 126 31 31 27 31 31 183–187 185–187 209–221 11 28 28 13, 26 28 14 26 27 85 33

1 Kor 4,11–13 1 Kor 4,12 1 Kor 4,15 1 Kor 9 1 Kor 9,1–3 1 Kor 15,10 1 Kor 15,35–37

236–238 24, 33 28 46 239 33 85

2 Kor 11,13

33

Gal 3,28

13

Eph 4,12 Eph 4,28 Eph 5,11

33 34, 247 35

Phil 3,2

27, 32

Kol 2,12 Kol 3,23 Kol 4,13

85 28 25

1 Thess 4,11 1 Thess 4,11f.

33 235–239

2 Thess 3,10 2 Thess 4,11

33, 243 16

1 Tim 2,10

33

2 Tim 4,18

35

Off 18,1–24

264f