Worauf es ankommt: Derek Parfits praktische Philosophie in der Diskussion 9783787331482, 9783787331475

Worauf kommt es letztlich an – und kommt es überhaupt auf etwas an? Diese Grundfrage der praktischen Philosophie bildet

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Worauf es ankommt: Derek Parfits praktische Philosophie in der Diskussion
 9783787331482, 9783787331475

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W   orauf es ankommt

Derek Parfits praktische Philosophie in der Diskussion Matthias Hoesch, Sebastian Muders, Markus Rüther (Hg.)

Meiner

Matthias Hoesch, Sebastian Muders, Markus Rüther (Hg.)

Worauf es ankommt Derek Parfits praktische Philosophie in der Diskussion

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3147-5 ISBN eBook: 978-3-7873-3148-2

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2017. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, s­ oweit es nicht §§  53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werk­ druck­­papier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt Matthias Hoesch, Sebastian Muders und Markus Rüther Einführung: Derek Parfits praktische Philosophie in der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Matthias Hoesch und Martin Sticker Parfit über Kantianismus und Konsequentialismus . . . . . . . . . . . 27 Thomas Pogge Parfit und die Frage, was moralisch falsch ist . . . . . . . . . . . . . . . 63 Peter Schaber Parfit über die Achtung für Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Dieter Birnbacher Instrumentalisierung – Überlegungen im Anschluss an Parfit . . . 91 Johann Frick Zukünftige Personen und Schuld ohne Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Tim Henning Kants Ethik und das Problem der Nicht-Identität . . . . . . . . . . . . . 147 Peter Stemmer Welche Tatsachen sind Gründe? Zu Parfits On What Matters . . . . 171 Ulla Wessels Warum das Vermeiden von Schmerzen zählt . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Gerhard Ernst Parfit über epistemische Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Annette Dufner Prioritaristischer Konsequentialismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Sebastian Muders und Markus Rüther Was ist falsch an ontologisch robusten Tatsachen? Einige Bemer­kungen zu Derek Parfits nicht-realistischem ­Kognitivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Derek Parfit Erwiderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 1. Kants Universalisierungsformel Erwiderungen auf Pogge, Hoesch und Sticker . . . . . . . . . . . . . 295 2. Kants Menschheitsformel Erwiderungen auf Schaber und Birnbacher . . . . . . . . . . . . . . . 313 3. Kants Formeln, zukünftige Menschen und das Problem der Nicht-Identität Erwiderungen auf Frick und Henning . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 4. Praktische Gründe Erwiderungen auf Stemmer und Wessels . . . . . . . . . . . . . . . . 342 5. Epistemische Gründe Erwiderung auf Ernst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 6. Gleichheit und Vorrangigkeit Erwiderung auf Dufner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 7. Metaphysischer Non-Naturalismus Erwiderung auf Muders und Rüther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396

6  |  Inhalt

Matthias Hoesch , Sebastian Muders und Markus Rüther

Einführung: Derek Parfits praktische Philosophie in der Diskussion Derek Parfit (1942–2017) hat mit seinen Thesen zur personalen Identität, zum Prioritarismus, zur Populationsethik und zur Frage nach Pflichten gegenüber kommenden Generationen die philosophischen Debatten über Jahrzehnte hinweg geprägt. Hat sein Buch Reasons and Persons (1984) insbesondere aufgrund der These von der Bedeutungslosigkeit der personalen Identität Berühmtheit erlangt, steht sein opus magnum On What Matters (Bde. 1 und 2: 2011; Bd. 3: 2017) einerseits im Zeichen der Versöhnung von Kantianismus, Kontraktualismus und Konsequentialismus, andererseits für eine Verteidigung einer objektivistischen Metaethik. Parfit hat sich vor allem in der praktischen Philosophie ausführlich mit Themen auseinandergesetzt, die im deutschsprachigen Raum rege diskutiert werden – allen voran natürlich die Frage nach der Überzeugungskraft des Kantianismus, einschließlich des Verbots, Personen bloß als Mittel zu gebrauchen, das in Deutschland mehr oder weniger Verfassungsrang genießt. Aber auch für viele weitere deutschsprachige Debatten von der Metaethik bis zur Angewandten Ethik (insbesondere der Klimaethik) sind Parfits Thesen höchst relevant. Die Idee des vorliegenden Bandes war, Parfit mit deutschsprachigen Autoren ins Gespräch zu bringen und auf diese Weise sowohl zur Rezeption Parfits in Deutschland beizutragen als auch Parfit mit Positionen bekannt zu machen, auf die er in der englischsprachigen Debatte möglicherweise nicht gestoßen wäre. Parfit hat kurz vor seinem Tod ausführliche Erwiderungen verfasst und ist mit allen Autoren in Austausch getreten, um Missverständnisse auszuräumen und die Konfliktlinien möglichst genau benennen zu können. Der Band spiegelt daher in den Beiträgen wie in den Erwiderungen lebhafte Kontroversen wider, die die Anschlussfähigkeit der Thesen Parfits an zahlreiche wichtige Fragestellungen eindrucksvoll dokumentieren.   |  7

An dieser Stelle möchten wir auf eine ausführliche Einführung in Parfits philosophisches Œuvre verzichten, die wir andernorts ­bereits vorgelegt haben.1 Stattdessen sollen einige einleitende Worte zu jedem Themenschwerpunkt genügen, um deutlich zu machen, an welchen der Thesen Parfits die Beiträge dieses Bandes jeweils ansetzen. Daran anschließend werden jeweils die Beiträge selbst in den Fokus gerückt und deren Kernthesen erläutert.

1.  Kants Universalisierungsformel Parfit verfolgt in On What Matters (OWM) das anspruchsvolle Ziel, die Vereinbarkeit dreier großer Moraltheorien nachzuweisen, die in der Gegenwart besonders einflussreich sind. Kantianismus, Kontraktualismus und Konsequentialismus besteigen demnach den ›Berg‹ der ethischen Theoriebildung von unterschiedlichen Seiten, treffen sich aber am Gipfel dieses Berges, denn alle Theorien münden, wenn sie bis zu ihrer plausibelsten Fassung ausgearbeitet werden, in ein und dasselbe Set an Moralprinzipien. Laut der sogenannten Triple Theory gilt: Eine Handlung ist genau dann falsch, wenn solche Handlungen von einem Prinzip verboten werden, das



(1) zu denjenigen Prinzipien gehört, die den besten Weltverlauf herbeiführen würden, wenn sie allgemeine Gesetze wären,



(2) zu den einzigen Prinzipien gehört, von denen jeder wollen kann, dass sie allgemeine Gesetze werden, und das



(3) niemand vernünftigerweise zurückweisen kann.2

Auf dem Weg, zu diesem Zweck Kantianismus und Konsequentialismus miteinander zu versöhnen, muss Parfit die Ethik Kants in verschiedener Hinsicht modifizieren. Dabei verfolgt er nicht allein das Ziel, diejenige Version des Kantianismus zu identifizieren, die am besten mit konsequentialistischen Theorien vereinbar ist, 1 Hoesch/Muders/Rüther 2 OWM

2017. I, 412 f. (Übers.: Hg.).

8  |  M. Hoesch, S. Muders und M. Rüther 

sondern er möchte zugleich die plausibelste Fassung des Kantianismus identifizieren – eine Fassung also, die im Testverfahren seiner berühmten Gedankenexperimente nicht oder möglichst selten zu kontraintuitiven Ergebnissen führt. Wenngleich Parfit Kant als einen der größten Philosophen überhaupt einstuft und ihm »viele originelle und fruchtbare Ideen«3 zugesteht, ist seine Annäherung daher vergleichsweise kritisch gehalten. Wichtige Modifikationen der kantischen Theorie beziehen sich auf die Universalisierungsformel des Kategorischen Imperativs, die Parfit als besten Kandidaten für ein oberstes Moralprinzip ansieht. Damit setzt er einen Kontrapunkt zur Kant-Forschung der letzten Jahre, die sich viel stärker auf die Selbstzweckformel konzentrierte.4 Parfits Modifikationen zielen vor allem auf vier Aspekte: Erstens möchte er Kants Idee fallenlassen, dass mit der Universalisierungsformel unter anderem geprüft wird, ob Maximen als allgemeines Gesetz gedacht werden können. Kant zufolge führt die Verallgemeinerung bestimmter Maximen nämlich zu logischen Widersprüchen. Stattdessen geht es Parfit nur um Kants zweite Art der Maximenprüfung anhand der Universalisierungsformel, nämlich um die Frage, ob wir die fraglichen Maximen als allgemeines Gesetz rationalerweise wollen können. Damit verbunden ist zweitens, dass entgegen einer Position, die Kant zumindest stellenweise vertritt, angenommen werden muss, dass manche Tatsachen über die Welt in objektiver Weise für oder gegen etwas sprechen. Mit anderen Worten: Es muss normative Gründe geben, die nicht allein in Wünschen oder Präferenzen von Subjekten wurzeln. Gäbe es diese nicht, dann hätten wir keine stimmige Basis, auf der aufbauend wir beurteilen könnten, ob etwas ratio­nalerweise gewollt werden kann. Drittens führt der Wegfall der kantischen Idee, dass manche Maximen nicht einmal als allgemeines Gesetz gedacht werden können, letztlich dazu, dass der kantische Vorrang sogenannter ›enger‹ Pflichten vor den ›weiten‹ Pflichten nicht länger haltbar ist. Zu diesen engen Pflichten zählte Kant insbesondere absolute Verbote wie »Du sollst nicht lügen!« und »Du sollst nicht stehlen!«. In manchen 3 OWM

I, xiii. (Übers.: Hg.).

4 Paradigmatisch

etwa Wood 2008.

Einführung: Derek Parfits praktische Philosophie in der Diskussion  |  9

gegenwärtigen Formen des Kantianismus wird mit einem ähnlichen Anspruch vertreten, dass Verletzungen der Menschenwürde einen solchen absoluten Vorrang vor anderen moralischen Erwägungen haben. Da Parfit die kantische Hierarchie von zwei Pflichttypen zurückweist, die sich aus den zwei verschiedenen Anwendungsweisen des Kategorischen Imperativs ergibt, muss er auf andere Weise rekonstruieren, ob und warum solche moralischen Überzeugungen plausibel sein könnten. Viertens bringt Parfit mehrere Argumente gegen den im Kate­ gorischen Imperativ verwendeten Begriff der Maxime vor. Statt Maximen zu prüfen, sollten Handlungstypen mit ihren moralisch relevanten Eigenschaften beschrieben und dann geprüft werden, ob man wollen kann, dass jeder in entsprechenden Situationen Handlungen solchen Typs ausführt. Der Beitrag von Matthias Hoesch und Martin Sticker thematisiert – nach einer systematischen Rekonstruktion von Parfits Gedankengang, die den Aufbau von On What Matters stellenweise bewusst verlässt – den dritten und den vierten Aspekt. Die Autoren argumentieren, dass eine Moraltheorie, die ohne die Evaluierung von Maximen auskommt, bestimmte moralische Phänomene nicht erklären kann – etwa warum wir jemanden dafür verurteilen, etwas Erlaubtes aus falschen Gründen getan zu haben. Parfits Einwänden gegen den Maximenbegriff könne man dagegen Rechnung tragen, ohne auf diesen Begriff gänzlich zu verzichten. Im Hinblick auf absolute Verbote zielt die Argumentation von Hoesch und Sticker auf den Nachweis, dass Parfit die in den normativen Intuitionen tief verankerten Vorstellungen über den Schutz der Menschenwürde mit seiner Variante des Kantianismus nicht plausibel rekonstruieren kann. In Parfits Theorie hängt die Gültigkeit von relativ robusten Verboten, die sich im Rahmen der Theorie durchaus begründen lassen, demnach an empirischen Annahmen über die langfristigen Folgen der allgemeinen Befolgung bestimmter Regeln. Selbst wenn diese empirischen Annahmen in der Realität zuträfen,, wären viele nicht bereit, ihre moralischen Intuitionen abzulegen, wenn in Gedankenexperimenten solche empirischen Annahmen minimal verändert werden. Es seien aber Weiterentwicklungen der Theorie Parfits denkbar, die solchen Intuitionen besser Rechnung tragen könnten. 10  |  M. Hoesch, S. Muders und M. Rüther 

Thomas Pogges Beitrag nimmt bestimmte Folgen des vierten Aspektes in den Blick. Parfit möchte einzelne Handlungen (Pogge spricht von »Handlungstokens«) in moralisch richtige und mora­ lisch falsche unterteilen. Dazu muss er in irgendeiner Weise Handlungstypen klassifizieren, zu denen dann bestimmte konkrete Handlungen zählen. Kants Weg, solche Handlungstypen zu definieren, verläuft laut Pogge über den Maximenbegriff. Diesen Weg weist Parfit aber zurück. Daher muss Parfit an dessen Stelle eine von drei anderen Möglichkeiten aufgreifen: Er könnte sich erstens auf die Beschreibung des Handelnden berufen, also darauf, wie der Handelnde selbst seine Intentionen angibt. Es sei jedoch nicht klar, ob der Akteur diesbezüglich zu einer eindeutigen Formulierung kommen kann. Zweitens könnte er sich auf einzelne Moralprinzipien mittlerer Ebene beziehen. Hier bliebe aber unklar, ob diese Moralprinzipien, die sich für verschiedenste Situationen formulieren lassen, zusammengenommen ein konsistentes Moralsystem ergäben. Drittens könnte sich Parfit auf ein Moralsystem im Ganzen beziehen, also auf ein Set von Moralprinzipien mittlerer Ebene, die gemeinsam sämtliche Handlungs­ situationen abdecken. Einerseits sei jedoch offen, ob sich ein solches Set überhaupt ausbuchstabieren und bewerten ließe, und andererseits könnte es – entgegen Parfits Andeutungen – wünschenswert sein, dass verschiedene Menschen unterschiedliche Moralsysteme entwickeln würden. Welchen dieser drei Wege Parfit auch immer einschlagen möchte, um Handlungstypen zu klassifizieren: In jedem Falle müsse er seine Strategie offenlegen und die damit verbundenen Fragen klären.

2.  Kants Menschheitsformel Im zweiten, »Principles« überschriebenen Teil von OWM diskutiert Parfit die von ihm als »Menschheitsformel« (Formula of Humanity) bezeichnete Fassung des Kategorischen Imperativs, auf die sich Forscher im deutschen Sprachraum auch häufig unter dem Namen »Zweck-an-sich-Formel« oder »Selbstzweckformel« beziehen.5 5 Siehe

etwa Höffe 2010, Römp 2005 oder Schönecker/Wood 2011.

Einführung: Derek Parfits praktische Philosophie in der Diskussion  |  11

Diese Formel stellt folgendes Prinzip zur Beurteilung der Moralität unserer Handlungen auf: Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.6

In seiner näheren Analyse dieses Prinzips konzentriert Parfit sich in Kapitel acht und neun von OWM zunächst auf die Frage, was es genau heißt, andere Personen »niemals bloß als Mittel« zu gebrauchen, und welche Rolle hierbei die eigene oder fremde, aktuale oder nur hypothetisch gegebene »vernünftige Zustimmung« (rational consent) spielen könnte. Sodann wendet er sich dem von Kant im Zusammenhang mit der Zweck-an-sich-Formel eingeführten Begriff der Achtung zu. Kant schreibt: Vernünftige Wesen [werden] Personen genannt [...], weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin so fern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist).7

Der von verschiedenen Philosophen unterbreitete Vorschlag, dass die Zweck-an-sich-Formel uns schlichtweg gebietet, andere Menschen zu achten, wird von Parfit als wenig hilfreich zurückgewiesen: Hierbei verschiebe sich lediglich die Frage, was es heißt, andere nicht bloß als Mittel zu behandeln, zur Frage, was es im Einzelnen erfordert sei, damit man andere mit Achtung behandle. Demgegenüber schlägt Parfit vor, dass die Achtung vor Personen darin besteht, sie selbst als wertvoll zu behandeln. Das sei nicht damit zu verwechseln, sie in einen Zustand zu bringen, der gut für sie ist oder gut an sich; vielmehr gelte es, sie in einer Weise zu behandeln, der sie selbst zustimmen könnten, weil sie entweder Gründe dafür haben oder das selbst so wollen. An dieser Stelle setzt der Beitrag von Peter Schaber an. Er hebt den Gegensatz hervor zwischen dem, was jemand aus guten Gründen will, und dem, was er schlechthin will. Beides müsse nicht miteinander übereinstimmen: So könnte etwa jemand für ein geplantes Projekt überhaupt keine Gründe haben; dennoch wäre es respektlos 6 GMS, 7 Ebd.,

AA 04, 429. 428.

12  |  M. Hoesch, S. Muders und M. Rüther 

und nicht mit der ihm geschuldeten Achtung zu vereinbaren, wenn man diese Person davon abhielte, ihr Projekt zu verfolgen, etwa weil man der Auffassung sei, dessen Nichtverfolgen wäre besser für sie. Umgekehrt könnte es in einem analogen Fall Gründe geben, einer Person bei einem für sie wichtigen Projekt beizustehen, etwa weil dadurch dessen Erfolgsaussichten stiegen; dennoch würde man wiederum diese Person nicht als Person achten, wenn man ihr unabhängig von ihrer Bitte oder ihrem Wunsch um Hilfe diese einfach aufzwingen würde. Statt wie Parfit den Wert der Person ins Zen­ trum zu stellen, betont Schaber deren normative Autorität: »Achtung vor Personen bedeutet, ihre normative Autorität zu achten. Es ist die Ausübung der normativen Autorität, die Personen haben, die bestimmt, was man mit ihnen tun und nicht tun darf.« (S. 86 f.) Auch Dieter Birnbachers Beitrag ist Parfits Diskussion der kantischen Phrase »bloß als Mittel« gewidmet. Allerdings bezieht Birnbacher die Argumentation Parfits auf die gegenwärtigen Debatten um den Begriff der Instrumentalisierung. Sowohl im geltenden Recht als auch in der Angewandten Ethik sei dieser Begriff nämlich der gebräuchlichere, ohne dass bislang ausreichend konzeptuelle Arbeit geleistet worden wäre. Birnbacher erwägt vier Kriterien, die zur Bestimmung des Instrumentalisierungsbegriffs in Frage kommen: Die Handlung muss intentional auf die instrumentalisierte Person gerichtet sein; sie muss unfreiwillig, also ohne Zustimmung des Instrumentalisierten, erfolgen; sie muss mit einem Schaden für den Instrumentalisierten verbunden sein; und der Zweck der Instru­mentalisierung muss außerhalb der instrumentalisierten Person liegen. Im weiteren Verlauf zeigt Birnbacher anhand von Parfits Gedankenexperimenten, dass nur drei dieser Bedingungen haltbar sind; die Schadensbedingung erweist sich als falsch. Birnbachers entscheidendes Beispiel, das er von Parfit übernimmt und leicht modifiziert, ist eine Person, die sich einer anderen Person gegenüber äußerst zuvorkommend verhält, allerdings nur, um als ihr Erbe eingesetzt zu werden: Obwohl es kein Schaden ist, zuvorkommend behandelt zu werden, liegt hier eine Instrumentalisierung vor. Aus Parfits Argumentation zieht Birnbacher weiterhin den Schluss, dass Instrumentalisierung in Graden auftrete und keinesfalls jede Instru­mentalisierung eine Menschenwürdeverletzung darstelle.

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3. Künftige Menschen und das Problem der Nicht-Identität Intuitiv erscheint klar, dass wir so handeln sollten, dass es kommenden Generationen möglichst gut geht. Doch bei näherem Hinsehen verbirgt sich hier ein schwieriges Problem, das Parfit in Reasons and Persons wirkmächtig aufgedeckt hat. Entscheiden wir uns beispielweise für eine Maßnahme, die das Wohlergehen künftiger Generationen befördern soll, so hat dies Auswirkungen auf unser Leben. Setzen wir beispielsweise Regeln in Kraft, die den CO2-Ausstoß von Autos reduzieren sollen, so werden die meisten Menschen seltener zur Tankstelle fahren, und ihr Tagesablauf wird sich dadurch geringfügig ändern. Dadurch werden sich aber auch die genauen Zeitpunkte und Umstände verschieben, zu denen Menschen Geschlechtsverkehr haben, und infolgedessen werden sich im Fall einer Befruchtung andere Spermien durchsetzen. Das bedeutet, dass banale Änderungen unserer Lebensgewohnheiten, die durch eine politische Maßnahme hervorgerufen werden, dazu führen, dass innerhalb weniger Generationen ganz andere Menschen existieren als diejenigen, die existiert hätten, wenn wir die fragliche Maßnahme nicht umgesetzt hätten. Daraus ergibt sich folgendes Problem: Angenommen, wir stehen vor der Frage, ob wir mit Klimaschutzmaßnahmen die Lebensqualität künftiger Generationen verbessern wollen. Wenn wir uns für diese Maßnahmen entscheiden, werden ganz andere Menschen existieren als in dem Fall, in dem wir uns gegen die Maßnahmen entscheiden. Gegenüber den Menschen, die existieren werden, wird deshalb mit keiner Handlungsoption eine Pflicht verletzt; denn ihr Wohlergehen wird – soweit das von uns abhängt – absurderweise in jedem Fall durch unsere Handlung maximiert: Mit jeder Entscheidung für eine andere Handlungsoption würden sie gar nicht existieren. Das Problem ließe sich einfach lösen, indem angenommen wird, dass die Moral unter anderem von uns fordert, uns dafür einzusetzen, dass es Menschen gibt, denen es möglichst gut geht. Dies bedeutet aber laut Parfit, dass eine Moraltheorie nicht lediglich auf (berechtigte) Ansprüche von Personen aufgebaut werden kann – was für viele Theoretiker bislang aber selbstverständlich war. Nach einer ver14  |  M. Hoesch, S. Muders und M. Rüther 

breiteten Ansicht muss nämlich bei jeder moralisch falschen Handlung eine Person betroffen sein, indem sie geschädigt wird oder ihr Unrecht geschieht. Parfit nennt das die Per­so­nen-­betreffende Posi­ tion (Person Affecting View). Das Problem der Nicht-Identität ist ein Argument gegen diese Position, da es zu zeigen scheint, dass es moralisch falsche Handlungen gibt, die niemanden schlechter ­stellen. Johann Frick untersucht in seinem Beitrag das Problem der Nicht-Identität an dem realen Beispiel einer tauben Mutter, die sich im Rahmen einer Samenspende bewusst für eine Spende entschieden hat, die die Wahrscheinlichkeit maximiert, dass ihr Kind ebenfalls taub sein wird. Hier gilt, analog zu dem Fall der Klimaschutzmaßnahme: Hätte sich die Mutter dafür entschieden, nach Möglichkeit ein gesundes Kind zu gebären, dann wäre ein anderes Kind zur Welt gekommen. Frick weist anhand des Beispiels zwei in der Literatur vertretene Strategien zurück, die Personen-betreffende Position gegen das Problem der Nicht-Identität zu verteidigen – wobei er die Personen-betreffende Position auf die These beschränkt, dass bei jeder moralisch falschen Handlung einer Person Unrecht getan werden muss. Nach der ersten Strategie wird der Begriff der Schädigung nicht in dem Sinn relational verstanden, dass im Schädigungsfall eine Person schlechter gestellt ist, als sie es andernfalls gewesen wäre, sondern so verstanden, dass eine Schädigung immer dann vorliegt, wenn eine Handlung bewirkt, dass eine Person sich in einem schlechten Zustand befindet. Frick argumentiert, mit einer solchen Schädigung sei nicht notwendigerweise verbunden, dass der betroffenen Person ein Unrecht geschieht. Laut der zweiten Strategie ist das Moment der Schädigung dagegen gar nicht entscheidend für die zur Debatte stehende Frage, weil es Fälle gibt, in denen ein Unrecht vorliegt, obwohl kein Schaden, sondern ein Nutzen entstanden ist. Man könnte daher argumentieren, dass die Mutter das Recht auf Gesundheit verletzt, das ihrem Kind zukommt, indem sie dessen Taubheit intendiert. Frick weist dieses Argument zurück, indem er die These einführt, eine Person könne nur dann ein Recht auf etwas haben, wenn sie unter manchen Umständen rationalerweise wünschen kann, dass dieses Recht nicht verletzt wird. Im Fall des tauben Kindes sei dies nicht der Fall: Da das taube Kind ein lebenswertes Leben führt, kann es nicht rationalerweise wünschen, Einführung: Derek Parfits praktische Philosophie in der Diskussion  |  15

nicht zu existieren. Die einzige Möglichkeit, sein Recht auf Gesundheit nicht zu verletzten, bestünde aber darin, es nicht zur Existenz zu bringen. Man könne daher nicht sinnvoll sagen, das taube Kind habe im relevanten Sinn ein Recht auf Gesundheit. Tim Henning stellt in seinem Beitrag das Problem der NichtIdentität dagegen in den Kontext einer kantischen Ethik. Die Zurückweisung der Personen-betreffenden Position kann insbesondere als Kritik an bestimmten Formen des Kantianismus aufgefasst werden, die Moral als Wechselverhältnis von Ansprüchen zwischen Personen zu rekonstruieren suchen. Henning möchte vor diesem Hintergrund zeigen, dass Kantianer zum Problem der Nicht-Identität mehr sagen können, als Parfit bislang angenommen hat. Dazu führt er zunächst eine Lesart der kantischen Ethik ein, der zufolge sich Universalisierungsformel und Selbstzweckformel wechselseitig ergänzen. Die Frage, ob eine Maxime ein allgemeines Gesetz sein kann, sei demnach nichts anderes als eine »Sorge um die gleichen Entscheidungsmöglichkeiten aller Vernunftwesen« (S. 152). Daraus folge, dass jemand schon dann »bloß als Mittel« behandelt werde, wenn sein Wohlergehen bei einer Handlungsalternative in die Entscheidungsfindung nicht mit einbezogen werde. Darauf aufbauend argumentiert Henning, dass sich Personen, die ihr Verhalten nicht an den Belangen künftiger Personen ausrichten, gemäß dieser Kant-Lesart in einigen Fällen gegenüber den künftig lebenden Personen in einer Hinsicht falsch verhalten: Wer aus egoistischen Motiven dafür sorge, dass bestimmte Menschen existieren werden (und nicht andere, denen es deutlich besser ginge), der schädige die tatsächlichen Existierenden zwar nicht, aber er tue ihnen doch Unrecht, weil ihm ihr Wohlergehen egal sei; er behandele sie nicht als Zwecke an sich selbst. Innerhalb des Kantianismus könne daher rekonstruiert werden, dass in Beispielfällen wie dem Klimawandel oder dem bewussten Zeugen eines behinderten Kindes durchaus eine bestimmte Form von Unrecht vorliegen kann. Besonders deutlich werde dies, wenn den Akteuren das Problem der Nicht-Identität nicht bewusst ist: Wer davon ausgehe, dass er durch sein Verhalten dieselben künftigen Menschen besser oder schlechter stellt, und sich für das schlechtere Verhalten entscheidet, der beweise Rücksichtslosigkeit gegenüber den künftigen Menschen, auch wenn seine Annahme falsch ist. 16  |  M. Hoesch, S. Muders und M. Rüther 

4.  Praktische Gründe Wie oben gesehen, beinhaltet die Triple Theory, dass wir den Prinzipien folgen sollten, die den besten Weltverlauf herbeiführen würden; von denen jedermann wollen könnte, dass sie allgemeine Gesetze würden; und die von niemandem vernünftigerweise zurückgewiesen werden könnten. Um jedoch zu wissen, welche Prinzipien den in der Triple Theory formulierten Bedingungen genügen, müssen wir wissen, von welchen Zuständen oder Weltverläufen wir Grund haben zu wollen, dass sie durch die fraglichen Moralprinzipien herbeigeführt werden. Was aber sind das für Gründe? Parfit zufolge ist diese fundamentale Frage bislang zu wenig diskutiert worden,8 und er widmet ihr daher im ersten Teil von OWM mehrere Kapitel. Zwei Gruppen von Theorien über praktische Gründe lassen sich demnach unterscheiden: der Subjektivismus einerseits und der Objektivismus andererseits. Den Subjektivisten zufolge sind Gründe in der einen oder anderen Weise auf unsere Wünsche oder Ziele zurückführbar: Wir haben einen Grund, etwas Bestimmtes zu tun oder zu erhoffen, weil wir ein Ziel haben, das wir damit erreichen können, oder uns damit einen Wunsch erfüllen können. Viele Subjektivisten beziehen sich dabei nicht auf unsere tatsächlichen Wünsche und Ziele, sondern auf Wünschen und Ziele, die wir hätten, wenn wir über die relevanten Informationen verfügten. Objektivisten dagegen glauben, dass es Tatsachen gibt, die uns Gründe liefern, bestimmte Wünsche und Ziele zu haben und das zu tun, was diese Wünsche und Ziele erfüllen würde. Dieser Position zufolge werden Gründe ausschließlich von Tatsachen über die Objekte der Wünsche konstituiert und nicht von der Tatsache, dass jemand diese Wünsche hat.9 Parfit selbst verteidigt eine objektivistische Theorie der Gründe: Die Tatsache, dass eine Kochplatte kochend heiß ist und mir bei Berührung heftige Schmerzen zufügen würde, gibt mir dieser Position zufolge einen Grund dafür, sie nicht anzufassen. Demgegenüber würde ein Subjektivist behaupten, dass umgekehrt erst mein Wunsch oder mein Wollen, heftige Schmerzen zu vermeiden, mir 8 Vgl. 9 Vgl.

OWM I, 37 bzw. Parfit 2017, 147. OWM I, 45 bzw. Parfit 2017, 157 f.

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den Grund dafür liefert, die glühend heiße Kochplatte nicht anzufassen. Wie Parfit selbst anmerkt, ist der Gründe-Subjektivismus gegenwärtig in der praktischen Philosophie die dominante Strömung.10 Peter Stemmer, der im deutschen Sprachraum als einer der profiliertesten Verteidiger einer subjektivistischen Theorie der Normativität gelten kann, konfrontiert Parfit in seinem Beitrag mit einer neo-humeanischen Variante des Subjektivismus. Etwas ist dieser Variante zufolge nur dann und so lange ein Grund für jemanden, wenn und solange nicht-normative Tatsachen einen motivationalen Bezug auf das Wollen dieser Person aufweisen. Ausgehend von dieser subjektivistischen Konzeption von Gründen kritisiert Stemmer Parfits Ansatz auf dreierlei Weise. Erstens sei es contra Parfit nicht erforderlich anzunehmen, dass ein Wollen selbst zusätzliche Bedingungen erfüllen müsse, damit gemeinsam mit ihm entsprechenden Tatsachen ein normatives Müssen entstehe. Stemmer nennt hierzu eine Reihe von Beispielen für Wollenseinstellungen, die keiner weiteren Begründungen bedürften, um uns einzuleuchten. Als wichtigsten Fall führt er unseren Wunsch weiterzuleben an, der aus zwei Gründen besonders hervorsteche: Zum einen sei es ein Wunsch, der universal von allen Menschen geteilt werde; und zum anderen könne dieser Wunsch eine Vielzahl von Gründen einsichtig machen, die wir im alltäglichen Leben verfolgten. Zweitens müssten die vermeintlich zusätzlichen Bedingungen nicht durch andere Tatsachen geliefert werden, die bereits unabhängig von dem Wollen Gründe generieren und dieses darüber anleiten könnten. In diesem Zusammenhang untersucht Stemmer Parfits »meta-hedonische« (meta-hedonic) Gründe, die sich auf dasjenige beziehen, was wir als angenehm oder unangenehm empfinden, als vielversprechendste Kandidaten für Gründe, die von wollensunabhängigen Tatsachen geliefert werden könnten.11 Im Ergebnis lehnt Stemmer diese Idee allerdings ab, da wir es hier nicht mit wirklichen Gründen zu tun hätten, sondern mit einem kausalen Mechanismus, der »genetisch fixiert« (S. 194) sei. 10 Vgl.

OWM I, 57 u. 65 ff.

11 Parfit

bespricht diese Gründe in OWM I, Kap. 6.

18  |  M. Hoesch, S. Muders und M. Rüther 

Drittens sei Parfits eigene objektivistische Auffassung darüber, was Gründe sind, nicht sehr erhellend. Das liege vor allem daran, dass Parfit Gründe-Tatsachen als irreduzibel normativ verstehe. Er  sei so letztlich doch auf eine intuitionistische Position angewiesen, nach der wir bestimmte intellektuelle Einsichten darüber haben, dass bestimmte Sachverhalte praktische Gründe darstellen. Der von Parfit an dieser Stelle gezogene Vergleich mit mathematischen Wahrheiten, die ihm zufolge eine ähnliche Epistemologie und Onto­logie aufwiesen, könne nicht weiterhelfen. Auch Ulla Wessels zählt – wie Stemmer – zu den Subjektivisten in Bezug auf Gründe. Auch für sie ergeben sich die Tatsachen, die uns Gründe liefern, aus einem Wollen, was Wessels in den Begriff des Wunsches einfasst. Dabei kommt es letztlich auf diejenigen Tat­ sachen über Wünsche an, »deren Gegenstände wir um ihrer selbst willen wünschen« (S. 205). Nur indem wir solche Wünsche hegen, haben wir praktische normative Gründe, und zwar unabhängig davon »[w]as die Gegenstände [der Wünsche] auch sein mögen« (ebd.). Eines von Parfits Hauptargumenten gegen den Subjektivismus ist das Argument der Qual. Es besagt: Wir haben alle einen Grund, jegliche zukünftige Qual vermeiden zu wollen und zu versuchen, sie zu vermeiden. Der Subjektivismus impliziert, dass wir keinen solchen Grund haben. Daraus folgt: Der Subjektivismus ist falsch.12

Wessels nennt in ihrem Beitrag zwei Einwände gegen das Argument der Qual. Zum ersten beschränke Parfit sein Argument auf präsentistische Fassungen subjektivistischer Wunschtheorien, denen gemäß uns nur unsere gegenwärtigen Wünsche Gründe liefern. Andere Subjektivisten könnten nun aber auch Tatsachen über zukünftige Wünsche zu den Gründelieferanten zählen. Wenn wir diesen Subjektivisten folgend im Zustand der Qual den Wunsch hätten, sie zu vermeiden, haben wir bereits jetzt einen Grund, die gegenwärtig noch vorausliegende Qual zu vermeiden. Der zweite, für Wessels wichtigere Einwand gegen das Argument der Qual bestreitet Parfits Annahme, präsentistische subjektivisti12 OWM

I, 76 bzw. Parfit 2017, 197 f.

Einführung: Derek Parfits praktische Philosophie in der Diskussion  |  19

sche Theorien implizierten, dass wir keinen Grund hätten, zukünftige Qualen vermeiden zu wollen. Denn dies setze voraus, dass es möglich sei, im Angesicht zukünftiger Qualen ihnen gegenüber indifferent zu bleiben. Das aber sei als begriffliche Wahrheit notwendigerweise gerade nicht möglich – eine Notwendigkeit, die sich für Wessels »aus Überlegungen zur vollständigen Repräsentation von Schmerzen und der affektiven Natur von Wünschen« ergibt (S. 220).

5.  Epistemische Gründe Man kann nicht sagen, dass die Frage nach der Natur von epistemischen Gründen eine der zentralen Fragen ist, der Parfit in seinem philosophischen Werk besonders viel Raum zubilligt. In OWM werden epistemische Gründe und epistemische Rationalität im ersten Band nur am Rande diskutiert, zum Beispiel im Zusammenhang mit seinen allgemeinen Überlegungen zur Gründe-Thematik im ersten Teil von OWM. Methodisch geht Parfit dabei so vor, dass er epistemische und praktische Rationalität miteinander kontrastiert. Parfit zufolge besteht sowohl epistemische als auch praktische Rationalität wesentlich darin, dass man korrekt auf Gründe rea­ giert, so wie sie uns erscheinen. Der grundlegende Unterschied zwischen beiden Formen der Rationalität liegt jedoch darin, dass wir auf (scheinbare) praktische Gründe mit willentlichen Handlungen reagieren, während wir auf (scheinbare) epistemische Gründe unwillkürlich mit Überzeugungen reagieren. Diese Ansicht wird im Beitrag von Gerhard Ernst kritisiert. Ernst diagnostiziert bei Parfit zwei Probleme: Zum einen sei die Art und Weise, wie Parfit zwischen epistemischer und praktischer Ratio­ nali­tät unterscheidet, nicht sonderlich plausibel. Zum anderen müsse die Unterscheidung auch an einem anderen systematischen Ort getroffen werden, als Parfit vorschlägt. Den Ausgangspunkt der Argumentation bildet eine Gegenüberstellung der Parfit’schen Theo­rie mit der von John Broome. In diesem Vergleich werden zwei Merkmale herausgearbeitet, die in Parfits Theorie beide für epistemische Rationalität entscheidend sind: Die auf den Maßstab der Konsistenz abzielende K-Rationalität umfasst das Vermeiden von Widersprüchen, während die R-Rationalität das korrekte Reagieren 20  |  M. Hoesch, S. Muders und M. Rüther 

auf Gründe meint. Dem widerspricht Ernst: Ihm zufolge erfüllt epistemische Rationalität ihren Zweck in der Erweiterung unseres Wissens, für die wir epistemische Gründe nutzen können; wir müssen aber nicht auf diese Gründe reagieren, um in epistemischer Hinsicht rational zu sein. Auf der anderen Seite fordert epistemische Rationalität zwingend von uns, nur Überlegungen anzustellen, die nach der K-Rationalität widerspruchsfrei sind. Anders als Parfit meint, ist demnach nur K-Rationalität, nicht aber R-Rationalität Teil von epistemischer Rationalität. Entsprechend ergibt sich auch ein anderes Bild des Verhältnisses von epistemischer und praktischer Rationalität: Der grundlegende Unterschied liegt mithin nicht zwischen den willentlichen Handlungen, mit denen wir auf praktische Gründe reagieren, und den unwillkürlichen Reaktionen auf epistemische Gründe. Vielmehr geht es bei der praktischen Rationalität um das korrekte Reagieren auf (scheinbare) Gründe und bei der epistemischen Rationalität um das Vermeiden von Widersprüchen.

6.  Gleichheit und Vorrangigkeit Insbesondere an die Diskussion um John Rawls’ A Theory of Justice anknüpfend bildete der Egalitarismus in den 1980er und 1990er Jahren die dominante Strömung der politischen Philosophie, aber auch in der normativen Ethik. Kontrovers war vor allem, in Bezug auf was Gleichheit herzustellen sei: Chancen (wie etwa die Chance auf Bildung), Grundgüter (wie etwa Gesundheit), Ressourcen (wie etwa Geld), Wohlergehen und weitere Möglichkeiten kommen hier in Frage. Dass Gleichheit den Grundbegriff von Gerechtigkeitstheo­ rien bilden sollte, war dagegen weitgehend unstrittig.13 Diese Hintergrundannahme stellt Parfit 1991 im Rahmen der Lindley Lecture in einem Vortrag wirkmächtig in Frage14. Methodisch arbeitet Parfit mit einer Reihe von Gedankenexperimenten, die alle aufzeigen sollen, dass die dem Gleichheitsprinzip verpflichteten Standardauffas13

Vgl. die Belege in Krebs 2000, 11. 14 Veröffentlicht wurde der Text zunächst 1995 als eigenständige Broschüre unter dem Titel »Equality or Priority?« Der geläufige Wiederabdruck der umfangreichen Version ist Parfit 2002 [1995]. Einführung: Derek Parfits praktische Philosophie in der Diskussion  |  21

sungen mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert sind. So sei der ›telische‹ Egalitarist, für den Gleichheit ein erstrebenswerter Zweck an sich darstellt, mit dem »Einwand der Angleichung nach unten« konfrontiert: Vergleichen wir eine Welt, in der die Hälfte der darin lebenden Menschen zwei Augen hat und die andere Hälfte keine Augen, mit einer Welt, in der niemand Augenlicht hat. Wer am intrinsischen Wert der Gleichheit festhält, muss zugestehen, dass diese zweite Welt zwar nicht alles in allem, aber doch in einer Hinsicht besser ist als die andere: Alle Menschen darin sind gleichgestellt. Die Welt würde also (in einer Hinsicht) besser, indem manche Menschen schlechter gestellt wären, es aber niemandem besser ginge. Das sei aber intuitiv unplausibel. Er schlägt daher vor, die weitverbreitete Ansicht, dass der Zustand der Welt durch Gleichverteilung besser werden kann, anders zu erklären: Laut der Vorrangposition bzw. laut dem Prioritarismus gilt, dass ein Zuwachs an Wohlergehen umso wichtiger ist, je schlechter es einer Person geht. Zählt im klassischen utilitaristischen Kalkül jeder Wohlergehenszuwachs gleich viel, ungeachtet der Frage, wer ihn bekommt, gilt nach dem Prioritarismus: Kann das Wohlergehensniveau einer Person, die kaum ihre Grund­bedürf­ nisse befriedigen kann, erhöht werden, so fällt das mehr ins Gewicht, als wenn das Wohlergehen eines Menschen, dem es bereits sehr gut geht, um den gleichen Wert erhöht würde. Diese Position kann erklären, weshalb wir eine Welt, in der alle ein Auge haben, einer Welt vorziehen können, in der manche zwei und andere gar kein Auge haben, ohne auf die unplausible Behauptung festgelegt zu sein, dass eine Angleichung nach unten in irgendeiner Hinsicht einen Gewinn darstellen würde. Annette Dufner diskutiert in ihrem Beitrag die Überzeugungskraft des Prioritarismus, wie er von Parfit vorgeschlagen wird. Ausgangspunkt ihrer Kritik bilden einige Gegenargumente von Michael Otsuka und Alex Voorhoeve. Der von ihnen formulierte Einwand besagt, dass der Prioritarismus als Theorie der Verteilungsgerechtigkeit in Konfliktfällen die widerstreitenden Ansprüche derjenigen Personen ignoriere, die dann am Ende schlechter dastehen als andere. Dieser Einwand wird von Dufner geteilt, wobei sie dessen Geltungsreichweite noch erhöht: So haben Otsuka und Voorhoeve sich in ihrem Beitrag darauf beschränkt, wie sich das von ihnen 22  |  M. Hoesch, S. Muders und M. Rüther 

artikulierte Problem bei Entscheidungen mit Risiko auswirkt. Dabei haben sie nach Dufner übersehen, dass ihr Argument in Fällen mit Gewissheit für Parfit noch viel problematischere Resultate zu Tage fördert. In Fällen mit Risiko, in denen noch nicht klar ist, welche Betroffenen in welche Lage geraten werden, kann der Einwand der Autoren in vielen Fällen mittels eines Hinweises auf prudentielle Kompensation zurückgewiesen werden. Doch die sehr viel einfacheren Fälle mit Gewissheit bleiben in der Tat ein Problem für den Prioritarismus. Das gestehe auch Parfit in einigen neueren Über­ legungen zu, und er biete sogar mehrere Strategien an, wie mit diesem Problem umzugehen sei. Eine überzeugende Lösung, so Dufner, wird darin aber nicht unterbreitet.

7.  Metaphysischer Non-Naturalismus Im sechsten und letzten Teil von OWM präsentiert Parfit seine metaethische Grundlagentheorie. Strategisch nährt er die Plausibilität der eigenen Position ex negativo: In einem ersten Schritt wird das Defizit in den Positionen der alternativen Mitbewerber aufgezeigt, das vor allem darin besteht, das Phänomen der Normativität nicht angemessen zu beschreiben. In einem zweiten Schritt charakterisiert und verteidigt Parfit dann die Merkmale der verbleibenden und von ihm favorisierten Position des nicht-realistischen Kognitivismus. An dieser Stelle möchten wir nur eine kurze Skizze des zweiten Schritts geben.15 Parfits Charakterisierung seiner eigenen Position lautet wie folgt: Wir sind Kognitivisten, aber keine Realisten in Bezug auf Behauptungen einer bestimmten Art, wenn wir annehmen, dass diese Behauptungen wahr sein können, wenngleich sie nicht durch korrekte Beschreibungen oder durch ihre Übereinstimmung mit einem bestimmten Teil der Wirklichkeit wahr gemacht werden. 16 15 Für Parfits Kritik an den konkurrierenden Ansätzen siehe etwa Rüther/

Muders 2014. 16 OWM III, 59 (Übers.: Hg.). Für eine ausführliche Beschreibung von Parfits Position vgl. Muders 2016. Einführung: Derek Parfits praktische Philosophie in der Diskussion  |  23

Parfits Ansicht nach gibt es normative Tatsachen, die jedoch keinen ontologischen »Fußabdruck« in der Wirklichkeit hinterlassen. Damit glaubt er einen Mittelweg zwischen von ihm abgelehnten Posi­ tionen gefunden zu haben: Einerseits kann dem naturalistischen Realismus darin recht gegeben werden, dass unsere normativen Urteile wahr sind. Anders als dieser vermeidet Parfits nicht-realistischer Kognitivismus jedoch die Nachteile des Naturalismus, die dieser sich durch die Annahme auflädt, dass die Urteile allein durch natürliche, nicht-normative Tatsachen wahrgemacht würden. Demgegenüber geht der nicht-realistische Kognitivist von der Irreduzibilität nicht allein unserer normativen Urteile, sondern auch der ihnen zugeordneten Tatsachen aus. Andererseits erkennen nichtrealistische Kognitivisten auch die vom Nicht-Kognitivismus stark gemachte Gefahr an, dadurch einer ontologischen »Wiederverzauberung« der Wirklichkeit in die Hände zu spielen. Anders als die Nicht-Kognitivisten ziehen sie daraus aber nicht die Konsequenz, die Existenz von normativen Tatsachen rundheraus aufzugeben. Stattdessen deutet Parfits nicht-realistischer Kognitivismus den Wahrheitsbegriff deflationistisch: Normative Tatsachen existieren in einem nicht-ontologischen Sinn; ihre Existenz impliziert keine ontologischen Verpflichtungen in dem Sinn, dass derlei Tatsachen unsere Welt »bereichern«.17 Kann diese These überzeugen? Das ist die Ausgangsfrage, an der der Beitrag von Sebastian Muders und Markus Rüther ansetzt. Die Autoren äußern einerseits durchaus Sympathie für Parfits Kritik am Nicht-Kognitivismus und Naturalismus, haben aber andererseits Bedenken, ob die Hinwendung zu einer »Metaethik ohne Ontologie« überzeugen kann. Ihre Argumentationslinie ist zweigeteilt: In einem ersten Schritt wird Parfits eigene Position genauer analysiert. Hierbei argumentieren Muders und Rüther, dass die von Parfit in Anspruch genommenen Kriterien nicht hinreichend sind, um die Trennung von ontologisch robusten und »ontologiefreien« Tatsachen durchzuführen. Was könnte dann aber Parfit noch dazu bewegen, die ontologische »Schwergewichtigkeit« von Tatsachen abzuweisen? – In einem zweiten Schritt untersuchen Muders und Rüther 17 Für

eine genauere Analyse, was Parfit darunter versteht und entsprechend seiner Theorie verstehen kann, vgl. Rüther 2016. 24  |  M. Hoesch, S. Muders und M. Rüther 

einige einflussreiche Einwände gegen eine Position, die bereit ist, derlei ontologischen »Ballast« anzunehmen – den robusten Realismus. Im Ergebnis überzeugen ihrer Ansicht nach weder diejenigen Argumente, die aus Parfits Schriften rekonstruiert werden können, noch diejenigen, die in der gegenwärtigen Forschungsliteratur prominent vorgebracht werden. Es wird daher die Empfehlung ausgesprochen, den nicht-realistischen Kognitivismus zugunsten einer robusten Version des Realismus aufzugeben. * * * Dass dieser Band eine derart vielschichtige und lebhafte Debatte doku­mentieren kann, ist erst durch die Mitwirkung vieler Beteiligter möglich geworden. Wir bedanken uns bei allen Beitragenden für die Bereitschaft, sich mit den Thesen von Derek Parfit zu beschäftigen und ihre Überlegungen – zum Teil in intensiver Auseinandersetzung mit ihm – auf die Probe zu stellen. Dem Zusammenwirken vieler ist es zu verdanken, dass alle Texte letztlich in zwei Sprachen vorliegen konnten. Insbesondere bedanken wir uns bei Nadine Mooren und Lars Kiesling für die Übersetzung der Erwiderungen Parfits, aber auch bei allen anderen, die an Übersetzungen der Beiträge beteiligt waren. Finanziell möglich wurde der Band durch die Unterstützung des Universitären Forschungsschwerpunkts Ethik, der am Ethik-Zentrum der Universität Zürich angesiedelt war; der Kollegforschergruppe »Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik« sowie dem Exzellenzcluster »Religion und Politik« der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Unser größter Dank gilt jedoch Derek Parfit selbst. Seit den ersten Überlegungen zu diesem Projekt im Jahr 2012 hat er uns wohlwollend unterstützt, und seine umfangreichen Erwiderungen auf die Beiträge sind teils das Resultat einer ausführlichen E-Mail-Korrespondenz mit den Beitragenden. Sein plötzlicher Tod im Januar 2017 hat uns tief getroffen. Dieser Band wird hoffentlich dazu beitragen, dass Derek Parfits Thesen noch lange Zeit Beachtung finden werden.

Einführung: Derek Parfits praktische Philosophie in der Diskussion  |  25

Matthias Hoesch und Martin Sticker

Parfit über Kantianismus und ­Konsequentialismus Mit der Metapher »climbing the mountain« beschreibt Parfit in seinem Monumentalwerk On What Matters die Idee, dass sich drei der wichtigsten Typen ethischer Theorien – Kantianismus, Kontraktualismus und Konsequentialismus – durch die Suche nach ihrer jeweils plausibelsten Ausarbeitung aneinander annähern und sich schließlich auf dem Gipfel desselben Berges treffen, den sie von unterschiedlichen Seiten aus bestiegen haben. Parfits Unternehmen liegt die optimistische Annahme zu Grunde, dass sich eine normative Theorie formulieren lässt, die die jeweils besten Elemente der verschiedenen Theorietypen in eine einzige, einheitliche Moralphilosophie integriert und von den Verfechtern all dieser unterschiedlichen Theorietypen akzeptiert werden kann. Diese vereinheitlichte Theorie ist die Triple Theory, der zufolge gilt: An act is wrong just when such acts are disallowed by some principle that is optimific, uniquely universally willable, and not reasonably rejectable (OWM I, 413).

Parfits damit verbundener Anspruch, dass Kantianismus und Konsequentialismus auf einer abstrakten Ebene miteinander vereinbar sind, kann als Bestandteil einer anhaltenden Debatte darüber gesehen werden, ob es so etwas wie einen Kantischen Utilitarismus1 geben kann bzw. ob Kant »actually provides support for a form of normative consequentialism«2. Zu zeigen, dass die Wahl zwischen Konsequentialismus und Kant kein strenges ›Entweder-oder‹ darstellt, ist v. a. deshalb ein Desideratum, weil beide Ansätze wichtige Bestandteile unseres alltäglichen Moralverständnisses einfangen. Insofern eine philosophische Theorie darauf abzielt, unserem vortheoretischen Moralverständnis Rechnung zu tragen, wäre es 1 Vgl.

etwa Hare 1993. 1990, 588; vgl. auch 1996.

2 Cummiskey

  |  27

durchaus wünschenswert, dass sie zentrale Elemente von Konsequentialismus und Kantianismus aufnehmen kann. Dieses Unterfangen ist aber mit großen Schwierigkeiten behaftet, führen doch die verschiedenen konsequentialistischen und kantischen Elemente unseres alltäglichen Moralverständnisses zu teils gegensätzlichen moralischen Bewertungen, wie einige der Beispiele aufzeigen, die Parfit diskutiert. Noch relativ unstrittig ist der Fall Lifeboat, in welchem ein Akteur vor die Wahl gestellt ist, entweder eine einzelne Person oder eine Gruppe mit fünf Personen von zwei auseinanderliegenden Felsen im Meer zu retten – im Wissen, dass die steigende Flut nur eine von beiden Optionen zu verwirklichen erlaubt, bevor sie den oder die Verbliebenen ins Meer reißt (vgl. OWM I, 186). Unsere Intuition sagt uns deutlich, dass es besser ist, die größtmögliche Zahl zu retten. Schwieriger sind zwei andere Beispielfälle. Im Fall Tunnel rast eine Straßenbahn führerlos auf einen Tunnel zu, in dem sie fünf Bau­arbeiter überrollen würde. Durch das Umstellen einer Weiche könnte sie in einen anderen Tunnel umgelenkt werden, in dem nur ein einziger Bauarbeiter sein Leben verlöre (vgl. OWM I, 218). Im Fall Bridge könnte eine führerlos den Abhang hinunter rasende Straßenbahn nur gestoppt werden, indem eine unbeteiligte Person von einer Brücke auf die Schienen gestoßen würde – andernfalls würde die Straßenbahn fünf Personen überrollen (vgl. OWM I, 186). Während in Lifeboat der Tod des Einzelnen lediglich in Kauf genommen wird, ist er in Tunnel eine vorhersehbare, wenn auch nicht intendierte Folge des Umstellens der Weiche; in Bridge ist der Unbeteiligte sogar das Mittel selbst, mit dem die anderen gerettet werden. Parfit gesteht zu, dass unsere Intuitionen in solchen Fällen auseinandergehen: Einige würden denken, in Tunnel wäre das Umstellen der Weiche moralisch falsch; und bzgl. Bridge würde vermutlich eine Mehrheit glauben, dass der Unbeteiligte nicht gegen seinen Willen als Mittel benutzt werden darf. Offenbar gibt es eine Spannung zwischen dem konsequentialistischen Gebot, große Übel abzuwenden, und dem ›kantischen‹ Verbot, jemanden als bloßes Mittel zu benutzen, sogar wenn dies zur Rettung dritter dient. Wie diese Beispiele bereits andeuten, ist der Versuch einer Vereinigung von Kantianismus und Konsequentialismus einigen Hürden ausgesetzt. In Abschnitt 1 identifizieren und diskutieren wir fünf 28  |  Matthias Hoesch und Martin Sticker 

solcher Hürden. Der Abschnitt 2 soll dann klären, wie Parfit diese jeweils zu meistern sucht. Im Abschnitt 3 wird schließlich diskutiert, was aus unserer Sicht die zwei größten Probleme sind, mit denen Parfits Versuch der Versöhnung von Kantianismus und Konsequentialismus konfrontiert bleibt. Zwei Bemerkungen sollen vorangestellt werden. Zunächst fällt auf, dass Parfit ein sehr breites Verständnis des Konsequentialismus voraussetzt. Eine Theorie sei konsequentialistisch, wenn die moralische Richtigkeit von Handlungen ausschließlich davon abhängt, wie die Dinge ihren bestmöglichen Verlauf nehmen3. Der Ausdruck ›Konsequentialismus‹ ist laut Parfit irreführend, weil er nahelegt, dass nur Konsequenzen zählen. Parfit geht dagegen davon aus, dass der Konsequentialismus sowohl die Verteilung von Konsequenzen als auch den moralischen Status von Handlungen selbst berücksichtigen kann, wenn diese Handlungen intrinsisch4 gut oder schlecht sind. Wenn wir wissen wollen, wann die Dinge ihren bestmöglichen Verlauf nehmen, fragen wir laut Parfit, was zu erhoffen von einem unparteiischen Standpunkt aus jeder die stärksten Gründe hat (vgl. OWM I, 374). Damit kann Parfit einige der Standardeinwände gegen den Konsequentialismus von Anfang an aushebeln; man denke etwa an den Einwand, dass der Konsequentialismus der gerechten Verteilung von Gütern nicht ausreichend Rechnung tragen kann. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass Parfit keine Kant-Exegese betreiben möchte. Sein Ziel ist, Kants Theorie so zu revidieren, dass sie von den ihr innewohnenden Schwächen, die seine Untersuchung in OWM aufdeckt, befreit wird. Das Ziel des vorliegenden Beitrags, der Parfit aus einer kantischen Perspektive kritisch zu hinterfragen sucht, kann daher nicht einfach darin bestehen aufzudecken, in welcher Hinsicht Parfit Kant missversteht. Stattdessen soll gezeigt werden, dass Theorien, die sich relativ stark am Geist der Theorie Kants orientieren, Vorteile aufweisen, die in Parfits Kantischem Konsequentialismus verloren gegangen sind.

3 »how 4 »in

it would be best for things to go« (OWM I, 373). themselves« (OWM I, 374). Parfit über Kantianismus und ­Konsequentialismus  |  29

1.  Kant und der Konsequentialismus: Fünf Schwierigkeiten Parfits OWM ist nicht der erste Versuch zu zeigen, dass Kant und der Konsequentialismus mehr Ähnlichkeiten aufweisen, als in der Regel angenommen wird. Parfit geht auf die vorhandene Debatte nicht explizit ein. Umso gewinnbringender ist es, einige Aspekte dieser Debatte herauszuarbeiten, denn hieraus ergibt sich, welchen Problemen sich Parfits Projekt gegenüber sieht. Soweit wir sehen, lassen sich mindestens sieben grundlegende Differenzen zwischen dem Kantianismus und der einfachsten Fassung des Konsequentialismus ausmachen, laut der eine jede Handlung ein unpersönliches Gut maximieren solle.5 Im Folgenden werden wir fünf dieser Differenzen einführen. Die zwei verbleibenden sollen außen vor bleiben, da sie selbst innerhalb des Kantianismus sehr kontrovers diskutiert werden: Zum einen ist dies die Frage nach der moralischen Berücksichtigung von Tieren6; zum anderen die Idee von ›Pflichten gegen sich selbst‹7. 1.1 Parteilichkeit

Der Konsequentialismus ist, wie Jens Timmermann in Bezug auf die gängigste Spielart des Konsequentialismus, den Utilitarismus, feststellt, streng egalitär8, denn er fordere, Glück in unparteilicher 5 Die

meisten dieser Aspekte werden von Timmermann (2005a) diskutiert. Er vertritt letztlich die Auffassung, dass Kants Theorie »essentially antiutilitarian« und »incompatible with any recognisably consequentialist ethical theory« (Timmermann 2005a, 244) sei. 6 Laut Kant gibt es keine direkten Pflichten gegenüber Tieren, während für die meisten Konsequentialisten alle Lebewesen, die Freude und Schmerz verspüren können, moralisch zu berücksichtigen sind. Kant spricht Tieren jedoch immerhin eine indirekte moralische Relevanz zu, da Tiere zu quälen unseren Charakter schädige (RL, AA 06, 442 f.; vgl. zu der Thematik bei Kant Timmermann 2005b). 7 Kant meint entgegen dem heutigen Mainstream nicht nur, dass es Pflichten gegen sich selbst gibt; sie seien in einem bestimmten Sinn sogar Voraussetzung dafür, überhaupt Pflichten zu haben (RL, AA 06, 417 f.; vgl. dazu Timmermann 2005a, Abschnitt 3 und 2006). Auch Parfit scheint Pflichten gegen sich selbst zulassen zu wollen. Er reformuliert etwa die Goldene Regel derart, dass sie Raum für solche Pflichten lässt (vgl. OWM I, 321 – 330). 8 »strongly egalitarian«; Timmermann 2005a, 246. 30  |  Matthias Hoesch und Martin Sticker 

Weise zu befördern. ›Unparteilichkeit‹ zielt hier allerdings nicht darauf ab, dass Güter möglichst gleich unter den Begünstigten verteilt werden sollen; sondern darauf, dass ein bestimmter quantitativer Güterzuwachs immer gleich viel zählt, ungeachtet der Frage, welche Person diesen Zuwachs erfährt. Aus der Unparteilichkeit folgt etwa, dass im Utilitarismus Strafe per se etwas Schlechtes ist und gegen andere Güter abgewogen werden muss, auch wenn der Bestrafte sie ›verdient‹ hat. Unparteilichkeit ist aber auch für die Frage relevant, ob wir denen bevorzugt helfen sollten (oder helfen dürfen), die uns in irgendeiner Weise nahestehen. In einer Variante des Beispiels Lifeboat kann man entweder sein eigenes Kind oder ein anderes Kind retten, aber nicht beide. Laut einer einfachen Fassung des Konsequentialismus wäre ich verpflichtet, ein fremdes Kind statt meines eigenen vor dem Ertrinken zu retten, wenn aufgrund der besseren Lebensbedingungen des fremden Kindes durch dessen Rettung eine Steigerung des Gesamtwohlbefindens zu erwarten ist, welche die Rettung meines eigenen Kindes überwiegt. Kants Ethik fordert dagegen nicht, dass wir Glück ungeachtet aller Umstände maximieren sollen.9 Für Kant stellt etwa Strafe nicht per se etwas Schlechtes dar, sondern ist die angemessene Reaktion auf die Taten des Verbrechers.10 Vor allem aber kann es innerhalb 9 Morgan

(2009, 20) sieht einen Hauptvorteil Kants gegenüber dem Konsequentialismus darin, dass für Kant ein rationales Subjekt kein »instrument of impersonal good-making« sei. Vgl. auch Timmermann (2005, 249 f): »Kant’s ethical theory […] provides an immediate justification for some kind of partiality. […] Utilitarians cannot accord any direct ethical weight to the moral standing of the ›recipient‹ of happiness. It cannot – so runs the familiar complaint – as such matter whether you make a hardened criminal happy or a moral saint, or whether you pay due attention to debts of gratitude. It may matter indirectly«. Der Begriff ›partiality‹ ist hierbei etwas irreführend: Gemeint ist natürlich nicht, dass subjektiven Vorlieben für eine Partei Raum gelassen werden muss; die ›partiality‹ folgt vielmehr einem genau definierten, objektiven Maßstab. 10 Timmermann entwickelt eine ähnliche Differenz aus Kants Konzeption der ›Glückswürdigkeit‹ und betont, dass für Kant Glückseligkeit durch Tugend ›verdient‹ werden muss bzw. sie nur dann, wenn sie nicht unverdient ist, ein Gut darstelle (vgl. GMS, AA 04, 393; KpV, AA 05, 60). »The thought that one cannot universally will that bad people be undeservedly happy is an intuition that utilitarian ethical theory will find difficult to accommodate«, so Timmermann (2005, 248). Parfit über Kantianismus und ­Konsequentialismus  |  31

der kantischen Theorie gerechtfertigt sein, unterschiedliche Personen je nach der gemeinsamen Geschichte, die wir mit ihnen haben, sehr unterschiedlich zu behandeln. Denn die gemeinsame Geschichte führt zu besonderen Beziehungen zwischen Menschen, die besondere Pflichten rechtfertigen.11 Kantianer können Beziehungen zwischen Personen als ein Gewebe spezifischer Rechte und Pflichten beschreiben, die nicht alle aus der übergeordneten Forderung erwachsen, ein unpersönliches Gut zu befördern. Besonders deutlich wird dies etwa in den Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern12 und zu Wohltätern13. Haben wir nur begrenzte Möglichkeiten, uns für andere einzusetzen, dann zählen (neben anderen Überlegungen) auch unsere persönlichen Bindungen, wenn wir danach fragen, wem wir bevorzugt helfen sollten.14 Denken wir etwa an das soeben genannte Lifeboat-Szenario, so dürfte für den Kantianer klar sein, dass elterliche Fürsorge nicht auszuklammern ist, wenn gefragt wird, wer in einem solchen Fall aus moralischer Perspektive zu retten ist.15 Nach einer verbreiteten Sicht ist es ein ernsthaftes Problem des Konsequentialismus, dass Bindungen zwischen Elternteil und Kind nicht in diese Abwägung 11 TL,

AA 06, 422; 451 f. AA 06, 280 f.; TL, AA 06, 390. 13 TL, AA 06, 454–456. 14 Im Hintergrund steht dabei natürlich auch Kants These, dass die Pflicht, anderen zu helfen, eine weite Pflicht ist und weite Pflichten keine konkreten Handlungen vorschreiben. Sie lassen vielmehr einen »Spielraum« (TL, AA 06, 390) zu, der unterschiedlich gefüllt werden kann. Wie dies genau zu deuten ist, wird kontrovers diskutiert. Auf der einen Seite gibt es ›spartanische‹ Interpretationen, die davon ausgehen, dass Kants Theorie der Wohltätigkeit genauso fordernd (»demanding«) ist wie der Standardutilitarismus (Cummiskey 1990, Abschnitt 7); auf der anderen Seite steht die Position, für Kant reiche es aus, wenn zumindest manchmal etwas zur Beförderung moralisch gebotener Zwecke getan wird (Hill 1992, Kap. 8). In jedem Fall scheint aber die Bevorzugung nahestehender Personen für Kant in einigen moralischen Situationen erlaubt, wenn nicht sogar geboten zu sein. 15 Das heißt natürlich noch nicht, dass die Entscheidung automatisch für das eigene Kind ausfallen muss. Andere Faktoren könnten überwiegen; man stelle sich den Fall vor, dass man zuvor ein Versprechen abgegeben hat, sich um das andere Kind zu kümmern. Es geht hier nicht darum, das daraus entstehende Dilemma aufzulösen. Wichtig ist, dass überhaupt Faktoren wie elterliche Fürsorge oder ein gegebenes Versprechen für Kant moralisch relevant sind. 12 RL,

32  |  Matthias Hoesch und Martin Sticker 

einbezogen werden können. Für einen Kantischen Konsequentia­ lismus entsteht dadurch die Herausforderung aufzuzeigen, dass entweder persönliche Bindungen zu Unrecht eine Rolle in unserem moralischen Denken spielen oder dass ein konsequentialistisches Framework den intuitiven Stellenwert, den wir diesen Bindungen beimessen, vollständig oder zumindest größtenteils in seine Theorie aufnehmen kann.

1.2 Maximen

Der Konsequentialismus in seiner einfachen Fassung geht davon aus, dass jede Handlung das Gesamtgut befördern soll. Um herauszufinden, welche Handlungen dieses Erfordernis erfüllen, versucht der Konsequentialist, die vorhersehbaren Folgen von Handlungs­ alternativen abzuwägen. Wenn Kant demgegenüber betont, dass Maxi­men geprüft werden müssen, markiert er damit zwei Differenzen zum Konsequentialismus: Erstens glaubt Kant nicht, dass einzelne Handlungen moralisch geprüft werden sollen. Stattdessen geht es um die Identifizierung von relevanten Handlungstypen, die in Form von Maximen, also einigermaßen konkreten Handlungsregeln16, geprüft werden. Verinnerlichte Maximen bilden zugleich die Grundlage des Charakters einer Person, indem sie nicht nur für eine einzelne Situation, sondern dafür ausschlaggebend sind, wie sich ein Akteur generell in bestimmten Arten von Situationen verhält. Zweitens glaubt Kant, dass die moralische Deliberation, wenn sie sich auf Maximen bezieht, auf eine komplizierte Berechnung der erwartbaren Folgen einer Handlung verzichten kann. Maximen sind laut Kant zumindest oft durch ein formales und apriorisches Verfahren als erlaubt oder verboten zu klassifizieren. Kantianer gehen davon aus, dass diese beiden Faktoren Kants Ethik einen Vorteil gegenüber dem Konsequentialismus verschaffen, indem sie die moralischen Akteure davon entlasten, vor jeder 16 Vgl.

GMS, AA 04, 420 f. Anm.; KpV, AA 05, 19; RL, AA 06, 225. In der Literatur wird ausgiebig und kontrovers diskutiert, was genau Maximen sind. Wir können diese Debatte hier nicht führen. Für eine Übersicht über die Literatur vgl. Munzel (1999, 68 Anm.). Parfit über Kantianismus und ­Konsequentialismus  |  33

Handlung komplizierte Entscheidungsprozesse zu durchlaufen. Insbesondere muss sich der Akteur nicht mit einer Fülle von Informationen über die äußeren Umstände eindecken, um seine grundlegenden Pflichten erkennen zu können. Empirische Fragen über Umstände und Folgen sind für den Kantianer natürlich nicht vollkommen unbedeutend; sie spielen aber nur eine Rolle, wenn es darum geht, auf welche Weise einer Pflicht nachgegangen wird – und nicht, welche Pflichten wir haben.

1.3 Motivation

Kant vertritt bekanntlich die Ansicht, dass wir nicht nur pflichtgemäß handeln müssen, sondern darüber hinaus eine moralische Gesinnung entwickeln und moralisch gebotene Handlungen allein um der Pflicht willen ausführen sollen. Damit integriert Kant die gängige Intuition in seine Theorie, dass die Motivation einer Handlung für die moralische Bewertung dieser Handlung bedeutsam ist.17 Die Standardfassung des Konsequentialismus ist dagegen indifferent gegenüber der moralischen Motivation, sofern dieser nicht eine instrumentelle Funktion für die Beförderung des Guten zukommt. Ein Beispiel, wie Kants Betonung der moralischen Motivation unter den Tisch fallen gelassen wird, ist Richard M. Hares ›Kantischer Utilitarismus‹.18 Hare scheint davon auszugehen, dass Kants Thesen bezüglich der moralischen Motivation über seine Antwort auf die Frage, was wir tun sollen, hinausgeht. Die Frage nach dem moralischen Wert von Handlungen, der in der Motivation zu suchen ist, ist demnach von der Frage, was getan werden soll, zu trennen.19 Während zutrifft, dass Kant das pflichtgemäße Handeln, sofern es nicht ›aus Pflicht‹ erfolgt, nicht als Verstoß gegen die Rechte 17 Scheffler

(1992, 61–71) argumentiert, Kants Konzeption einer nichtdesire-basierten moralischen Motivation buchstabiere einen wichtigen Aspekt unseres lebensweltlichen Moralverständnisses aus. Viele andere Philosophen denken dagegen, dass Kants Konzeption von Achtung vor dem Sittengesetz als dem einzigen moralischen Motiv zu spezifisch und restriktiv ist. Ein klassischer Einwand gegen die Idee, dass Pflicht die alleinige moralische Motivation ist, findet sich bei Stocker (1976, 462). 18 Hare 1993. 19 Timmermann (2005, Abschn. 5) versucht dies detailliert zu widerlegen. 34  |  Matthias Hoesch und Martin Sticker 

anderer Personen wertet, gibt man doch ein distinktes Merkmal der kantischen Theorie auf, wenn man die Rolle der Motivationsfrage bei Kant missversteht. Diese ist für Kant nicht nur ein ›Anhängsel‹ an seine normative Ethik, sondern ihr entscheidender Dreh- und Angelpunkt: Gäbe es keine moralisch wertvollen Handlungen, dann könnte man von moralischer Normativität im eigentlichen Sinn überhaupt nicht sprechen. Kant kann deshalb im Rahmen seiner Theorie erklären, weshalb moralische Motivation ›wertvoll‹ ist. Kantische Konsequentialisten sollten in ähnlicher Weise zeigen können, auf welche Weise die Idee eines moralischen Wertes der richtigen Motivation in ihrem Ansatz geltend gemacht werden kann bzw. warum diese nicht die gleiche Rolle spielt wie bei Kant.

1.4  Absolute Verbote

Einer der Hauptgründe, warum Kants Ethik vielen zeitgenössischen Philosophen attraktiv erscheint, ist die dort entfaltete Idee absoluter Verbote, also die Idee, dass wir bestimmte Handlungen nie ausführen dürfen, ungeachtet der Frage, welche noch so guten Konsequenzen sie haben würden. In die Idee absoluter Verbote fließen bei Kant mindestens zwei Aspekte ein: Zum einen sind für Kant rationale Wesen nie wie bloße Objekte zu behandeln und dürfen daher nicht instrumentalisiert werden; zum anderen gibt es laut Kant auch über das Instrumentalisierungsverbot hinaus Handlungsweisen, die ungeachtet ihrer Konsequenzen immer falsch sind. Das Instrumentalisierungsverbot findet sich in seiner ausgeprägtesten Gestalt in der Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs. 20 Die Formel bringt zum Ausdruck, dass rationale Wesen einen speziellen Status oder eine Würde haben, die nicht-rationalen Wesen abgeht. Daraus folgt, dass bestimmte Dinge niemals mit ratio­ nalen Wesen getan werden dürfen – ungeachtet aller Folgen.21 20 Vgl.

GMS, AA 04, 429. (2012, 193 f.) möchte gegen Cummiskey (1996) zeigen, dass in dessen Kantischem Konsequentialismus verloren geht, dass für Kant absolute Werte nicht hervorgebracht oder maximiert, sondern respektiert werden sollen. Zu diesem Problem vgl. auch OWM I, Kap. 10. 21 Hill

Parfit über Kantianismus und ­Konsequentialismus  |  35

Für Kant rechtfertigt aber auch die Universalisierungsformel, die die grundlegende Formulierung des Kategorischen Imperativs darstellt22, absolute Verbote. Bei ihrer Anwendung unterscheidet Kant zwei Stufen: Manche Maximen können nicht einmal als universell befolgbar gedacht werden (Kant spricht vom ›Widerspruch im Denken‹); bei anderen Maximen kann lediglich nicht gewollt werden, dass sie allgemein befolgt würden (Kant nennt dies einen ›Widerspruch im Wollen‹). Während Ersteres eine strenge Pflicht begründet, folgt aus Letzterem nur eine weite. Strenge Pflichten genießen Priorität gegenüber weiten, weil sie auf eine strengere Form des Widerspruchs zurückzuführen sind.23 Aus dieser Priorität folgt, dass es Dinge gibt, die wir niemals tun dürfen – etwa lügen –, wie stark wir auch immer durch eine weite Pflicht – etwa die Pflicht, anderen zu helfen – dazu verpflichtet wären, sie zu tun. Wie das Verhältnis vom Instrumentalisierungsverbot der Selbstzwekformel zu den absoluten Verboten der Universalitätsformel zu interpretieren ist, bleibt strittig: Gibt es zwei unterschiedliche Kriterien, die auf unterschiedliche Fälle anzuwenden sind, oder drücken beide Kriterien dieselbe ethische Forderung nur auf unterschiedliche Weise aus?24 Wir müssen auf diese Frage nicht weiter eingehen. Denn in jedem Fall gilt, dass Kants Ethik wesentlich von absoluten Verboten geprägt ist, wohingegen sich Konsequentialisten auf den Typ von Pflichten konzentrieren, den Kant als ›weite Pflichten gegen andere‹ bezeichnet.25 Gegen den ›traditionellen‹ Konsequentialisten, der eine uneingeschränkte Maximierung des Gesamtwohls fordert, muss der Kantische Konsequentialist daher zeigen, dass er Kants Idee von Handlungen, die wir niemals tun dürfen, in irgendeinem Sinne Rechnung tragen kann.26 22 GMS,

AA 04, 436. 23 Vgl. GMS, AA 04, 424. 24 Im Hintergrund dieser Frage steht die noch grundlegendere Debatte, ob Kants Ethik den besonderen Wert und Status vernünftiger Wesen zum Funda­ ment hat (so Wood 1999 und Korsgaard 1996, Kap. 4) oder ob dieser Status auf der Idee der Freiheit beruht (so Sensen 2009). 25 In diesem Sinne kritisiert Timmermann (2006, Abschnitt 2), dass Hare alle Pflichten, die nicht den weiten Pflichten gegen andere zuzuordnen sind, weitgehend vernachlässigt. 26 Dass der Kantische Konsequentialismus dazu tendiert, in einer potentiell anti-kantischen Weise die Erfüllung weiter Pflichten einzufordern, zeigt 36  |  Matthias Hoesch und Martin Sticker 

1.5  Die Begründungsebene

Einer der Gründe, die Philosophen wie Hare27 dazu bringen, in Kant einen potentiellen Konsequentialisten zu sehen, besteht darin, dass Kant davon ausgeht, dass Glück etwas Gutes ist und es daher eine allgemeine Pflicht gibt, Glück zu befördern.28 Aber selbst dann, wenn es wahr wäre, dass Kantianismus und Konsequentialismus (wie diese Beobachtung nahelegt) die gleichen Handlungen fordern würden, so täten sie dies dennoch aus unterschiedlichen Gründen. Konsequentialisten stellen ja nicht nur die These auf, dass wir das Glück aller anstreben sollten; sie behaupten darüber hinaus, dass wir dies tun sollen, weil Glück das wichtigste Gut überhaupt (oder eines von mehreren wichtigen Gütern) ist. Für Kant sollen wir das Glück aller dagegen nicht primär deshalb befördern, weil es ein basales oder unbedingtes Gut wäre. Vielmehr sei der Grund, warum wir Glück befördern sollten, dass wir andere als Selbstzwecke behandeln müssen – und dazu gehöre, dass wir anderen helfen, ihre jeweiligen Zwecke zu erreichen. Moralische Prinzipien sind dem moralischen Status von Glück vorgelagert, bedingen diesen und können ihn einschränken. Auch wenn viele der Pflichten, die Kantianismus und Konsequentialismus vorschreiben, dem Inhalt nach zusammenfallen, so sind die Gründe, weshalb ihnen Geltung zukommen soll, doch sehr verschieden.29 Der Kantische Konsequentialist wird sich daher folgendes Zitat von Dean (2000, 30), der sich kritisch mit Cummiskey auseinandersetzt: »Kantian consequentialism differs from standard Kantian ethical theory in the following ways: it requires impartially and maximally promoting rationally set ends, regardless of whether these ends are one’s own or someone else’s, as opposed to standard Kantian ethics which demands only some consideration of others’ ends; it demands maximally promoting the level of liberty, security and subsistence in a society rather than just demanding that one take some steps to ensure these for other agents under some circumstances; and it requires one not only to refrain from destroying other rational beings or from tempting them to irrationality, but also to maximize the extent to which they are free from destruction or temptation«. 27 Hare 1993, 4. 28 TL, AA 06, 387 f. 29 Timmermann (2005) scheint sogar sein Hauptargument gegen den Kantischen Konsequentialismus darin zu sehen, dass aus der Tatsache, dass zwei ethische Theorien in Bezug auf manche konkreten Fälle zu identischen Parfit über Kantianismus und ­Konsequentialismus  |  37

fragen müssen, ob die beiden Begründungsweisen aufeinander zurückgeführt werden können, ob ein hybrides Modell zu akzeptieren ist oder ob er sich auf eine der beiden Begründungsweisen festlegt.

2.  Wie geht Parfit mit den fünf Differenzen um? Parfit setzt sich – mal explizit, mal eher implizit – mit allen fünf der erläuterten Differenzen zwischen Kantianismus und Konsequentia­ lismus auseinander. Im Folgenden soll rekonstruiert werden, wie Parfit jeweils auf die Problemstellungen antwortet, inwieweit er an kantischen Elementen festhält und wie er Modifikationen begründet. Damit wird zugleich sichtbar, in welchen Aspekten Parfit die Debatte um einen ›Kantischen Konsequentialismus‹ weiterent­ wickelt.

2.1  Persönliche Bindungen

Parfit umgeht das Problem, dass persönliche Bindungen im Konsequentialismus nicht berücksichtigt werden können, indem er den Konsequentialismus in seiner einfachen Fassung, den ›Handlungskonsequentialismus‹, verwirft. Eine sinnvolle Form des Konsequentialismus frage nicht nach den Konsequenzen einer einzelnen Handlung, sondern nach den Konsequenzen der allgemeinen Befolgung von Regeln. Moralisch richtiges Handeln orientiere sich an denjenigen Regeln, deren allgemeine Befolgung die besten Konsequenzen30 mit sich bringen würde. Parfit nennt diese Regeln »optimific«. Dabei ist wichtig, dass »best« hier nicht in einem hedonistischen Sinn verkürzt werden darf; eine Vielzahl intrinsischer Güter kann berücksichtigt werden. Optimific principles sind per definitio­ Ergebnisse kommen, noch lange nicht geschlossen werden darf, dass sich diese Theorien in jeder Hinsicht gleichen. Vgl. auch Hill (2012, 306). Cummiskey (1990, Abschnitt 2) unterscheidet ausdrücklich zwischen einem Konsequentialismus auf Ebene der Normen und einem Konsequentialismus auf Ebene der Begründung dieser Normen. Laut Cummiskey ist Kant nur in ersterem Sinn ein Konsequentialist. 30 »things go best« (OWM I, 377). 38  |  Matthias Hoesch und Martin Sticker 

nem diejenigen Prinzipien, die die von Parfit favorisierte Fassung des Regelkonsequentialismus, die Universal Acceptance Version of Rule Consequentialism (OWM I, 377), vorschreibt. Parfits Ziel ist es zu zeigen, dass auch die systematisch tragfähigste Form des Kantianismus, der Kantische Kontraktualismus, zu optimific principles führt, denn diese seien die einzigen Prinzipien, deren universale Akzeptanz jeder vernünftigerweise wollen kann. Bezogen auf persönliche Bindungen argumentiert Parfit wie folgt: Würden Prinzipien allgemein befolgt, die es nicht zuließen, dass solche Bindungen einen moralischen Vorrang begründen, so würde dies solche Bindungen selbst untergraben und auf lange Sicht schwächen. Da persönliche Bindungen wertvoll seien und in der Summe guter Konsequenzen berücksichtigt werden müssen, wären solche Prinzipien nicht optimific (vgl. OWM I, 385). Der Regelkonsequentialismus fordert daher eine Abwägung zwischen der Verpflichtung, das Wohlbefinden aller zu fördern, und besonderen Verpflichtungen gegenüber nahestehenden Personen.

2.2 Maximen

Indem sich Parfit für den Regelkonsequentialismus entscheidet, ist er zugleich nicht mehr darauf festgelegt, dass wir vor jeder einzelnen Handlung deren Folgen kalkulieren müssten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Parfit mit Kants Modell der Maximenprüfung einverstanden ist. Stattdessen bemüht er sich ausführlich um eine Abgrenzung von Kants Modell. Parfit geht im Rahmen der Problematisierung des Maximenbegriffs nur auf die Frage ein, wann wir die universelle Befolgung von Maximen wollen können; der ›Widerspruch im Denken‹ scheidet aus Gründen aus, die in Abschnitt 2.4 noch zur Sprache kommen. Seine Argumentation setzt zwei Annahmen voraus: Zum einen hänge die Frage, ob wir etwas wollen können, sowohl an parteiischen (auf das Eigeninteresse bezogenen) als auch an unpartei­ ischen Gründen, wobei parteiische Gründe stärker zu berücksichtigen seien als unparteiische. Zum anderen dürfen laut Parfits Deontic Beliefs Restriction (OWM I, 287 f.) Überzeugungen über die Richtigkeit von Handlungen keine Rolle spielen, wenn wir danach fragen, Parfit über Kantianismus und ­Konsequentialismus  |  39

ob wir laut dem Kategorischen Imperativ etwas vernünftigerweise wollen können. Moralische Richtigkeit solle sich als Ergebnis der gedanklichen Universalisierung ergeben; sie dürfe daher in den Prozess nicht einfließen, will man einen Zirkelschluss vermeiden. Unter diesen beiden Annahmen formuliert Parfit zwei Einwände gegen Kants Vorstellung, das oberste Moralprinzip enthalte eine Prüfung der Maxime des Akteurs. Nach der Rarity Objection lassen sich Maximen so speziell formulieren, dass deren allgemeine Befolgung an der Welt nichts oder nicht viel ändern würde. Als Beispiel nennt Parfit die Maxime »Stehle einer jeden weiß angezogenen Frau, die Erdbeeren isst, während sie die letzte Seite von Spinozas Ethik liest, den Geldbeutel!«. Parfit gesteht zu, dass dies kein Handlungsgrundsatz ist, dem Menschen tatsächlich folgen; aber das gesuchte Moralprinzip müsse auch bei Gedankenexperimenten zu sinnvollen Resultaten führen. Die allgemeine Befolgung der Maxime brächte für den Akteur, der die in der Maxime beschriebene Situation vor sich hat, einen großen Vorteil (den Geldbeutel der Dame), es sprächen aber nur minimale unparteiische Gründe dagegen, weil das Gesamt-Wohlergehen der Menschheit nicht (oder nur marginal) sinkt, wenn jeder nach dieser Maxime handelte. Der Akteur kann daher die allgemeine Befolgung der Maxime vernünftigerweise wollen. Es sei aber absurd zu dem Schluss zu gelangen, dass die Maxime erlaubt sei, nur weil sie den Universalisierungstest besteht, indem sie in übertriebener Weise spezifisch formuliert sei; denn dadurch wird der Unterschied zwischen dem einmaligen Befolgen einer Maxime und ihrer allgemeinen Ausübung nahezu nivelliert. Der zweite Einwand bezieht sich auf das Verhältnis von Maximen und Handlungen: Zwar gibt es laut Parfit Maximen, deren Befolgung stets zu unerlaubten oder stets zu gebotenen Handlungen führt. Aber in der Regel kann die Befolgung ein und derselben Maxime sowohl richtige als auch falsche Handlungen hervorbringen. So kann die Rettung eines ertrinkenden Kindes unter der Maxime erfolgen, alles zu tun, um sich in den Augen anderer Ansehen zu erwerben – eine Maxime, die in vielen anderen Situationen zu falschen Handlungen führt. Parfit formuliert davon ausgehend die Mixed Maxims Objection: Für einige Maximen gilt, dass wir, wenn wir uns stets an ihnen orientieren, mal richtig, mal falsch handeln. Daher sei es nicht sinnvoll, auf Maximen zu rekurrieren, wenn 40  |  Matthias Hoesch und Martin Sticker 

die moralische Richtigkeit von Handlungen beurteilt werden soll (OWM I, 292 f.). Parfit diskutiert einen weiteren Einwand, der sich im Kern aber auf die Mixed Maxims Objection zurückführen lässt: Nach der Threshold Objection könne die allgemeine Befolgung der Maxime »Werde Zahnarzt!« nicht gewollt werden, weil eine Welt voller Zahnärzte nicht gewollt werden kann; dennoch sei diese Maxime moralisch unbedenklich. Parfit gesteht in einer Auseinandersetzung mit Thomas Pogge (vgl. OWM I, 310) zu, dass sein Argument in Teilen zurückgewiesen werden kann, wenn zu der Maxime implizite Bedingungen hinzugedacht werden (»Werde Zahnarzt, solange nicht zu viele andere ebenfalls Zahnarzt werden wollen!«). Dabei scheint Parfit zu übersehen, dass die Maxime »Werde unter allen Umständen Zahnarzt!« tatsächlich unmoralisch ist, denn der Akteur würde, streng genommen, selbst den Weltuntergang in Kauf nehmen, um Zahnarzt zu werden. Insofern ist Parfits Maxime sogar ein Beispiel, bei dem der Kategorische Imperativ besonders gut zu funktionieren scheint, und kein Gegenbeispiel, das ihn widerlegt. Es bleibt aber die Mixed Maxims Objection bestehen: Unter der moralisch falschen Zahnarzt-Maxime werden überwiegend moralisch erlaubte Handlungen ausgeführt, denn es ist ja in der Regel nichts Schlimmes, wenn eine einzelne Person nach Kräften versucht, Zahn­­ arzt zu werden. Als Antwort auf seine Einwände empfiehlt Parfit, den Begriff der Maxime zu eliminieren und sich auf die Handlung selbst zu beziehen: Eine Handlung sei erlaubt, wenn man vernünftigerweise wollen könne, dass jeder solche Handlungen für erlaubt hielte (OWM  I, 340). Unter dieser Annahme ist die Mixed Maxims Objection klarerweise umgangen. Dabei dürfe die Handlung nur mit moralisch relevanten Tatsachen beschrieben werden, um die Rarity Objection zu vermeiden. Die Maxime, an der sich der Akteur orientiert, seine ›Haltung‹ oder ›Gesinnung‹, sei für die Frage nach der moralischen Richtigkeit von Handlungen nicht prinzipiell relevant.

Parfit über Kantianismus und ­Konsequentialismus  |  41

2.3 Motivation

Es gibt durchaus Konsequentialisten, die versuchen, der Motivationsfrage einen wichtigen Stellenwert zuzuweisen.31 Auch Parfit führt als eine Form des indirekten Konsequentialismus einen sog. ›motive consequentialism‹ ein, demzufolge gilt: »the best motives are the ones whose being had by everyone would make things go best, the best or right acts are not the acts that would make things go best, but the acts that would be done by people with the best motives« (OWM I, 375). Allerdings geht Parfit auf diese Form des Konsequentialismus nicht weiter ein; es bleibt unklar, ob die Triple Theory den ›motive consequentialism‹ mit einschließen könnte. Jedenfalls sollen bei Parfit Motivation und Gesinnung für die Bewertung von Handlungen nicht zwangsläufig eine Rolle spielen. Parfit beruft sich sogar auf die Theorie Kants, um aufzuzeigen, dass die Frage nach der moralischen Richtigkeit von Handlungen unabhängig von der Motivationsfrage und damit unabhängig von der Frage nach moralischem Wert gestellt werden kann.32 Immerhin gesteht Parfit zu, dass unter bestimmten Umständen die mittelfristige Intention eines Akteurs von Bedeutung ist, will man die Richtigkeit einer Handlung testen. Er bleibt jedoch erstaunlich uneindeutig: Im Falle eines Sadisten, der ein Leben rettet, um es anschließend umso qualvoller zu vernichten, sei die Intention relevant und die Rettung des Lebens nicht ohne Rekurs auf diese bewertbar (OWM I, 297); im Falle eines ehrsüchtigen Retters, der ein Leben mit der Intention rettet, eine Belohnung dafür zu bekommen, sei die Rettung dagegen einzeln bewertbar und moralisch richtig (OWM I, 290).

2.4  Unbedingte Unterlassungsgebote

Dass der Kantianer sich weigert, zugunsten des Wohls vieler gegen ein Unterlassungsgebot zu verstoßen, wird – wie oben erläutert – mit der Selbstzweckformel und dem unbedingten Vorrang von ›strikten‹ Pflichten begründet. In Bezug auf die Selbstzweckformel 31 Vgl. 32 So

Adams’ ›Motive Utilitarianism‹ (1976). ausführlich in der Antwort auf Herman in OWM II, 169 ff.

42  |  Matthias Hoesch und Martin Sticker 

akzeptiert Parfit, dass es absolute Unterlassungspflichten gibt, aber er schränkt diese derart ein, dass sie der Beförderung guter Konsequenzen nicht mehr entgegenstehen. Die Existenz von strengen Pflichten, insofern sie sich nicht aus der Selbstzweckformel ergeben, bestreitet Parfit gänzlich. Beginnen wir mit Parfits Diskussion der Selbstzweckformel: Parfit räumt ein, dass es stets moralisch falsch sei, eine Person bloß als Mittel zu behandeln (OWM I, 232). Aber laut Parfit behandelt ein Akteur eine Person nur dann als bloßes Mittel, wenn der Akteur bei seiner Abwägung auf das Wohl einer anderen Person keinerlei Rücksicht nehme oder prinzipiell nicht bereit sei, zugunsten der anderen Person einen eigenen Nachteil in Kauf zu nehmen. Dabei reiche eine kontrafaktische Bereitschaft bereits aus, damit diese Bedingung nicht erfüllt sei (etwa: »Ich würde ihn nicht auf die Schienen stoßen, wenn es einen anderen Weg gäbe, die fünf zu retten«). Insbesondere werde aber eine Person dann nicht als bloßes Mittel behandelt, wenn moralische Überzeugungen den Ausschlag für eine Handlung geben (OWM I, 214). Dahinter steht die Überlegung, dass das Instrumentalisierungsverbot, wie Kant es anhand von Beispielen einführt, nur untersage, den anderen zu meinem Vorteil zu instrumentalisieren.33 Das Verbot kann daher so verstanden werden, dass es sich auf eine Instrumentalisierung zu moralischen Zwecken gar nicht bezieht. Weil zu diesen moralischen Zwecken auch die Beförderung des Wohls anderer zählt, werden in der Parfit’schen Lesart konsequentialistische Erwägungen tendenziell die moralisch ausschlaggebenden. Wie schnell zu sehen ist, verstößt unter Parfits Annahmen etwa die ›konsequentialistische‹ Lösung des Beispielfalls Bridge nicht gegen die Selbstzweckformel, denn ich werde nicht unzulässig instrumentalisiert (als bloßes Mittel behandelt), wenn mich jemand zur Rettung anderer von der Brücke stößt.34 33 Am

deutlichsten wird dies im zweiten Beispiel zur Illustration der Selbstzweckformel formuliert: »Denn der, den ich durch ein solches Versprechen zu meinen Absichten brauchen will, kann unmöglich in meine Art, gegen ihn zu verfahren, einstimmen und also selbst den Zweck dieser Handlung enthalten« (GMS, AA 04, 429 f.; unsere Hervorhebung). Aber auch aus dem vierten Beispiel, man müsse die Zwecke anderer zu seinen eigenen Zwecken machen, folgt eine Fokussierung auf die Instrumentalisierung zu eigenen Zwecken. 34 Zum gleichen Ergebnis kommt Parfit auch unter Rückgriff auf das ZuParfit über Kantianismus und ­Konsequentialismus  |  43

Wenn damit gezeigt ist, dass sich Kantianer oft nicht auf das In­ strumentalisierungsverbot stützen können, um ihre anti-konsequentialistischen Überzeugungen zu rechtfertigen, bleibt natürlich offen, dass es absolute Unterlassungspflichten aus anderen Quellen gibt. Bei Kant trifft dies, wie oben dargestellt, für alle strengen Pflichten zu, die sich aus einem Widerspruch im Denken ergeben. Parfit versucht daher gegen Kant zu zeigen, dass der Widerspruch im Denken kein sinnvolles Kriterium für moralische Falschheit ist. Gelingt ihm dies, wäre die kantische Unterscheidung zweier Arten von Pflichten zurückgewiesen und die These des unbedingten Vorrangs des einen Typs von Pflichten vor dem anderen müsste fallengelassen werden. Zunächst räumt Parfit immerhin ein, dass die Widerspruchs­ bedin­gung im Falle falscher Versprechen durchaus plausibel wirkt: Wer ein falsches Versprechen abgibt, setzt eine soziale Praxis voraus, von der er sich selbst ausnehmen möchte. Würde die Ausnahme jedoch zur Regel, gäbe es die Praxis nicht mehr, von der der Akteur doch gerade profitieren möchte: Die Erschleichung von Vorteilen durch ein falsches Versprechen wäre nicht mehr erfolgreich durchführbar, weil niemand dem Versprechen mehr trauen würde. Jedoch müsste laut Parfit die gleiche Überlegung auch verbieten, einen Juden vor den Nazis zu verstecken und dies auf Nachfrage zu leugnen: Auch hier werde vorausgesetzt, dass die Einheiten der Nazis sich auf die Aussagen der Bevölkerung verlassen könnten; nur unter dieser Bedingung kann eine bewusste Falschaussage erfolgreich sein.35 Kant hat bekanntlich in Kauf genommen, dass solche Fälle kontraintuitiv stimmungsprinzip: Auch wenn gilt, dass eine Person dann nicht als bloßes Mittel behandelt wird, wenn sie einer Handlung vernünftigerweise zustimmen kann, seien konsequentialistisch motivierte Handlungen, in denen einzelne zu Gunsten eines deutlich größeren Gutes geopfert werden, erlaubt. Da vernünftige Personen nicht nur ihrem Eigeninteresse nachgehen, sondern sich daneben an unparteiischen Gründen orientieren, könne jede Person vernünftigerweise selbst dem eigenen Tod zustimmen, wenn dadurch viel mehr andere gerettet werden. Ob die Person faktisch zustimmt, spielt für das Zustimmungsprinzip keine Rolle (vgl. OWM I, 220). 35 Problematisch an Parfits Beispiel erscheint vor allem, dass unter der Naziherrschaft eine gewöhnliche, verständigungsorientierte Kommunikations­ situation von vornherein außer Kraft gesetzt wurde. Dass die Nazis sich auf die Auskünfte der Bevölkerung in vielen Fällen verlassen konnten, dürfte weniger der sozialen Praxis von aufrichtiger Kommunikation geschuldet gewesen sein als den angedrohten Sanktionen. 44  |  Matthias Hoesch und Martin Sticker 

zu lösen sind – siehe seine berüchtigte Diskussion des vermeint­ lichen Rechts, aus Menschenliebe zu lügen, von 1797.36 Ohne dass Parfit sich mit dem Problem ausführlicher auseinandersetzt, nimmt er den entgegengesetzten Weg und weist Kants Prinzip zurück. Weitere Beispiele sollen untermauern, dass der Widerspruch im Denken kein sinnvolles Kriterium sein kann: Die Maxime »Unterstütze die Armen!« sei nicht widerspruchsfrei universalisierbar (vgl. OWM I, 281), da es durch das allgemeine Befolgen der Maxime schnell keine Armen mehr geben würde und Menschen sie in Zukunft deshalb nicht mehr erfolgreich befolgen könnten. Die Befolgung der Maxime scheint auf die Existenz der Armen ähnlich angewiesen zu sein wie das lügenhafte Versprechen auf die Institution des Versprechens. Dieser Eindruck täuscht aber. Eine Maxime zu befolgen, heißt doch: Wenn wir uns in einer Situation befinden, auf welche sich die Maxime bezieht, handeln wir nach dieser Maxime. Werde ich etwa mit Armut konfrontiert, soll ich Arme unterstützen – diesem Grundsatz zu folgen, setzt nicht voraus, dass ich tatsächlich mit Armut konfrontiert werden muss. Parfits Einwand ist also aus einer kantischen Perspektive nicht überzeugend; dies bedeutet aber noch nicht, dass er absolute Unterlassungspflichten akzeptieren muss, die sich aus einem Widerspruch im Denken ergeben. Es ist auffällig, dass die meisten der Pflichten, die man gewöhnlich in die Rubrik strikter Pflichten einsortieren würde, nicht aus einem solchen Widerspruch abzuleiten sind und von Kant auch nicht daraus abgeleitet werden. Bezeichnend ist etwa, dass Kants Paradigmata für strenge Pflichten das Verbot zu lügen und das Suizidverbot sind, nicht aber das Verbot von Mord oder Folter.37 Es bleibt fraglich, ob solche Paradefälle von absoluten Unterlassungspflichten sich mittels eines Widerspruchs im Denken bei hypothetischer Universalisierung begründen lassen. Zu dieser Skepsis passt auch die Beobachtung, dass Kant selbst die 36 Der ›Mörder an der Tür‹ wird von Kant selbst als eine Frage von Rechts-

pflichten bzw. juridischen Erlaubnissen eingeführt. Es ist üblich, das Beispiel auch vor einem ethischen Hintergrund zu diskutieren – siehe etwa O’Neill (1975, 133) und – Kant teilweise verteidigend – Korsgaard (1996, Kap. 5). 37 Dementsprechend sieht Herman (1993, Kap. 6) das größte Problem des Kategorischen Imperativs darin, dass sich mit ihm »maxims of murder and mayhem« nicht klar verbieten lassen. Parfit über Kantianismus und ­Konsequentialismus  |  45

Widerspruchsbedingung so gut wie nie anwendet, wenn es um die Begründung einzelner strenger Pflichten geht.38 Man wird Parfit daher zugestehen müssen, dass sich eine Unterscheidung von strengen und weiten Pflichten nicht ohne Weiteres auf zwei verschiedene Anwendungsmethoden des Kategorischen Imperativs zurückführen lässt. Damit fehlt dem Kantianer aber – zumindest prima facie – ein Maßstab, um unbedingte Unterlassungsgebote über die Selbstzweckformel hinaus identifizieren und rechtfertigen zu können. Solange der Kantianer einen solchen nicht findet, wird er zulassen müssen, dass Unterlassungspflichten von konsequentialistischen Erwägungen im Prinzip übertrumpft werden können. Parfits Argumentation lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass er ein Instrumentalisierungsverbot akzeptiert, aber es so interpretiert, dass es Pflichten, welche dem Konsequentialisten wichtig sind, nur minimal beschränkt. Somit möchte Parfit an der moralischen Bedeutung von Instrumentalisierung festhalten und es zugleich zulassen, dass Akteure gegen ihren Willen benutzt werden können, um ein größeres Gut zu befördern. Den Gedanken, dass es über das Instrumentalisierungsverbot hinaus eine besondere Klasse von Pflichten gibt, welche andere Pflichten prinzipiell ausstechen, weist er gänzlich zurück. Parfit setzt dem allerdings eine regelkonsequentialistische Begründung von Unterlassungspflichten entgegen, die uns im Abschnitt 3.2 beschäftigen wird.

2.5  Die Begründungsebene

Nachdem Parfit dafür argumentiert hat, dass Regelkonsequentialisten und Kantianer keine einander widersprechenden Prinzipien vertreten müssen, formuliert er ein Argument, das zeigen soll, dass beide Theorien sogar zu den gleichen Prinzipien führen. Parfit behauptet dabei zunächst, dass der Kantianismus in seiner stärksten Lesart als Kontraktualismus aufzufassen sei, demzufolge eine der Grundlegung dienen Ableitungen aus der Naturgesetzformel primär zur Illustration des obersten moralischen Grundsatzes. In der Rechtslehre spielt der Widerspruch im Denken gar keine Rolle und in der Tugendlehre nur eine untergeordnete. 38 In

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Handlung falsch ist, wenn sie nicht von einem Prinzip erlaubt wird, dessen universale Akzeptanz jeder vernünftigerweise wollen kann.39 Im zweiten Schritt zeigt er, dass der Kantische Kontraktualismus auf die gleichen Prinzipien führt, die der Regelkonsequentialismus vorschreibt (OWM I, 378 f.).40 Doch heißt das inhaltliche Zusammenfallen, wie oben erläutert, nicht zwangsläufig, dass diese Theoriefamilien nicht immer noch unterschiedliche Gründe anführen könnten, warum eine Handlung als richtig oder falsch zu bewerten ist. Parfit muss diese Begründungsebene durchaus wichtig sein, denn er zitiert affirmativ Scanlons These, dass ein wichtiges Ziel einer Moraltheorie darin besteht, ein generelles Kriterium für moralische Falschheit zu formulieren, das erklären kann, weshalb einzelne konkrete Eigenschaften eine Handlung falsch machen können (OWM I, 415). Entsprechend diskutiert Parfit, welche Erklärungskraft die drei Bedingungen der Triple Theory jeweils haben. Im Laufe der Diskussion deutet er an, dass der Regelkonsequentialist auf den Anspruch verzichten muss, eine eigenständige Begründung für moralische Falschheit geben zu können. Zwar könnten die Konsequenzen einer Handlung durchaus als Grund für deren moralische Falschheit betrachtet werden, doch führe dies zwangsläufig auf einen Handlungs- und nicht auf einen Regelkonsequentialismus. Auf der Begründungsebene sei jeder vernünftige Regelkonsequentialist daher Kantianer und Kontraktualist.41 Wenn dies tatsächlich die Lösung des Problems ist, hätte Parfit den mit dem Konsequentialismus normalerweise verbundenen Begründungsanspruch allerdings aufgegeben. Der Kantische Kon39 Wir

gehen auf diese Zusammenführung nicht weiter ein, da sie für die Spannung zwischen Kantianern und Konsequentialisten nicht direkt relevant ist. Vgl. aber die Debatte mit Scanlon in OWM II. 40 Mit der Struktur des Arguments, auf die wir nicht weiter eingehen, setzen sich etwa Ross 2009 und Otsuka 2009 auseinander. 41 Dies ist mit Parfits Definition des Konsequentialismus vereinbar, denn diese bezieht sich nur auf den Inhalt der Moral, nicht auf die Erklärungs- oder Begründungsebene. Die Kernaussage des Konsequentialismus ist nach Parfit schließlich lediglich: »Whether our acts are right or wrong depends only on facts about how it would be best for things to go« (OWM I, 373). Daher sei Parfits Regelkonsequentialismus »founded on Kantian Contractualism« (OWM I, 484). – Parfit liegt damit im Prinzip auf einer Linie mit Cummiskey; siehe Abschnitt 1.5. Vgl. auch OWM I, 417. Parfit über Kantianismus und ­Konsequentialismus  |  47

sequentialist wäre dann nur im abgeleiteten Sinne Konsequentialist; er wäre Konsequentialist, weil er Kantianer ist. Insofern wäre der Regelkonsequentialismus als umfassende moralphilosophische Theorie eindeutig zurückgewiesen. Es bliebe entgegen seiner Intention fraglich, ob Parfit wirklich via Kant auf dem Konsequentialismus-Gipfel angekommen ist oder ob er in Wahrheit den Kant-Gipfel erklommen hat, aber von dort eine so ähnliche Aussicht genießt, wie sie der Berg des Konsequentialismus bietet, dass er gar nicht merkt, dass es eigentlich zwei verschiedene Gipfel gibt.

3.  Bleibende Probleme Parfits Triple Theory ist durchdachter und komplexer als alle älte­ren Versuche, Kantianismus und Konsequentialismus einander anzu­ nähern. Im Verlauf seiner Argumentation behandelt Parfit sämt­ liche der zentralen Hürden, welche Kantianer zögern lassen, einen Kantischen Konsequentialismus zu akzeptieren, und er entwickelt jeweils originelle Lösungsvorschläge mit beeindruckender Überzeugungskraft. Dennoch ist auch Parfits Unternehmen mit ernsthaften Problemen konfrontiert. Aus unserer Sicht beziehen sich diese vor allem auf das, was verloren geht, wenn der Maximenbegriff aus dem Moralprinzip eliminiert wird (3.1), und auf die Rolle, die optimific principles bei der Begründung absoluter Unterlassungspflichten spielen (3.2).

3.1 Maximen

Betrachten wir zunächst die Schlüssigkeit der Parfit’schen KantKritik, sofern sie den Maximenbegriff betrifft. Ist Kant tatsächlich so zu lesen, dass jeder beliebige Handlungsgrundsatz mit dem Kate­ gorischen Imperativ geprüft werden kann – auch die von Parfit aufgeführten absurden Beispiele, die der Rarity Objection zugrunde liegen? Der Begriff der Maxime selbst lässt tatsächlich offen, welche (absurden) Bedingungen oder Bestandteile in die Maxime integriert werden können. Es ist aber naheliegend, dass Kant für die Prüfung durch den Kategorischen Imperativ nur solche Maximen 48  |  Matthias Hoesch und Martin Sticker 

zulassen würde, die – wie von Parfit gefordert – genau auf alle moralisch relevanten Eigenschaften Bezug nehmen und nicht auf weitere Eigenschaften. Auf die von Kant selbst vorgebrachten Beispiele trifft dies jedenfalls zu42. Wenn es für Parfit legitim ist, eine Eingrenzung auf moralisch relevante Eigenschaften vorzunehmen, ohne dass damit gegen die Deontic Beliefs Restriction verstoßen wird, dann muss diese Möglichkeit der kantischen Variante des Kategorischen Imperativs ebenfalls offenstehen. Gegen eine solche Kant-Lesart könnte Parfit einwenden, dass sich Menschen faktisch allerlei Grundsätze vornehmen können, auch ganz absurde; auf eben solche Grundsätze, die Menschen möglicherweise haben, beziehe sich Kant aber. Blickt man auf die Texte Kants, ist eine solche Sicht nicht zwingend: Es geht Kant ja nicht um irgendwelche Grundsätze, nach denen zu handeln man sich bewusst vornimmt, wie etwa gute Vorsätze zu Neujahr. Kant geht davon aus, dass vernünftige Wesen, die vor moralisch relevanten Entscheidungen stehen, die Handlungsgrundsätze rekonstruieren können, an denen sie sich jeweils orientierten, wenn sie sich für Option a, Option b, Option c etc. entscheiden würden.43 Maximen sollen mithin, wenn sie mit dem Zweck der moralischen Prüfung formuliert werden, die moralisch relevante Regelmäßigkeit im Handeln auf­ decken. Die Fähigkeit moralischer Akteure, eine solche implizite Regelmäßigkeit in den eigenen Handlungen zu erblicken, scheint für Kant eine Voraussetzung für moralische Akteurschaft überhaupt zu sein. Da Maximen bewusst mit der Intention formuliert werden, das Handeln moralisch zu prüfen, sind natürlich auch nur moralisch relevante Eigenschaften im Blick. Nicht jeder beliebige Grund42 Vgl.

z. B. GMS, AA 04, 422 f. – Offenkundig nennt Kant nicht immer explizit alle moralisch relevanten Eigenschaften von möglichen Handlungen. Diese sind aber hinzuzudenken, wenn Maximen sinnvoll geprüft werden sollen. Schreibt Kant etwa über die Maxime »mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern«, so ist damit offenbar gemeint: ›Vergrößere dein Vermögen durch alle sicheren Mittel, ungeachtet aller anderen moralisch relevanten Eigenschaften deiner Handlungen!‹ Genau wegen dieses hinzugedachten Zusatzes ist für Kant die Maxime moralisch falsch. 43 In diesem Sinne verstehen wir etwa die vier Beispiele in GMS II. Am deutlichsten wird dies vielleicht in folgender Formulierung: »Gesetzt er beschlösse es doch, so würde seine Maxime der Handlung so lauten: […].« (GMS, AA 04, 422) Parfit über Kantianismus und ­Konsequentialismus  |  49

satz soll bei Kant geprüft werden, sondern nur ein Grundsatz, der in Hinblick auf moralische Prüfung formuliert worden ist; hierin weichen wir von Parfits Kant-Lesart ab.44 Selbst wenn man anderer Meinung sein sollte, was die vorgeschla­ gene Kant-Interpretation angeht, so wäre man noch nicht da­rauf festgelegt, Maximen gänzlich aus dem Moralprinzip zu eliminieren, wie Parfit behauptet. Man könnte die Beschränkung auf moralisch relevante Eigenschaften auch über Kant hinausgehend als Zusatz­ bedingung für Maximen einführen, welche zum Zwecke einer moralischen Prüfung entworfen werden. Parfits zweites Argument gegen den Maximenbegriff, die Mixed Maxims Objection, ist streng genommen gar kein Einwand gegen Kant, sondern legt eher offen, dass Parfit einer anderen Frage nachgeht als Kant.45 Denn es ist offensichtlich, dass Kant mit dem Kategorischen Imperativ nicht die moralische Richtigkeit von Handlungen, sondern die von Maximen prüfen möchte. Greifen wir Parfits Beispiel auf: Jemand rettet ein Kind aufgrund einer egoistischen Maxime und der Hoffnung auf Belohnung. Die Handlung ist nach unserer Intuition, die wir nicht aufgeben wollen, richtig; die Maxime erweist sich dagegen nach der Prüfung durch den Kategorischen Imperativ als falsch. Parfit behauptet, dass für Kant deshalb die Handlung falsch sein muss; aber das ist nicht der 44 Der

Gedanke, Kant gehe davon aus, dass moralische Akteure in der Lage sind zu erkennen, welche Eigenschaften oder Sachverhalte moralisch zu prüfen sind und daher Bestandteile von Maximen bilden sollten, wird von einer Reihe gegenwärtiger Kant-Interpretationen gestützt, welche den Fokus auf die Bedeutung des vortheoretischen Moralverständnisses legen. Ido Geiger (2010, 281–283) etwa behauptet, dass sich das Problem von überspezifisch formulierten Maximen lösen lässt, wenn man berücksichtigt, dass Kant davon ausgeht, dass vernünftige, akademisch ungeschulte Akteure bereits genug von Moral verstehen, um zu wissen, welche Eigenschaften moralisch relevant sind. Überspezifisch formulierte Maximen seien das Produkt von Philosophen, die aus den Augen verloren haben, dass vernünftige Akteure bereits ein vortheoretisches Moralverständnis haben. 45 Dies ist in der Literatur schon mehrfach gesehen worden; vgl. etwa Pogge (in diesem Band). Herman schreibt mit Bezug auf die unterschiedlichen Projekte, denen Parfit und Kant nachgehen: »There may not be much to be gained from a point-by-point comparison of interpretations of Kant’s arguments and Parfit’s hybrid reconstruction. They are simply too far apart« (OWM II, 94). 50  |  Matthias Hoesch und Martin Sticker 

Fall. Was laut Kant in einem solchen Fall beim Handeln falsch ist, ist nicht die äußere Handlung der Rettung des Kindes, sondern dass nach dem falschen Prinzip gehandelt wurde. Parfit möchte sich einer solchen Kant-Lesart nicht anschließen. Er gibt den Kategorischen Imperativ zutreffend mit der Formulierung wieder »It is wrong to act on a maxim…« (z. B. OWM I, 275), folgert aber daraus zu Unrecht, dass für Kant eine jede Handlung falsch sein muss, die aufgrund einer falschen Maxime getätigt wurde (folgert also: »an act ist wrong«46). Dabei sagen die Formeln Kants lediglich, dass es falsch ist, nach einer bestimmten Maxime zu handeln; über die Richtigkeit der Handlung selbst enthalten sie keine direkte Aussage. Vielleicht lässt sich das Missverständnis wie folgt auflösen: Zum Handeln (»to act« als Verb) gehören mehrere Bestandteile: die Intention, die Maxime, die Motivation, der physische Bewegungsablauf und dessen direkte Wirkungen auf die Umwelt. Die letzten beiden Aspekte sind gemeinsam die (äußere) Handlung im engeren Sinn (und »act« in dem Sinn, wie es Parfit gebraucht). Was laut Kategorischem Imperativ am Handeln falsch ist, ist nun lediglich die Maxime, nach der gehandelt wird, nicht notwendig auch die äußere Handlung. Parfit kommt der von uns zur Verteidigung von Kant vorgebrachten Unterscheidung nah, wenn er den Vorschlag diskutiert, Kant behaupte nicht »what he is doing is wrong«, sondern »his doing of it is [wrong]« (OWM I, 290) – also die Art und Weise, mit der eine Handlung ausgeführt wird. Aber Parfit meint zeigen zu können, dass diese Unterscheidung die Mixed Maxims Objection nicht aushebeln kann (OWM I, 291). Seine Argumentation lässt sich in zwei Schritten rekonstruieren: Erstens hänge die moralische Angemessenheit von »his doing of it« wesentlich an der Motivation des Handelnden, also der Frage, ob er aus Pflicht handelt. Zweitens sei die moralische Motivation nur für einen Teil unserer moralischen Pflichten relevant, nämlich für Tugendpflichten, nicht aber für Rechtspflichten. Als Konklusion folge daraus, dass mit Verweis auf »his doing of it« zwar im Falle von Tugendpflichten Kants Theo46 Um

nur ein Beispiel zu zitieren: »Since this Egoist could not rationally will that his maxim be universal, Kant’s formulas imply that, whenever he acts on his maxim, his act is wrong« (OWM I, 290). Letzteres folgt aber einfach nicht aus Kants Formeln, wie Parfit sie korrekt wiedergegeben hat. Parfit über Kantianismus und ­Konsequentialismus  |  51

rie plausible Ergebnisse bringe (wer aus einer egoistischen Maxime handelt, dessen Handlungen entspringen eben nicht dem richtigen Motiv), nicht aber im Fall von Rechtspflichten: Hier sei keine moralische Motivation verlangt; »his doing of it« spiele keine Rolle, und wer etwa aus einer egoistischen Maxime seine Schulden bezahlt, handle falsch, wenn man Kants Theorie korrekt anwende.47 Parfit trifft mit seiner Argumentation weder unseren Einwand noch Kants Theorie. Betrachten wir zunächst den ersten Argumentationsschritt. Während sich Parfit mit »his doing of it« auf die Motivation bezieht, also auf die Frage, ob aus Pflicht gehandelt wird, ist nach dem oben vorgestellten Verständnis die Maxime dasjenige, was am Handeln falsch ist, wenn jemandes Handeln gegen den Kate­ gorischen Imperativ verstößt. Bezieht man sich im Kontext der Mixed Maxims Objection auf »his doing of it«, dann sollte das relevante Merkmal die Maxime sein, nicht die Motivation. So weit ist Parfits Einwand noch nicht völlig zurückgewiesen; er lässt sich nämlich in ähnlicher Form reformulieren. Denn weil die Erfüllung von Rechtspflichten nicht nur unabhängig von der Motivation des Handelnden ist, sondern ebenso wenig verlangt, dass dieser nach einer moralisch guten Maxime handelt, könnte man Parfits These folgendermaßen fassen: Bei Rechtspflichten werden über die Prüfung der Maxime eindeutig Handlungen bewertet und nicht nur das Handeln nach einer Maxime; insofern kann bei Rechtspflichten die Mixed Maxims Objection nicht zurückgewiesen werden. Parfit setzt hiermit aber ein falsches Verständnis der Begründung von Rechtspflichten voraus. Die Maximenprüfung des Kategorischen Imperativs dient nämlich gar nicht zur Rechtfertigung von Rechtspflichten. Rechtspflichten ergeben sich stattdessen aus dem allgemeinen Rechtsgesetz, das ausdrücklich nicht Maximen, sondern Handlungen prüft.48 Es trifft zwar zu, dass eine bestimmte Klasse von Pflichten, die aus dem Kategorischen Imperativ folgen – strenge Pflichten gegen andere –, mit Rechtspflichten (weitgehend) inhaltlich übereinstimmen. Aber die Verpflichtung ist je von unter47 »My Egoist may never fulfil his duties of virtue, since he may never have

the right motive. As Kant claims, however, we also have many duties of justice, which we can fulfil by doing what is morally required, whatever our motive« (OWM I, 291). 48 »Eine jede Handlung ist recht, die […]« (RL, AA 06, 230). 52  |  Matthias Hoesch und Martin Sticker 

schiedlicher Art: Rechtspflichten sehen von Motiv und Maxime ab, weil sie lediglich das äußere Zusammenleben von Menschen regeln. Moralische Pflichten hingegen verlangen die moralische Selbstvervollkommnung des Menschen und berücksichtigen auch dann, wenn es um strenge Pflichten geht, Motiv und Maxime. Zu Recht betont Parfit, es gehe Kant durchweg, d. h. in Recht und Moral, nicht nur um die Richtigkeit von Maximen, sondern auch um die Richtigkeit von äußeren Handlungen.49 Diese Beobachtungen treffen klarerweise zu, und sie geben Anlass zu einigen Interpretationsschwierigkeiten, insbesondere zum Zusammenhang von Rechtsgesetz und Kategorischem Imperativ bzw. von Rechtsgesetz und Maximen. In einer prominenten Formulierung des Rechtsgesetzes50 klingt es sogar so, als gehe Kant davon aus, dass es zu jeder Handlung genau eine Maxime gebe – würde Kant das glauben, hätte er tatsächlich die Mixed Maxims Objection schlicht übersehen, wie Parfit vermutet (OWM I, 293). Lässt man die speziellen Probleme des Rechtsgesetzes einmal beiseite, muss eine sinnvolle Rekonstruktion der kantischen Ethik aber – anders als Parfit – davon ausgehen, dass mit dem Kategorischen Imperativ eine Handlung nur indirekt als richtig bzw. erlaubt bewertet werden kann, und zwar dann, wenn sie unter mindestens einer Maxime ausgeführt werden kann, die moralisch richtig bzw. erlaubt ist. Parfit erwähnt diesen Vorschlag kurz (OWM I, 293); er verwirft ihn aber sofort wieder, indem er die Rarity Objection erneut ins Spiel bringt: Für eine jede Handlung könne eine Maxime gefunden werden, die zwar absurd klingen mag, deren allgemeine Befolgung aber vom Akteur vernünftigerweise gewollt werden könne und die daher die Handlung erlaubt. Wenn die Rarity Objection aber, wie oben versucht, zurückgewiesen werden kann, verliert dieses Argument seine Plausibilität, und auch die Mixed Maxims Objection dürfte somit ausreichend beantwortet sein. Wenn Kant primär zeigen will, welche Maximen falsch sind, und nur abgeleitet über die Richtigkeit von Handlungen spricht, ist es einfach kein Einwand, wenn Parfit feststellt, dass falsche Maximen zu richtigen Handlungen führen können. 49 Ebd.,

294. 50 »Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.« (RL, AA 06, 230; Hervorhebung von uns) Parfit über Kantianismus und ­Konsequentialismus  |  53

So weit ist lediglich gezeigt, dass Parfits Argumente gegen Kant nicht zutreffen. Aber ist deshalb Kants Theorie dem Ansatz Parfits vorzuziehen? Barbara Herman greift ein Beispiel Parfits auf, um die moralische Bedeutung von Maximen herauszustellen: Ein Gangster, der bereit wäre, für den kleinsten Vorteil einen Mord zu verüben, bezahlt in einer Bar seinen Kaffee allein aus der Erwägung, dass jedes andere Verhalten ihm unnötig Ärger einbringen würde.51 Herman gesteht zu, dass das Bezahlen des Kaffees selbstverständlich keine unmoralische Handlung sei; dennoch würde der Gangster, wenn er eines Tages moralisch bekehrt werden sollte, mit Schuldbewusstsein an diese Situation zurückdenken: »Ich hätte die Kellnerin erschossen, wenn es mir nur den geringsten Vorteil verschafft hätte – wie schrecklich!« Herman greift damit die Intuition auf, dass mitnichten nur Handlungen moralisch evaluiert werden können; ebenso kommt es auf die Haltung des Akteurs, seinen Charakter und seine generelle Bereitschaft an, aus moralischen Gründen auf seinen Vorteil zu verzichten. In seiner Erwiderung meint Parfit den Einwand aushebeln zu können, indem er einfach zugesteht, dass der Gangster nach einer moralisch falschen Maxime handelt (OWM II, 178). Damit ist das Problem jedoch nicht gelöst, denn Parfits Triple Theory kennt, wie er sie überwiegend formuliert, keinen Maßstab, nach dem Maximen richtig oder falsch sind. Im Gegenteil wurde der Maximenbegriff ja bewusst eliminiert, und Parfits Antwort auf Herman ist dadurch unbefriedigend. Parfit kann im Rahmen seiner Theorie nicht erklären, weshalb an der Handlung des Gangsters etwas falsch ist. Zudem kann er nicht erklären, weshalb der bekehrte Gangster Reue zeigen sollte, wenn er an sein früheres Leben zurückdenkt: Reue ist laut Parfit angebracht, wenn eine Handlung begangen wurde, die gegen die Triple Theory verstößt (OWM I, 414); ein solcher Verstoß liegt in unserem Beispiel laut Parfit ja gerade nicht vor. Diese (implizite52) Beschränkung des Reuebegriffs auf Handlungen ist problematisch, denn es scheint doch so zu sein, dass wir nicht nur bereuen können, eine bestimmte Handlung vollzogen zu haben, sondern auch 51 Herman

2011, 87–89. 52 Parfit sagt nicht ausdrücklich, dass nur bei Verstößen gegen die Triple Theory Reue angebracht ist. Aber weil er auch nichts Gegenteiliges sagt, liegt diese Sicht nahe. 54  |  Matthias Hoesch und Martin Sticker 

bestimmte Ziele verfolgt zu haben oder sogar eine gewisse Person gewesen zu sein.53 Wer etwa nach einem Gesinnungswandel seine frühere rassistische Einstellung bereut, möchte damit nicht nur zum Ausdruck bringen, dass er bedauert, bestimmte rassistische Handlungen verübt zu haben. Vielmehr geht es hier auch um Schuldgefühle, Scham oder andere negative Einstellungen gegenüber sich selbst, die sich auf die frühere Denkungsart, auf Ansichten und Dispositionen gegenüber Mitgliedern gewisser Gruppen sowie auf Charakterzüge im Allgemeinen beziehen. Die Triple Theory könnte durchaus so interpretiert werden, dass sie entgegen unserer Darstellung die Haltung des Akteurs berücksichtigt. Denn auch wenn sie nur Aussagen über die moralische Richtigkeit von Handlungen macht, folgert Parfit daraus: »Everyone ought to follow the principles whose being universal laws would make things go best […]« (OWM II, 418). Diese Formulierung ist doppeldeutig; sie impliziert in einer Kant-affinen Lesart nicht nur, dass jedermann aus welchen Gründen auch immer so handeln soll, wie es die optimific principles vorschreiben (dies allein ließe sich aus der Triple Theory im strengen Sinn ableiten); sondern darüber hinaus auch, dass sich jeder diese Prinzipien einverleiben und aus diesen Prinzipien handeln sollte, da er diese Prinzipien als richtig anerkennt. Akteure könnten dann bereuen, dass sie eine Person waren, die nicht ihren Teil dazu beigetragen hat, dass »things go best«. Würde Parfit verlangen, dass wir aufgrund von optimific principles handeln, weil wir diese als moralisch richtig anerkennen, könnte er mit dem Gangster-Fall zu Hermans – und unserer – vollsten Zufriedenheit umgehen: Der reuige Gangster bedauert, dass er in der Vergangenheit aufgrund von falschen Prinzipien gehandelt hat, und er versteht nun, dass dies moralisch defizitär war. Doch wäre die Forderung, sich optimific principles einzuverleiben und sein Handeln von diesen Prinzipien leiten zu lassen, gleichbedeutend mit der Forderung, dass man optimific principles unter seine Maximen aufnehmen sollte. Denn optimific principles wären 53 Dies

gilt nicht nur für Reue, sondern für viele unserer sogenannten reaktiven Einstellungen, die sich auf Handlungen, aber auch auf Charaktermerkmale oder Einstellungen beziehen können. Der Begriff der reaktiven Einstellung wurde ursprünglich von Strawson eingeführt (wiederabgedruckt in Strawson 2008). Parfit über Kantianismus und ­Konsequentialismus  |  55

diejenigen Regeln, die sich jeder zu seinen subjektiven Grundsätzen machen sollte, und die einen guten Charakter konstituieren können. Wenn Parfit seine Theorie in diesem Sinne intendiert, sollte er seine Ablehnung gegenüber dem kantischen Maximenbegriff aufgeben und zulassen, dass optimific principles die Rolle von moralisch geforderten Maximen spielen. Die Prüfung moralischer Prinzipien wäre immer zugleich eine Prüfung von geforderten Maximen.54

3.2 Optimific principles und die Frage, warum eine Handlung ­moralisch richtig oder falsch ist

Auch wenn Parfit sich auf Ebene der Frage, warum ein Moralprinzip Gültigkeit beanspruchen kann, für einen Kantischen Kontraktualisten hält, fällt seine Antwort auf diese Frage für den Kantianer unbefriedigend aus. Denn Parfit ist in einem gewissen Sinn auf die These festgelegt, dass ein Moralprinzip gelten soll, weil es optimific ist. Wäre es nicht optimific, hätten im kontraktualistischen Modell die Beteiligten das Prinzip nicht gewählt und es könnte auch keine Geltung beanspruchen. Prima facie erscheint dies dem Kantianer – selbst wenn er diese Prinzipien weitgehend für richtig hielte – insofern problematisch, als im Prinzip alles über gute Konsequenzen gerechtfertigt werden kann. In der Literatur ist deshalb mehrfach argumentiert worden, dass bei der Prinzipienwahl die Beteiligten keine optimific principles wählen würden – jedenfalls sofern sie Kantianer sind.55 Parfit RaP diskutiert Parfit (Abschnitt 17) ausführlich den Government House Consequentialism, also die Idee, dass es bessere Folgen haben könnte, die breite Masse von einer nicht-konsequentialistischen Theorie zu überzeugen, als sie vom Konsequentialismus zu überzeugen. Diese Täuschung der Masse könne daher ein Gebot des Konsequentialismus sein. Viele halten dies für ein Problem des Konsequentialismus. Parfit hingegen argumentiert, dass der Konsequentialismus verlangt, das Gute zu befördern, nicht aber zwangsläufig an den Konsequentialismus als die richtige ethische Theorie zu glauben. Falls Parfit seine Meinung in OWM nicht geändert hat, dürfte er keine Probleme mit einer Welt haben, in der letztendlich alle aus Furcht vor einem imaginierten Spaghetti-Monster optimific principles angenommen haben. Dies spräche natürlich eindeutig dafür, dass er das Handeln aus Einsicht nicht in seine Theorie integrieren möchte, wie wir es hier erwägen. 55 Wolf (2011, 52) behauptet, dass Kantianer Prinzipien wählen würden, 54 In

56  |  Matthias Hoesch und Martin Sticker 

hat dies stets zurückgewiesen: Dass die Beteiligten unparteiische Gründe für optimific principles haben, sei analytisch wahr; und weil einige der Beteiligten starke parteiische Gründe hätten, alle plausiblen Prinzipien, die nicht optimific sind, abzulehnen, könnten letztlich nur optimific principles den kontraktualistischen Test bestehen (OWM I, 478; II, 148 f.). Im Folgenden soll daher eine andere Strategie verfolgt werden: Anstatt die Festlegung der im Kontraktualismus Beteiligten auf optimific principles zu bestreiten, soll (α) gezeigt werden, dass Parfits These, ein Prinzip sei genau dann moralisch gefordert, wenn es optimific ist, dem Kantianer tatsächlich unplausibel erscheinen wird. Weil damit Parfits Theorie zu Prinzipien führt, die grundlegenden Überzeugungen der kantischen Tradition widersprechen,56 wird sodann (β) argumentiert, dass zur Lösung dieses Problems entweder der Kontraktualismus anders konzipiert oder ein Konzept von nicht-deontischen durchschlagenden Gründen eingeführt werden müsste. (α)  Betrachten wir zunächst die moralische Relevanz der oben angesprochenen persönlichen Bindungen. Parfit argumentiert mit Bezug auf Lifeboat in etwa wie folgt: Man darf und soll sein eigenes Kind bevorzugt retten, weil die allgemeine Befolgung eines Prinzips, das dieses nicht zuließe, Eltern-Kind-Beziehungen schwächen und somit den Wert solcher Bindungen reduzieren würde (vgl. OWM I, 370). Diese Begründung ist – jedenfalls für jeden, der nicht schon von vornherein von konsequentialistischen Theorien überzeugt ist – hochgradig kontraintuitiv. Denn moralisch ausschlaggebend ist doch die elterliche Bindung selbst, die unmittelbar eine besondere moralische Verpflichtung begründet, und zwar völlig unabhängig die Autonomie stärker berücksichtigen als Konsequenzen. Otsuka (2009) argumentiert, in einem engen Sinn von »best« in der Wendung »things go best« würden Kantianer keine optimific principles wählen; in einem weiten Sinn von »best« sei dagegen die Debatte rein begrifflich nicht mehr adäquat erfassbar. 56 Wie oben erläutert, verbietet die deontic belief restriction, dass innerhalb des Prüfungsverfahrens, das eine Theorie vorsieht, Überzeugungen über moralische Pflichten einfließen dürfen. Es ist dagegen zulässig, nach dem Prüfungsverfahren die Ergebnisse mit solchen Überzeugungen abzugleichen und das Verfahren so in Frage zu stellen (vgl. OWM I, 370). Parfit über Kantianismus und ­Konsequentialismus  |  57

von einem Gedankenexperiment, in dem andere solche Bindungen gestärkt oder geschwächt werden. Selbst wenn die allgemeine Befolgung eines Prinzips, welches elterlichen Bindungen Rechnung trägt, weniger positive Folgen hätte, würden Eltern an der moralischen Berechtigung der Bevorzugung des eigenen Kindes festhalten, so unsere starke Intuition. Am deutlichsten wird dieses Problem sicherlich, wenn man sich die Begründung strikter Unterlassungspflichten vor Augen führt. Parfit ist durchaus der Meinung, dass es solche Unterlassungspflichten geben muss. Gerechtfertigt werden diese allerdings durch Rekurs auf eine empirische und damit empirisch falsifizierbare Folgenabschätzung. Betrachten wir Parfits Beispiel der unfreiwilligen Organtransplantation57: Es muss ein striktes Verbot für Ärzte geben, Patienten gegen deren Willen umzubringen, um mehrere andere Leben durch Organtransplantationen zu retten, denn jedes Prinzip, welches dies nicht strikt verbieten würde, würde das Vertrauen in das Gesundheitssystem schwächen.58 Die Frage, welche Prinzipien das Vertrauen ins Gesundheitssystem schwächen, hängt von der psychologischen Beschaffenheit des Menschen ab. Wären Menschen mit einer anderen Psychologie ausgestattet – würden wir etwa auch bei einem gewissen Risiko noch zu blindem Vertrauen in das Gesundheitssystem neigen –, dürften für Parfit Ärzte sehr wohl Patienten gegen deren Willen umbringen, wenn es dem Vorteil vieler anderer dient – ein äußerst unbefriedigendes Ergebnis für jeden, der Menschenrechte oder Menschenwürde ernst nimmt, da nicht einzusehen ist, weshalb geringfügige Änderungen der menschlichen Psyche am Vorliegen eines Verstoßes gegen Menschenrechte etwas ändern sollten. Dass Menschenrechte gelten sollen, muss innerhalb der Triple Theory der zufälligen Tatsache zu verdanken sein, dass ihre universale Befolgung bessere 57 Parfit

benutzt dieses Beispiel in OWM, um den Vorzug des Regel- über den Handlungskonsequentialismus zu motivieren. In neueren Schriften gesteht er zu, dass auch der Handlungskonsequentialist mit dem Beispiel etwas besser umgehen kann, indem er sich auf die intrinsische Schlechtigkeit der Handlung des Arztes beruft, die die guten Konsequenzen überwiegen kann; vgl. OWM III, Kapitel 55. 58 Das sogenannte Anxiety and Mistrust Argument; vgl. OWM I, 363. 58  |  Matthias Hoesch und Martin Sticker 

Konsequenzen nach sich zieht als ihre gelegentliche oder systematische Verletzung. Die Schwäche in der Begründung solcher strikten Unterlassungspflichten deutet darauf hin, dass sich durchaus Prinzipien formulieren lassen, die optimific sind und zugleich Verstöße gegen Menschenwürde oder Menschenrechte zulassen. Denn auch wenn in den Moralprinzipien nur moralisch relevante Eigenschaften von Sachverhalten angeführt werden dürfen, muss man nur über ausreichend empirische Kenntnisse verfügen, um ein Prinzip formulieren zu können, das einerseits so selten zur Anwendung kommen kann, dass es keine wertvollen Praxen bedroht, und das andererseits einen hinreichend großen Nutzen verspricht. Im Folgenden sei dies anhand eines Gedankenexperiments vorgeführt: Medikamententest: Ein Medikament, das voraussichtlich viele Leben retten wird, muss vor Einführung an einigen gesunden Menschen getestet werden, um die chemische Zusammensetzung für menschliche Bedürfnisse zu optimieren. Es ist zwar äußerst wahrscheinlich, dass diese Optimierung gelingen wird, jedoch werden mit hoher Wahrscheinlichkeit einige der Testpersonen schlimme Folgeschäden erleiden. Es ist daher nicht möglich, freiwillige Testpersonen zu finden. Die medizinische Entwicklung der Menschheit ist bereits so weit fortgeschritten (es gibt Heilmittel gegen fast alle Krankheiten), dass es voraussichtlich keine ähnlichen Situationen mehr geben wird. Klarerweise wäre nur dasjenige Prinzip optimific, das es zulassen würde, im vorliegenden Fall Personen gegen ihren Willen zu Testpersonen zu machen. Ein solches Prinzip würde jedoch einen klaren Verstoß gegen Menschenrechte mit sich bringen, wie sie in unseren Rechtssystemen und im öffentlichen Bewusstsein verankert sind. Medikamententest zeigt, dass Parfits Art und Weise, Instru­ mentalisierungsverbote mit dem Anxiety and Mistrust Argument zu begründen, zu kurz greift. Obwohl Medikamententest dem Fall der Organtransplantation in den relevanten Belangen ähnlich erscheint, führen optimific principles zu anderen Ergebnissen. Folgende Schlussfolgerung liegt nahe: Auch wenn Parfit damit recht haben dürfte, dass die meisten Moralprinzipien optimific sind, legen unsere Intuitionen nahe, dass dies nicht auf alle zutrifft. Parfit über Kantianismus und ­Konsequentialismus  |  59

Der empirische Charakter der optimific principles verstößt aber nicht nur gegen manche Intuitionen; mit ihm geht auch ein epistemisches Problem einher: Die Annahme, ein Prinzip sei optimific, kann jederzeit durch neue empirische Erkenntnisse widerlegt werden. Dies mutet dem Akteur zu, sich umfassend mit unzähligen Informationen zu versorgen, möchte er die Gültigkeit von Moralprinzipien prüfen. Wer einsieht, dass er optimific principles folgen sollte, ist möglicherweise unfähig, dies zu tun, weil er nicht in der Lage ist zu entscheiden, welche Prinzipien dies sind, da ihm empirische Kenntnisse und wissenschaftliches Expertenwissen fehlen. Andersherum mag es sein, dass viele Akteure optimific principles folgen, ohne dass sie sich darüber im Klaren sind, dass diese Prinzipien optimific sind. Wenn es, wie in 3.1 argumentiert, einen Wert darstellt, dass moralisches Handeln im Wissen um die moralische Gebotenheit erfolgt, stellt dies Parfits Theorie vor ein weiteres Problem. (β)  So weit ist gezeigt, dass Parfits Theorie vor dem Hintergrund der Konzeption absoluter Verbote in der kantischen Tradition Defizite aufweist. Um diesen Einwänden Rechnung zu tragen, könnte Parfits Kontraktualismus geringfügig abgewandelt werden: Bevor sich die an der Prinzipienwahl Beteiligten auf irgendwelche Prinzipien einigen, räumen sie sich wechselseitig Rechte ein, die als Bedingung der Möglichkeit für die Wahl der eigent­lichen Prinzipien angesehen werden können. Dazu dürften etwa das grundlegende Recht auf körperliche Unversehrtheit, grundlegende soziale Rechte sowie das Recht auf freie Meinungsäußerung gehören. Aus diesen Rechten würden strikte moralische Unterlassungspflichten folgen, die allen weiteren moralischen Prinzipien vorgeordnet wären; sie würden deontic beliefs rechtfertigen, die bei der Prinzipienwahl berücksichtigt werden könnten, ohne in einen Zirkel zu verfallen. Solche Prinzipien wären anderen vorgeordnet, weil ein Verstoß gegen sie die weitere Prinzipienwahl unmöglich machen würde. Die Beteiligten würden bei der Prinzipienwahl selbst konsequentialistische Prinzipien wählen; wüssten aber, dass ihre fundamentalen Rechte durch vorgeordnete Prinzipien abgesichert sind. Eine in methodischer Hinsicht vergleichbare, zweistufig vorgehende Theorie hat etwa Benhabib aus der Habermas’schen Diskursethik zu entwickeln versucht.59 59 Benhabib

2011, 67.

60  |  Matthias Hoesch und Martin Sticker 

Parfit schlägt in seinen Erwiderungen auf kantianische Einwände eine andere Lösung vor: Es sei möglich, dass nicht-deontische durchschlagende Gründe (decisive non-deontic reasons) exis­ tierten, die dafür sprechen, kategorische Unterlassungspflichten einzuführen. So könnte etwa das Wesen des Menschen einen durchschlagenden Grund bereitstellen, ihn niemals gegen seinen Willen zu moralischen Zwecken zu instrumentalisieren. Gäbe es solche durchschlagenden Gründe, dann wären Prinzipien, die eine Instrumentalisierung zu moralischen Zwecken zuließen, nicht optimific, denn noch so gute Folgen könnten innerhalb der Folgenabwägung die Schlechtigkeit einer einzigen Instrumentalisierung nicht auf­ heben. Things would not go best, wenn auch nur einmal der durchschlagende Grund nicht zum Tragen käme. Menschenrechte wären letztlich einzuhalten und Menschenwürde zu achten, weil es solche durchschlagenden Gründe gibt, und nicht aufgrund von positiven Folgen ihrer Einhaltung. Ließe sich Parfit auf eine solche Theorie ein, müsste er einen bedeutenden Teil seiner Argumente revidieren – das Verbot, einen Patienten zur Rettung fünf anderer zu töten, stünde beispielsweise auf einer ganz anderen Grundlage. Dies zeigt deutlich, dass mit Parfits Verweis auf die mögliche Existenz nicht-deontischer durchschlagender Gründe der Streit zwischen Kantianern und Konsequentialisten nicht behoben, sondern nur verschoben wird: Gestritten wird dann zwar nicht mehr um die Frage, ob die Konsequenzen einer Handlung deren Richtigkeit konstituieren oder nicht, sondern um die Frage, ob es Gründe gibt, die manche Konsequenzen als unabwägbar schlecht disqualifizieren – und welche Konsequenzen dazu zählen.60 Es gibt solche Gründe, wird der Kantianer argumentieren, und alles, was Parfit etwa zur Lösung von Bridge entwickelt hat, wäre dann aus dieser Perspektive nutzlos. Es gibt sie nicht, wird der Konsequentialist behaupten, und jene deontologischen Intuitionen, auf die der Kantianer sich beruft, als irrational und unbegründbar verwerfen.

60 Otsuka

(2009, 68) wirft Parfit vor, unter dieser Bedingung sei gar keine non-konsequentialistische Theorie mehr denkbar. Das mag zutreffen, ist aber unseres Erachtens kein Einwand gegen Parfit, denn genau dies muss Parfit ja intendieren, wenn er dem Convergence Claim folgt. Parfit über Kantianismus und ­Konsequentialismus  |  61

4. Fazit Innerhalb der Debatte um die Vereinbarkeit von Kantianismus und Konsequentialismus stellt Parfits Theorie den ausgearbeitetsten und aussichtsreichsten Ansatz dar. Einige der Aspekte, in denen der traditionelle Kantianismus und der Regelkonsequentialismus ausein­ anderfallen, kann Parfit durch kleine Modifikationen tatsächlich ausräumen. Zugleich weist Parfit auf Probleme hin, die im traditionellen Kantianismus oft übersehen werden: Strenge Unterlassungspflichten wie etwa das Verbot, einen Kriminellen für einen guten Zweck zu foltern, sind weder aus dem Instrumentalisierungsverbot ohne zusätzliche Begründung abzuleiten, noch ergeben sie sich aus der allgemeinen Universalisierungsforderung. Aber Parfits Vorschlag, die kantische Theorie deshalb stärker an den Konsequentialismus anzunähern, kann ebenfalls nicht vollständig überzeugen. Parfit kann unsere Reaktionen auf grund­legende Charaktereinstellungen nicht adäquat einfangen, solange er so etwas wie Maximen aus der Theorie verbannen will. Daneben erscheint seine Variante absoluter Verbote als unzureichend, indem sie darauf rekurriert, was den Weltverlauf zufälligerweise zum Besten führen wird. Dies führt dazu, dass man Fälle wie Medikamententest entwerfen kann, in denen optimific principles gegen unser gängiges Konzept von Menschwürde verstoßen würden. Aus einer Perspektive, die kantische Einsichten über den Wert des moralischen Charakters und über die Bedeutung absoluter Verbote ernst nehmen möchte, dürfte der Versuch, zeitgenössische Varianten des Kantianismus zu schärfen und ihre anti-konsequentialistischen Elemente stärker argumentativ zu stützen, aussichtsreicher sein als die weitere Ausarbeitung der Idee, dass Kantianismus und Konsequentialismus letztendlich zusammenfallen.

62  |  Matthias Hoesch und Martin Sticker 

Thomas Pogge

Parfit und die Frage, was moralisch falsch ist Derek Parfit diskutiert in den Teilen II und III von On What Matters, die auf die zweite und dritte seiner Tanner Lectures1 zurückgehen, eine überwältigende Vielfalt von Formeln, von denen er annimmt, dass sie miteinander im Wettstreit stehen. Bevor Parfits Thesen über Gewinner und Verlierer unter diesen Formeln eingeschätzt werden können, muss zunächst einmal verstanden werden, worum es bei diesem Wettstreit geht: Für welche Rolle sollen die Formeln geeignet sein? Durch den Bezug auf welche Aufgabe können wir ihren Erfolg oder Misserfolg beurteilen? Alle Formeln, die Parfit untersucht, beinhalten wesentlich das Substantiv »Handlung« bzw. seine Verbform »handeln«. Im Teil II von OWM beinhalten die meisten Formeln daneben das Adjektiv »falsch«. Die meisten Formeln sind dort Kriterien, mit denen beurteilt werden soll, welche Handlungen falsch oder nicht falsch sind bzw. wie es falsch oder nicht falsch ist zu handeln. In Teil III beinhalten die meisten Formeln darüber hinaus das Verb »sollen«. Dort sind die meisten Formeln Kriterien zur Entscheidung der Frage, welche Handlungen man tun bzw. lassen sollte, wie man handeln bzw. nicht handeln sollte. Weil Parfit nichts Anderslautendes sagt, können wir davon ausgehen, dass er die Formulierungen von »Handeln« als Substantiv und als Verb für äquivalent hält und dass er »nicht sollen« und »ist falsch« – man könnte noch »unerlaubt« ergänzen – als koexten­ sive binäre Prädikate auffasst. Eine Handlung ist genau dann falsch, wenn sie unerlaubt ist und wenn man sie nicht ausführen soll. Und man soll eine Handlung genau dann ausführen, wenn es falsch oder unerlaubt ist, sie nicht auszuführen. Diese Koextensivität tritt etwa zu Tage, wenn Parfit schreibt, die Formula of Universally Willable Principles – »Eine Handlung ist falsch, solange solche Handlungen nicht von einem Prinzip erlaubt werden, dessen universale 1

Parfit 2004, 285 – 369.   |  63

Akzep­tanz jeder rationalerweise wollen kann« – könne als Kantian Contractualist Formula reformuliert werden: »Wir sollen nach denjenigen Prinzipien handeln, deren universale Akzeptanz jeder rationalerweise wollen kann« (vgl. OWM I, 341 f.). Indem Parfit diese Äquivalenzbehauptung aufstellt, setzt er eindeutig voraus, dass die Formulierungen »Eine Handlung ist falsch, solange …« und »Wir sollen so handeln …« beide darauf abzielen, eine Eigenschaft von Handlungen zu identifizieren, deren Fehlen dazu führt, dass eine Handlung falsch ist und nicht ausgeführt werden sollte. Die Formeln, mit denen Parfit sich auseinandersetzt, sagen klarerweise etwas darüber, wann eine Handlung falsch oder unerlaubt ist bzw. nicht ausgeführt werden sollte. Weniger klar ist, ob die Formeln uns auch sagen, ob eine Handlung nicht falsch (also richtig) ist. Die Tatsache, dass eine Handlung eine Eigenschaft nicht hat, die sie falsch machen würde, ist kompatibel damit, dass die Handlung in einer anderen Hinsicht falsch sein könnte. Auch wenn die Formeln, die Parfit präsentiert, in diesem Punkt doppeldeutig sind, wird meines Erachtens in seiner Diskussion klar, dass er die Formeln so auffasst, dass sie hinreichende und notwendige Bedingungen für die Falschheit von Handlungen angeben. Daher verstehe ich alle behandelten Formeln als (in diesem Sinne) vollständige Kriterien für die Falschheit von Handlungen. Handlungen werden von Parfit als Handlungstokens verstanden, also beispielweise bestimmte Bewegungen, die eine Person zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort mit ihrem Körper absichtlich ausführt oder absichtlich unterlässt. Es ist ein bekanntes Problem, dass Handlungen individuiert werden müssen, bevor sie mit einer der Formeln bewertet werden können. Wenn man nicht weiß, wie Handlungen zu individuieren sind, dann weiß man auch nicht, wie die verschiedenen vorgeschlagenen Kriterien anzuwenden sind.2 Weil jedoch keines der von Parfit in Erwägung gezogenen Kriterien einen Hinweis darauf enthält, wie dieses Problem zu lösen ist, und Parfit sich ebenfalls nicht dazu äußert, übergehe ich es hier und tue so, als lägen uns Handlungen eindeutig und unkontrovers individuiert vor. 2

Zu diesem Aspekt vgl. meinen Aufsatz Pogge 2001.

64  |  Thomas Pogge 

All die konkurrierenden Kriterien, die Parfit diskutiert, bewerten Handlungstokens auf der Grundlage eines Typs, zu dem sie gehören. Dies wirft ein weiteres berüchtigtes Problem auf: Anhand welcher Beschreibung oder Beschreibungen ist eine Handlung zu bewerten? Ebenso wie ein gegebener Handlungstyp durch unendlich viele Handlungstokens exemplifiziert werden kann, so kann auch ein gegebenes Handlungstoken unendlich viele Handlungs­typen exemplifizieren. Um ein Token anhand seines Typs bewerten zu können, müssen wir deshalb wissen, welcher Typ ausschlaggebend sein soll. Wir müssen in der Lage sein, den Typ oder die Typen korrekt zu identifizieren, auf dessen/deren Grundlage das gegebene Token zu beurteilen ist. Das Problem wird deutlich, wenn man sich die 13 konkurrierenden Kriterien ansieht, die Parfit in seinen Tanner Lectures in einem Diagramm unterscheidet.3 All diese Formeln beziehen sich darauf, dass Menschen in derselben Weise (»in this way«) handeln, oder auf die Frage, was Menschen über die Zulässigkeit von solchen Handlungen (»such acts«) glauben. All diese Kriterien sind daher bedeutungslos, solange es keine zusätzlichen Instruktionen darüber gibt, wie die Typen zu identifizieren sind, unter Rekurs auf welche die in Frage stehenden Handlungstokens zu beurteilen sind. Um ein Gespür für die Schwierigkeit zu bekommen, kann als Beispiel herangezogen werden, wie Parfit die Formel 11 in den Tanner Lectures diskutiert: »An act is wrong unless everyone could rationally will that everyone acts in this way.«4 Parfit lässt diese Formel schnell fallen mit Verweis darauf, dass Kant nicht falsch daran gehandelt habe, keine Kinder zu haben.5 Doch dies erscheint vorschnell. Gehen wir einmal davon aus, dass niemand rationalerweise wollen kann, dass jeder nach der Regel handelt, ungeachtet der Umstände kinderlos zu bleiben. Verbietet Formel 11 es also, kinderlos zu bleiben? Diesen Schluss kann man nicht ziehen, denn es trifft wahrscheinlich ebenso zu, dass jeder durchaus rationalerweise wollen kann, dass jeder nach der Regel handelt, kinderlos zu bleiben, wenn er dies möchte und wenn es entweder sehr viele Menschen 3 Vgl.

Parfit 2004, 336. 2004, 337; vgl. OWM I, 341. 5 Vgl. Parfit 2004, 337. 4 Parfit

Parfit und die Frage, was moralisch falsch ist   |  65

oder eine steigende Zahl an Menschen gibt. Um angeben zu können, ob Formel 11 Kants Kinderlosigkeit verbietet oder nicht, müssen wir wissen, welcher der in Kants konkretem Verhalten exempli­ fizierten Typen der relevante Typ ist, auf den sich die Formel mit der Wendung »in this way« bezieht. Parfit schreibt so, als hätte er eine Antwort auf dieses Problem, aber er sagt uns weder, was diese Antwort ist, noch – und das ist noch wichtiger – wie er diese richtige Antwort unter den endlos vielen Möglichkeiten hat ausfindig machen können (vgl. OWM I, 310–12). Sieht man Parfits Texte durch, finden sich einige Formeln, die das Problem ansprechen. Dabei tauchen vier verschiedene Ansätze auf, wobei Parfit die Unterschiede unter ihnen nicht klar herausstreicht. Ansatz A beruft sich auf die Beschreibungen, unter denen der Akteur selbst intentional handelt, also darauf, was der Akteur absichtlich tut. Dies soll sich nicht darin erschöpfen, was der Akteur beabsichtigt, sondern auch die absehbaren Nebenfolgen seiner Handlung miteinschließen. Parfit gibt das Beispiel eines Revolutionärs, der erwägt, einen Zug in die Luft zu sprengen. Seine Absicht ist es, den Zaren zu töten. Aber was er intentional tut, so Parfit, schließt auch die Tötung anderer Passagiere mit ein, deren Tod der Revolutionär klar absehen kann (OWM I, 297). Ein Beispiel für Ansatz A ist die in den Tanner Lectures diskutierte Formel RLN, welche besagt, dass eine Handlung (Token) falsch ist, wenn der Akteur nicht rationalerweise wollen kann, dass jeder tut, was er selbst intentional tut, wenn er auf diese Art handelt.6 Es ist sicherlich nicht einfach – und sogar für den Akteur selbst nicht einfach –, das zu identifizieren, was jemand intentional zu tun erwägt. Aber ohne eine solche Identifizierung weiß unser Revolutionär nicht, was genau er sich zu fragen hat – etwa: »Kann ich rationalerweise wollen, dass jeder Züge in die Luft sprengt, wenn er glaubt, dass dadurch der Zar und vielleicht andere Passagiere ums Leben kommen werden?« oder »Kann ich rationalerweise wollen, dass jedermann Menschen, die er für Massenmörder hält, umzubringen versucht und dabei die Tötung anderer Menschen in Kauf nimmt?« usw.

6 Parfit

2004, 328.

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Parfit stellt Ansatz A als denjenigen Kants vor.7 Aber Kant hatte etwas anderes im Sinn, als er den Begriff der Maxime ins Zentrum seiner Moralphilosophie stellte. Ich habe Kants Theorie andernorts besprochen und möchte meine Lesart hier nicht wiederholen.8 Aber vier kurze Absätze sollen eine wesentliche Differenz zwischen Parfits und meinem Kant-Verständnis herausarbeiten.9 Parfit sucht nach einem Kriterium für die moralische Falschheit von Handlungstokens, welches auf ein Kriterium für die Beurteilung von Handlungstypen rekurriert. Parfit glaubt, dass Kant das gleiche Projekt verfolgte. Aber dem ist nicht so. Wenn Kant den Kategorischen Imperativ formuliert, ist er an Parfits Problemstellung, der moralischen Bewertung von Handlungstokens, nicht interessiert. Vielmehr interessiert sich Kant für die moralische Bewertung von Handlungstypen, oder genauer: für die moralische Bewertung der Maximen der Akteure. Der Kategorische Imperativ ist ein Kriterium für die Zulässigkeit von Maximen, und Kant will 7 Vgl.

ebd. Pogge 1989, 172 – 193. 9 Es gibt noch zwei weitere wichtige Unterschiede zwischen meiner und Parfits Kant-Lesart. Erstens denke ich, dass Kant nicht lediglich eine Behaup­ tung aufstellt, wenn er die Äquivalenz der verschiedenen Fassungen des Kategorischen Imperativs betont (GMS, AA 04, 436); er erteilt eher eine Anweisung: Die verschiedenen Fassungen steuern unterschiedliche Dinge zur Klarstellung und Spezifizierung des Kategorischen Imperativs bei – sie bereichern graduell seine Bedeutung, bis schließlich seine gesamte Aussagekraft verständlich wird. Hat man sie einmal vollständig verstanden, kann man dann die einzelnen Fassungen des Kategorischen Imperativs je so interpretieren, dass sie miteinander äquivalent sind, was Kant ja postuliert (ebd.). Zweitens denke ich, dass Parfit von Beginn an in Kants Formeln sein eigenes Verständnis davon hineindeutet, was es heißt, etwas rationalerweise zu wollen oder zu wünschen. (Im Gegensatz zu Kant unterscheidet Parfit diese beiden Ausdrücke nicht voneinander und auch nicht von anderen Ausdrücken wie etwa »could rationally share« (Parfit 2004, 306), »could rationally consent to« (ebd., 292–5, 298–301, 312–14, 337 f., 352, 359), »could rationally choose« (ebd., 293–5, 338, 348 ff.), »to whose acceptance it would be rational to agree« (ebd., 339, 348)). Das führt zu einem verzerrten Bild, weil Kant – vor allem innerhalb der Diskussion der zweiten Fassung seines Moralprinzips – eine ausgearbeitete Theorie darüber vorlegt, was ein vernünftiges Wesen wollen muss und nicht wollen kann. In diesem Beitrag möchte ich mich jedoch auf die Tragweite der Parfit’schen Diskussion der vielen Formeln konzentrieren, die er unter die Lupe nimmt, und nicht darauf, wie Kants Kategorischer Imperativ sich von all diesen Formeln unterscheidet. 8 Vgl.

Parfit und die Frage, was moralisch falsch ist   |  67

auf dieses Kriterium bei der Bewertung des Charakters (des »guten Willens«) von Akteuren rekurrieren – und nicht bei der Bewertung von Handlungstokens. Es kommt hinzu, dass Parfit irrtümlich annimmt, dass Maximen in Kants Sinn Moralprinzipien auf mittlerer Ebene sind. Dies wird deutlich, wenn man sich die Kantian Contractualist Formula ansieht: »Wir sollen nach denjenigen Prinzipien handeln, deren universale Akzeptanz jeder rationalerweise wollen kann« (vgl. OWM I, 341 f.). Die Formeln, die Kant formuliert, richten sich nicht auf Moralprinzipien mittlerer Ebene, die sich zur Falschheit oder Zulässigkeit von Handlungstokens äußern. Sie gehen vielmehr auf Maximen, die Kant als subjektive Prinzipien des Wollens oder des Handelns definiert – d. h. als persönliche handlungsleitende Grundsätze oder Regeln.10 Wenn Kant sagt, dass es falsch ist, nach einer bestimmten Maxime zu handeln, oder dass wir nach einer bestimmten Maxime nicht handeln sollen, meint er damit, dass es falsch ist, diese (unerlaubte) Maxime zu haben und nach ihr zu handeln (ihr verpflichtet zu bleiben). Daraus folgt nicht, dass jede Handlung, die der Maxime folgend ausgeführt wird, falsch ist. Parfit liegt vollkommen richtig, wenn er feststellt, dass ein Gangster keine falsche Handlung ausführt, wenn er seinen Kaffee bezahlt, bloß weil ihm dies weniger Ärger verschafft, als wenn er ihn stehlen würde (vgl. OWM I, 216). Aber dies ist kein stichhaltiger Einwand gegen Kant. Denn wenn Kant behauptet, dass ein solcher Gangster falsch handelt, meint er nicht, dass seine Handlung (Handlungstoken) falsch ist, sondern dass seine Maxime und das Handeln nach dieser Maxime falsch ist. In der Tat bringt Kant das Krämer-Beispiel11 genau deshalb, um auf den Punkt hinzuweisen, den Parfit mit dem Gangster-Beispiel aufzeigt. Der Krämer handelt pflichtgemäß: Seine Handlungstokens sind erlaubt, und deshalb handelt er in Parfits Sinn nicht falsch. Aber der Krämer handelt nicht aus Pflicht: Er handelt in Kants Sinn 10 Vgl.

GMS, AA 04, 400 Anm. und 420 Anm. 397. Sam Kerstein hat dafür argumentiert, dass Kant davon ausgeht, dass der Krämer nach einer erlaubten Maxime handelt. Wenn er Recht hätte, müsste ich andere Belege für meine These suchen, dass Kant sich darüber im Klaren war, dass man, nach einer verbotenen Maxime handelnd, erlaubte Handlungstokens ausführen kann. 11 Ebd.,

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deshalb schon falsch (verstößt gegen den Kategorischen Imperativ), weil es nicht erlaubt ist, nach der Maxime uneingeschränkter Profitmaximierung zu handeln. Das Krämer- und das Gangster-Beispiel illustrieren Kants Punkt, dass ein Verhalten zugleich richtig (als Token) und falsch (als Typ) sein kann – dass ein Akteur, der erlaubte Handlungstokens ausführt, in Kants Sinn je nach der tatsächlichen Maxime, die dem Verhalten zugrunde liegt, richtig und falsch handeln mag.12 Sicherlich hatte Kant nicht nur zu den Fragen, wann eine Maxime moralisch falsch ist und wann jemand einen guten Willen hat, seine Überzeugungen, sondern auch zu Parfits Frage, wann ein Handlungstoken moralisch falsch ist. Aber Kant gibt keinen klaren Weg von der ersten zur letzten Frage an die Hand. Die Verbindung kann nicht einfach darin bestehen, dass ein Handlungstoken genau dann moralisch falsch ist, wenn es unter einer verbotenen Maxime ausgeführt wurde. Das Krämer- und das Gangster-Beispiel widerlegen dies. Der Übergang dürfte in etwa so funktionieren: Ein Handlungstoken ist genau dann falsch (pflichtwidrig), wenn jede Maxime, unter der es ausgeführt werden kann, verboten ist.13 Nennen wir dies den Ansatz B. Parfit diskutiert ihn in OWM I, 295 f. kurz, verwirft ihn aber aufgrund der sog. Rarity Objection.14 Weil mein Interesse hier der Philosophie Parfits gilt und nicht der Kants, werde ich Kants Antwort auf Parfits Frage, wann Handlungstokens falsch sind, nicht weiter ausbuchstabieren. Lassen wir den Exkurs hinter uns und kommen wir zu dem nächsten Ansatz, Handlungstokens nach einem Kriterium zu beur12 In

ähnlicher Weise handelte Kant mit seiner Kinderlosigkeit richtig (als Token) und entweder richtig oder falsch (als Typ) – beispielsweise richtig, wenn er nach der Maxime »Bleibe kinderlos, wenn du eine Präferenz dafür hast und es eine große oder steigende Zahl an Menschen gibt!« gehandelt hat, oder falsch, wenn er nach der Maxime »Bleibe unter allen Umständen kinderlos!« gehandelt hat. 13 Man sieht hier, wie schwierig es wäre zu zeigen, was Kant zeitweise geglaubt zu haben scheint – dass alle Handlungstokens, die eine Lüge beinhalten, falsch sind. Man müsste zeigen, dass alle denkbaren Maximen, denen folgend unter bestimmten Umständen gelogen werden müsste, verboten sind. Viele dieser unendlich vielen Maximen würden den Begriff der Lüge vermutlich gar nicht verwenden. 14 Vgl. den Beitrag von Hoesch/Sticker in diesem Band. Parfit und die Frage, was moralisch falsch ist   |  69

teilen, das auf ein nachgeordnetes Kriterium für die Bewertung von Handlungstypen rekurriert. Dieser Ansatz erzielt die binäre Einteilung von Handlungen in richtige oder falsche anhand einer eben solchen Einteilung weder von Handlungsbeschreibungen noch von Maximen, sondern von Moralprinzipien mittlerer Ebene.15 Jedes dieser Prinzipien definiert einen bestimmten Handlungstyp und erklärt dann die unter ihn fallenden Handlungen für richtig oder falsch. Natürlich gibt es unendlich viele solcher Prinzipien, die oftmals miteinander nicht vereinbar sind. Moralprinzipien mittlerer Ebene können dennoch hilfreich sein, Handlungstokens in richtige und falsche einzuteilen, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: 1. Wir können zumindest von einigen Moralprinzipien mittlerer Ebene sagen, dass sie gültig sind. 2. Das Set von gültigen Moralprinzipien mittlerer Ebene ist konsistent, so dass kein Handlungstoken von einem gültigen Prinzip als falsch und zugleich von einem anderen gültigen Prinzip als richtig eingestuft wird. Soll die Einteilung der Handlungstokens in richtige und falsche alle Handlungstokens erfassen, dann muss eine dritte Bedingung erfüllt sein: 15 Parfit

bringt Rawls mit diesem Ansatz in Verbindung. Rawls macht tatsächlich zwei kurze Bemerkungen dieser Art über »rightness as fairness« in seinem Werk A Theory of Justice (1999, 15 und 95 f). Eine derartige Position wurde von David A. J. Richards ausgearbeitet (vgl. Richards 1971). Aber Rawls hat diese Idee später zurückgewiesen, etwa in Justice as Fairness: A Restatement (2001, 186–188). Ich möchte ergänzend darauf hinweisen, dass Parfit auch über die Frage, wie eine solche Position funktionieren würde, von falschen Annahmen ausgeht, wenn er schreibt: »He [Rawls] tells us to suppose that, when we were choosing moral principles, everyone’s main aim would be to promote their own interest« (OWM I, 438). Ich denke, dass dieser Fehler einer isolierten Lesart des Abschnitts 27 von A Theory of Justice geschuldet ist, in dem Rawls nicht seine eigene Position darstellt, sondern eine kontraktualistische Rechtfertigung des sog. Durchschnittsnutzenutilitarismus umreißt. Rawls’ eigene Position weicht in dem Punkt davon ab, dass die Parteien im Urzustand wissen, dass diejenigen, die sie repräsentieren, drei Interessen höherer Ebene haben – grob gesagt, ihre Anlagen zu einem Gerechtigkeitssinn und zu einer Konzeption des Guten zu entwickeln und auszuüben und erfolgreich der von ihnen formulierten besonderen Konzeption des Guten nachzugehen (deren Inhalt im Urzustand nicht bekannt ist). Vgl. Rawls 1993, 74, aber auch 19. 70  |  Thomas Pogge 

3. Zu jedem Handlungstoken gibt es wenigstens ein Moralprinzip mittlerer Ebene, von dem man weiß, dass es gültig ist, und das auf dieses Handlungstoken anwendbar ist (d. h. entweder impliziert, dass dieses Handlungstoken richtig ist, oder impliziert, dass es falsch ist). Um diesen Ansatz funktionstüchtig zu machen, ist ein nachgeordnetes Kriterium erforderlich, mit dem beurteilt werden kann, welche Moralprinzipien mittlerer Ebene gültig sind. Die Formeln, die Parfit in der dritten seiner Tanner Lectures bzw. in Teil III von OWM untersucht, sollen diese Rolle übernehmen. Es ist bemerkenswert, dass er innerhalb der Diskussion der für diese Rolle in Frage kommenden Formeln die Frage, ob diese Formeln die Bedingungen 2 und 3 erfüllen, übergeht. Aber Parfit mag diese Frage nichtsdestoweniger indirekt thematisiert haben. Denn viele der Formeln, die Parfit diskutiert, sprechen über »Prinzipien« im Plural. Eine der in Frage kommenden Formeln erklärt zum Beispiel solche Prinzipien für gültig, deren universale Akzeptanz jeder rationalerweise wählen könnte (»the priciples whose universal acceptance everyone could rationally choose«).16 Diese Formulierung ist doppeldeutig, denn der Plural kann distributiv und kollektiv verstanden werden. Dadurch spaltet sich der gegenwärtige Ansatz in zwei verschiedene auf. Ansatz C folgt der distributiven Interpretation: Jedes Moralprinzip mittlerer Ebene wird einzeln und unabhängig von den anderen auf seine rationale Wählbarkeit geprüft. Die Prinzipien, die diesen Test bestehen, werden dann zu einem Set zusammengefügt, welches sich der Frage stellen muss, ob es die Bedingungen 2 und 3 erfüllt. Ansatz D folgt der kollektiven Interpretation: Komplette Sets von Moralprinzipien mittlerer Ebene werden auf ihre rationale Wählbarkeit untersucht.17 16

Parfit 2004, 361; vgl. OWM I, 342 und 400, wo Parfit wiederum zwischen »choose« und »will« – »wählen« und »wollen« – keinen Unterschied macht. 17 Während Parfit – bewusst oder aus Unachtsamkeit – in dieser Frage zweideutig bleibt, entscheidet sich Scanlon für beide der konkurrierenden Möglichkeiten! Sein Buch What We Owe to Each Other (1998) gibt genau zwei vollständige Formulierungen seines »general criterion of wrongness« (11) an die Hand. Nach der ersten gilt: »an act is wrong if and only if any principle that permitted it would be one that could reasonably be rejected« (4). Später gibt er sein Kriterium wieder als »an act is wrong if its performance under Parfit und die Frage, was moralisch falsch ist   |  71

Hierbei könnte man einfach von Anfang an festlegen, dass ein Set von Prinzipien nur dann rationalerweise gewählt werden kann, wenn es die Bedingung 2 und möglicherweise auch 3 erfüllt. Jedes Set von Moralprinzipien mittlerer Ebene, das Bedingung 2 erfüllt, kann als eine Moral bezeichnet werden; erfüllt es Bedingungen 2 und 3, so kann man es eine vollständige Moral nennen. Ansatz C gerät in ein großes Problem: Es ist sehr schwierig zu zeigen, dass alle Prinzipien, die den Test bestehen, ein konsistentes (Bedingung 2) und vollständiges (Bedingung 3) Set ergeben. Auch Ansatz D ist großen Problemen ausgesetzt: Eine Moral ist ein unhandliches Gebilde – es ist ganz schön langwierig, eine Moral im Detail auszubuchstabieren, und ganz schön schwierig, sie zu bewerten (gemäß ihrer rationalen Wählbarkeit, oder nach welchem Maßstab auch immer). Darüber hinaus gibt es noch das Problem der Eindeutigkeit: Es erscheint höchst unwahrscheinlich, dass sich nur eine einzige Moral als rational wählbar qualifizieren wird. Und dies kann zu Problemen führen, wenn Personen, die verschiedenen rational wählbaren Moralen verpflichtet sind, in einer gemeinsamen Welt interagieren. Die Tatsache, dass jede rational wählbare Moral in sich konsistent ist, garantiert nicht, dass solche Moralen harmonisch koexistieren können. Aber vielleicht lässt sich dieses Problem von Ansatz D in einen Vorteil ummünzen. Führen wir uns vor Augen, wie Parfit Kant dafür kritisiert, dass dieser auf das Problem des Tyrannenmords eine falsche Antwort gebe, und gegen Kant vertritt, es wäre erlaubt gewesen, während des Zweiten Weltkriegs ein Attentat auf Hitler zu verüben.18 Sicherlich, wenn alle Deutschen dies für erlaubt gehalten hätten, wäre Hitler auf der Hut gewesen – kein Anschlag hätte erfolgreich sein können und die Nazis hätten eine noch größere Bedrohung dargestellt. Aber Parfit erklärt diese Tatsache für irrele­ vant. Er setzt dabei letztlich voraus, dass es schlecht wäre, wenn alle Deutschen den Tyrannenmord für verboten hielten, dass es noch schlechter wäre, wenn alle ihn für erlaubt hielten, und dass es am besten wäre, wenn eine große Mehrheit ihn für verboten und eine the circumstances would be disallowed by any set of principles for the general regulation of behavior that no one could reasonably reject« (153). 18 Parfit 2004, 321; vgl. OWM I, 280. 72  |  Thomas Pogge 

kleine intelligente Minderheit ihn für erlaubt hielte. Aber wie kann eine Moral dieses Ergebnis liefern? Wie kann eine Moral ihren Anhängern Unterschiedliches darüber sagen, was sie in identischen Umständen tun dürfen oder müssen? Parfit bietet keine Formel an, die auch nur versucht, dieses Problem zu lösen, das ihm zufolge Kants Position zum Verhängnis wird. Dieses Kunststück könnte mit einem Schachzug vollbracht werden, den Parfit nicht erwägt. Dieser Zug setzt an Ansatz D an, insofern relevante Handlungstypen durch Moralprinzipien mittlerer Ebene definiert werden, die kollektiv (als Moralen) bewertet werden. Die Innovation bestünde darin, Formeln zu konstruieren, deren Anweisung darüber, welcher Moral jemand folgen soll, sich auf die von anderen Akteuren befolgten Moralen bezieht. Diese Innovation bildet den Schachzug nach, den ich oben gemacht habe, um Kants Kinderlosigkeit gegen ihre Verurteilung durch Formel 11 zu verteidigen. Genauso wie Kant nach einer Maxime hätte handeln können, die seine präferierte Kinderlosigkeit davon abhängig macht, welche Maximen andere haben und wie sich andere verhalten, könnte ein plausibles Kriterium für Falschheit einem Deutschen genau dann erlauben, einer Moral zu folgen, die ein Hitler-Attentat erlaubt, wenn der großen Mehrheit der Deutschen ein solches Attentat von ihrer Moral verboten wird. Ich möchte an dieser Stelle eine Formel (oberstes Moralkriterium), die dieser Variante des Ansatzes D zuzurechnen ist, weder ausarbeiten noch verteidigen. Aber dieses Unterfangen würde sich lohnen. Es ist wichtig, dass Menschen verschiedene Berufe wählen. Daher geht die Frage »Welchen Beruf sollte jeder wählen, damit das beste Ergebnis erreicht wird?« von vornherein in die falsche Richtung. Wenn es wünschenswert ist, dass Akteure unterschiedlichen Moralen folgen, dann ist die Frage »Welcher Moral soll jeder folgen?« in gleicher Weise irreführend. Ziehen wir Bilanz. Ich sehe in Parfits Projekt den Versuch, Handlungstokens als entweder richtig (erlaubt) oder falsch (verboten) zu klassifizieren. Nachdem ich darauf hingewiesen habe, dass Parfit es versäumt, die Individuierung von Handlungstokens zu problematisieren, habe ich vier verschiedene Ansätze zur Durchführung seines Projekts unterschieden, die in seinen Texten durchklingen. Ansatz A klassifiziert ein Handlungstoken auf der Basis eines nachgeordneten Parfit und die Frage, was moralisch falsch ist   |  73

Kriteriums, das sich auf die Beschreibungen bezieht, nach denen der Akteur intentional handelt. Ansatz B klassifiziert ein Handlungstoken auf der Basis eines nachgeordneten Kriteriums, das sich auf die Maximen bezieht, unter denen der Akteur die Handlung ausführen könnte. Ansatz C klassifiziert ein Handlungstoken auf der Basis eines nachgeordneten Kriteriums, das sich auf Moralprinzipien mittlerer Ebene bezieht, die die Handlung erlauben oder verbieten. Ansatz D klassifiziert ein Handlungstoken auf der Basis eines nachgeordneten Kriteriums, das sich auf ganze Moralen bezieht, die die Handlung erlauben oder verbieten. Diese vier Ansätze, Handlungstokens als richtig oder falsch zu klassifizieren, unterscheiden sich erheblich voneinander. Wenn Parfits Theorie überzeugen soll, müsste er diese Unterschiede klarer herausarbeiten. Abschließend möchte ich auf die Frage nach dem Geltungsbereich des gesuchten Kriteriums, Handlungstokens in richtige und falsche zu sortieren, zurückkommen. Soll dieses Kriterium (a) für alle Handlungen von allen Akteuren zu allen Zeiten in allen möglichen Welten gelten; oder (b) nur für Handlungen von Menschen; oder (c) nur für Handlungen von Menschen, die in einem gerechten Rechtssystem leben; oder (d) nur für die Handlungen von Menschen, die in einem gerechten Rechtssystem in einer Welt leben, in der alle Akteure dieselben Moralprinzipien mittlerer Ebene befolgen? Oder wie sonst will Parfit den Geltungsbereich des von ihm gesuchten Kriteriums abstecken? Soweit ich sehen kann, geht Parfit dieser Frage nicht nach und hat an verschiedenen Stellen unterschiedliche Antworten im Sinn. (Man kann interessanterweise beobachten, dass Parfits Formulierung der Formeln, die er diskutiert, in den Tanner Lectures in etwa ab Seite 328 von Wendungen des Typs »it is wrong« zu solchen wie »our act is wrong« oder »we ought to« wechselt. Dass Parfit die erste Person Plural verwendet, deutet darauf hin, dass er zunehmend nicht mehr danach fragt, welcher Moral ein Akteur bei vorgegebenem Verhalten der anderen folgen sollte, sondern vielmehr danach, welcher Moral alle Akteure folgen sollten.) Diese Unklarheit ist problematisch, weil die Frage von großer Bedeutung ist. Wenn der Geltungsbereich einer Formel (d) oder auch (c) ist, dann wäre diese Formel, selbst wenn sie gültig wäre, für die Welt, in der wir leben, nutzlos. In unserer Welt benötigen wir unbedingt eine Moral, 74  |  Thomas Pogge 

die uns dazu anleitet, unser Handeln plausibel an die existierenden fehlerhaften Institutionen und Akteure anzupassen – an Akteure, die unsere Moral teilen, an solche, die einer anderen Moral folgen, und auch an solche, die amoralisch oder unmoralisch sind. Übersetzt von Matthias Hoesch

Parfit und die Frage, was moralisch falsch ist   |  75

Peter Schaber

Derek Parfit über die Achtung für Personen Parfit verteidigt in On What Matters das folgende Prinzip: (S) Everyone ought to regard everyone with respect, and never merely as a means. Even the morally worst people have as much dignity or worth as anyone else. (OWM I, 418)

(S) besagt, dass wir anderen Personen mit Achtung begegnen sollten und dass wir sie nie nur als Mittel zum Zweck behandeln dürfen. Dieses Prinzip, so Parfit, sei einer der wichtigsten Beiträge Kants zur Moralphilosophie. Allerdings sage es uns in dieser Formulierung noch nicht, wie wir handeln sollen: »(T)his requirement to respect all persons is one of Kant’s greatest contributions to our moral thinking. But it does not tell us how we ought to act« (OWM I, 233). (S) ist also ein interpretationsbedürftiges Prinzip: Was genau bedeutet es, Personen zu achten und welche Handlungsanleitungen lassen sich daraus entwickeln? Parfit schreibt hierzu: »Respect for persons should be, precisely, respect for them« (OWM II, 168). In diesem Aufsatz diskutiere ich Parfits Auffassung davon, was unter Achtung vor Personen zu verstehen ist. Parfit übersieht meines Erachtens eine wichtige Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Formen der Achtung, wobei eine von beiden eine überzeugendere Interpretation von (S) darstellt als diejenige, die von Parfit vertreten wird. Ich werde argumentieren, dass es wichtig ist, zwischen zwei Formen von Achtung zu unterscheiden: Personen zu achten kann erstens bedeuten, das, was Personen wollen, zu achten, sofern für dieses Wollen Gründe vorgebracht werden können. Dies ist Parfits Interpretation des Achtungsprinzips. Achtung kann aber zweitens auch bedeuten, die normative Autorität von Personen über ihr Leben zu achten – dies ist die Interpretation von Achtung, für die ich hier argumentieren werde. Diese zwei Formen der Achtung unterscheiden sich in ihren Handlungsimplikationen und sie sind in manchen Fällen nicht miteinander vereinbar.   |  77

Die nachfolgenden Ausführungen sind wie folgt aufgebaut: Im ersten Abschnitt wird Parfits Interpretation von (S) dargestellt. Im zweiten Abschnitt wird die Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen der Achtung eingeführt: nämlich zwischen jener des Wollens einer Person, für die Gründe vorgebracht werden können, und dem, was Personen einfach wollen. Im dritten Abschnitt wird erklärt, wie Achtung vor Personen als Personen verstanden werden sollte. Ich werde dabei, anknüpfend an den Vorschlag, Achtung als Achtung vor dem Wollen von Personen zu verstehen, die Idee verteidigen, Achtung vor Personen als Achtung vor ihrer normativen Autorität zu begreifen. Im vierten Abschnitt werde ich abschließend dafür argumentieren, dass mein Vorschlag nicht mit der von Parfit Wood und Kant zugeschriebenen Auffassung von Achtung verwechselt werden sollte, wonach Achtung vor Personen die Achtung vor ihrer Vernunft ist.

1.  Achtung und begründete Einwilligung Beginnen wir mit Parfits Interpretation von (S). Das Prinzip (S) besagt, dass Personen geachtet werden sollten und dass sie nie bloß als Mittel zum Zweck behandelt werden dürfen. Es ist auf den ersten Blick nicht klar, ob der Zusatz, dass Personen nie bloß als Mittel zum Zweck behandelt werden dürfen, zur Erläuterung des Achtungsprinzips dient oder aber eine weitere Überlegung einführt. Sollte man Personen achten und sie zusätzlich nie bloß als Mittel zum Zweck behandeln oder ist die zweite Aussage eine Erläuterung der ersten? Ich meine, dass der Zusatz »never merely as a means« (OWM I, 418) nicht als Erläuterung des Achtungsprinzips verstanden werden kann. Denn eine Person nur als Mittel zum Zweck zu behandeln, ist zwar eine Form der Missachtung – aber beileibe nicht die einzige. So ist es etwa auch eine Missachtung, wenn ich jemanden absichtlich verhungern lasse, weil ich mir seinen Tod wünsche. Aber dies kann kaum als Instrumentalisierung beschrieben werden. Dasselbe gilt für erniedrigende oder entwürdigende Handlungen – auch diese verletzen das Achtungsprinzip, ohne aber dabei notwendigerweise Personen bloß als Mittel zum Zweck zu behandeln. Personen zu achten ist also nicht dasselbe, wie sie niemals bloß als Mittel zum Zweck zu behandeln. 78  |  Peter Schaber 

Parfit verknüpft das Achtungsprinzip mit dem, was am menschlichen Leben wertvoll ist. Die Achtung vor Personen ist diesem Wert menschlichen Lebens geschuldet und liefert uns bestimmte Handlungsgründe: Dass Personen diesen Wert haben, bedeutet, dass sie bestimmte Eigenschaften haben, die uns Gründe liefern (»that give us or others reasons to respond to [them, P. S.] in certain ways« (OWM I, 235)). Bestimmte Werte sollten dabei nach Parfit (und anderen, z. B. Thomas Scanlon) gefördert werden; andere Werte sollten seiner Ansicht nach bloß respektiert werden. Letzteres trifft auf den Wert von Personen zu: We can […] turn to a kind of value which, as Scanlon and others say, is to be respected rather than promoted […] (P)eople are the best example of what can be claimed to have such value […] (OWM I, 237)

Die angemessene Reaktion auf den Wert von Personen besteht darin, sie mit Achtung zu behandeln. Doch was ist hier genau unter dem Wert von Personen zu verstehen? Parfit bezieht sich auf Thomas Scanlons Auffassung, wonach der Wert menschlichen Lebens uns Gründe gibt, auf verschiedene Weisen auf sie Rücksicht zu nehmen, z. B. Personen nicht zu töten, sie vor Gefahren zu schützen etc. (OWM I, 238). Er fügt dem hinzu, dass »when things have such value, it is really these things, not their value, that we have reasons to respect« (237). Mit Blick auf die Interpretation des Werts menschlichen Lebens unterscheidet Parfit zwischen zwei möglichen Varianten, von denen er die zweite für die überzeugendere hält: a) Gemäß der ersten Interpretation ist es möglich, dass das, was für eine Person wertvoll ist, nicht damit zusammenfällt, was im Interesse dieser Person ist oder was sie selber wünscht. Parfit illustriert diese Auffassung am Beispiel einer Person, die einen langsamen, schmerzvollen und unwürdigen Tod stirbt (vgl. OWM I, 238). Diese Person mag zwar Gründe dafür haben, ihr Leben zu beenden und könnte auch selbst wollen, dass ihr Leben endet, der ersten Auffassung zufolge wäre es aber dennoch falsch, diese Person zu töten, weil hierdurch der Wert des menschlichen Lebens nicht geachtet würde – ungeachtet dessen, was die betreffende Person will oder im Interesse dieser Person ist. Derek Parfit über die Achtung für Personen  |  79

b) Gemäß der zweiten Interpretation fällt das, was für eine Person wertvoll ist, hingegen gerade damit zusammen, was sie will oder Grund hat zu wollen. In Anwendung auf unser soeben diskutiertes Beispiel: Nur solange eine Person Gründe hat weiterzuleben oder sie selber weiterleben will, sollte sie (und sollten wir) ihr Leben nicht beenden: »We have reasons not to end someone’s life, (Scanlon) writes, ›only as long as the person whose life it is has reasons to go on or wants to live‹« (OWM I, 239). Es ist diese zweite (Scanlon’sche) Interpretation, die Parfit für richtig hält. Er schreibt hierzu: Scanlon denies that a person’s life has the kind of value that we ought to respect in ways that conflict with this person’s well-being and autonomy. This, I believe, is the right view about the value of human life. It is not human life but the people who live these lives who should be claimed to have the kind of value that people should be respected […] (OWM I, 239)

Der Wert, der unsere Achtung verdient, kann nach Parfits Auffassung demnach nicht in Konflikt mit dem Wohl oder der Autonomie von Menschen stehen – also damit, was gut für sie ist und was sie selber wollen. Um festzustellen, was genau das Achtungsprinzip von uns verlangt, verbindet Parfit die soeben erwähnte Interpretation des Werts menschlichen Lebens mit einem »Prinzip der begründeten Einwilligung«. Auch hier bezieht er sich wieder auf Scanlon, der (wie auch Kant) gemäß Parfit die folgende Sichtweise vertritt: We should respect this value, Scanlon claims, by treating people only in ways that could be justified to them. Kant similarly claims that, to respect people, we should treat them only in ways to which they could rationally consent. (OWM I, 239)

Menschen mit Achtung zu begegnen bedeutet dieser Sichtweise zufolge, sie in einer Weise zu behandeln, in die sie mit guten Gründen einwilligen können. Umgekehrt liegt eine Missachtung von Personen dann vor, wenn man sie in einer Weise behandelt, die sie begründet zurückweisen können. Die Achtung bezieht sich also auf diejenigen Dinge, die Personen wollen und tun, für die Gründe vorgebracht werden können. Man achtet eine Person dann, wenn man die Gründe, bestimmte Dinge zu wollen, die sie selber hat, 80  |  Peter Schaber 

als handlungsanleitend betrachtet. Beispielsweise wäre es eine missachtende Handlung, einer Person Schmerzen zuzufügen, weil sie keine Gründe hat, Schmerzen empfinden zu wollen. Umgekehrt wäre es ein Ausdruck von Achtung, Schmerzen zu verhindern, weil die betreffende Person Gründe hat, keine Schmerzen empfinden zu wollen. Kurz gesagt: Achtung drückt sich darin aus, dass man das tut, was zu wollen und tun Personen Gründe haben. Dies ist Parfits Auffassung davon, was Achtung vor Personen im Kern bedeutet.

2.  Formen der Achtung Wie erwähnt ist Parfit der Ansicht, dass Achtung vor Personen sich darauf bezieht, was in ihrem Interesse ist und was sie selbst wollen.1 Er nennt in einem Atemzug zwei Dinge, die nicht identisch sein müssen: das, was im Interesse von Personen ist, und das, was sie wollen. Dieser Unterschied legt zwei Möglichkeiten nahe, was es bedeutet, Personen zu achten, nämlich a) das Wollen und Tun, welche durch Gründe gestützt werden, zu achten und b) das, was eine Person will, zu achten. Die Tatsache, dass jemand x wählt, kann als Grund angesehen werden, dass ihre Wahl von x geachtet werden muss. Man kann umgekehrt eine Wahl als achtungswürdig ansehen, weil für sie gute Gründe sprechen. Achtung vor einem begründeten Wollen und Tun muss von Achtung vor Personen unterschieden werden. Parfit selbst schreibt: »respect for persons should be, precisely, respect for them« (OWM II, 168). Personen als Personen zu achten, ist nun meines Erachtens gerade nicht dasselbe, wie ihre Gründe zu achten. Diese zwei Dinge – Personen zu achten und ihre Gründe zu achten – können sogar miteinander unvereinbar sein. Betrachten wir zur Illustration dieses Punktes folgendes Beispiel: Paul möchte gerne Projekt X verfolgen. Jill denkt sich mit Recht, dass er dafür überhaupt keine Gründe hat. Sie ist der Ansicht, dass sie Paul davon abhalten sollte, dieses Projekt zu verfolgen. Ihn davon abzuhalten wäre, so Jills Überlegung, das Beste für Paul. Dies könnte 1 »(R)especting

the value of someone’s life is not the same as […] doing what would both be best for this person and be what this person chooses« (OWM I, 239). Derek Parfit über die Achtung für Personen  |  81

ihm gegenüber auch gerechtfertigt werden, weil es eben keine guten Gründe für Projekt X gibt. Jill hält das zu Beginn erwähnte Prinzip (S) für richtig und glaubt, dass dieses ihr empfiehlt, Paul am Verfolgen des Projekts zu hindern – denn das Prinzip besagt ja gemäß Parfits Interpretation, dass wir Personen in einer Weise behandeln sollten, die ihnen gegenüber gerechtfertigt werden kann. Paul von seinem Projekt abzuhalten kann gerechtfertigt werden, weil er keine guten Gründe hat, Projekt X zu verfolgen. Demnach würde Jill Paul mit Achtung begegnen, wenn sie ihn davon abhält, Projekt X zu verfolgen. Sollten wir dieser Überlegung zustimmen? Man könnte hier argumentieren, dass Jill im Interesse Pauls handelt, wenn sie ihn daran hindert, etwas zu tun, das für ihn keinerlei Wert hat. Jill würde Paul vor einem Fehler bewahren, und das wäre gut für ihn. Man könnte der Ansicht sein, dass dies genau das ist, was Achtung vor Menschen von uns verlangt. Aber man könnte auch eine andere Position vertreten, der zufolge Paul nur dann geachtet wird, wenn sein eigener Wille respektiert wird: Jill sollte dieser Position zufolge Paul nicht davon abhalten, sein Projekt zu verfolgen, und zwar deshalb nicht, weil es nun einmal das ist, was er tun möchte. Jill mag recht damit haben, dass er keinen Grund hat, das Projekt zu verfolgen, aber er möchte es nun einmal verfolgen. Das ist sein Wille. Und sein Wille muss nicht deshalb geachtet werden, weil er Gründe hat, das Projekt zu verfolgen, sondern vielmehr, weil es das ist, was er tun möchte.2 Gemäß dieser Auffassung wäre es falsch, Paul von seinem Projekt abzuhalten, weil dies zu tun einer Missachtung seiner Person gleichkäme. Die Unterscheidung ist also die folgende: Nach dem ersten Vorschlag legt uns das Achtungsgebot nahe, den Willen der Person nicht zu respektieren; nach dem zweiten, soeben gemachten Vorschlag kann Achtung vor einer Person hingegen unvereinbar damit sein, ihre Handlungsgründe zu respektieren. Man könnte zunächst denken, dass der Unterschied bloß darin besteht, dass die zweite Interpretation sich auf subjektive statt auf objektive Gründe bezieht: 2 Wie

Stephen Darwall schreibt: »It is a familiar thought that the fact that someone else cares about or wants something is a reason to let them have it, or at least not to interfere with their getting it, that can be to some extent independent of whether they have reason to care about or want it.« (Darwall 2013, 113) 82  |  Peter Schaber 

Es ist wahrscheinlich, dass Paul zumindest glaubt, er habe Gründe, Projekt X zu verfolgen. Jill sieht diese Gründe nicht als Gründe, die Paul tatsächlich hat; aber Paul betrachtet sie als Gründe. Jill könnte richtig und Paul könnte falsch liegen (oder umgekehrt). Man könnte dahingehend argumentieren, Personen zu achten bestehe darin, das zu achten, wofür sie subjektiv Gründe zu haben glauben, auch wenn diese Gründe objektiv betrachtet nicht vorliegen. Nach dieser Auffassung sollte Jill Paul nicht daran hindern, Projekt X zu verfolgen, weil dieser glaubt, dass er Gründe hat, Projekt X zu verfolgen. Es ist aber nicht einsichtig, wieso die Überzeugung, Gründe zu haben, Projekt X zu verfolgen, normativ relevant sein kann für andere, wenn – wie Jill meint – die Überzeugung falsch ist. Es spricht dann aus Jills Sicht nichts dafür, dass Paul das Projekt X verfolgt. Und wenn es die Gründe sind, die es zu achten gilt, dann gibt es hier nichts zu achten. Das heißt: Es gibt keinen Grund für Jill, Pauls Vorhaben zu achten, weil es ihrer Ansicht nach keinen Grund für Paul gibt, das Vorhaben auszuführen. Gründe kann man nur achten, wenn sie vorliegen. Zusammenfassend kann Achtung vor Personen also in den folgenden, voneinander zu unterscheidenden Weisen verstanden werden: a) als Achtung vor Dingen, die Personen wollen und für die Gründe sprechen, oder b) als Achtung ihres Willens, unabhängig von ihren Gründen. Diese unterschiedlichen Auffassungen führen zu unterschiedlichen Handlungsanleitungen: So sollte Jill Paul nach der ersten Interpretation von Projekt X abhalten, nicht aber nach der zweiten Interpretation.

3.  Achtung vor Personen Personen zu achten ist nicht dasselbe wie ihre Gründe zu achten – dies ist das Ergebnis des vorhergehenden Abschnitts. Es gibt eine Form der Achtung, die sich darauf bezieht, was dafür spricht, dass sie bestimmte Dinge wollen und tun. Es gibt aber auch eine Form der Achtung, die sich auf die Personen selbst bezieht. Parfit denkt meines Erachtens an letztere, wenn er schreibt, dass »respect for persons should be, precisely, respect for them« (OWM II, 168). Achtung vor Personen, so mein Vorschlag, hat mit der Achtung ihres Derek Parfit über die Achtung für Personen  |  83

Willens zu tun. Sie besteht aber nicht einfach darin, dass das, was eine Person will, geachtet wird. Sie besteht vielmehr darin, dass ihr normativer Wille geachtet wird. Betrachten wir noch einmal das Beispiel: Paul möchte Projekt X verfolgen. Sein Wille, dies zu tun, ist zu achten, wenn er ein Recht darauf besitzt, darüber zu verfügen, ob er das Projekt X verfolgt. Jill darf ihn an der Verfolgung dieses Projekts nicht hindern, weil sie damit ein Recht von Paul verletzen würde. Und das ist genau dann der Fall, wenn Paul Jill nicht erlaubt, ihn daran zu hindern. Er könnte ihr das erlauben. Wenn er nichts kommuniziert, muss Jill davon ausgehen, dass er es nicht tut. Die Achtung vor seiner Person ist die Achtung des normativen Willens von Paul. Diesen Willen achten heißt die normative Autorität der Person achten. Und das heißt es – so die Idee, die nachfolgend verteidigt werden soll –, die Person zu achten. Betrachten wir zur Verdeutlichung das folgende Beispiel: John muss einen Artikel bis zum Ende der Woche fertigstellen, um ihn anschließend beim Herausgeber einer Zeitschrift einzureichen. Er kann dieses Ziel nicht ohne die Hilfe anderer erreichen. Anna könnte John behilflich sein, denn sie kennt sich mit dem Thema des Artikels sehr gut aus; sie weiß, wie man beim Einreichen des Artikels vorgehen muss, verfügt über alle relevanten Informationen usw. Zufällig besitzt Anna auch noch ein Exemplar von Johns Entwurf – sie könnte also den Artikel fertigstellen und für John einreichen. Nehmen wir weiter an, dass das Einhalten der Frist wichtig für Johns weitere Laufbahn ist. Er hat deshalb gute Gründe, Anna um Hilfe bei der Fertigstellung und beim Einreichen des Artikels zu bitten. Umgekehrt hat Anna auch gute Gründe, John behilflich zu sein. Aber es stellt sich heraus, dass John nicht will, dass Anna ihm hilft. Anna dürfte das bloß dann tun, wenn Paul ihr es erlauben würde. Dann würde er sein Recht außer Kraft setzen und sie dadurch autorisieren, ihm zu helfen. Dabei muss das, was John Anna erlaubt, nicht etwas sein, von dem er will, dass Anna es auch tut. Es könnte sein, dass er ihr erlaubt, den Artikel fertigzustellen und einzureichen. Er könnte aber gleichzeitig darauf hoffen, dass Anna auf seine Selbstwertschätzung Rücksicht nimmt und darauf verzichtet. Es ist hier zwischen dem, was man will, was andere tun, und dem, was man ihnen zu tun erlauben will, zu unterscheiden. 84  |  Peter Schaber 

Warum ist der Aspekt der Einwilligung oder der Bitte in normativer Hinsicht maßgebend? Wenn John seine Einwilligung gibt, dann übt er normative Autorität aus. Normative Autorität zu haben bedeutet, über die normative Kompetenz zu verfügen, normative Eigenschaften einer Situation bewusst zu ändern. Mit der Einwilligung verändert man die normative Situation dahingehend, dass jemand, der x tut, einem kein Unrecht antut, was ohne die Einwilligung der Fall gewesen wäre (vgl. hierzu auch Owens 2012, 166). Genau dies geschieht, wenn John Annas Hilfsangebot annimmt: Aus einer verbotenen Handlung (nämlich einer unangemessenen Einmischung) wird eine moralisch erlaubte Handlung. John verändert auch die normativen Eigenschaften der Situation, indem er Anna um Hilfe bittet, denn Bitten können für andere Akteure Gründe generieren, sofern der Bittsteller hierzu die erforderliche normative Autorität besitzt. Wenn nun Anna ohne Johns Einwilligung oder Bitte dessen Artikel fertigstellt und ihn einreicht, dann missachtet sie ihn. Anna behandelt John nur dann mit Achtung, wenn sie seine normative Autorität als handlungsanweisend anerkennt und ihm entsprechend nicht ohne seine Einwilligung oder Bitte hilft. Betrachten wir den folgenden Einwand: Könnte sich die Falschheit des Helfens ohne Einwilligung nicht auch dadurch erklären lassen, dass John vielleicht gute Gründe hat, nicht um Annas Hilfe zu bitten? Beispielsweise könnte John es vermeiden wollen, in Annas Schuld zu stehen und dadurch neue Verpflichtungen ihr gegenüber zu erwerben. Dies sind Gründe, die Anna ernst nehmen sollte. Möglicherweise wiegen diese Gründe letztlich schwerer als die Gründe, die für ein Fertigstellen und Einreichen des Artikels durch Anna sprechen, so dass sie, insgesamt betrachtet, John nicht helfen sollte. Ist dies der Fall, dann kann man auch über die Achtung von Gründen zum Schluss gelangen, dass Anna John nicht helfen sollte. Dies ist nicht die Sichtweise, die ich vertrete, denn dieser zufolge hängt das Urteil, dass Anna John nicht helfen sollte, nicht davon ab, ob John Gründe hat, Anna nicht um Hilfe zu bitten. Es hängt vielmehr davon ab, ob er ihr erlaubt, ihm zu helfen. Dies bedeutet, dass es einen Unterschied macht, ob man Handlungsanleitungen aus Gründen oder aber aus der Ausübung normativer Autorität ableitet. Ziehen wir erneut das soeben diskutierte Beispiel bei: John hat gute Gründe, seinen Artikel einzureichen, und hierzu braucht Derek Parfit über die Achtung für Personen  |  85

er Annas Hilfe. Nehmen wir weiter an, dass es auch Gründe gibt, die dagegen sprechen, Anna um Hilfe zu bitten. Unabhängig davon stellt sich heraus, dass John Anna schlicht nicht um Hilfe bitten will. Diese Zurückweisung der Hilfe ist nun nicht bloß ein weiterer Grund, den Anna gegen die Gründe, die dafür sprechen, John zu helfen, abwägen muss. Vielmehr sorgt Johns Zurückweisung ihres Hilfsangebots dafür, dass ihre Hilfe moralisch nicht erlaubt ist. Es liegen dabei zwar auch immer noch danach Gründe vor, die dafür sprechen, John zu helfen, seine Zurückweisung verbietet es aber, nach diesen Gründen zu handeln. Achtung vor Personen, so der Vorschlag, ist als Achtung ihrer normativen Autorität zu verstehen. Betrachten wir zum besseren Verständnis des Vorschlags eine leicht veränderte Version des oben diskutierten Jill/Paul-Beispiels: Paul verfolgt ein Projekt und bittet Jill darum, ihm dabei zu helfen. Jill ist richtigerweise der Meinung, dass Pauls Projekt keinerlei Wert hat. Das Projekt liefert ihr also keine Gründe, Paul zu helfen. Wenn er keinen Grund hat, das Projekt zu verfolgen, hat sie auch keine mit dem Projekt verbundenen Gründe, ihm dabei zu helfen. Dennoch hat Jill Gründe, Paul beim Verfolgen seines Projekts zu helfen. Diese Gründe werden durch Pauls Bitte um Hilfe geschaffen. Jill hat einen Grund ihm zu helfen, weil er sie darum gebeten hat – zumindest dann, wenn sie ihm nahesteht. In diesem Fall entsteht durch Pauls Bitte ein Grund für Jill, ihm zu helfen. Obwohl sie diesen Grund sieht, kommt Jill vielleicht zu dem Schluss, dass sie Paul nicht helfen wird, weil sein Projekt ihrer Mühe nicht wert ist. In diesem Fall schuldet sie aber Paul zumindest eine Erklärung für ihre Weigerung – sie würde ihn missachten, wenn sie seine Bitte einfach ignorieren würde. Indem Jill eine Erklärung für ihre Weigerung abgibt, trägt sie der Tatsache Rechnung, dass Pauls Bitte einen Grund für sie darstellt. Wie das Erteilen einer Einwilligung ist auch das Ersuchen um Hilfe eine Ausübung normativer Autorität, welche die normativen Eigenschaften der Situation verändert: Pauls Bitte lässt neue Gründe für Jill entstehen, die vorher nicht existierten. Diesen Gründen muss in irgendeiner Weise Rechnung getragen werden. Achtung vor Personen bedeutet, ihre normative Autorität zu achten. Es ist die Ausübung der normativen Autorität, die Personen 86  |  Peter Schaber 

haben, die bestimmt, was man mit ihnen tun und nicht tun darf. Es kann dabei sein, dass wir anderen Dinge erlauben, die nicht in ihrem Interesse sind. Was wir tun und nicht tun dürfen, hängt nicht davon ab.

4.  Vernunft und normative Autorität Diese Sicht der Achtung vor Personen sollte nicht mit der Kant zugeschriebenen Auffassung verwechselt werden, dass es die Vernunft von Personen ist, die zu achten ist. Ein solches Verständnis der Achtung spricht Parfit an, wenn er schreibt: Our concern to relieve people’s suffering should be grounded, not in the value of these people’s rationality, but in the ways in which suffering is bad for these people, by being a state that they have strong reasons to want not to be in.« (OWM II, 167)

Wenn Menschen leiden, ist das schlecht für sie. Das liefert ihnen Gründe, ihren Zustand zu verändern und ihr Leiden zu beseitigen. Das liefert allerdings, so kann man sagen, nicht nur ihnen, sondern auch uns Gründe, etwas gegen ihr Leiden zu tun. Das ist, wie Parfit schreibt, nicht deshalb der Fall, weil sie vernünftige Wesen sind, sondern weil es schlecht ist für sie zu leiden. Die Sicht, die Parfit hier zurückweist, besagt: Das Leiden anderer liefert uns nur deshalb Gründe, sich um sie zu kümmern, weil es sich dabei um vernünftige Wesen handelt. Dieser Auffassung gemäß, so Parfit, ist es der Wert der Vernunft, der zu achten ist. Er schreibt eine solche Auffassung von Achtung Alan Wood zu (vgl. Wood 2010). Er weist diese Ansicht zurück: »We ought to act for the person’s sake, not for the sake of her non-moral rationality […] Respecting your non-moral rationality is not the same as respecting you« (OWM II, 167). Die Auffassung von Achtung, die ich oben verteidigt habe, sollte allerdings nicht mit der Sicht von Achtung, die Wood zu verteidigen scheint, verwechselt werden. Nach meiner Auffassung haben wir Gründe, uns um das Wohl und Weh der anderen zu kümmern, und das genau dann, wenn die anderen uns dies erlauben. Das heißt: Die Gründe, etwas gegen das Leiden der anderen zu tun, sollten für uns nur dann handlungsanleitend sein, wenn die anderen uns dazu Derek Parfit über die Achtung für Personen  |  87

autorisieren, uns an diesen Gründen zu orientieren. Pauls Gründe zählen für mich, sofern er möchte, dass sie für mich zählen. Paul hat die normative Kompetenz, darüber zu bestimmen, ob die Gründe, die dafür sprechen, bestimmte Dinge zu tun und zu wollen, für andere auch Gründe zum Handeln sind. Doch wieso, so kann man fragen, soll das so sein? Ich glaube, dass das damit zu tun hat, dass wir unsere normativen Beziehungen zu anderen Menschen kontrollieren möchten. Betrachten wir dazu folgenden Fall: Jill hilft Paul. Sie wendet sehr viel Zeit auf für die Bearbeitung seines Essays. Damit wird das normative Verhältnis, das zwischen beiden besteht, verändert. Paul sollte Jill dankbar sein und er wird, wenn sie sich in einer ähnlichen Situation befindet, auch helfen müssen. Das könnte für ihn unproblematisch sein. Es wäre aber auch gut möglich, dass Paul nicht in der Schuld Jills stehen möchte. Er möchte ihr weder dankbar sein müssen noch ihr gegenüber zu einer vergleichbaren Hilfeleistung verpflichtet sein. Parfit glaubt, wie gesagt, dass wir das, was Personen wollen und tun, achten sollten, sofern es Gründe gibt, die für sie vorgebracht werden können. Ich habe hingegen argumentiert, dass Achtung als Achtung vor der normativen Autorität von Personen interpretiert werden sollte. Das ist nicht die Achtung der Vernunft des anderen. Richtig ist: Um normative Autorität ausüben zu können, und das heißt, um in der Lage zu sein, anderen Dinge zu erlauben oder nicht zu erlauben, muss man um die eigenen Rechte wissen und eine Idee davon haben, was es heißt, jemandem etwas zu erlauben. Zudem muss man auch wissen, was die normativen Konsequenzen sind, welche die Ausübung der eigenen normativen Autorität nach sich zieht. Man könnte sagen, dass nur Vernunftwesen dazu in der Lage sind. Das heißt aber nicht, dass die Vernunft geachtet werden soll. Geachtet werden soll vielmehr die normative Autorität von Personen. Parfit hat also recht, wenn er schreibt, »respecting your nonmoral rationality is not the same as respecting you« (OWM II, 167). Wie Parfit bin ich darüber hinaus auch der Meinung, dass wir die Auffassung zurückweisen sollten, dass unsere rationalen Fähigkeiten einen Wert besitzen, der durch nichts aufgewogen werden kann. Parfit schreibt: »If rationality’s value was infinitely far above all price, it would be wrong to ›trade‹ or ‘sacrifice’ any rational ability for the sake of anything with mere price, such as relief from pain« 88  |  Peter Schaber 

(OWM I, 242). Doch bei der Achtung vor Personen geht es nicht darum, die rationalen Fähigkeiten von Personen als absolut wertvoll zu behandeln. Es geht bei der Achtung vor Personen vielmehr darum, sie als Gesetzgeber in eigener Sache zu achten. Personen sollen in der Lage sein, zu bestimmen, was mit ihnen getan und nicht getan werden darf. So liegt es an ihnen, anderen Erlaubnisse zu erteilen und dadurch Handlungen zu erlauben, die sonst unerlaubt wären. Jemanden zu achten bedeutet, seine normative Autorität zu achten, selbst wenn er sie in einer Weise ausübt, die für ihn nicht gut ist. Wenn ich einer anderen Person eine Erlaubnis für eine Handlung, die mich betrifft, erteile, ist die fragliche Handlung genau deshalb erlaubt, weil ich die Erlaubnis erteilt habe. Das heißt es, die normative Autorität von Personen zu achten; und das heißt es, Personen zu achten.

Derek Parfit über die Achtung für Personen  |  89

Dieter Birnbacher

Instrumentalisierung – Überlegungen im Anschluss an Parfit  1.  Einleitung Parfits Überlegungen im Umkreis des kantischen Instrumentalisierungsverbots in On What Matters (2011) berühren eine Reihe seit längerem klärungsbedürftiger Fragen im Umfeld von Würde und Selbstzweckhaftigkeit des Menschen. Sie sind geeignet, wenn nicht gleich Lösungen, so doch zumindest wertvolle Erhellungen des Problemfelds zu bieten. Auf jeden Fall bieten sie vielerlei Anregungen für weitere Überlegungen. Es gibt also mehrere Gründe, sich mit den Kapiteln 9 und 10 seines magnum opus näher zu beschäftigen. Selbstzweckhaftigkeit hat Instrumentalisierung zum Gegenbegriff, und dieser Begriff ist in den letzten Jahrzehnten zu einer der verbreitetsten moralischen Beurteilungsprädikatoren geworden – nicht nur in Deutschland mit seiner kantianischen Verfassungs­tradition. Auch wenn in den meisten Sprachen ein Wort, das dem deutschen Wort »Instrumentalisierung« entspricht, nicht zu den etablierten Lexemen gehört oder nur in der philosophischen Fachsprache existiert, ist der Inhalt dieses Terminus doch europa-, wenn nicht weltweit präsent. Beleg dafür ist die Tatsache, dass er wie der Terminus »Instrumentalisierung« in zunehmendem Maße in Gesetzestexte, standesrechtliche und -ethische Richtlinien und nicht zuletzt in internationale Abkommen und Verträge eingeht. Das vielleicht bekannteste Beispiel ist das Zusatzprotokoll zum Menschenrechts­ abkommen über Biomedizin des Europarats zum Klonen von 1998, das das reproduktive Klonen von Menschen als eine Form der Instrumentalisierung menschlichen Lebens verurteilt und darin um dieser Instrumentalisierung willen einen Verstoß gegen die Menschenwürde sieht.1

1 Vgl.

Europarat 1998, 332.   |  91

Angewendet wird der Terminus »Instrumentalisierung«, soweit er einen moralisch bewertenden Gehalt hat, primär auf mensch­ liche Subjekte, nahezu immer mit einem kritischen Unterton. Insgesamt häufiger dürfte allerdings die Anwendung auf personale Eigenschaften und Beziehungen sein bzw. auf nicht-personale Gegenstände, etwa auf Institutionen oder Argumente. »Instrumentalisierung« trägt dann zwar typischerweise denselben für die Anwendung auf menschliche Subjekte charakteristischen kritischen Unterton, bezieht sich dann aber weniger auf Würdeverletzungen als auf eine von vielen möglichen Formen der »Zweckentfremdung« der jeweiligen Sache, etwa die Funktionalisierung einer Sache zu eigenen Zwecken ungeachtet ihrer eigenen, ursprünglichen oder ihr als inhärent unterstellten Zwecke. Der Sache wird eine Funktion übergestülpt, die sie »von sich aus« nicht hat. So wird etwa die Justiz instrumentalisiert zu politischen Zwecken, Freundschaften und Liebesbeziehungen werden instrumentalisiert zu geschäftlichen oder politischen Zwecken, religiöse Gefühle werden instrumentalisiert zu propagandistischen Zwecken. Jedes Mal scheinen zwei Komponenten eine Rolle zu spielen: jemand, der eine bestimmte Sache und deren Eigenschaften zu eigenen Zwecken nutzt oder in Dienst nimmt (der »Instrumentalisierer« A); und jemand oder etwas (der oder das »Instrumentalisierte«, B), das dadurch, dass es genutzt oder in Dienst genommen wird, in bestimmter Hinsicht Schaden leidet oder in bestimmter Hinsicht ins Hintertreffen gerät, d. h. schlechter gestellt wird, als es ohne das instrumentalisierende Handeln gestellt wäre. In der Regel ist Instrumentalisierung eine asymmetrische Relation, in der die eine Seite aktiv und die andere passiv ist, obwohl auch symmetrische Instrumentalisierungs­ beziehungen denkbar sind. Vor allem aber ist sie eine in bestimmten Hinsichten unangemessene, der jeweiligen Sache nicht oder zumindest nicht vollständig gerecht werdende Relation. Diese Unangemessenheit ist der Grund für die in dem Ausdruck mitschwingende Kritik. Im Folgenden werde ich mich – mit Parfit und Kant – auf die Anwendungen des Gegensatzes von Selbstzweckhaftigkeit und Instrumentalisierung auf menschliche Subjekte beschränken – in dem Wissen, dass sich gerade auch in der Anwendung auf nicht-menschliche Subjekte wie empfindungsfähige Tiere weitreichende und seit 92  |  Dieter Birnbacher 

langem kontroverse Fragen stellen. Allerdings sind die Fragen, die die Anwendung des Gegensatzes auf menschliche Subjekte aufwirft, bereits schwierig genug. Es stellen sich vor allem zwei Fragen, die – angesichts der zunehmenden Verbreitung von »Instrumentalisierungs«-Argumenten  – nach Aufklärung verlangen: 1. Was sind die Bestimmungsstücke von Instrumentalisierung im Sinne des Verfehlens von Selbstzweckhaftigkeit; welche Merkmale sind notwendig, welche hinreichend? Können die Ausweitungen berechtigt sein, die etwa im Zusammenhang mit der Verurteilung des Klonens durch den Europarat vorgenommen worden sind, um das Klonen – sowie die gezielte Beeinflussung der genetischen Zusammensetzung eines Kindes generell – möglichst nachhaltig von der Agenda der reproduktions­medizinischen Forschung zu verbannen? Kann die Erzeugung eines Nachkommens mit einem bestimmten Genom zu Recht als Instrumentalisierung gelten? 2. Wie eng ist der Bezug, der vielfach zwischen einer Instru­ mentalisierung und einer Verletzung der Menschenwürde gesehen wird? Ist Instrumentalisierung notwendig eine Verletzung der Menschenwürde (wie die Verwendung des Ausdrucks in der öffentlichen Diskussion des Öfteren nahelegt), oder ist etwa jede Verletzung der Menschenwürde (wie es die im deutschen Verfassungsrecht etablierte sogenannte »Objektformel«2 will) eine – offene oder verdeckte – Instrumentalisierung? Angesichts der Verbreitung des Ausdrucks »Instrumentalisierung« nicht nur in der deutschsprachigen Debatte fällt auf, dass der Begriff der Instrumentalisierung international bisher wenig zum Gegenstand der Analyse gemacht worden ist.3 Umso willkommener ist Parfits differenzierter Klärungsbeitrag.

2 Dürig 3 Vgl.

1956, 229 f. aber Kerstein 2009, Schaber 2010, Hilgendorf 2011.

Instrumentalisierung – Überlegungen im Anschluss an Parfit   |  93

2.  Vier naheliegende Bedingungen Für die Instrumentalisierungsrelation liegen vier Bestimmungsstücke unmittelbar nahe: 1. dass das Handeln von A intentional auf B gerichtet ist, 2. dass B As Handeln unfreiwillig erleidet, 3. dass B aus As Handeln ein Schaden oder Nachteil erwächst; und 4. dass As Handeln auf einen Zweck jenseits von B zielt. Von diesen naheliegenden Bedingungen unterschreibt Parfit interessanterweise die ersten beiden und die letzte. Die dritte, nicht weniger naheliegende, wird von ihm mithilfe von Gedankenexperimenten widerlegt. Gehen wir die einzelnen Bedingungen nacheinander durch. Kommt es darauf an, dass B (die instrumentalisierte Person) das Ziel des Handelns von A ist, oder reicht es hin, dass B durch ein Handeln von A, das auf eine andere Person C gerichtet ist, einen Nachteil erleidet? Parfits Antwort ist eindeutig: Nur wenn As Handeln direkt auf B gerichtet ist, kann man sagen, dass A B zu fremden Zwecken gebraucht. Es reicht nicht hin, dass der von B erlittene Schaden oder Nachteil indirekt, infolge des Handelns von A gegenüber einer anderen Person oder einer Vielzahl anderer Personen anfällt. Parfit erläutert das an Fällen, in denen A vor der Wahl steht, seine Rettungsbemühungen entweder auf eine Person B oder eine Person C zu konzentrieren. Er kann nicht beide retten, so dass, falls er C rettet, B zugrunde geht. Kann man für »Rettungsdilemmata« dieser Art sagen, dass A B zugunsten der Rettung von C instrumentalisiert (vgl. OWM I, 209)? Zweifellos nicht. Zwar »opfert« A in gewisser Weise B zugunsten der Rettung von C, zumindest solange A auch B statt C hätte retten können. Aber die Rede von einer Instrumentalisierung von B wäre in einem solchen Fall klar verfehlt. B erleidet einen schwerwiegenden Nachteil dadurch, dass er nicht zum Ziel von As Handlung gemacht wird. Er ist insofern ein »Opfer« von As Entscheidung zur Rettung von C. Aber durch diese Wahl – und das entsprechende Handeln – wird er nicht instrumentalisiert. Selbstverständlich ist B von As Entscheidung negativ betroffen. Aber diese Betroffenheit bedeutet nicht mehr, als dass er den Schaden, den er erleidet, infolge von As Wahl erleidet, und nicht, dass A ihn in einer mehr oder weniger direkten Weise schädigt. A ist nicht vorzuwerfen, dass er B einen Schaden zufügt. Das wäre anders, wenn A sich in einem Rettungsdilemma befin94  |  Dieter Birnbacher 

det, in dem er C nur dadurch retten kann, dass er B schädigt, etwa in einem Rettungsboot mit begrenzter Kapazität B über Bord wirft (oder im Unglücksfall über Bord gehen lässt), um für C Platz zu machen. In diesem Fall läge eine direkte Schädigung vor, die, wenn sie zugunsten des Zwecks der Rettung von C vorgenommen würde (und weitere Bedingungen erfüllt wären), zweifellos als Instrumentalisierung gelten müsste. Für das bekannte Trolley-Dilemma heißt das, dass immer dann ein echter Fall von Instrumentalisierung vorliegt, wenn der Retter A so handelt, dass er eine Person B zum Gegenstand seiner Handlung macht, die durch sein Handeln zu Tode kommt, mit dem Ziel, den Tod der anderen (der fünf Gleisarbeiter) zu verhindern, etwa dadurch, dass er den übergewichtigen Mann von der Brücke wirft, um damit den Zug zu stoppen, bevor er die fünf Gleisarbeiter überfährt. Anders verhält es sich, wenn er die Weiche so umstellt, dass einer statt fünf Gleisarbeiter zu Tode kommt, oder gar nicht eingreift. Im ersten Fall wäre der Tod des einen Gleisarbeiters eine vorhergesehene Nebenfolge seines Eingreifens; im zweiten Fall wäre der Tod der fünf Gleisarbeiter eine vorhergesehene Folge seines Untätigbleibens. In beiden Fällen läge keine Instrumentalisierung vor. Auch wenn das Ergebnis »just as bad« (OWM I, 228) oder sogar schlechter wäre, wäre das Übel kein Resultat einer Instrumentalisierung. Man beachte, dass es dabei nicht darauf ankommt, ob das Handeln von A den Charakter eines aktiven Tuns oder eines bloßen Unterlassens oder Geschehenlassens annimmt. Auch ein »passives« Verhalten kann die Bedingung erfüllen, dass sich das Handeln auf den Instrumentalisierten B richten muss, um als Instrumentalisierung von B gelten zu können. Dieser Fall wäre gegeben, wenn im Rettungsboot-Fall B aus von A unabhängigen Ursachen über Bord geht und A bewusst auf eine ihm mögliche Rettung von B verzichtet, um für C Platz zu machen. So würde im Trolley-Fall A den übergewichtigen Mann auch dann instrumentalisieren, wenn dieser aus von A unabhängigen Ursachen auf die Gleise fällt und A es verhindern könnte, dies aber absichtlich unterlässt, um auf diese Weise den Zug anzuhalten. Jemanden zu instrumentalisieren heißt demnach nicht wortwörtlich, jemanden als (bloßes) Mittel zu gebrauchen, verstanden als eine Indienstnahme, die – in Analogie zum Gebrauch eines Werkzeugs oder einer Sache – eine wie immer Instrumentalisierung – Überlegungen im Anschluss an Parfit   |  95

geartete physische Einwirkung auf den anderen beinhaltet. Entscheidend ist nicht, ob es zwischen A und B zu einer wie immer gearteten Interaktion kommt, sondern ob As Handeln intentional auf B zielt oder nicht. B muss zu einem Mittel für As Zwecke gemacht werden. Dies ist durchaus auch passiv möglich. Es reicht nicht, dass A Bs Nachteil zugunsten seiner wie immer gearteten – moralischen, unmoralischen oder neutralen – Zwecke lediglich in Kauf nimmt. Von daher wird deutlich, dass mit der Erweiterung des Instrumentalisierungsverbots, die der Europarat vorgenommenen hat, um das reproduktive Klonens auf diesem Umweg als menschenwürdewidrig zu brandmarken, etwas nicht stimmen kann. Wenn beim Klonen etwas zum Mittel für fremde Zwecke gemacht wird, dann die Zellen, aus denen ein Mensch mit einem bestimmten im Vorhinein gewählten Genom erzeugt werden soll. Solange das Klonen noch nicht abgeschlossen ist, existiert das Kind, das Gegenstand der elterlichen Wünsche ist, noch nicht und kann deshalb auch nicht Gegenstand eines Gebrauchs als Mittel sein. Weder das Kind noch der Embryo, der aus dem Vorgang des Klonens entsteht, kann ernsthaft als ein Gegenstand von Instrumentalisierung gelten. Noch besteht bei den Eltern die Intention, das später existierende Kind zu einem solchen Mittel zu machen. Falls doch, wäre dies eine eigenständige Instrumentalisierung, die mit der Erzeugung des Kindes nur kontingent zusammenhängt. Falls das Klonen in irgendeiner Weise mit der Menschenwürde unvereinbar sein sollte (was zu bezweifeln ist), kann dies jedenfalls nicht deshalb der Fall sein, weil das Kind instrumentalisiert wird. Was instrumentalisiert wird, sind lediglich menschliche Zellen – zu reproduktiven Zwecken. Insofern unterscheidet sich das Klonen in nichts von der In-vitro-Fertilisation, bei der der Gedanke, dass eine Instrumentalisierung vorliegt, gänzlich fern liegt. Die zweite von Parfit angegebene Bedingung der Unfreiwilligkeit steht ebenfalls auf festen Füßen, wenn auch nur als notwendige und nicht auch als hinreichende Bedingung. Als hinreichende Bedingung lässt sie Kant gelten, wenn er meint, dass A, wenn er B gegenüber ein falsches Versprechen abgibt, B bereits dadurch instrumentalisiert – in dem Sinne, dass er ihn »bloß als Mittel« braucht. Kant meint zum Fall des falschen Versprechens in eigennütziger Absicht: »Er, den ich durch eine solches Versprechen zu meinen Absichten brauchen 96  |  Dieter Birnbacher 

will, kann unmöglich in meine Art, gegen ihn zu verfahren, einstimmen und also selbst den Zweck dieser Handlung enthalten.«4 Das würde implizieren, dass jedes Handeln gegenüber B, das gegen Bs Willen erfolgt, auf eine Instrumentalisierung von B hinausläuft. Damit geht die Kant’sche These aber in zwei Hinsichten zu weit. Erstens ist nicht jede Indienstnahme von bestimmten Aspekten von B zu fremden Zwecken auch schon eine Indienstnahme von B als ganzer Person (dazu weiter unten). Zweitens ist die Bezeichnung einer Indienstnahme als »Instrumentalisierung« nur dann angemessen, wenn die entsprechende Handlung zumindest ein Kandidat für eine moralische Verurteilung ist, wenn es zumindest prima facie Gründe gibt, die Handlung als moralisch problematisch zu sehen. Viele Formen der Indienstnahme anderer können jedoch zumindest dann als moralisch unproblematisch gelten, wenn sie nicht gegen den Willen, aber doch ohne die (gültige) Einwilligung von B ausgeführt werden, etwa die Impfung von Kindern zur Erreichung eines ausreichenden kollektiven Schutzes vor Erregern oder die nicht nur vom Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarats ausdrücklich zugelassenen risikolosen medizinischen Versuche an Kindern zur Erprobung von Arzneimitteln für die Kinderheilkunde. Unfreiwilligkeit scheint zumindest eine notwendige Bedingung von Instrumentalisierung zu sein, solange diese prima facie ablehnungswürdig sein soll. Instrumentalisierung scheint nur dann vorliegen zu können, wenn ihr der Instrumentalisierte gegen seinen Willen oder zumindest ohne seine Einwilligung unterworfen wird. Sobald und solange der Instrumentalisierte in seine eigene Instrumentalisierung einwilligt, könnte allenfalls von einer Selbstinstrumentalisierung gesprochen werden. Ist B ein Masochist oder der Anhänger einer »Sklavenmoral«, wäre Bs Gebrauch zu fremden Zwecken nichts anderes als die Erfüllung eines Unterwerfungsbedürfnisses. Vorausgesetzt, sie schränkt keine weiteren signifikanten Zwecke von B ein, wäre sie keine Instrumentalisierung. Danach kann das in der Rechtsliteratur an dieser Stelle wiederholt genannte »Zwergenwerfen«, bei dem Kleinwüchsige mit ihrer Einwilligung zur Belustigung anderer von starken Männern einander zugeworfen werden (und das in Frankreich mit Berufung auf die 4 GMS,

AA 04, 429 f. Instrumentalisierung – Überlegungen im Anschluss an Parfit   |  97

Menschenwürde verboten worden ist), nicht einmal als Instrumentalisierung, geschweige denn als Menschenwürdeverletzung gelten. Dabei ist allerdings zu beachten, dass eine Bedingung dafür, dass von einer Instrumentalisierung nicht gesprochen werden kann, die Freiheit und Informiertheit der Einwilligung ist. Die Einwilligung darf nicht erzwungen oder manipuliert sein. Auch dürfen keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Einwilligung, die sie scheinbar legitimiert, ein Teil der Instrumentalisierung ist, etwa wenn A B dazu überredet oder verführt, einer bestimmten bedenklichen Indienstnahme zuzustimmen, oder wenn die Beziehung, in denen beide zueinander stehen, so ungleich ist, dass B keine realistische Chance hat, sich nicht auf die Instrumentalisierung durch A einzulassen. Wie Parfit zu Recht anmerkt, ist dabei eine antizipierend gegebene Einwilligung (vorausgesetzt, diese ist unter Bedingungen der Einwilligungsfähigkeit gegeben) grundsätzlich glaubwürdiger als die Vermutung einer späteren retrospektiven Einwilligung (vgl. OWM I, 199). Die Prognose, dass jemand eine Instrumentalisierung nachträglich legitimiert, reicht schwerlich hin, die akute oder antizipierende Einwilligung zu ersetzen. Die Neigung, eine frühere Instrumentalisierung gutzuheißen, wird vor allem dann ausgeprägt sein, wenn diese zu dem gewünschten Erfolg geführt hat und etwa ein Eingriff zugunsten eines Geschwisters (wie bei der Knochenmarksentnahme zugunsten dessen Überlebens) das Geschwister in der Tat gerettet hat. Aber es erscheint fraglich, ob die Antizipation dieser späteren Einwilligung ausreicht, das moralisch Problematische der fehlenden (gültigen) Einwilligung wesentlich abzumildern. Anders gesagt: Die spätere Einwilligung bestätigt lediglich den Erfolg der Instrumentalisierung, kompensiert aber nicht die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts. Eine Konsequenz daraus ist die Unmöglichkeit von Selbstinstrumentalisierung – zumindest dann, wenn »Instrumentalisierung« im wörtlichen und nicht nur in einem übertragenen Sinn verstanden wird. Solange A und B identisch sind, sind die Zwecke von A notwendig auch die Zwecke von B. Die Zwecke von A können deshalb in Bezug auf B keine fremden Zwecke sein. Bereits an dieser Unmöglichkeit scheitert Kants Versuch, mithilfe der Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs für die moralische Unzulässigkeit des Suizids zu argumentieren. Wenn eine Selbstinstrumentalisie98  |  Dieter Birnbacher 

rung gar keine echte Möglichkeit ist, kann der Suizid nicht deshalb moralisch unzulässig sein, weil sich mit ihm jemand selbst instrumentalisiert, d. h., wie Kant meint, sich »seiner Person bloß als eines Mittels zur Erhaltung eines erträglichen Zustandes« bedient und damit »den Menschen in seiner Person« herabwürdigt.5 In mustergültiger Klarheit hat die Unzulässigkeit dieses Arguments der Kantianer Leonard Nelson ausgesprochen: »Daß ich mich selbst zum bloßen Mittel mache, d. h. mich zu einem Zwecke gebrauche, der nicht mein eigener Zweck wäre, ist unmöglich, da ja der Zweck einer jeden Handlung, die ich begehe, mein Zweck ist.«6 Sie bestätigt Schopenhauers sarkastischen Kommentar, er könne »Kants Gründe gegen den Selbstmord gewissenhafterweise nicht anders betiteln, als Armsäligkeiten, die nicht ein Mal eine Antwort verdienen.«7 Eine der interessantesten Passagen von Parfits Überlegungen betrifft die dritte Bedingung. Er argumentiert, dass eine Instrumentalisierung Bs durch A nicht nur nicht notwendig damit verbunden sein muss, dass A B einen Schaden oder Nachteil zufügt, sondern dass A B mit der Instrumentalisierung sogar einen Vorteil verschaffen kann, und zwar nicht nur zufällig und unwissentlich, sondern mit vollem Wissen. Sein Beispiel ist die Verheiratung von A mit der steinreichen B aus dem alleinigen Motiv, B zu beerben (vgl. OWM I, 217). A verhält sich zuvorkommend gegenüber B, so dass B keinen Grund zur Klage hat und von der Beziehung insgesamt profitiert. A zeigt dieses Wohlwollen aber nur, um sein Erbe nicht zu gefährden. Kann man in diesem Fall von A sagen, dass er B instrumentalisiert, d. h. bloß als Mittel zu eigenen Zwecken gebraucht? Parfit meint, dass der Fall als ein Fall von echter Instrumentalisierung gelten müsse, allerdings nur, wenn A B notfalls auch ermorden würde, um an das Erbe zu kommen. Diese Auskunft scheint allerdings wenig befriedigend, aus zwei Gründen: Erstens konstruiert Parfit den Fall so, dass B weiß, dass A sie nur deshalb heiratet, weil er sie beerben will. Damit scheint die Bedingung der Unfreiwilligkeit verletzt. Zweitens ist die Bedingung, dass man von A nur dann sagen könne, dass er B instrumentalisiert, falls er notfalls bereit wäre, B zu ermor5 GMS,

AA 04, 429, vgl. Wittwer 2003, 323. 1971, 58. 7 Schopenhauer 1988, 127. 6 Nelson

Instrumentalisierung – Überlegungen im Anschluss an Parfit   |  99

den, um an ihr Geld zu kommen, unnötig stark. Auch dann, wenn A kein fanatischer Erbschleicher ist, der so weit geht, nicht nur Bs Leben, sondern auch seine eigene Zukunft aufs Spiel zu setzen, ließe sich (vorausgesetzt, B durchschaut das Spiel nicht) von einer Instrumentalisierung von B durch A sprechen. Entscheidend wäre, dass das auf das Erbe gerichtete Motiv zumindest so dominant ist, dass es das gegenüber B gezeigte Wohlwollen zu einem Akt purer Heuchelei macht. Nur dann, wenn As egoistische Motive um einiges stärker sind als sein Wohlwollen gegenüber B, scheint es legitim zu sagen, dass A B instrumentalisiert.

3. Instrumentalisierung – zu fremden oder auch zu eigenen Zwecken? Bisher sind wir mit der vierten Bedingung davon ausgegangen, dass jemand nur dann bloß als Mittel gebraucht werden kann, wenn es sich bei den Zwecken um fremde und nicht um eigene Zwecke handelt. Gelegentlich werden jedoch auch freiheitsbeschränkende Handlungen als instrumentalisierend eingestuft (und für entsprechend moralisch unzulässig gehalten), die zu Bs eigenen Zwecken vorgenommen werden, z. B. im Sinn eines fürsorglichen Paternalismus. Die Zwecke, zu denen jemand instrumentalisiert wird, sind dann zukünftige eigene Zwecke. Diese Konstellation tritt mit erwartbarer Häufigkeit in der Pädagogik auf: Vielfach erscheint es gerechtfertigt, ein Kind, wenn anders nicht möglich, dazu zu zwingen, etwas zu tun, was mit großer Wahrscheinlichkeit seinem späteren Wohl dient, oder es mit Zwangsmitteln von etwas abzuhalten, was sein späteres Wohl erwartbar schädigt. Kann man auch in diesen Fällen davon sprechen, dass das Kind »instrumentalisiert« wird? Wohl kaum. Das Wohl, auf das es die Zwangs­ anwen­dung abgesehen hat, ist das jeweils eigene, wenn auch erst in Zukunft eintretende Wohl des Instrumentalisierten. Das Kind, das gegen oder ohne seinen Willen einer Vorsorgeuntersuchung unterzogen wird, wird zwar in gewisser Hinsicht zum Mittel gemacht, aber nicht zum Mittel fremder Zwecke. Auch ein Süchtiger wird dadurch, dass er einer Entzugsbehandlung unterworfen wird, nicht instrumentalisiert, solange diese auf sein kurz- oder langfris100  |  Dieter Birnbacher 

tiges eigenes Wohl zielt – möglicherweise auch dann nicht, wenn er in die Behandlung weder aktuell einwilligt noch vorgreifend in sie eingewilligt hat oder anzunehmen ist, dass er zu einem späteren Zeitpunkt rückblickend in sie einwilligt. Als eine unzulässige Instrumentalisierung ist die Ausübung paternalistischen Zwangs in der Erziehung an prominenter Stelle von Schleiermacher abgelehnt worden. Auch dann, wenn zu erwarten ist, dass eine dem Kind aufgezwungene Erziehungsmaßnahme sich auf das spätere Wohl des Kindes positiv auswirkt, sei die Aufopfe­ rung des früheren Lebensmoments für spätere Lebensmomente eine Würdeverletzung. Nur dann, wenn die Freiheit des Kindes in jedem Lebensmoment unabhängig von Folgeerwägungen geachtet werde, bleibe »das Leben des Zöglings […] ein solches, das auf sittliche Weise als Zweck behandelt worden ist« und würde »der Zögling […] in jedem Augenblick als Mensch behandelt«.8 Eine solche Ausweitung des Anwendungsbereichs des Instrumentalisierungsbegriffs erscheint überzogen. Eine Freiheitsberau­ bung kann zumindest dann, wenn sie nur kurzzeitig oder auf bestimmte Aspekte beschränkt ist, nicht für sich genommen als Instrumentalisierung bezeichnet werden – vor allem dann nicht, wenn sie – anders als die genannten fremdnützigen medizinischen Eingriffe – der Intention nach im längerfristigen Eigeninteresse des Instrumentalisierten vorgenommen wird und die Erwartung, dass der Eingriff den späteren Interessen des Instrumentalisierten entspricht, gut begründet ist. Es ist, wie Giesinger schreibt, »nicht einzusehen, warum von einer Instrumentalisierung des Kindes zu sprechen ist, wenn es gegen seinen Willen zum Zahnarzt geschickt wird«.9 Schleiermacher hat dies denn auch wohl auch selbst so gesehen und seine Thesen vorsorglich durch eine Konstruktion der Nicht-Identität zwischen kindlichem und erwachsenem Ich abzu­ sichern versucht. Da das Kind eine andere Person sei als der Erwachsene, zu dem es einmal wird, sei der erzieherische Paternalismus im Grunde fremdnützig. Dieser Versuch einer Absicherung muss allerdings seinerseits als untauglich gelten. Zwischen Kind und Erwachsenem besteht zwar keine qualitative, aber doch eine 8 Schleiermacher 9 Giesinger

2000, 54/56. 2007, 133.

Instrumentalisierung – Überlegungen im Anschluss an Parfit   |  101

numerische Identität. Andernfalls könnte man nicht sagen, dass das Kind im Laufe der Zeit zum Erwachsenen wird.

4.  Drei Dimensionen der Abstufbarkeit Parfits wertvollster Beitrag zur Erhellung des Begriffs der Instrumentalisierung ist der Aufweis der Dimensionen, in denen die moralische Beurteilung eines Akts der Instrumentalisierung abgestuft werden kann und muss – mit der Konsequenz, dass die Instrumentalisierung eines anderen unterschiedliche Schwergrade annehmen kann und keineswegs notwendig als moralisch unzulässig oder sogar als nicht zu rechtfertigende Verletzung der Menschenwürde verurteilt werden muss. Eine erste Dimension, die Parfit einführt, ist die nach dem Ausmaß der Instrumentalisierung: einen oder mehrere bestimmte Aspekte einer Person zu instrumentalisieren, bedeutet nicht, die Person als ganze zu instrumentalisieren (vgl. OWM I, 223 ff.). So wird etwa bei einer zwangsweisen Untersuchung zu fremdnützigen Zwecken (etwa zum Zweck strafrechtlicher Ermittlungen) die Person zwar unter dem Gesichtspunkt ihres Körpers instrumentalisiert, aber damit nicht als ganze. Die Sammlung von Daten zu Zwecken der Spionage instrumentalisiert die betroffene Person in ihren informationellen Aspekten, instrumentalisiert sie aber nicht notwendig als Person. Viele Formen der Werbung instrumentalisieren die beim Einkauf wirksamen Motive einer Person zugunsten der eigenen betriebswirtschaftlichen Ziele (ohne dass die Manipulation der Person hinreichend bewusst ist, um in sie einwilligen zu können), stellt aber nicht zwangsläufig eine Instrumentalisierung der Person dar. Viele Drohungen, aber auch Lügen und Täuschungen instrumentalisieren die Person zugunsten eigener Zwecke, indem sie zu Verhaltensweisen veranlassen, die sie bei Kenntnis der Wahrheit nicht zeigen würden, ohne dass man von ihnen wird sagen wollen, dass sie die Person als ganze instrumentalisieren. Auf der anderen Seite gibt es unbezweifelte Fälle von Totalinstrumentalisierung, die als paradigmatisch für die Instrumentalisierung einer Person als ganzer gelten können, etwa Versklavung, Folterung, Gehirnwäsche, Geiselnahme oder die Beraubung jeglicher Privat- und Intimsphäre. 102  |  Dieter Birnbacher 

Eine zweite Dimension ist die der Intensität der Instrumentalisierung. Auch in dieser Dimension scheint es eine Vielzahl möglicher Ausprägungen zu geben, die jeweils unterschiedliche Bewertungen nach sich ziehen. Ein Sklavenhalter, der seine Sklaven von Arbeit in der größten Hitze freistellt, scheint nicht in derselben Weise seine Sklaven »bloß« als Mittel zu gebrauchen wie einer, der noch das Letzte an Arbeitsleistung aus ihnen herauspresst (vgl. OWM I, 213).10 Ein Geiselnehmer, der die Geisel, die er zur Erpressung von Geldzahlungen genommen hat, gut behandelt, erscheint nicht viel weniger, aber doch ein Stück weit humaner als einer, der sie schlecht behandelt oder in einem dunklen Loch umkommen lässt. Wieweit man bereit ist, eine Instrumentalisierung von B als den »bloßen« Gebrauch eines Menschen zu fremden Zwecken gelten zu lassen (und damit zumindest als einen Kandidaten für eine Verletzung von dessen Menschenwürde), hängt, wie Parfit richtig sieht, wesentlich davon ab, wieweit A bereit ist, das Wohl von B intrinsisch, d. h. unabhängig davon, wieweit es den Zwecken der Instrumentalisierung entgegenkommt, zu berücksichtigen (vgl. OWM I, 215). Damit erklärt sich, warum die Instrumentalisierung eines oder mehrerer Aspekte von B in der Regel mit einem milderen Urteil rechnen kann als eine Totalinstrumentalisierung von B, die ausschließlich darauf zielt, B als ganze ausschließlich als Potenzial für As Zwecke zu nutzen. Die Instrumentalisierung eines oder mehrerer Aspekte von B lässt Spielraum für die intrinsische Berücksichtigung des Wohls von B, zumindest derjenigen Aspekte, die von der Instrumentalisierung nicht direkt betroffen sind. So gab es vor einigen Jahren eine Geiselnahme von Touristen zu Erpressungszwecken im Jemen, bei der die Geiseln relativ gut behandelt wurden und diese keine nachhaltigen Schäden davontrugen. Nach Zahlung der verlangten Summe wurden sie umgehend freigelassen. Zweifellos handelte es sich hierbei um eine Instrumentalisierung. Aber diese Tat, so verurteilenswert sie ist, erscheint durch die Tatsache, dass die Entführer ein intrinsisches und nicht nur strategisches Interesse am Wohl der Geiseln zeigten, zumindest insofern in einem besseren Licht als die des freundlichen Erbschleichers, als dieser seine Frau definitionsgemäß ausschließlich nur deshalb gut behandelt, 10

Hierbei handelt es sich um ein Beispiel von Frances Kamm. Instrumentalisierung – Überlegungen im Anschluss an Parfit   |  103

weil er an einem entsprechenden Testament interessiert ist. Ob und eine wie schwere Instrumentalisierung vorliegt, entscheidet sich insofern, wie Parfit richtig sieht, nicht an den Handlungen noch an den Handlungsintentionen, sondern an den Motiven des Instrumentalisierers (vgl. OWM I, 222 ff.). Diese lassen sich vielfach nicht aus dem faktischen Verhalten, sondern nur aus dessen Intentionen unter hypothetischen Situationsbedingungen ermitteln. Im TrolleyFall folgt daraus, dass wenn A alles täte, um das von ihm ausgelöste Herabfallen des schwergewichtigen B auf die Gleise (um den Zug zu stoppen, der andernfalls fünf Gleisarbeiter überfährt) zu verhindern, der Vorwurf der Instrumentalisierung zumindest ein Stück weit gemildert wäre – unabhängig davon, ob die Handlung als ganze moralisch legitimierbar wäre. Dies wäre etwa der Fall, wenn sich A selbst als Mittel zur Rettung der fünf Gleisarbeiter zur Verfügung stellen würde, ohne den übergewichtigen Mann in das Geschehen einzubeziehen, oder – Parfits Beispiel (vgl. OWM I, 224) – nach dem Herunterstürzen des übergewichtigen Manns den Zug, bevor er diesen erreicht, mit dem eigenen Körper zu stoppen. Auch wenn die Tötung von B zugunsten des Überlebens der fünf Gleisarbeiter möglicherweise moralisch falsch wäre, verdankte sich diese moralische Falschheit nicht in demselben Maße der Tatsache, dass es sich um einen Fall von Instrumentalisierung handelt. Die dritte Dimension, nach der die Bewertung eines Akts der Instrumentalisierung abgestuft werden kann, ist die der moralischen Bedeutsamkeit der damit verfolgten Zwecke. Exemplarisch lässt sich diese Frage am bekannten Fall des Frankfurter stellvertretenden Polizeipräsidenten Daschner von 2002 diskutieren, insbesondere weil es hierbei um eine Maßnahme ging, die sowohl nach dem Kriterium der Totalität als auch nach dem Kriterium der Intensität als eine besonders schwerwiegende Form von Instrumentalisierung einzustufen ist. Die Frage, die sich den Beteiligten stellte, war, wieweit es gerechtfertigt sein kann, einen Täter, der glaubhaft gestanden hat, einen anderen schwerwiegend instrumentalisiert zu haben, um sich Geld zu beschaffen, seinerseits instrumentalisieren, nämlich Folter androhen oder, falls dies nicht fruchtet, tatsächlich foltern darf, um den Aufenthaltsort des Opfers zu ermitteln und dieses zu retten. Vorausgesetzt ist dabei, dass der Täter zur Preisgabe dieser Information nicht bereit ist, Sicherheit darüber besteht, dass er den Auf104  |  Dieter Birnbacher 

enthaltsort des Opfers kennt, diese Informationen nicht anderweitig zu erlangen sind und die Erzwingung der Preisgabe der Informationen aussichtsreich ist. Es ist schwer zu sehen, wie sich für eine Fallkonstellation wie diese ein absolutes, d. h. uneingeschränktes ethisches Verbot der Instrumentalisierung begründen lassen soll. Das gilt zunächst unter der Voraussetzung einer wie immer im Einzelnen bestimmten folgenorientierten oder konsequenzialistischen Ethik. Aus konsequenzialistischer Sicht ist die Bewertung jeder Mittelhandlung, also jeder Handlung, durch die ein von ihr verschiedener Zweck verwirklicht werden soll, abhängig von dem Wert- oder Unwertgehalt der Handlung selbst, dem Wert- oder Unwertgehalt des mit ihr verfolgten Zwecks und dem Wert- oder Unwertgehalt der nicht beabsichtigten, aber vorausgesehenen Nebenfolgen. Zumindest bei einer direkten Anwendung konsequenzialistischer Überlegungen auf Einzelhandlungen wird sich deshalb ein absolutes Verbot bestimmter Handlungsweisen konsequenzialistisch allenfalls ausnahmsweise begründen lassen. Bei einer Bilanzierung von Folgen und Nebenfolgen wäre möglicherweise selbst noch eine solche besonders gravierende Form von Instrumentalisierung moralisch legitim. Ein positives Ergebnis einer solchen Bilanzierung wird dabei umso eher zu erwarten sein, je geringer das Ausmaß der Leidenszufügung ist, das notwendig ist, um den Täter zur Preisgabe der zur Rettung des Opfers notwendigen Informationen (bzw. einer anderen lebensrettenden Handlung) zu bringen, je größer die Wahrscheinlichkeit ist, dass die Gewaltanwendung dieses Ziel erreicht, je größer die Wahrscheinlichkeit ist, dass die erzwungene Kooperation des Täters zur Rettung des Opfers führt, je größer die Wahrscheinlichkeit ist, dass die Drohung der gewaltsamen Erzwingung von Kooperation potenzielle Täter von erpresserischen Geiselnahmen oder terroristischen Aktionen gegen Unschuldige abschreckt und je größer die Wahrscheinlichkeit ist, dass das Vertrauen der Bürger in die Schutzfunktion des Rechtsstaats durch solche Maßnahmen gestärkt und nicht geschwächt wird. Allerdings wäre auch im Rahmen einer nicht ausschließlich folgenorientierten (deontologischen) Ethik ein absolutes ethisches Verbot begründungsbedürftig. Denn auch in einer solchen Ethik werden gewöhnlich Verpflichtungen wie die Pflicht zur LebensretInstrumentalisierung – Überlegungen im Anschluss an Parfit   |  105

tung oder die Pflicht zur Hilfe in unverschuldeten Notlagen anerkannt. Wer ein unschuldiges Opfer in einem dunklen Kellerloch verhungern lässt, obwohl er es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit durch eine Zwangsbefragung retten könnte, ist auch im Rahmen einer nicht-folgenorientierten Ethik begründungspflichtig dafür, dass er das Verbot der Anwendung von Zwangsmaßnahmen, die eine Aussicht auf Rettung eröffnen, höher stellt als das Gebot der Lebensrettung. Der mit der (Androhung der) Folterung beauftragte Polizist war jedenfalls der Auffassung, dass die Erhaltung des Lebens des Opfers das höhere Rechtsgut gegenüber der Verschonung des Täters vor radikaler Instrumentalisierung sei, und glaubte sich nicht nur im moralischen, sondern auch im verfassungsrechtlichen Sinne im Recht.11 Andererseits kann es gute Gründe geben, bestimmte sozialmora­ lische Pflichten in der Praxis mit einem absolutem Geltungsanspruch und folglich mit einem Abwägungsverbot zu versehen, nämlich immer dann, wenn zu erwarten ist, dass eine Zulassung von Ausnahmen die Norm ihrer Wirksamkeit berauben und die für ihre Geltung bestimmenden Zwecke verfehlen würde. Dies wird in der Regel immer dann der Fall sein, wenn die Sicherheit, von einer entsprechenden Normverletzung negativ betroffen zu sein, für alle potenziell Betroffenen ein so hohes Gut darstellt, dass es insgesamt vorzugswürdig ist, wenn die Norm auch dann befolgt wird, wenn ihre Verletzung gravierende Übel verhindern würde, als dass diese Sicherheit durch die Zulassung von Ausnahmen beeinträchtigt wird. Insofern ist auch aus folgenorientierter Sicht in der Praxis nicht jede beliebige Aufrechnung von positiven und negativen Handlungsfolgen zulässig. Sie stößt vielmehr immer dann an eine Grenze, wenn bei umfassender Folgenberücksichtigung eine Begrenzung der Aufrechnung erforderlich scheint, um fundamentale und für das Lebensgefühl einer Gesellschaft konstitutive Sicherheiten unbeeinträchtigt zu lassen.

11

Vgl. Ennigkeit/Höhn 2011, 259.

106  |  Dieter Birnbacher 

5.  Instrumentalisierung und Menschenwürde Die zweite Frage, von der wir oben sagten, dass sie erhebliche Unklarheiten berge, ist die nach dem Zusammenhang zwischen Instru­ mentalisierung und Würdeverletzung.Obwohl Parfit, soweit ich sehe, die Begriffe der Selbstzweckhaftigkeit und der Würde in On What Matters zwar jeweils für sich, aber nicht im Zusammenhang diskutiert, stellt sich die Frage unabweisbar auf dem Hintergrund der deutschsprachigen Diskussion, und zwar in zweifacher Richtung: Ist die Instrumentalisierung eines Menschen notwendig oder typischerweise eine Verletzung seiner Würde? Ist die Verletzung der Würde eines Menschen notwendig eine Instrumentalisierung? Die erste Annahme wird häufig getroffen, hat sich jedoch bereits im Vorhergehenden als unhaltbar erwiesen. Wenn A B instrumentalisiert, kann dies allenfalls dann eine Verletzung von Bs Würde sein, wenn die Instrumentalisierung nicht nur bestimmte Aspekte von B betrifft, sondern B als ganzen und wenn sie hinreichend intensiv ist, um den Vorwurf der Menschenwürdeverletzung zu rechtfertigen. Nicht alle moralisch zu missbilligenden Formen der Instrumentalisierung können bereits als solche als Verletzungen der Menschenwürde gelten – möglicherweise auch solche nicht, bei denen es berechtigt ist, zu sagen, dass jemand »bloß« als Mittel gebraucht wird.12 Verletzungen der Menschenwürde sind sowohl im rechtlichen als auch im ethischen Sinn ausgesprochen schwerwiegende Formen von Unrecht, die als in besonderem Maße verwerflich gelten. »Menschenwürde« ist ein Begriff, der stets mit einer besonderen Emphase einhergeht, und nicht jede unzulässige Instrumentalisierung ist hinreichend schwerwiegend, diese Emphase zu rechtfertigen. Die deutsche Verfassungsrechtsdogmatik ist sogar so weit gegangen, Verletzungen der Menschenwürde als gegen andere Rechtsverletzungen (strenggenommen sogar gegen andere Verletzungen der Menschenwürde) für prinzipiell unabwägbar zu halten, 12 Auch

wenn man Schabers (2010, 37) Vorschlag zustimmen kann, dass jemanden »bloß« als Mittel zu behandeln, immer und notwendig moralisch unzulässig ist, folgt daraus nicht, dass man, wofür er Parfit kritisiert (Schaber 2010, 35), zwischen verschiedenen Arten von Bloß-als Mittel-Behandeln nicht weiter moralisch differenzieren kann.

Instrumentalisierung – Überlegungen im Anschluss an Parfit   |  107

d. h. solche Verletzungen in jedem Fall, auch in Konfliktfällen, in denen hohe anderweitige Werte tangiert sind, für rechtlich verboten zu halten. Damit ist dem Prinzip der Menschenwürde nicht nur ein ausgezeichneter Platz in der Rangfolge der Grundrechte zugewiesen, sondern zugleich auch eine wichtige Vorentscheidung über die Auslegung dieses Prinzips getroffen. Dieses Prinzip muss ex­ trem eng verstanden werden, wenn es sich nicht selbst ad absurdum führen soll, indem es dazu zwingt, eine Vielzahl von unbestritten als vertretbar geltenden Eingriffen in die Persönlichkeitssphäre mit einem rechtlichen Tabu zu belegen. Dieses Prinzip muss so restriktiv ausgelegt werden, dass nur Eingriffe extremer Art als Verletzungen der Menschenwürde verstanden werden können – vor allem auf dem Hintergrund des gleichzeitig in der Verfassung niedergelegten Sozialstaatsprinzips, das den Staat dazu legitimiert, dem Einzelnen zugunsten des Gemeinwohls vielfältige Opfer (vor allem an seinem Eigentum) aufzuerlegen, aber auch auf dem Hintergrund der bis vor kurzem bestehenden Wehrpflicht, einer sehr weitgehenden Berechtigung des Staates zur Instrumentalisierung des Einzelnen zugunsten der Gesamtheit. Nicht so sehr die Hochrangigkeit als vielmehr die Absolutheit, mit der das Prinzip der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde im deutschen Recht ausgestattet worden ist, zwingt dazu, die Schwelle, an der eine (prima facie) zu missbilligende Instrumentalisierung in eine menschenwürdeverletzende Instrumentalisierung übergeht, hoch anzusetzen. Die vom deutschen Grundgesetz postulierte Absolutheit des Prinzips der Menschenwürde hat sich u. a. auf die ethische Verwendung dieses Begriffs ausgewirkt. Auch in der Ethik (wie auch in der Alltagsmoral) wird der Menschenwürde ein ähnlich absoluter Wertstatus zugesprochen wie dem analogen Verfassungsprinzip innerhalb der Sphäre des Rechts. Auch hier wird von Menschenwürdeverletzungen im allgemeinen nur dann gesprochen, wenn ein Verhalten andere in so massiver Weise schädigt, demütigt, verdinglicht oder in anderer Weise in ihrer Würde verletzt, dass es durch keine noch so hochrangigen anderweitigen Zwecke rechtfertigbar erscheint. Das heißt nicht, dass Instrumentalisierungen unterhalb der Schwelle zur Menschenwürdeverletzung außerhalb jedes moralischen Tadels stehen. Anzunehmen ist vielmehr, dass anderweitige Prinzipien zur Verfügung stehen, die diese Formen der Instrumen108  |  Dieter Birnbacher 

talisierung als zumindest moralisch bedenklich erscheinen lassen, etwa Prinzipien der Nichtschädigung, der Achtung der persönlichen Freiheitssphäre und der Erhaltung der Selbstachtung. Von dem Prinzip der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde unterscheiden sich diese Prinzipien signifikant dadurch, dass sie generell als abwägbar gelten und keine ausnahmslose Unverletzlichkeit fordern. Ob diese Prinzipien andererseits die eigenständige normative Funktion des Instrumentalisierungsverbots vollwertig ersetzen können, wie Parfit meint, möchte ich dahingestellt sein lassen (vgl. OWM I, 232). Diese These scheint mir bei Parfit jedenfalls nicht hinreichend belegt. Für eine konsistente und plausible Bestimmung der Schwelle, ab der eine Instrumentalisierung als menschenwürdeverletzend aufgefasst werden muss, sehe ich drei mögliche Ansätze.13 Der erste geht davon aus, dass für die Frage, ob eine Instrumentalisierung als menschenwürdeverletzend gelten muss, ausschließlich die Dimension der Verzwecklichung relevant ist. Danach würde die menschenwürdeverletzende Qualität einer Instrumentalisierung ausschließlich von dem Ausmaß abhängen, in dem B von A zum Werkzeug seiner Zwecke gemacht wird. Entscheidend wäre ausschließlich der Grad der Abhängigkeit, in die B durch A gebracht wird. Paradigmatische Beispiele im kantischen Kontext wären diesem Ansatz zufolge Versklavung und der Verkauf von Landeskindern in fremde Kriegsdienste – zwei zu Kants Zeit verbreitete und von ihm wirkmächtig als Menschenwürdeverletzungen gebrandmarkte Formen radikaler Verzwecklichung. Das Problem dieses Ansatzes ist, dass er zu schwach scheint, um der Intensität der im Urteil der Menschenwürdeverletzung enthaltenen Verurteilung gerecht zu werden. Bloße Abhängigkeit scheint eine zu schwache Bedingung zu sein, um das volle Gewicht des Vorwurfs der Menschenwürdeverletzung tragen zu können. Ein zweiter Ansatz könnte sich an einem anderen Beispiel Kants orientieren, der Verurteilung grausamer Körperstrafen wie der Vierteilung oder dem Abschneiden von Nase und Ohren.14 Dieser Ansatz geht davon aus, dass es über die Abhängigkeit, in die B durch die 13 14

Diese drei Ansätze finden sich zuerst in Birnbacher 2008, 22. Vgl. TL, AA 06, 463. Instrumentalisierung – Überlegungen im Anschluss an Parfit   |  109

Instrumentalisierung gebracht wird, hinaus auf eine oder mehrere weitere Unwertdimensionen ankommt: demütigende Behandlung, Leidenszufügung und irreversible Schädigung. Dieser Ansatz erscheint als zu stark. Danach wäre etwa eine Geiselnahme nicht bereits dann eine Menschenwürdeverletzung, wenn sie die Geisel in totale Abhängigkeit bringt, sondern erst dann, wenn sie zusätzlich die Zufügung erheblicher weiterer Übel (etwa erheblicher Deprivationen) beinhaltet. Ein dritter Ansatz schließlich wäre noch restriktiver. Danach ist für Menschenwürdeverletzungen kennzeichnend, dass sie auf die Zerstörung spezifisch menschlicher Fähigkeiten angelegt sind, also diejenigen Fähigkeiten, die den Menschen von den Tieren unterscheiden, etwa Autonomie, Denkfähigkeit und die Fähigkeit, das eigene Handeln an übergreifenden Prinzipien, Werten und Idealen zu orientieren. Menschenwürdeverletzend wäre eine Instrumentalisierung erst dann, wenn sie einen individuellen Menschen unter die Entwicklungsstufe des Menschen als Gattung herunterdrückt, ihn im wörtlichen Sinn »erniedrigt«, etwa indem er ihn nachhaltig oder irreversibel der freien Willensbetätigung oder der freien Willensbildung beraubt oder durch Folter, Gehirnwäsche oder Zwangsarbeit dauerhaft abstumpft. Dieses Kriterium ist ganz offensichtlich zu stark, um die gewünschte Abgrenzung zu leisten. Die Gegenfrage, ob jede Verletzung der Menschenwürde eine Form von Instrumentalisierung ist, ist leichter zu beantworten: mit einem Nein. A instrumentalisiert B nur dann, wenn sein Handeln dem allgemeinen Muster strategischer Rationalität folgt. A muss mit der Behandlung, die er B zumutet, einen Zweck verfolgen, der über diese Behandlung selbst hinausgeht. Die Behandlung, die er B angedeihen lässt, darf für ihn nicht nur Selbstzweck sein. Wenn Mitglieder einer verhassten Minderheit von der Mehrheit verfolgt werden oder Kriegsgefangene gefoltert oder ausgehungert werden, werden die Betroffenen jedoch keineswegs immer bloß als Mittel zu Zwecken wie Informationsbeschaffung, Einschüchterung oder Abschreckung von Straftaten gequält, sondern um des Quälens selbst willen, aus Motiven wie Vergeltung, Rache und Lust an Grausamkeit. Es wäre abwegig, das Prinzip der Menschenwürde so einzuschränken, dass es Menschen vor inhumaner Behandlung nur dann schützt, wenn ihre Peiniger diese als zweckrationale »Maßnahme« zuguns110  |  Dieter Birnbacher 

ten weitergehender Zwecke verstehen. Zwar mag es historisch zutreffen, dass der Begriff der Menschenwürde in das Grundgesetz u. a. auch im Gegenzug gegen die für den Nationalsozialismus charakteristische Schizophrenie eingeführt wurde, irrational-archaische Zwecke mit rational-technologischen Mitteln zu erreichen. Aber es wäre unsinnig, den durch das Menschenwürdeprinzip verbürgten Schutz davon abhängig zu machen, dass der Verletzende mit seinem Verhalten strategische Zwecke verfolgt. Andernfalls gewährte das Prinzip paradoxerweise Schutz nur gegen technische Rationalität, aber nicht gegen Boshaftigkeit, Schadenfreude und Grausamkeit.

Instrumentalisierung – Überlegungen im Anschluss an Parfit   |  111

Johann Frick

Zukünftige Personen und Schuld ohne Opfer 1.  Der Fall des tauben Babys Die Ausgabe der Washington Post vom 31. März 2002 enthielt einen Artikel über ein lesbisches Paar aus Bethesda im US-amerikanischen Bundesstaat Maryland, welches zum zweiten Mal durch künstliche Befruchtung ein Kind bekommen hatte.1 Besondere Aufmerksamkeit erregte der Umstand, dass beide Frauen, Sharon Duches­neau und Candy McCollough, von Geburt an taub sind. Ihrem Wunsch nach einem ihnen ähnlichen Kind entsprechend hatten Duchesneau und McCollough absichtlich einen tauben Samenspender gewählt, um ihre Chancen auf ein taubes Kind zu maximieren. Ihre Bemühungen waren von Erfolg gekrönt: Gauvin Hughes McCollough wurde am Thanksgiving-Tag 2001 geboren; wie seine fünf Jahre ältere Schwester Jehanne ist er völlig taub. Viele Menschen haben bei der Betrachtung dieses Falls die starke vortheoretische Intuition, dass irgendetwas an den Handlungen der Mütter moralisch verkehrt ist. Ein Grund für diese Intuition ist der Gedanke, dass es (unter sonst gleichen Umständen) den Interessen einer Person zuwiderläuft, wenn sie taub ist, statt über einen gesunden Hörsinn zu verfügen.2 Das Ziel dieses Aufsatzes ist es nicht, 1 Liza Mundy, »A World of Their Own«, Washington Post, March 31, 2002. 2 Es

ist zu beachten, dass wir nicht vertreten müssen, dass es für eine Person schlechter an sich ist, taub zu sein, um zu vertreten, dass Taubheit den Interessen dieser Person zuwiderläuft. (Wir würden das vertreten, wenn wir glaubten, dass die Kosten, die einer Person aufgrund ihrer Taubheit entstehen  – beispielsweise der sinnlichen Freuden von Musik oder Vogelgesang beraubt zu sein –, unter sonst gleichen Umständen die Vorteile überwiegen würden.) Ebenso wenig brauchen wir zu behaupten, dass viele der charakteristischen Belastungen, die Taubheit an sich schlecht für Menschen machen (wie beispielsweise soziale Marginalisierung), unvermeidlich sind. Vielmehr können wir anerkennen, dass viele der Belastungen, die die Taubheit mit sich bringt, kontingent sind und mit der bedauerlichen Weise zu tun haben, in der unsere Gesellschaft den Bedürfnissen von Tauben nicht gerecht wird.   |  113

für diese weitverbreitete Überzeugung zu argumentieren. Vielmehr wird meine Diskussion voraussetzen, dass diese Überzeugung korrekt ist. In jedem Fall ist meine Argumentation unabhängig von der konkreten körperlichen Beeinträchtigung, unter der Gauvin leidet. Wer Zweifel daran hat, dass Taubheit alles in allem den Interessen einer Person zuwiderläuft, möge sich vorstellen, dass Gauvin aufgrund der bewussten Wahl eines Samenspenders durch die Mütter unter einer anderen körperlichen Beeinträchtigung leidet, die ihm zwar ein lebenswertes Leben nicht unmöglich macht, seine Lebensqualität aber erheblich mindert. Doch selbst unter dieser wichtigen Annahme ist es nur scheinbar einfach zu erklären, warum Gauvins Mütter moralisch falsch gehandelt haben sollen. Wie ein kurzer Überblick über nichtphilosophische Reaktionen zum Fall des tauben Babys zeigen wird, werden die moralisch relevanten Aspekte dieses Falls von unserer gewöhnlichen Denkweise nur unzureichend erfasst. Wie ich in den Abschnitten 2 und 3 erläutere, gehört der Fall des tauben Babys zu einer Klasse von Fällen, die zuerst von Derek Parfit (1982, 1984) erörtert wurden und die das berühmte Problem der Nicht-Identität (Non-Identity Problem) aufwerfen. Wie ich in den Abschnitten 3 bis 6 argumentiere, ist das Problem der Nicht-Identität von anhaltendem philosophischem Interesse, weil es eine weitverbreitete Überzeugung über die Natur der Moral zu wider­legen scheint, nämlich die sogenannte Personen-betreffende Intui­tion (Person-Affecting Intuition). In der Literatur herrscht keine Einigkeit darüber, wie genau diese Intuition auszubuchstabieren ist; ich werde in diesem Aufsatz die folgende Version untersuchen: Wenn eine Handlung moralisch falsch ist, dann ist sie es deswegen, weil mindestens einer Person durch diese Handlung Unrecht widerfährt.  Aber selbst wenn Taubheit alles in allem nicht an sich schlecht für eine Person wäre, könnte es immer noch ihren Interessen zuwiderlaufen, taub zu sein. Das könnte deswegen so sein, weil die Taubheit ihr Risiko erhöht, in Umstände zu geraten, die eindeutig schlecht für sie sind. Beispielsweise könnte eine taube Person einem höheren Risiko ausgesetzt sein, die Fähigkeit zu verlieren, mit anderen Menschen zu kommunizieren, wenn sie zusätzlich blind würde. (Vergleiche: Nicht gegen die Pocken immun zu sein, muss nicht an sich schlecht für eine Person sein – die fehlende Immunität als solche reduziert das Wohlbefinden nicht. Aber es widerspricht nichtsdestotrotz den Interessen dieser Person, da es ihr Risiko erhöht, in einen eindeutig schlechten Umstand zu geraten.) 114  |  Johann Frick 

Die jüngere Literatur zum Problem der Nicht-Identität enthält einige Lösungsvorschläge, die die moralisch falsche Handlung in Nicht-Identitätsfällen auf eine Art und Weise zu erklären versuchen, die es möglicherweise gestatten würde, an der Personen-betreffenden Intuition festzuhalten. In den Abschnitten 7–11 untersuche ich zwei solcher Vorschläge: Elizabeth Harmans schädigungszentrierten (harm-based) Ansatz, wie sie ihn im Aufsatz »Can We Harm and Benefit in Creating?« entwickelt, und zwei rechtezentrierte (rightsbased) Vorschläge von James Woodward und Doran Smolkin. Mein Hauptanliegen in diesem Aufsatz besteht darin zu zeigen, dass solche Hoffnungen trügen. Auch wenn Harmans schädigungszentrierte Lösung des Problems der Nicht-Identität ein beträchtliches Maß an Plausibilität aufweist, argumentiere ich dafür, dass wir die Personen-betreffende Intuition nicht einfach dadurch aufrechterhalten können, dass wir das moralische Fehlverhalten in NichtIdentitätsfällen als Schädigung begreifen. Was rechtezentrierte Lösungen für das Problem der Nicht-Identität anbelangt, so argumentiere ich, dass diese prinzipiell nicht funktionieren können. Ich komme zu dem Schluss, dass in Nicht-Identitätsfällen eine Art von moralischer ›Schuld ohne Opfer‹ (victimless wrongdoing) vorliegt. 2. Inwiefern viele Reaktionen auf den Falls des tauben ­Babys den (Nicht-Identitäts-)Punkt verfehlen Ich behaupte, dass die meisten im Zuge des Berichts in der Washington Post öffentlich vorgebrachten Kritiken am Vorgehen von Sharon und Candy ›philosophisch naiv‹ sind (›philosophisch naiv‹ ist ein Philosophen-Euphemismus für ›zutiefst verkehrt‹). Betrachten wir drei repräsentative Kritiken. Der wissenschaftliche Leiter von LIFE, Peter Garrett, erzählte »BBC News Online«: »Das ist ein weiteres Beispiel für eine außer Kontrolle geratene Reproduktionsmedizin. Einem Kind ein natürliches Vermögen vorzuenthalten ist unmoralisch.«3 Wendy McElroy steht in einem Leitartikel namens »Victims from Birth« ungläubig 3 BBC

News Online, »Couple ›choose‹ to have deaf baby«, 8. April, 2002, http://news.bbc.co.uk/2/hi/health/1916462.stm (Übers.: Stephan Schweit­zer). Zukünftige Personen und Schuld ohne Opfer  |  115

vor der Frage, wie Sharon Duchesneau, »alles dafür tun konnte, um ihrem Sohn Taubheit aufzubürden, und gleichzeitig um das Leid weiß, taub aufzuwachsen.«4 Und selbst R. Alta Charo, Professor für Jura und Bioethik an der Universität von Wisconsin, meint: »Ich denke, wir alle erkennen an, dass taube Kinder ganz wunderbare Leben führen können. Die Frage ist, ob die Eltern nicht ihre heilige Pflicht als Eltern verletzt haben, nämlich in vernünftigem Maß den Nutzen ihrer Kinder zu maximieren. Ich sage es nur ungern, aber ich finde es verwerflich, dem Potenzial eines Kindes Grenzen zu setzen.«5 Diese Kritiken mögen plausibel erscheinen, zumindest bis wir beginnen, Fragen nach der Identität der betreffenden Personen zu stellen. Wem wird in der ersten Kritik »sein natürliches Vermögen vorenthalten«? Gauvin, dem tauben Sohn von Sharon Duchesneau? Dass einem bestimmten Baby ein natürliches Vermögen »vorenthalten« wird, macht klarerweise doch nur Sinn, wenn das Baby auch mit diesem Vermögen hätte existieren können. Aber kann das von Gauvin behauptet werden? Wenden wir uns der zweiten Kritik zu: Dass Sharon Duchesneau ihrem Sohn die Taubheit »aufgebürdet« hat, ist sicherlich zutreffend, wenn ihr Sohn ein Leben ohne Taubheit hätte führen können. Aber hätte er das tatsächlich? Schauen wir uns schließlich die dritte Kritik an: Wessen Potenzial wird hier »begrenzt«? Professor Charo sagt nur jenes des »Kindes«, aber welches Kind meint sie damit? Gauvin, das taube Kind von Sharon Duchesneau? Gibt es demnach ein praktisch mögliches Szenario, in dem Gauvins Potenzial nicht von seiner Taubheit begrenzt wird? Allen drei Kritiken gemein ist die implizite Annahme, dass, wenn Sharon und Candy nur anders gehandelt hätten, dasselbe Kind, Gauvin Hughes McCollough, hätte existieren können – nur ohne Behinderung. Aber das stimmt nicht.

4 Wendy

McElroy, »Victims from Birth«, April 9, 2002, http://www.ifemi nists. com/introduction/editorials/2002/0409.html (Übers.: Stephan Schweit­ zer). 5 Zitiert nach Liza Mundy, op. cit. 116  |  Johann Frick 

3. Das Problem der Nicht-Identität und die Personen-betreffende Behauptung Der Fall des tauben Babys ist eine anschauliche aus dem Leben gegriffene Illustration eines berühmten theoretischen Problems, das von Derek Parfit vor rund drei Jahrzehnten entdeckt wurde: das sogenannte »Problem der Nicht-Identität«.6 Ich möchte mir die Zeit nehmen, das Problem der Nicht-Identität schrittweise so zu ent­ wickeln, wie es sich im Fall des tauben Babys darstellt. Zunächst behaupte ich, dass die folgende Proposition korrekt ist: Die biologische Ursprungsthese (The Biological Origin View): Wenn eine bestimmte Person sich nicht aus jenem Paar Zellen entwickelt, aus dem sie sich tatsächlich entwickelt, dann hätte sie nie existiert. Die biologische Ursprungsthese kann auf zwei unterschiedliche Weisen interpretiert werden: (i) als Behauptung über die metaphysische Essenz einer Person oder (ii) als kontingente Tatsachen­ behaup­tung. Auf die erste Weise verstanden bietet die biologische Ursprungsthese ein Kriterium für die numerische Identität von Personen über verschiedene mögliche Welten hinweg. Sie spezifi­ ziert, was Parfit die unterscheidenden notwendigen Eigenschaften (distinctive necessary properties) einer Person nennt, also jene Eigenschaften, die nur die jeweilige Person aufweisen kann und die ihr nicht hätten fehlen können. (Allerdings handelt es sich bei der Eigenschaft, sich aus einem bestimmten Paar Zellen entwickelt zu haben, um keine vollständig unterscheidende Eigenschaft, weil eineiige Zwillinge sie gleichermaßen aufweisen.) Man muss freilich die biologische Ursprungsthese nicht als meta­ physisch notwendige Bedingung über die Identität von Personen akzeptieren, um ihr als Behauptung einer Tatsache zuzustimmen. Man könnte ganz andere metaphysische Auffassungen über die essenziellen Eigenschaften von Personen haben. Man könnte etwa eine deskriptive Auffassung vertreten, nach der jede Person mehrere unterscheidende notwendige Eigenschaften aufweist, nämlich ihre wichtigsten deskriptiven Eigenschaften (beispielsweise wie sie 6 Parfit

1982, 113–172 und Parfit 1984, Kapitel 16. Zukünftige Personen und Schuld ohne Opfer  |  117

aussieht, was sie in ihrem Leben getan hat usw.). Und nach dieser Theo­rie könnte die Eigenschaft, sich aus einem bestimmten Zellenpaar entwickelt zu haben, nicht Teil dieser deskriptiven Eigenschaften sein. Aber auch wenn man solch eine alternative Theorie über die metaphysische Essenz von Personen unterschreiben würde, hätte man nichtsdestotrotz gute Gründe dafür, die biologische Ursprungsthese als Behauptung einer Tatsache zu bejahen. Denn es ist extrem unwahrscheinlich, dass jemand, der sich aus einem anderen Paar Zellen entwickelt hat und demnach eine andere DNA aufweist usw., später genau die deskriptiven Eigenschaften besitzt, die nach der genannten alternativen Theorie über die metaphysische Essenz die unterscheidenden notwendigen Eigenschaften dieser Person sind. Wenn wir aber die biologische Ursprungsthese akzeptieren, müssen wir zum Schluss kommen, dass es – wenn wir eine pränatale Heilung ausschließen – praktisch (wenn auch nicht metaphysisch) unmöglich ist, dass Gauvin mit intaktem Gehör auf die Welt kommt. Denn es sind ja gerade die genetischen Merkmale, die Gauvin aufgrund seiner Entwicklung aus jenem bestimmten Zellenpaar besitzt, die auch für seine Taubheit verantwortlich sind. Unseren jetzigen wissenschaftlichen und medizinischen Stand vorausgesetzt gibt es kein praktisch mögliches Szenario, in dem Sharon das numerisch gleiche Individuum zur Welt bringt, ohne dass das Kind taub ist. Wenn Sharon anders gehandelt hätte, indem sie Samen eines anderen Spenders verwendet hätte, wäre nicht Gauvin das Ergebnis gewesen. Ein anderes Kind, vielleicht eines mit intaktem Gehör, wäre geboren worden. Aber Gauvin hätte niemals existiert. Der entscheidende Fehler, der allen drei Kritiken zugrunde liegt, besteht in der Annahme, dass Sharons Wahl des Samenspenders eine Entscheidung bezüglich derselben Person (same person choice) darstellt; also eine Entscheidung, die jeweils die gleiche Person zur Folge gehabt hätte, nur ohne bestimmte unerwünschte Eigenschaften. Aber wie wir gesehen haben, ist dies nicht der Fall. Sharon steht stattdessen vor einer Entscheidung zwischen zwei verschiedenen Personen (different person choice). Entweder sie empfängt wie geschehen und gebärt Gauvin, der taub ist. Oder sie empfängt unter anderen Umständen, mit dem Samen eines anderen Spenders; aber in dem Fall wird das daraus entstehende Kind nicht Gauvin sein. 118  |  Johann Frick 

Sollte Gauvin bedauern, dass seine Mütter so gehandelt haben, wie sie es getan haben? Sicher nicht. Trotz seiner Taubheit wird er aller Wahrscheinlichkeit nach ein mehr als lebenswertes Leben führen. Unter der Voraussetzung, dass die einzige praktisch mögliche Alternative zu seiner Geburt als Tauber nicht war, mit intaktem Gehör auf die Welt zu kommen, sondern gar nicht zu existieren, hat Gauvin allen Grund dazu, glücklich zu sein, dass seine Mütter genauso gehandelt haben, wie sie es getan haben. Es ist zu beachten, dass die Feststellung, dass eine Person Grund zur Freude (oder im Gegenteil Grund zum Bedauern) darüber hat, dass sie existiert, uns nicht auf die Behauptung festlegt, dass es besser (oder schlechter) für die jeweilige Person war zu existieren als nie zu existieren. Diese letztere Behauptung erscheint vielen Philosophen inkohärent, da sie, so wird gesagt, impliziert, dass es für diejenige Person schlechter (besser) gewesen wäre, nie existiert zu haben. Aber das kann, wie argumentiert wird, nicht stimmen. Wenn das fragliche Individuum nie existiert, dann gibt es keine Person, für die Nichtexistenz schlechter ist, und folglich niemanden, für den die Existenz besser gewesen wäre. Dem Vergleich fehlt das Subjekt.7 (Man denke an den alten jiddischen Witz: »Das Leben ist so schrecklich, es wäre besser gewesen, man wäre nie geboren worden!« Antwort: »Wer hat schon so viel Glück? Nicht einmal jeder Zehntausendste.« Der Witz funktioniert, weil nichtexistierenden Menschen weder Glück noch Unglück widerfahren kann.) Man kann den zugrunde liegenden Gedanken aber ausdrücken, ohne in solche begrifflichen Schwierigkeiten zu geraten. Wie Jeff McMahan aufzeigt, ist es sowohl verständlich als auch plausibel, dass es für eine Person in einem nichtvergleichenden (non-comparative) Sinn gut sein kann zu existieren; nämlich insofern »die intrinsisch guten Elemente des Lebens dieser Person die intrinsisch schlechten Elemente mehr als aufwiegen«.8 Das kann auch dann stimmen, wenn die Alternative, nicht zu existieren, nicht schlecht oder schlechter für sie gewesen wäre. Mutatis mutandis kann es in einem nichtvergleichenden Sinn schlecht für eine Person sein, dass 7 Versionen

dieses Arguments finden sich in Krister Bykvist 2007, 95–115 und Jeff McMahan 2013, 5–35. Für eine abweichende Ansicht siehe Nils Holtug 2001, 361–384. 8 McMahan 2013, 6 (Übers.: Stephan Schweitzer). Zukünftige Personen und Schuld ohne Opfer  |  119

ihre Existenz in der Form eines nicht lebenswerten Lebens verursacht wurde,9 obwohl es für sie nicht gut oder besser gewesen wäre, nicht zu existieren. Das Problem der Nicht-Identität, wie es sich im Fall des tauben Babys darstellt, kann in drei Propositionen zusammengefasst werden. Sharon und Candy wissen (i) dass ϕ zu tun (einen tauben Samenspender auszuwählen) mit einiger Wahrscheinlichkeit die Existenz eines tauben Kindes zur Folge haben wird, wohingegen die alternative mögliche Handlung ψ (einen Samenspender mit gesundem Gehör auszuwählen) wahrscheinlich die Existenz eines anderen Kindes mit gesundem Gehör zur Folge haben wird. 10 (ii) dass, wenn sie nicht ϕ tun, das taube Kind niemals existieren wird; (iii) dass es, trotz seiner Behinderung, gut für das taube Kind ist zu existieren. Die Herausforderung für den Moralphilosophen besteht nun darin, unsere intuitive Überzeugung, dass Sharon und Candy falsch handeln, wenn sie sich dazu entscheiden, ϕ zu tun, im Lichte der Tatsachen (ii) und (iii) zu erklären; nämlich, dass ϕ zu tun gut für die Person ist, die dadurch gezeugt wird und sonst nicht existiert hätte. Wie wir gesehen haben, scheitern die im Abschnitt 2 diskutierten konventionellen Antworten an diesem Anspruch, weil sie (ii) ignorieren. 9 Genauer

gesagt, man stelle sich vor, dass eine solche Person ein Leben hätte, das, wie es Derek Parfit ausdrückt, es »wert ist, nicht gelebt zu werden« (a life worth not living), weil ihr Leben schlechter ist als ein in einem permanenten Koma verbrachtes Leben, welches ebenfalls nicht lebenswert (a life not worth living) wäre. Aus stilistischen Gründen werde ich die letztgenannte Redeweise beibehalten. Wenn ich also davon spreche, dass ein Leben »nicht lebenswert« ist, dann ist damit gleichsam ein Leben gemeint, das es in Parfits Sinn »wert ist, nicht gelebt zu werden«. 10 Es ist zu beachten, dass es unsere moralische Bewertung nicht zu beeinflussen scheint, dass die Wahrscheinlichkeit für Sharon, ein taubes Kind zu gebären (selbst bei der Wahl eines tauben Samenspenders), immer unterhalb der Schwelle zur Gewissheit und (selbst bei der Wahl eines Samenspenders mit gesundem Gehör) nie bei null liegt. Dass die Wahrscheinlichkeit, das moralisch unerwünschte Ergebnis x zu erhalten, bei jeder möglichen Wahl niedriger als die Schwelle zur Gewissheit liegt, wäre keine Rechtfertigung für jemanden, der versucht, die Chancen auf Ergebnis x zu maximieren. 120  |  Johann Frick 

Viele Moralphilosophen glauben, dass Nicht-Identitätsfälle im Widerspruch zu einer weitverbreiteten moralischen Überzeugung stehen, nämlich zur ›Personen-betreffenden Intuition‹. Diese Intui­ tion wurde in der Literatur auf viele unterschiedliche Arten ausgedrückt, und bislang konnte man sich nicht auf eine Formulierung einigen. Melinda Roberts und David Wasserman charakterisieren sie wie folgt: Was dafür verantwortlich ist, dass eine Handlung oder Entscheidung moralisch verboten oder falsch ist, muss in entscheidender Weise damit zusammenhängen, dass dadurch eine Person schlechter gestellt, geschädigt oder ihr Unrecht getan wird.11

Für die vorliegenden Zwecke wird es nützlich sein, mit einer klarer umgrenzten und präziseren Behauptung zu arbeiten. Ich werde diese als Personen-betreffende Behauptung oder kurz PBB bezeichnen, um sie von der allgemeineren Intuition zu unterscheiden:

Personen-betreffende Behauptung (PBB): Eine Handlung ϕ ist nur dann falsch, wenn es eine Person P gibt, der durch ϕ Unrecht getan wird.12

11 Roberts

und Wasserman 2009, xiv (Übers.: Stephan Schweitzer). Parfits Argumente in Kapitel 16 von Reasons and Persons sind nicht gegen die PBB im oben von mir definierten Sinn gerichtet, sondern gegen eine andere Weise, die Personen-betreffende Intuition auszubuchstabieren – Parfit nennt sie die die Personen-betreffende Einschränkung im engeren Sinn (Narrow Person-Affecting Restriction). Dieser zufolge kann eine Handlung nicht falsch sein, wenn sie nicht schlechter für einen Menschen ist, als es eine andere mögliche Handlung gewesen wäre. Diese Auffassung ist logisch stärker als die Personen-betreffende Intuition in der Formulierung von Roberts und Wassermann, aber von der PBB zu unterscheiden, weil hier eine notwendige Bedingung dafür, dass eine Handlung falsch ist, nicht daran hängt, dass einer Person Unrecht getan wird, sondern daran, dass sie für eine Person schlechter ist als eine andere mögliche Handlung. Wie wir noch sehen werden, liefert allerdings eines von Parfits Hauptargumenten gegen die Personen-betreffende Einschränkung im engeren Sinne – das ich als das »Argument aus dem Fall mit zwei Optionen« bezeichne (und in Abschnitt 5 diskutiere) – ebenfalls ein wirkungsvolles Argument gegen die Personen-betreffende Intuition wie auch gegen die These, die mich in diesem Aufsatz beschäftigt, nämlich gegen die PBB. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen werde ich manchmal von ›Parfits Argumenten gegen die Personen-betreffende Intuition‹ sprechen. 12 Derek

Zukünftige Personen und Schuld ohne Opfer  |  121

Im Falle des tauben Babys impliziert die PBB, dass die Handlung der Mütter nur dann moralisch falls sein kann, wenn gezeigt werden kann, dass dadurch Gauvin (oder einer anderen Person) Unrecht getan wurde. Dass aber die Handlung der Mütter moralisch falsch war, davon sind wir aus vortheoretischer Sicht fest überzeugt. Wenn also unsere Diskussion zum Resultat gelangt, dass von den Müttern nicht gesagt werden kann, dass sie irgendeiner Person Unrecht getan haben, indem sie absichtlich ein taubes Kind empfangen haben, dann ist dies ein Gegenbeispiel zur Personen-betreffenden Behauptung.

4.  Was heißt es, einer Person Unrecht zu tun? Wir sollten etwas genauer darüber nachdenken, was es heißt, einer Person ›Unrecht zu tun‹ (to wrong a person). Intuitiv gesprochen: Wenn durch eine Handlung ϕ einer Person P Unrecht getan wird oder Unrecht an P begangen wird, dann ist (a) die Handlung prima facie moralisch falsch und besteht (b) die Prima-facie-Falschheit von ϕ wenigstens zum Teil darin, wie P von der Handlung betroffen ist. Bedingung (a) impliziert, dass es, wenn durch eine Handlung einer Person Unrecht widerfährt, wenigstens einen pro-tanto-Grund gegen diese Handlung gibt. Gleichzeitig lässt (a) die Möglichkeit offen, dass ϕ nicht alles in allem moralisch falsch ist, auch wenn durch ϕ P Unrecht getan wird. (Das könnte beispielsweise der Fall sein, wenn einer Person Unrecht zu tun die einzige Möglichkeit ist, katastrophale Folgen abzuwenden, wie im berühmten Gedankenexperiment aus Die Brüder Karamasow, bei dem die Folterung eines unschuldigen Kindes das einzige Mittel ist, die Vernichtung der Menschheit zu verhindern.) Bedingung (b) bedarf natürlich weiterer Erklärung. Ich werde mich ihr später ausführlicher widmen. Für die jetzigen Zwecke genügt es festzuhalten, dass der Sinn von »betreffen« in (b) vereinbar ist mit der Idee, dass es nicht immer ausreicht, die intrinsischen Eigenschaften von ϕ zu betrachten, um festzustellen, wie P von ϕ im moralisch relevanten Sinn betroffen ist. Manchmal sind dafür ebenfalls kontrafaktische oder relationale Tatsachen über ϕ relevant. Nehmen wir beispielsweise an, dass jemand P ein Bein amputiert. Wurde P Unrecht getan? Das hängt 122  |  Johann Frick 

zum Teil von der Antwort auf folgende kontrafaktische Frage ab: »Was wäre passiert, wenn Ps Bein nicht amputiert worden wäre?« Wenn P nichts Schlechtes zugestoßen wäre und die Amputation demzufolge medizinisch unnötig war, dann ist P höchstwahrscheinlich Unrecht widerfahren. Wenn P hingegen an Wundbrand gestorben wäre, wenn ihr Bein nicht amputiert worden wäre, dann ist ihr kein Unrecht widerfahren (– zumindest solange wir annehmen, dass die Amputation nicht gegen ihren Willen geschah). Oder nehmen wir an, wir wollen wissen, ob P durch eine Handlung Unrecht getan wird, indem sie unfair behandelt wird. Fairness ist wesentlich ein relationaler Begriff; sie ist eine Funktion dessen, wie jemand im Vergleich zu anderen behandelt wird. Wenn wir also wissen wollen, ob P durch ϕ Unrecht getan wird, indem sie unfair behandelt wird, dann sind bestimmte relationale Tatsachen relevant, nämlich wie P im Vergleich zu anderen Personen behandelt wird. Welche Stellung hat der Begriff des Unrecht-Tuns im System unserer moralischen Begriffe? Wenn wir durch moralisches Fehlverhalten jemandem Unrecht tun, so verstoßen wir nicht bloß gegen eine moralische Norm oder ein moralisches Prinzip – wir schaffen ein Opfer. Dies führt zu einer Dualität in der Art, wie andere auf diese Handlung reagieren können: Die leidtragende Person selbst kann sich nicht nur darüber beklagen, dass wir ein moralisches Prinzip verletzt haben; sie kann sich, und dies ist der entscheidende Punkt, über die sie betreffenden Folgen dieser Verletzung beschweren. Diese Reaktion steht einem nicht betroffenen Dritten nicht offen; er kann nur die Verletzung des allgemeinen moralischen Prinzips beanstanden. Wir können dies den Unterschied zwischen moralischen Beschwerden aus der ersten und dritten Person nennen. Demzufolge können wir also unsere obige Darstellung des Unrecht-Tuns ergänzen: Wenn durch eine Handlung ϕ einer Person P Unrecht getan wird oder Unrecht an P begangen wird, dann ist (a) die Handlung prima facie moralisch falsch und (b) die Primafacie-Falschheit von ϕ besteht wenigstens zum Teil darin, wie P von der Handlung betroffen ist und dass sie Anlass gibt zu einer berechtigten Beschwerde aus der ersten Person seitens P. Es ist ferner zu beachten, dass nur das Vorliegen von Beschwerden aus der ersten Person Forderungen nach Entschädigung und Wiederherstellung rechtfertigen kann. Natürlich werden solche Zukünftige Personen und Schuld ohne Opfer  |  123

Forderungen nicht immer vom Opfer persönlich geltend gemacht. Dieses ist dazu vielleicht gar nicht mehr in der Lage – möglicherweise genau wegen des Unrechts, das ihm angetan wurde. Aber auch in solchen Fällen würden Forderungen nach Entschädigung und Wiederherstellung im Namen des Opfers geltend gemacht. Die Dualität von Beschwerden aus der ersten und dritten Person spiegelt sich auch in den »reaktiven Einstellungen« (reactive attitudes) wider, die wir als Reaktion auf das Unrecht-Tun empfinden. Es mag angemessen sein, dass ich über jemanden empört bin (feel indignation), von dem ich weiß, dass er sich moralisch falsch verhalten hat, selbst wenn ich persönlich von seiner Handlung nicht verletzt wurde. Im Gegensatz dazu bleibt nach dem klassischen Ansatz von Strawson das Gefühl des berechtigten Grolls (resentment) für jene reserviert, die mich persönlich verletzt haben.13 Wie wir sehen, steht viel auf dem Spiel bei der Frage, ob das im Fall des tauben Babys involvierte moralische Fehlverhalten in Personen-betreffender Weise beschrieben werden kann oder nicht. Nur wenn wir zeigen können, dass die Mütter ihrem Kind Unrecht getan haben, wird sich Gauvin in erster Person über seine Eltern beschweren können, was eventuell Forderungen nach Kompensation nach sich ziehen könnte. Und nur in diesem Fall wird sich Gauvin, sollte er später die Entscheidung seiner Mütter als moralisch falsch beurteilen, in der Lage sehen, angemessenen Groll gegenüber seinen Eltern zu empfinden – im Gegensatz zu bloßer unpersönlichen Empörung über die Verletzung eines allgemeinen moralischen Prinzips. 5. Parfit gegen die Personen-betreffende Intuition – das Argument aus dem Fall mit zwei Optionen Im 16. Kapitel seines Buches Reasons and Persons stellt Derek Parfit ein wirkungsvolles Argument vor, das zeigen soll, dass keine Personen-betreffende Erwägung die moralische Falschheit in Fällen mit Nicht-Identität erklären kann. Ich nenne es das »Argument aus dem Fall mit zwei Optionen«. Auf den Fall des tauben Babys angewandt, stellt sich das Argument wie folgt dar: 13 Strawson

2008, 7.

124  |  Johann Frick 

Wenn die Personen-betreffende Intuition richtig ist, dann muss eine Handlung, die wir für moralisch falsch halten, es deswegen sein, weil Personen von ihr auf bestimmte Weise betroffen sind. Nun ist ja sicherlich jeder Versuch unbefriedigend, der die Falschheit der Handlungen der Mütter im Fall des tauben Babys ganz oder auch nur primär im Rekurs auf deren Folgen für andere Menschen als Gauvin erklärt – beispielsweise im Rekurs auf die zusätzliche Belastung der gesellschaftlichen Ressourcen, die ein taubes Kind mit sich bringt. Wir können uns Szenarien vorstellen, in denen es solche Folgen nicht gibt, und doch denken wir auch dann, dass die Mütter falsch gehandelt haben. Um an der Personen-betreffenden Intuition festzuhalten, müssen wir also einen Weg finden, die Falschheit der Handlung der Mütter dadurch zu erklären, wie ihr Kind Gauvin davon betroffen ist. Betrachten wir nun aber den Fall einer anderen Frau namens Lisa:

Lisas Fall: Lisa weiß, dass aufgrund einer angeborenen Krankheit jedes Kind, das sie jetzt oder zukünftig empfangen könnte, taub auf die Welt kommen wird – unabhängig davon, von wem sie schwanger wird. Sie weiß ebenfalls, dass jedes dieser Kinder trotz der Taubheit ein lebenswertes Leben führen würde.

Lisas Fall ist ein Fall mit zwei Optionen, wohingegen der Fall von Sharon und Candy einer mit drei Optionen ist. Lisa hat diese beiden Optionen: (A) ein taubes Kind zeugen (B) kein Kind zeugen Im Gegensatz dazu haben Sharon und Candy drei Optionen: (A) ein taubes Kind zeugen (B) kein Kind zeugen (C) ein Kind mit intaktem Gehör zeugen Die meisten von uns teilen die Intuition, dass es weit weniger problematisch und sogar moralisch erlaubt wäre, wenn Lisa ein Kind zeugen würde, von dem sie weiß, dass es taub auf die Welt kommen wird. (Ich denke, dass wir selbst dann dieser Ansicht wären, wenn wir wüssten, dass Lisa sich wie Sharon und Candy tatsächlich Zukünftige Personen und Schuld ohne Opfer  |  125

ein taubes Kind wünscht und deswegen froh über ihre angeborene Krankheit ist.) Schließlich könnte Lisa wegen ihrer Krankheit nur ein taubes Kind zeugen, und das Leben dieses Kindes wird auf jeden Fall lebenswert sein. Im Gegensatz dazu sind wir überzeugt, dass Sharon und Candy falsch gehandelt haben, indem sie sich bei der Wahl des Samenspenders von der Absicht leiten ließen, ein taubes Kind zu bekommen. Wenn wir an dieser Intuition über den moralischen Unterschied zwischen dem Fall mit zwei und jenem mit drei Optionen festhalten wollen, dann müssen wir laut Parfit die Personen-betreffende Intuition aufgeben. Denn die Art und Weise, wie Lisas Handlung und jene von Sharon und Candy das jeweilige Kind betreffen, ist völlig symmetrisch: In beiden Fällen gebären die Mütter ein taubes Kind, dessen Leben lebenswert sein wird. Solange wir die PBB vertreten, können wir also nicht einerseits die Handlung von Sharon und Candy aufgrund der Art, wie Gauvin von ihr betroffen ist, für falsch erklären und andererseits Lisas Handlung für moralisch erlaubt halten. Daraus schließt Parfit, dass wir die Personen-betreffende Intuition aufgeben müssen. Bevor ich fortfahre, möchte ich kurz auf eine interessante Implikation unserer moralischen Urteile über die beiden gerade betrachteten Fälle mit zwei bzw. drei Optionen hinweisen. Prima facie könnte es plausibel erscheinen, dem Folgenden zuzustimmen: Prinzip der Transitivität des moralisch Erlaubten (Principle of Transitivity for Moral Permissibility): Wenn es erlaubt wäre, A zu tun, wenn A und B die einzigen Optionen wären, und es erlaubt wäre, B zu tun, wenn B und C die einzigen Optionen wären, dann ist es erlaubt, A zu tun, wenn A, B und C die einzigen Optionen sind.14 Stellen wir uns beispielsweise vor, dass ich bei einer Tombola 1000 Euro gewonnen habe und (A*), (B*) und (C*) für die folgenden Optionen stehen:

14 Der

Name ›Prinzip der Transitivität des moralisch Erlaubten‹ geht zurück auf Gregory Kavkas Aufsatz »The Paradox of Future Individuals« (1982), in dem ein derartiges Prinzip besprochen wird. 126  |  Johann Frick 

(A*) das Geld für mich verwenden (B*) das Geld (zusätzlich zu meinen regelmäßigen Spenden) an Oxfam spenden (C*) von dem Geld Spielzeug für meine Kinder kaufen In diesem Fall liefert das Prinzip von der Transitivität des moralisch Erlaubten folgendes plausible Urteil: Wenn es einerseits erlaubt ist, das Geld für mich zu verwenden, statt mehr an Oxfam zu spenden – unter der Voraussetzung, dass ich nur diese beiden Optionen habe – und wenn es andererseits erlaubt ist, Geld an Oxfam zu spenden, anstatt es für neues Spielzeug für meine Kinder auszugeben – unter der Voraussetzung, dass ich nur diese beiden Optionen habe –, dann ist es erlaubt, das Geld für mich zu verwenden, wenn ich alle drei Optionen habe. Aber wenn unsere Intuitionen bezüglich Lisas Fall und des Falls des tauben Babys korrekt sind, dann muss das Prinzip der Transi­ tivität des moralisch Erlaubten ungültig sein. Betrachten wir die Optionen nochmals: (A) ein taubes Kind zeugen (B) kein Kind zeugen (C) ein Kind mit intaktem Gehör zeugen Wie ich im Zuge der Diskussion von Lisas Fall bereits argumentiert habe, gilt: Wenn (A) und (B) die einzigen Optionen sind, scheint es erlaubt, (A) zu wählen. Und sicherlich gilt in Fällen, in denen (B) und (C) die relevanten Optionen sind, dass die Wahl von (B) erlaubt ist. Es ist erlaubt, kinderlos zu bleiben. Wenn also das Prinzip von der Transitivität des moralisch Erlaubten richtig wäre, dann müsste es erlaubt sein, (A) zu wählen, wenn (A), (B) und (C) alle drei möglich wären. Aber dieses Ergebnis steht mit unserer leitenden Intuition hinsichtlich des Falls des tauben Babys im Widerspruch. Obwohl es auf den ersten Blick attraktiv scheint, sollten wir also das Prinzip von der Transitivität des moralisch Erlaubten zurückweisen. Übrigens sind Fälle mit dem Problem der Nicht-Identität nicht die einzigen Gegenbeispiele zu diesem Prinzip. Nehmen wir an, ich könnte einen Vorrat einer knappen Medizin auf eine abgeschiedene Insel bringen, wo sie eine gewisse Anzahl an Menschenleben retZukünftige Personen und Schuld ohne Opfer  |  127

ten würde. Allerdings ist die Reise zu dieser Insel derart gefährlich, dass es supererogatorisch wäre, diese Mission auf mich zu nehmen: Es wäre lobenswert, diese Mission auf mich zu nehmen, es ist aber nicht moralisch gefordert. Einmal auf der Insel angekommen, sind aber keine weiteren Risiken und nur vernachlässigbare Kosten damit verbunden, mit der Medizin so viele Menschenleben wie möglich zu retten. Betrachten wir nun die folgenden drei Optionen: (A’) zur Insel reisen und 5 Menschenleben retten (B’) nicht zur Insel reisen (C’) zur Insel reisen und 10 Menschenleben retten In einer Situation, in der (A’) und (B’) die einzigen verfügbaren Optionen sind, ist die Reise zur Insel mit der damit verbundenen Rettung von 5 Menschenleben klarerweise erlaubt (und sogar lobenswert). In einem Fall, in dem (B’) und (C’) die einzigen verfügbaren Optionen sind, ist es aufgrund der großen Gefahr erlaubt, die Reise zur Insel nicht auf sich zu nehmen. In einem Fall, in dem (A’), (B’) und (C’) gleichermaßen möglich sind, sind jedoch nur (B’) und (C’) zulässige Optionen. (A’) ist nicht erlaubt – obwohl die Wahl von (A’) mehr Gutes tun würde als die Wahl von (B’). Denn unter der Bedingung, dass ich die gefahrvolle Mission auf mich nehme und die Insel auch erreiche, bin ich jetzt verpflichtet, so viele Menschenleben wie möglich zu retten.

6.  Eine unpersönliche Erklärung Im 16. Kapitel von Reasons and Persons bietet Parfit eine nicht Personen-betreffende Lösung (non-person affecting solution) des Pro­blems der Nicht-Identität an. Gemäß Parfit ist die Handlung von Sharon und Candy nicht – wie uns die Personen-betreffende Intuition glauben machen wollte – deswegen falsch, weil Gauvin davon auf eine bestimmte Weise betroffen ist. Der Fall von Lisa, deren Kind genau auf die gleiche Weise wie Gauvin betroffen ist, zeigt, dass das nicht stimmen kann. Vielmehr ergibt sich die Falschheit aus dem Umstand, dass Sharon und Candy durch ihren willentlichen Versuch, ein taubes Kind zu bekommen, die Gelegenheit auslassen, anstatt des tauben Kinds ein anderes Kind zu bekommen, 128  |  Johann Frick 

das nicht an Taubheit leidet. Was an ihrer Entscheidung moralisch tadelnswert ist, ist die Tatsache, dass sie unnötiges Leid zur Folge hat. Parfit fasst das Argument in seinem Prinzip Q zusammen, welches seiner Meinung nach die moralischen Erwägungen identifiziert, die wirklich beim Problem der Nicht-Identität am Werk sind: Q: Wenn in zwei möglichen Fällen die gleiche Anzahl an Menschen existieren würde, dann wäre es schlechter, wenn die existierenden schlechter gestellt wären oder eine niedrigere Lebensqualität hätten als diejenigen, die andernfalls existiert hätten. Dieses Prinzip ist deswegen unpersönlich oder nicht-Personenbetreffend, weil es wesentlich vergleichend ist: Sharon und Candy haben nach Q falsch gehandelt, aber nicht, weil ihre Handlung Gauvin (oder irgendeine andere jemals existierende Person) auf eine bestimmte Weise betrifft. Vielmehr haben sie falsch gehandelt, weil sie durch die Zeugung von Gauvin vergleichbar schlechtere Folgen verursachten, als sie es mit der Zeugung eines gesunden Kindes getan hätten. Um es mit einem neuen Namen zu sagen: Ihre Handlung ist falsch wegen der mit der Handlung verbundenen »moralischen Opportunitätskosten«. 7. Eine schädigungszentrierte Lösung des Problems der Nicht-Identität? Wie wir gesehen haben, weist Parfit eine Personen-betreffende Interpretation des Problems der Nicht-Identität zurück. Das bedeutet, dass er die Entscheidung der Mütter nicht deswegen für falsch hält, weil sie Gauvin in bestimmter Weise betrifft. Tatsächlich geht Parfit einen Schritt weiter und behauptet, dass die Handlungen der Mütter Gauvin nicht in einem moralisch relevanten Sinn schädigen, weil die Wahl der Mütter keinesfalls schlechter für Gauvin ist als jede andere die Zeugung betreffende Wahl, die sie sonst hätten treffen können. Parfit arbeitet hier (größtenteils) mit einer einfachen kontrafak­ tischen Konzeption von Schädigung, nach der gilt:

Zukünftige Personen und Schuld ohne Opfer  |  129

Schlechter gestellt (Worse-off): Eine Handlung schädigt eine Person nur dann, wenn die Person dadurch schlechter gestellt ist, als sie es gewesen wäre, wenn diese Handlung nicht ausgeführt worden wäre. Wenn wir diese kontrafaktische Konzeption von Schädigung voraussetzen, gilt: Damit die Handlung von Sharon und Candy Gauvin schädigt, müsste Gauvin schlechter gestellt sein, als er es gewesen wäre, wenn sie anders gehandelt hätten. Aber da Gauvin nicht existiert hätte, wenn Sharon und Candy anders gehandelt hätten, und demzufolge gar kein Niveau an Wohlergehen gehabt hätte, kann man nicht davon sprechen, dass sie ihn geschädigt haben. Auf diese Weise verstanden beweist die kontrafaktische Konzeption von Schädigung zweifellos zu viel. Denn dieser Logik zufolge würde gelten, dass wir eine Person niemals schädigen könnten, indem wir ihre Existenz bewirken, selbst wenn das Leben dieser Person nicht lebenswert ist, weil es voller unaufhörlichem und nicht anderweitig ausgeglichenem Leid ist. Auch für diese Person würde gelten, dass ihr Niveau an Wohlergehen nicht niedriger sein kann, als es gewesen wäre, wenn wir ihre Existenz nicht bewirkt hätten. Aber dieses Ergebnis ist klar inakzeptabel. Es ist extrem plausibel, dass das In-die-Welt-Setzen einer Person mit nicht lebenswertem Leben diese schädigt. In den letzten Jahren sind Philosophen diesem und anderen Problemen der kontrafaktischen Konzeption von Schädigung begegnet, indem sie alternative nichtvergleichende Analysen des Konzepts der Schädigung entwickelt haben.15 Darüber hinaus haben manche dafür argumentiert, dass eine schädigungszentrierte Lösung des Problems der Nicht-Identität in Reichweite rückt, sobald wir uns auf eine nichtvergleichende Konzeption von Schädigung festlegen. So auch die Philosophin Elizabeth Harman. In ihrem Aufsatz »Can We Harm and Benefit in Creating?« legt Harman eine nichtvergleichende Konzeption von Schädigung vor, nach der eine Handlung dann eine Person schädigt, wenn »die Handlung Schmerz, vorzeitigen Tod, körperliche Versehrtheit oder Missbildungen der 15 Unter

(1999).

ihnen findet sich der einflussreiche Aufsatz von Seana Shiffrin

130  |  Johann Frick 

betreffenden Person zur Folge hat, selbst wenn sie gar nicht existiert hätte, wenn die Handlung nicht vollzogen worden wäre«.16 Allgemeiner gesagt können wir davon sprechen, dass nach Harman Folgendes gilt: Nichtvergleichender Ansatz: P ist geschädigt =def. P befindet sich in einem ›schlechten Zustand‹ S schädigt P =def. S verursacht die Schädigung von P, also die Tatsache, dass sich P in einem schlechten Zustand befindet Man könnte diese Idee wie folgt ausbuchstabieren: Man listet die­ jeni­gen Komponenten auf, die das Wohlergehen einer Person ausmachen (körperliche Gesundheit, Intelligenz, materieller Besitz usw.), weist jeder eine »Akzeptanzschwelle« zu und sagt, dass eine Person sich dann in einem schlechten Zustand befindet, wenn sie im Hinblick auf eine Komponente X unter der Akzeptanzschwelle von X liegt. Taubheit stellt für Harman einen solchen schlechten Zustand dar. Folglich kann man von den Müttern behaupten, dass sie Gauvin geschädigt haben, indem sie ihn in die Welt gesetzt haben, nämlich, weil sie verursacht haben, dass er sich in einem schlechten Zustand befindet: Er ist taub. Mit dieser nichtvergleichenden Konzeption von Schädigung argumentiert Harman gegen Parfit, dass das moralische Fehlverhalten in Fällen wie jenem des tauben Babys vollständig mit der Schädigung zukünftiger Individuen erklärt werden kann. Darüber hinaus kann so auch der intuitive moralische Unterschied zwischen dem Fall mit drei Optionen (der Fall des tauben Babys) und dem mit zwei Optionen (Lisas Fall) erklärt werden. Knapp zusammengefasst lautet Harmans Argument wie folgt: Die Gründe, die gegen jemandes Schädigung sprechen, sind moralisch so schwerwiegend, dass die bloße Anwesenheit von Nutzen für den Geschädigten, der den Schaden mehr als aufwiegt, nicht alleine dafür ausreicht, die Schädigung moralisch zu rechtfertigen. Wenn es eine Alternative gibt, die jemandem einen äquivalenten Vorteil ohne die äquivalente Schädigung bietet, dann ist die schädigende Handlung moralisch falsch. Nach Harmans Theorie schädigen sowohl Sharon als auch 16 Harman

2004, 93. Zukünftige Personen und Schuld ohne Opfer  |  131

Lisa ihre Kinder, aber in Sharons Fall sind die Gründe für ihre Handlung nicht ausreichend dafür, Gauvins Schädigung moralisch zu rechtfertigen. Die Vorteile, die Gauvin dadurch entstehen, dass er zur Welt gebracht wird, reichen nicht aus, um seine Schädigung zu erlauben, weil Sharon die Alternative offensteht, jemandem den gleichen Nutzen ohne die gleiche Schädigung angedeihen zu lassen. Die Belastung, die sich für Sharon daraus ergibt, dass sie kein Kind mit der von ihr gewünschten Behinderung bekommen kann, rechtfertigt nicht die Schädigung ihres Kindes. Lisa hingegen hat keine Alternative, in der sie jemandem äquivalente Vorteile ohne die äquivalente Schädigung zukommen lassen kann. Ferner wäre die Belastung, die für Lisa daraus entstünde, nie ein Kind zeugen zu dürfen, deutlich größer. Aus diesen Gründen schließt Harman, dass Lisas Handlung moralisch erlaubt ist. Harmans schädigungszentrierte Lösung des Problems der NichtIdentität lässt viele Fragen offen, insbesondere in Bezug auf ihre nichtvergleichende Konzeption von Schädigung. Beispielsweise kann man sich fragen, ob es tatsächlich eine notwendige Bedingung für das Geschädigtsein ist, dass man sich in einem schlechten Zustand befindet. Stellen wir uns vor, ich gebe einem Genie eine Tablette, die dessen IQ reduziert, so dass es ›nur‹ noch überdurchschnittlich intelligent ist. Meine Handlung versetzt das Genie nicht einen ›schlechten‹ Zustand in Bezug auf seine Intelligenz. Und doch haben wir die Intuition, dass ich das Genie geschädigt habe. Ferner kann man sich fragen, ob es immer hinreichend für das Geschädigtsein ist, einen schlechten Zustand einzunehmen. Betrachten wir den folgenden Fall: Angenommen, ich bin bei einer Komponente meines Wohlergehens 10 Einheiten unter der Akzeptanzschwelle und mein Arzt bringt es durch eine gelungene Operation zustande, dass ich bei dieser Komponente nur noch 5 Einheiten unterhalb der Akzeptanzschwelle liege. Mein Arzt verursacht, dass ich einen schlechten Zustand einnehme – nämlich den, 5 Einheiten unter der Akzeptanzschwelle zu liegen. Aber offensichtlich haben wir es hier nicht mit einer Schädigung durch meinen Arzt zu tun – im Gegenteil.17 17

Eine sehr hilfreiche ausführlichere Diskussion dieser Punkte findet sich in Michael Rabenberg (2015). 132  |  Johann Frick 

Im Rahmen dieses Aufsatzes möchte ich solche Zweifel an Harmans Konzeption der Schädigung beiseitelassen. Ich möchte um des Arguments willen sogar annehmen, dass Harmans schädigungszentrierte Lösung des Problems der Nicht-Identität auf ganzer Linie erfolgreich ist. Die Frage, der ich nachgehen möchte, ist die folgende: Angenommen, wir können die Handlung von Sharon und Candy genauso als falsch etablieren, wie Harman vorschlägt: Würde das die Personen-betreffende Intuition und im Besonderen die Personen-betreffende Behauptung vor Parfits Kritik retten? Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als ob diese Rettung klarerweise gelingt. Denn wenn die Zeugung eines behinderten Kindes dieses auch schädigt, wie Harman im Gegensatz zu Parfit behauptet, dann ist das Kind unbestreitbar von dieser Schädigung betroffen. Und wenn weiterhin die Falschheit der Handlung im Fall des tauben Babys ganz durch die Schädigung des Kindes erklärt werden könnte, dann scheinen beide in Abschnitt 4 behandelten Bedingungen dafür erfüllt, dass durch die Handlung der Mütter ihrem Kind Unrecht widerfährt. Im folgenden Abschnitt werde ich zu zeigen versuchen, dass solche Hoffnungen verfehlt sind. Auch wenn wir das moralische Fehlverhalten in Nicht-Identitätsfällen durch eine Schädigung erklären können, kann die Personen-betreffende Behauptung dadurch nicht aufrechterhalten werden. 8. Warum Harmans schädigungszentrierte Lösung die PBB nicht stützt Auf den ersten Blick scheint Harmans Behauptung, dass die Falschheit von Sharons Handlung einfach darin besteht, dass sie Gauvin Schaden zufügt, direkt dem Argument aus dem Fall mit den zwei Optionen zum Opfer zu fallen. Denn sicherlich ist die Handlung von Sharon und Candy nicht bloß deswegen falsch, weil sie Gauvin schädigt. Vielmehr ist sie deswegen falsch, weil Sharon und Candy eine alternative Art offenstand, ein Kind zu zeugen und diesem dadurch die mit der Existenz verbundenen Vorteile zukommen zu lassen, und weil diese Alternative keine solche Schädigung involviert hätte. Genau diese Option fehlt Lisa im Fall mit den zwei Zukünftige Personen und Schuld ohne Opfer  |  133

Optionen. Zeigt das nicht, dass eine schädigungszentrierte Lösung die Falschheit von Sharons Handlung nicht vollständig begründen kann? Harman versucht der Kraft dieses Einwands wie folgt zu entgehen: Sie weist darauf hin, dass die bloße Tatsache, dass wir zusätzliche Informationen benötigen – nämlich die Information, dass die Gründe für Sharons Handlung nicht ausreichen, um Gauvins Schädigung als erlaubt zu etablieren –, nicht zeigt, dass die Schädigung nicht die Erklärung dafür sein kann, dass Sharons Handlung falsch ist. Denn, wie Harman ausführt, erklärt eine »Schädigung die Falschheit einer Handlung nie vollständig, in diesem Sinn. [...] Wenn wir behaupten, dass eine Handlung aufgrund der dadurch verursachten Schädigung falsch ist, dann behaupten wir damit, dass es keine Gründe für die Handlung gab, welche den durch die Schädigung bereitgestellten Grund überwogen haben.«18 Ich glaube, dass die zitierte Stelle eine wichtige Unterscheidung zwischen ›normalen‹ schädigungszentrierten Erklärungen von Unrecht und der von Harman für das Problem der Nicht-Identität angebotenen Erklärung verschleiert. Betrachten wir zunächst einen normalen Fall: Zwei lebensverlängernde Therapien: In der nahen Zukunft haben Wissenschaftler eine Droge entwickelt, die die menschliche Lebenserwartung um 20 Jahre verlängert. Mein Arzt hat die Wahl zwischen zwei Arten, mir die Droge zu verabreichen. Beide Behandlungen bringen mir den Vorteil eines um 20 Jahre verlängerten Lebens. Aber Therapie 1 hat folgende dauerhafte schädliche Nebenwirkung: Vom Zeitpunkt der Behandlung an wird meine linke Hand weniger beweglich sein. Therapie 2 hingegen hat keine schädlichen Nebenwirkungen. Beide Therapien sind gleich günstig und einfach zu handhaben. Es sollte klar sein, dass mein Arzt falsch handelt, wenn er mir Therapie 1 statt Therapie 2 verordnet. Darüber hinaus ist die Erklärung für die Falschheit seiner Handlung schädigungszentriert (er hat mich geschädigt, indem er einen Mobilitätsverlust in meiner linken Hand verursacht hat). Allerdings können wir, wie von Harman be18 Harman

2004, 102 (Übers.: Stephan Schweitzer).

134  |  Johann Frick 

hauptet, nicht allein durch die Betrachtung der Eigenschaften von Therapie 1 verstehen, dass die Verordnung von Therapie 1 aufgrund des dadurch verursachten Schadens falsch ist. Denn wenn Therapie 1 die einzige Möglichkeit gewesen wäre, mein Leben um 20 Jahre zu verlängern, dann würde die Verordnung von Therapie 1 trotz der mir entstehenden kleinen Schädigung nicht falsch scheinen. (Eine kleine Beweglichkeitseinschränkung in meiner linken Hand scheint ein unbedeutender Preis für 20 zusätzliche Lebensjahre!) Wir können nur dann verstehen, warum mein Arzt falsch gehandelt hat, wenn wir uns vor Augen führen, wie er stattdessen hätte handeln können: Weil er die Option hatte, mir die gleichen Vorteile ohne die entsprechende Schädigung zukommen zu lassen (indem er mir nämlich Therapie 2 verordnet), ist die Handlung meines Arztes falsch aufgrund der dadurch verursachten Schädigung. Aber – und das ist der springende Punkt – die relevante kontrafaktische Tatsache bezieht sich darauf, was mein Arzt für mich hätte tun können. Er hätte mir dieselben Vorteile verschaffen können, ohne dabei mich auf die gleiche Art zu schädigen. Aus diesem Grund ist die Verordnung von Therapie 1 nicht nur moralisch falsch; indem er mich unnötig schädigt, tut er mir Unrecht. Vergleichen wir dies mit der Rolle, die die Schädigung laut Harman im Falle des tauben Babys spielt: Der Grund dafür, warum Gauvins Schädigung trotz des gleichzeitigen Vorteils der Existenz nicht als erlaubt gelten kann, liegt darin, dass die Mütter die Möglichkeit hatten, eine andere Person in gleicher Weise zu begünstigen, ohne diese andere Person in gleicher Weise zu schädigen. Legt diese schädigungszentrierte Darstellung des Falls des tauben Babys nahe, dass irgendjemandem durch die Handlung der Mütter Unrecht getan wurde? Ich glaube nicht. Die Tatsache, dass eine Handlung A aufgrund der durch sie verursachten Schädigung von Person P falsch ist, impliziert nämlich nicht, dass P durch A Unrecht getan wird. Die beiden Behauptungen sind nicht äquivalent. Harmans Lösung des Problems der Nicht-Identität stützt folgende Proposition: (1) Die Handlung der Mütter ist moralisch falsch, weil sie Gauvins Schädigung zur Folge hat. Aber (1) impliziert nicht

Zukünftige Personen und Schuld ohne Opfer  |  135

(2) Die Handlung der Mütter fügt Gauvin Unrecht zu, weil sie Gauvins Schädigung zur Folge hat. Behauptung (1) ist damit vereinbar, dass die Falschheit der Handlung der Mütter einfach dadurch erklärt wird, dass sie unnötigerweise jemanden geschädigt haben. Die Entscheidungen der Mütter sind falsch, weil sie dadurch eine Welt herbeiführen, die mehr unnötige Schädigung enthält. Gauvin selbst ist hier nur Träger (locus) von etwas, das wir aus unpersönlicher Sicht als nicht wünschenswert erachten. Im Gegensatz dazu ist die Behauptung, dass durch eine schädigende Handlung einer Person Unrecht getan wird, gleichbedeutend damit, dass die Prima-facie-Falschheit dieser Handlung darin besteht, wie diese Person von ihr betroffen ist. Wenn also Behauptung (2) wahr wäre, würde sie implizieren, dass die Mütter um Gauvins willen nicht so hätten handeln dürfen, wie sie es getan haben. Es ist zu beachten, dass (1), aber nicht (2) vollkommen von einer modifizierten Version von Parfits unpersönlichem Prinzip Q erfasst würde: Q*: Wenn in zwei möglichen Fällen die gleiche Anzahl an Menschen existieren würde, dann wäre es schlechter, wenn die Existierenden schlechter gestellt wären oder eine niedrigere Lebensqualität hätten oder schwerwiegendere Schädigungen erlitten als diejenigen, die andernfalls existiert hätten. Gemäß Q* ist die Zeugung des geschädigten Gauvin deswegen falsch, weil die Schädigung unnötig ist; die Zeugung hätte aufgrund der mit ihr verbundenen moralischen Opportunitätskosten nicht erfolgen dürfen. Wenn Sharon und Candy einen anderen Samenspender ausgewählt hätten, hätten sie ein anderes Kind zeugen können, welches nicht durch Taubheit geschädigt gewesen wäre. Zu behaupten, dass die Entscheidung, ein taubes Kind zu bekommen, deswegen falsch war, weil dadurch Gauvin aufgrund seiner Schädigung ein Unrecht geschah, ist im Gegensatz dazu gleichbedeutend mit der Behauptung, dass um Gauvins willen nicht so hätte gehandelt werden dürfen. Gauvin dürfte sich zu Recht bei seinen Müttern darüber beschweren, wie ihre Entscheidung ihn betroffen hat. Aber stimmt das? 136  |  Johann Frick 

Es fällt schwer zu verstehen, warum ausgerechnet Gauvin sich durch die Entscheidung seiner Mütter ungerecht behandelt fühlen sollte. Es sieht im Gegenteil so aus, als ob Gauvin froh über die Wahl seiner Mütter sein sollte – auch wenn diese moralisch falsch war. Denn er hat ein Leben, das trotz seiner nachteiligen Behinderung für ihn mehr als lebenswert ist. Darüber hinaus gilt, dass er nie existiert hätte, wenn seine Mütter richtig gehandelt und einen anderen Samenspender ausgewählt hätten. In dieser Hinsicht scheint der Fall des tauben Babys analog zum folgenden Fall:

Zwei Rettungen: Ich muss mich zwischen der Rettung von einem von zwei Menschen namens Albert und Bob entscheiden, die sich in den moralisch relevanten Hinsichten nicht voneinander unterscheiden. Dabei gilt das Folgende: • Wenn ich Alberts Leben rette, wird er weitere 20 Jahre leben. Eine unvermeidliche Nebenwirkung seiner Rettung ist allerdings, dass ich seine partielle Lähmung verursache. • Wenn ich Bobs Leben rette, wird er weitere 20 Jahre leben. Ich kann Bob retten, ohne dabei eine schädliche Nebenwirkung zu verursachen.

Stellen wir uns vor, ich würde Alberts und nicht Bobs Leben retten. Vielen wird es scheinen, dass ich falsch gehandelt habe. Harman würde analog zu ihrem Argument bezüglich des Problems der Nicht-Identität die folgende ›schädigungszentrierte‹ Erklärung dieses Urteils anbieten: Albert zu retten ist falsch, weil ich ihn schädige, indem ich seine partielle Lähmung verursache. Diese Schädigung kann nicht dadurch gerechtfertigt werden, dass ich ihm gleichzeitig 20 weitere Lebensjahre schenke. Denn wenn ich Bob retten würde, hätte ich den gleichen Nutzen ohne die gleiche Schädigung bewirkt. Es ist aber zu beachten, dass – genauso wie im Fall des tauben Babys – aus der Behauptung, dass (1) Alberts Rettung aufgrund der ihm dadurch verursachten Schädigung falsch ist, nicht folgt, dass (2) Alberts Rettung aufgrund der ihm dadurch verursachten Schädigung ein an ihm verübtes Unrecht darstellt. Wie Gauvin kann sich Albert ganz offensichtlich nicht aus der ersten Person beschweren, wenn ich ihn rette. Im Gegenteil: Wenn irgendjemand Grund zur Freude anlässlich meiner Handlung hat, dann Albert. Zukünftige Personen und Schuld ohne Opfer  |  137

Gauvin kann sich nicht nur nicht zu Recht aus der ersten Person über seine Mütter beschweren und hat auch keinen Grund zum Groll. Es erschiene sogar heuchlerisch und deplatziert, wenn er Empörung über ihre Handlung ausdrücken würde. Denn im Gegensatz zu beinahe allen anderen könnte Gauvin nicht guten Glaubens behaupten, dass er es vorgezogen hätte, wenn seine Mütter moralisch richtig gehandelt hätten. Ich schließe daraus, dass Harmans schädigungszentrierter Ansatz die Personen-betreffende Behauptung nicht stützen kann, nach der moralisches Fehlverhalten immer mit Unrecht an einer Person einhergeht und durch dieses erklärbar ist. Im Besonderen gilt, dass, selbst wenn die Zeugungsentscheidung von Sharon und Candy Gauvin schädigt, weil er dadurch ein Leben mit Behinderung führen muss, dies nicht die Implikationen hat, die schädigungszentrierte Erklärungen von Unrecht gewöhnlich aufweisen. Die zwei Frauen schädigen Gauvin zwar laut Harman, aber durch ihre schädliche Handlung widerfährt ihm kein Unrecht, und sie liefert ihm keinen Grund zur berechtigten Beschwerde aus der ersten Person.

9.  Gibt es eine rechtezentrierte Lösung? Natürlich existieren Fälle, in denen sich jemand über das durch eine Handlung erlittene Unrecht beschweren kann, ohne dass diese Handlung alles in allem schlecht für die betreffende Person gewesen wäre. Betrachten wir beispielsweise den folgenden Fall von James Woodward (1986): Der Gefangene der Nazis: Ein Mann wurde in ein Konzentra­ tionslager eingesperrt, in dem ihm schreckliches Leid widerfuhr. Aber seine dortigen Erfahrungen bereicherten und stärkten seinen Charakter und führten dazu, dass er sein Leben besser verstehen und schätzen lernte, so dass sein Leben insgesamt besser verlief, als es der Fall gewesen wäre, wenn er nicht im Konzen­ trationslager eingesperrt gewesen wäre. Obwohl die Erfahrungen im Konzentrationslager diesen Menschen glücklicherweise im kontrafaktischen Sinn nicht schlechter gestellt haben, scheint dieser Umstand irrelevant für unser Urteil, dass die 138  |  Johann Frick 

Nazis ein unverzeihliches Unrecht an ihm begangen haben, indem sie ihn in ein Konzentrationslager eingesperrt haben. Die Tatsache, dass die Handlungen der Nazis den Menschen nicht schlechter gestellt haben, als er in jedem möglichen anderen Fall gewesen wäre, tut der Falschheit ihrer Handlungen keinen Abbruch. Eine offensichtliche Erklärung dieses moralischen Urteils besteht darin, dass die Handlungen der Nazis dem Mann Unrecht zufügen, weil sie wichtige ihm zustehende Rechte verletzen – das Recht, sich frei bewegen zu können; das Recht, nicht zu Zwangsarbeit genötigt zu werden; das Recht, nicht ständig in Todesangst leben zu müssen usw. Neben der Schädigung existiert also eine zweite große Kategorie von Unrecht: Rechtsverletzungen. Beide Kategorien sind nicht koextensional: Manchmal kommt es zu Rechtsverletzungen, die nicht zur Schädigung der betreffenden Person führen.19 Die Rechte einer Person sollen bestimmte grundlegende Interessen dieser Person schützen. Diese Interessen sind jedoch oft recht spezifisch. Entscheidend ist, dass die Falschheit der Frustration solcher Interessen in der Regel nicht dadurch aufgehoben wird, dass eine Handlung andere Interessen der betreffenden Person auf vorteilhafte Weise affiziert, so dass der durch die Rechtsverletzung entstandene Schaden ausgeglichen wird (was das Eigeninteresse dieser Person insgesamt angeht). Vielleicht lässt sich also an der Personen-betreffenden Erklärung der moralischen Falschheit, wie sie in Fällen mit Nicht-Identität vorliegt, festhalten, indem wir auf die Rechte zukünftiger Individuen verweisen? Dieser Versuch wurde von James Woodward (1986, 1987) und später von Doran Smolkin (1999) unternommen.20 In 19 Natürlich

wird mancher Philosoph, darunter vor allem diejenigen, die eine kontrafaktische Konzeption von Schädigung für nicht überzeugend halten, annehmen wollen, dass Woodwards Gefangener neben der Verletzung seiner Rechte durch die Nazis auch von ihnen geschädigt wurde, selbst wenn alles in allem ihre Handlungen ihn nicht schlechter gestellt haben, als er es andernfalls gewesen wäre. Das behauptet beispielsweise Elizabeth Harman (2004). 20 Woodward ist skeptisch, ob eine plausible Rechte-Theorie Rechte auf Freiheit von Behinderungen einschließen könnte, etwa das Recht darauf, nicht zu taub zu sein. Aber ein derart allgemeiner Widerstand gegen ein Recht darauf, nicht taub zu sein, ist sicherlich deplatziert. Was auch immer wir vom Fall des tauben Babys halten mögen: Es scheint überaus plausibel, dass bei Existenz Zukünftige Personen und Schuld ohne Opfer  |  139

den letzten beiden Abschnitten dieses Aufsatzes möchte ich mich also der Frage widmen, ob vielleicht das moralische Fehlverhalten von Sharon und Candy dadurch zu erklären sei, dass sie durch die absichtliche Zeugung eines tauben Kindes Gauvins Rechte verletzen und ihm dadurch Unrecht zufügen. Wie der schädigungszentrierte Ansatz wird auch ein rechtezentrierter Ansatz mit Parfits Argument aus dem Fall mit den zwei Optionen zu kämpfen haben. Wenn Sharons Entscheidung ihrem Kind Unrecht tut, weil eines seiner Rechte verletzt wird, sind wir dann nicht – unseren Intuitionen zum Trotz – gezwungen zu sagen, dass Lisas Wahl, die ihr Kind in der exakt gleichen Weise betrifft, gleichermaßen falsch ist, weil sie eines der Rechte verletzt, die ihr Kind hat? Ich denke, dass einer rechtezentrierten Theorie schlicht keine guten Antworten auf diese Herausforderung zu Gebote stehen. Die beste Erwiderung wäre, in den sauren Apfel zu beißen und die intuitiv abwegige Implikation der Theorie zu akzeptieren, dass es keinen moralisch relevanten Unterschied zwischen dem Fall des tauben Babys und Fällen wie Lisas Entscheidung gibt.

10.  Der Einwand aufgrund von »›Sollen‹ impliziert ›Können‹« Das Argument aus dem Fall mit den zwei Optionen ist allerdings nicht der einzige Einwand, der gegen den Versuch vorgebracht werden kann, das Fehlverhalten im Fall des tauben Babys mit Bezug auf die Rechte des Kindes zu erklären. Ein zweiter möglicher Einwand rührt vom Prinzip »›Sollen‹ impliziert ›Können‹« her. Da die angeblich Rechte verletzende Handlung darin besteht, Gauvins Existenz in einem bestimmten Zustand Z zu verursachen, würde jedes Recht, das bei der Erklärung des Fehlverhaltens im Fall des tauben Kindes eine Rolle spielen könnte, die folgende Form annehmen müssen: ›Gauvins Recht, sich nicht in Zustand Z zu befinden‹, wobei Z für ›Taubheit‹, ›Behinderung‹ usw. stehen mag. Aber eines (prä- oder postnatalen) Heilmittels gegen Taubheit Gauvin ein Recht darauf hätte, dieses Mittel zu erhalten, und ihm Unrecht widerfahren würde, wenn seine Mütter ihm dieses vorenthielten. 140  |  Johann Frick 

wie ich in Abschnitt 3 ausgeführt habe, gibt es in Ermangelung eines Heilmittels für Taubheit keine Möglichkeit, wie Gauvin hätte existieren können, ohne sich in Zustand Z zu befinden. Es könnte also so scheinen, als ob die Zubilligung eines Rechts gegenüber Gauvin, nicht taub zu sein, uns eine moralische Pflicht auferlegt, die prinzipiell unerfüllbar ist. Gauvins Recht darauf, nicht taub zu sein, scheint ein Recht zu sein, das wir nur verletzen können. Und dieser Umstand widerspricht der weitverbreiteten Ansicht, dass es in der Moral keine Pflichten gibt, welche prinzipiell unerfüllbar sind. (Oder wie die Parole besagt: »Sollen« impliziert »können«.) Auch wenn dieser Einwand auf den ersten Blick plausibel scheinen mag, glaube ich, dass er uns auf eine falsche Spur führt. Hier wird missverstanden, welche Rolle dem Prinzip »›Sollen‹ impliziert ›Können‹« in der ethischen Theorie zukommt. Die Funktion von »›Sol­len‹ impliziert ›Können‹« besteht darin, uns vor Situationen zu ›bewahren‹, in denen wir nur falsch handeln können. Allerdings gibt es eine ganz einfache Art und Weise, wie wir das behauptete Recht Gauvins darauf, nicht taub zu sein, nicht verletzen – nämlich indem wir sicherstellen, dass dieses Recht niemals aktual wird. Weil Rechte einen Träger benötigen, lässt sich die Erzeugung einer moralischen Pflicht, der wir nicht nachkommen können, hier einfach dadurch vermeiden, dass wir die Existenz eines Trägers solcher Rechte verhindern. In dieser Hinsicht ist meine Behandlung solcher ›nicht zu wahrenden Rechte‹ analog zu meiner Auffassung einer anderen Art von unerfüllbaren moralischen Pflichten, nämlich unerfüllbarer Versprechungen. Es ist natürlich problematisch zu sagen, dass wir ein Versprechen erfüllen ›sollen‹, wenn dieses unmöglich erfüllt werden kann. Aber bedeutet das, dass wir bei der Abgabe unerfüllbarer Versprechen demjenigen, dem wir das Versprechen geben, gar nicht Unrecht tun? Ganz bestimmt nicht. Die richtige Antwort lautet, dass wir das unerfüllbare Versprechen gar nicht hätten geben dürfen – und dieser Forderung können wir nachkommen. Wenn wir unsere Pflicht verletzen, keine unerfüllbaren Versprechen abzugeben, dann tun wir demjenigen, dem wir das Versprechen geben, Unrecht. Analog könnte man im Fall des tauben Babys behaupten, dass die Mütter Gauvin Unrecht tun, weil ihre Handlung dazu führt, dass Gauvin existiert und ihm damit ein Recht zukommt, das nicht gewahrt werden kann. Zukünftige Personen und Schuld ohne Opfer  |  141

11. Warum es keine rechtezentrierte Lösung für den Fall des tauben Babys gibt Ich werde nun einen wirkungsvolleren Einwand gegen eine rechte­ zentrierte Lösung des Falls des tauben Babys vorstellen. Meine Kritik besteht im Kern darin, dass in diesem Fall kein Recht verletzt wird, das Gauvin plausiblerweise zugesprochen werden könnte. Ich behaupte, dass wir zur Klärung der tatsächlich vorliegenden Rechte von jeder behaupteten Rechtezuschreibung verlangen sollten, dass sie folgender minimalen Bedingung genügt: Notwendige Bedingung dafür, über das Recht auf X zu verfügen: A  verfügt über das Recht auf X nur dann, wenn es Umstände gibt, in denen A rationalerweise präferiert oder wünscht, dass sein Recht auf X nicht verletzt wird. Diese Bedingung kann auf zweierlei Weise erfüllt werden: Entweder (i) präferiert A rationalerweise, dass er existiert und sein Recht auf X gewahrt wird oder (ii) A präferiert oder wünscht, niemals zu existieren, wenn sein Recht auf X nicht gewahrt werden kann. In beiden Fällen zieht es A rationalerweise vor, dass sein Recht auf X nicht verletzt wird. Bei der ersten Variante ist dies der Fall, weil A existiert und sein Recht gewahrt wird. Bei der zweiten Variante würde As Recht nicht verletzt, weil A niemals existiert und deshalb gar nicht über Rechte verfügt, die verletzt werden könnten. (›Rechte erfordern einen Träger.‹) Der Leser mag sich über die doppelte Verneinung in der notwendigen Bedingung wundern. Warum schreibe ich, dass ›A ratio­ nalerweise präferiert oder wünscht, dass sein Recht auf X nicht verletzt wird‹, und nicht einfach, dass ›A rationalerweise präferiert oder wünscht, dass sein Recht auf X gewahrt wird‹? Wir müssen die Bedingung auf diese Weise formulieren, um Fälle behandeln zu können, in denen die Entstehung einer Person notwendigerweise die Verletzung eines ihrer Rechte zur Folge hat. Nennen wir die­ jenigen Rechte, welche A allein aufgrund seiner Entstehung zukommen, die ›Geburtsrechte‹ (birth rights) von A. Im vorangegangenen Abschnitt hatte ich für Folgendes argumentiert: Der Umstand, dass As Recht auf X unmöglich gewahrt werden kann, sobald er existiert, reicht nicht dafür aus, A sein Recht auf X abzusprechen. Denn die 142  |  Johann Frick 

Tatsache, dass A ein solches nicht zu wahrendes Recht auf X hätte, wenn er existierte, erlegt uns in derartigen Situationen nichts Unmögliches auf: Wir müssen lediglich verhindern, dass As Recht auf X aktual wird, indem wir seine Existenz nicht verursachen. Nichtsdestotrotz ist es nur bedingt verständlich, in solchen Fällen von A zu behaupten, dass er rationalerweise präferiert, dass sein Recht auf X »gewahrt« wird. Der Fall ist ja so beschaffen, dass die Wahrung von As Recht auf X praktisch unmöglich ist. Könnte A dann rationalerweise präferieren, was praktisch unmöglich ist? Im Gegensatz dazu ist es in einem Fall, in dem eines von As Geburtsrechten verletzt ist, völlig verständlich zu sagen, dass A rationalerweise präferieren oder wünschen könnte, niemals existiert zu haben. Denn dann wäre As Recht auf X nicht verletzt. Die notwendige Bedingung erscheint unabhängig davon plausibel: Wenn es für ein behauptetes Recht auf X keine Umstände gibt, in denen A rationalerweise präferieren würde, dass dieses Recht nicht verletzt wird, dann ist dieses behauptete Recht sicherlich nicht von Wert für A; es ist kein Interesse auszumachen, das durch das Recht geschützt wird. Aber da wir Rechte ja gerade als Schutz für bestimmte wichtige Interessen des jeweiligen Trägers verstehen, scheint es treffender zu sagen, dass es sich bei einem behaupteten Recht, das keine denkbaren Interessen schützt, gar nicht um ein Recht handelt. Darüber hinaus liefert die notwendige Bedingung die intuitiv richtigen Antworten auf die Frage, wer welches Recht besitzt: Denken wir beispielsweise an das behauptete Geburtsrecht, ein Leben zu führen, das ›mindestens lebenswert‹ ist (– bei jedem Niveau unterhalb dieser Schwelle wäre das Leben nicht mehr lebenswert). Die meisten von uns, die wir lebenswerte Leben führen, präferieren rationalerweise, dass dieses behauptete Recht nicht verletzt wird. Aber selbst eine Person, für die dieses Recht von Geburt an nicht zu wahren ist, würde rationalerweise präferieren oder wünschen, dass ihr Recht auf ein mindestens lebenswertes Leben nicht verletzt sei – aber in diesem Fall mit der Konsequenz, die eigene Nichtexistenz zu akzeptieren. Manche Leben sind in der Tat so voll von Schmerz und Leiden, dass diejenigen, die sie führen, rationalerweise wünschen, sie hätten nie existiert.21 Dieses Ergebnis steht im Einklang mit un21 Es

ist zu beachten, dass das nicht gleichbedeutend mit der Behauptung Zukünftige Personen und Schuld ohne Opfer  |  143

serem intuitiven moralischen Urteil, dass wir einer Person Unrecht tun und eines ihrer Rechte verletzen, wenn wir die Existenz dieser Person verursachen, obwohl wir wissen, dass ihr Leben nicht mindestens lebenswert sein wird. Welche Implikationen hat die notwendige Bedingung nun für den Fall des tauben Babys? Gauvins behauptetes Geburtsrecht, mit Gehör geboren zu werden, ist nicht zu wahren; die einzige Art, sein Recht nicht zu verletzen, besteht darin, seine Existenz nicht zu verursachen. Aber das würde Gauvin nicht rationalerweise präferieren, weil er ein mehr als lebenswertes Leben hat. Da der einzig praktisch mögliche Weg, wie sein behauptetes Recht darauf, mit Gehör auf die Welt zu kommen, nicht verletzt wird, einen Sachverhalt impliziert, den er nicht rationalerweise präferieren kann, gibt es also keine Umstände, unter denen er rationalerweise wünscht, dass dieses Recht nicht verletzt wird. Damit ist der notwendigen Bedingung also nicht entsprochen. Daraus schließe ich, dass wir Gauvin im Falle des tauben Babys kein Recht auf ein gesundes Gehör zuschreiben sollten.22 Der Versuch, das moralische Fehlverhalten im Fall des tauben Babys als Rechteverletzung zu verstehen, war der zweite und letzte Versuch, eine Erklärung für diesen Fall zu entwickeln, die uns an der Personen-betreffenden Behauptung festzuhalten erlaubt hätte. Ich habe in diesem Abschnitt dafür argumentiert, dass eine rechtezentrierte Lösung des Falls des tauben Babys mit einer plausiblen Bedingung für den Besitz von Rechten nicht zu vereinbaren ist. Ich komme also zu dem Schluss, dass es keine tragbare Analyse dieses Falles gibt, nach der er kein Gegenbeispiel zur Personen-betreffenden Behauptung darstellen würde. ist, dass die betreffenden Personen den rationalen Wunsch haben, nicht mehr zu existieren. 22 Ich halte es nicht für einen Einwand gegen meine Lösung, dass sie impliziert, dass verschiedenen Individuen verschiedene Geburtsrechte zukommen können oder dass sogar dasselbe Individuum, abhängig von den Umständen, verschiedene Rechte besitzen kann. Das könnte sogar eine Stärke meines Ansatzes sein: Auf diese Weise kann erklärt werden, warum Sharon und Candy – so wie die Dinge stehen – keines seiner Rechte verletzen, wenn sie Gauvin in die Welt setzen; wohingegen sie sein Recht auf ein gesundes Hörvermögen verletzen würden, wenn ein pränatales Heilmittel gegen Taubheit verfügbar wäre. 144  |  Johann Frick 

12. Fazit Zusammengefasst: Die Personen-betreffende Behauptung muss aufgegeben werden angesichts unserer starken Intuition, dass im Fall des tauben Babys moralisches Fehlverhalten vorliegt, wir aber nicht in der Lage waren, eine Grundlage für eine berechtigte Beschwerde aus der ersten Person seitens des tauben Kindes zu finden. Dass eine Handlung moralisch falsch ist, braucht also nicht zu heißen, dass irgendeiner Person durch diese Handlung Unrecht widerfährt. Jeder Anlauf, Sharon und Candys Fehlverhalten als Unrecht an einer Person darzustellen, wird dem Fall des tauben Babys nicht gerecht. Wie es scheint, haben wir es hier tatsächlich mit einer Art von moralischer ›Schuld ohne Opfer‹ zu tun.23 Übersetzt von Stephan Schweitzer und Johann Frick 24

23 Ich

danke meinem Mentor Derek Parfit für seine äußerst hilfreichen Kommentare zu einer früheren Version dieses Aufsatzes ebenso wie für viele Jahre im Zeichen einer beispiellosen intellektuellen Durchdringungskraft und philosophischen Kreativität. 24 Die englische Version dieses Aufsatzes kann hier konsultiert werden: http://scholar.princeton.edu/jfrick/publications Zukünftige Personen und Schuld ohne Opfer  |  145

Tim Henning

Kants Ethik und das Problem der Nicht-Identität

Wir verdanken Derek Parfit – neben vielem anderen – sowohl erhellende Diskussionen zu Kants Ethik als auch wegweisende Darstellungen dessen, was er das Problem der Nicht-Identität (the Non­ identity Problem) nennt. Der vorliegende Beitrag verbindet diese beiden Themen. Ich stelle dar, dass eine bestimmte Lesart der Ethik Kants, die von Parfits eigener an vielen Stellen abweicht, einen Ansatz zur Lösung des Problems der Nicht-Identität ergibt, den Parfit nicht berücksichtigt. Das Problem der Nicht-Identität resultiert aus einem leicht zu übersehenden Faktum. Jede unserer Entscheidungen hat viele kleine und größere Auswirkungen auf Details im Leben vieler Menschen. Sie beeinflussen, wer wann wen trifft und kennen lernt, wer wann nach Hause kommt, und dergleichen mehr. Damit beeinflussen sie letztlich auch, zu welchen Zeitpunkten welche Personen Geschlechtsverkehr haben und welche Gameten dabei verschmelzen. Auf mehr oder minder verschlungenem Wege bestimmen viele Alltagsentscheidungen also mit, welche Personen zukünftig entstehen (vgl. RaP, Kap. 16). Derlei Effekte auf die Zusammensetzung zukünftiger Populationen sind natürlich noch größer, wenn es um politische Entscheidungen im großen Rahmen geht. Wenn dieser Einfluss auf die Existenz zukünftiger Personen erst einmal deutlich geworden ist, wird klar, dass wir uns dem gegenüber sehen können, was Parfit Different People Choices (vgl. RaP, 356) nennt. Dies sind Entscheidungen, in denen die langfristigen Folgen der verschiedenen Alternativen vollständig verschiedene zukünftige Populationen betreffen würden. In genau solchen Szenarien stellt sich das, was Parfit das Problem der Nicht-Identität genannt hat. Angenommen, wir verzichten auf eine restriktive Klimapolitik und vergeuden Ressourcen auf Kosten späterer Generationen. Diese Entscheidung erscheint moralisch falsch. Aber wenn wir den Einfluss solcher Entscheidungen auf die Existenz der zukünftigen   |  147

Personen bedenken, wird es schwierig, diesen Befund zu begründen. Denn unsere Entscheidung stellt die zukünftigen Menschen nicht schlechter – es ist ja nur allzu wahrscheinlich, dass sie ohne diese Entscheidung gar nicht erst existiert hätten. (Man bedenke nur, wie sich eine restriktivere Klimapolitik schon jetzt auf unsere Fortbewegung, unser Berufs- und Privatleben auswirken würde und wie diese kleinen Unterschiede im Ablauf des Lebens viele weitere Unterschiede nach sich ziehen würden.) So ergibt sich das Problem der Nicht-Identität, das Parfit so formuliert: »Since [the choice] will be worse for no one, we need to explain why we have a moral reason not to make [the choice]« (RaP, 378). Als Replik schlagen manche Autoren unpersönliche ethische Maßstäbe vor, denen zufolge manche Entscheidungen schlecht sein können, auch wenn sie nicht für jemanden schlecht sind – etwa, indem sie die Nettosumme an Glück in der Welt kleiner ausfallen lassen, als sie sein könnte. Solche Vorschläge haben jedoch nicht nur ihre eigenen Probleme, die Parfit mit großer Schärfe herausarbeitet. Vor allem scheinen sie etwas intuitiv Relevantes zu übersehen. Wenn wir heute Ressourcen verschwenden, dann scheinen wir in der Tat nicht nur den zukünftigen Weltzustand zu verschlechtern, sondern irgendwie auch den zukünftigen Menschen Unrecht zu tun. Die Frage lautet: Kann dieser persönliche Aspekt unserer ethischen Bewertung aufrecht erhalten werden, wenn man zugleich dem Problem der Nicht-Identität Rechnung trägt? Ich präsentiere hier eine Interpretation der Ethik Kants, die genau dies erlaubt. §§ 1 und 2 erläutern Kants Ansichten. Speziell erklärt § 1, was es heißt, Personen als Zwecke an sich selbst zu behandeln; § 2 erläutert den kontrastierenden Begriff des Behandelns als ein bloßes Mittel. § 3 argumentiert dann, dass wir Letzteres mit den zukünftigen Personen im Szenario des Problems der Nicht-Identität tun. Obwohl wir sie nicht schädigen, behandeln wir sie doch als bloße Mittel.

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§ 1  Personen als Zwecke an sich selbst behandeln Bekanntlich lautet Kants Zweckformel (ZF) so: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest«.1 Es ist in der Literatur zu Kant sehr umstritten, was genau es heißt, die Menschheit in einer Person als Zweck an sich selbst zu behandeln. Ich beginne mit einem Vorschlag, der mir auf der richtigen Fährte zu sein scheint, und werde ihn dann weiter verfeinern. T. M. Scanlon formuliert Kants Sicht so: »To see something as an end in itself is to see it as a nonderivative source of reasons«.2 In der Tat definiert Kant Zwecke in ganz ähnlicher Weise, nämlich als einschränkende Bedingungen in unseren Entscheidungen (»einschränkende Bedingungen im Gebrauch aller Mittel«3; »einschränkende Bedingung aller subjectiven Zwecke«4). Hier erläutert Kant Zwecke anhand ihrer typischen Rolle: Wenn ich einen Zweck habe, dann schränkt dies ein, was ich wählen und welche weiteren Zwecke ich zu verfolgen beschließen kann. Da diese Rolle (auch für Kant) normativ zu verstehen ist, ergibt sich durchaus eine Übereinstimmung mit dem Vorschlag von Scanlon. In der Tat betont Kant, dass die Menschheit in einer Person »oberste einschränkende Bedingung[en]«5 sein müsse, womit in der Tat gemeint ist, dass sie diesen Status nicht weiteren Zwecksetzungen verdankt (und ihn, wie Scanlon schreibt, in nicht-derivativer Weise besitzt.) Kants Erläuterung lässt dabei zu, dass es neben den Zwecken, die Kant »zu bewirkende« Zwecke nennt, auch »selbständige Zwecke«6 gibt. Nicht alles, was meine Entscheidungen normativ beschränkt, muss etwas sein, das ich herbeiführen und in diesem Sinne bezwecken könnte. Kants weitere Kategorie eines Zwecks wird von bestimmten teleologischen Ausdrücken unserer Alltagssprache gut 1

Vgl. GMS, AA 04, 429. Ich zitiere, wie üblich, die Akademie-Ausgabe mit Angabe der Nummer des Bandes und der Seitenzahl. 2 Scanlon 2008, 92. 3 GMS, AA 04, 438. 4 GMS, AA 04, 431; vgl. auch GMS, AA 04, 430. 5 GMS, AA 04, 431. 6 Vgl. GMS, AA 04, 437. Kants Ethik und das Problem der Nicht-Identität  |  149

eingefangen. Wir bilden etwa mit »um ... willen« oder »... zuliebe« Adverbien, die Zwecke benennen. Und nicht alle dieser Adverbien benennen etwas Herbeizuführendes. So kann ich etwa um der alten Zeiten willen etwas tun, und in diesem Falle ist jede Paraphrase, die einen zu bewirkenden Zweck benennt, bestenfalls künstlich. Bis hierher kann man Scanlons Vorschlag also zustimmen. Man kann aber fragen: Welche Gründe sind es, die die Menschheit in einer Person uns gibt? Welcher Art sind die Einschränkungen, die sich aus ihr ergeben? Scanlon schreibt: »[W]e see ourselves as having the power to make it the case that we have reason to promote other things, by choosing those things as our ends«7. Das entspricht einer ähnlichen Idee bei C. Korsgaard, die schreibt: »To treat anyone as an end in itself is to regard that person as one who confers value on the objects of his or her choice«8. Was Kant diesen Autoren zufolge meint, ist, dass wir Menschen genau dann als Zwecke (als oberste einschränkende Bedingungen) behandeln, wenn wir ihre Zwecke in einer bestimmten Weise behandeln, nämlich als Zwecke, die auch wir im Rahmen des Möglichen befördern sollten. Und ich stimme zu, dass dies zumindest einen Teil der Idee Kants korrekt erfasst. Kant selbst schreibt ja: »Denn das Subjekt, welches Zweck an sich selbst ist, dessen Zwecke müssen […] auch, so viel möglich, meine Zwecke sein«9. Und mir scheint, dass dies auch Teil dessen ist, was unsere oben genannten teleologischen Redeweisen ausdrücken. Wenn ich sage, dass ich um Peters willen oder Peter zuliebe einen Umweg fahre, dann heißt das, dass dies Peters Interessen dient und dass dies letztlich mein Grund ist, es zu tun. Ein erster Deutungsvorschlag wäre also dieser: Personen sind in dem Sinne Zwecke an sich selbst, dass wir immer dann, wenn wir etwas um ihretwillen tun können, Grund haben, es zu tun. Das entspricht im Wesentlichen Korsgaards und Scalons Interpretation, wie mir scheint. Dennoch scheint mir Kants Idee damit nicht vollständig getroffen zu sein. Man beachte, dass das letzte Kant-Zitat aus einem sehr speziellen Kontext stammt, nämlich einer Passage, in der die unvollkommene Pflicht der Wohltätigkeit 7 Scanlon

2008, 92. 1996, 331. 9 GMS, AA 04, 430. 8 Korsgaard

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erläutert wird. Dem jetzigen Vorschlag zufolge würde die Formel ZF in der Tat nur einen Teilbereich der Moral erfassen, eben den der Wohltätigkeit. Aber sagt Kant denn noch etwas anderes darüber, was es heißt, die Menschheit in Personen als Zweck an sich selbst zu behandeln? Viele Autoren bestreiten dies. Kerstein schreibt: »Kant gives us little guidance for understanding the notion of treating another merely as a means«10, und er würde dasselbe sicher auch für den Begriff des Behandelns als Zweck bejahen. Kerstein und andere Autoren halten sich daher an die wenigen Passagen, in denen Kant explizit von Personen als Zwecken spricht. Ich diskutiere ihre Vorschläge weiter unten genauer. Ich schlage jedoch etwas anderes vor. Nimmt man Kant beim Wort, dann äußert er sich, entgegen den skeptischen Äußerungen Kersteins, ausführlich dazu, was es heißt, die Menschheit in einer Person als Zweck zu behandeln. Kant sagt ja immerhin, dass alle Formulierungen des Sittengesetzes äquivalent (»nur so viele Formeln eben desselben Gesetzes«11) seien. Wenn das stimmt, sollten die anderen Formulierungen uns dabei helfen können, ZF zu erläutern. Diesen Weg schlage ich nun ein. Wir verstehen besser, was es heißt, die Menschheit in jeder Person als Zweck zu behandeln, wenn wir die anderen Formeln zu Rate ziehen. Gewiss ist Kants Äquivalenzbehauptung kontrovers. Ich hoffe aber, dass meine Ausführungen sie zumindest etwas stützen können. Ich beschränke mich auf die Gesetzesformel, die bekanntlich lautet: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde«12. Meine Hypothese lautet: Die Menschheit in jeder Person als Zweck zu behandeln beinhaltet nichts anderes, als seine Maximen diesem Kriterium zu unterziehen – also nur so zu entscheiden, dass andere unter gleichen Umständen die gleiche Entscheidung treffen können. Tatsächlich sagt Kant ganz explizit, dass es sich so verhält: »[D]aß ich meine Maxime […] auf die Bedingung ihrer Allgemeingültigkeit, als seines Gesetzes für jedes Subject einschränken soll, 10 Kerstein

2009, 164. AA 04, 436. 12 GMS, AA 04, 421. 11 GMS,

Kants Ethik und das Problem der Nicht-Identität  |  151

sagt eben so viel, als das vernünftige Wesen selbst, muß niemals als bloßes Mittel, sondern als oberste einschränkende Bedingung im Gebrauche aller Mittel, d. i. jederzeit zugleich als Zweck, allen Maximen der Handlungen zum Grund gelegt werden.«13 Hier formuliert Kant ganz genau meine Hypothese: Indem wir uns darauf beschränken, nur nach Maximen zu handeln, die wir als allgemeine Gesetze wollen können, behandeln wir das vernünftige Wesen selbst als oberste einschränkende Bedingung in der Wahl aller weiteren Mittel, also als Zwecke. Aber wie ist diese Äquivalenzbehauptung zu verstehen? Kurz gesagt: Wenn ich merke, dass ich nicht wollen kann, dass alle Ver­ nunftwesen nach meiner Maxime handeln, und wenn ich aus diesem Grunde darauf verzichte – dann behandle ich damit diese anderen Vernunftwesen als einschränkende Bedingungen, also als Zwecke. Wir können es sogar noch genauer sagen: Ich behandle dann die Menschheit in ihrer Person als so eine einschränkende Bedingung. Mit »Menschheit« meint Kant nämlich nichts anderes als die Fähigkeit, sich frei seine eigenen Zwecke zu setzen.14 Wenn ich nun frage, ob ich wollen kann, dass alle Vernunftwesen nach meiner Maxime handeln, dann behandle ich damit eben genau die gleichen Entscheidungsspielräume aller Vernunftwesen als einschränkende Bedingung, und in diesem Sinne: ihre Menschheit als Zweck. Mit der Gesetzesformel lege ich mich darauf fest, um meiner eigenen Zwecke willen nur das zu tun, was damit vereinbar ist, dass alle anderen Vernunftwesen dasselbe um ihrer Zwecke willen tun. So spielt der Gedanke an die Freiheiten der anderen die Rolle einer einschränkenden Bedingung – genau die Rolle eines obersten Zwecks, der alle anderen Zwecksetzungen bestimmt. Diese Äquivalenz wird selten erkannt. Sie ergibt sich aber letztlich daraus, dass Kant mit einem Gesetz ein Prinzip meint, das allen Vernunftwesen zur Maxime dienen könnte (und würde, wenn diese Wesen vollkommen vernünftig wären). Das heißt aber, dass die Sorge darum, ob meine Maxime Gesetz sein kann, nichts anderes ist als eine Sorge um die gleichen Entscheidungsmöglichkeiten aller Vernunftwesen. Diese, und speziell ihre gleiche Fähigkeit zu freien 13 GMS, 14 Vgl.

AA 04, 438. dazu Hill 1980, 86.

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Entscheidungen, sind also letztlich das, um dessen willen ich mein Handeln beschränke. Mir scheint daher, dass letztlich sowohl unser Verständnis der Zweckformel als auch unser Verständnis der Gesetzesformel davon profitieren, dass wir Kants Äquivalenzthese ernst nehmen. Freilich ist mit diesem Vorschlag nicht nur etwas gewonnen (für das Verständnis der beiden Formeln). Es ergeben sich auch neue Probleme. Meinem Vorschlag zufolge kann nämlich die Zweckformel nur so transparent sein, wie es die Gesetzesformel ist. Und die Interpretation der Gesetzesformel sieht sich vielen notorischen Unklarheiten gegenüber, von denen viele von Parfit diskutiert werden (OWM I, 275 ff.). Speziell gibt es große Unklarheiten in Bezug auf die Formulierung von Maximen. Ich kann die entsprechenden Problemfälle an dieser Stelle nicht diskutieren.15 Mir scheint aber, dass wir uns oft auf unser Urteil darüber verlassen können, wann eine mögliche Formulierung einer Maxime die relevanten motivierenden Gründe eines Akteurs erfasst und wann nicht. Das wird meine nachfolgende Diskussion jedenfalls voraussetzen. Meine persönliche Ansicht ist, dass die Gesetzesformel alles andere als ein hoffnungsloser Fall ist. Aber mein Ziel ist es nicht, sie hier gegen allerlei Einwände zu verteidigen. Ich möchte lediglich zeigen, dass sie und die Zweckformel, bei all ihren Problemen, doch das Potenzial haben, einen Weg zur Lösung des Pro­blems der NichtIdentität zu zeigen.

§ 2  Personen als bloße Mittel behandeln Ich habe einen Vorschlag dazu gemacht, was es heißt, die Menschheit in jeder Person als einen Zweck zu behandeln. Es bedeutet, so habe ich argumentiert, in jeder Entscheidung die gleichen Entscheidungsmöglichkeiten aller anderen Personen als einschränkende Bedingung zu behandeln – also nur so zu entscheiden, dass ich zulassen kann, dass alle anderen Personen gleichen Gebrauch von ihrer Freiheit machen und ebenfalls nach dieser Maxime handeln. Die 15 Ich

diskutiere sie in Henning 2016 eingehend, setze diese Diskussion aber in diesem Text nicht voraus. Kants Ethik und das Problem der Nicht-Identität  |  153

Menschheit in jeder Person als Zweck behandeln heißt also, nur nach gesetzesfähigen Maximen zu handeln. Aber was folgt daraus für die Frage, was es heißt, die Menschheit in einer Person als bloßes Mittel zu behandeln? Zwar hat mein Vorschlag den Vorzug, die Zweckformel eng an die Gesetzesformel zu binden. Aber hier scheint erkennbar zu werden, dass damit die spezifischen Vorzüge der Ersteren verloren zu gehen drohen. Wenn wir nach Maximen handeln, die wir nicht als Gesetze wollen können, dann scheint das ja ein Befund zu sein, der unser Verhältnis zu allen anderen Personen gleichermaßen betrifft. Wir machen, wie Kant sagt, »Ausnahmen« aus uns – wir gestehen uns etwas zu, das nur möglich ist, weil nicht alle anderen es sich auch zugestehen. Das ist zwar plausibler Weise ein moralisch relevanter Befund. Aber ist damit auch erfasst, dass wir durch falsches Handeln oft spezielle Individuen zu Mitteln machen, sie instrumentalisieren? Diese Sorge scheint mir nur zum Teil begründet zu sein. Wenn ich meine Maxime nicht als Gesetz wollen kann, dann enthält das, wie eben dargestellt, durchaus den Befund, dass ich andere instrumentalisiere. Es heißt ja, dass ich meinen Plan nur als Ausnahme gutheißen kann und dass ich für mein Vorhaben darauf bauen muss, dass andere sich in der Wahl ihrer Maximen stärker beschränken. In diesem Sinne behandle ich ihre Entscheidungsspielräume durchaus als etwas, das zu meinen Gunsten eingeschränkt werden darf und das mir zugute kommen sollte. Ich behandle also in der Tat ihre Menschheit als bloßes Mittel. Dennoch ist ein Teil des Einwandes berechtigt, wie mir scheint. Es ist in der Tat zunächst schwer zu sehen, wie Kants Ethik moralisches Unrecht gegenüber bestimmten Personen verständlich machen kann. Wenn ich etwa ein Versprechen breche, dann ist jedermann in der Position, mir Vorwürfe zu machen. Aber es gibt doch eine Person, der ich das Unrecht angetan habe. Kants Kriterium scheint nur zu erfassen, inwiefern ich mich an der Gemeinschaft aller Vernunftwesen versündige, wenn ich falsch handle. Kann sie aber auch erfassen, inwiefern einige Vernunftwesen in besonderer Weise als diejenigen gelten können, denen Unrecht getan wurde? Jedoch lässt sich auch dieses Bedenken ausräumen. In der Tat scheint mir mein obiger Deutungsvorschlag eine Erklärung dafür zu ergeben, was es heißt, bestimmten Individuen gegenüber falsch 154  |  Tim Henning 

zu handeln und ihnen Unrecht zu tun. Der zentrale Gedanke ist folgender: Wenn ich merke, dass meine Maxime nicht als allgemeines Gesetz gewollt werden kann, dann wird der Grund dafür oft ein sehr spezieller sein. Dieser Grund hat mit der Rolle des Adressaten meines Handelns zu tun – also mit der Person, der gegenüber ich in jener Weise handeln würde. Betrachten wir Kants eigene Beispiele, etwa ein falsches Versprechen aus Eigennutz. Die entsprechende Maxime, so Kant, ist nicht als allgemeines Gesetz denkbar. Aber warum genau? Kant zufolge liegt dies daran, dass eine entsprechende Praxis daran scheitern müsste, dass niemand mehr glauben könnte, was ihm versprochen wird.16 Was sich also als widersprüchlich entpuppt, ist nicht primär der Gedanke an eine Welt, in der Leute den Versuch unternehmen, falsche Versprechen zu geben. Ungereimt ist erst der Gedanke, dass es Menschen gibt, die diesen Versprechen glauben und damit der Praxis ihren Witz verleihen. Erst wenn wir die Empfängerseite in Betracht ziehen, wird deutlich, worin der Widerspruch im Denken besteht. Man kann sagen: Was wir uns in letzter Instanz nicht denken können, ist, dass Personen mit großer Regelmäßigkeit und Erfolg die Rolle des Adressaten falscher Versprechen einnehmen. Ein weiteres Beispiel Kants ist der Verzicht auf Wohltätigkeit: Der Widerspruch im Wollen, den Kant diagnostiziert, ergibt sich nicht bloß daraus, dass jedermann darauf verzichtet, anderen Gutes zu tun. Mein Wille gerät erst dadurch in Widerstreit mit sich selbst, dass ich damit auch bejahen müsste, dass ich selbst nicht in den Genuss von Hilfe komme, wenn sie nötig ist. Was ich also eigentlich nicht wollen kann, ist, Opfer des Verzichts auf Wohltätigkeit zu sein. Wenn man es so betrachtet, dann hat die Prüfung von Maximen, die das Sittengesetz verschreibt, einen zweiten Aspekt. Oftmals kann ich nicht wollen, dass alle nach meiner Maxime handeln, aus dem speziellen Grund, dass ich nicht wollen kann, dass Personen generell so behandelt werden, wie ich sie im Handeln nach meiner Maxime behandeln würde. Diese passivische Formulierung ist in den diskutierten Beispielen besonders treffend, weil sich speziell in der Rolle des Adressaten der Handlung zeigt, warum die Maxime nicht als Gesetz gewollt werden kann. 16 Vgl.

GMS, AA 04, 422. Kants Ethik und das Problem der Nicht-Identität  |  155

Daraus ergibt sich ein wichtiger normativer Befund: In den besagten Fällen ist es nicht nur so, dass wir uns als Akteure im unmoralischen Handeln einen Rang oberhalb aller anderen Vernunftwesen zugestehen (s. o.). Sondern wir degradieren die Opfer auch, weisen ihnen also einen Rang unterhalb des Ranges der anderen Vernunftwesen zu. Denn wir behandeln sie den fraglichen Fällen so, wie wir nicht generell wollen können, dass Personen behandelt werden. So machen wir Ausnahmen auch aus denen, denen wir Unrecht antun. Wir können also festhalten: Wenn ich nach einer Maxime handle, die ich nicht als allgemeines Gesetz wollen kann, dann gibt es zunächst einen allgemeinen, eher unpersönlichen Sinn, in dem ich die Menschheit in anderen Personen als ein bloßes Mittel behandle. Ich handle ja in einer Weise, die ich nur als eine Ausnahme gutheißen kann – als etwas, das nur möglich ist, weil sich andere insgesamt nicht so verhalten. Darüber hinaus gibt es aber oft auch einen spezifischen, persönlichen Sinn, in dem ich den spezifischen Adressaten meines Handelns zu einem bloßen Mittel herabwürdige – denn ich behandle speziell ihn oder sie in einer Weise, die ich nicht generell für Personen gutheißen kann. Insofern schränke ich speziell den Status dieses Adressaten zu meinen Gunsten ein und behandle ihn oder sie also als ein Mittel. Freilich ist zuzugestehen, dass die Rede vom Behandeln als Mittel nicht in allen diesen Fällen gleichermaßen passend ist (speziell in Fällen moralisch falscher Unterlassungen). Wenn ich etwa an einem Brunnen vorbeigehe, in dem eine Person ertrinkt, und sie nicht rette, dann besagt mein Vorschlag nicht nur, dass ich falsch handle, sondern auch, dass ich die ertrinkende Person als die ertrinkende Person als ein bloßes Mittel behandelte. Diese Ausdrucksweise erscheint gekünstelt. Können wir wirklich sagen, dass ich diese arme Person als ein Mittel gebrauche? Was ist der Zweck, zu dem sie mir als Mittel dient? Mir scheint, dass sich diese Redeweise bei näherer Betrachtung als gar nicht allzu unnatürlich entpuppt. Immerhin gilt, dass mein Verhalten ihr gegenüber sich ausschließlich an dem orientiert, was meinen eigenen Zielen dient. In diesem Sinn ist mein Verhalten ihr gegenüber jedenfalls instrumentell. Und auch Kant würde zustimmen, dass ich den Ertrinkenden in diesem Falle als eine »Sache« behandle – also als etwas, mit dem ich ganz 156  |  Tim Henning 

allein nach Maßgabe meiner Ziele umgehen kann. Wie dem auch sei, wichtiger ist mir an dieser Stelle jedoch, dass Kants Ethik uns zu rekonstruieren erlaubt, inwiefern wir mit bestimmten Handlungen bestimmten Individuen Unrecht tun – unabhängig davon, ob wir dieses Unrechttun auch in Begriffen des Instrumentalisierens beschreiben wollen würden. Es ist von sekundärer Bedeutung, ob Kants Wortwahl in allen relevanten Fällen gleichermaßen selbstverständlich ist oder nicht. Ich sage es noch einmal ausführlich. Eine Person P wird im Zuge einer Handlung H als bloßes Mittel behandelt (i.e., ihr wird Unrecht getan) genau dann, wenn gilt: (i) Die Handlung H bringt P in eine bestimmte Position, und (ii) H wird aus einer Maxime vollzogen, die nicht als allgemeines Gesetz gewollt werden kann, und (iii) ein wesentlicher Teil der Erklärung, warum diese Maxime nicht als Gesetz gewollt werden kann, besteht darin, dass man nicht generell wollen kann, dass Personen in die fragliche Position gebracht werden, in die P durch H gebracht wird. Dieser Vorschlag lässt offen, ob in jedem Falle, in dem wir nicht die Menschheit in jeder Person als Zweck behandeln, gilt, dass wir bestimmte Individuen als bloße Mittel behandeln. Das hängt davon ab, ob in jedem Falle, in dem wir nicht wollen können, dass eine Maxime ein allgemeines Gesetz wird, die Erklärung dafür wesentlich auf die Position des Rezipienten verweist. Hier kommt nun ein scheinbares Gegenbeispiel gegen diesen Vorschlag, vorgelegt von Parfit: »I know that, unless I tell you some lie, you will believe truly that Brown committed some murder. Since you could not conceal that belief from Brown, he would then murder you as well« (OWM I, 178). Wenn ich dich in dieser Situation anlüge, scheint das nicht nur (entgegen Kants rigoristischer Auffassung) zulässig zu sein. Außerdem scheint es ganz besonders absurd zu sein, dies als einen Fall des Behandelns als bloßes Mittel zu bewerten. Ich glaube jedoch, dass sich in überzeugender Weise zeigen lässt, dass Kants Sittengesetz diese Lüge nicht verbieten muss.17 Die Maxime dieser Handlung lässt sich dann als allgemeines Gesetz wollen – und es ergibt sich aus meinem Vorschlag, dass ipso facto kein Fall des Behandelns als bloßes Mittel vorliegt. 17 Vgl.

Henning 2016, 139 ff. Kants Ethik und das Problem der Nicht-Identität  |  157

Es gibt einen weiteren Problemfall, der diskussionsbedürftig ist. Parfit gibt das Beispiel eines Gangsters (OWM I, 216), der einen Kaffee bestellt und ihn beim Verkäufer ordnungsgemäß bezahlt, allerdings aus dem bloßen Grund, dass es »not worth the trouble« (ebd.) sei, Gewalt zu benutzen. Parfit sagt: »[T]hough this gangster treats the coffee seller merely as a means, what is wrong is only his attitude to this person. In buying his cup of coffee, he does not act wrongly« (ebd.). Ich stimme zu, dass der Gangster nicht falsch handelt. Aber ich stimme nicht zu, dass er den Verkäufer in einem relevanten Sinne als bloßes Mittel behandelt – auch wenn er ihn durchaus so betrachten mag. Parfit selbst betont diesen letzteren Unterschied. Und mir scheint, dass die instrumentalisierende Haltung, die der Gangster in Gedanken einnimmt, in diesem Falle nicht plausibler Weise Eingang in seine Maxime gefunden haben kann. Der Grund des Gangsters dafür, den Kaffeee zu bezahlen, kann schwerlich darin bestehen, dass ihm der Verkäufer gleichgültig ist. Er kann nicht aus Gleichgültigkeit oder Verachtung seinen Kaffeee bezahlen – derlei ist als Grund für diese Handlung einfach nicht intelligibel. Gewiss, seine Haltung hätte leicht dazu führen können, dass er anders (z. B. gewalttätig) handelt – darauf weist auch Parfit (vgl. ebd.) hin. Und in dem Falle hätte er den Verkäufer gewiss auch als ein bloßes Mittel behandelt. Da er aber faktisch nur seinen Kaffee bezahlt, tut er nichts Falsches und instrumentalisiert niemanden. Wie verhält sich mein obiger Vorschlag zu anderen Theorien in der Literatur? In einer hilfreichen neueren Diskussion unterscheidet Kerstein18 zwei Familien von Deutungen des Behandelns als bloßes Mittel: End Sharing Accounts19 (denen zufolge wir andere als bloße Mittel behandeln, wenn wir nicht vernünftiger Weise glauben können, dass sie Grund haben unsere Zielsetzung zu teilen) und Possible Consent Accounts20 (denen zufolge wir andere als bloße Mittel behandeln, wenn sie unserem Tun unmöglich zustimmen könnten). Kerstein schlägt verschiedene Weisen vor, diese beiden Arten von Theorien auszuformulieren, aber findet in jedem Falle Gegenbeispiele, die mir einleuchtend zu sein scheinen. Sein eigener Vorschlag 18 Kerstein

2009 und 2013. nennt Wood 1999 und Korsgaard 1996 als Vertreter. 20 Die bekannteste Vertreterin ist O’Neill 1989. 19 Kerstein

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ist dann der Hybrid Account, dem zufolge wir Personen dann als bloße Mittel behandeln, wenn weder gilt, dass wir erwarten dürfen, dass sie unsere Ziele teilen, noch, dass sie zustimmen könnten. Ich kann hier nicht erörtern, ob Kersteins Ansatz allen Gegenbeispielen entgeht. Das mag durchaus der Fall sein. Eine Schwäche scheint mir jedoch gerade im hybriden Charakter des Vorschlags zu liegen. Gerade diese zusammengesetze Natur der Theorie scheint mir darauf hinzudeuten, dass wir ein vereinheitlichendes Merkmal verfehlt haben. Mir scheint, dass mein Vorschlag ein solches einheitliches Merkmal identifiziert. Wann immer wir Personen als bloße Mittel behandelt, gilt, dass wir sie zu unseren Gunsten in einer Weise behandeln, die wir nicht generell für Personen gutheißen können. Noch kürzer gesagt: Jemanden als bloßes Mittel behandeln heißt, ihn zum eigenen Vorteil in einer nicht personen-adäquaten Weise zu behandeln. Es ist dabei durchaus möglich, dass dieser Vorschlag und Kersteins Hybrid Account extensional äquivalent sind. Wenn wir Personen in einer Weise behandeln, die wir nicht generell für Personen gutheißen können, dann kann sich das ja darin äußern, dass sie unsere Zielsetzung nicht teilen oder der Behandlung nicht zustimmen können. Den Kern dessen, was es in all diesen Fällen heißt, jemanden als bloßes Mittel zu behandeln, scheint mein Vorschlag aber besser zu erfassen.

§ 3  Zukünftige Personen als bloße Mittel behandeln Wenden wir uns nun wieder der Zukunft zu. Mancher Leser mag erwarten, dass Kants Ethik in Bezug auf zukünftige Personen eher unplausible Verdikte ergibt. So könnte man argumentieren, dass wir keine Maximen als Gesetze wollen können, die unsere Zeugung und Existenz gefährdet hätten. Das würde bedeuten, dass wir nicht nach Maximen handeln dürfen, die unsere Fortpflanzungsaktivitäten einschränken, und dass wir also eine Pflicht zur Vermehrung haben.21 Hier kann man jedoch Entwarnung geben: Das Argument ist nicht stichhaltig. Ich kann ohne Widerspruch eine Maxime als Gesetz 21

Bekanntlich hat R. M. Hare ein Argument dieser Art formuliert. Vgl. die Essays in Hare 1993. Kants Ethik und das Problem der Nicht-Identität  |  159

wollen, die zu meiner Nichtexistenz geführt hätte. Natürlich hänge ich an meiner Existenz. Aber wenn diese Maxime Gesetz wäre, würde dieser Wunsch nicht etwa durchkreuzt – er würde gar nicht bestehen. Daher kann ich jene Welt bejahen (obwohl ich sie faktisch natürlich ablehne), ohne eine volitionale Inkonsistenz zu riskieren. Nun gilt es aber, sich dem wirklich schwierigen Problem zuzuwenden – dem Problem der Nicht-Identität. Betrachten wir folgendes Beispiel (ein Standardfall aus der Literatur): Wenn Mary jetzt ein Kind zeugen würde, dann hätte dieses Kind absehbar eine bestimmte Behinderung. Diese Behinderung würde seine Lebensqualität deutlich beeinträchtigen, obschon es sein Leben insgesamt dennoch als lebenswert einstufen würde. Wartet Mary hingegen drei Monate mit der Zeugung, so würde sie ein anderes Kind bekommen, dass vollständig gesund und glücklich wäre. Intuitiv scheint es richtig, zu sagen, dass Mary warten sollte. Und der Grund dafür scheint nicht nur damit zu tun zu haben, dass Mary sich damit ihr eigenes Leben leichter machen würde. Der Grund scheint vielmehr auch mit der Situation ihres Kindes zu tun zu haben. Was man gerne sagen würde, ist, dass Mary um ihres Kindes willen warten sollte. Aber Parfits Punkt ist, dass wir dies nicht sagen können. Drei Monate zu warten wäre nicht besser für Marys Kind.22 Vielmehr wird es zur Existenz eines anderen Kindes führen – und für das Kind, das sie nun gezeugt hätte, würde es die Nichtexistenz bedeuten. Es gibt also kein Kind, dessen Los durch das Warten verbessert wird. Wir sollten hier freilich anmerken, dass Intuitionen bezüglich dieser Fälle oft komplexer sind, als es in der Literatur zur Sprache kommt. Wie Wasserman erkennt, beruht unser Urteil, dass Mary jetzt nicht schwanger werden sollte, nicht zuletzt darauf, dass alle erkennbaren Gründe dafür, es zu tun, von eher selbstsüchtiger Natur zu sein scheinen – etwa der Drang, den Wunsch nach einem niedlichen Baby schnell zu verwirklichen, oder dergleichen.23 In einem solchen Falle, so stimmt Wasserman zu, haben wir in der Tat den Eindruck, dass Mary ihrem zukünftigen Kind Unrecht täte, wenn sie jetzt schon schwanger würde. Unser Urteil verändert sich diesem letzten Satz muss »Marys Kind« als de re verstanden werden. Siehe RaP, Hare 2007, Velleman 2008 und Henning 2013. 23 Wasserman 2005. 22 In

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allerdings, wenn wir uns vorstellen, dass Mary in ihrer Entscheidung durchaus auch das Wohl des zukünftigen, behinderten Kindes im Blick hat. Dieses Kind hätte ja immerhin, so haben wir angenommen, ein durchaus lebenswertes Leben. Und wir können uns vorstellen, dass Mary darüber nachdenkt, wie das Leben dieses Kindes, und ihr Leben mit dem Kind, wäre – und wie erfüllend es sein könnte, sich um dieses besondere Kind zu kümmern und es zu lieben, Hindernisse gemeinsam zu meistern, etc. Wenn man es so betrachtet – ist sie wirklich verpflichtet, dieses Kind nicht zu bekommen? Muss sie dafür Sorge tragen, dass die Existenz nur möglichst perfekten Exemplaren vorenthalten bleibt? Wohl kaum. Wenn also solche Gedanken Teil der Motive Marys für eine sofortige Zeugung sind, dann ist es nicht mehr klar, dass sie falsch handeln würde. Und noch weniger ist es klar, dass das gezeugte Kind einen Grund zur Beschwerde hätte. Wie Wasserman schreibt: »These reasons may be self-indulgent or misguided, but to the extent that they concern the good of the future child, they are subject only to a gentler, less personal reproach«24. Ich stimmte zu. Und obwohl Wasserman behauptet, dass diese Intuition nicht durch »a pious invocation of Kantian principles«25 gestützt werden kann, möchte ich im weiteren Verlauf zeigen, dass meine Deutung Kants genau dies leisten kann. Bleiben wir jedoch noch beim ursprünglichen Problem. Unabhängig davon, ob Wasserman recht hat – wie können wir erklären, warum Mary im ursprünglichen Falle falsch handeln würde? Ich werde im Folgenden an einen Vorschlag von R. Kumar (2003) anknüpfen. Seine zentrale Einsicht lautet, dass Unrechttun (wronging) anders als Schädigen (harming) nicht notwendig damit zu tun haben muss, dass man den Adressaten schlechter dastehen lässt, als er andernfalls dagestanden hätte. Stattdessen, so Kumar, hat Unrechttun mit den Gründen und Prinzipien zu tun, die der Handelnde berücksichtigt bzw. nicht berücksichtigt hat. Diese Idee wird durch Wassermans Beobachtung gestützt, dass die Motive eine wichtige Rolle in unseren Urteilen spielen (s. o.) – und Kantianer, für die die Maxime eines Akteurs der primäre Gegenstand moralischer Bewertung ist, werden dem natürlich ebenfalls zustimmen. Kumar 24 Ebd., 25 Ebd.

151.

Kants Ethik und das Problem der Nicht-Identität  |  161

s­ chreibt also: »A person can be wronged […] simply in virtue of how she figures, or does not figure, in how one is rationally disposed to relate to her«.26 Mein kantischer Ansatz wird dies bestätigen. Freilich gelingt es Kumars eigenem Vorschlag nicht, genau zu erläutern, was an den Gründen und Einstellungen in Nicht-Identitäts-Fällen problematisch ist. Ihm zufolge gilt: »One person wronging another […] requires that the wrongdoer has, without adequate excuse or justification, violated certain legitimate expectations with which the wronged party was entitled, in virtue of her value as a person, to have expected her to comply«27. Dieser Verweis auf legitime Erwartungen führt sofort auf eine Gegenfrage: Wenn wir doch wissen, dass unsere Handlungen eine Person mit einem lebenswerten Leben zur Existenz bringen, und wenn wir auch wissen, dass wir diese Person in keinem Falle besser hätten stellen können – wie könnte sie da legitimer Weise mehr erwarten? Wie könnten wir ihre legitimen Erwartungen verletzt haben? Kumar behauptet, dass legitime Erwartungen an eher allgemeine Rollen geknüpft sind, wie etwa an die Rollen von Eltern und ihren Schutzbefohlenen. Für diese allgemeine Beziehung schlägt Kumar ein Prinzip vor, das von Eltern verlangt, Kindern nach Möglichkeit eine Existenz mit Behinderung zu ersparen. Aber das ist unbefriedigend. Wenn wir erst einmal erkannt haben, dass unsere Entscheidungen im Bereich der Fortpflanzung die Identität der gezeugten Individuen beeinflussen, warum sollten wir jenem generellen Prinzip zustimmen? Um Kumars favorisiertes kontraktualistisches Idiom zu verwenden: Es scheint, als könnte das Kind, das Mary jetzt zeugen würde, Kumars Prinzip begründet zurückweisen, da es ihm eine lebenswerte Existenz vorenthalten hätte, die sich nicht durch das Handeln nach einem anderen Prinzip hätte verbessern lassen. (Schon Parfit diskutiert die Möglichkeit, dass ein solches Kind auf solche Ansprüche mit Freuden verzichten würde.28) Sollte ein angemessenes Prinzip nicht vielmehr die spezielle Natur von Different People Choices berücksichtigen? Einfach darauf zu beharren, dass es das nicht sollte, setzt voraus, was zu zeigen ist. 26 Kumar

2003, 109. 107. 28 Siehe RaP, 364 ff., speziell der Fall des Mannes mittleren Alters. 27 Ebd.,

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Die kantische Sichtweise, die ich bisher allgemein skizziert habe, ergibt eine bessere Lösung. Sie stimmt mit Kumars Ansatz darin überein, dass wir jemandem dann Unrecht tun, wenn wir ihn oder sie in Weisen behandeln, die wir nicht generell für Personen bejahen können. Aber Kants Ansatz ergibt darüber hinaus eine Methode zur Bestimmung dessen, was wir in dieser Weise bejahen können und was nicht. Dieser Ansatz beharrt nicht einfach darauf, dass Eltern ihren Kindern eben allgemein bestimmte Dinge schuldig sind. Sondern er bietet ein generelles Verfahren, um solche Schuldigkeiten herzuleiten. (Außerdem ist er differenzierter als Kumars Ansatz, so dass wir, wie angekündigt, auch unsere Urteile in Wassermans Fall berücksichtigen können.) Um erkennbar zu machen, inwiefern Kants Ethik bei der Lösung des Problems der Nicht-Identität helfen kann, möchte ich eine ihrer wichtigsten Eigenschaften hervorheben. Kant (oder meiner Deutung Kants) zufolge behandeln wir Personen immer dann als bloße Mittel, wenn unsere Maxime eine Handlung vorsieht, die Adressaten generell in eine Position bringt, die wir nicht für Personen im Allgemeinen bejahen können. Das ist damit vereinbar, dass die einzelne Handlung aus kontingenten Gründen nicht dazu führt, dass der Adressat in jene Position gerät. Eine Lüge ist auch dann falsch, wenn der Belogene sich verhört und so zufällig zu einer korrekten Überzeugung gelangt. Falsch ist es dennoch, weil die Zielsetzung, die Teil der Maxime ist, einschließt, dass der Adressat in eine andere Lage hätte kommen sollen. Und diese letztere Position ist, wie gesagt, eine, die wir nicht als Gesetz für Personen generell wollen können. Unrecht zu tun hat also mit der Position zu tun, die die Maxime des Akteurs für den Adressaten vorsieht – unabhängig davon, ob diese Handlung auch erfolgreich ist. Ein weiteres Beispiel: Pauls Tante ist taub. Und er genießt es, hinter ihrem Rücken immerzu üble Beleidigungen gegen sie auszustoßen. Sie hört ihn nicht, und ihre Gefühle werden nicht verletzt. Dennoch will mir scheinen, dass Paul falsch handelt. Wenn ich dergleichen täte, würde ich erwarten, dass ich mich schuldig fühle. Und wenn man mich erwischte, so würde ich es legitim finden, wenn man mir große Vorwürfe machte. Und wenn Pauls Tante herausfände, was er tut, so hätte sie ganz gewiss die Berechtigung, zu grollen. Kants Ethik und das Problem der Nicht-Identität  |  163

Wie lassen sich diese Befunde erklären? Ein typischer Schachzug würde darin bestehen, zwischen der Bewertung von Akteuren und der Bewertung von Handlungen zu unterscheiden. Zwar sind die falsch verstandene Lüge und Pauls unerhörte Beleidigungen keine falschen Handlungen, so der Vorschlag – aber die Handelnden erweisen sich durch sie dennoch als schlechte oder lasterhafte Menschen. Aber solche Vorschläge erscheinen mir, hier wie anderswo, hochgradig unbefriedigend. Wenn die beschriebenen Handlungen als solche einwandfrei sind, warum sollte ihr Vollzug dann einen negativen Einfluss auf unsere Beurteilung der Akteure haben? Wenn sie nichts Falsches tun, wie kann sie das als lasterhaft erscheinen lassen? Abgesehen davon ist meine Intuition eine andere: Die falsch verstandene Lüge und die unerhörte Beleidigung selbst sind falsche Handlungen. Wie erklären wir also die Falschheit dieser Handlungen? Akzeptiert man meinen kantischen Vorschlag, dann sind zumindest die groben Züge einer Antwort leicht zu erkennen. Wir können sagen, dass der erfolglose Lügner nach einer Maxime handelt, die er nicht als Gesetz wollen kann; und die Erklärung dafür hat vermutlich mit der Position zu tun, in die ein solches Gesetz die Adressaten einer Lüge brächte (s. o.). Eine ähnliche Diagnose können wir für Pauls Verhalten vorschlagen: Eine Maxime der Herabwürdigung von Personen würde sich als allgemeines Gesetz selbst zunichte machen. Und wieder hat es mit der resultierenden Position zu tun. An einem Gesetz der universalen Äußerung ehrenrühriger Dinge ist nichts widersinnig. Widersinnig ist nur der Gedanke, alle Menschen könnten zugleich herabgewürdigt werden. (Wenn alle herabgewürdigt werden, begegnen sie sich wieder auf Augenhöhe.) In beiden Fällen also sieht die Maxime des Akteurs für Adressaten eine Position vor, die wir nicht generell für Personen wollen können. Darin liegt meinem Vorschlag zufolge das Unrecht. Und da es die Maximen sind, die entscheidend sind, ändert sich nichts dadurch, dass kontingente Faktoren es verhindern, dass die Adressaten in diesen Fällen in die problematische Position gelangen. Freilich kann diese Erklärung in der vorliegenden Form noch nicht ganz überzeugen. Denn wir handeln oft in Weisen, die nicht generell für Personen akzeptabel sind, ohne jedoch Unrecht zu tun. Das kann deshalb möglich sein, weil unsere Maxime spezi164  |  Tim Henning 

elle Umstände als entscheidend behandelt. Der Arzt hätte meinen Sohn nicht gestochen, wenn es nicht zum Zweck der Impfung wäre. Da der Arzt es ohne diesen Zweck nicht getan hätte, ist er ein einschränkender Teil seiner Maxime. Und die dergestalt beschränkte Maxime, anders als eine Maxime des uneingeschränkten Zufügens von Stichwunden, kann plausibler Weise als allgemeines Gesetz gewollt werden. Das Problem ist nun dieses: Es ist ebenfalls plausibel anzunehmen, dass Paul keine üblen Beleidigungen geäußert hätte, wenn seine Tante nicht taub gewesen wäre. (Dafür wäre er, so können wir annehmen, viel zu feige.) Sollten wir also sagen, dass seine Maxime diejenige war, nur solchen Leuten gegenüber Beleidigungen zu äußern, bei denen gewährleistet ist, dass sie nicht durch sie verletzt werden können (o. ä.)? Und müsste dies nicht dazu führen, dass die Schwierigkeit bei der Universalisierung ausgeräumt würde? Würde das nicht also heißen, dass Pauls Handeln, wenn es gewissenhaft genug auf Taube (o. ä.) beschränkt ist, nicht falsch wäre? Hier müssen wir uns allerdings fragen, welche Einschränkung denn genau maßgeblich für Paul gewesen ist. Sollen wir wirklich annehmen, dass seine Sorge dem Umstand gilt, dass die Adressaten seiner Beleidigungen nicht in ihren Gefühlen verletzt werden? Das wäre unplausibel. Wenn Paul so viel an den Gefühlen seiner Tante liegt, warum beleidigt er sie dann so begeistert? (Natürlich beleidigen wir mitunter Menschen, an deren Gefühlen uns eigentlich viel liegt. Unplausibel ist allerdings die Idee, dass Paul, während er seine Tante beleidigt, zugleich durch seine Rücksichtnahme auf ihre Gefühle gezügelt wird.) Ein plausiblerer Vorschlag wäre folgender: Paul beleidigt Menschen deshalb nur dann, wenn sie es nicht hören, weil er negative Konsequenzen für sein Eigeninteresse befürchtet – den Groll seiner Tante, ein Verlust an Ansehen und vielleicht eines Erbes, etc. Was also eigentlich in Pauls Maxime gehört, ist die folgende Einschränkung: »Ich würdige andere nach Belieben herab, wenn ich selbst vor negativen Konsequenzen gefeit bin.« Das sieht gewiss nicht aus, als würde es die Chancen auf Universalisierbarkeit verbessern. Sofern Kants Ethik also erklären kann, warum es allgemein falsch ist, Menschen zu beleidigen, dann wird sie auch erklären können, warum es im Falle Pauls und seiner Tante falsch ist. Dem tut es keinen Abbruch, dass kontingente Umstände verhindern, dass der Kants Ethik und das Problem der Nicht-Identität  |  165

Effekt der Herabwürdigung tatsächlich eintritt – solange diese kontingenten Umstände nicht plausibler Weise eine einschränkende Rolle in der Maxime des Akteurs gespielt haben. Diese etwas langwierigen Überlegungen lassen sich nun auf das Problem der Nicht-Identität übertragen. Auch wenn unsere Handlungen die resultierenden zukünftigen Generationen nicht schlechter stellen, so heißt das noch nicht, dass dieser kontingente Umstand auch die richtige Rolle in unserem praktischen Überlegen gespielt hat. Und daran hängt, wie die obigen Beispiele zeigen sollten, für die Ethik Kants sehr viel. Bevor wir uns den Details zuwenden, lässt sich der allgemeine Punkt einfach an folgendem Beispiel illustrieren: Angenommen, Mary (aus dem obigen Fall) entscheidet sich tatsächlich dafür, jetzt schwanger zu werden – allerdings in Unwissenheit darüber, dass es sich um eine Different People Choice handelt. Sie glaubt vielmehr, dass sie demselben Kind ein gesundes Leben hätte schenken können, wenn sie nur gewartet hätte. (Angenommen, sie weiß nicht um wesentliche Faktoren der menschlichen Fortpflanzung oder um die philosophische Doktrin der essentiality of origins.) In diesem Falle scheint es mir klar zu sein, dass ihr Kind einen legitimen Grund zur Beschwerde hätte. Es könnte mit Recht davon ausgehen, dass ihm Unrecht getan wurde, obgleich es natürlich nicht wirklich geschädigt wurde (jedenfalls im herkömmlichen, komparativen Sinne). Immerhin hat seine Mutter in einer Weise gehandelt, bei der sie glauben musste, dass sie ihm beträchtliche und leicht vermeidbare Lasten zumutet. Kants Ethik erklärt diesen Befund. Wie auch immer die Details der Maxime Marys aussehen mögen, in jedem Falle ordnet diese Maxime das Wohlergehen des Kindes in drastischer Weise dem Wunsch unter, drei Monate früher schwanger zu werden. Eine mögliche Formulierung wäre diese: »Ich werde dann schwanger, wenn mir danach ist, auch wenn dies für dieses zukünftige Kind einen vermeidbaren, beträchtlichen Schaden bedeutet.« Ganz gleich, ob dies Marys Maxime genau trifft, in jedem Falle macht diese Maxime Marys Eigennutz zum einzigen Maßstab in ihrer Familienplanung. Es ist kaum gewagt, davon auszugehen, dass diese Maxime nicht als allgemeines Gesetz gewollt werden kann. Nun mag man fragen: Wenn Kantianer behaupten, dass es in diesem Beispiel falsch von Mary war, schwanger zu werden, heißt 166  |  Tim Henning 

das, dass sie moralisch verpflichtet war, nicht schwanger zu werden? Das wäre, wie Wassermans Überlegungen zeigen, zu stark (s. o.).29 Hier ist es jedoch, wie oft für Kantianer, hilfreich, einen Hinweis von Korsgaard aufzunehmen.30 Wir können einerseits Akte (acts) grobkörnig individuieren, in einer Weise, die von vielen Details ihrer Zielsetzung absieht. Dann können wir sagen, dass Menschen Akte ein- und desselben Typs aus sehr unterschiedlichen Gründen vollziehen können. Das können wir andererseits mit einer feinkörnigeren Individuation von Handlungen (actions) kontrastieren, die wir dann als Kombinationen von Akten und spezifischeren Gründen auffassen – also ziemlich genau als das, was kantische Maximen spezifizieren. Für Kantianer sind Handlungen in diesem feinkörnigeren Sinne nun der primäre Gegenstand moralischer Bewertung. Wenn wir nun also sagen, dass Marys Handlung falsch war, dann impliziert das nicht, dass auch ihr Akt falsch war. Und wir sagen ebenfalls nicht, dass der Akt der freiwilligen Zeugung falsch war und dass es deswegen geboten war, nicht schwanger zu werden. Unser obiges Urteil besagt nur, dass es falsch von Mary war, jenen Akt aus jenen Gründen zu vollziehen, und wir lassen offen, ob es, wie Wasserman nahe legt, zulässig gewesen wäre, denselben Akt aus anderen Gründen zu vollziehen. Betrachten wir also folgende Variante des Falles: Mary zeugt nun ein Kind, im vollen Wissen darum, dass ihr Kind behindert sein wird. Sie tut es in diesem alternativen Beispiel jedoch nicht aus selbstsüchtigen Gründen. Sie hat das Gut ihres zukünftigen Kindes vor Augen; sie weiß, dass es ein lebenswertes Leben führen wird, und ist sich dieses Mal außerdem klar darüber, dass sie diesem Kind keine andere Existenz hätte schenken können. Was diesen Fall betrifft, stimme ich dem Urteil Wassermans zu. Mary scheint dem Kind kein Unrecht zu tun. Sie berücksichtigt, dass es sich um eine Different People Choice handelt, und es gilt: Hätte es eine Möglichkeit gegeben, das spezifische zukünftige Kind, das sie nun zeugt, besser zu stellen, dann hätte sie das getan. Anders als im obigen Beispiel von Paul gibt es hier eine plausible Weise, diese Einschränkung als Ausdruck der Sorge für das Wohl ihres Kindes zu verstehen. Ihre 29 Wasserman 30 Siehe

2005. Korsgaard 2008. Kants Ethik und das Problem der Nicht-Identität  |  167

Maxime muss daher nicht als eine aufgefasst werden, die das Wohl anderer den eigenen Wünschen drastisch unterordnet. Genauer gesagt könnte Marys Maxime hier wie folgt lauten: »Ich zeuge jetzt ein Kind, weil ich glaube, dass dies schön für mein Kind und mich wird, und weil ich sichergestellt habe, dass es keine Möglichkeit gibt, diesem Kind seine Schwierigkeiten zu ersparen.« Bei dieser Maxime ist nicht zu sehen, warum sie nicht als allgemeines Gesetz gewollt werden könnte. So wird deutlich, dass entgegen dem Urteil Wassermans ein ­»pious appeal to Kantian principles« sehr wohl in der Lage ist, unsere Intuitionen über den letzten Fall zu stützen und zu erklären. Wir können die bisherigen Überlegungen etwas systematischer gestalten, indem wir einige Unterscheidungen einführen. Zunächst schlage ich vor, zwischen Nicht-Identitäts-sensitiven und Nicht-Identitäts-insensitiven Entscheidungen zu unterscheiden. Sagen wir, dass eine Entscheidung Nicht-Identitäts-sensitiv ist genau dann, wenn (i) sie eine Different People Choice ist und (ii) der Akteur dieselbe Entscheidung aus denselben Gründen fällen würde, wenn er oder sie glauben würde, dass sie keine Different People Choice ist. Eine Entscheidung ist Nicht-Identitäts-sensitiv genau dann, wenn sie (i) eine Different People Choice ist und (ii) der Akteur weiß, dass es eine solche ist, und (iii) der Akteur anders entscheiden würde, wenn er sie nicht für eine Different People Choice halten würde. (In den Fällen, die wir betrachten, tritt Nicht-Identitäts-Sensitivität speziell in der Form auf, dass der Akteur versucht hätte, die resultierenden zukünftigen Personen besser zu stellen, wenn er oder sie die Entscheidung nicht für eine Different People Choice gehalten hätte.) Des Weiteren schlage ich vor, dass wir im Bereich der NichtIdentitäts-sensitiven Entscheidungen unterscheiden zwischen ego­ istischen und nicht-egoistischen Fällen unterscheiden. Eine NichtIdentitäts-sensitive Entscheidung ist nicht-egoistisch genau dann, wenn sie zumindest zum Teil durch eine angemessene Sorge für das Wohl der resultierenden zukünftigen Personen motiviert ist. Andernfalls ist sie egoistisch. Insgesamt erhalten wir so drei generelle Kategorien. Mit ihrer Hilfe können wir allgemeiner sagen, was eine kantische Ethik in Bezug auf Different People Choices ergibt. (Wir beschränken uns dabei auf das Problem der Nicht-Identität und daher auf Same Num168  |  Tim Henning 

ber Choices.) Zunächst einmal nehmen Nicht-Identitäts-insensitive Entscheidungen per Definition keine Rücksicht darauf, ob die resultierenden zukünftigen Personen besser gestellt werden könnten. Was auch immer also die genaue Form der Maxime des Akteurs sein mag, sie ignoriert die Interessen anderer zugunsten des Eigennutzes. Damit ist sie vorhersehbar nicht als allgemeines Gesetz zu wollen und mithin falsch. Also werden Nicht-Identitäts-insensitive Entscheidungen immer zu Handlungen führen, die falsch sind. Und sie werden speziell den Adressaten, nämlich den zukünftigen Personen, Unrecht tun. Denn es ist ihre Lage, die erklärt, warum die fragliche Maxime nicht als Gesetz gewollt werden kann. In diesen Fällen werden also zukünftige Personen zugunsten des Akteurs in einer Weise behandelt, die nicht generell für Personen gutgeheißen werden kann – und daher, meinem Vorschlag zufolge, als bloße Mittel. Was Nicht-Identitäts-sensitive Entscheidungen anbelangt, sind hier genauere Informationen über die Motive des Akteurs vonnöten – genau, wie Wasserman es erkannt hat. Es steht per Definition fest, dass der Akteur den zukünftigen Personen ein besseres Los ermöglicht hätte, wenn er oder sie gekonnt hätte. Aber wir wissen noch nicht, was die Wahrheit dieser kontrafaktischen Aussage begründet. Ist es eine echte Sorge um das Wohlergehen jener zukünftigen Personen? Oder ist es die Furcht, selbst Nachteile in Kauf nehmen zu müssen, wenn man sie schlechter stellt – Nachteile wie etwa Gewissensbisse, schlechtes Ansehen, Vorwürfe von denen, die gewissenhafter sind? Nur diejenigen Maximen, die zur erstgenannten Art zählen (diejenigen also, die in nicht-egoistischen Fällen vorliegen), können zulässig sein und behandeln daher die zukünftigen Menschen nicht als bloße Mittel. So zeigt sich, dass eine kantische Ethik scharf unterscheidet zwischen Nicht-Identitäts-sensitiven Entscheidungen, die im genannten Sinne egoistisch sind, und denen, die es nicht sind. Ich fasse kurz zusammen: Der hier präsentierten kantischen Theo­ rie zufolge tun wir zukünftigen Personen in manchen Fällen von Different People Choices moralisch Unrecht, obgleich wir sie nicht schädigen. Ob es so ist, hängt davon ab, welche Rolle unser Überlegen dem Wohl dieser zukünftigen Personen und dem Umstand, dass es sich um eine Different People Choice handelt, beimisst. Insbesondere, so habe ich behauptet, tun wir dann Unrecht, wenn unsere Kants Ethik und das Problem der Nicht-Identität  |  169

Entscheidungen entweder Nicht-Identitäts-insensitiv sind, oder wenn sie aus bloß egoistischen Gründen Nicht-Identitäts-sensitiv sind. In diesen Fällen tun wir den zukünftigen Personen Unrecht, und zwar nicht, weil wir ihnen Schaden zufügen, sondern weil unsere Handlunsgründe (unsere Maximen) ihnen Rollen zuweisen, die wir nicht allgemein für Personen gutheißen können. Wir machen Ausnahmen aus ihnen und schränken ihre Ansprüche ein gegenüber dem, was wir für Personen insgesamt verlangen müssen. Lassen sich diese Überlegungen verallgemeinern? Betrachten wir eine Different People Choice im größeren Maßstab: Parfits Beispiel einer Entscheidung zwischen der Verschwendung und der Konservierung von Ressourcen für die Zukunft. Wie Wasserman in einem neueren Artikel hervorhebt, können wir auch im größeren Maßstab spezifische, nicht-egoistische Gründe dafür haben, eine bestimmte zukünftige Population zur Existenz zu bringen, obwohl sie weniger Ressourcen zur Verfügung haben wird.31 (Ich muss jedoch zugeben, dass ich dies hier weniger eindeutig finde als in Marys Fall.) Von solchen speziellen Fällen abgesehen lässt sich jedoch sagen, dass unsere Entscheidung für das Verschwenden von Ressourcen plausibler Weise entweder Nicht-Identitäts-insensitiv oder in egoistischer Form Nicht-Identitäts-sensitiv wäre. Wenige Menschen denken an die Effekte, die ihr Handeln für die Identität zukünftiger Personen haben wird (es sei denn, sie lesen Parfit). Wenn diese Menschen beschließen, Ressourcen zu verschwenden, dann gleichen ihre Handlungen dem Fall, in dem Mary jetzt ein Kind zeugt, obwohl sie fälschlich glaubt, dass sie ein und dasselbe Kind leicht hätte besser stellen können. Wenn den Menschen dabei tatsächlich klar ist, dass sie es mit einer Different People Choice zu tun haben, und sie beschließen, Ressourcen zu verschwenden, dann ist es wahrscheinlich, dass es Menschen sind, denen das Los zukünftiger Menschen gleichgültig ist (und die die Tatsache der Nicht-Identität vielleicht als bloße Entschuldigung verwenden). In all diesen Fällen, so wurde hier argumentiert, ergibt die kantische Theorie, dass sie zukünftigen Personen Unrecht tun und sie als bloße Mittel zu egoistischen Zwecken behandeln.

31 Wasserman

2009.

170  |  Tim Henning 

Peter Stemmer

Welche Tatsachen sind Gründe? Zu Parfits On What Matters Was Derek Parfit in On What Matters über Gründe und Normativität sagt, ist, so meine ich, nicht wahr. Deshalb ist auch das Bild vom Menschen und seiner Welt, das in diesem Buch gezeichnet wird, nicht richtig. Es ist für die Lebensweise der Menschen, wie Parfit gleich zu Beginn sagt, wesentlich, dass sie sich auf Gründe beziehen und sich in ihrem Verhalten von Gründen bestimmen lassen können. Folglich verbindet sich eine falsche Vorstellung davon, was Gründe sind und was sie konstituiert, unweigerlich mit einem fehlgehenden Verständnis der spezifischen Lebensform der Menschen. Tatsächlich wird nach meinem Eindruck, was Gründe sind und wie wir sie erkennen, bei Parfit, je länger seine Ausführungen werden, immer mysteriöser, so dass auch der Gründebezug der Menschen mysteriös und rätselhaft erscheint. – Parfit hat seine Überlegungen über viele hundert Seiten entwickelt. Ich habe nur einige Seiten und muss mich deshalb mit wenigen Bemerkungen begnügen. Ich beginne mit einigen Überlegungen zur Sache, wie ich sie sehe, und komme dann zu Parfits Theorie.

I. Gründe sind, so sagt man, normativ. Häufig bleibt allerdings unklar, was damit gemeint ist. Vom Wort her bedeutet »normativ«, dass etwas von der Art einer Norm ist. Und von dieser Art ist etwas, wenn es uns sagt, dass wir etwas tun müssen. Denn eine Norm bedeutet gerade, dass wir etwas tun müssen. Normen erzeugen einen Handlungsdruck. Von Gründen sagt man, sie seien normativ, weil auch sie uns sagen, dass wir etwas tun müssen. Auch Gründe generieren einen Handlungsdruck. Sie sind in diesem Punkt von der Art einer Norm. Wenn man sich bewusst macht, dass Normen nur eine besondere Art von Gründen sind, kann man sagen, dass Normativität   |  171

eine Eigenschaft von Gründen ist. Und dass sie darin besteht, dass Gründe uns sagen, dass wir etwas tun müssen. Wie kommt es zu einem solchen normativen Müssen? Wie kommt es zu Gründen? Jede Person ist umgeben von einer Fülle von Dafür-dass-Tatsachen. So muss ich dafür, dass ich den 10-Uhr-Bus nach Woodstock erreiche, jetzt aufbrechen. Ich muss dafür, dass die Garage leiser schließt, die Scharniere ölen. Ich muss dafür, dass ich den Marathon im Herbst laufen kann, jetzt mit dem Training beginnen. Und ich muss dafür, dass heute Abend Wein im Hause ist, noch einkaufen gehen. In all diesen und vielen anderen Fällen ist eine Handlung von mir eine notwendige Bedingung dafür, dass etwas geschieht oder eintritt. Doch keine dieser Tatsachen ist für sich genommen ein Grund, etwas zu tun. Wenn ich gar nicht vorhabe, den Marathon zu laufen, ist die Tatsache, dass ich trainieren muss dafür, ihn laufen zu können, ohne jeden Belang für mich. Und sie wird vermutlich niemals auf der mentalen Bühne meines Überlegens erscheinen. Das ändert sich allerdings sofort, wenn ich den Marathon laufen will. Wenn ich dies will, ist das Trainieren-Müssen nicht mehr nur ein neutrales Müssen der notwendigen Bedingung, das mich nichts angeht, sondern ein normatives Müssen: ein Müssen, das mich angeht, das eine praktische Signifikanz hat, also für meine Überlegung etwas bedeutet. Man kann auch sagen: Wenn ich den Marathon laufen will, habe ich einen Grund, mit dem Training zu beginnen, es spricht etwas dafür, dies zu tun. Genauso ist es in den anderen Fällen. Wenn ich den Bus nach Woodstock erreichen will, wird durch das Hinzukommen des Wollens das Jetzt-aufbrechenMüssen zu einem normativen Muss. Ich habe jetzt einen Grund, aufzubrechen. Es spricht etwas dafür. Ein Grund entsteht, so legen diese Beispiele nahe, wenn zwei Elemente zusammenkommen: ein Müssen der notwendigen Bedingung und ein Wollen. Nun ist, dass ich trainieren muss dafür, den Marathon laufen zu können, eine nicht-normative, man kann sagen, eine biologische Tatsache, die sich aus den Anforderungen eines Marathonlaufs und der Beschaffenheit meines Körpers ergibt. Und dass ich den Marathon laufen will, ist auch eine nicht-normative Tatsache. Kommen diese beiden Elemente zusammen, entsteht aber etwas Normatives, ein normatives Müssen oder, anders gesagt, ein Grund. Normativität entsteht also aus der Kombination bestimmter 172  |  Peter Stemmer 

nicht-normativer Elemente, wobei eines dieser Elemente ein Wollen sein muss. Betrachten wir genauer, wie aus der Kombination dieser beiden nicht-normativen Elemente Normativität entsteht. Angenommen, ich muss jetzt aufbrechen dafür, den Bus zu bekommen, und ich will ihn bekommen. Wenn ich nun dennoch nicht aufbreche, sondern bleibe, hat das eine negative Konsequenz: Ich verpasse den Bus, etwas, was ich nicht will. Und genau dies, dass, wenn ich anders als »gemusst« handele, etwas Negatives, etwas für mich Nega­tives passiert, konstituiert das normative Müssen, den Grund und das Sprechen-für. Ein Grund entsteht aus der Struktur: Wenn nicht, dann etwas Negatives. Oder: Nur wenn, dann etwas Positives. Ohne Negativität und Positivität, so kann man formelhaft sagen, kein normatives Müssen und keine Gründe. Dabei ist die Negativität und Positivität relativ auf ein Wollen: Etwas ist negativ, weil man es nicht will, und etwas ist positiv, weil man es will. So ergibt sich: Ohne Wollen kein normatives Müssen und keine Gründe. Gründe setzen ein Wollen voraus. In einer Welt ohne Wollen kann es keine Gründe geben.1 Ich kann jetzt präzisieren, was ein normatives Müssen ist: Es ist ein Müssen der notwendigen Bedingung, nichts anderes, aber ein Müssen dieser Art, das in einem bestimmten Kontext steht, in einem Kontext, aus dem sich ergibt, dass, wenn man anders als »gemusst« handelt, etwas Negatives passiert. Wenn dies so ist, entsteht offenkundig ein Handlungsdruck, das Gemusste zu tun. Das Müssen der notwendigen Bedingung gewinnt also durch einen bestimmten Kontext eine praktische Relevanz, und genau dies bringt man zum Ausdruck, wenn man es ein »normatives« Müssen nennt. Es wäre folglich ganz falsch, sich, wenn vom normativen Müssen die Rede ist, auf die Suche nach einem andersartigen, speziell normativen Müssen neben dem Müssen der notwendigen Bedingung zu machen. Warum, so kann man fragen, spricht man im Blick auf eine solche Situation auch von einem Grund? Was hat uns dazu gebracht, die Rede von Gründen einzuführen? Wenn jemand etwas tut, kann man immer fragen, warum er das tut. Oder auch: Was spricht dahabe das im Einzelnen entwickelt in Normativität. Eine ontologische Untersuchung: Stemmer 2008. 1 Ich

Zu Parfits On What Matters  |  173

für, dies zu tun? Und als Grund bezeichnet man das, mit dem man auf diese Frage antworten kann. Ein Grund ist, so kann man sagen, das Warum und das Was-dafür-spricht von intentionalen Phänomenen wie Handlungen, Meinungen oder Wünschen. Wenn ich gefragt werde, warum ich jetzt aufbreche, und meine Antwort lautet: weil ich den Bus um 10 Uhr nach Woodstock erreichen will und weil ich dazu jetzt gehen muss, dann sind diese beiden Tatsachen zusammengenommen der Grund für das, was ich tue. Der Kombi­nation dieser beiden Tatsachen wird der begriffliche »Hut« des Grundes aufgesetzt, um damit anzuzeigen, dass man mit ihr die »Warum«-Frage beantwortet. Natürlich kann man nicht nur von einer Handlung rückwärts nach ihrem Warum fragen; in der Überlegung darüber, was man tun soll, geht man den umgekehrten Weg: von dem, was dann später das Warum der Handlung sein wird, vorwärts zur Handlung. Dass ich den Bus erreichen will und dafür jetzt aufbrechen muss, erklärt nicht nur nachträglich die Handlung, die Kombination dieser beiden Tatsachen spricht auch vorab, in der Überlegung, für diese Handlung. Und dies wird wiederum markiert, indem man von einem »Grund« spricht. Vielleicht könnte jemand die Frage stellen, aufgrund wovon gerade die Kombination dieser Tatsachen, und nur sie, einen Grund liefert. Warum nicht auch eine Kombination anderer Tatsachen und warum nicht einzelne Tatsachen für sich genommen? Das Entscheidende ist die Struktur: Wenn nicht, dann etwas Negatives. Ein Grund ist etwas, was für etwas spricht, was – genauer – für jemanden für etwas spricht, was für jemanden von Belang ist, etwas, was einen Handlungsdruck erzeugt, etwas, was zu motivieren vermag, und, auch das ist sehr wichtig, etwas, was ein bestimmtes Gewicht hat. All dies ist, wie man sich klarmachen kann, mit der Struktur: Wenn nicht, dann etwas Negatives gegeben. Die einzelnen Tatsachen, für sich genommen, sind hingegen offensichtlich keine Gründe. Wenn ich jetzt aufbrechen muss dafür, den Bus zu bekommen, ich den Bus aber gar nicht bekommen will, besteht kein Grund, jetzt aufzubrechen. Und wenn ich den Bus bekommen will, dafür aber erst in einer Stunde aufbrechen muss, besteht ebenfalls kein Grund, jetzt aufzubrechen.2 2 Vgl.

zu der Frage, ob es nicht auch »schwächere« Gründe geben kann,

174  |  Peter Stemmer 

II. Manchmal wird gesagt, man werde erst dann wirklich verstanden haben, wie das menschliche Gehirn funktioniert, wenn man in der Lage sei, es künstlich nachzubauen. Analog könnte man sagen, man sei erst dann in der Lage, zu verstehen, was Gründe sind und was sie konstituiert, wenn man in der Lage sei, Gründe künstlich nachzubauen. Doch tatsächlich tun die Menschen dies bereits seit vielen tausend Jahren. Die Schaffung künstlicher Gründe ist etwas ganz und gar Alltägliches. Stellen wir uns vor, die Mitglieder einer Gemeinschaft beraten darüber, wie sie ihr Zusammenleben gestalten wollen. Sie wollen unter anderem, dass in Notsituationen alle bestimmte Hilfsleistungen, darunter die Handlung x, erbringen. Sie wollen deshalb, dass jeder einen Grund hat, x zu tun, einen Grund, der dafür spricht und deshalb auch dazu motiviert. Sie können nicht davon ausgehen, dass jeder von sich aus x tun will oder ohne weiteres bereits einen Grund hat, so zu handeln. Also schaffen sie künstlich einen Grund, x zu tun. Wie machen sie das? Sie verbinden, x nicht zu tun, mit einer negativen Konsequenz, sprich: mit einer Sanktion. Wer x nicht tut, muss eine negative Konsequenz hinnehmen. Dabei ist die Negativität der Sanktion relativ auf ein Wollen der intendierten Adressaten. Man verbindet das Unterlassen von x mit einer Konsequenz, die die Adressaten nicht wollen. Man muss also bei einem vorhandenen Wollen anknüpfen. Wird ein solcher Sanktionsmechanismus etabliert, ist damit ein künstlicher Grund geschaffen. Jeder hat jetzt einen Grund, x zu tun. Denn wenn er es nicht tut, ist etwas Negatives die Konsequenz. Die Struktur: Wenn nicht, dann etwas Negatives entsteht hier genau aus den beiden genannten Elementen, einem Müssen der notwendigen Bedingung und einem Wollen. Die Spezifik eines Grundes dieser Art liegt allein darin, dass das eine Element, das Müssen der notwendigen Bedingung, anders als etwa im Marathon-Beispiel nicht gegeben, sondern gemacht ist. Die Sanktion ist eine künstlich an das Unterlassen von x geheftete negative Konsequenz. Aber das ändert nichts an der alldie nicht mit einem normativen Müssen zusammenfallen und bei denen die betreffende Handlung nicht eine notwendige, sondern nur eine hinreichende Bedingung für etwas Gewolltes ist, Stemmer 2008, 126–130. Zu Parfits On What Matters  |  175

gemeinen Struktur. – Es ist, das sei noch notiert, leicht zu sehen, wie die Gemeinschaft die Stärke des künstlich geschaffenen Grundes regulieren kann. Je stärker die Sanktion, je mehr man also das, was als Sanktion fungiert, nicht will, umso stärker ist der geschaffene Grund. Die Stärke des Grundes variiert mit der Stärke der Sanktion und diese mit der Intensität des Wollens. Diese Überlegung zeigt, wie man einen Grund künstlich nachbaut und welche Elemente dazu nötig sind. Man knüpft an ein vorhandenes Wollen an und kreiert das zweite notwendige Element, ein Müssen der notwendigen Bedingung. Man schafft also einen Grund und damit Normativität, indem man zwei für sich genommen nicht-normative Elemente kombiniert. Diese Überlegung zeigt auch, dass die Menschen intuitiv, vor aller Theorie, immer schon wussten, was die Elemente sind, die einen Grund konstituieren.

III. Die subjektivistische Konzeption von Gründen, wie ich sie jetzt wenigstens mit einigen Strichen angedeutet habe, hält Parfit für falsch. Er hält alle Konzeptionen, die im Wollen einen konstitutiven Teil von Gründen sehen, für falsch. Bevor ich auf einige seiner Argumente gegen eine solche Theorie eingehe, möchte ich die skizzierte Konzeption noch in zwei Punkten, angestoßen durch Überlegungen Parfits, erläutern und verdeutlichen. (i) Die angeführten Beispiele zeigen, so meine ich, sehr deutlich, dass durch die Kombination bestimmter natürlicher und nicht-normativer Tatsachen Normativität entsteht. Es entsteht damit etwas Neues. Und es wäre ganz abwegig, anzunehmen, weil es natürliche Tatsachen sind, die in einer bestimmten Kombination normativ sind, gebe es »eigentlich« keine Norma­tivität und keine normativen Phänomene. Es gibt sie offensichtlich. Natürliche Tatsachen können also normativ sein. Man muss nun sehen, dass dieser Befund keineswegs mit einem Punkt kollidiert, den Parfit stark hervorhebt. Die Aussage, dass eine Tatsache – oder eine Kombination von Tatsachen – die Eigenschaft hat, ein Grund zu sein, ist, so sagt Parfit, keine triviale, sondern eine substantielle Aussage (»a substantial claim«), das heißt, eine Aussage, die bestrit176  |  Peter Stemmer 

ten werden kann und deshalb gegebenenfalls der Verteidigung bedarf. Parfit schreibt: We must […] defend the claim that these natural facts each have the normative property of being a reason. (OWM II, 280)3

Das scheint mir vollkommen richtig zu sein. Wenn der Vater von Owen Wingrave behauptet, die Familientradition, dass die Söhne zur Armee gehen, sei für Owen ein Grund, auch zur Armee zu gehen, ist dies eine Aussage, die zweifellos bestritten werden kann.4 B.  Williams hat sie bestritten, und ich würde sie auch bestreiten. Dass eine Tatsache ein Grund ist, ist, mit anderen Worten, eine synthetische, nicht eine analytische Aussage. Sie enthält, wie Parfit sagt, »a further information« (OWM II, 367). Und es ist eine zentrale Frage, wie man über die Wahrheit einer solchen synthetischen Aussage entscheiden kann. Wie immer man hier antwortet5, zunächst muss klar sein: Bestimmte natürliche Tatsachen, oder ihre Kombination, haben die Eigenschaft des Normativen, aber die Aussage, dass es so ist, ist eine substantielle, synthetische Aussage, die nicht wie eine analytische Aussage verifiziert werden kann. (ii) Parfit legt großen Wert darauf, einen Grund als etwas zu verstehen, was für etwas spricht, und davon seine motivierende Funktion zu unterscheiden. Und er hält denen, die annehmen, ein Grund müsse immer ein Wollenselement enthalten, vor, Gründe auf motivationale Faktoren zu reduzieren. Dass eine Person einen Grund habe, x zu tun, bedeute dann nur, dass das Tun von x einem ihrer Wünsche diene.6 Mackie, Williams und andere, die ihnen folgen, hätten diese Reduktion vorgenommen und das, was einen Grund zentral definiert, aus den Augen verloren. Sie gebrauchten »Grund« deshalb in einer anderen Bedeutung des Wortes.7 Vielleicht würde Parfit in meiner Rede vom »Handlungsdruck« auch ein Indiz dafür sehen, dass mein Verständnis dessen, was ein Grund ist, ebenfalls Normativität auf eine motivationale Kraft reduziert. 3 Vgl.

auch OWM II, 357–368. zu diesem Beispiel Williams 1981, 101–113, 106. 5 Ich komme auf diese Frage unten in Punkt XI. zurück. 6 Vgl. OWM I, 109; OWM II, 280; 421; 434 f.; 437. 7 Vgl. OWM II, 271; 433; 448; 451. 4 Vgl.

Zu Parfits On What Matters  |  177

Doch tatsächlich macht die Konzeption, die ich im Vorigen skizziert habe, den Unterschied, den Parfit so herausstreicht. Sie wird deshalb, so meine ich, von dieser Kritik nicht getroffen. Wenn jemand einen Grund hat, eine Handlung zu tun, bedeutet das, dass etwas dafür spricht, die Handlung zu tun, dass die Handlung begründet ist und dass eine Überlegung sie stützt oder sie zu stützen vermag. Und dass er, wenn er anders handelt, etwas für seine Handlungswahl Entscheidendes übersehen oder nicht beachtet hat und seine Handlung deshalb einen Makel hat. All dies sind keine Aussagen über etwas Motivationales. Ein Grund hat allerdings, gerade weil er für eine Handlung spricht, ein motivationales Potential. Das ist eine seiner wesentlichen Eigenschaften. Wer realisiert, dass er einen Grund hat, etwas zu tun, wird normalerweise dadurch motiviert, entsprechend zu handeln. Um diese motivationale Leistung erbringen zu können, muss ein Grund ein Wollenselement enthalten. Er muss aber auch, und das ist der elementarere Punkt, um für etwas sprechen zu können, ein Wollenselement enthalten. Es spricht, das ist die These, nur etwas für das Tun von x, wenn x nicht zu tun, eine negative Konsequenz nach sich zieht, und das impliziert, wie gesagt, ein Wollen. Angenommen, jemand sagt zu mir: Du musst x tun, oder: Du hast einen Grund, x zu tun. Und wenn ich zurückfrage: Und was passiert, wenn ich anders handele, wenn ich x also nicht tue?, lautet die Antwort: Es passiert nichts. Was macht es dann zu einem Muss, x zu tun? Was spricht dann dafür, so zu handeln? Es kann, so die These, kein normatives Müssen, keinen Grund und kein Sprechen-Für geben, wenn im Falle des Anders-Handelns nichts Negatives passiert. Was die Positionen trennt, sind nicht verschiedene Verwendungsweisen des Wortes »Grund«, es besteht vielmehr ein substan­ tieller Dissens darüber, Tatsachen welcher Art Gründe konstituieren oder, anders gesagt, welche Tatsachen (oder Kombinationen von Tatsachen) in der Lage sind, die Leistungen zu erbringen, die für einen Grund definitiv sind. Es geht, so zeigen diese Überlegungen, an der Sache vorbei, über den Wollensbezug von Gründen nur im Blick auf ihr motivationales Potential zu sprechen, wie es im Anschluss an Williams‘ Aufsatz »Internal and External Reasons« (1981) geschehen ist. Und es geht auch an der Sache vorbei, anzunehmen, wer von internen, nämlich wollensrelativen Gründen 178  |  Peter Stemmer 

spreche, habe Gründe damit bereits auf bloße motivationale Faktoren reduziert. Das ist ein Missverständnis. Will man die spezifische Leistung eines Grundes verstehen, ist es indessen wichtig, trotz des Unterschiedenseins die enge Verbindung des Sprechens-Für und der motivationalen Funktion eines Grundes zu sehen. Denken wir noch einmal an eine Norm. Die Intention des Normgebers ist es, die Normadressaten zu einer bestimmten Handlung (oder ihrer Unterlassung) zu bewegen. Und er versucht, dieses Ziel zu erreichen, indem er den Adressaten einen Grund gibt, sich so, wie von ihm gewollt, zu verhalten. Die intendierte Handlungssteuerung zielt auf die Überlegung der Adressaten, sie läuft über ihren Kopf, nicht an ihrem Kopf vorbei. Der Normgeber versucht, durch Gründe, dadurch, dass etwas für etwas spricht, zu motivieren. Und jeder Grund, den wir haben, tut genau dasselbe. Er motiviert uns dadurch, dass er für etwas spricht. Er steuert unser Verhalten über unseren Kopf, nicht an ihm vorbei.

IV. Parfit glaubt, eine Konzeption, nach der Gründe als eines ihrer Konstituentien ein Wollen enthalten, habe unplausible, kontra-intuitive Implikationen. Ich will auf zwei Einwände eingehen.8 Der erste Einwand sagt, eine wollens-basierte Theorie der Gründe sei besonders unplausibel, wenn sie annehme, ein faktisches Wollen – und nicht etwa nur ein in bestimmter Weise qualifiziertes Wollen – könne für einen Grund konstitutiv sein. Denn ein Wollen kann in verschiedener Weise defizient sein, es kann kognitiv defizient sein, es kann zwanghaft sein, es kann manipuliert, es kann bizarr und verrückt sein. Ein Wollen, das auf eine dieser Weisen defizient sei, könne aber keine Gründe konstituieren oder mitkonstituieren. Wenn jemand, so ein beliebtes Beispiel, den Wunsch habe, alle verfügbaren Radios anzustellen, nicht um etwas zu hören, sondern nur so, habe er keinen Grund, das dafür Notwendige zu tun. Dazu sei dieses Wollen zu bizarr. Dieser Einwand appelliert an unsere Intuitionen, er sagt aber 8 Unten

tieren.

in IX werde ich außerdem Parfits »Agony-Argument« kommen­

Zu Parfits On What Matters  |  179

nicht, warum ein defizientes Wollen nicht ein Konstituens eines Grundes sein kann. Viele Philosophen, die eine wollens-basierte Theorie der Gründe vertreten, haben ihre Theorie angesichts dieses Einwandes modifiziert und die Position entwickelt, nur ein qualifiziertes, gewissermaßen purifiziertes Wollen könne einen Grund konstituieren oder mitkonstituieren. Parfit hält diese modifizierten Theorievarianten zwar für intuitiv plausibler, aber für inkohärent, die unmodifizierte Konzeption sei hingegen kohärent, sie kollidiere aber besonders hart mit unseren Intuitionen.9 Der zweite Einwand führt zu einer grundsätzlich anderen Konzeption von Gründen, nach der Gründe wollensunabhängig sind. Die Idee ist hier, dass ein Wollen nur dann Teil eines Handlungsgrundes sein könne, wenn es selbst begründet sei. Wenn man y will und dafür x tun muss, habe man nur dann einen Grund, x zu tun, wenn das Wollen von y selbst begründet sei. Tatsächlich braucht man y nicht einmal faktisch zu wollen: Wenn man einen Grund hat, y zu wollen und dafür, dass es eintritt, x tun muss, hat man einen Grund, x zu tun. Auch dann, wenn man y faktisch gar nicht will. Das Entscheidende sind also die Gründe hinter dem Wollen. Die Handlungsgründe sind nur derivative Gründe, die sich – über die Notwendigkeitsrelation – aus den eigentlichen Gründen, den Gründen fürs Wollen, ableiten. Parfit schreibt: […] reasons for acting all derive their force from the facts that give us reasons to have certain desires and aims. (OWM I, 47)10

Man muss diese Konzeption nicht weiter entfalten, um zu sehen, dass sie folgende Annahmen enthält: Es muss für das intrinsische Wollen – für das Wollen, das etwas um seiner selbst willen anstrebt und nicht um eines anderen Gewollten willen – selbst Gründe geben.11 Und diese Gründe müssen wollensunabhängig oder, wie man auch sagt, extern sein. Die eigentlichen, alles Weitere bestimmenden Gründe sind hiernach also wollensunabhängige Gründe, wollensunabhängige Gründe fürs Wollen. 9 Vgl.

OWM I, 91–101; bes. 95 f. 10 Vgl. auch OWM I, 90 f.; 106 f. 11 Vgl. OWM I, 44. Parfit spricht statt vom intrinsischen Wollen von

­»teleological or telic desires«. 180  |  Peter Stemmer 

Die entscheidende Differenz zwischen einer wollens-basierten Konzeption und einer Theorie, wie sie Parfit intendiert, betrifft also die Frage, ob es externe, wollensunabhängige Gründe fürs Wollen gibt. Oder, anders formuliert, ob das Wollen den Gründen vorausgeht oder die Gründe dem Wollen. Es liegt auf der Hand, dass man eigentlich nicht beide Einwände zusammen vorbringen kann. Mit dem zweiten Einwand verlässt man eine wollens-basierte Konzeption und stellt ihr eine Alternative entgegen, während der erste Einwand allein auf die innere Ausgestaltung einer wollens-basierten Konzeption zielt. Der zweite Einwand ist also der grundsätzlichere. Dennoch gehe ich, wenn auch nur mit einer Bemerkung, auch auf den ersten Einwand ein.

V. Meines Erachtens kann ein faktisches, nicht weiter qualifiziertes Wollen, zusammen mit einem Müssen der notwendigen Bedingung, einen Grund konstituieren.12 Das entscheidende Argument dafür ist dieses: Auch ein defizientes Wollen ist ein faktisches Wollen, ein Wollen, das die betreffende Person wirklich hat. Und das bedeutet, dass, wenn sie das, was sie tun muss, um das von ihr Gewollte zu erreichen, nicht tut, etwas für sie Negatives die Konsequenz ist: sie erreicht nicht, was sie will. Es besteht also ohne Zweifel die Struktur: Wenn nicht, dann etwas Negatives. Und dies bedeutet, dass etwas dafür spricht, die notwendige Handlung zu tun. Und es bedeutet auch, dass die Person ein Motiv hat und unter einem Druck steht, das Gemusste zu tun. Und es bedeutet auch, dass das, was dafür spricht, so-und-so zu handeln, mit einer größeren oder geringeren Stärke dafür spricht. Alle Elemente, die einen Grund ausmachen, sind also, so scheint es, gegeben. Und deshalb ist es ganz richtig, hier von einem Grund zu sprechen. Wer stattdessen sagen will, dass – trotz der Struktur: Wenn nicht, dann etwas Negatives – kein Grund vorliegt, reichert den Begriff des Grundes mit zusätzlichen, anspruchsvolleren Elementen an. 12

Ich habe das bereits zu begründen versucht in Stemmer 2008, 72–77 und 121–125. Zu Parfits On What Matters  |  181

Die dabei leitende Idee dürfte häufig sein, dass eine Handlung, für die ein Grund spricht, auch vernünftig sein müsse. Wenn aber etwa ein bizarres Wollen der Ausgangspunkt sei, erbe die zur Erlangung des Gewollten notwendige Handlung die Defizienz des Wollens und sei selbst bizarr und sinnlos und gerade nicht vernünftig. Mit dieser Idee löst man den Begriff des Grundes indessen aus dem Kontext, aus dem er seine Funktion und seine Bestimmtheit hat, nämlich aus dem Kontext des Überlegens. Ich versuche, das an einem Beispiel zu erläutern. Nehmen wir an, eine Frau leidet an einer Agoraphobie, sie hat deshalb Angst, den Marktplatz des Ortes, in dem sie lebt, zu betreten und will es folglich nicht. Dieses Wollen ist, so kann man sagen, irrational, weil die Angst irrational ist. Das weiß die Frau selbst, und sie wäre die Angst und das Wollen gerne los. In dem Ort gibt es zwei Bäcker, einen auf dem Marktplatz, einen abseits in einer abgelegenen Straße. Die Frau zieht eigentlich den auf dem Marktplatz vor, aber sie muss nun, weil sie dort nicht hin will, zu dem anderen Bäcker gehen. In dieser Situation passt es sehr gut, zu sagen, dass sie einen Grund hat, zu dem anderen Bäcker zu gehen. Vielleicht will man dem entgegenhalten, die Angst sei irrational, das Wollen sei irrational, dann sei notwendigerweise auch die Handlung, die daraus resultiert, irrational. Und eine irrationale Handlung könne keine Handlung sein, für die man einen Grund hat. Aber das wäre ein Fehler. Die Frau stellt eine Überlegung an. Der Ausgangspunkt dieser Überlegung ist, dass sie nicht auf den Marktplatz gehen will. Wenn es so ist, muss sie, wie gesagt, ihr Brot bei dem anderen Bäcker kaufen. In ihrer Überlegung gibt es zwei Elemente, die zusammengenommen dafür sprechen, dies zu tun: ihren Wunsch, nicht auf den Marktplatz zu gehen, und die Tatsache, dass dann keine andere Möglichkeit besteht, als zu dem anderen Bäcker zu gehen. Die Funktion der Rede vom Grund liegt nun aber genau darin, die Faktoren zu markieren, die in einer Überlegung für etwas sprechen. Und wenn man die Frau fragen würde, warum sie zu dem anderen Bäcker geht, wäre die Antwort: weil sie diesen Wunsch hat und dann keine andere Möglichkeit besteht. Dies ist das Warum ihrer Handlung und damit ihr Grund. Wollte man hier nicht von einem Grund sprechen, würde man den Begriff verändern und ihm einen neuen Inhalt geben. Man 182  |  Peter Stemmer 

würde Aspekte einführen müssen, die in der Überlegung der Frau keine Rolle spielen. Man muss sehen, dass ihr Wollen Ausgangspunkt, aber nicht Gegenstand der Überlegung ist. Sie überlegt, was sie, gegeben dieses Wollen, tun muss. Es wäre also, so meine ich, ganz falsch, zu sagen, dass die Frau keinen Grund hat, zu dem anderen Bäcker zu gehen. Dabei ist, was sie tut, nicht nur begründet, es ist auch, relativ auf das Wollen, das sie hat und das den Ausgangspunkt ihrer Überlegung bildet, vernünftig und sinnvoll. Man könnte vielleicht sagen, es sei, aus einer höheren Per­spektive betrachtet oder im Ganzen betrachtet, nicht vernünftig, weil es von einer irrationalen Angst diktiert sei. Aber das änderte nichts an dem Gesagten. Das zeigt sich auch an folgendem. Angenommen, der Frau gelingt es eines Tages, ihre Angst und damit auch das Wollen loszuwerden. Sie könnte dann sagen: Jetzt habe ich auch keinen Grund mehr, zu dem anderen Bäcker zu gehen. Weil das Wollen verschwunden ist, existiert auch der Grund nicht mehr. Man muss, das zeigt dieses Beispiel, lernen, dass eine begründete Handlung nicht immer eine aus einer höheren Perspektive vernünftige Handlung sein muss. Es mag sein, dass die deutsche Sprache diese Einsicht eher erlaubt als das Englische und andere europäische Sprachen. Denn das Deutsche kennt zwei verschiedene Wörter: »Vernunft« und »Grund«, während das Englische für beides nur das eine Wort »reason« hat, so dass von vorneherein suggeriert wird, dass das, wofür ein Grund spricht, auch vernünftig ist. Man denke auch an das Radio-Beispiel und andere künstlich zugespitzte Beispiele dieser Art. Wir mögen kaum verstehen, wie jemand den Wunsch haben kann, alle verfügbaren Radios anzustellen, nur so. Aber wir verstehen sehr gut, warum jemand, wenn er diesen Wunsch hat, das dafür Nötige tut. Und es fällt uns in Wahrheit gar nicht schwer, zu sagen, dass er, wenn er dieses Wollen hat, einen Grund hat, entsprechend zu handeln. Was er da tut, hat einen Grund, und es ist, relativ auf sein Wollen, sogar sinnvoll und vernünftig. Obwohl es, in einer weiteren Perspektive betrachtet, bizarr und unvernünftig ist.

Zu Parfits On What Matters  |  183

VI. Kommen wir zum zweiten Einwand. Die eigentlichen Gründe, so wird hier gesagt, sind Gründe fürs – intrinsische – Wollen und diese sind notwendigerweise wollensunabhängig. Natürlich ist es für eine solche Theorie entscheidend, darzulegen, Tatsachen welcher Art diese Gründe konstituieren. Tatsachen welcher Art können, wollensunabhängig, Gründe für ein Wollen sein? Das Wollen geht immer auf Gegenstände. Deshalb ist es, wenn man nach Gründen fürs Wollen sucht, naheliegend, anzunehmen, dass sie darin liegen, dass diese Gegenstände bestimmte Eigenschaften haben. Etwas hat dieund-die Eigenschaften, und das ist der Grund, es zu wollen.13 Welches sind dann die Eigenschaften, deren Vorliegen dafür spricht, das, was diese Eigenschaften hat, zu wollen? Es scheint, als gebe es zwei mögliche Antworten. Die fraglichen Eigenschaften sind, so die erste Antwort, nicht-natürliche Eigenschaften. Traditionell hat man angenommen, dass, wenn ein Gegenstand gut ist, dies ein Grund ist, ihn zu wollen. Das Gutsein wurde dabei als nicht-natürliche Eigenschaft verstanden, die Gegenständen völlig unabhängig von uns und damit auch unabhängig von unserem Wollen zukommt. So dass, dass etwas in dieser Weise gut ist, eine ontologisch objektive Tatsache ist. Statt vom Gutsein kann man auch von Werten sprechen. Dinge können einen Wert haben, und wenn es so ist, hat man einen Grund, sie zu wollen. Die alternative Konzeption nimmt hingegen an, die fraglichen Eigenschaften seien natürliche Eigenschaften. Etwas hat die-unddie natürlichen Eigenschaften, und das ist ein Grund, es zu wollen. Welche natürlichen Eigenschaften können diese Leistung erbringen? Das ist die Frage, die sich dann stellt. Klar ist von vorneherein, dass eine solche Eigenschaft nicht wollensabhängig sein darf. Parfit vertritt diese zweite Variante. Es sind natürliche, nicht übernatürliche Tatsachen, die Gründe sind, etwas zu wollen. Man könnte den Eindruck haben, als tue Parfit selbst einiges dafür, diesen für seine Theorie grundlegenden Punkt zu verdunkeln. So sagt er, die Gründe, von denen er spricht, seien »value-based« (OWM I, 45; 65). Das deutet eher auf die erste Konzeption und nicht auf die 13 Vgl.

OWM I, 45; 89 ff.; 112.

184  |  Peter Stemmer 

zweite. Das Gut- oder Wertvollsein von etwas scheint ein Grund zu sein, es zu wollen. Parfit erklärt indessen, dass er »gut« – und »Wert« – nicht in diesem Sinne versteht. Dass etwas gut ist, bedeutet vielmehr nichts anderes als, dass man einen Grund hat, es zu wollen oder in anderer Weise positiv auf es zu reagieren. Und man hat diesen Grund, wenn es bestimmte natürliche Eigenschaften hat. Parfit schreibt in seinem Aufsatz Rationality and Reasons: These reasons are provided by various natural features of the objects of our desires, […].14

Und er referiert Scanlons Position, der er zustimmt, so: Something’s being good is the same as its having certain natural properties that would, in certain contexts, give us reasons to want this thing.15

Es ist also nicht so, dass man einen Grund hat, etwas zu wollen, weil es die Eigenschaft des Gutseins hat. Gut zu sein, bedeutet vielmehr, andere, natürliche Eigenschaften zu haben, die dafür sprechen, etwas zu wollen. – Ich glaube nicht, dass dies eine adäquate Analyse der Funktion von »gut« ist. Aber das kann jetzt beiseite bleiben. Wichtig ist, dass die Rede vom Gutsein bei Parfit (nicht anders als bei Scanlon) im Grunde entbehrlich ist, weil sie vollständig in die Rede von Gründen übersetzt werden kann (vgl. OWM I, 42). Die weitere Entfaltung von Parfits Theorie muss nun offensichtlich vor allem folgende Fragen beantworten: Welche – wollensunabhängigen – natürlichen Tatsachen sind Gründe fürs Wollen? Aufgrund wovon können diese Tatsachen die Leistungen eines Grundes erbringen? Und wodurch weiß man, dass gerade diese natürlichen Tatsachen, und nicht etwa andere, Gründe sind oder Gründe geben? Bevor ich auf diese Fragen komme, will ich zunächst auf einen wichtigen Sachverhalt aufmerksam machen.

14 Parfit

15 Parfit

2001, 17–39, 20. Vgl. hierzu auch OWM I, 38 f., 42. 2001, 20. Zu Parfits On What Matters  |  185

VII. Keine Handlungsgründe, so sagt Parfit, ohne Wollensgründe. Das intrinsische Wollen muss selbst begründet sein. Und es scheint für ihn eine schreckliche Vorstellung zu sein, dass unser intrinsisches Wollen nicht begründet sein könnte. Dass das intrinsische Wollen keine Gründe hinter sich hat, behaupten nun aber diejenigen, die annehmen, Gründe seien wollensabhängig. Allein dies, so glaubt Parfit, diskreditiert ihre Theorie. Es scheint mir jedoch offensichtlich zu sein, dass zumindest ein Teil des menschlichen Wollens ein Wollen ohne Gründe ist. Das wohl elementarste und mächtigste Wollen der Menschen ist das Weiterleben-Wollen. Es hat eine starke und weitverzweigte Resonanz in unserem sonstigen Wollen, und wir tun ungeheuer viel, um das Erreichen dieses Zieles sicherzustellen. Offenkundig haben wir dieses Wollen, weil wir die Wesen sind, die wir sind. Es ist, so kann man sagen, in uns »eingerammt«, es ist Teil unserer biologischen Ausstattung und Ergebnis unserer evolutionären Vergangenheit. Wir können nicht anders, als dieses Wollen zu haben, und wir sind nicht fähig, es abzuschütteln. Wir haben dieses Wollen nicht gewählt, wir haben es nicht, weil das Leben bestimmte Eigenschaften hat und dies dafür spricht, es zu haben. Wir folgen mit diesem Wollen keinem Grund, es geht nicht aus einer Überlegung hervor, wir haben es einfach. Die Frage nach Gründen hat hier folglich keinen Sinn. Es wäre völlig deplaciert, jemanden zu fragen, warum er weiterleben will. Man kann allenfalls fragen, wie es kommt, dass wir dieses Wollen haben. Und wenn wir genug über unsere evolutionäre Vergangenheit wissen, können wir diese Frage auch beantworten. Etwas Zweites ist, so meine ich, ebenso klar: Dieses basale Wollen, das keine Gründe hinter sich hat, generiert, zusammen mit entsprechenden Dafür-dass-Tatsachen, eine große Zahl von Gründen, Gründe für andere, extrinsische Wünsche und Gründe für Handlungen. Weil wir weiterleben wollen und dafür das-und-das tun müssen, haben wir einen – äußerst starken – Grund, so zu handeln. Der Wunsch, weiterzuleben, ist nicht der einzige Wunsch dieser Art, es gibt eine ganze Reihe ähnlicher Wünsche, die für unser Leben von elementarer Bedeutung sind, die aber nicht aus einer Überlegung hervorgehen und die wir nicht haben, weil etwas da186  |  Peter Stemmer 

für spricht, sie zu haben. Von dieser Art ist auch der Wunsch nach Anerkennung und Akzeptanz durch andere und durch sich selbst. Auch dies ist ein tiefliegender und mit großer Energie geladener Wunsch, den wir nicht haben, weil es einen Grund gibt, ihn zu haben. Auch er ist uns eingerammt, Teil unserer biologischen Natur. Wie der Wunsch, weiterzuleben, ist auch dieser Wunsch eine Quelle einer großen Zahl von Gründen. Man kann überlegen, welche weiteren Wünsche von dieser Art sind. H. Frankfurt, der von diesen Wünschen handelt, nennt verschiedene andere Beispiele, so immer wieder das Interesse am Wohl der eigenen Kinder.16 Auch Hume spricht von diesen Wünschen. Sie seien, so sagt er, »unserer Natur ursprünglich eingepflanzt (originally implanted in our natures).«17 Unter seinen Beispielen finden sich auch das Weiterleben-Wollen und das Aussein auf Ansehen und Reputation. Die Natur gibt uns, so sagt Hume über das Streben nach Ansehen, »by the internal frame and constitution of the mind, […] an original propensity to fame.«18 Es gibt nicht nur Wünsche ohne Gründe, die alle Menschen teilen, sondern auch individuelle Wünsche dieser Art. Solche Wünsche sind, wenn sie nicht nur momentan und peripher sind, Teil des individuellen Charakters und bestimmen die eigene Individualität. Auch sie sind nicht aus einer Überlegung hervorgegangen. Dennoch können sie im Netz des Wollens eine wichtige Rolle spielen, und aus ihnen kann eine Vielzahl von Handlungsgründen entstehen. Die Frage, aus welchen Gründen man diese Wünsche hat, ist erneut deplaciert. Man hat sie, ohne Gründe, sie speisen sich aus vielen Quellen und dem unauflöslich komplexen Prozess der Charakterbildung. Wir stoßen mit dem faktischen Wollen ohne Gründe auf kontingente Determinanten unserer Existenz. Wir haben diese Wünsche nicht gewählt, dennoch haben wir sie, dennoch bestimmen sie uns. Das ist ein Faktum des Lebens. Man darf allerdings nicht übersehen, dass auch diese Wünsche immer Wünsche unter anderen Wünschen sind. Wir wollen nicht nur eine Sache, wir wollen 16 Frankfurt

2004, 27; siehe auch Frankfurt 2006, 25 und 38. 1978 II, iii, 3, 417. 18 Hume 1975, app. II, 301. 17 Hume

Zu Parfits On What Matters  |  187

immer vieles. Wir müssen deshalb unser Wollen koordinieren, eine Aufgabe der Vernunft oder, konkreter gesagt, des Überlegens. Jeder Wunsch kann durch ein anderes Wollen überwogen werden. Das gilt, wie wir wissen, sogar für das Weiterleben-Wollen. Etwas anderes kann wichtiger sein. Man kann also überlegen, ob man unter dem Strich, alles zusammengezogen, weiterleben will, man kann aber nicht überlegen, ob man diesen Wunsch über dem Strich überhaupt ausbildet. Wenn es um die Frage geht, ob intrinsische Wünsche Gründe hinter sich haben, geht es immer um Wünsche über dem Strich oder, anders gesagt, um pro-tanto-Wünsche. Parfit teilt, was ich jetzt über das Wollen ohne Gründe gesagt habe, nicht. Er nimmt an, auch dieser Teil des Wollens sei in Wahrheit begründet. Es spreche etwas dafür, weiterzuleben, es spreche etwas dafür, intrinsisch auf Anerkennung aus zu sein, etc.19 Wir werden erst noch sehen müssen, ob es Parfit gelingt, die Vorstellung, wollensunabhängige natürliche Tatsachen könnten Gründe fürs Wollen sein, einsichtig zu machen. Aber auch wenn das noch offen ist, lässt sich, so meine ich, sagen, dass Parfits Annahme für den jetzt betrachteten Teil des menschlichen Wollens nicht plausibel ist. Die Annahme, dass das Weiterleben-Wollen Teil unserer biologischen Ausstattung ist, dass es uns von Natur aus »eingepflanzt« ist, scheint das Phänomen zutreffender zu beschreiben als die Annahme, dass es einen Grund für dieses Wollen gibt und dass wir es deshalb haben. Gründe sind etwas in einer Überlegung. Dieses Wollen geht aber, wie gesagt, nicht aus einer Überlegung hervor. Dies zeigt sich auch in folgendem: Wenn ich überlege, ob ich eine Handlung tun oder unterlassen soll, kann ich mir, solange die Überlegung noch nicht abgeschlossen ist, vorstellen, das eine wie auch das andere zu tun. Beides ist möglich. Und wenn ich überlege, ob ich eine bestimmte Meinung akzeptieren soll, kann ich mir, solange ich noch überlege, vorstellen, dass ich sie mir zu eigen mache und auch dass ich das nicht tue. Beides ist möglich. Ich kann mir aber nicht vorstellen, den Wunsch, weiterzuleben, nicht zu haben. Ich kann gar nicht anders als, dies zu wollen. Hier ist deshalb kein Ort für eine Überlegung und deshalb auch kein Ort für Gründe.

19 Vgl.

OWM II, 326; 532 f.; 541.

188  |  Peter Stemmer 

Wenn wir für ein Wollen dieser Art keine Gründe brauchen, weil wir das Wollen ohnehin haben, und wenn wir uns in keiner Überlegung auf solche Gründe beziehen, man aber dennoch annimmt, dass da Gründe für dieses Wollen existieren, wirkt das seltsam. Diese Gründe sind Gründe zu viel. Eine solche Konzeption dissoziiert Gründe und Überlegung. Gründe sind aber Faktoren, die in einer Überlegung für oder gegen etwas sprechen. Es deutet sich hier an, dass der Begriff des Grundes sich auch bei Parfit aus dem Kontext löst, aus dem er kommt und in dem er seine Funktion hat.

VIII. Welche wollensunabhängigen natürlichen Tatsachen kommen nun als Gründe für das intrinsische Wollen (die Wünsche ohne Gründe ausgenommen) in Frage? Und aufgrund wovon können sie die Leistungen erbringen, die für einen Grund definitiv sind? Und woher weiß man, dass es diese Tatsachen sind und keine anderen? – Es ist hilfreich, mit folgender Überlegung einzusetzen. Ein Grund ist etwas, was einen angeht, etwas, was für einen eine Bedeutung hat, ein Grund hat, so kann man auch sagen, einen »Für-mich«-Charakter. Natürliche Tatsachen, die einen nichts angehen, die diesen »Fürmich«-Charakter nicht haben, können folglich keine Gründe sein. Die Tatsache, dass man dafür, einen Marathon laufen zu können, trainieren muss, ist zum Beispiel eine Tatsache, die mich, der ich noch nie vorhatte, einen Marathon zu laufen, nichts angeht, die für mich ohne Belang ist. Sie kann deshalb für mich kein Grund sein, etwas zu tun oder zu wollen. Zweierlei sei in diesem Zusammenhang ausdrücklich festgehalten: Eine Tatsache, die eine andere Person etwas angeht, geht dadurch natürlich nicht auch mich etwas an. Und: Es wäre konfus, zu sagen, bestimmte natürliche Tatsachen gingen einen etwas an, weil sie Gründe seien. Die Tatsachen müssen unabhängig einen »Für-mich«-Index haben, erst dadurch können sie Gründe sein. Tatsachen welcher Art gehen uns etwas an? Und wodurch sind sie für uns von Belang? Offenkundig gewinnen Tatsachen durch einen Wollensbezug für uns Bedeutung. Die Tatsache, dass es eine Familientradition ist, zur Armee zu gehen, gewinnt für Owen dann Zu Parfits On What Matters  |  189

Bedeutung, wenn er diese Tradition gut findet und sie fortsetzen will. Diese Antwort hilft uns jedoch nicht weiter. Denn die gesuchten natürlichen Tatsachen sollen Gründe für das intrinsische Wollen sein. Und das impliziert, dass sie wollensunabhängig sein müssen. Gesucht sind, wie wir sahen, wollensunabhängige natürliche Tatsachen, die als Gründe in Frage kommen. Wenn nicht durch einen Bezug auf ein Wollen, wodurch kann uns eine natürliche Tatsache dann angehen? Sie muss, das scheint mir zwingend zu sein, ein anderes subjektives Element enthalten. Nur dadurch kommt es zu einer positiven oder negativen Valenz, durch die sie uns angeht. Die Welt unabhängig von uns, von unseren mentalen Reaktionen und Einstellungen enthält nichts dergleichen. Sie liegt in vollkommener Neutralität da. Keine der von uns unabhängigen Tatsachen hat aus sich heraus die Eigenschaft, für uns von Belang zu sein. Welches subjektive Element kommt also in Frage, wenn es nicht das Wollen sein kann? Es bleibt, so scheint es, nur die Empfindung des Angenehmen und Unangenehmen. Wir empfinden Dinge als angenehm und unangenehm. Und dass etwas angenehm oder unangenehm ist, ist eine Tatsache, auf die wir positiv oder negativ reagieren, die uns also angeht und die für uns von Belang ist. Es ist deshalb naheliegend, zu der These zu kommen, Tatsachen von der Art, dass etwas angenehm ist, seien ein Grund, etwas, nämlich das, was angenehm ist, zu wollen. Wenn einem kalt geworden ist, wird eine warme Dusche angenehm sein; und dies ist ein Grund, sie zu wollen. Mit dieser These haben wir einen Antwortvorschlag für die Frage, welche natürlichen Tatsachen die Gründe für das intrinsische Wollen sein sollen. Es sind die Tatsachen, dass Dinge angenehm oder unangenehm sind. Dieser Vorschlag wirkt ohne Zweifel attraktiv. Das tritt besonders hervor, wenn man sich folgende fünf Eigenschaften des Angenehmseins vergegenwärtigt: (i) Dass etwas angenehm ist, ist eine natürliche, keine übernatürliche Tatsache. (ii) Die Bedingung der Wollensunabhängigkeit ist erfüllt. Das Angenehmsein setzt kein Wollen voraus. Es gibt zwar Formen des Angenehmseins, die wollensabhängig sind. Aber an sie ist nicht gedacht. Wenn es mir angenehm ist, etwas Süßes zu es190  |  Peter Stemmer 

sen, dann setzt diese Empfindung kein Wollen voraus. Und so ist es in sehr vielen anderen Fällen auch. (iii) Dass etwas angenehm ist, ist etwas Subjektives. Etwas kann nur angenehm sein, wenn es ein Mensch (oder ein anderes Lebewesen) als angenehm empfindet. Die Tatsache, dass etwas angenehm ist, hat also eine subjektive Ontologie. (iv) Das Angenehme ist nichts Neutrales, dem wir indifferent gegenüberstehen. Das Angenehme zieht einen an, das Unangenehme stößt einen ab. Genau deshalb ist, dass etwas angenehm oder unangenehm ist, eine Tatsache, die uns angeht, die für uns von Belang ist. (v) Das Angenehmsein kennt – auch das ist wichtig – ein Mehr oder Weniger. Diese Eigenschaften deuten darauf hin, dass die Tatsachen, dass etwas angenehm oder etwas unangenehm ist, gute Kandidaten für die Tatsachen sind, die Gründe für das intrinsische Wollen sein sollen. Parfit nimmt genau dies an. Die Tatsache, dass etwas angenehm oder unangenehm ist, ist ein Grund für ein intrinsisches Wollen. Gründe dieser Art sind »hedonic reasons« (OWM I, 52). Parfit unterscheidet »sensations« – ein Schokoladeneis schmeckt so-undso –, »likings and dislikings« – ich mag den Geschmack von Schokoladeneis – und drittens »meta-hedonic desires« – ich will das, was ich mag (vgl. ebd, 53 f.). Das »liking« kann man als ein Angenehm-Finden verstehen.20 Während zwischen den »sensations« und den »likings/dislikings« keine Gründe-Beziehung besteht, besteht eine solche Beziehung zwischen den »likings«/»dislikings« und den meta-hedonischen Wünschen: Unlike our hedonic likings and dislikings, our meta-hedonic desires are responses to reasons […]. (OWM I, 55; vgl. 53)

Man hat also einen Grund, etwas zu wollen, weil man es als angenehm empfindet. Und genauso hat man, wenn etwas unangenehm ist, einen Grund, es nicht zu wollen oder sein Verschwinden zu wol20 In

OWM I, 53 heißt es, »the hedonic likings and dislikings of certain ac-

tual present sensations […] make our having there sensations pleasant, painful, or in other ways unpleasant«. Ebd., 67 ist von »sensations« die Rede, die »painful or unpleasant« sind. Zu Parfits On What Matters  |  191

len. Das naheliegende, von Parfit immer wieder angeführte Beispiel sind Schmerzen. Schmerzen sind eo ipso unangenehm, man mag sie nicht, und deshalb hat man, so die Idee, einen Grund, sie nicht zu wollen.

IX. Wie ist diese Idee zu beurteilen? Sie wirkt, wie gesagt, attraktiv. Wenn man gefragt wird, warum man etwas will, ist es passend und plausibel, zu antworten: weil es angenehm ist. Das scheint zu zeigen, dass die Tatsache, dass etwas angenehm ist, der Grund ist, es zu wollen. Man muss sich an dieser Stelle allerdings klarmachen, dass die »Warum«-Frage und das korrelierende »weil« ambivalent sind und dass man mit der »Warum«-Frage keineswegs immer nach Gründen fragt. Mit »warum« fragt man ganz allgemein nach einer Erklärung. Und in manchen Erklärungen spielen Gründe eine Rolle. »Warum« kann man dann verstehen als: »aus welchen Gründen«. In anderen Erklärungen spielen Gründe hingegen keine Rolle. Wenn eine Brücke zusammengebrochen ist, kommen in der Erklärung dieses Ereignisses keine Gründe vor. Die Brücke ist zusammengebrochen, weil die Erde bebte. Aber das Erdbeben sprach nicht dafür, dass die Brücke zusammenbricht. Das Zusammenbrechen der Brücke war keine Handlung, und niemand hat überlegt, was dafür spricht, dass sie zusammenbricht. »Warum« bedeutet in diesen Fällen: »wie kam es dazu, was war die Ursache«. Der Unterschied kann leicht verwischt werden, weil man im Deutschen (wie analog im Englischen) auch in Fällen des zweiten Typs von »Gründen« sprechen kann. Das Erdbeben war, so kann man sagen, der Grund dafür, dass die Brücke zusammenbrach. »Grund« ist dann aber im weiten Sinn verstanden, im Sinne von »etwas, das ein Ereignis erklärt«, und nicht im engen, spezifischen Sinne von »etwas, das für etwas spricht«. Diese Überlegung macht darauf aufmerksam, dass aus dem Umstand, dass die Frage, warum man etwas will, mit »weil es angenehm ist« passend beantwortet werden kann, noch nicht folgt, dass das eine der Grund für das andere ist. Es zeigt sich nur, dass das Angenehmsein das Wollen erklärt. Tatsächlich gibt es zwei Möglichkeiten, die Relation zwischen dem Angenehmsein und dem Wol192  |  Peter Stemmer 

len zu verstehen: sie kann eine Gründe-Relation oder eine kausale Relation sein. Im ersten Fall spricht das Angenehmsein dafür, das Angenehme zu wollen, im zweiten Fall folgt das Wollen dem Angenehmen automatisch; es ist ein fester kausaler Mechanismus, dass das Angenehme das Wollen auf sich zieht. Wenn man sich bewusst gemacht hat, dass die Warum-Relation diese beiden Varianten kennt, kann man auch entscheiden, welche tatsächlich vorliegt. Meines Erachtens handelt es sich um eine kausale Relation, nicht um eine normative Gründe-Relation. Das Wollen kann gar nicht anders als, auf das Angenehme zu gehen und das Unangenehme zu vermeiden. Hier findet keine Überlegung statt. Wir überlegen nicht, ob wir das Angenehme wollen sollten. Wir können uns gar nicht vorstellen, das Angenehme nicht zu wollen. Und wo keine Überlegung, da auch keine Gründe. Gründe sind, wie wir sahen, etwas in einer Überlegung. Es ist Teil unserer biologischen Ausstattung, dass das Wollen auf das Angenehme und Unangenehme geht. Diese Auffassung wird durch folgende Überlegungen weiter gestützt. Nehmen wir an, jemand leidet akut an starken, migräne­ artigen Kopfschmerzen. Dann ist es eine Automatik, dass er die Schmerzen nicht will, dass er sie loswerden will. Und es ist abwegig, an eine Überlegung zu denken, in der es darum geht, ob man diesen Schmerz wollen oder nicht wollen soll. Und es ist abwegig, an Gründe zu denken, die in dieser Überlegung dafür sprechen, die Schmerzen nicht zu wollen. Außerdem: Wenn jemand einen Grund hat, mit dem Training für den Marathon zu beginnen, kann es sein, dass er es – warum auch immer – dennoch nicht tut. Er verhält sich gegen den Grund, den er hat. Wenn jemand Migräne hat und dies ein Grund sein soll, die Schmerzen nicht zu wollen, müsste es ebenfalls möglich sein, dass sich die Person gegen den Grund verhält, den sie hat. Es müsste möglich sein, dass sie die Schmerzen nicht loswerden will. Das scheint tatsächlich aber nicht möglich zu sein. Wir können uns jemanden, der starke Kopfschmerzen hat und die Schmerzen nicht loswerden will, gar nicht vorstellen. Wir könnten ihn, wenn es ihn gäbe, gar nicht verstehen. Mit ihm, so würden wir annehmen, stimmt etwas nicht. Wir würden aber gewiss nicht denken, dass er nicht realisiert, dass er einen Grund hat, die Schmerzen nicht zu wollen. Zu Parfits On What Matters  |  193

Außerdem: Wenn jemand einen Grund hat, mit dem Training zu beginnen, kann man zu ihm sagen: Du solltest mit dem Training beginnen. Wenn jemand aber Schmerzen hat, wäre es bizarr, zu ihm zu sagen: Du solltest diese Schmerzen nicht wollen. Das wäre eine Bemerkung ohne jeden Sinn. Das zeigt, dass das NichtWollen der Schmerzen nicht in einem Kontext des Überlegens und des Gründe-Bezugs steht. Diese Argumente lassen, so meine ich, erkennen, dass die Tatsache, dass etwas angenehm oder unangenehm ist, obwohl sie uns etwas angeht, kein Grund für das intrinsische Wollen ist. Die Relation ist nicht normativ, sie ist kausal. Das menschliche Wollen geht seiner Natur nach auf das Angenehme und Unangenehme. Hume hat das Phänomen schon in dieser Weise beschrieben. Es ist, so sagt er, ein »original instinct«, der das Wollen auf das Angenehme und Unangenehme richtet.21 Deshalb ist es, wenn jemand das Angenehme will und das Unangenehme nicht will, sinnlos, nach einem Grund hierfür zu fragen. Wenn jemand etwas für seine Gesundheit tut, weil, krank zu sein, mit Schmerzen verbunden ist, ist die Frage, aus welchem Grund er keine Schmerzen haben will, verfehlt. Denn es gibt, so Hume, keinen Grund (»reason«), »why he hates pain.« Hier nach einem Grund zu fragen, ist »an absurdity«.22 Parfits Auffassung, hinter dem intrinsischen Wollen gebe es »hedonic reasons«, eben die Tatsache, dass einem das, was man will, angenehm ist, ist damit, so meine ich, widerlegt. Diese Gründe gibt es nicht. Das Wollen, das auf das Angenehme und Unangenehme geht, wird nicht durch Gründe gesteuert, diese Ausrichtung ist vielmehr genetisch fixiert. Die Gründe, die Parfit offeriert, sind erneut Gründe zu viel. Wir brauchen sie nicht, und wir beziehen uns nicht auf sie. Erneut zeigt sich, dass Parfits Konzeption Gründe und Überlegung dissoziiert und dass er den Begriff des Grundes damit aus dem Kontext löst, in dem er seine Funktion hat. Die Idee, dass es hinter dem intrinsischen Wollen Gründe für dieses Wollen gebe, kann, wie wir sehen, auf diese Weise nicht bestätigt werden. Meines Erachtens scheitert die Idee damit insgesamt. Die wollensunabhängigen Gründe hinter dem intrinsischen 21 Hume

22 Hume

1978, II, iii, 9, 438. 1975, app. I, 293.

194  |  Peter Stemmer 

Wollen sind eine Chimäre. Es gibt, wie es scheint, zwei Stämme des menschlichen Wollens: der eine Stamm geht, von der Natur festgelegt, auf konkrete Inhalte, zum Beispiel auf das Weiterleben, auf die Anerkennung und Akzeptanz durch andere, etc. Der andere Stamm geht generell auf das Angenehme und Unangenehme. Dabei ist nicht nur das, was die Menschen aktuell als angenehm oder unangenehm empfinden, der Gegenstand ihres Wollens, sie wollen auch das, was sie in der Zukunft als angenehm imaginieren. Und diese Imagination ist keineswegs nur reproduktiv, die Menschen können sich eine Vielzahl von Dingen als angenehm vorstellen, die sie zuvor noch nicht als angenehm erfahren haben, von denen sie eben nur imaginieren, dass sie so sein werden. In all diesen Fällen folgt das Wollen dem Angenehmen bzw. dem imaginierten Angenehmen. Beide Stämme des intrinsischen Wollens haben keine Gründe hinter sich, das intrinsische Wollen ist ein Wollen ohne Gründe. Wir haben dieses Wollen, aber nicht aus Gründen. Das heißt nicht, dass man das intrinsische Wollen nicht kritisieren kann. Man kann es aber nicht in der Weise kritisieren, dass man sagt, es gebe keinen Grund für dieses Wollen. Diese Überlegungen enthalten auch eine Antwort auf Parfits »Agony-Argument« gegen eine subjektivistische Konzeption von Gründen (vgl. OWM I, 73–82). Eine »agony« ist ein Zustand starker Schmerzen oder intensiven Leidens. Parfit stellt sich eine Person vor, die von einem eigenen zukünftigen Leid weiß, aber nicht den Wunsch hat, es zu vermeiden. Und er meint, die Person habe einen Grund, das Leid vermeiden zu wollen. Der Grund liege eben darin, dass der zukünftige Zustand sehr unangenehm sein wird. Die Subjektivisten könnten hingegen nicht annehmen, dass es diesen – wollensunabhängigen – Grund fürs Wollen gebe. Und das sei unplausibel. Auch hier gilt, so meine ich, dass die Person, die von dem zukünftigen Leid weiß und es als unangenehm imaginiert, gar nicht anders kann als, es nicht zu wollen. Das ist ein fester kausaler Mechanismus. Das Wollen folgt dem imaginierten Angenehmen und Unangenehmen. Das Beispiel ist also unrealistisch, weil eine Person, die ein zukünftiges, sicher zu erwartendes Leid imaginiert, es automatisch nicht will. Hier findet keine Überlegung statt, und deshalb bedarf es auch keiner Gründe. Welche Kraft dieses Wollen Zu Parfits On What Matters  |  195

dann in der Konkurrenz mit anderen Wünschen hat, die vielleicht auf zeitlich Näherliegendes gerichtet sind, steht auf einem anderen Blatt. Parfit ergänzt sein Argument durch eine weitere Überlegung: Selbst wenn es unrealistisch sein sollte, dass eine Person ein zukünftiges Leid imaginiert und es dennoch nicht vermeiden will, könnte man sich eine andere Welt denken, in der es so ist. Und dann müsste man sagen, dass die Person einen Grund hat, das zukünftige Leid vermeiden zu wollen (vgl. OWM I, 76 f.). Diese andere mögliche Welt wäre aber eine Welt, von der wir gar nicht wissen, wie sie funktioniert und wie die Wesen, die in ihr leben, funktionieren. In unserer Welt ist es gerade die Funktion des Angenehmen und Unangenehmen, das Wollen auf sich zu ziehen. Das ist, wie gesagt, ein fester Mechanismus. In jener anderen Welt wäre das aber gerade anders. Wie immer diese Welt beschaffen sein mag, es scheint mir nicht hilfreich zu sein, sich eine andere, uns unbekannte Welt auszudenken und damit Intuitionen zu mobilisieren, die dann doch für das Verständnis unserer Welt von Bedeutung sein sollen. Das hat, so meine ich, kein argumentatives Gewicht.

X. Parfit nimmt nicht nur an, die Tatsache, dass etwas angenehm ist, liefere dem, dem es angenehm ist, einen Grund für ein intrinsisches Wollen. Es gibt, so meint er, noch andere Gründe für ein solches Wollen. So seien die Schmerzen eines anderen nicht nur für ihn ein Grund, sie nicht zu wollen, sie seien auch für mich und für alle anderen ein Grund, sie nicht zu wollen und sich darum zu kümmern: […] most of us rightly believe that we have some reason to want any stranger’s pain to be relieved. (OWM I, 137)23

Miteinzubeziehen sind, so Parfit, auch die Schmerzen der Tiere.24 Wir haben einen Grund, auch sie nicht zu wollen. Und nicht nur die Schmerzen, jedes Leiden eines anderen ist nicht nur für ihn, 23 Vgl. 24 Vgl.

auch OWM I, 372. OWM I, 41; 138; OWM II, 215; 443.

196  |  Peter Stemmer 

sondern auch für mich und für alle ein Grund, es nicht zu wollen (vgl. OWM II, 565). Ins Positive gewendet ergibt sich dann: Jeder hat einen Grund, das Glück jedes anderen zu wollen: And we all have reasons to want everyone’s life to go well. (OWM I, 372)

Und: We also have some reasons […] to care about everyone’s well-being. (OWM I, 40)

Und auch neben Glück und Elend gibt es noch andere Dinge, die uns Gründe geben, sie zu wollen oder nicht zu wollen. So ist, dass es auch in Zukunft Menschen geben wird, etwas, das zu wollen wir einen Grund haben.25 Ich hatte gesagt, es könnten nur solche Tatsachen Gründe sein, die uns etwas angehen, die für uns von Belang sind. Und ich hatte auch gesagt, dass etwas für einen anderen von Belang ist, bedeute nicht, dass es auch für mich von Belang ist. Nun sind die Schmerzen eines anderen ihm unangenehm, und deshalb sind sie für ihn von Belang. Aber sie sind nicht für mich unangenehm. Es sind seine Schmerzen, nicht meine. Wodurch sind sie dann für mich von Belang? Wodurch können sie für mich Gründe sein, etwas zu wollen oder etwas zu tun? Parfit sagt, Schmerzen – und Leiden insgesamt – seien etwas Schlechtes nicht nur für den, der leidet, sondern überhaupt. Schmerzen und Leiden seien »impersonally bad«.26 Aber das führt nicht weiter. Heißt es, so wie er Schlechtsein versteht, doch nur, dass das Unangenehmsein der Schmerzen ein Grund ist, die Schmerzen nicht zu wollen, und zwar ein Grund nicht nur für den, der die Schmerzen hat, sondern für alle (vgl. OWM I, 371). Deshalb, nochmal: Wodurch geht mich die Tatsache, dass ein anderer Schmerzen hat, an? Auch hier bedarf es, so meine ich, eines subjektiven Elements, durch das die Schmerzen eines anderen erst für mich bedeutsam und von Belang werden. Es bedarf eines hinzukommenden, subjektiven Elements auf Seiten dessen, für den 25 Vgl.

26 Vgl.

OWM II, 620. Siehe auch OWM III, 190. OWM I, 372; OWM II, 461, 565. Zu Parfits On What Matters  |  197

die Schmerzen eines anderen ein Grund sein sollen, etwas zu wollen und etwas zu tun. Parfit lehnt die Notwendigkeit eines solchen hinzukommenden subjektiven Elements jedoch ab. Die Schmerzen eines anderen sind allein aufgrund ihrer Eigenschaften, sprich: ihres Unangenehmseins ein Grund. Aber wodurch gehen mich dann die Schmerzen eines anderen an? Wenn man davon absieht, dass ich sie vielleicht nicht will, dass ich affektiv negativ auf sie reagiere, dass sie auch mir selbst, wenn auch auf andere Weise, unangenehm sind. Wenn man alle diese subjektiven Elemente beiseite lässt, wie es Parfit tut, wodurch geht mich dann die Tatsache, dass ein anderer Schmerzen hat, etwas an? Wodurch kann sie dann ein Grund für mich sein? Das bleibt bei Parfit offen. Gewiss, er würde sagen, dass uns die Schmerzen eines anderen angehen, weil sie unangenehm sind. Aber das ist keine überzeugende Antwort. Denn sie lässt offen, wodurch die Schmerzen mich angehen, wenn sie nicht mir, sondern einem anderen unangenehm sind, weil es seine, aber nicht meine Schmerzen sind. Tatsächlich geht uns überhaupt nichts durch sich selbst oder, wie Parfit wiederholt sagt, durch »seine Natur« an.27 Alles Uns-Angehen kommt in dem Sinne aus uns selbst, dass es subjektive Einstellungen oder subjektive Empfindungen voraussetzt. Die Schmerzen eines anderen gehen uns an, weil wir sie nicht wollen, weil sie uns affektiv negativ berühren oder weil sie uns in einer bestimmten Weise – vermutlich wollensabhängig – unangenehm sind. – Es sei auch daran erinnert, dass Tatsachen uns nicht dadurch angehen, dass sie Gründe sind, sie müssen uns unabhängig davon angehen, nur dann können sie Gründe sein.

XI. Parfits Beharren darauf, dass die Schmerzen und das Leiden eines anderen für jeden ein Grund sind, etwas zu wollen, und zwar ohne das Hinzukommen eines zusätzlichen, subjektiven Elements, könnte wie ein bloßes foot-stomping wirken: Es ist einfach so! Es ist offensichtlich wahr, dass es so ist! Wenn es das nicht sein soll, 27 Vgl.

OWM I, 57; 81; 84; OWM II, 411; 529.

198  |  Peter Stemmer 

muss man die grundsätzliche Frage stellen, woher man weiß, dass bestimmte Tatsachen Gründe sind und andere nicht. Woher weiß Parfit, dass die natürlichen Tatsachen, von denen er sagt, sie seien Gründe fürs Wollen, Gründe sind? Woher weiß er, dass gerade diese Tatsachen Gründe sind und keine anderen? Und wie entscheidet man einen Dissens, in dem die einen sagen, dass diese Tatsachen Gründe sind, und andere das bestreiten? Ist die Tatsache, dass es in seiner Familie eine Tradition gibt, zur Armee zu gehen, für Owen Wingrave ein Grund, dies ebenfalls zu tun? Einige meinen, ja, andere, nein. Wie entscheidet man einen solchen Dissens? Parfit stellt diese Fragen, und damit beginnt eine ausgreifende metaethische Untersuchung, die sich eingehend epistemologischen und ontologischen Fragen widmet. Seine zentrale These, die dann allem Weiteren zugrunde liegt, ist hier, dass es zwar natürliche Tatsachen sind, die Gründe sind, dass aber, dass diese natürlichen Tatsachen Gründe sind, keine natürliche, sondern eine nicht-natür­ liche Tatsache ist.28 Die Eigenschaft, ein Grund zu sein, ist, so Parfit, eine nicht-natürliche, nicht auf natürliche Eigenschaften reduzible normative Eigenschaft.29 Parfit kommt also – in einem zweiten Schritt – doch zur Annahme nicht-natürlicher Eigenschaften und nicht-natürlicher Tatsachen. Und damit öffnet sich ein ganzes Spektrum weiterer Fragen: Was sind das für Tatsachen? Ist die Annahme, dass es so etwas gibt, mit einem wissenschaftlich informierten, auf höhere Wahrheiten verzichtenden Weltverständnis vereinbar? Wie kann man erkennen, dass eine solche nicht-natürliche Tatsache besteht? Was macht Aussagen darüber wahr? Parfit entwickelt, um diese Fragen zu beantworten, im Anschluss an Sidgwick und Scan­ lon eine Variante des Intuitionismus. Aufgrund von nicht weiter hintergehbaren Intuitionen wissen wir, dass bestimmte Tatsachen Gründe für unser intrinsisches Wollen sind. Diese Konzeption wird, so meint Parfit, durch Befunde über die Art mathematischer Erkenntnisse plausibiliert. Ich kann auf diesen Teil der Theorie nicht mehr eingehen und muss mich mit einem generellen Kommentar begnügen. Meines Erachtens schlägt Parfit hier einen falschen Weg ein. Der entschei28 Vgl. 29 Vgl.

OWM II, 279 f., 307, 310, 324, 364, 517 f. OWM II, 328–356, 486. Zu Parfits On What Matters  |  199

dende Fehler am Anfang liegt in der Idee einer nicht-natürlichen Tatsache. Daraus ergibt sich erst ein großer Teil der metaethischen Probleme, aus denen dann ausgerechnet die selbst so dunkle und tatsächlich ganz anders gelagerte Epistemologie und Ontologie der Mathematik heraushelfen soll. Ich lasse offen, ob eine objektivistische Theorie der Gründe diesen Weg gehen muss. Jedenfalls findet sich die Verbindung von Objektivismus, Non-Naturalismus und Intuitionismus nicht nur bei Parfit, sondern auch bei vielen anderen Philosophen. Die Frage, woher man weiß, welche natürlichen Tatsachen Gründe sind, ist in jedem Fall richtig. Wie kann man einen Dissens darüber, ob bestimmte Tatsachen Gründe sind, entscheiden? Nicht durch eine wie immer geartete Intuition, deren Gegenstand eine nicht-natürliche Tatsache ist. Aber wie dann? Ein Dissens darüber, ob etwas unter einen Begriff fällt, darum geht es in Wahrheit, kann, wie Platon immer wieder demonstriert hat, aus zwei verschiedenen Quellen kommen: aus einem Dissens darüber, wie der fragliche Gegenstand beschaffen ist, oder aus einem Dissens über den Inhalt des Begriffs. Ein einfaches Beispiel kann das verdeutlichen. Der Dissens darüber, ob eine Hose kariert ist, kann seinen Grund darin haben, dass man nicht genug über die Hose und darüber, wie sie gemustert ist, weiß oder verschiedener Meinung darüber ist. War die bunte Hose, die ein Gast auf der Party trug, kariert oder nicht? Wenn die Hose hingegen vor einem liegt und keine Meinungsverschiedenheit darüber möglich ist, wie sie gemustert ist, aber dennoch ein Dissens darüber besteht, ob sie kariert ist, muss man sich umwenden, weg von der Hose, hin zu dem Begriff und fragen, was man unter Kariert-Sein versteht. Offenbar gibt es einen Dissens darüber, wie dieser Begriff bestimmt ist oder bestimmt sein sollte. Das erste ist, so könnte man sagen, ein faktischer Dissens, das zweite ein begrifflicher Dissens. Genauso scheint es im Falle eines Dissenses darüber, ob bestimmte Tatsachen Gründe sind, zu sein. Eine Quelle des Dissenses kann ein Dissens darüber sein, welche Eigenschaften die fraglichen Tatsachen haben. Wie sind sie beschaffen? Das ist der faktische Dissens. Wenn man hingegen in dieser Hinsicht einig ist, aber dennoch uneinig darüber, ob die Tatsachen Gründe sind, muss man sich erneut umwenden, weg von den Tatsachen, hin zu dem Begriff des 200  |  Peter Stemmer 

Grundes. Man muss dann explizit machen, was es heißt, ein Grund zu sein. Was sind die definitorischen Elemente, die einen Grund ausmachen oder ausmachen sollten? Dies wäre dann der begriff­ liche Dissens. Ein gutes Beispiel ist die Eigenschaft, die in den zurückliegenden Überlegungen besonders wichtig war: die Eigenschaft des MichAngehens, des Für-mich-von-Bedeutung-Seins. Ein Grund ist etwas, das mich angeht. Darüber gibt es, so scheint es, keinen Dissens. Folglich können nur Tatsachen Gründe sein, die uns etwas angehen. Und die entscheidende Frage ist dann, welche Tatsachen diese Eigenschaft haben und wodurch sie sie haben. So kann man auch die anderen definitorischen Elemente eines Grundes durchgehen: dass ein Grund für etwas spricht, dass ein Grund ein motivationales Potential hat, dass er ein Müssen konstituiert, dass er ein Gewicht hat. Hinsichtlich jedes dieser Elemente kann man fragen, ob bestimmte Tatsachen von der Art sind, dass sie diese Leistungen zu erbringen vermögen. Der begriffliche Dissens beträfe hingegen die Frage, welche Elemente eigentlich für einen Grund essentiell sind. Sind es die genannten Elemente? Oder kommen noch andere hinzu? Wir haben gesehen, dass es in der Diskussion über Gründe auch Meinungsverschiedenheiten dieser Art gibt. Aber sie scheinen mir im Dialog mit Parfit nicht vordringlich zu sein. Ich glaube, wie gesagt, nicht, dass Parfit Recht hat, wenn er meint, Mackie, Williams und andere sprächen in einem anderen Sinn von Gründen. Deshalb ist es vorrangig, die faktischen Dissense zu klären. Sie betreffen die Frage, welche Tatsachen die Eigenschaften haben, die allgemein als für einen Grund wesentlich anerkannt werden. Welche Tatsachen gehen uns etwas an? Welche Tatsachen haben ein motivationales Potential? Welche Tatsachen enthalten ein Element des Mehr oder Weniger, so dass sie – stärkere oder schwächere – Gründe sein können? Das sind die konkreten Fragen, die untersucht werden müssen. Parfit geht diesen Weg nicht. Er sagt uns nicht, wieso uns die Tatsachen, von denen er glaubt, sie seien wollens- und insgesamt subjektunab­ hängige Gründe, angehen. Er sagt uns nicht, wodurch die Tatsachen, die er für Gründe hält, für etwas sprechen. Er sagt uns nicht, wodurch sie ein motivationales Potential haben. Eine ganz und gar mysteriös bleibende Intuition, in der uns aufgeht, dass bestimmte Zu Parfits On What Matters  |  201

natürliche Tatsachen die nicht-natürliche Eigenschaft, ein Grund zu sein, haben, wird uns nicht helfen.

XII. Eine letzte Bemerkung: In Parfits Augen liegt es einfach fest, welche Tatsachen Gründe sind. Das Leiden eines anderen ist, das liegt ein für alle Mal und in jeder möglichen Welt fest,30 ein Grund für mich und andere, es nicht zu wollen. Es kommt darauf an, die nichtnatürliche Tatsache, dass es so ist, in einer Intuition zu erfassen. Es kommt also auf eine epistemische Leistung an. Man muss etwas Vorgegebenes entdecken. Und wenn man will, dass die Menschen durch diese Gründe zu einem entsprechenden Verhalten motiviert werden, muss man darauf hinwirken, dass sie in der Lage sind, diese epistemische Leistung zu erbringen. In einer Konzeption, die Gründe für wollensrelativ hält, liegt es hingegen nicht einfach fest, welche Gründe wir haben. Es hängt davon ab, was wir wollen. Wenn man will, dass die Menschen durch einen Grund dazu motiviert werden, das Leiden anderer zu verhindern, zu beseitigen oder zu mildern, muss man sich dafür engagieren, dass das Leiden anderer für sie etwas Negatives ist, also etwas, was sie nicht wollen. So dass sie dann – relativ auf dieses Wollen – Gründe haben, etwas dagegen zu tun. Es liegt, anders gesagt, nicht einfach fest, welche Gründe es gibt, man kann und muss vielmehr etwas dafür tun, dass es bestimmte Gründe gibt. Wenn wir wollen, dass die Welt sich zum Besseren verändert, müssen wir dafür eintreten, dass eine Kultur entsteht, in der es selbstverständlich ist, bestimmte Dinge zu wollen und andere nicht zu wollen. In der es zum Beispiel selbstverständlich ist, zu wollen, dass mit Unterschieden der Hautfarbe, der Religion oder des Herkommens nicht normative Ungleichheiten einhergehen, und in der, dies nicht zu wollen, als abstoßend empfunden und abgelehnt wird. Es gibt keine vorgegebenen Gründe, die einen nötigen, dies zu wollen. Und deshalb kommt es auf etwas ganz anderes an als auf eine bestimmte epistemische Leistung.

30 Vgl.

OWM I, 129; OWM II, 307.

202  |  Peter Stemmer 

Das menschliche Wollen ist, wie gesehen, zu einem Teil auf konkrete Inhalte fixiert, und es ist zu einem sehr viel größeren Teil auf das Angenehme und Unangenehme gerichtet. Aber darin, was wir uns als angenehm und unangenehm vorstellen und in der Folge wollen, bestehen erhebliche Spielräume. Und wie wir diese Spielräume ausfüllen, bestimmt ganz wesentlich darüber, welche Gründe wir haben. Es ergeben sich, das lässt diese knappe Notiz immerhin erkennen, aus den konkurrierenden Theorien über Gründe sehr verschiedene Sichtweisen des menschlichen Lebens und der Art des Engagements für eine bessere Welt.31

31 Die

hier vorgetragenen Überlegungen überlappen sich zum Teil mit meinem Aufsatz Stemmer 2013, 139–165. Zu Parfits On What Matters  |  203

Ulla Wessels

Warum das Vermeiden von Schmerzen zählt Wir sind Tiere, die normative Gründe verstehen und auf sie rea­ gieren können, sagt Derek Parfit. Normative Gründe, so meint er, ergeben sich aus Tatsachen, und praktische normative Gründe ergeben sich aus Tatsachen, die dafür oder dagegen sprechen, etwas zu tun.1 Doch welche Tatsachen tun so etwas? Theorien heißen subjektivistisch, wenn sie diese Frage dadurch beantworten, dass sie nur Tatsachen über unsere Wünsche namhaft machen, typischerweise über diejenigen unserer Wünsche, deren Gegenstände wir um ihrer selbst willen wünschen. Parfit nennt solche Wünsche telisch.2 Was die Gegenstände unserer telischen Wünsche auch sein mögen: Indem wir diese Wünsche hegen, und nur indem wir sie hegen, haben wir praktische normative Gründe. Praktische normative Gründe sind Gründe, das zu tun, was die Erfüllung unserer telischen Wünsche am besten befördert. Parfit möchte uns davon überzeugen, dass subjektivistische Theo­ rien falsch sind. Zu dem Zweck präsentiert er eine Reihe von Argumenten, darunter das Agony-Argument. Es besagt, dass wir uns Fälle vorstellen können, in denen wir gewisse praktische normative Gründe haben, subjektivistische Theorien aber leugnen, dass wir sie haben. Ich möchte das Agony-Argument kurz referieren und dann zeigen, warum es nicht überzeugt. Dabei spreche ich abkürzend schlicht von Gründen, die aber, wo nicht explizit von anderen die Rede ist, als praktische normative Gründe zu verstehen sind.

1 Das,

so räumt Parfit ein, besage allerdings noch nicht viel. Denn, dass Tatsachen dafür oder dagegen sprechen, etwas zu tun, heiße so viel wie: Aus ihnen ergeben sich praktische normative Gründe. Der Begriff des normativen Grundes sei fundamental und könne am Ende nur durch das, was wir über normative Gründe denken, erhellt werden (OWM I, 31). 2 Andere nennen sie intrinsisch.   |  205

1. Das Agony-Argument Betrachten wir folgenden Fall:

Ich weiß, dass ich zu einem zukünftigen Zeitpunkt tz , falls zu diesem Zeitpunkt ein bestimmtes Ereignis einträte, das ich jetzt noch verhindern kann, starke Schmerzen bekäme. Doch obwohl ich das weiß und ideal deliberiere, wünsche ich mir zum gegenwärtigen Zeitpunkt tg nicht, ich möge zu tz keine starken Schmerzen verspüren. Auch hege ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt tg keinen anderen Wunsch, der durch die starken Schmerzen zu tz oder dadurch, dass ich zu tg nicht wünsche, ich möge zu tz keine starken Schmerzen verspüren, unerfüllt bliebe. Offen lassen können wir weitgehend, was es heißt, dass ich ideal deliberiere. Wir müssen nur wissen, dass ich, wenn ich es tue, prozedural rational bin – was seinerseits einschließt, dass ich, gegeben meine telischen Wünsche, auch wünsche und zu tun beschließe, was die Erfüllung dieser Wünsche am besten befördert.3 So weit der Fall. Ich nenne ihn den Indifferenz-Fall, weil ich in ihm zum gegenwärtigen Zeitpunkt tg indifferent gegenüber den Schmerzen bin, die mir zum zukünftigen Zeitpunkt tz drohen. Das Ereignis, von dem die Rede ist, nenne ich das quälende Ereignis. Die Frage ist nun: Habe ich einen Grund, das quälende Ereignis zu verhindern? Parfit glaubt, dass subjektivistische Theorien, weil sie mir keinen Grund geben zu wünschen, ich möge zu tz keine starken Schmerzen verspüren, die Frage verneinen. Tatsächlich habe ich aber einen Grund, das quälende Ereignis zu verhindern. Und deshalb, so schlussfolgert Parfit, seien subjektivistische Theorien falsch. Das ist das Agony-Argument, das Parfit, leicht verallgemeinernd, wie folgt formuliert (vgl. OWM I, 76 u. 81): (P1) Wir haben einen Grund zu wünschen und auch darauf hinzuwirken, dass wir keine starken Schmerzen verspüren.4 3 Zu

dem zu betrachtenden Fall (den ich der Diskussion zuliebe etwas genauer beschreibe, als Parfit selbst es tut) siehe OWM I, 73 f.; und zu der Frage, was es des Näheren heißt, dass ich ideal deliberiere und dass ich prozedural rational bin, siehe OWM I, 61–63. 4 Mutmaßlich hängt der Grund, darauf hinzuwirken, von der Möglich206  |  Ulla Wessels 

   (P2) Subjektivistische Theorien implizieren, dass wir einen solchen Grund nicht haben. Ergo:  (K1)  Subjektivistische Theorien sind falsch. Das Agony-Argument fußt auf der Annahme, dass der IndifferenzFall möglich ist. Doch ist er das? In einem pflichte ich Parfit bei: Subjektivistische Theorien implizieren in der Tat, dass ich keinen Grund habe zu wünschen, ich möge zu tz keine starken Schmerzen verspüren. Allerdings brauche ich einen solchen Grund auch nicht. Denn auch ohne ihn implizieren subjektivistische Theorien, dass ich einen Grund habe, das quälende Ereignis zu verhindern – und zwar weil ich, wie ich in Abschnitt 3 zeigen möchte, schon zum gegenwärtigen Zeitpunkt tg gar nicht umhin kann zu wünschen, ich möge zu tz keine starken Schmerzen verspüren. Der Indifferenz-Fall, wie Parfit ihn skizziert, ist also nicht möglich.5 In Abschnitt 2 möchte ich allerdings zunächst einem anderen Gedanken nachgehen: Selbst wenn der Indifferenz-Fall möglich ist (selbst wenn ich also zum gegenwärtigen Zeitpunkt tg indifferent gegenüber den Schmerzen sein kann, die mir zum zukünftigen Zeitpunkt tz drohen): Zu dem zukeit dazu ab. Parfit lässt diese Einschränkung in der ersten Prämisse jedoch unerwähnt. 5 Dass der Indifferenz-Fall nicht möglich ist, zieht auch Parfit in Betracht – genauer gesagt: dass der Indifferenz-Fall nicht möglich ist, wenn ich rational bin, weil ich dann, gegeben, dass ich alle relevanten Tatsachen kenne, schon zum gegenwärtigen Zeitpunkt tg wünsche oder sogar wünschen muss, ich möge zu tz keine starken Schmerzen verspüren. Doch dafür, so Parfit (OWM I, 78), können subjektivistische Theorien nicht argumentieren, weil sie auf die These festgelegt sind, dass es »mit Ausnahme vielleicht von ein paar Wünschen, ohne die wir nicht einmal Handelnde sein könnten, keine telischen Wünsche gibt, die wir rationalerweise hegen müssen«.  Mein Versuch zu zeigen, dass der Indifferenz-Fall nicht möglich ist, wird jedoch anders ablaufen als der dergestalt von Parfit angedeutete und verworfene. Vielleicht sind, wie Parfit sagt, subjektivistische Theorien tatsächlich auf die These festgelegt, dass es so gut wie keine Wünsche gibt, die uns die Rationalität diktiert. Doch selbst wenn sie es sind (was z. B. Michael Smith in Smith 2009, Abschnitt 1, bezweifelt): Wenn der Wunsch, keine starken Schmerzen zu verspüren, tatsächlich einer der Wünsche ist, die ich mit begrifflicher Notwendigkeit hege (wofür ich in Abschnitt 3 argumentiere), können subjektivistische Theorien dennoch dafür argumentieren, dass der Indifferenz-Fall nicht möglich ist. (Dass ich den Wunsch mit begrifflicher Notwendigkeit hege, heißt nicht, dass ich einen Grund habe, ihn zu hegen; es heißt nur, dass ich es nicht vermeiden kann, ihn zu hegen.) Warum das Vermeiden von Schmerzen zählt  |  207

künftigen Zeitpunkt tz hätte ich den Wunsch, keine starken Schmerzen zu verspüren, und allein mit diesem Wunsch habe ich subjektivistischen Theorien zufolge einen Grund, das quälende Ereignis zu verhindern. Während Parfit selbst diesen Gedanken ausblendet,6 halt ich es für wert, ihn kurz zu verfolgen. 2.  Indifferenz und die Möglichkeit von Gründen Parfit selbst glaubt, dass ich im Indifferenz-Fall nicht schon insofern, als ich zu tz starke Schmerzen verspüren würde, einen Grund habe, das quälende Ereignis zu verhindern; er glaubt, dass ich einen solchen Grund erst insofern habe, als ich mich zu tz in einem komplexen Bewusstseinszustand aus starken Schmerzen und einer Abneigung gegen diese starken Schmerzen befände (vgl. OWM I, Abschnitt 6). Unter einer Abneigung versteht Parfit eine Art von »KontraEinstellung« gegenüber einer Empfindung – die wir wiederum als einen telischen Wunsch einer bestimmten Sorte verstehen können: als einen synchronen negativen telischen Wunsch, der eine Empfindung zum Gegenstand hat.7 Ein Wunsch soll im Folgenden synchron heißen, wenn die Zeitpunkte des Wünschens eine Teilmenge derjenigen Zeitpunkte bilden, über die sich der Gegenstand des Wunsches – im vorliegenden Fall also die Empfindung – erstreckt. Wir können dann, was Parfit sagt, so lesen: Ich habe erst insofern einen 6 Er

führt subjektivistische Theorien von Anfang an als Theorien ein, die sich nur »auf gegenwärtige Wünsche, Ziele oder Entscheidungen« stützen (OWM I, 58; Hervorhebung von mir). Später räumt er zwar ein, dass man sich auch subjektivistische Theorien vorstellen könne, nach denen »wir einen […] Grund haben, zu jeder Zeit das zu tun, was all unsere Wünsche in unserem Leben am besten erfüllt« oder sogar »was die Wünsche aller am besten erfüllt« (OWM I, 74 f.). Doch all diese Theorien seien radikal verschieden von denen, die er betrachtet. 7 Parfit selbst erklärt, er erhebe keine Einwände dagegen, Ab- und Zuneigungen als Wünsche einer bestimmten Sorte zu verstehen, solange wir nicht vergessen, »dass, gegeben die Unterschiede zwischen diesen Zuständen und unseren anderen Wünschen, wahre Behauptungen über diese Zustände möglicherweise nicht auf unsere anderen Wünsche zutreffen« (OWM I, 54). Zum Beispiel können wir, so Parfit, nicht jetzt eine Abneigung gegen Schmerzen haben, die wir erst in der Zukunft verspüren, während wir sehr wohl jetzt wünschen können, dass wir in der Zukunft keine Schmerzen verspüren. 208  |  Ulla Wessels 

Grund, das quälende Ereignis zu verhindern, als ich mich zu tz in einem komplexen Bewusstseinszustand befände, in einem komplexen Bewusstseinszustand nämlich aus starken Schmerzen und dem synchronen telischen Wunsch, keine starken Schmerzen zu verspüren. Ob ich, würde ich starke Schmerzen verspüren, überhaupt um­ hin könnte, mich in einem solchen Bewusstseinszustand zu befin­ den, können wir zunächst offen lassen.8 Wenn wir mit Parfit annehmen, dass ich es jedenfalls täte,9 stellt sich die Frage: Habe ich subjektivistischen Theorien zufolge nicht allein mit dem sychronen telischen Wunsch, keine starken Schmerzen zu verspüren, einen Grund, das quälende Ereignis zu verhindern? Die Antwort hängt davon ab, welche Form diese Theorien annehmen. Verschiedene subjektivistische Theorien können sich noch darin voneinander unterscheiden, dass sie von verschiedenen Klassen unserer telischen Wünsche sagen, telische Wünsche jener Klasse(n) gäben uns Gründe. Während einige dies nur von unseren gegenwärtigen telischen Wünschen sagen, sagen andere es von all unseren telischen Wünschen, also auch von denen, die wir in der Vergangenheit gehegt haben oder in der Zukunft hegen werden. Erstgenannte Theorien können wir präsentistisch nennen und letztgenannte allzeitlich. Gemäß präsentistischen Theorien habe ich insofern, als ich zu tz starke Schmerzen und mit diesen starken Schmerzen auch den synchronen telischen Wunsch hätte, keine starken Schmerzen zu verspüren, keinen Grund, das quälende Ereignis zu verhindern. Gemäß allzeitlichen Theorien habe ich hingegen einen solchen Grund. Dies spricht zunächst für allzeitliche Theorien.10 Allerdings spricht auch manches gegen sie. In Reasons and Person erzählt Parfit folgende Geschichte: 8 Diese

Frage wird uns in Abschnitt 3 dieses Aufsatzes beschäftigen. 9 Wie erläutert, glaubt Parfit ja selbst, dass ich erst insofern einen Grund habe, das quälende Ereignis zu verhindern, als ich mich in dem genannten komplexen Bewusstseinszustand befände. 10 Zu denen, die allzeitlichen Theorien anhängen, gehören Bricker 1980, Hare 1981, Abschnitt 5.6 (unter Zuhilfenahme einer Anforderung der Klugheit, die besagt, dass wir zu jedem Zeitpunkt den dominanten Wunsch hegen sollten, dass die Erfüllung all unserer synchronen Wünsche maximal ist), und Sidgwick 1981, Abschnitt 3.13.3. Doch auch andere Denker wie etwa Nagel 1970, Kap. 7 u. 8, und Rawls 1971, Abschnitt 45, plädieren dafür, praktische normative Gründe nicht allein in gegenwärtigen Wünschen zu verankern. Warum das Vermeiden von Schmerzen zählt  |  209

Angenommen, ich habe 50 Jahre lang nicht nur dafür gearbeitet, dass Venedig gerettet wird, sondern auch regelmäßig Geld für den Vene­digErhaltungs-Fonds gespendet. Während dieser 50 Jahre waren meine beiden stärksten Wünsche, dass Venedig gerettet wird und dass ich zu denen gehöre, die eben dafür gesorgt haben. Die Wünsche sind nicht nur bedingte [...]. Ich möchte, dass Venedig gerettet wird und dass ich zu denen gehöre, die eben dafür gesorgt haben, selbst wenn ich aufhöre, die Wünsche zu hegen. Angenommen des Weiteren, ich höre tatsächlich auf, die Wünsche zu hegen. Weil sich mein architektonischer Geschmack ändert, höre ich auf, mich um das Schicksal der Stadt zu scheren. Habe ich noch immer einen Grund, Geld für den Venedig-Erhaltungs-Fonds Geld zu spenden?11

Parfit glaubt, dass ich einen solchen Grund nicht habe, und wenn wir ihm zustimmen, dann müssen wir von allzeitlichen Theorien Abstand nehmen. Das treibt uns zwar noch nicht direkt in die Arme von präsentistischen Theorien. Wir könnten unser Glück mit Theo­ rien versuchen, die zwar von unseren gegenwärtigen und zukünftigen telischen Wünschen behaupten, dass sie uns Gründe ergeben, nicht aber von unseren vergangenen. Gemäß solchen Theorien habe ich im Indifferenz-Fall aufgrund meines zukünftigen Wunsches einen Grund, das quälende Ereignis zu verhindern; ich habe aber keinen Grund, auch nicht aufgrund meiner vergangenen Wünsche, weiterhin Geld für den Venedig-Erhaltungs-Fonds zu spenden. Nur wie sollen wir diese Theorien stark machen? Allzeitliche Theorien verdanken ihre Anziehungskraft der ZeitNeutralität: Was wir Grund haben zu tun, wird von unseren telischen Wünschen bestimmt, unabhängig davon, wann wir diese Wünsche hegen. In dem Augenblick, in dem wir einen Teil dieser Zeit-Neutralität aufgeben, bekommen wir, so Parfit, Schwierigkeiten, einen verbleibenden Teil zu rechtfertigen. Wenn uns die telischen Wünsche, die wir in der Vergangenheit gehegt haben, keine Gründe liefern, weil wir sie nicht mehr hegen, warum sollten uns dann die telischen Wünsche, die wir in der Zukunft hegen werden, Gründe liefern, obwohl wir sie noch nicht hegen? Christoph Fehige erzählt eine Geschichte, die die Venedig-Geschichte in die Zukunft spiegelt: 11 RaP,

Abschnitt 59.

210  |  Ulla Wessels 

Angenommen, ich könnte jetzt entscheiden, ob der Text von Hamlet der Nachwelt überliefert wird oder unwiederbringlich verschwindet. Ich hege den Wunsch, dass der Text erhalten bleibt, weiß aber, dass sich dieser Wunsch schon bald in sein Gegenteil verkehren wird: Ich werde dann und für den Rest meiner Tage den starken Wunsch hegen, dass der Text nicht mehr existiert.12

Habe ich einen Grund, dafür zu sorgen, dass der Text von Hamlet unwiederbringlich verschwindet? Wenn wir glauben, dass ich einen solchen Grund genauso wenig habe wie den Grund, weiterhin Geld für den Venedig-Erhaltungs-Fonds zu spenden, dann landen wir, so wir subjektivistischen Theorien treu bleiben wollen, tatsächlich bei präsentistischen Theorien: Nicht all unsere telischen Wünsche geben uns Gründe, das zu tun, was die Erfüllung dieser Wünsche am besten befördert – nur unsere gegenwärtigen tun es. Und gemäß präsentistischen Theorien habe ich insofern, als ich zu tz starke Schmerzen und mit diesen starken Schmerzen auch den synchronen telischen Wunsch hätte, keine starken Schmerzen zu verspüren, wie bereits erwähnt, keinen Grund, das quälende Ereignis zu verhindern. Wir können hier Für und Wider verschiedener subjektivistischer Theorien nicht ausloten. Wir können aber festhalten: Wenn subjektivistische Theorien nicht rein präsentistische Form annehmen, sondern zumindest auch von unseren zukünftigen telischen Wünschen behaupten, dass sie uns Gründe geben, dann habe ich allein mit dem synchronen telischen Wunsch einen Grund, das quälende Ereignis zu verhindern.

3.  Gründe und die Unmöglichkeit von Indifferenz Doch selbst wenn subjektivistische Theorien rein präsentistische Form annehmen: Einen Grund, das quälende Ereignis zu verhindern, habe ich auch dann noch. Er ergibt sich aus einem Umstand, den Parfit übersieht: Schon zum gegenwärtigen Zeitpunkt tg wünsche ich, ich möge zu tz keine starken Schmerzen verspüren – mehr noch, ich kann gar nicht umhin, dies zu wünschen. Der Indifferenz-Fall ist, anders als im vorigen Abschnitt angenommen, nicht möglich. 12 Fehige

2000, Abschnitt 5.5. Warum das Vermeiden von Schmerzen zählt  |  211

Gestützt wird diese These durch ein Argument, das Christoph Fehige in einem anderen Kontext entwickelt hat. Das Argument, Empathie a priori, zeigt allgemein: Wir wünschen, auch alle anderen mögen hedonisch glücklich sein – und das ist eine begriffliche Wahrheit. Für die Auseinandersetzung mit dem Agony-Argument benötigen wir nicht Empathie a priori selbst, sondern nur eine Abschwächung, die zeigt: Wir wünschen, wir selbst mögen hedonisch glücklich sein – und das ist eine begriffliche Wahrheit. Denn wenn das eine begriffliche Wahrheit ist, dann ist es auch eine begriffliche Wahrheit, dass wir wünschen, was Teil unseres hedonischen Glücks ist, dass wir nämlich keine starken Schmerzen verspüren.13 Die Abschwächung von Empathie a priori, die ich das AntiAgony-Argument nennen möchte, hat zwei Prämissen, die sich mit erheblichen Unschärfen14 so formulieren lassen: (P3) Wir sind zu tg hedonisch glücklich, wenn wir uns zu tg vollständig, lebhaft und korrekt vorstellt, dass wir zu tz hedonisch glücklich sind – und das ist eine begriffliche Wahrheit. (P4) Für beliebige Sachverhalte p gilt, dass wir zu tg wünschen, p möge der Fall sein, wenn wir, würden wir uns zu tg p vollständig, lebhaft und korrekt vorstellen, zu tg hedonisch glücklich wären – und das ist eine begriffliche Wahrheit. Aus den beiden Prämissen folgt die Konklusion: (K2) Wir wünschen uns zu tg, wir mögen zu tz hedonisch glücklich sein – und das ist eine begriffliche Wahrheit. Dass die Konklusion tatsächlich folgt, zeigt sich, wenn wir erstens in Prämisse (P4) für p »wir sind zu tz hedonisch glücklich« einsetzen … 13 Parfit

wird vielleicht den Einwand erheben, dass Teil des hedonischen Glücks nicht einfach sei, keine starken Schmerzen zu verspüren, sondern keine starken Schmerzen, gegen die wir eine Abneigung verspüren. Doch wenn die Abschwächung von Empathie a priori tatsächlich zeigt, was sie zeigen soll, dann zeigt sie auch, dass starke Schmerzen, gegen die wir keine Abneigung verspüren, hölzerne Eisen sind; es kann sie nicht geben. Der Einwand ist dann also hinfällig. 14 Zu einigen anstehenden Präzisierungen siehe Anmerkung 19. 212  |  Ulla Wessels 

(P4*) Wir wünschen uns zu tg, wir mögen zu tz hedonisch glücklich sein, wenn wir, würden wir uns zu tg vollständig, lebhaft und korrekt vorstellen, dass wir zu tz hedonisch glücklich sind, zu tg hedonisch glücklich wären – und das ist eine begriffliche Wahrheit. … und zweitens die logische Struktur des Anti-Agony-Arguments explizit machen: Es ist eine begriffliche Wahrheit, dass A; es ist eine begriffliche Wahrheit, dass, wenn A, dann B; also ist es eine begriffliche Wahrheit, dass B. Das Anti-Agony-Argument ist also gültig. Bevor wir es kaufen, sollten wir jedoch seine Prämissen prüfen.15 Beginnen wir mit Prämisse (P3). Warum können wir, wenn wir uns zu tg vorstellen, dass wir zu tz hedonisch glücklich sind, zu tg nicht zumindest unberührt bleiben oder sogar hedonisch unglücklich sein? Im relevanten Sinne können wir es deshalb nicht, weil allgemein ein Bewusstseinszustand Teil der Vorstellung seiner selbst ist, jedenfalls dann, wenn diese Vorstellung vollständig, lebhaft und korrekt sein soll.16 Eine vollständige, lebhafte und korrekte Vorstellung ist, was immer sie ansonsten sein mag, zumindest eine, bei der wir uns das Vorgestellte so anschaulich wie möglich vor Augen führen, also vergegenwärtigen und bewusst machen. Und das heißt für den Fall, dass das Vorgestellte einen Bewusstseins­ zustand umfasst, nichts anderes als: Wir heben den Zustand selbst ins Bewusstsein, und indem wir das tun, sind wir in ihm – oder zumindest in einem Bewusstseinszustand desselben phänomenalen Typs.17 Teil der vollständigen, lebhaften und korrekten Vorstellung, 15 Was

wir hier nicht in der Gründlichkeit tun können, in der Christoph Fehige selbst es getan hat. Wer es genauer wissen möchte, sei auf Fehige 2004 verwiesen – Prämisse (P3) betreffend vor allem auf Kapitel 3 und Prämisse (P4) betreffend vor allem auf Kapitel 4. 16 Was für die Vorstellung eines Bewusstseinszustandes gilt, gilt offenbar nicht für die Vorstellung aller Sachverhalte. Dass die Anzahl der Nadelbäume in Kanada ungerade ist, ist nicht Teil der Vorstellung (auch nicht der vollständigen, lebhaften und korrekten), dass die Anzahl der Nadelbäume in Kanada ungerade ist. Die Vorstellung eines Bewusstseinszustandes ist insofern ein Spezialfall. Für ihn gilt die oben genannte »Teil-von«-Beziehung, während sie allgemein nicht gilt. 17 Vielleicht können wir aus prinzipiellen individuationstheoretischen Gründen nicht zu verschiedenen Zeitpunkten in demselben Bewusstseins­ zustand sein; vielleicht sind wir, wenn wir zu einem Zeitpunkt in einem Warum das Vermeiden von Schmerzen zählt  |  213

eine Rotempfindung zu haben, ist die Rotempfindung, und Teil der vollständigen, lebhaften und korrekten Vorstellung, eine Schmerzempfindung zu haben, ist die Schmerzempfindung. Mit den Worten von Michael Tye: Für jeden phänomenalen Zustand S gilt, dass man, um ihn zu verstehen – um zu verstehen, wie er wesentlich und in sich selbst ist –, einen besonderen Standpunkt […] einnehmen muss, den nämlich, der sich daraus ergibt, dass man S selbst durchlebt.18

Wenn wir uns also zu tg vorstellen, und zwar vollständig, lebhaft und korrekt, dass wir zu tz hedonisch glücklich sind, dann ist zu tg zumindest ein Zustand desselben phänomenalen Typs in unserem Bewusstsein. Wir sind dann zu tg hedonisch glücklich; ja, wir können (solange wir uns vorstellen, dass wir zu tz hedonisch glücklich sind) gar nicht anders, als es zu sein. Und genau das ist es, was Prämisse (P3) behauptet.19 Bewusstseinszustand sind, der phänomenal von dem Bewusstseinszustand, in dem wir zu einem anderen Zeitpunkt sind, nicht unterschieden werden kann, dennoch allein aufgrund des Zeitunterschieds in zwei verschiedenen Bewusstseinszuständen. Die These, dass allgemein ein Bewusstseinszustand Teil der Vorstellung seiner selbst ist, wäre dann als eine These nicht über numerische Identität, sondern über Typidentität zu verstehen: Die Vorstellung eines Bewusstseinszustandes umfasst einen Bewusstseinszustand desselben phänomenalen Typs. 18 Tye 2000, Abschnitt 2.1; ähnlich dort Abschnitt 2.2. Auch andere teilen diese Art von Sicht. Zu Belegen dafür siehe Fehige 2004, Kap. 3, Abschnitt »Beginn des dritten Arguments für die Identitätsthese« – oder auch auf NidaRümelin 2009. 19 Dies ist vielleicht der geeignete Moment, eine Komplikation anzusprechen, die sich aus der dramatisch vereinfachten Formulierung des Anti-Agony-Arguments ergibt. Unsere Vorstellung, dass wir zu tz hedonisch glücklich sind, ist die Vorstellung eines ziemlich allgemeinen Sachverhalts; er umfasst nicht einen spezifischen Bewusstseinszustand, nicht eine Glücksempfindung im Besonderen. Aber es ist nur die Vorstellung, die einen spezifischen Bewusstseinszustand umfasst, für die die »Teil von«-Beziehung gilt. Deshalb müsste der Wenn-dann-Satz in Prämisse (P3) präziser so formuliert werden (siehe Fehige 2004, Kap. 3, Abschnitt »Von der Identitätsthese zur Repräsentationsprämisse« und »Kompositionalität und Kohabitation«): Wir befinden uns, wenn wir uns zu tg vollständig, lebhaft und korrekt vorstellen, dass wir zu tz in einem bestimmten angenehmen Bewusstseinszustand sind, zu tg in diesem angenehmen Bewusstseinszustand. Entsprechend müsste Prämisse (P4) verlangen, dass wir uns für beliebige Sachverhalte p zu tg wünschen, p möge 214  |  Ulla Wessels 

Wenden wir uns Prämisse (P4) zu. Prämisse (P4) nennt Bedingungen, die hinreichend dafür sind, dass wir uns etwas wünschen. Um ihren Geist besser zu verstehen, ersetzen wir sie versuchsweise kurz durch eine stärkere These, die die hinreichenden Bedingungen auch für notwendig erklärt: (*) Für beliebige Sachverhalte p gilt, dass wir zu tg dann und nur dann wünschen, p möge der Fall sein, wenn wir, würden wir uns zu tg p vollständig, lebhaft und korrekt vorstellen, zu tg hedonisch glücklich wären – und das ist eine begriffliche Wahrheit. Dass wir uns etwas wünschen, heißt gemäß These (*) in etwa: Die Vorstellung, das Gewünschte sei der Fall, würde uns erfreuen. Die Person, die wünscht, Milchschokolade zu essen, ist also die Person, die durch die Vorstellung, dass sie Milchschokolade isst, erder Fall sein, wenn wir uns, würden wir uns zu tg p vollständig, lebhaft und korrekt vorstellen, zu tg in einem angenehmen Bewusstseinszustand befänden. Und auch in der Konklusion (K2) hätte die Rede davon zu sein, dass wir uns zu tg wünschen, wir mögen uns zu tz in einem bestimmten angenehmen Bewusstseinszustand (nämlich in dem in Prämisse (P3) genannten) befinden.  Diese Präzisierungen gefährden das Anti-Agony-Argument jedoch nicht. Denn erstens kann die Konklusion (K2) so, wie sie formuliert ist (»wir wünschen zu tg, wir mögen zu tz hedonisch glücklich sein«), gewonnen werden, indem das Anti-Agony-Argument in seiner präzisierten Form (also in der Form, in der nur von einem bestimmten angenehmen Bewusstseinszustand die Rede ist) mehrfach, für jeden angenehmen Bewusstseinszustand einzeln, zur Anwendung gebracht und dann die Konklusion einer Anwendung mit den Konklusionen aller anderen zu (K2) verschweißt wird. Denn so, wie wir sicher eine Person, die jeden Verzehr von Zucker liebt, eine Zuckerliebhaberin nennen dürfen, dürfen wir sicher auch eine Person, die jeden einzelnen angenehmen Bewusstseinszustand wünscht, als eine Person bezeichnen, die ihr hedonisches Glück wünscht.  Zweitens können wir die Allgemeinheiten über hedonisches Glück und hedonisches Leid (und damit auch (K2) in ihrer auf diese Allgemeinheiten abhebenden Form) ohnehin beiseite lassen. Jeder starke Schmerz besteht aus bestimmten unangenehmen Bewusstseinszuständen. Das naheliegende negative Gegenstück zum Anti-Agony-Argument zeigt für jeden solchen zukünftigen Bewusstseinszustand, dass wir gegenwärtig den Wunsch haben, uns nicht in ihm zu befinden. Jeder solche Wunsch ist gegenwärtig ein Grund, den Bewusstseinszustand und damit den ihn involvierenden starken Schmerz zu vermeiden. Q. e. d. Warum das Vermeiden von Schmerzen zählt  |  215

freut würde. Um die erfreuende Vorstellung zu haben, muss die Person den Sachverhalt, dass sie Milchschokolade isst, erfassen; sie muss ihn sich vor Augen führen: vollständig, lebhaft und korrekt. Denn tut sie das nicht, ist ihre Freude keine Freude darüber, dass sie Milchschokolade isst, sondern eine Freude über etwas anderes – oder auch eine nicht-direktionale Freude. Allerdings muss die Person den Sachverhalt nicht tatsächlich erfassen, und sie muss auch nicht tatsächlich erfreut sein. Wir alle wünschen uns zu jedem Zeitpunkt vieles, das wir uns zu dem Zeitpunkt nicht vor Augen führen. Die Person, die, während sie sich vorstellt, Milchschokolade zu essen, erfreut ist, wünscht explizit, Milchschokolade zu essen. Sie wünscht es aber auch, wenngleich bloß implizit, wenn der korrespondierende kontrafaktische Konditionalsatz wahr ist: Würde sie sich vorstellen, Milchschokolade zu essen, wäre sie erfreut. Ihr Wunsch ist, so oder so, nicht nur ein hypothetischer, sondern ein aktualer. Er ist entweder ein expliziter aktualer Wunsch (die Person stellt sich tatsächlich vor, Milchschokolade zu essen, und sie ist tatsächlich erfreut) oder ein bloß impliziter aktualer Wunsch (die Person wäre erfreut, wenn sie sich vorstellen würde, Milchschokolade zu essen). Wünsche sind also gemäß These (*) Dispositionen. Genauer gesagt, sind sie Gefühlsdispositionen.20 Das versteht sich nicht von selbst, und auch Parfit verwendet das Wort »Wunsch« anders, nämlich in einem […] Sinne, der jeden Zustand des Motiviertseins umfasst oder des Wollens, dass etwas geschieht, und des in einem gewissen Grade Disponiertseins, es möglichst auch herbeizuführen. (OWM I, 43)21

Auch nach Parfit sind Wünsche also Dispositionen, allerdings Handlungsdispositionen. Ich stimme Parfit zu: Verstanden als Handlungsdispositionen haben Wünsche keine normative Kraft. Wir können disponiert sein, alles Mögliche herbeizuführen, z. B. 20 Zur genaueren Formulierung und Begründung von These (*) siehe Wes-

sels 2011, Kap. 3, und Fehige 2004, Kap. 4. 21 Parfit erwähnt dort aber zumindest, dass sich das Wort »Wunsch« häufig auch auf einen Zustand des Hingezogen-Seins zu etwas bezieht, etwa im Sinne von: den Gedanken daran ansprechend finden. 216  |  Ulla Wessels 

dass alle Radios in unserer Umgebung laufen oder sogar dass wir starke Schmerzen verspüren. Wenn wir dazu disponiert sind, dann erklärt das vielleicht, warum wir handeln, wie wir handeln – warum wir etwa jedes Radio, das wir ausgeschaltet finden, einschalten; oder warum wir ein quälendes Ereignis, statt es zu verhindern, herbeiführen.22 Es impliziert aber in der Tat nicht, dass wir auch Gründe haben, so zu handeln. Gründe haben wir nur, insofern und weil uns etwas am Herzen liegt, und was uns am Herzen liegt, muss uns ebenso wenig zum Handeln bewegen, wie uns, was uns zum Handeln bewegt, am Herzen liegen muss.23 Wünsche verstanden als Gefühlsdispositionen und Wünsche verstanden als Handlungsdispositionen sind zwei verschiedene Paar Schuhe, die zu verschiedenen Zwecken taugen. Wünsche verstanden als Handlungsdispositionen mögen in Theorien von so 22 Das

erste Beispiel stammt von Quinn 1993, 32. Das zweite Beispiel stammt von Parfit selbst und spielt eine Rolle in einem weiteren Argument, mit dem er subjektivistischen Theorien zu Leibe rückt, dem Alle-oder-keineArgument (OWM I, 81–91). Dieses Argument besagt: Entweder geben uns all unsere telischen Wünsche Gründe, etwas zu tun, was ihre Erfüllung am besten befördert, oder keiner unserer telischen Wünsche tut es. Wenn uns all unsere telischen Wünsche solche Gründe geben, dann auch unser Wunsch, starke Schmerzen zu haben. Dieser Wunsch gibt uns aber keinen solchen Grund. Folglich gibt uns keiner unserer telischen Wünsche einen Grund, etwas zu tun, was ihre Erfüllung am besten befördert. – Das Alle-oder-keineArgument überzeugt jedoch ebenso wenig wie das Agony-Argument. Wir müssen nicht von der Annahme abrücken, dass all unsere telischen Wünsche uns Gründe geben. Gewiss, der »Wunsch«, starke Schmerzen zu verspüren, gibt uns keinen Grund, aber er ist auch kein Wunsch. Einen solchen Wunsch kann es nicht geben. 23 Gemäß den sich hier abzeichnenden subjektivistischen Theorien gibt es also keine begriffliche Verbindung zwischen dem, was wir Gründe haben zu tun, und dem, was wir zu tun disponiert sind. Doch es ist auch nicht einzusehen, warum es eine solche Verbindung geben sollte. Gewiss, wir begreifen uns als Wesen, die aus Gründen handeln. Und manchmal sind wir wirklich solche Wesen; manchmal tun wir etwas, weil wir Gründe haben, es zu tun. Das ändert aber nichts daran, dass es keine begriffliche Verbindung gibt. Was wir Gründe haben zu tun, ist eine Sache; ganz andere Sachen sind, was wir zu tun motiviert sind, was wir tatsächlich tun und was die Ursachen für das eine und für das andere sind. Das Reich der Gründe ist ein Ideal, das wir, wie jedes Ideal, verfehlen können. Doch das Ideal wird, wenn wir es verfehlen, eben dadurch nicht ausgehöhlt. – Zu verwandten Überlegungen siehe Korsgaard 1986 und Schaber 1999. Warum das Vermeiden von Schmerzen zählt  |  217

genannten motivierenden Gründen eine gewichtige Rolle spielen, z. B. weil sie diesen Theorien vielleicht die größte explanatorische oder vorhersagende Kraft verleihen. In Theorien von normativen Gründen hingegen spielen sie keine gewichtige Rolle. Doch das bedeutet nicht, dass Wünsche in ihnen keine gewichtige Rolle spielen. Verstanden als Gefühlsdispositionen sind Wünsche in Theorien von normativen Gründen das A und O. Denn wenn sich nicht einmal aus der Tatsache, dass uns etwas am Herzen liegt, normative Gründe ergeben, woraus dann?24 Kehren wir von These (*) zurück zur schwächeren Prämisse (P4), die für das Anti-Agony-Argument stark genug ist. Aus der Konjunktion aus ihr und Prämisse (P3) folgt nämlich, dass wir zu tg wünschen, wir mögen zu tz hedonisch glücklich sein, und dass das eine begriffliche Wahrheit ist.25 Das hedonische Glück, das uns zu tg durch unsere Vorstellung, zu tz hedonisch glücklich zu sein, zuteil wird (siehe Prämisse (P3)), ist zugleich das hedonische Glück, das die Vorstellung zu dem aktualen tg-Wunsch macht, wir mögen zu tz hedonisch glücklich sein – und zwar unabhängig davon, ob wir uns zu tg tatsächlich vorstellen, dass wir zu tz glücklich sind, und unabhängig davon, ob wir zu tg tatsächlich hedonisch glücklich sind (siehe Prämisse (P4)). Dabei entspricht der Wunsch in seiner Stärke exakt der Intensität des hedonischen Glücks. Das ist der Witz des Anti-Agony-Arguments. Das Anti-Agony-Argument zeigt damit, was gezeigt werden sollte: Obwohl ich keinen Grund habe zu wünschen, ich möge zu tz keine starken Schmerzen verspüren, habe ich einen Grund, das quälende Ereignis zu verhindern, und zwar deshalb, weil ich schon zu tg wünsche, ich möge zu tz keine starken Schmerzen verspüren. 24 Mit

den Worten von Peter Stemmer 2008, 101: »Denkt man das Wollen weg, gibt es keine Gründe.« 25 Die Konklusion gilt auch für den Spezialfall, in dem der Zeitpunkt, zu dem wir wünschen, wir mögen zu einem Zeitpunkt t x hedonisch glücklich sein, mit tx identisch ist. Wir wünschen mithin zu jedem Zeitpunkt, wir mögen zu diesem und zu jedem anderen Zeitpunkt hedonisch glücklich sein – und das ist wiederum eine begriffliche Wahrheit. Und das ist auch der Grund, warum ich mich – vorausgesetzt, das quälende Ereignis wäre eingetreten – zu tz notwendigerweise in einem komplexen Bewusstseinszustand aus starken Schmerzen und einer Abneigung gegen diese starken Schmerzen befände (siehe Anmerkung 13). 218  |  Ulla Wessels 

Und weil ich das sogar mit begrifflicher Notwendigkeit tue, ist der Indifferenz-Fall nicht möglich. Zunächst ist der Grund nur einer, den ich habe. Wenn aber nicht nur das Anti-Agony-Argument überzeugt, sondern auch Empathie a priori, dann ist der Grund, den ich habe, sogar ein Grund, den Parfit als omnipersonal bezeichnet. Denn weil dann alle wünschen, ich möge zu tz keine starken Schmerzen verspüren, haben auch alle einen Grund, das quälende Ereignis zu verhindern, und dass ich keine starken Schmerzen verspüre, ist in diesem Sinne unpersönlich gut. Es ist nicht der Sinn, der Parfit vorschwebt: Alle haben einen Grund, meine Schmerzfreiheit »von einem unpersönlichen Standpunkt aus« zu wünschen.26 Doch einen solchen Grund braucht niemand (so wie auch niemand einen Grund braucht, seine eigene Schmerzfreiheit zu wünschen). Alle wünschen einfach, ich möge zu tz keine starken Schmerzen verspüren, und sie tun es sogar mit begrifflicher Notwendigkeit. Da ich jedoch für Empathie a priori nicht argumentiert habe, lassen wir für heute den transpersonalen Fall beiseite. Gezeigt wurde hier: Der Grund, das quälende Ereignis zu bemühen, ist einer, den mindestens ich selbst habe. Der Grund kann, muss aber nicht ausschlaggebend sein. Denn ich könnte andere, mindestens ebenso starke Gründe haben, das quälende Ereignis nicht zu verhindern. Zum Beispiel könnte es sein, dass ich, wenn ich das quälende Ereignis verhindere, zu einem noch späteren Zeitpunkt unausweichlich gleich starke oder stärkere Schmerzen bekäme. In dem Fall hätte ich, so keine weiteren Gründe im Spiel wären, einen Grund, das quälende Ereignis nicht zu verhindern, der mindestens so stark ist wie der Grund, es zu verhindern. Wenn ich hingegen keine Gründe habe, die mit meinem Grund, das quälende Ereignis zu verhindern, konfligieren, ist der Grund ausschlaggebend.

26 Der

Ausdruck »von einem unpersönlichen Standpunkt aus« soll in diesem Zusammenhang in etwa einfangen (OWM I, 40 f.): von einem Standpunkt aus, der allen meine Schmerzfreiheit so erscheinen lässt, als wäre sie die Schmerzfreiheit einer ihnen fremden Person. Warum das Vermeiden von Schmerzen zählt  |  219

4. Fazit Derek Parfit behauptet, dass der Indifferenz-Fall subjektivistische Theorien normativer praktischer Gründe als falsch entlarvt. Die Theorien, so meint er, seien auf die abwegige These festgelegt, dass ich im Indifferenz-Fall, weil ich gegenwärtig keinen Grund habe, meine zukünftige Schmerzfreiheit zu wünschen, auch keinen Grund habe, das quälende Ereignis zu verhindern. Doch Parfit irrt. Zum einen habe ich auch subjektivistischen Theorien zufolge einen Grund, das quälende Ereignis zu verhindern, wenn all meine telischen Wünsche, die vergangenen und zukünftigen ebenso wie die gegenwärtigen, mir gegenwärtige Gründe geben. Denn sobald ich starke Schmerzen verspüren würde, hätte ich einen entsprechenden telischen Wunsch – den synchronen telischen Wunsch nämlich, keine starken Schmerzen zu verspüren. Darauf habe ich in Abschnitt 2 hingewiesen. Zum anderen gilt selbst dann, wenn nur meine gegenwärtigen telischen Wünsche mir gegenwärtig Gründe geben: Einen Grund, das quälende Ereignis zu verhindern, habe ich subjektivistischen Theorien zufolge noch immer, zwar nicht im Indifferenz-Fall, aber in einem Fall, der dem Indifferenz-Fall so ähnlich ist, wie es ein solcher Fall sein kann, der noch möglich ist. Der Indifferenz-Fall selbst ist nicht möglich. Im relevanten Sinne von »Wunsch«, d. h. in dem affektiven Sinne, der sich für subjektivistische Theorien von normativen Handlungsgründen eignet, habe ich schon gegenwärtig den Wunsch, auch zukünftig keine starken Schmerzen zu verspüren – ja, ich kann gar nicht anders, als diesen Wunsch zu haben. Die Notwendigkeit des Wunsches folgt aus Überlegungen zur vollständigen Repräsentation von Schmerzen und der affektiven Natur von Wünschen. Der Grund und der Wunsch sind notwendigerweise da, auch wenn kein Grund für den Wunsch da ist.27 Das vor allem wollte ich zeigen, und ich habe es in Abschnitt 3 getan. 27 Dass

kein Grund für den Wunsch da ist, beanstandet Parfit. Er denkt, Theorien von normativen Gründen sollten uns diesen Grund geben. Ich hingegen denke, dass sie ihn uns nicht zu geben brauchen: Gegeben, dass der Wunsch nach Schmerzfreiheit notwendigerweise da ist, ist auch notwendigerweise ein Grund da, künftige Qualen zu vermeiden. – In privater Korre­ spondenz haben wir uns über unseren Dissens ausgetauscht, und auch wenn 220  |  Ulla Wessels 

Subjektivistische Theorien mögen noch immer falsch sein. Aber wenn sie falsch sind, dann nicht deshalb, weil das Agony-Argument überzeugt. Das tut es nicht, denn es fußt auf einer inkonsistenten Beschreibung eines »Falles«.

wir ihn nicht überwinden konnten, konnten wir am Ende doch konstatieren: In dem Maße, wie der Verdruss über subjektivistische Theorien daher rührt, dass die Theorien uns keine Gründe geben, künftige Qualen zu vermeiden, und mein Anti-Agony-Argument überzeugt, ist dieser Verdruss unbegründet. Warum das Vermeiden von Schmerzen zählt  |  221

Gerhard Ernst

Parfit über epistemische Rationalität Einleitung Derek Parfits zweibändiges Werk On What Matters (2011) handelt nicht speziell von epistemischer Rationalität. Dennoch geht es im ersten Band unter anderem ausführlich um Gründe; und was dort über Gründe gesagt wird, bezieht sich auf epistemische Gründe ebenso wie auf andere Arten von Gründen. Gründe, besser gesagt Gründeüberzeugungen, also Überzeugungen über gründegebende Tatsachen, sind ihrerseits nach Ansicht von Parfit wesentlich für unser Verständnis von Rationalität: We respond to decisive reasons when our awareness of the reasongiving facts leads us to believe, or want, or try to do what we have these reasons to believe, or want, or do. We are irrational, or less than fully rational, insofar as we fail to respond to decisive reasons in these ways. (OWM I, 111)

In OWM werden epistemische Gründe und epistemische Rationalität meistens nur am Rande diskutiert. Im Abschnitt 16 geht Parfit jedoch direkt auf epistemische Rationalität ein. Da ich mich vor allem auf eine zentrale Passage beziehe, möchte ich diese zunächst vollständig zitieren: We can next consider briefly another widely held view. On this view, what is distinctive of epistemic rationality is the aim of reaching true beliefs. We are epistemically rational, and are responding to epistemic reasons, when we act in the ways that we believe will best achieve this epistemic aim. Though this view cannot be claimed to be false, it is not, I believe, the best view. As well as distinguishing more clearly between epistemic and practical rationality, it would be better to draw this distinction in a different way, and in a different place. The deep distinction here isn’t between the aim of reaching true beliefs and other possible aims.   When we act in the ways that we believe would best achieve some rational aim, we are being practically rational, and we are responding   |  223

to practical reasons or apparent reasons, whatever this aim may be. The deep distinction is between the voluntary acts with which we respond to practical reasons, and our non-voluntary responses to epistemic reasons.   Trying to reach the truth is an activity, in which we engage for practical reasons. When we are doing mathematics, for example, we may have practical reasons to check some proof, or to redo some calculation in a different way, to confirm the results of some earlier calculation. While we are responding to these practical reasons, by acting in these ways, we shall also respond in non-voluntary and more immediate ways to many epistemic reasons. While we are checking some proof, for example, we respond to epistemic reasons whenever we come to believe, that, since something is true, something else must be true. Coming to have a particular belief is not a voluntary act. As I suggest in Appendix A, practical and epistemic reasons support answers to different questions, and cannot possibly conflict. (OWM I, 117–118)

In meinem Aufsatz geht es mir darum, Parfits Vorstellung von epistemischer Rationalität, wie er sie in OWM vorlegt, zu kritisieren. Ich glaube, um seine Formulierung aufzugreifen, dass seine Sichtweise nicht die beste Sichtweise ist. Man muss nicht nur klarer zwischen epistemischer und praktischer Rationalität unterscheiden. Man sollte die Unterscheidung auch anders und anderswo treffen – und das will ich im Folgenden tun. Ich entwickle meine Position dabei, indem ich den Überlegungen Parfits den Ansatz von John Broome, den dieser in seinem Buch Rationality Through Reasoning (2013) vorlegt, entgegenstelle. Es wird sich zeigen, dass ich einen Mittelweg zwischen diesen beiden Positionen einschlage. Überzeugungen und Absichten Wir sind nach Parfits Ansicht irrational, oder jedenfalls nicht vollständig rational, wenn wir nicht auf entscheidende Gründe (»decisive reasons«) reagieren (»respond«). Betrachten wir zunächst, was es heißt, auf einen Grund zu reagieren. Wenn wir reagieren, tun wir normalweise etwas. In diesem Sinne ist Reagieren etwas Aktives. Wenn ich beispielsweise gefragt werde, wie spät es ist, reagiere ich, indem ich die Frage beantworte. Das englische Wort »respond« 224  |  Gerhard Ernst 

wird häufig im Sinne von »antworten« verwendet. »Responding to a question« heißt so viel wie »auf eine Frage antworten«. Wir rea­ gieren nicht nur, indem wir Antworten geben. Wenn wir geschubst werden, schubsen wir zurück. Schubsen ist meine Reaktion auf das Geschubstwerden. Es gibt auch einen passiven Sinn von »reagieren«: Wir reagieren auf eine (medizinische) Behandlung – positiv oder negativ. Gesundwerden ist aber nichts, was wir aktiv tun. Es geschieht uns eher. Welche Art von Reaktion ist das Reagieren auf Gründe? Offensichtlich sollte man das Reagieren auf Gründe nicht nach dem Modell des Reagierens auf Medikamente verstehen. Medika­ mente verursachen bestimmte Reaktionen. Dass eine passende Über­ zeugung oder ein passender Wunsch von einem Grund verursacht wird, ist aber sicher nicht ausreichend dafür, nicht irrational zu sein. Rationalität muss in einer angemessenen Reaktion auf Gründe bestehen. Wäre die kausale Dimension die einzige, so hätte es keinen Sinn nach der Angemessenheit der Reaktion zu fragen. Im relevanten Sinn gibt es keine angemessene Reaktion auf ein Medikament. Folglich kann das Reagieren auf Gründe nicht einfach etwas sein, was uns geschieht; es kann nicht völlig passiv sein. Aber: »Coming to have a particular belief is not a voluntary act« (OWM  I, 118). Falls es niemals eine willentliche Handlung ist, wenn wir zu einer bestimmten Überzeugung kommen – und das scheint Parfit im Sinn zu haben –, dann kann es keine willentliche Handlung sein, wenn wir als Reaktion auf einen Grund zu einer bestimmten Überzeugung kommen. Handelt es sich also um eine nicht willent­liche Handlung? Für unsere Zwecke können wir annehmen, dass wir zwar aktiv sind, wenn wir auf Gründe reagieren, indem wir zu einer bestimmten Überzeugung kommen, aber nicht handeln. Wenn wir zu einer Überzeugung kommen, geschieht uns das in der Regel nicht einfach. Wir sind nicht rein passiv. Aber wir handeln auch nicht.1 Die grundlegende Unterscheidung zwischen praktischer und epistemischer Rationalität, so Parfit, ist die zwischen »the voluntary acts with which we respond to practical reasons, and our non1 Eine

genauere Diskussion der relevanten Aktiv-passiv-Unterscheidung findet man bei Raz 1999. Parfit über epistemische Rationalität  |  225

volun­tary responses to epistemic reasons« (OWM I, 118). Rationalität superveniert jedoch, wie Broome sagt, auf dem Geist: If your mind has the same intrinsic properties (apart from the property of rationality) in one situation as it has in another, then you are rational in one to the same degree as you are rational in the other. It seems to be a conceptual feature of rationality that it depends only on the mind. I take it for granted.2

Das betrachte ich ebenfalls als selbstverständlich. Und ich glaube, Parfit tut das auch, selbst wenn er manchmal etwas unvorsichtig in seinen Formulierungen ist. Wie wir schon gesehen haben, schreibt er: We respond to decisive reasons when our awareness of the reasongiving facts leads us to believe, or want, or try to do what we have these reasons to believe, or want, or do. We are irrational, or less than fully rational, insofar as we fail to respond to decisive reasons in these ways. (OWM I, 111; Hervorhebungen: GE)

Und etwas später: When we are ignorant, or have false beliefs, it may be rational for us to want, or do, what we have no reason to want, or do. We are then responding to what merely appear to be reasons. We ought rationally to respond to apparent reasons even if, because our beliefs are false, these reasons are not real. (OWM I, 111)

Dementsprechend müssen wir von den Gründen, wie sie jemandem erscheinen,3 und folglich von seinen Überzeugungen, die, wären sie wahr, echte Gründe geben würden4 oder, wenn sie wahr sind, tatsächlich geben, ausgehen und zusehen, ob diese zu entsprechenden Überzeugungen, Wünschen und Absichten5 (das »trying to do«) 2 Broome

2013, 89. wie sie jemandem erscheinen, können entweder scheinbare Gründe sein, die der Person nur echt erscheinen, oder echte Gründe, deren sich die Person bewusst ist. 4 Das ist Parfits Definition von »apparent reasons«: »If we have certain beliefs about the relevant, reason-giving facts, and what we believe would, if it were true, give us some reason, I am calling these beliefs whose truth would give us this reason. Such beliefs give us an apparent reason« (OWM I, 111). 5 Von »Absichten« spreche ich hier in einem weiten Sinn. Gemeint ist die mentale Einstellung, welche einer (versuchten) Handlung korrespondiert. 3 Gründe,

226  |  Gerhard Ernst 

führen, um entscheiden zu können, ob die Person rational ist oder nicht. Wie sollen wir folglich die These verstehen, dass die grund­ legende Unterscheidung zwischen praktischer und epistemischer Rationalität in der Unterscheidung besteht zwischen »the voluntary acts with which we respond to practical reasons, and our non-voluntary responses to epistemic reasons« (OWM I, 118)? Wir brauchen hier sozusagen eine »interne« Übersetzung: »Respond to practical reasons« und »responses to epistemic reasons« kann man leicht übersetzen: Wir reagieren auf Gründe, wenn uns die Gründe gebenden Tatsachen bewusst sind und so dazu bringen, zu glauben und zu beabsichtigen, was wir Grund haben, zu glauben und zu beabsichtigen. Aber was machen wir mit »the voluntary acts«? Da Rationalität auf dem Geist superveniert, können hier nur die internen Anteile unserer Handlungen, also unsere Absichten (in einem weiten Sinn verstanden) relevant sein. Dementsprechend gibt es zwei Interpretationen von »the voluntary acts«. Einerseits könnte Parfit einfach meinen, dass uns, wenn wir auf praktische Gründe reagieren, die uns bewussten, Gründe gebenden Tatsachen dazu bringen, zu beabsichtigen, was wir Grund haben zu beabsichtigen. »Voluntary« heißt hier ja »willentlich«, und wir betätigen unseren Willen gerade, indem wir uns entscheiden, also indem wir Absichten fassen.6 Die interne Übersetzung von »the voluntary acts« könnte somit einfach lauten »das Fassen von Absichten«. So gesehen, liefe Parfits grundlegende Unterscheidung auf die Beobachtung hinaus, dass es bei praktischer Rationalität um Absichten (in einem weiten Sinn verstanden) geht, bei epistemischer Rationalität nicht. Das stimmt, ist aber noch nicht sehr erhellend. Sollte Parfit andererseits darauf hinauswollen, dass es die Art und Weise ist, wie wir Absichten im Unterschied zu Überzeugungen erwerben, die für den Unterschied zwischen praktischer und epistemischer Rationalität entscheidend ist, müsste er das genauer erklären, als er es tut. Auf den ersten Blick gibt es hier nämlich vor allem Ähnlichkeiten:7 Das Fassen einer Absicht ist, ebenso wenig wie die 6

Wiederum ist »Absicht« hier in einem weiten Sinn zu verstehen. Gemeint sind auch Absichten, die unmittelbar zu Handlungen führen. 7 Parfit selbst weist an verschiedenen Stellen auf die Ähnlichkeiten zwischen der Ausbildung von Überzeugungen und der Ausbildung von WünParfit über epistemische Rationalität  |  227

Ausbildung einer Überzeugung, eine Handlung. Weder Absichten noch Überzeugungen sind, wie es scheint, noch einmal unter der Kontrolle von Absichten. Dass ich beabsichtige, etwas zu glauben, wird im Normalfall nicht dazu führen, dass ich etwas glaube. Analog dazu gilt: Dass ich beabsichtige, etwas zu beabsichtigen, wird im Normalfall nicht zu führen, dass ich etwas beabsichtige.8 Das heißt wiederum nicht, dass uns das Fassen von Absichten immer einfach zustößt. Das Fassen von Absichten kann genauso aktiv sein wie die Ausbildung von Überzeugungen. Ist aber die Ausbildung einer Überzeugung nicht immer »unmittelbarer«? Eine epistemisch rationale Person kommt, so möchte man meinen, nicht daran vorbei, unmittelbar zu sehen, dass q, wenn sie schon glaubt, dass p und dass q aus p folgt. Tatsächlich stellen wir manche Überlegungen spontan, ohne große Vorbereitungen, an. Aber das gilt auch im Bereich des praktischen Überlegens. Wenn ich beabsichtige, ein Haus zu betreten, und wenn ich glaube, dass ich das nur tun kann, indem ich die Tür öffne, dann beabsichtige ich unmittelbar, die Tür zu öffnen. Man fasst unmittelbar die Absicht, die Tür zu öffnen, sobald einem klar wird, dass man seine Absicht, das Haus zu betreten, nur verwirklichen kann, indem man die Tür öffnet. Das Fassen von Absichten ist häufig genauso unmittelbar wie der Erwerb von Überzeugungen. Andererseits ist es doch so, dass wir lange darüber nachdenken, was wir glauben sollen, wenn wir entsprechend komplexe epistemische Gründe haben. Man kann sagen, dass wir uns (manchmal mühsam) eine Meinung bilden. In ähnlicher Weise überlegen wir gelegentlich lange, was wir tun (und dementsprechend welche Absicht wir fassen) sollen. In beiden Fällen geht es also nicht immer besonders unmittelbar zu. Alles in allem gibt es große Ähnlichkeiten zwischen der Ausbildung von Absichten und Überzeugungen, jedenfalls auf den ersten Blick. Wenn also die grundlegende Unterscheidung zwischen prak­ tischer und epistemischer Rationalität einfach darin bestehen soll, schen hin (z. B. OWM I, 47 ff.; Appendix A passim). Er meint jedoch: »What we can choose is only which of our desires we adopt as aims, and try to fulfil« (OWM I, 49). Heißt das, dass wir unsere Absichten wählen können? 8 Und deshalb ist es fragwürdig, ob es entsprechende Absichten überhaupt geben kann, und klar, dass wir entsprechende Absichten normalerweise nicht fassen. 228  |  Gerhard Ernst 

dass es im einen Fall um Absichten geht, im anderen Fall nicht, ist das noch nicht sehr erhellend. Wenn andererseits die grund­legende Unterscheidung etwas mit der Art und Weise zu tun haben soll, in der wir Absichten und Überzeugungen ausbilden, müsste die Unterscheidung erst noch erklärt werden. Meines Erachtens ist es besser, an anderer Stelle nach dem grundlegenden Unterschied zwischen praktischer und epistemischer Rationalität zu suchen.

Zwei Arten von Rationalität Parfit und Broome haben komplementäre Vorstellungen von Ratio­ nalität. Parfit zufolge besteht sowohl epistemische als auch praktische Rationalität wesentlich darin, dass man korrekt auf Gründe, wie sie uns erscheinen, reagiert. Epistemische und praktische Rationalität ist damit noch nicht vollständig beschrieben, denn: »To be fully rational, we also need to meet certain requirements, such as requirements not to have contradictory intentions, and to intend to do what we believe that we ought to do« (OWM I, 113). Aber dieses Zitat geht so weiter: »I shall not discuss these requirements here.« Offensichtlich betrachtet Parfit »diese Anforderungen« nicht als zentral für die Natur von Rationalität. Was er als zentral für die Natur von Rationalität ansieht, worum es bei Rationalität letztlich geht, ist das korrekte Reagieren auf Gründe, wie sie uns erscheinen. Das gilt sowohl für epistemische als auch für praktische Rationalität. Während Parfit Rationalität als das korrekte Reagieren auf (schein­ bare) Gründe9 in den Mittelpunkt stellt und die Bedeutung »bestimmter Anforderungen« mehr oder weniger ignoriert, untersucht Broome gerade diese Anforderungen im Detail, wohingegen er die Bedeutung von Rationalität als korrektes Reagieren auf Gründe­ überzeugungen, das heißt »responding correctly to your beliefs about reasons, or to reasons you believe there to be, or to what you see as reasons, or something of that sort«10, herunterspielt. Er erkennt Rationalität als korrektes Reagieren auf Gründeüberzeugungen nur 9 Die

Formulierung »(scheinbare) Gründe« ist eine Abkürzung für »Gründe, wie sie uns erscheinen«. Vgl. auch Fußnote 2. 10 Broome 2013, 88. Parfit über epistemische Rationalität  |  229

in wenigen Ausnahmefällen an. Der wichtigste ist sicherlich seine Akzeptanz der »Enkratic Condition«, das heißt, vereinfacht gesagt, der Bedingung, dass wir, wenn wir rational sind, F beabsichtigen, wenn wir glauben, dass unsere Gründe F von uns verlangen.11 Das ergibt sich aus dem Prinzip, das er »Enkrasia« nennt, also, wiederum vereinfacht gesagt, aus dem Prinzip, dass Rationalität von uns verlangt zu beabsichtigen, was wir glauben tun zu sollen.12 Dieses Prinzip verteidigt er. Aber obwohl Broome auf diese Weise das auf (scheinbare) Gründe Reagieren in seine Konzeption von Rationalität aufnimmt, tut er das offenbar nur widerwillig: »Furthermore, the Enkratic Condition is not even a very central part of rationality. The centre of rationality is such things as avoiding contradictory beliefs and intentions«13. Und Prafit würde die Enkratic Condition, wie wir gesehen haben, sowieso als eine »bestimmte Anforderung« ansehen. Diese Bedingung zu erfüllen, ist gerade kein Fall von Reagieren auf (scheinbare) Gründe beziehungsweise auf P-Überzeugungen, wie Broome sie nennt, also »beliefs whose content is a proposition that would, if true, be a reason«14. Aber das ist, wie Parfit annimmt, gerade, worum es bei Rationalität wesentlich geht. Sehen wir zunächst einmal davon ab, dass Broome in sehr eingeschränkter Weise Rationalität als Reagieren auf P-Überzeugungen akzeptiert – darauf komme ich gleich zurück –, so kann man sagen, dass Parfit und Broome gerade komplementäre Vorstellungen von Rationalität haben: Rationalität als korrektes Reagieren auf (scheinbare) Gründe beziehungsweise P-Überzeugungen auf der einen Seite und Rationalität als das Erfüllen »gewisser Anforderungen« auf der anderen. Was ist dabei der gemeinsame Kern der »gewissen Anforderungen«? Ich glaube, man kann das »avoiding contradictions« im Sinne eines Vermeidens von Konflikten in unseren Dispositionen als gemeinsamen Nenner betrachten. Nehmen wir etwa Enkrasia: Die Überzeugung, dass man F tun sollte, ist identisch mit oder jedenfalls notwendigerweise verbun11 Broome

2013, 89. 90 und 170 ff. 13 Ebd., 90. 14 Ebd., 101. Auf eine P-Überzeugung zu reagieren heißt für Broome, dass man auf den Inhalt der P-Überzeugung reagiert. Deshalb sind P-Überzeugungen und (scheinbare) Gründe im vorliegenden Kontext äquivalent. 12 Ebd.,

230  |  Gerhard Ernst 

den mit einem Bündel von Dispositionen.15 Und das gilt auch für die Absicht, F zu tun. Jetzt ist es aber so, dass sich die Dispositionen, die mit der Überzeugung, dass man F tun sollte, und die Dispositionen, die mit der Absicht, F zu tun, verbunden sind, beträchtlich überschneiden. Deshalb gibt es einen Konflikt zwischen dem Haben der Dispositionen, die mit der Überzeugung, dass man F tun sollte, verbunden sind, und dem Nichthaben der mit der Absicht, F zu tun, verbundenen Dispositionen. Wenn jemand, der die Gelegenheit hat, F zu tun, F nicht tut, haben wir guten Grund anzunehmen, dass die Person nicht die Absicht hat, F zu tun. Aber auf der gleichen Grundlage haben wir auch Grund (wenngleich etwas weniger) zu der Annahme, dass die Person nicht glaubt, dass sie F tun sollte. Die Absicht, F zu tun, ist direkt mit der Disposition verbunden, F zu tun, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Aber das gilt auch für die Überzeugung, dass man F tun sollte. Ob eine Person F tut (wenn sie kann) oder nicht, ist darum ein Kriterium dafür, dass die Person die Absicht hat, F zu tun, und dafür, dass sie die Überzeugung hat, sie soll F tun.16 Wenn ich nicht die Absicht habe, F zu tun, obwohl ich glaube, dass ich F tun soll, gibt es folglich einen Konflikt in meinen Dispositionen. Sie passen sozusagen nicht zusammen. Die enge Verbindung zwischen den Dispositionen, die mit unseren Überzeugungen und Absichten verbunden sind, auf der einen Seite und Konsistenzanforderungen der Rationalität auf der anderen Seite ist der Grund dafür, warum es schon immer fragwürdig ist, ob die relevanten Arten von Irrationalität (Willensschwäche, Selbsttäuschung, widersprüchliche Überzeugungen und Absichten) überhaupt möglich sind. Wenn wir die Dispositionen haben, die mit der Überzeugung verbunden sind, dass unsere Gründe von uns verlangen, F zu tun, haben wir ipso facto einen wesentlichen Teil der Dispositionen, die mit der Absicht verbunden sind, F zu tun. Wenn wir die Dispositionen haben, die mit der Überzeugung verbunden sind, dass p, dann haben wir ipso facto einen wesentlichen Teil der 15 Vorsichtshalber

werde ich nur davon ausgehen, dass Überzeugungen und Absichten mit bestimmten Dispositionen verbunden sind. 16 Ein Kriterium, keine notwendige Bedingung! Wenn die Person F nicht tut (obwohl sie könnte), haben wir zwar notwendigerweise einen Grund anzunehmen, dass die Person nicht glaubt, sie soll F tun. Aber wir haben keinen zwingenden Grund. Sie könnte die Überzeugung also trotzdem haben. Parfit über epistemische Rationalität  |  231

Dispositionen, die mit der Überzeugung, dass non-p, verbunden sind, nicht usw. Wir sind im relevanten Sinn irrational, wenn es einen Konflikt in unseren Dispositionen gibt. Solche Konflikte sind möglich, und deshalb ist Irrationalität möglich. Aber vollständig irrational zu sein, das heißt eine mehr oder weniger zufällige Kombination von relevanten Dispositionen zu haben, unterminiert das Haben von Überzeugungen und Absichten überhaupt.17 Auf der Grundlage dieser Überlegungen passen Enkrasia und die Enkratic Condition gut zur »Widersprüche-vermeiden-Auffassung« von Rationalität. Broome zieht es zwar vor, die Besonderheit der Enkratic Condition zu betonen: »Indeed, the Enkratic Condition is in some ways so different from those central conditions that a case can be made for thinking it is not a condition of rationality at all«18. Meines Erachtens zählt er die Bedingung aber völlig zu Recht zu den zentralen Rationalitätsbedingungen. Im erklärten Sinn geht es auch bei der Enkratic Condition um das Vermeiden von Widersprüchen.19 Broome akzeptiert, wenn auch widerwillig, zwei Beispiele von Rationalität im Sinne von korrektem Reagieren auf P-Überzeugungen. Das erste Beispiel sieht so aus: Jemand glaubt, dass er ein rotes Licht sieht und reagiert auf diese Überzeugung, indem er auch glaubt, ein farbiges Licht zu sehen. […] plausibly you are responding correctly to your belief that you see a red light. Moreover, it is also plausible that, necessarily, if you are rational you respond correctly to this belief. Rationality entails responding correctly to it, that is to say. I do not assert this is true; only that it is plausible.20

Man kann meines Erachtens leicht sehen, warum Broome sich genötigt sieht, zu akzeptieren, dass Rationalität in diesem Fall das kor17 Ich

stelle die Beziehung zwischen Rationalität und unseren Überzeugungs- und Absichtsdispositionen detaillierter in Die Objektivität der Moral, Kapitel 3.3, dar. Broome 2013 diskutiert die Verbindung zwischen Rationalitätsanforderungen und Interpretierbarkeit auf S. 156–157. 18 Broome 2013, 90–91. 19 Broome scheint das letztlich ähnlich zu sehen. Er schreibt: »Enkrasia is a matter of internal coherence among your mental attitudes […]« (Broome 2013, 174). 20 Ebd., 102. 232  |  Gerhard Ernst 

rekte Reagieren auf eine P-Überzeugung verlangt: Weil das Nichtreagieren auf den relevanten Grund in diesem Fall das Haben der P-Überzeugung selbst partiell unterminieren würde. Wenn wir die Dispositionen haben, die mit der Überzeugung verbunden sind, ein rotes Licht zu sehen, haben wir ipso facto in (sehr) großem Umfang auch die Dispositionen, die mit der Überzeugung verbunden sind, ein farbiges Licht zu sehen, denn um überhaupt die Überzeugung haben zu können, dass wir ein rotes Licht sehen, müssen wir kompetent in Bezug auf den Begriff ROT sein. Und das schließt ein, dass wir wissen, dass Rot eine Farbe ist. Wenn wir darum nicht glauben, dass wir ein farbiges Licht sehen, ist es fast nicht mehr möglich, zu glauben, dass wir ein rotes Licht sehen. Obwohl wir das Beispiel also als einen Fall von korrektem Reagieren auf eine P-Überzeugung beschreiben können (was meines Erachtens der Grund dafür ist, dass Broome das Beispiel so widerwillig akzeptiert), können wir es auch als einen Fall von Widerspruchsvermeidung, und zwar im Sinne von »einen Konflikt in unseren Dispositionen vermeiden«, beschreiben (was erklärt, warum Broome sich dazu gezwungen sieht, das Beispiel letztlich zu akzeptieren). Dieselbe Interpretation könnte man für ein zweites Beispiel von Rationalität als korrektes Reagieren auf eine P-Überzeugung geben, das Broome anerkennt.21 Bei diesem Beispiel sind die Gründe für eine Handlung so offensichtlich, dass das Nichtreagieren auf sie mit einer entsprechenden Absicht wiederum teilweise das Haben der relevanten P-Überzeugung unterminieren würde. Für unsere Zwecke ist es nicht nötig, das Beispiel im Detail zu diskutieren. Die Fälle, die Broome (zähneknirschend) als Fälle von Rationali­ tät im Sinne des korrekten Reagierens auf P-Überzeugungen akzep­ tiert, sind in Wahrheit nur getarnte Fälle von Widerspruchsvermeidung. Der wirkliche Unterschied zwischen Parfit und Broome besteht darin, dass Parfit auch Fälle von Irrationalität akzeptiert, bei denen jemand nicht korrekt auf (scheinbare) Gründe reagiert und bei denen es keinerlei Konflikte in den relevanten Dispositionen gibt, das heißt, bei denen man nicht den Hauch eines Widerspruchs ausmachen kann. Er beschreibt den Fall von Scarlett:

21 Ebd.,

105–106. Parfit über epistemische Rationalität  |  233

On Scarlet’s view, we have reason to care about what will happen to us, except on any future Tuesday. Since tomorrow is a Tuesday, Scarlet believes that he [sic! Scarlet ist ein Mann, GE] has decisive reasons to prefer an hour of agony tomorrow to a minute of slight pain on any other day of the week. Scarlet has this preference, so he chooses to have the agony. (OWM I, 120)

Ist Scarlett irrational? Parfit schreibt: Scarlet avoids one kind of irrationality, since Scarlet’s preference matches his beliefs about reasons. But in failing to care about his future agony, Scarlet is failing to respond to a very clear and strong reason. And though his preference matches his normative belief, this belief is very irrational. It is crazy to believe that we have reasons to want to avoid agony except on any future Tuesday. These facts are enough, I believe, to make Scarlet’s preference irrational. (OWM I, 121)

Hier gibt es keinen Konflikt oder Widerspruch. Die Präferenz von Scarlet passt zu seiner normativen Überzeugung. Dennoch betrachtet Parfit Scarlet als irrational, weil er nicht korrekt auf einen (in diesem Fall echten) Grund reagiert. Broome dagegen meint: »We are not entitled to impugn your rationality just because you hold a bizarre normative theory«22. Solange es keinen Widerspruch (in dem erklärten weiten Sinn) gibt, sind wir rational. Ich bezeichne Rationalität im Sinn des Vermeidens von Wider­ sprüchen (was auch Rationalität im Sinne des Erfüllens von Enkrasia umfasst sowie die Fälle von Rationalität als das korrekte Reagieren auf P-Überzeugungen, die Broome akzeptiert) im Folgenden als K-Rationalität; und ich bezeichne Rationalität im Sinne des korrekten Reagierens auf (scheinbare) Gründe, wo es nicht um das Vermeiden von Widersprüchen geht, als R-Rationalität. Mit dieser Terminologie kann man sagen: Broome glaubt, dass Rationalität einfach identisch mit K-Rationalität ist, während Parfit glaubt, dass Rationalität sowohl R-Rationalität als auch K-Rationalität umfasst (wobei er kein besonderes Interesse an K-Rationalität hat). Ich glaube, dass Parfit recht hat, aber mein Ziel in diesem Aufsatz ist es nicht, Parfits generelle Auffassung von Rationalität zu verteidigen. Vielmehr geht es mir darum, seine Auffassung von epistemi22 Broome

2013, 105.

234  |  Gerhard Ernst 

scher Rationalität zu kritisieren. Deshalb werde ich nicht für die Existenz von R-Rationalität argumentieren, sondern gegen Parfits Sichtweise, dass R-Rationalität sowohl ein Teil von epistemischer als auch von praktischer Rationalität ist. Ist R-Rationalität ein Teil von epistemischer Rationalität? Nach Ansicht von Parfit reagiert eine epistemisch rationale Person korrekt auf ihre (scheinbaren) epistemischen Gründe. Eine Person ist epistemisch irrational, oder jedenfalls nicht vollständig rational, wenn sie nicht korrekt auf ihre (scheinbaren) epistemischen Gründe reagiert. Es gibt dabei zwei Möglichkeiten: Entweder reagiert die Person überhaupt nicht auf ihre (scheinbaren) Gründe oder sie reagiert, aber nicht korrekt. Zunächst möchte ich deutlich machen, dass man nicht epistemisch irrational oder nicht vollständig rational ist, wenn man überhaupt nicht auf einen (scheinbaren) epistemischen Grund reagiert. Man betrachte das folgende, schematische Beispiel: Ich bin fest davon überzeugt, dass p, und ich bin fest davon überzeugt, dass p logisch q impliziert. Dennoch glaube ich nicht, dass q. Ich habe einfach überhaupt keine Meinung in Bezug auf die Frage, ob es der Fall ist, dass q, oder nicht. Ich habe schlicht nicht (oder noch nicht) darüber nachgedacht. Bin ich deshalb irrational oder nicht vollständig rational? Nein. Offenbar verletzte ich nicht die allgemeine epistemische Rationalitätsanforderung, die besagt, dass man jede logische Implikation von dem, was man glaubt, ebenfalls glauben soll – denn eine solche Anforderung gibt es nicht. Es kann nicht einmal eine Forderung der Rationalität sein, dass man alle einfachen Schlüsse aus allem, was man glaubt, zieht. Schon das wäre eine viel zu große Überforderung. Es kann unmöglich unsere epistemische Pflicht sein, uns all die trivialen Implikationen zu überlegen, die sich aus den Überzeugungen ergeben, mit denen wir zufällig beginnen. Die Überzeugung, dass p und dass q aus p folgt, liefert einen perfekten (scheinbaren) epistemischen Grund für die Überzeugung, dass q.23 Aber die Rationalität verlangt nicht von uns, auf diesen 23 Ich

gehe hier davon aus, dass ich, indem ich glaube, dass p und dass q aus p folgt, nicht bereits eine K-Rationalitätsanforderung verletze. Parfit über epistemische Rationalität  |  235

(schein­baren) Grund zu reagieren. Das korrekte Reagieren auf einen (scheinbaren) Grund ist aktiv (egal, ob wir mit einer Überzeugung oder einer Absicht reagieren). Aber es ist uns ratio­nalerweise erlaubt, in Anbetracht eines (scheinbaren) epistemischen Grundes völlig passiv zu bleiben. Folglich kann epistemische Rationalität allein nicht von uns verlangen, auf einen (scheinbaren) epistemischen Grund zu reagieren. Wie wir gesehen haben, ist es manchmal so, dass das Nicht­rea­ gieren auf einen (scheinbaren) epistemischen Grund einen Konflikt in den relevanten Dispositionen zur Folge hätte. Broomes Beispiel, bei dem jemand glaubt, dass er ein farbiges Licht sieht, weil er glaubt, dass er ein rotes Licht sieht, ist so ein Fall. Wie ich erklärt habe, geht es hier letztlich um Rationalität im Sinne der Widerspruchsvermeidung. Die begriffliche Beziehung zwischen Rotsein und Farbigsein ist so offensichtlich, dass es einen Konflikt gibt zwischen den Dispositionen, die mit der Überzeugung verbunden sind, ein rotes Licht zu sehen, und der Abwesenheit der Dispositionen, die mit der Überzeugung verbunden sind, ein farbiges Licht zu sehen. Folglich ist das kein Fall von echter R-Rationalität. Man könnte meinen, dass nur wenig fehlt, damit epistemische Rationalität von uns verlangt, bestimmte Überzeugungen auszubilden. Parfit etwa schreibt: Given my beliefs that I am now smoking and that smoking protects my health, it would be in one way irrational for me, if I asked myself this question [Hervorhebung: GE], not to believe that I am now protecting my health. (OWM I, 115)24

Und Broome glaubt, dass allgemein Folgendes eine Rationalitäts­ anforderung ist: Modus Ponens Requirement. Rationality requires of N that, if N believes at t that p, and N believes at t that if p then q, and if N cares at t whether q, then N believes at t that q.25

Er macht dabei deutlich, dass »N cares whether q« in einem sehr schwachen Sinn zu lesen ist: »I include any sort of interest«.26 Benja24 Vielen

Dank an Derek Parfit für den Hinweis auf diese Stelle. 2013, 157. 26 Ebd., 159. 25 Broome

236  |  Gerhard Ernst 

min Kiesewetter benutzt die noch schwächere Formulierung »A attends to whether q« in einer ähnlichen These.27 Aber wiederum gilt, dass die Modus-ponens-Anforderung eine Anforderung der K-Rationalität ist (was Broome natürlich sowieso annimmt, aber Kiesewetter vermutlich nicht akzeptieren würde). Die Dispositionen, die mit der Überzeugung, dass p und dass q von p impliziert wird, verbunden sind, stehen in Konflikt mit der Abwesenheit der Dispositionen, die mit der Überzeugung, dass q, verbunden sind, wenn man sich der Frage, ob q, zuwendet, das heißt, wenn die Abwesenheit der Dispositionen nicht damit erklärt werden kann, dass man nicht (oder noch nicht) darüber nachgedacht hat, ob q. Wenn das Nichtreagieren auf einen (scheinbaren) epistemischen Grund nicht zu einem solchen Konflikt der relevanten Dispositionen führt, das heißt, wenn das Nichtreagieren auf einen (scheinbaren) epistemischen Grund nicht das Haben der relevanten P-Überzeugung unterminiert, verlangt die Rationalität dagegen nicht von uns zu reagieren, selbst wenn wir uns der entsprechende Frage zuwenden. Wenn ich beispielsweise glaube, dass p, und ich auch glaube, dass es nicht der Fall ist, dass es nicht der Fall ist, dass non-p aus non-q folgt, bin ich vielleicht nicht irra­ tio­nal, wenn ich nicht glaube, dass q, sogar dann, wenn ich mich dafür interessiere, ob q, oder mir die Frage stelle oder mich der Frage zuwende, ob q. Es könnte nämlich sein, dass mir einfach nicht klar ist, dass q aus p folgt, wenn es nicht der Fall ist, dass es nicht der Fall ist, dass non-p aus non-q folgt. Dass man kein guter Logiker ist, heißt noch nicht unbedingt, dass man irrational ist. Bisher habe ich nur einen (schematischen) Fall eines (scheinbaren) epistemischen Grundes betrachtet: den Fall eines (scheinbaren) zwingenden epistemischen Grundes. Es gibt natürlich nicht nur zwingende epistemische Gründe. Aber das eben vorgelegte Argument lässt sich auch auf (scheinbare) nicht zwingende Gründe anwenden. In diesem Fall müssen wir »p impliziert q« durch eine schwächere Behauptung der Form »p macht q wahrscheinlich« ersetzen; und wir müssen partielle Überzeugungen oder Überzeugungen bezüglich wahrscheinlicher Folgerungen betrachten. Das macht 27 Vgl.

Kiesewetter 2013, 337. Vielen Dank an Benjamin Kiesewetter, der mir klar gemacht hat, dass »cares« irreführend ist, insofern es nahelegt, zu meinen, man habe es hier letztlich mit einer Anforderung instrumenteller Rationalität zu tun – was nicht der Fall ist. Parfit über epistemische Rationalität  |  237

die Sache komplizierter, aber grundsätzlich kann man die gleichen Überlegungen anwenden wie im Fall von zwingenden Gründen. Wenn epistemische Rationalität von uns nicht verlangt, auf (scheinbare) epistemische Gründe zu reagieren, wozu sind dann epistemische Gründe überhaupt gut? Die Antwort auf diese Frage ist meiner Ansicht nach, dass wir epistemische Gründe nutzen können, um unser Wissen zu erweitern (wenn wir uns der Gründe bewusst sind). Wenn wir wissen, dass p und dass q von p impliziert wird, können wir schließen, dass q. Epistemische Gründe können die Grundlage unserer epistemischen Überlegungen sein. Das heißt, dass wir auf epistemische Gründe reagieren können, indem wir Überlegungen anstellen. Diese epistemischen Überlegungen können ihrerseits korrekt oder inkorrekt sein, und wir können uns fragen, wovon die Korrektheit abhängt. Beim korrekten Überlegen, so nehme ich mit Broome an, geht es um rational erlaubtes Überlegen28, wobei »rational« sich dabei allein auf K-Rationalität bezieht.29 Folglich ist das korrekte Reagieren auf Gründe, wenn wir reagieren, auch keine Sache der R-Rationalität, sondern es geht dann um korrektes Überlegen, was seinerseits eine Sache von K-Rationalität ist. Man könnte auch sagen: Die epistemisch rationale Person muss nicht auf (scheinbare) epistemische Gründe reagieren, aber sie darf auf sie reagieren. Und wenn sie reagiert, reagiert sie korrekt, das heißt, es geht ihr dann um das Vermeiden von Widersprüchen.30 Man könnte einwenden, dass R-Rationalität hier doch eine Rolle spielt. Gibt es nicht Fälle, in denen eine Person, die auf einen (scheinbaren) epistemischen Grund reagiert, irrational ist, weil sie nicht korrekt reagiert, obwohl sie keine Anforderung der K-Rationalität 28 Broome

2013, 246–248. bin mir nicht ganz sicher, ob Broome den letzten Teilsatz akzeptieren würde, also dass »rational« sich hier ausschließlich auf K-Rationalität bezieht. (Seine Diskussion der »basing prohibitions« (Broome 2013, 186 ff.) lässt anderes vermuten.) Aber wenn er das nicht wollte, würde das seine Behauptung unterminieren, dass es bei Rationalität vor allem um das Vermeiden von Widersprüchen geht. 30 Statt von (scheinbaren) epistemischen Gründen zu sprechen, könnten wir auch über (scheinbare) Evidenzen sprechen. Die rationale Person muss nicht auf (scheinbare) Evidenzen reagieren (es sei denn, das Nichtreagieren würde schon ihr Haben der Evidenz unterminieren). Aber sie darf darauf rea­ gieren, und wenn sie das tut, reagiert sie korrekt. 29 Ich

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verletzt? Ein Beispiel könnte so aussehen: Harald sieht, dass Anton in der Küche ist. Er hat zudem die seltsame Überzeugung, dass aus der Tatsache, dass Anton in der Küche ist, folgt, dass Spinat gesund ist. Deshalb kommt er zu dem Schluss, dass Spinat gesund ist. Seine Überlegung ist korrekt; hier gibt es nicht den Hauch eines Widerspruchs. Ist Harald nicht trotzdem epistemisch irrational? Vermutlich schon, denn es ist sicherlich sehr schwer, die Überzeugung zu erwerben und aufrecht zu erhalten, dass Antons Anwesenheit in der Küche impliziert, dass Spinat gesund ist, ohne dabei irgendwie K-irrational zu werden. Aber wenn Harald diese Überzeugung wirklich K-rationalerweise hat, dann ist er meines Erachtens auch nicht irrational, wenn er zu der Überzeugung kommt, dass Spinat gesund ist. Es stimmt natürlich nicht, dass Antons Anwesenheit in der Küche impliziert, dass Spinat gesund ist. Aber man ist nicht nur deshalb irrational, weil man eine falsche Überzeugung hat.31 Und wenn man auf Grundlage einer falschen Überzeugung Überlegungen anstellt, ist das auch noch nicht per se irrational. Mehr passiert aber in dem Beispiel nicht. Entgegen dem ersten Anschein könnte es also durchaus sein, dass Harald nicht irrational ist. Wir haben immer noch keinen Platz für R-Rationalität als Teil von epistemischer Rationalität gefunden. Wie sieht es aber aus, wenn Harald die Überzeugung, dass Spinat gesund ist, nicht auf der Grundlage der Überzeugung erwirbt, dass Anton in der Küche ist und dass Antons Anwesenheit in der Küche impliziert, dass Spinat gesund ist, sondern allein auf Grundlage der Überzeugung, dass Anton in der Küche ist? Bestimmt ist doch jemand, der denkt »Aha, Anton ist in der Küche. Also ist Spinat gesund«, irrational. Das glaube ich auch. Aber der Grund, warum Harald irrational ist, wenn er diese Überlegung anstellt, ist einfach, 31 Ein

Sonderfall, von dem ich hier absehen muss, ergibt sich lediglich, wenn Harald abstruse wissenschaftliche Vorstellungen hat (wenn er etwa glaubt, dass Antons Anwesenheit in der Küche die Gesundheit von Spinat verursacht oder dass die Gesundheit von Spinat die beste Erklärung für Antons Anwesenheit in der Küche ist). In diesem Fall würde ich Harald tatsächlich eine Form von Irrationalität zuschreiben, die nicht K-Irrationalität ist – allerdings eben auch keine epistemische Irrationalität. Hier muss man m. E. eine eigene Form der Irrationalität annehmen, »wissenschaftliche Irrationalität« könnte man sie nennen, die ich allerdings im vorliegenden Rahmen nicht weiter diskutieren kann. Parfit über epistemische Rationalität  |  239

dass seine Überlegung inkorrekt ist. Und sie ist eben in gerade dem Sinn inkorrekt, dass es in keiner Weise widersprüchlich wäre, zu glauben, dass Spinat nicht gesund ist, obwohl man bereits glaubt, dass Anton sich in der Küche befindet. K-Rationalität erlaubt daher nicht, aus der Tatsache, dass Anton in der Küche ist, zu schließen, dass Spinat gesund ist. Wiederum hat die Irrationalität von Harald nichts mit R-(Ir)rationalität zu tun. Über das hinaus, was die K-Rationalität von uns verlangt, fordert epistemische Rationalität weder von uns, korrekt auf (scheinbare) epistemische Gründe zu reagieren, noch fordert sie von uns, korrekt auf (scheinbare) epistemische Gründe zu reagieren, wenn wir reagieren. Ich komme daher zu dem Schluss, dass R-Rationalität tatsächlich nicht Teil von epistemischer Rationalität ist.

Der grundlegende Unterschied Wir haben somit einen grundlegenden Unterschied (R-Rationalität im Gegensatz zu K-Rationalität) gefunden und eine interessante Beobachtung gemacht (R-Rationalität ist nicht Teil epistemischer Rationalität). Es bleibt zu fragen: Ist der grundlegende Unterschied zwischen R-Rationalität und K-Rationalität gerade der gesuchte Unterschied zwischen epistemischer und praktischer Rationalität? Bedauerlicherweise lautet die Antwort: Nein! Der offensichtlichste Grund dafür besteht darin, dass es Konsistenzanforderungen nicht nur an Überzeugungen, sondern auch an Absichten gibt und dass es Konsistenzanforderungen gibt, die Überzeugungen und Absichten miteinander verbinden, zum Beispiel Enkrasia und Anforderungen instrumenteller Rationalität. Folglich gilt: Wenn es bei praktischer Rationalität um Absichten geht, ist K-Rationalität ebenso Teil von praktischer Rationalität wie von epistemischer Rationalität. Wir können also K-Rationalität nicht einfach mit epistemischer Rationalität identifizieren. Es kommt eine weitere Schwierigkeit hinzu. Manchmal reagieren wir nicht korrekt auf einen (scheinbaren) praktischen Grund, weil wir eine falsche normative Überzeugung haben. Nehmen wir an, Toni glaubt, dass die Tatsache, dass das, was er Maria antut, dieser Schmerzen bereitet, ein Grund ist, sich über sie lustig zu machen, 240  |  Gerhard Ernst 

was er auch tut (anstatt aufzuhören, ihr Schmerzen zuzufügen, was er nicht tut).32 Das ist ein Fall von R-Irrationalität (weil Toni nicht korrekt auf einen (scheinbaren) Grund reagiert), nicht von K-Irrationalität (weil die Absichten und Überzeugungen von Toni zusammenpassen). Dennoch scheint gerade die normative Überzeugung von Toni das Problem zu sein. Handelt es sich also um einen Fall von epistemischer Irrationalität und ist folglich R-Rationalität doch ein Teil epistemischer Rationalität? Parfit schreibt: »When our beliefs are about practical reasons, these kinds of rationality and reason [practical and epistemic: GE] overlap« (OWM I, 119). Das ist jedenfalls zu allgemein, denn Überzeugungen über praktische Gründe können genauso konsistent oder inkonsistent sein wie Überzeugungen über irgendetwas sonst; wir können mit Überzeugungen über praktische Gründe ebenso Überlegungen anstellen wie mit sonstigen Überzeugungen usw. Folglich gibt es eindeutige Fälle rein epistemischer (Ir)Rationalität in Bezug auf Überzeugungen über praktische Gründe. Ich glaube aber, dass wir auch in dem vorliegenden Fall nicht von einer Überschneidung zwischen praktischer und epistemischer Rationalität sprechen sollten. Das Beispiel von Toni ist ein klarer Fall von praktischer Irrationalität; und es ist ein klarer Fall einer falschen normativen Überzeugung. Aber es ist kein Fall einer irrationalen normativen Überzeugung (zumindest nicht, soweit wir wissen). Die falsche normative Überzeugung ist in diesem Fall die Grundlage für die praktische Irrationalität von Toni. Vielleicht kann man sogar sagen: Dass Toni diese falsche Überzeugung hat, macht ihn praktisch irrational (denn die Disposition, auf die Tatsache, dass Maria Schmerzen hat, in der Weise zu reagieren, in der er reagiert, ist mit dieser falschen Überzeugung verbunden). Aber einfach nur eine falsche Überzeugung zu haben, heißt noch in keiner Weise, epistemisch irrational zu sein. Gegen Parfit möchte ich daher behaupten, dass wir in Fällen wie dem von Toni mit praktischer R-Irrationalität und überhaupt keiner Form von epistemischer Irrationalität konfrontiert sind.33 32

Um die Sache zu vereinfachen, gehe ich hier davon aus, dass in der Situa­ tion keine weiteren praktisch relevanten Umstände vorliegen. 33 Ich muss an dieser Stelle nicht Parfits Behauptung in Frage stellen, dass es eine Überschneidung zwischen praktischen und epistemischen Gründen Parfit über epistemische Rationalität  |  241

Parfit glaubt, dass es bei epistemischer Rationalität, ebenso wie bei praktischer Rationalität, wesentlich darum geht, korrekt auf (scheinbare) Gründe zu reagieren. Der grundlegende Unterschied zwischen beiden liegt darin, dass wir auf (scheinbare) praktische Gründe mit willentlichen Handlungen reagieren, während wir auf (scheinbare) epistemische Gründe unwillkürlich mit Überzeugungen reagieren. Ich habe dafür argumentiert, dass das nicht die beste Sichtweise der Dinge ist. Bei praktischer Rationalität geht es um unsere Absichten, während es bei epistemischer Rationalität nicht um diese geht. Das ist ein Unterschied, aber, wie ich glaube, nicht der grundlegende Unterschied, den Parfit sucht. Die Art und Weise, wie wir Absichten fassen, und die Art und Weise, wie wir Überzeugungen erwerben, weisen andererseits große Gemeinsamkeiten auf. Wenn hier der grundlegende Unterschied liegen soll, ist das erklärungsbedürftig. Es gibt allerdings einen grundlegenden Unterschied zwischen zwei Arten von Rationalität, R-Rationalität und K-Rationalität. Parfit legt nahe, dass praktische und epistemische Rationalität sowohl R-Rationalität als auch K-Rationalität enthalten (wobei er sich nicht für den K-Rationalitätsanteil interessiert). Die Unterscheidung zwischen praktischer und epistemischer Rationalität basiert seiner Ansicht nach auf einem Unterschied innerhalb der R-Rationalität. Ich bin anderer Ansicht. Der grundlegende Unterschied besteht nicht zwischen den willentlichen Handlungen, mit denen wir auf praktische Gründe reagieren, und den unwillkürlichen Reaktionen auf epis­ temische Gründe. Der grundlegende Unterschied besteht zwischen dem korrekten Reagieren auf (scheinbare) Gründe (R-Rationalität) auf der einen Seite und dem Vermeiden von Widersprüchen (K-Rationalität) auf der andern. Während praktische Rationalität sowohl in R-Rationalität als auch in K-Rationalität in Bezug auf unsere Absichten besteht, geht es bei gibt (vgl. OWM I, 119). Selbstverständlich kann ein und dieselbe Tatsache ­sowohl ein praktischer als auch ein epistemischer Grund sein. 242  |  Gerhard Ernst 

epistemischer Rationalität allein um K-Rationalität in Bezug auf unsere Überzeugungen. Das ist der grundlegende Unterschied zwischen praktischer und epistemischer Rationalität.34

34 Für

hilfreiche Anmerkungen zu früheren Fassungen dieses Aufsatzes möchte ich mich bei John Broome, Peter Hacker, Lisa Marani, Erasmus Mayr, Derek Parfit, Christian Seidel und besonders bei Benjamin Kiesewetter bedanken. Parfit über epistemische Rationalität  |  243

Annette Dufner

Prioritaristischer Konsequentialismus? In den Lindley-Vorlesungen sowie einer Reihe von weiteren Aufsätzen präsentiert Derek Parfit die vermutlich detaillierteste Argu­­mentation zugunsten des philosophischen Prioritarismus und unterscheidet die Position von verschiedenen Formen des Gleichheitsprinzips.1 Dem Prioritarismus zufolge haben Nutzen für die Schlechtergestellten einen größeren moralischen Wert als gleich große Nutzen für die Bessergestellten. Die Priorisierung der Schlechtergestellten gilt jedoch auf nicht-absolute Art und Weise: Wenn die Nutzen, die den Bessergestellten gegeben werden könnten, sehr viel größer sind als die Nutzen, die den Schlechtergestellten gegeben werden könnten, dann muss man gegebenenfalls den Bessergestellten helfen. Wie Parfit argumentiert, hat diese Position Vorteile gegenüber deontologischen als auch teleologischen Formen des Egalitarismus und vermeidet zugleich die Probleme einer rein utilitaristischen Wohlergehensmaximierung. In diesem Beitrag möchte ich einen Blick auf den ursprünglichen Charakter des Vorschlags sowie auf einige der einflussreichsten Kritiken werfen. Als eines der Hauptprobleme des telischen Egalitarismus wird häufig das Problem des Herunternivellierens (levelling-down) bezeichnet: Rein telische Egalitaristen müssen Umverteilungen zugunsten von Ergebnisgleichheit selbst dann befürworten, wenn dies für niemanden gut wäre. Zum Beispiel: Alternative 1

Alternative 2

1 Person

1

1

10 Personen

2

1

21

11

Summe: 1 Parfit

2002, 81–125 ist nicht zu verwechseln mit Parfit 1997, ein Aufsatz, der lediglich eine Zusammenfassung darstellt. In Parfit 2012, 399–440, antwortet Parfit auf eine Reihe neuerer Kritiken.   |  245

Die Zahlen in diesem Fall insinuieren zwar eine Art von Präzision, die in der Realität so sicherlich nicht zu haben ist, können hier jedoch dabei helfen, den Punkt zu illustrieren. Angesichts der Entscheidung zwischen Alternative 1 und Alternative 2 müsste ein rein telischer Egalitarist Alternative 2 bevorzugen, da in diesem Szenario mehr Gleichheit herbeigeführt wird. Wie Parfit in den LindleyVorlesungen jedoch auf sehr hilfreiche Art herausstellt, vertreten viele telische Egalitaristen abgeschwächte Versionen ihrer Theorie. Sie glauben, dass Nutzenzuwächse ebenfalls wichtig sind, und insistieren lediglich, dass manche Nutzenzuwächse manche Verluste von Gleichheit nicht überwiegen. Nichtsdestotrotz würden selbst Vertreter dieser abgeschwächten Versionen argumentieren, dass die Schaffung von mehr Gleichheit durch Herunternivellieren in einer Hinsicht besser ist, selbst wenn sie nicht insgesamt betrachtet besser ist. Prioritaristen jedoch können behaupten, dass Herunter­nivel­ lieren in keiner Hinsicht besser ist und Alternative 1 aus diesem Grund bevorzugt werden sollte. Für Prioritaristen ist Gleichheit kein intrinsischer Wert. Gleichheit hat wertvolle positive Auswirkungen, ist aber an und für sich kein Wert – eine Ansicht, die mit Bezugnahme auf Fälle gestützt werden kann, in denen die ungleichen Parteien gar nichts voneinander wissen. Die prioritaristische Einstellung zur Gleichheit impliziert, dass Nutzenzuwächse für die Schlechtergestellten wertvoll sind, weil es diesen Personen dann besser geht, nicht weil sie dann im Vergleich zu anderen besser da stehen. Der Prioritarismus ist daher eine non-relationale Position, die den moralischen Wert von Nutzen aus dem absoluten und nicht aus dem komparativen Niveau der Empfänger ableitet. Natürlich kann die Annahme einer nonkomparativen, absoluten Wohlergehensskala für Individuen kritisiert werden, weil sie eine starke Form von metaethischem Werte­ rea­lismus vorauszusetzen scheint, doch dieses Problem soll hier nicht thematisiert werden. Nichtsdestotrotz ist der Prioritarismus auf indirekte Weise gleichheitsbefördernd. Ein Diskussionspunkt war dabei schon immer das Ausmaß, in dem der Prioritarismus egalitaristischen Bestrebungen entgegen kommt, und in welchen Fällen die beiden Positionen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Eine Gemeinsamkeit zwischen dem Prioritarismus und dem Egalitarismus betrifft beispiels246  |  Annette Dufner 

weise die Tatsache, dass beide Positionen ähnlichere Resultate erzielen würden als ein einfaches Nutzenmaximierungsprinzip. Dieser Punkt kann am besten mit einem Beispiel von zwei Alternativen der folgenden Art illustriert werden: Alternative 3 1 Person 10 Personen Total:

Alternative 4

1

80

100

90

1001

980

Angesichts der Entscheidung zwischen den Alternativen 3 und 4 würden Prioritaristen und Egalitaristen einhellig Alternative 4 wählen – trotz des hierdurch in Kauf zu nehmenden Gesamtnutzenverlusts. Die Vorzüge des Prioritarismus im Vergleich zu reinen Formen des telischen Egalitarismus und des Utilitarismus haben im Allgemeinen viel Zustimmung hervorgerufen.2 Brad Hooker argumentiert sogar, dass der »Prioritarismus daher die dominierende Form des Konsequentialismus geworden ist«.3 Der Prioritarismus sollte nicht verwechselt werden mit der ökonomischen Doktrin vom abnehmenden Grenznutzen von Gütern, der zufolge ein Apfel einer hungrigen Person mehr Nutzen bringt als einer Person, die bereits viele Äpfel gegessen hat. Der Prioritarismus besagt etwas über die Doktrin vom abnehmenden Grenznutzen Hinausgehendes: Dem Prioritarismus zufolge bringt der Apfel nicht nur der hungrigen Person mehr Nutzen, dieser Nutzen ist darüber hinaus auch noch von größerem moralischen Wert als ein gleich großer Nutzen für eine bessergestellte Person. Es wird oft darauf aufmerksam gemacht, dass der Prioritarismus in einigen Hinsichten dem Differenzprinzip von John Rawls ähnelt. Parfit stimmt dieser Beobachtung zu. Er insistiert, die Position von Rawls sei nicht nur kompatibel mit dem Prioritarismus, sondern so2 Ohne

hierzu weiter ins Detail zu gehen, sollte an dieser Stelle erwähnt werden, dass Parfit den Prioritarismus auch als eine vom deontischen Egalitarismus zu unterscheidende und diesem gegenüber durch Vorteile ausgezeichnete Position hält. 3 Brad Hooker, 2011. Prioritaristischer Konsequentialismus?   |  247

gar eine Version des Prioritarismus.4 Nichtsdestotrotz gibt es offenkundig auch Unterschiede zwischen den Positionen von Rawls und Parfit. Wie Parfit selbst hervorhebt, vertritt Rawls das Differenzprinzip (1) nur in Bezug auf die Grundstruktur der Gesellschaft, (2) nur im Zusammenspiel mit gleichen Freiheiten und Chancen für alle und (3) in Bezug auf das repräsentative Mitglied der am schlechtesten gestellten Gruppe anstatt auf Individuen.5 Darüber hinaus sollte man hinzufügen, dass Rawls von lexikalischer Priorität für die Schlechtergestellten spricht. So weit würde Parfit nicht gehen. Er möchte den Schlechtergestellten lediglich einen nichtabsoluten Vorrang geben. Falls konkurrierende Nutzenpotentiale für die Bessergestellten signifikant größer wären, müsste man seines Erachtens den Bessergestellten helfen. Die teilweise Übereinstimmung mit Rawls sowie Parfits zusätzliche Behauptung, der Prioritarismus könne sowohl telische als auch deontische Versionen haben6, scheinen paradigmatisch zu sein für seinen integrativen Ansatz in On What Matters. Die Tatsache, dass Parfits Prioritarismus den schlechtergestellten Individuen lediglich nicht-absoluten Vorrang einräumt, impliziert, dass das personenübergreifend aggregierte Wohl der größeren Anzahl zumindest in extremen Fällen die Interessen schlechtergestellter Einzelpersonen überwiegen kann. In diesem Sinn setzt seine Auffassung ein Akzeptieren des personen-neutralen Guten als Grundlage für SollensVorschriften voraus, wie dies in Teil 1 von On What Matters genauer erläutert wird (OWM I, 38–42). Das »Argument vom moralischen Unterschied« gegen den Prioritarismus Nachdem für überraschend lange Zeit niemand einen gewichtigen Einwand gegen den Prioritarismus finden konnte, haben Michael Otsuka und Alex Voorhoeve schließlich eine Reihe von Argumenten gegen den Prioritarismus in Stellung gebracht. Einer ihrer Ein4 Parfit

2002, 121. 117. 6 Ebd., 101. 5 Ebd.,

248  |  Annette Dufner 

wände besagt, der Prioritarismus als Theorie der Verteilungsgerechtigkeit in Konfliktfällen ignoriere die konfligierenden Ansprüche derjenigen Personen, die dann am Ende schlechter da stehen als andere. Obwohl Otsuka und Voorhoeve in diesem Zusammenhang explizit behaupten, sie hätten untersucht, wie sich das Pro­ blem bei Entscheidungen mit Risiko auswirkt7, scheinen sie jedoch übersehen zu haben, dass ihr Argument in Fällen mit Gewissheit sehr viel besser greift. In Fällen mit Risiko, in denen noch nicht klar ist, welche Betroffenen in welche Lage geraten werden, kann ihr Angriff häufig mittels eines noch näher zu spezifizierenden Hinweises auf prudentielle Kompensation zurückgewiesen werden – eine Möglichkeit, derer sich Otsuka in einem späteren Aufsatz teilweise bewusst zu sein scheint.8 Doch die sehr viel einfacheren Fälle mit Gewissheit bleiben in der Tat ein regelmäßiges Problem für den Prioritarismus. Darüber hinaus, so kann man argumentieren, scheint dieser Umstand auch die neueste Version des Prioritarismus zu betreffen, die Parfit im Anschluss an die Kritiken von Otsuka und Voorhoeve formuliert hat.9 Im Folgenden sollen die wichtigsten Einwände gegen den Prioritarismus sowie etwaige Auswege untersucht werden. In ihrem ursprünglichen Aufsatz argumentieren Otsuka/Voorhoeve, es gebe einen moralischen Unterschied zwischen Ein-Personen-Konflikten (zumindest in Isolation betrachtet10) und Mehr-Per7 Otsuka/Voorhoeve

2009, 195, siehe Zwischenüberschrift. 2012, insbes. Teil VIII. 9 Parfit 2012, insbes. 433. 10 Für den Zweck der hier vorgestellten Analyse mache ich eine Zusatz­ annahme, die im ursprünglichen Aufsatz von Otsuka/Voorhoeve nicht sehr explizit gemacht wird, in späteren Diskussionen jedoch eine größere Rolle gespielt hat. Ich nehme an, dass Ted eine normale Person in einer normalen Gesellschaft ist. Ein möglicher Einwand gegen das prudentielle Kompensa­ tionsargument kann auftauchen, wenn man annimmt, dass Ted aus dem EinPersonen-Fall mit Risiko nicht in einer normalen Gesellschaft lebt. Wenn Ted ganz alleine auf einem anderen Planeten lebt, dann kann er, was auch immer wir tun, gar nicht schlechter da stehen als irgendein anderer. Auch wenn Ted eine allein existierende zukünftige Person ist, kann nichts, was wir tun könnten, dazu führen, dass es ihm zu dieser Zeit schlechter geht als irgendeinem anderen. In ihrem ursprünglichen Aufsatz streifen Otsuka/Voorhoeve diesen Punkt, wenn sie schreiben, dass ihre Argumente zum Ein-Personen-Fall unter der Bedingung zutreffen, dass man deren Schicksal in Isolation davon 8 Otsuka

Prioritaristischer Konsequentialismus?   |  249

sonen-Konflikten – ein Unterschied, den der Prioritarismus nicht erfassen könne. Um sich das Argument noch einmal vor Augen zu führen, ist es hilfreich, an einen Ein-Personen-Fall mit Risiko und an einen Zwei-Personen-Fall mit Gewissheit zu denken, wie beispielsweise die folgenden Szenarien, in denen es um zwei verschiedene Beeinträchtigungen geht, die auch Otsuka/Voorhoeve erwähnen. Im ersten Szenario geht es um eine sehr schwere Beeinträchtigung, bei der eine Person bettlägerig ist, höchstens in einem Stuhl sitzen und sich nur mit Hilfe anderer in einem Rollstuhl fortbewegen kann. Im zweiten Szenario geht es um eine leichtere Beeinträchtigung, die es schwierig macht, mehr als zwei Kilometer am Stück zu gehen. Ein-Personen-Fall mit Risiko: Für Tom besteht jeweils eine gleich große Wahrscheinlichkeit, die sehr schwere oder die leichte Beeinträchtigung zu erleiden. Als moralisch motivierter Fremder haben Sie die Möglichkeit ihn entweder mit einem Medikament zu versorgen, das seine Situation dann und nur dann verbessern wird, wenn er die sehr schwere Beeinträchtigung erleiden wird, oder mit einem Medikament, das seine Situation dann und nur dann verbessern wird, wenn er die leichte Beeinträchtigung erleiden wird. Das Medikament gegen die leichte Beeinträchtigung würde signifikant mehr ausrichten als das Medikament gegen die sehr schwere Beeinträchtigung. Zwei-Personen-Fall mit Gewissheit: Tom wird mit Gewissheit die leichte Beeinträchtigung erleiden und Ted wird mit Gewissheit die sehr schwere Beeinträchtigung erleiden. Als moralisch motivierter Fremder haben Sie die Möglichkeit, entweder Tom ein Medikament gegen seine leichte Beeinträchtigung zu geben oder Ted ein Medikament gegen seine sehr schwere Beeinträchtigung. Das Medikament gegen die leichte Beeinträchtigung würde ebenfalls wieder signifikant mehr ausrichten als das Medikament gegen die sehr schwere Beeinträchtigung.11 Der Prioritarismus gibt Nutzenpotentialen für die Schlechtergestellten zwar mehr moralisches Gewicht, tut dies aber nur auf betrachtet, wie gut oder schlecht es irgendeinem anderen geht. Otsuka/Voorhoeve 2009, 173 f. 11 Otsuka 2012, Teil III. 250  |  Annette Dufner 

nicht-absolute Weise, so dass der Vorrang für diejenige Person, der es schlechter geht, durch sehr viel größere Nutzen für diejenige Person, der es besser geht, aufgewogen werden kann. Prioritaristen müssen grundsätzlich auf Grundlage des auf diese Weise moralisch gewichteten Nutzens entscheiden, was hier bedeutet, dass das Medikament gegen die leichte Beeinträchtigung verabreicht werden sollte, sofern dies signifikant mehr Nutzen brächte, wie es hier der Fall ist. (Utilitaristen müssten hier zwar ebenfalls das Medikament gegen die leichte Beeinträchtigung verabreichen, müssten dies aber auch dann noch tun, wenn der Nutzen hieraus lediglich wenig größer wäre als bei Verabreichung des anderen Medikaments.) Otsuka/ Voorhoeve argumentieren nun, der Prioritarismus ignoriere hier – weil er den beiden Szenarien das gleiche Vorgehen empfiehlt – den moralischen Unterschied, der vorliegt, wenn es einigen Personen schlechter geht als anderen. Im Zwei-Personen-Fall, aber nicht im Ein-Personen-Fall, impliziert das prioritaristische Vorgehen schließlich, dass am Ende eine Person besser da steht, während es einer anderen schlechter geht (und diese schlechter gestellte Person – so könnte man hinzufügen – auch keine Hilfe erhalten haben wird).12 Darüber hinaus argumentieren Otsuka/Voorhoeve, es gebe 12 Angesichts

späterer, publizierter Diskussionen sollte an dieser Stelle vermutlich hinzugefügt werden, dass dieser Vorwurf nicht auf die möglicherweise ebenfalls plausible »beschränkt deontische Version des Prioritarismus« ausgedehnt werden kann, wie sie von Andrew Williams vorgeschlagen wird und der zufolge der Prioritarismus als eine Antwort auf eine deontische Darstellung des Umstands verstanden werden kann, warum Ungleichheit zwischen separaten Personen moralisch problematisch ist. Einem solchen Verständnis des Prioritarismus zufolge sei im Prioritarismus niemals vorgesehen gewesen, den moralisch gewichteten Nutzen in allen Fällen, einschließlich der Ein-Personen-Fälle, zu maximieren. Stattdessen könne davon ausgegangen werden, dass der Prioritarismus immer erst dann ins Spiel komme, wenn die Interessen und Ansprüche separater Personen zur Disposition stehen und eine Entscheidung getroffen werden muss, wie man in solchen interpersonellen Konfliktfällen vorgehen möchte. Ein-Personen-Fälle könnten demnach als reine Klugheitsangelegenheiten behandelt und auf Basis der Präferenzen der Betroffenen beantwortet werden sowie auf Grundlage des einfachen Erwartungsnutzens ohne die zusätzliche Anwendung des moralischen Gewichtungsmechanismus des Prioritarismus. Dieses Resultat würde übereinstimmen mit dem, was Otsuka/Voorhoeve in Ein-Personen-Fällen für plausibel halten. (Williams 2012, Teile III und IV.) Prioritaristischer Konsequentialismus?   |  251

im zweiten Szenario keine Einzelperson, für die die Aussicht auf einen größeren Nutzen die wünschbare Kehrseite der Aussicht auf einen kleineren Nutzenverlust darstellt13, sodass die Gleichbehandlung beider Fälle zusätzlich auch noch die Einheit von Personen als Individuen ignoriere.14 Das »Argument vom moralischen Unterschied« zwischen MehrPersonen- und Ein-Personen-Fällen kann für Szenarien mit Risiko oft zurückgewiesen werden, während Szenarien ohne Risiko regelmäßig problematisch bleiben. Um diesen Punkt zu illustrieren, ist es hilfreich, den Ein-Personen-Fall mit Risiko mit dem folgenden Mehr-Personen-Fall mit Risiko und invers korrelierten Ergebnissen zu vergleichen. (In ihrem Aufsatz benutzen Otsuka/Voorhoeve einen ähnlichen Multi-Personen-Fall in ihrer Argumentation gegen eine Ex-ante-Version des Prioritarismus15, doch dieses Argument soll hier nicht von Interesse sein.) Mehr-Personen-Fall mit Risiko und invers korrelierten Ergebnissen: Sie wissen, dass eine jeweils gleich große Wahrscheinlichkeit besteht, dass Ted die sehr schwere und Tom die leichte Beeinträchtigung entwickelt und, im anderen Fall, dass Ted die leichte und Tom die sehr schwere Beeinträchtigung erleiden wird. Sie können entweder ein Medikament verabreichen, das – unabhängig davon, wer welche Beeinträchtigung erleiden wird – die sehr schwere Beeinträchtigung lindern wird, oder ein Medikament, das die leichte Beeinträchtigung lindern wird. Im Ein-Personen-Fall mit Risiko betreibt man als benevolenter Helfer eine Art von Lotteriespiel zugunsten dieser einen Person. Falls man Tom aus prioritaristischen Gründen16 mit einem Medikament gegen die leichte Beeinträchtigung versorgt, stellt man eine Situa13 Otsuka/Voorhoeve

2009, 180. detaillierte Diskussion des Unterschieds zwischen der Behauptung, der Prioritarismus ignoriere die Separatheit der Personen, und dem Argument, er ignoriere die Einheit des Individuums, gibt es bei Porter 2012, 349–364. 15 Otsuka/Voorhoeve 2009, 195–198. 16 Otsuka/Voorhoeve argumentieren, im Ein-Personen-Fall mit Risiko dürfe man sowohl prioritaristisch vorgehen als auch den größeren (ungewichteten) Nutzen herbeiführen. Otsuka/Voorhoeve 2009, 173. Die empirischen 14 Eine

252  |  Annette Dufner 

tion her, in der für ihn ein Risiko besteht, sehr schlecht da zu stehen, falls er dann doch die schwere Beeinträchtigung entwickelt. Falls er mit der Entscheidung ein Problem haben sollte, könnte man zu ihm sagen: »Ja, es besteht für Dich jetzt ein Risiko, sehr schlecht da zu stehen, falls Du die schwere Beeinträchtigung erleidest, aber Du wurdest dafür mit einem Sicherheitsnetz für das andere mögliche Szenario versehen und dieser Umstand ist Deine Kompensation dafür, im ersteren Fall schlechter da zu stehen.« Diese Argumentation kann auch im Multi-Personen-Fall mit Risiko und invers korrelierten Ergebnissen vorgebracht werden. Auch in diesem Fall besteht für jeden der Betroffenen eine Möglichkeit, sehr schlecht da zu stehen, während zugleich aber auch jeder mit einem Sicherheitsnetz für den anderen Fall ausgestattet wurde. Und natürlich, so kann man argumentieren, stellt dieses Sicherheitsnetz für den einen Fall eine Kompensation für das verbleibende Risiko im anderen Fall dar. Das bedeutet, die prioritaristische Herangehensweise an diese Fälle – der zufolge man im Fall der leichten, aber nicht im Fall einer schlimmen Beeinträchtigung helfen sollte – impliziert keineswegs ein Missachten der intrinsischen, relationalen Schlechtigkeit von Ungleichheit zwischen Personen. Diesen Punkt scheinen Otsuka/Voorhoeve in ihrem ursprünglichen Aufsatz übersehen zu haben. Dieses Kompensationsargument kann jedoch nicht auf Fälle mit (vollständiger oder annähernd vollständiger) Gewissheit ausgedehnt werden. In solchen Fällen wissen die Betroffenen vorab mit Gewissheit, ob sie die leichte oder die schwere Beeinträchtigung erleiden werden, und es ist mit Gewissheit bekannt, was für sie getan werden könnte und was nicht. Man bedenke beispielsweise die folgende, vereinfachte Version vom Zwei-Personen-Fall mit Gewissheit: Sie können entweder das Leben von Tom verbessern, dem es mit Gewissheit recht gut ergehen wird, oder das Leben von Ted, dem es mit Gewissheit sehr schlecht ergehen wird. Das Nutzenpotential ihrer Hilfe für Tom wäre jedoch sehr viel größer als das Nutzenpotential für Ted. Hinweise darauf, dass Betroffene in Ein-Personen-Fällen tatsächlich auch selbst gegenüber diesen beiden Möglichkeiten indifferent sind, wird allerdings kritisch bewertet in Bognar 2012, 467–482. Prioritaristischer Konsequentialismus?   |  253

Prioritaristen müssten hier wiederum derjenigen Person helfen, der es besser gehen wird, was wiederum die Ungleichheit vergrößern würde. Und wenn man sich aus prioritaristischen Gründen entschließt, Tom zu helfen, dann kann man nicht zu Ted sagen, man habe ihn mit einer Kompensation für seine schlechten Aussichten versehen. Man hätte stattdessen überhaupt nichts für ihn getan. Es gibt kein potentielles Szenario, in dem die getroffene Entscheidung ihm zum Vorteil gereichen würde. Mehr-Personen-Fälle mit Gewissheit bleiben daher ein allgemeines Problem für den Prioritarismus, und zwar trotz der generellen Plausibilität des pruden­tiel­len Kompensationsarguments. Wenn Prioritaristen in Fällen mit Gewissheit denjenigen helfen, denen es besser geht, bleiben sie angreifbar, weil sie tatsächlich die intrinsische, relationale Schlechtigkeit von Ungleichheit ignorieren.

Otsukas Differenzierungen In seinem späteren Aufsatz »Prioritarianism and the Separateness of Persons« fügt Otsuka dem Vorwurf, der Prioritarismus ignoriere die intrinsische Schlechtigkeit von Ungleichheit, zwei weitere Punkte hinzu. Dort argumentiert er, der Prioritarismus ignoriere erstens die Möglichkeit prudentieller Rechtfertigungen und zweitens die Existenz konkurrierender Ansprüche auf Grundlage von berechtigten Beschwerden anderer Individuen. Das Kompensationsargument, wie es im gegenwärtigen Aufsatz konstruiert wird, ist im Grunde genommen eine bestimmte Art von Klugheitsargument17, das auf der Annahme basiert, es sei für 17 Ein

solches prudentielles Kompensationsargument erfährt starke Rückendeckung durch eine Analyse von Thomas Porter, der darauf hinweist, dass der Prioritarismus möglicherweise die Einheit des Individuums verletzt, indem er nicht auf den Umstand reagiert, dass es eine bestimmte Rechtfertigung für die Zumutung von Risiken gibt, die nur in Ein-Personen-Fällen verfügbar ist (Porter 2012, 359). Dennoch glaubt Porter nicht, dass das Ignorieren der Einheit des Individuums ein Problem für den Prioritarismus darstellt. Eine Veränderung der moralischen Strategie, wann immer man von Ein-Personen- zu Mehr-Personen-Fällen übergeht, wäre seines Erachtens nur dann erforderlich, wenn der Prioritarismus auf fundamentale Weise durch Beweggründe motiviert wäre, die in den ersteren, nicht aber in den letzteren 254  |  Annette Dufner 

eine betroffene Person klug, ein Sicherheitsnetz für ein bestimmtes zukünftiges Szenario zu präferieren, selbst wenn dies ein Risiko impliziert, in einem anderen zukünftigen Szenario schlechter da zu stehen. Im Mehr-Personen-Fall mit Risiko und invers korrelierten Ergebnissen werden die Betroffenen für das Risiko, in einem möglichen Szenario schlechter da zu stehen als andere, durch ein Sicherheitsnetz für ein anderes mögliches Szenario kompensiert. Das bedeutet, dass die Anwendung des prioritaristischen Kalküls in diesem Fall unproblematisch ist – und zwar selbst dann, wenn sie dazu führt, dass man derjenigen Person, der es besser gehen wird, helfen muss und damit mehr Ungleichheit produziert. Otsuka jedoch betrachtet diesen Fall dennoch als problematisch. Sein Grund dafür ist der folgende: Egal wie die Situation aus der ex ante-Perspektive aussieht, wird es ex post wieder ein Problem geben. Wie auch immer die Dinge sich entwickeln werden, am Ende wird es einen konkurrierenden Anspruch gegen den Einsatz des Medikaments zur Behandlung der leichten Beeinträchtigung geben.18 Otsuka hat recht, wenn er auf diesen konkurrierenden Anspruch hinweist, denn wenn der Prioritarismus verlangt, der Person zu helfen, die die leichte Beeinträchtigung erleiden wird, dann wird am Ende, egal wie die Dinge ausgehen, mehr Ungleichheit herrschen. Als Resultat hiervon wird diejenige Person, die am Ende schlechter da steht, zumindest ex post einen konkurrierenden Anspruch haben, der gegen das entsprechende Vorgehen spricht. Nichtsdestotrotz kann man – wie auch Otsuka selbst darlegt – der impliziten Annahme widersprechen, dass die Existenz dieses konkurrierenden Anspruchs an sich schon ausreichend dafür sei, die prioritaristische Entscheidung problematisch zu machen.19 Es Fällen zuträfen. Da dies nicht der Fall ist, so insistiert er, gäbe es auch kein hieraus resultierendes Problem für den Prioritarismus (Porter 2012, 361). Ich stimme Porters klarsichtigem Argument zu, dass es in Ein-Personen-Fällen eine Rechtfertigungsmöglichkeit gibt, die in Mehr-Personen-Fällen nicht vorhanden ist. Ich würde den Kritikern jedoch zugestehen, dass dieser Umstand moralisch relevant ist und das Vorhandensein dieser Rechtfertigung moralisch entscheidend sein kann. Es scheint mir durchaus moralisch relevant zu sein, ob eine Person, über die ich entscheide, einen starken rationalen Grund hätte, meiner Entscheidung zuzustimmen oder nicht. 18 Otsuka 2012, Teil VI. 19 Ebd., Teil VII. Prioritaristischer Konsequentialismus?   |  255

kann argumentiert werden, dass ein Problem erst dann entsteht, wenn der betreffenden Person zusätzlich auch keine prudentielle Kompensationsrechtfertigung mehr angeboten werden kann. Dieser Überlegung zufolge gibt es nur dann einen entscheidenden Einwand, wenn es eine Beschwerde auf Grundlage eines konkurrierenden Anspruchs gibt und darüber hinaus keine prudentielle Kompensationsrechtfertigung möglich ist. Eine prudentielle Rechtfertigung kann schließlich als Kompensation für eine Beschwerde auf Grundlage eines konkurrierenden Anspruchs gelten. Wenn Prioritaristen eine Kompensation für eine solche Beschwerde bereithalten, dann können sie demnach nicht mehr beschuldigt werden, den konkurrierenden Anspruch ignoriert zu haben. Darüber hinaus gilt auch noch: Wenn eine Kompensation angeboten wurde, von der die Klugheit gebietet, sie anzunehmen, dann gibt es keinen gerechtfertigten Anspruch mehr, der die Basis einer berechtigten Beschwerde darstellen könnte. Was man den sehr erhellenden Analysen von Otsuka daher hinzufügen sollte, ist ein Punkt, der bereits betont wurde: Es kann argumentiert werden, dass der Prioritarismus in den alltagsüblichen Fällen mit Risiko häufig kein Problem darstellt, weil regelmäßig eine prudentielle Kompensationsrechtfertigung gegeben werden kann, wenn der Verlierer eine plausible Chance hatte, Profiteur zu werden. Große Teile der jüngsten Diskussion des Prioritarismus beschäftigen sich mit den verbleibenden Problemen in solchen Wahrscheinlichkeitsfällen. Was zwischenzeitlich vernachlässigt wurde, ist die sehr viel einfachere Frage, ob der Prioritarismus mit Fällen mit Gewissheit angemessen umgeht oder ob er in diesen Fällen oft auf illegitime Weise konkurrierende Ansprüche ignoriert.

Parfits Antwort Eine kombinierte Ex-post-ex-ante-Version des Prioritarismus, die er in seinem Aufsatz von 2012 vertritt, stellt Parfits jüngste Verteidigung des Prioritarismus dar. Dieser neuesten Formulierung zufolge ist nicht nur (a) der Nutzen von Hilfsleistungen relevant, sondern auch (b) deren Erwartungsnutzen. Darüber hinaus sind (c) die Chancen der Betroffenen, Vor- oder Nachteile zu erhalten, 256  |  Annette Dufner 

relevant und (d) die am Ende erwartbaren Wohlergehensniveaus aller Betroffenen.20 Laut Parfit kann diese Version des Prioritarismus dem »Argument vom moralischen Unterschied« sowie weiteren Vorwürfen von Otsuka und Voorhoeve entkommen.21 Einer solchen kombinierten Version zufolge, die auch (d) die am Ende erwartbaren Wohergehensniveaus aller Betroffenen berücksichtigt, haben wir einen gewichtigeren Grund, Personen Nutzen oder erwartbare Nutzen zukommen zu lassen, je schlechtergestellt diese Personen sind oder erwartbarerweise sein werden, so Parfit.22 Diese Behauptung soll dazu dienen, bessere Lösungen für Fälle anbieten zu können, in denen man ansonsten einer Person helfen müsste, die schlechtergestellt ist oder sein wird als andere. Auf diese Weise soll die neue Position auch dem »Argument vom moralischen Unterschied« entkommen.23 Diese Lösung funktioniert sehr gut für Fälle mit Risiko – eine Tatsache, die mit Bezugnahme auf Fall Elf aus dem Aufsatz von 2012 zu illustrieren ist. Dieser Fall stellt sich wie folgt dar: In Fall Elf können wir X Jacks Leben retten, so dass Jack 80 wird und Jill 40, Y Jills Leben retten, so dass Jill 80 wird und Jack 40 oder Z Jack und Jill eine gleich große Chance geben, diejenige Person zu sein, die wir retten, so dass beide (nach Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeiten) zunächst eine gleich hohe Lebenserwartung von 60 Jahren haben.24 Wenn wir Z tun statt X oder Y, dann erhöhen wir den Erwartungsnutzen derjenigen Person, die ansonsten schlechter da stünde. So20 Parfit 21 Ebd., 22 Ebd.

2012, 432 ff. 432.

23 Wenn man am Ende einer bessergestellten Person hilft, können darüber

hinaus alle der verschiedenen Ex-ante-Komponenten in Parfits Ansatz als Basis für eine prudentielle Rechtfertigung gegenüber dem Verlierer herangezogen werden. Es könnte argumentiert werden, dass der Erwartungsnutzen der Person, ihre Chancen oder ihr erwartbares Endniveau gut genug waren, um es klug erscheinen zu lassen, die Entscheidung in Kauf genommen zu haben. 24 Parfit 2012, 432. Prioritaristischer Konsequentialismus?   |  257

wohl im Fall von Handlung X als auch im Fall von Handlung Y hätte eine der beiden Personen einen Erwartungsnutzen von nur 40 Lebensjahren, während Z beiden einen Erwartungsnutzen von 60 Lebens­jahren gewährt. Weil alle anderen Faktoren gleich sind, sollten wir Jack und Jill daher gleiche Chancen gewähren. In Bezug auf den Ex-ante-Gesichtspunkt des insgesamt erwartbaren gewichteten Nutzens sind X, Y und Z gleichermaßen wünschenswert. Doch Z verfügt zusätzlich auch noch über die Eigenschaft, ex post denjenigen Personen Nutzen oder erwartbaren Nutzen zukommen gelassen zu haben, denen es ansonsten schlechter ginge. Man sollte daher Z tun. Parfit zufolge bedeutet dies, dass sein hybrider Ansatz nicht nur dem »Argument vom moralischen Unterschied« entkommt, weil Z eine Beschwerde auf Grundlage eines konkurrierenden Anspruchs von Seiten des Verlierers verhindert, sondern dass sein Ansatz da­ rüber hinaus auch noch das Prinzip der Chancengleichheit nach sich zieht, das durch Z ja eindeutig respektiert wird.25 Was jedoch problematisch bleibt, sind einmal mehr die einfachen Fälle mit Gewissheit – insbesondere solche, in denen die Optionen asymmetrischer sind als in Fall Elf. Man führe sich hierzu das folgende Szenario noch einmal vor Augen: Zwei-Personen-Fall mit Gewissheit: Sie können entweder das Leben von Tom verbessern, dem es mit Gewissheit recht gut ergehen wird, oder das Leben von Ted, dem es mit Gewissheit sehr schlecht ergehen wird. Das Nutzenpotential Ihrer Hilfe für Tom wäre jedoch sehr viel größer als das Nutzenpotential für Ted. Zwei der vier Aspekte aus Parfits neuem Hybridansatz sind auf diesen Fall anwendbar: (a) die Nutzen [die hier identisch sind mit (b) dem Erwartungsnutzen, weil es sich um einen Fall mit Gewissheit handelt] und (d) die erwartbaren Endniveaus. (a)/(b) repräsentieren die Ex-ante-Komponente des hybriden Prioritarismus und (d) die Ex-post-Komponente. Der Ex-ante-Komponente zufolge müssten wir eigentlich Tom helfen, dem es besser ergehen wird, weil die Hilfe für ihn den moralisch gewichteten Erwartungsnutzen größer werden ließe. Der Ex-post-Komponente zufolge müssten wir jedoch Ted helfen, weil dieser ansonsten mit dem schlechteren 25 Parfit

2012, 432.

258  |  Annette Dufner 

Endniveau vorlieb nehmen müsste. Aber was folgt nun dem hybriden Ansatz zufolge angesichts dieses Widerspruchs? Eine Lösung auf Grundlage des hybriden Prioritarismus generieren zu können, erfordert eine Entscheidung darüber, welches relative Gewicht der Ex-ante- und der Ex-post-Komponente gegeben werden sollte – eine Frage, zu der im Aufsatz von 2012 keine vollständige Antwort präsentiert wird. Das Problem hat noch weitere Facetten. Wenn man sicherstellen möchte, dass keine Beschwerde auf Grundlage eines konkurrierenden Anspruchs auf Seiten von Ted entstehen kann, dann muss man Ted helfen, egal wie groß der Erwartungsnutzen für Tom ist. Selbst wenn der erwartbare Nutzen für Tom enorm wäre, würde die Hilfe für Tom eine Situation schaffen, in der Ted auf einem schlechteren Niveau enden würde, keine Hilfe erhalten haben würde und nicht mit einer prudentiellen Kompensationsrechtfertigung zufrieden gestellt werden könnte. Dadurch entsteht ein Dilemma für den hybriden Prioritarismus. Entweder man stipuliert, dass die Ex-postKomponente in Fällen mit Gewissheit grundsätzlich gewichtiger ist (und vertritt in solchen Fällen damit keinen Hybridansatz mehr), oder man nimmt eine Beschwerde auf Grundlage konkurrierender Ansprüche von Seiten des Verlierers in Kauf. Parfit ist sich darüber im Klaren, dass ein Prioritarist, der mehrere prioritaristische Gesichtspunkte berücksichtigen möchte, »verschiedene Fragen über die relative Wichtigkeit dieser Tatsachen«26 beantworten muss, aber er behauptet keineswegs, eine vollständige Antwort auf all die möglichen Widersprüche zwischen den verschiedenen Komponenten zu haben. In seiner detailliertesten »teilweisen Antwort auf eine dieser Fragen«27 schreibt er: PP3: When different possible acts would have effects that would be expectably equally good […] we would have a stronger reason to act in any way that would give more of these expectable benefits to people who would otherwise be expectably worse off. If other things are equal, we ought to act in this way.28

26 Parfit 27 Ebd.

2012, 433.

28 Ebd.

Prioritaristischer Konsequentialismus?   |  259

In dieser teilweisen Antwort scheint Parfit die Ansicht zu vertreten, dass die erwartbaren Endniveaus manchmal entscheidend sein sollten. Sie sollten dann entscheidend sein, wenn der Erwartungsnutzen für jede Person bei jedem Vorgehen gleich groß wäre. Im Konfliktfall zwischen Ted und Tom hilft diese Aussage aber nicht weiter. Wir können aber deutlich mehr Nutzen generieren, wenn wir Tom helfen würden, also derjenigen Person, der es in jeder Hinsicht besser ergehen wird. In diesem Fall muss der hybride Prioritarist eine Entscheidung zwischen dem gewichteten Erwartungsnutzen und den erwartbaren Endniveaus treffen. Eine Entscheidung zugunsten des Erwartungsnutzens würde eine Situation herbeiführen, in der der Verlierer schlechter da steht. Der Verlierer könnte dann eine Beschwerde auf Grundlage eines konkurrierenden Anspruchs vorbringen und man könnte ihm keine prudentielle Kompensationsrechtfertigung anbieten. Falls man dieses letztere Problem jedoch unter allen Umständen verhindern möchte, so muss man der Expost-Komponente in solchen Fällen prinzipiell mehr Gewicht geben und damit vom Hybridansatz abweichen.

Wie Fälle mit Gewissheit zu entscheiden sind Ein möglicher Ausweg aus diesem Dilemma wäre die Einführung eines Prinzips von gerechten Chancen, wie es im Folgenden vorgeschlagen wird – eine Ausweg, der das Dilemma löst, aber stattdessen auch ein weiteres Problem aufwirft. Diesem Ausweg zufolge würde man nicht mehr nur die moralisch gewichteten Erwartungsnutzen und die erwartbaren Endniveaus für alle Betroffenen berücksichtigen. In Fällen mit Gewissheit würde man darüber hinaus einen weiteren Mechanismus einführen, der jedem Betroffenen eine gerechte Chance gibt, Profiteur zu sein. Natürlich bekäme nicht jeder notwendigerweise eine gleich große Chance, weil die für die einzelnen Personen zur Disposition stehenden Nutzen von unterschiedlicher Größe sein können. Insbesondere wenn die zur Disposition stehenden Nutzen von stark unterschiedlicher Größe wären, wäre dies absurd – so zum Beispiel, wenn einige der Betroffenen unter variablen Begleitumständen dem sicheren Tod ins Auge sähen und andere lediglich dem sicheren Verlust eines Lollipops. Eine plausible 260  |  Annette Dufner 

Methode, jedem eine gerechte Chance zu geben, bestünde darin, die Entscheidung vom moralisch gewichteten Erwartungsnutzen der Betroffenen abhängig zu machen. Auf diese Weise bliebe man der prioritaristischen Grundidee verbunden, während man zugleich dem Umstand gerecht würde, dass manche der Betroffenen ansonsten eine Beschwerde auf Grundlage eines konkurrierenden Anspruchs vorbringen könnten. Wenn das prioritaristische Kalkül beispielsweise dem Nutzen für Tom ein moralisches Gewicht von 5 gibt und dem Nutzen für Ted ein Gewicht von 4, dann würde man die Chancen im gleichen Verhältnis von 5:4 gestalten. Tom bekäme eine Chance von fünf Neunteln und Ted eine Chance von vier Neunteln, jeweils als Profiteur der Entscheidung zu enden. Prioritaristen können anerkennen, dass die Existenz konkurrierender Ansprüche immer einen Kompensationsmechanismus für diejenigen erfordert, die am Ende schlechter da stehen werden als andere. Wenn Prioritaristen einen solchen Mechanismus vorweisen können, dann ist evident, dass sie die Existenz konkurrierender Ansprüche durchaus ernst nehmen. In Fällen mit Risiko basiert dieser Kompensationsmechanismus auf der Ex-ante-Klugheit bestimmter Aspekte des prioritaristischen Kalküls für den zukünftigen Verlierer. In Fällen mit Gewissheit kann dieser Mechanismus durch das hier vorgeschlagene Prinzip gerechter Chancen abgebildet werden, das Chancen auf Grundlage des moralisch gewichteten Erwartungsnutzens der Betroffenen zuteilt. Der große Nachteil dieser Lösung besteht darin, dass das Gewähren von zumindest einer kleinen Chance auch für diejenigen, die erwartbarerweise auf einem schlechteren Niveau enden könnten, gegebenenfalls eine Situation herbeiführen kann, in der man diesen Personen dann tatsächlich helfen sollte – und zwar auch auf Kosten enormer Nutzenverluste für ihre Konkurrenten. Es kann argumentiert werden, dass dieser Umstand kontraintuitiv ist und eine Situation wieder herbeiführt, die mittels des Prioritarismus ursprünglich verhindert werden sollte. Aber in diesen sauren Apfel muss man beißen, wenn man eine Beschwerde auf Grundlage konkurrierender Ansprüche unter allen Umständen – also auch in Fällen mit Gewissheit – verhindern möchte. Man könnte geneigt sein, einzuwenden, dass die hier vorgeschlagene Lösung den Prioritarismus einiger Eigenschaften beraubt, die Prioritaristischer Konsequentialismus?   |  261

ihm ursprünglich zum Vorteil zu gereichen schienen. Es war ursprünglich beispielsweise angenommen worden, dass Prioritaristen nur auf die Größe bestimmter Nutzen sowie auf das Wohlergehensniveau der Empfänger zu achten brauchen. Nun stellt sich jedoch heraus, dass Prioritaristen in Fällen mit Gewissheit auch noch auf einen weiteren Faktor achten müssen: auf die Möglichkeit einer prudentiellen Rechtfertigung und daher gegebenenfalls auch auf einen kompensierenden Chancenmechanismus. Es ist in der Tat der Fall, dass die hier diskutierte Lösung dem prioritaristischen Kalkül einen weiteren Parameter hinzufügt. Sie beachtet nicht nur die Nutzen, die Wohlergehensniveaus und die Chancen, sondern auch noch prudentielle Rechtfertigungen. Dennoch bleibt die Lösung dem prioritaristischen Grundgedanken treu, weil die Chancenzuteilungen des zusätzlichen Rechtfertigungsmechanismus prioritaristisch gestaltet werden. Es gäbe etablierte Alternativen zu dieser prioritaristischen Gestaltung der Chancen. Man könnte beispielsweise allen Betroffenen eine gleich große Chance geben, unabhängig von ihren Erwartungsnutzen und ihren Wohlergehensniveaus. Oder man könnte allen Betroffenen mit vergleichsweise relevanten Ansprüchen gleich große Chancen geben.29 In Fällen mit unterschiedlichen Personenanzahlen in den betroffenen Parteien könnte man darüber hinaus allen Parteien unabhängig von ihrer Personenzahl (und damit auch unabhängig von den zusätzlichen gewichteten Nutzen dieser Personen) eine gleich große Chance geben30 oder stattdessen eine sogenannte individuelle Lotterie veranstalten, die unter dem Strich denjenigen Parteien mit den größeren Personenzahlen größere Chancen zugesteht (und dabei ebenfalls nicht auf die gewichteten Nutzen achten)31. Bei keiner dieser Methoden würde man der Größe der moralisch gewichteten Nutzenpotentiale oder dem Endniveau der Empfänger Bedeutung beimessen. Sich stattdessen zugunsten einer prioritaristischen Gestaltung der individuellen Chancen zu entscheiden, ist keineswegs offensichtlich. Eine solche Wahl erfordert ein substantielles Bekenntnis zu prioritaristischen Idealen und bleibt der prioritaristischen Grundidee daher treu. 29 Voorhoeve

2014, 64–87. von Taurek 1977, 293–316 und Lübbe 2008, 69–85. 31 Ursprünglich vorgeschlagen von Timmermann 2004, 106–12. 30 Vorgeschlagen

262  |  Annette Dufner 

Ein weiterer ursprünglicher Vorteil des Prioritarismus, den Kritiker des hier vorgeschlagenen gemischten Prioritarismus für Gewissheitsfälle in Gefahr sehen könnten, wäre der Umstand, dass der Prioritarismus ursprünglich non-relational verstanden wurde und daher als genuine Alternative zum relationalen Gleichheitsprinzip gesehen werden konnte. Wenn wir jedoch zunächst prüfen müssen, ob es konkurrierende Ansprüche gibt, bevor wir entscheiden können, welches prioritaristische Vorgehen anzuwenden ist, dann ist der Prioritarismus nicht mehr rein non-relational.32 Angesichts dieses Umstandes ist es jedoch wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Kritik, der Prioritarismus ignoriere konkurrierende Ansprüche, in sehr engem Zusammenhang steht mit der Konstruktion des Prioritarismus als non-relationale Position mit ausschließlicher Bezugnahme auf den moralischen Wert der Nutzen und die Wohlergehensniveaus der Empfänger. Wenn der Prioritarismus rein non-relational sein soll, dann ist es kein Wunder, dass er manchmal das Ignorieren konkurrierender Ansprüche riskiert. Doch Mehr-Personen-Fälle mit Gewissheit etwas anders zu behandeln als andere Fälle bedeutet nicht, dass man eine rein relationale Ansicht vertritt. Der gemischte Prioritarismus für Gewissheits-Fälle ist immer noch weniger relational als der (telische oder deontische) Egalitarismus. In Alltagsfällen mit Risiko beispielsweise würde dieser gemischte Prioritarismus unter bestimmten Umständen mehr Ungleichheit produzieren, weil er die Hilfe für Bessergestellte empfehlen würde. Sowohl telische als auch deontische Versionen des Gleichheitsprinzips würden in solchen Fällen Forderungen aufstellen, die in einem sehr viel stärkeren Sinn relational wären. Darüber hinaus würde ein weiterer der ursprünglich diskutierten und ein hiermit in Zusammenhang stehender Vorteil des Prioritarismus – seine Immunität gegen das Problem des Herun­ ternivellierens, um Gleichheit herbeizuführen – intakt bleiben. In Fällen mit Gewissheit spricht sich der gemischte Prioritarismus daher für einen Chancenmechanismus aus, der von relationalen Erwägungen motiviert ist. Dieser kann in der Tat Situationen schaffen, in der relationale Gesichtspunkte non-relationale Gesichtspunkte übertrumpfen. Aber die Art und Weise, in der die 32 Dies

ist einer der Punkte in Otsuka/Voorhoeve 2009, 185, 190. Prioritaristischer Konsequentialismus?   |  263

rela­tionalen Ansprüche der verschiedenen Individuen mittels dieses Mechanismus ermittelt werden, ist weiterhin von stark prioritaristischer Grundstruktur. Der gemischte Prioritarismus für Fälle mit Gewissheit ist weder den Angriffen ausgesetzt, die Otsuka/ Voorhoeve in ihrem ursprünglichen Aufsatz 2009 lancieren, noch den differenzierten Angriffen aus Otsukas Aufsatz von 2009. Darüber hinaus kann er ein Problem beantworten, dem auch Parfits Prioritarismus-Version von 2012 nicht entkommt. Der gemischte Prioritarismus kann in Fällen mit Gewissheit Beschwerden auf Grundlage konkurrierender Ansprüche verhindern. Der Preis, den man dafür zu zahlen hat, besteht darin, auch den­ jeni­gen zumindest eine kleine Chance geben zu müssen, die möglicherweise auf einem schlechteren Niveau enden werden als andere – und das selbst dann, wenn als Resultat hieraus eventuell enorme Nutzenpotentiale für andere nicht realisiert werden können. Die Alternative besteht darin, in den sauren Apfel zu beißen und eine Beschwerde der Verlierer in Kauf zu nehmen. Einen anderen Weg aus diesem Dilemma scheint es nicht zu geben.

264  |  Annette Dufner 

Sebastian Muders und Markus Rüther

Was ist falsch an ontologisch robusten Tatsachen? Einige Bemerkungen zu Derek Parfits ­nicht-realistischem Kognitivismus

Einleitung Derek Parfit vertritt nach eigener Aussage einen nicht-realistischen Kognitivismus. Dessen Kernbehauptung besteht in der Annahme, dass es normative Tatsachen gibt, die jedoch – und das ist seine Pointe – keinen ontologischen ›Fußabdruck‹ in der Wirklichkeit hinterlassen. Mit dieser Position grenzt er sich von zwei metaethischen Großtheorien ab, die im umfangreichen sechsten Teil von On What Matters (OWM) erläutert und zurückgewiesen werden. Auf der einen Seite kritisiert er die traditionellen nicht-kognitivistischen und naturalistischen Rekonstruktionen von Normativität. Sie müssen die Existenz von Normativität entweder tout court abstreiten oder naturalistisch auf nicht-normative Begriffe oder Eigenschaften bzw. Tatsachen reduzieren – beides Optionen, die Parfit für ungangbar hält. Auf der anderen Seite lehnt er aber auch solche Positionen ab, die man als ›robusten Realismus‹ bezeichnet. Dessen Vertreter behaupten, dass es normative Tatsachen gibt, die einen ontologischen Bestandteil der Wirklichkeit ausmachen. Diese Annahme weist Parfit zurück: Er geht vielmehr davon aus, dass sich eine Position entwickeln lässt, die völlig frei von ontologisch gewichtigen Vorannahmen in Bezug auf Normativität ist. Insgesamt strebt er also eine Mittelposition an: Es soll eine Theorie entwickelt werden, die – contra Nicht-Kognitivismus und Naturalismus – an der Existenz von irreduziblen normativen Tatsachen festhält, ohne dabei – contra robuster Realismus – diese als ontologisch ›gewichtig‹ deuten zu müssen. Kann dieser Spagat gelingen? Während wir durchaus Sympathien mit Parfits Kritik an den verschiedenen Versionen des Nicht-Kognitivismus und Naturalis  |  265

mus haben und seine Argumente hier in weiten Teilen akzeptieren, bleiben wir im Folgenden skeptisch, ob seine Abkehr vom robusten Realismus tatsächlich überzeugen kann. Um das aufzuzeigen, gehen wir in zwei Schritten vor. In einem ersten Abschnitt (1.) werden wir untersuchen, inwieweit Parfits eigene Auffassung normativer Tatsachen den robusten Realismus auf Distanz halten kann, sowohl in Hinsicht auf die Art von Entitäten, die seine Form des Kognitivismus annehmen muss, als auch in Hinsicht auf die daraus folgenden ontologischen Verpflichtungen. In einem zweiten Abschnitt (2.) werden wir einige Standardargumente besprechen, die gegen den robusten Realismus vorgebracht werden, denen Parfit vor dem Hintergrund seiner eigenen nicht-ontologischen Annahmen Gewicht beimessen könnte. Im Ergebnis wird sich herausstellen, dass Parfit erstens Schwierigkeiten hat, eine ontologisch gewichtige Form des Realismus von seiner eigenen Position zu unterscheiden: Zum einen sind seine Kriterien dafür, was in einem ontologisch gewichtigen Sinne existiert, weniger selektiv, als er meint. Zum anderen bleibt die onto­ logische Bedeutung seiner von Wahrmachern freien Propositionen unklar. Zweitens werden wir dafür argumentieren, dass Parfit gute Gründe hat, einen robusten Realismus zu akzeptieren: Zum einen hat er, soweit wir sehen, keine schlagkräftigen Argumente gegen diesen Ansatz vorgebracht. Zum anderen sprechen aber auch theo­ rieinterne Gründe dafür, dass Parfit diesen Ansatz ernsthaft als attraktive, an seine eigene Position gut anschließbare Alternative in Betracht ziehen sollte.

1.  Tatsachen ohne Ontologie? Parfit behauptet, dass wir nicht-realistische Kognitivisten sein können, ohne uns damit auf irgendwelche (interessanten) ontologischen Behauptungen festzulegen. Sein Hauptargument für diese Position ist, dass er uns ebenso wie Thomas Scanlon und Thomas Nagel einen ›dritten Weg‹ aus einem Dilemma anbietet: Normative Tatsachen können einerseits nicht auf natürliche Tatsachen reduziert werden; und es ist nicht ausreichend, die entsprechenden Begriffe wie ›gut‹, ›richtig‹, ›Grund‹ usw. als normativ zu deklarieren, 266  |  Sebastian Muders und Markus Rüther 

auch wenn sie sich auf natürliche Tatsachen beziehen. Andererseits erscheint vor dem Hintergrund dessen, was die Naturwissenschaften uns über die Welt lehren, die Annahme nicht-natürlicher Eigenschaften unhaltbar und ›merkwürdig‹. Während jedoch vergangene metaethische Realisten sich zwischen der Scylla des naturalistischen Realismus und der Charybdis des metaphysischen Nicht-Naturalismus verfingen, übersahen sie eine gangbare Alternative: »In the second half of the twentieth century, few ethical theorists even considered the kind of Non-Realist Cognitivism that Nagel, Scanlon, and I defend« (OWM III, 144). Der entscheidende, in der von diesen Philosophen vertretenen nichtrealistischen Form des Kognitivismus inbegriffene Unterschied liegt in der Art und Weise, wie sie die Behauptung verstehen, dass gewisse ethische Propositionen wahr sind: »We are Cognitivists but not Realists about some kind of claim if we believe that such claims can be true, but are not made to be true by correctly describing, or corresponding to, how things are in some part of reality« (OWM III, 59). Wie er in seinen Repliken auf Allan Gibbard und Peter Railton klarstellt, denkt Parfit, dass solch eine Position dabei behilflich sein wird, langanhaltende Debatten zwischen Nihilisten und Naturalisten auf der einen Seite und Nicht-Naturalisten auf der anderen Seite zu überwinden, zumindest in Bezug auf metaphysische Fragen.1 Wir sind jedoch der Überzeugung, dass diese Art von onto­logisch leichtgewichtigem Realismus letztendlich unbefriedigend bleiben wird. Im Folgenden werden wir zunächst versuchen zu bestimmen, welche Arten von genuin ›normativen Dingen‹, also Dinge oder Tatsachen über Dinge, auf die wir uns in unseren ethischen Urteilen beziehen, Parfit im Rahmen seiner Theorie annehmen muss (1.1): Gründe, Werte oder beides? In einem zweiten Unterabschnitt werden wir sodann nach dem ontologischen Status dieser normativen Dinge fragen (1.2). Im Ergebnis wird sich herausstellen, dass es Parfit tatsächlich nicht gelingt zu zeigen, dass die ontologische Frage für seine Domäne normativer Tatsachen einfach übergangen werden kann.

1 Vgl.

insb. OWM III, Kap. 42, 46 und 47. Was ist falsch an ontologisch robusten Tatsachen?  |  267

1.1  Gründe und Werte

In Bezug auf seine allgemeine Auffassung von Normativität stützt sich Parfit stark auf Scanlons Idee, Gründe als grundlegend für den Bereich des Normativen anzunehmen. In seinen Worten: »Any attempt to explain what it is to be a reason for something seems to me to lead back to the same idea: a consideration that counts in favor of it«.2 Da wir zur Erläuterung dieser Phrase selbst den Begriff des Grundes voraussetzen müssten, sieht Scanlon beide als gleichbedeutend an. Sein Vorschlag hat sich als äußerst einflussreich erwiesen, besonders bezüglich anderer Kandidaten für grundlegende normative Begriffe. So finden wir in Thomas Nagels jüngstem Buch Mind and Cosmos eine parallele Passage, in der er sich über Werturteile äußert, wie sie für gewöhnlich in normativen Ethiken gebraucht werden. Dort schreibt er: »[V]alues are not extra properties of goodness and badness but just such truths as the following: If something I do will cause another creature to suffer, that counts against doing it«.3 Während Gründe-Tatsachen uns auf die Dinge verweisen, auf die es letzten Endes ankommt, argumentiert diese Sichtweise dafür, dass ihnen allein kein ontologisches Gewicht zukommt: Sie bestehen vollständig aus natürlichen Tatsachen mit dem Zusatz einer Relation des ›Für-(oder »Gegen-‹; letztere Möglichkeit werden wir im Folgenden übergehen)-etwas-Zählens‹, mit der sie jemanden in bestimmten Situationen anleiten, gewisse Dinge zu tun: »Normative truths, in my view, constitute a distinct realm and need no metaphysical reality in order to have the significance that we commonly grant them«.4 Hieran schließt sich natürlicherweise die Frage an, wie die Rela­ tion des Für-etwas-Zählens ihre Funktion erfüllen kann. Wie kann eine natürliche Tatsache – etwa, dass das Messer scharf ist – für etwas sprechen – beispielsweise, dass ich vorsichtig damit umgehen sollte?

2 Scanlon

1998, 17. 2012, 77. 4 Scanlon 2014, 52. 3 Nagel

268  |  Sebastian Muders und Markus Rüther 

Ein prima facie plausibler Kandidat für eine überbrückende Enti­ tät, die natürliche Tatsachen und ihr Grundsein verbindet, wäre nun gerade ein Wert: Da die Schärfe des Messers es für ein Wesen wie mich gefährlich macht, sollte ich mit Vorsicht damit umgehen. Parfit scheint sich jedoch auch hier seinen Verbündeten Scanlon und Nagel anzuschließen und einen buck-passing-Ansatz des Wertvollen anzunehmen: Werte verweisen auf Gründe, nicht anders­herum – der letztgenannte Begriff ist der grundlegendere. Etwas ist gut, weil wir Gründe haben, es zu bevorzugen. Letztere wiederum gründen ausschließlich auf naturalistischen Tatsachen: On value-based theories, we do have […] reasons. These reasons are provided by various natural features of the objects of our desires, and it is from these reasons that all other reasons derive their force. That statement […] makes no use of the concepts good or value. When some object has such reason-giving features, we can call it good, but that is merely an abbreviation.5

Von nicht-naturalistischer Seite ist diese Auffassung allerdings angegriffen worden. Christoph Halbig hat argumentiert6, dass Werte eine unverzichtbare Rolle in Scanlons eigenen Beispielen für die Überlegenheit seines buck-passing-Ansatzes des Guten spielen. Die vermeintlich natürliche Eigenschaft des Angenehm-Seins einer Ferienanlage als Grund anzuführen, sie zu besuchen, gibt mir nur dann einen Grund, insofern sie tatsächlich angenehm ist. Ihr Besuch darf mir also nicht bloß ein zufriedenes Gefühl geben, sondern muss diese Zufriedenheit auch verdienen. Fügen wir diesen Zusatz hinzu, wird das Angenehm-Sein zu einer genuin normativen Eigenschaft der Ferienanlage, die unser Handeln anleitet – ein Wert. Auf die gleiche Art und Weise gibt uns die Schärfe des Messers nur dann einen guten Grund, vorsichtig damit umzugehen, wenn es für unsere physische Konstitution schädlich sein kann – wenn es also eine Gefahr darstellte, die unsere Aufmerksamkeit verdient. Solche Überlegungen haben Jay R. Wallace zu dem Schluss geführt, dass Scanlons Theorie nicht auf Werte als überflüssige Enti­ täten im Allgemeinen abzielt, sondern nur auf bestimmte Arten von Werten – nämlich sehr allgemeine oder ›dünne‹ Werte, wie etwa 5 Parfit

2001, 20. 2007, 136 f.

6 Halbig

Was ist falsch an ontologisch robusten Tatsachen?  |  269

das Gute oder Schöne.7 Wie er bemerkt, gilt das gleiche dann in Bezug auf Gründe: Es gibt keinen allgemeinen Grund, der allen von ihm geleiteten Handlungen zugrunde liegt. Stattdessen haben wir viele verschiedene Gründe, uns Dingen gegenüber moralisch korrekt, prudentiell korrekt etc. zu verhalten: Es gibt nichts, was diese Gründe jenseits ihrer handlungsleitenden Funktion gemeinsam­ haben ­müssen. Zusammenfassend scheint es höchst fragwürdig, ob wir unser normatives Vokabular erhellen können, ohne Werten eine substantielle Rolle einzuräumen. In dem Fall drängt sich die Frage auf, was Werte zusätzlich zu Gründen sind. Eine erste grobe Charakterisierung kann Werte als Eigenschaften beschreiben, die von konkreten (Personen, Handlungen, Bildern) oder abstrakten (Handlungs­typen, Theorien) Entitäten instanziiert werden. Sie supervenieren auf den natürlichen Eigenschaften dieser Entitäten und beurteilen sie in einer Weise, die das Verhalten von Entitäten anleiten (welche mit den Entitäten, die sie aufweisen, identisch sein können), die in der Lage sind, ihre Anforderungen zu erkennen und sich gemäß ihnen zu verhalten. William FitzPatricks Vorschlag, nach dem »many familiar facts and features of human life, behavior, and experience […] are also inherently value laden, and as such are the source of objective standards of goodness for us«,8 scheint uns einen vielversprechenden Einstiegspunkt für eine angemessene Theorie der Onto­logie von Werten darzustellen. Selbstverständlich bedürfen alle Elemente dieser Arbeitsdefinition einer weiteren Verfeinerung. Der folgende erste Vorschlag bezüglich der verhaltensleitenden Rolle von Werten scheint sich uns jedoch nahezulegen: Diese Rolle scheint über Gründe ausbuchstabiert werden zu können, verstanden als eine Art von Normen, die eine Person, einen bestimmten Handlungstyp und verschiedene Hintergrundbedingungen nennen, unter denen die Norm gültig ist. Während wir damit Scanlons eigene Annahmen bezüglich der zentralen Elemente, die Gründe ausmachen, aufgreifen9, möchten wir uns so nur auf die Behauptung festlegen, dass Gründe und 7 Vgl.

Wallace 2002, 448 f. 2008, 196. 9 Vgl. Scanlon 2014, 12 f. 8 FitzPatrick

270  |  Sebastian Muders und Markus Rüther 

Werte in gleichem Maße wichtig für normative Diskurse sind, und zwar in dem Sinne, dass weder diese auf jene noch jene auf diese ontologisch reduziert werden können. Dennoch sind wir der Auffassung, dass Werten, so wie wir sie bisher dargestellt haben, in der Analyse alltäglicher normativer Diskurse explanatorische Priorität zukommt: Wir beziehen uns auf sie, wenn wir versuchen, unsere Gründe zu rechtfertigen, genauer: Wenn wir versuchen zu rechtfertigen, warum bestimmte Tatsachen dafür (oder dagegen) sprechen, etwas zu tun. Gleichwohl erweisen sich Gründe als unverzichtbar, wenn wir versuchen darzulegen, was die normativen Konsequenzen der Anerkennung von Werten sind. Parfit selbst scheint diesem Bild nicht abgeneigt zu sein, wenigstens hinsichtlich der Existenz von Gründen. Dies legen seine Bemerkungen zur »value-based objective theory [of moral reasons]« nahe, wie er sie in OWM verteidigt.10 Dort charakterisiert er seine Auffassung wie folgt: Object-given reasons are provided by the facts that make certain outcomes worth producing or preventing, or make certain things worth doing for their own sake. In most cases, these reason-giving facts also make these outcomes or acts good or bad for particular people, or impersonally good or bad. (OWM I, 45)

Im Folgenden gibt er eine Reihe von Beispielen von Tatsachen, die Dinge beinhalten, die für ihn im »reason-involving sense« wertvoll sind: Some book may be good, for example, by being enjoyable, or inspiring, or containing useful information. Some medicine may be the best by being the safest and the most effective. These facts may give us or others reasons to read this book, or to take this medicine. (OWM I, 38)

Beide Beispiele scheinen zu der obigen Art und Weise zu passen, mit der wir die Tatsache analysiert haben, dass ein Messer scharf ist, was wiederum dazu führt, dass es für unsere physische Konstitution (ein erhaltenswertes Gut) gefährlich ist. Auf die gleiche Art und Weise sorgt die Tatsache, dass ein Buch eine bestimmte Geschichte 10 OWM

I, 2. Wie Parfit deutlich macht, schränkt er seine Theorie aller-

dings nicht auf moralische Gründe ein.

Was ist falsch an ontologisch robusten Tatsachen?  |  271

enthält, dafür, dass es unterhaltsam ist für Wesen wie uns, was uns wiederum einen Grund gibt, es zu lesen. So weit können wir Parfit im Sinne unseres eigenen Vorschlags interpretieren: Es ist weder der Fall, dass gewisse natürliche Tatsachen identisch sind mit den Gründen, die unser Verhalten anleiten, noch ist es der Fall, dass uns diese Tatsachen direkt Gründe geben, wie Nagel anzunehmen scheint. Stattdessen brauchen wir eine vermittelnde Wert-Tatsache, aus der diese Gründe abgeleitet werden können: Wenn etwa ›Leid‹ auf wertneutrale Art und Weise verstanden wird, müssen wir hinzufügen, dass es (normalerweise) schlecht für das leidende Wesen ist, um einen Grund zu haben, Handlungen, die dazu führen, dass (andere) Wesen leiden, zu unterlassen. Als vorläufige Schlussfolgerung möchten wir festhalten, dass es für Parfit vielversprechend erscheint, Tatsachen über Werte und Tatsachen über Gründe als (zumindest) gleichermaßen grund­legend zu betrachten. Dies würde es ihm dennoch erlauben, einen buck-passing-Ansatz für dünne normative Begriffe im Gegensatz zu dichten zu vertreten. Eben dies scheint er in OWM zu tun: When we use ›good for‹ and ›good‹ in [an impersonal or personal sense], these are merely briefer ways of implying that there are such other, reason-giving facts. Unlike the concept of a reason, and the decisive-reason-implying concept should or ought, these versions of the concept good are not fundamental. (OWM I, 42)

1.2  Die Ontologie des Normativen

So bleibt die sich unverändert aufdrängende Frage bestehen, was wir über die Ontologie von Gründe- und Wert-Tatsachen denken sollten. Gegeben seine affirmative Haltung gegenüber Gründe-Tatsachen, wie sie im vergangenen Abschnitt dargestellt wurde, können wir Parfit so deuten, dass er den gleichen Status auch Wert-Tat­sachen zuweist. Offensichtlich denkt er also nicht, dass Werte durch subjektive mentale Zustände wie Wünsche, Ziele und Entscheidungen generiert werden können, denn er definiert seine wichtigste Gegenposition, nämlich subjektive Theorien, als Sichtweisen, die ­»appeal to facts about our present desires, aims, and choices« (OWM I, 58), wenn er erklärt, wie sich nach ihrer Ansicht Gründe generieren. 272  |  Sebastian Muders und Markus Rüther 

Wenn Gründe von Wert-Tatsachen, aber nicht von Wünschen, Zielen und Entscheidungen geliefert werden, dann können auch Werte selbst nicht von diesen Dingen geliefert werden, denn ansonsten würden Gründe letztendlich auf ihnen basieren. Eine andere prominente Strategie, Wert-Tatsachen prima facie nicht über einen eigenständigen ontologischen Rahmen zu begründen, nämlich durch Bezug auf unsere Rationalität, wird von Parfit ebenso zurückgewiesen. Nach dieser Strategie kann die Tatsache, dass etwas wertvoll ist, als etwas definiert werden, das zu tun (pro tanto) rational wäre. Er bespricht etliche Theorien dessen, wie Rationalität ein normatives Maß für Wünsche darstellen kann, welche uns wiederum dazu motivieren, entsprechend zu handeln. Im Ergebnis hält er fest, dass »[t]he rationality of our desires […] does not depend on their origin, or on their consistency with other desires« (OWM I, 128). Des Weiteren weist er Theorien zurück, die behaupten, dass »[o]ur desires are rational […] if they were formed through autonomous deliberation« (ebd., 126), wobei »autonome Deliberation« hier auf deskriptiv-prozedurale Art und Weise verstanden wird. Anstatt Werte durch Rationalität zu definieren, bevorzugt er die inverse Strategie: »[D]esires are rational, as objective value-based theories claim, when they depend on beliefs whose truth would make their objects in some way good, or worth achieving« (ebd., 129). Aber was ist die ontologische Natur dieser Werte und der aus ihnen folgenden Gründe? Oder genauer: Warum sollten wir mit Parfit sagen, dass sie überhaupt keinen ontologischen ›Abdruck‹ in dieser Welt hinterlassen? Parfits Antwort stützt sich auf eine Unterscheidung, die er zwischen Entitäten trifft, die in Zeit und Raum existieren, solchen Dingen, die nicht in Zeit und Raum existieren, aber dennoch in einem anderen (»schwächeren«) Sinne existieren, und Dingen, die überhaupt nicht in irgendeinem »ontologischen Sinn« existieren, aber dennoch wahr sind: Unlike entities that are merely possible rather than actual, such normative properties and truths do not have a lesser ontological status. Like numbers and logical truths, these normative properties and truths have no ontological status. These properties and truths are not, in relevant senses, either actual or merely possible, or either real or unreal. In asking whether there are such normative truths, we need not answer ontological questions. (OWM II, 487) Was ist falsch an ontologisch robusten Tatsachen?  |  273

Parfits Hauptargument für diese Behauptung enthält zwei Prämissen: Nach der ersten Prämisse gibt es einige Arten von Wahrheiten, etwa mathematische Wahrheiten, deren Wahrheit gewiss ist, während ihr ontologischer Status jedoch unklar bleibt – in dem Sinne, dass unklar bleibt, welche Kriterien herangezogen werden können, um zu entscheiden, ob sie in einem ontologisch interessanten Sinn existieren. Dennoch gilt: »[T]there must be a sense in which there are numbers, or in which numbers exist« (OWM II, 479). Das gleiche gilt nun für normative und hier insbesondere moralische Wahrheiten: »Normative beliefs can [...] be self-evident, and intrinsically credible. One such belief is […] ›Torturing children merely for fun is wrong‹.« (OWM II, 546) Da wir ohne Probleme von Tatsachen sprechen können wie derjenigen, dass es falsch ist, Kinder bloß zum Vergnügen zu foltern, muss es eine Art und Weise geben, ihre Wahrheit sicherzustellen. Die zweite Prämisse betont die Tatsache, dass gewisse Wahrheiten, beispielsweise Wahrheiten über abstrakte mathematische Objekte und auch normative Wahrheiten, immer noch wahr sein würden, selbst wenn das Universum aufhörte zu existieren oder nie existiert hätte: »Even if nothing had ever existed, there would have been prime numbers greater than 100« (OWM II, 482). Parfit meint, dasselbe gelte auch für andere normative Wahrheiten, die als Gründe formuliert werden können. Eine ähnliche Idee finden wir in Scanlons Werk Being Realistic About Reasons. Er konstatiert dort: The essentially normative content of a statement that R [Scanlons Platzhalter für einen »pure normative claim«](p, x, c, a), is independent of whether p [diese Variable steht für eine naturalistische Tatsache im Sinne Scanlons] holds: This normative content lies in the claim that, whether p obtains or not, should p hold then it is a reason for someone in c [diese Variable steht für die Umstände, in denen R Gültigkeit besitzt] to do a.11

Selbst wenn p aufhören würde zu existieren oder nie existiert hätte, würde dies also in keiner Weise die Existenz und Gültigkeit von R kompromittieren. In diesem Sinne sind Gründe unabhängig davon, wie die Welt ist – oder ob sie überhaupt ›ist‹. Analog könnte man nun im Falle von Werten sagen: Dass die Beschaffenheit bestimmter 11 Scanlon

2014, 36 f.

274  |  Sebastian Muders und Markus Rüther 

Dinge, etwa Menschen oder Folterhandlungen, ihnen einen Wert zuweist, etwa denjenigen der Würde oder Grausamkeit, ist eine Tatsache, die unabhängig davon ist, ob diese Dinge tatsächlich existieren. Zusammenfassend kann Parfits nicht-metaphysisches Argument wie folgt rekonstruiert werden: 1. Einige Wahrheiten, auch normative Wahrheiten wie beispielsweise das moralische Verbot, Kinder zu quälen, sind über alle Zweifel erhaben und müssen daher in irgendeinem Sinne wahr sein. 2. Alles, was (in einem ontologisch gewichtigen Sinne) existiert, könnte aufhören zu existieren oder nie existiert haben, und dennoch würden diese Wahrheiten weiterbestehen. (K) Daher müssen normative Wahrheiten in einem ontologisch nicht gewichtigen Sinne existieren. Wir denken nun, dass es zumindest einige Wahrheiten gibt, die die erste Prämisse erfüllen, und sympathisieren auch mit der Auffassung, dass diese Wahrheiten ein breites Spektrum an moralischen Wahrheiten umfassen, die kaum bezweifelt werden können.12 Die zweite Prämisse erscheint uns jedoch zweifelhafter. Parfits Argument stützt sich teilweise auf sein Verständnis dessen, was es bedeuten würde, dass »nothing ever existed«. Seine illustrative Liste umfasst »no living beings, no stars, no atoms, not even space or time«. (OWM II, 482) Mit Ausnahme von Raum und Zeit sind das aber Dinge, die selbst innerhalb von Raum und Zeit existieren. Kurzgefasst hieße das, dass selbst bei Nichtexistenz der raumzeitlichen Realität Dinge, die als außerhalb dieser Sphäre liegend aufgefasst werden, sehr wohl immer noch existieren würden. Wenn wir jedoch nicht bereits im Voraus annehmen, dass die raumzeitliche Realität das einzige ist, was im vollen Sinne des Wortes real sein kann, dann gibt es keinen besonderen Grund zu denken, dass die Nichtexistenz 12 In

einem neueren Aufsatz rücken Terence Cuneo und Russ ShaferLandau das, was sie als »moral fixed points« bezeichnen, in das Zentrum ihrer eigenen nicht-naturalistischen Theorie. Diese bezeichnen eine Menge an »substantive moral propositions […] that are also nonnaturalistic conceptual truths«. Vgl. Cuneo/Shafer-Landau 2014, 2. Was ist falsch an ontologisch robusten Tatsachen?  |  275

des Universums auch in der Abwesenheit normativer Tatsachen resultieren sollte, wenn sie ebenfalls ein robustes ontologisches Wesen hätten. Dies scheint umso plausibler, wenn man die Unabhängigkeit von (reinen) normativen Tatsachen von denjenigen Dingen akzeptiert, auf die sie in unserer Welt angewendet werden, wie Scanlon es tut, indem er diesen Tatsachen eine bedingte Form gibt. Parfit nennt zwei Gründe für diese Auffassung darüber, was für ihn als ontologisch robust zählt: Der erste Grund geht davon aus, dass viele Wahrheiten zwar etwas benötigen, das sie in der realen Welt wahr macht, damit aber nicht gesagt ist, dass dies eine notwendige Bedingung dafür ist, um in einem nicht-ontologischen Sinne zu existieren: »Truths need only be true« (OWM II, 482). Der zweite von Parfit erwähnte Grund macht geltend, dass es schwer ist, der Frage Herr zu werden, was es bedeuten könnte, dass etwas in einem ontologisch gewichtigen Sinn existiert, wenn man die raumzeitliche Realität als Kriterium einmal außen vor lässt. Er betrachtet einige Vorschläge, wie beispielsweise, dass alle robuste Entitäten »da draußen« (out there) zu finden seien, dass sie »Teil des grundlegenden Mobiliars der Wirklichkeit« (part of the ultimate furniture of reality) oder »konstitutiv für die Wirklichkeit« (constitutive of reality) sein müssen. Er kommt zu dem Schluss, dass alle diese Vorschläge es versäumen, uns ein klares Kriterium dafür zu liefern, was es für abstrakte Dinge heißen könnte, ontologisch schwergewichtig zu sein. Im Gegenteil: Bestenfalls würde für alle diese Vorschläge gelten, dass sie weiterer Erklärung bedürften (vgl. OWM II, 479). Um mit Parfits zweitem Grund zu beginnen: Es ist uns nicht klar, warum er denkt, dass es um die Rechtfertigung raumzeitlicher Entitäten als genuinen Bestandteilen der Wirklichkeit besser bestellt ist. Was wir benötigen, ist ein Kriterium, das sie gegenüber abstrakten und normativen Tatsachen nicht von vornherein bevorzugt. Klarerweise denken wir, dass Hunde, Bäume und Menschen Teil des Mobiliars der Welt sind: Wir können sie sehen, fühlen, hören und berühren. So weit funktioniert der Test für Lebewesen. Mit Sternen verhält es sich etwas schwieriger, aber sicherlich können wir sie sehen und die Naturwissenschaft erklärt uns ihre Beschaffenheit. Wie steht es um Atome? Diese können wir nicht sinnlich wahrnehmen und einige nicht-realistische Ontologen, etwa empirische Konstruktivisten, neigen zu einem Agnostizismus in Bezug auf ihre 276  |  Sebastian Muders und Markus Rüther 

Existenz.13 Aber da unsere besten wissenschaftlichen Theorien sie gebrauchen, wenn sie die Dinge erklären, die wir sehen, hören, fühlen usw. können, mag dies Grund genug sein, sie zur Liste der ontologisch gewichtigen Entitäten hinzuzufügen. Alle diese Dinge sind auch »da draußen« – im Falle räumlicher Entitäten kann die Metapher wortwörtlich genommen werden. Aber ist der Raum auch »da draußen«? Ist Zeit »da draußen«? Und wie sollen wir – in einer Art und Weise, die abstrakte Entitäten klar ausschließt – entscheiden, ob Hunde oder die Atome, aus denen sie bestehen, »Teil des grundlegenden Mobiliars der Wirklichkeit« oder »konstitutiv für die Wirklichkeit« sind? Des Weiteren könnte die Argumentation, die uns Parfits Beispiele für ontologische Entitäten hat berücksichtigen lassen, dafür kritisiert werden, dass sie raumzeitliche Dinge bevorzugt. Im Gegensatz dazu scheint es keineswegs offensichtlich zu sein, dass wir nicht empirisch erkennen können, dass manche Gründe in gegebenen Situationen zutreffen oder dass eine Handlung unhöflich, hilfreich oder verpflichtend wäre. Wenn wir ›empirisch auffindbar‹ mit ›naturwissenschaftlich untersuchbar‹ gleichsetzen, wird diese Behauptung selbstverständlich fehlschlagen; aber genau diese Gleichsetzung erscheint vielen als bestenfalls zu stark vereinfacht und schlimmstenfalls als unhaltbar. Kommen wir zum ersten von Parfit angeführten Grund – dass Wahrheiten als solche lediglich wahr sein können, ohne dass sie unbedingt durch weitere Entitäten wahr gemacht werden müssten. Ein kursorischer Blick auf die Literatur zu Wahrmachern14 zeigt in der Tat, dass eine signifikante Anzahl an Positionen die Auffassung vertritt, dass nicht jede Wahrheit etwas benötigt, das sie wahr macht. Aber dies führt zur Frage, warum normative Wahrheiten in diese Kategorie fallen sollten.15 Dass mathematische Wahrheiten immer als locus classicus van Fraassen 1980. MacBride 2013. 15 Im Appendix J unterscheidet Parfit zwischen einer metaphysischen Wirklichkeit (die Raum und Zeit mit umfasst) und einer nicht-metaphysischen Wirklichkeit (die etwa »some [...] kinds of abstract entity, and [...] some necessary truths, such as certain logical, mathematical and normative truths« (OWM II,746) umfasst). Somit sind Abstraktheit und Notwendigkeit zwei mögliche Kriterien für ontologische Leichtgewichtigkeit. Wie jedoch das »some« in beiden Fällen nahelegt, sind sie nicht hinreichend dafür. 13 Vgl.

14 Vgl.

Was ist falsch an ontologisch robusten Tatsachen?  |  277

noch wahr wären, selbst wenn die Welt niemals existiert hätte, ist, wie wir oben gesehen haben, in hohem Maße davon abhängig, wie wir diese Behauptung verstehen: Wenn die Gesamtheit raumzeitlicher Wirklichkeit niemals begonnen hätte zu existieren, könnte 1 + 1 = 2 immer noch wahr sein. Wenn jedoch nichts je existiert hätte, wäre die einzig verbleibende Wahrheit vielleicht genau diese – nichts hat je existiert. Welches Kriterium würde uns erlauben zu entscheiden, ob mathematische Wahrheiten immer noch da wären? Wir gehen davon aus, dass dieses Szenario zu weit von unseren alltäglichen Erfahrungen entfernt ist, um angemessen an unseren Intuitionen überprüft werden zu können. Während wir ebenfalls denken, dass es Ähnlichkeiten zwischen mathematischen, logischen und normativen, etwa moralischen, Wahrheiten bezüglich ihrer ontologischen Natur gibt, bestehen auch wichtige Unterschiede: Letztere weisen weniger Verbindungen zu spezifischen weltlichen Tatsachen auf (die Supervenienz normativer auf nicht-normative Tatsachen hat kein korrespondierendes Äquivalent im Falle logischer Tatsachen; letztere sind nicht wahr vermittels der ganzen Welt), sie sind weniger gewiss (selbst wenn manche moralischen Wahrheiten wie z. B., dass wir keine Kinder zum Vergnügen foltern sollten, den gleichen epistemologischen Status wie mathematische Wahrheiten haben, gilt dies nicht für die große Mehrheit moralischer Wahrheiten, die nicht im gleichen Maße evident zu sein scheinen) und viel relativer in Bezug auf das, was Cuneo und Shafer-Landau »beings like us in a world much like ours«16 nennen (mathematische Wahrheiten blieben unverändert, selbst in möglichen Welten, die sich von unserer in Bezug auf Naturgesetze, Lebensformen u. a. viel mehr unterscheiden). Eine Antwort auf diese Unterschiede sollte sich im für diese Tatsachen charakteristischen Wesen finden. Ob dies die Annahme weltlicher Wahrmacher glaubhaft macht, ist schwer zu sagen. Viel hängt davon ab, wie diese Charakteristika zu interpretieren sind: Wo in diesem Bild stehen zum Beispiel Werte? Sind sie lediglich eine weitere höherstufige Art von normativen Tatsachen, die in einer systematischen Beziehung zu Gründen stehen, aber in ontologischer Hinsicht ähnlich leichtgewichtig sind? Folgen wir Parfit, 16 Cuneo/Shafer-Landau

2014, 6.

278  |  Sebastian Muders und Markus Rüther 

sollten wir sie vermutlich nicht als weltliche Eigenschaften auffassen, die den Dingen inhärieren, mit denen sie sprachlich verbunden sind – Handlungen, Charaktere oder Situationen. Aber wir wollen einmal annehmen, Parfit liege richtig: Normative Wahrheiten benötigen nichts außer ihrer selbst. Dass man eine gewisse Klasse von Tatsachen ›Wahrheiten‹ nennt, bedeutet nicht, dass man alle ontologischen Fragen umgehen kann, indem man behauptet, diese Dinge seien schlicht wahr und nichts anderes. Es ist sicherlich der Fall, dass diese Tatsachen bedeutungsvolle wahre Propositionen bilden, die aus Begriffen bestehen, auf die wir erfolgreich Bezug nehmen, wenn wir die angemessenen sprachlichen Ausdrücke verwenden. Indem wir sie als geistunabhängige objektive Entitäten auffassen, würde sich Parfit wohl teilweise der Auffassung anschließen, die Cuneo und Shafer-Landau als die »traditionelle Sichtweise« bezeichnen: In the first place, concepts are not mental or linguistic entities. They are not ideas in the head, sentences in the brain, or anything of that sort. Rather, they are abstract, sharable, mind-independent ways of thinking about objects and their properties. As such, they are very much objective, ›out there‹ sorts of things, extra-mental items whose existence does not depend on our employing them in thought or language.17

Zweifellos würde Parfit nicht jedem Aspekt dieser Beschreibung zustimmen: Begriffe als »›out there‹ sorts of things«? Vielleicht würde er den von ihm mit Bezug auf die Wahrmacher normativer Tatsachen gemachten Vorschlag erneuern: Es ist nicht nur so, dass diese Wahrheiten keine ontologischen Gegenstücke benötigen, die ihren Status als Wahrheiten sicherstellen; auch sie selbst benötigen überhaupt nichts ontologisch Substantielles, das ihr eigenes Sein sicherstellt, denn sie haben keines. Selbstverständlich können wir uns auf sie beziehen, aber das gleiche gilt auch für andere abstrakte Entitäten wie beispielsweise mathematische Wahrheiten, und damit sind wir schließlich auch erfolgreich. An diesem Punkt scheint sich Parfits oben angeführte Behauptung, dass es unklar sei, was es bedeute, dass abstrakte Entitäten »da draußen« oder »Teil des Mobiliars der grundlegenden Realität« 17 Cuneo/Shafer-Landau

2014, 11.

Was ist falsch an ontologisch robusten Tatsachen?  |  279

seien, gegen ihn selbst zu wenden: Es scheint nicht klar zu sein, was es für Parfits nicht-realistischen Kognitivismus bedeuten könnte, sich auf etwas zu beziehen, das kein ontologisches Gewicht aufweist. Im Ergebnis erscheint es ad hoc, abstrakte Enti­täten schlicht für ontologisch uninteressant zu erklären. Aber warum sollte man dann nicht für den robusten Realismus optieren und annehmen, dass moralische Tatsachen Bestandteile des Mobiliars oder der Beschaffenheit der Wirklichkeit sind?

2.  Der robuste moralische Realismus Im vorigen Abschnitt haben wir ein negatives Argumentationsziel verfolgt: Wir haben versucht aufzuzeigen, an welcher Stelle Parfits nicht-realistischer Kognitivismus mit einer besonderen Schwierigkeit konfrontiert ist. Hierbei hatte sich herausgestellt, dass sich – anders als es Parfit intendiert – ontologisch gewichtige Annahmen nur schwerlich vermeiden lassen. Vielmehr scheint sein nicht-realistischer Kognitivismus als allgemeine Theorie des Normativen auf die folgenden beiden Thesen im Bereich der Moral festgelegt: (1) Es existieren nicht-natürliche moralische Wahrheiten. (2) Es existieren nicht-natürliche, ontologisch gehaltvolle moralische Eigenschaften und Tatsachen. These (1) entspricht der ontologisch ›unschuldigen‹ Position, die Parfit verteidigt. Demnach existieren zwar moralische Wahrheiten, aber keine ontologisch gewichtigen Eigenschaften und Tatsachen, die ihnen entsprechen würden. Vielmehr lassen sich in der Wirklichkeit lediglich Tatsachen und Eigenschaften finden, die mittels der Naturwissenschaften als natürliche Tatsachen und Eigenschaften ausgewiesen werden. Ontologisch robuste moralische Tatsachen sucht man hingegen vergebens. Nehmen wir jedoch die Argumentation des letzten Abschnittes ernst, hat Parfit gute Gründe, auch These (2) zu vertreten. Demnach sollte er nicht nur behaupten, dass moralische Wahrheiten existieren, sondern muss auch Eigenschaften und Tatsachen annehmen, die einen ontologischen ›Fußabdruck‹ hinterlassen und einen eigenständigen normativen Bestandteil der Wirklichkeit bilden. 280  |  Sebastian Muders und Markus Rüther 

Am Ende sehen wir Parfit damit auf eine Position festgelegt, die man im Diskurs als robusten moralischen Realismus bezeichnet.18 Was aber bedeutet das konkret? Im Kern behauptet ein robuster Realist in etwa Folgendes: Er behauptet, dass moralischen Tatsachen und Eigenschaften eine vollständige19 Unabhängigkeit von subjektiven Leistungen zukommt. Ob eine bestimmte moralische Tatsache besteht, hängt nicht von den Einstellungen des Subjekts, der Gesellschaft oder der Kultur ab, sondern sie besteht unabhängig davon. Damit wird nicht geleugnet, dass die genannten Einstellungen Bedingungen dafür bilden können, moralische Tatsachen zu entdecken.20 Was infrage gestellt wird, ist vielmehr, dass diese Bedingungen moralische Tatsachen in einem auch nur minimalen Sinn ontologisch konstituieren. Sie existieren, um es metaphorisch zu sagen, als eigenständige Bestandteile im Mobiliar der Wirklichkeit. Das wiederum muss nicht bedeuten, dass der robuste Realist moralische Entitäten in der gleichen Weise als subjektunabhängig deuten muss wie physikalische, chemische oder biologische Entitäten. Hier besteht aus unserer Sicht eine klare Disanalogie. Anders als im Fall der genannten naturwissenschaftlichen Entitäten existieren, wenn es keine Menschen mehr gibt, auch keine (im engeren Sinne21) moralischen Entitäten. Das liegt aber nicht daran, dass Menschen moralische Entitäten auch nur partiell konstituieren, sondern daran, dass sich viele moralische Entitäten – Gründe und Werte – auf Menschen und ihre Handlungen beziehen. Wenn demnach keine Menschen mehr existieren, lassen sich folglich auch keine moralischen Entitäten mehr auffinden. Der robuste Realist kann demnach 18 Siehe

für diesen Terminus etwa Enoch 2011. Ausdruck ›vollständig‹ ist an dieser Stelle wichtig, denn im jüngeren Diskurs gibt es eine Reihe von Positionen, die zumindest eine partielle Abhängigkeit von Subjektivitätsleistungen konstatierten. Das ist etwa die Position von John McDowell, der seinen metaethischen Ansatz als »weak realism« bezeichnet. Vgl. McDowell 1994, S. 89. 20 Auf diese häufig unterschlagene Differenzierung zwischen epistemischen Ermöglichungs- und ontologischen Konstitutionsbedingungen wird etwa in Darwall 1998, 65 hingewiesen. 21 Darunter verstehen wir Entitäten, die sich auf Menschen und ihre Handlungen beziehen. Unter dem weiten Bereich verstehen wir alle Gegenstände, die sich auf Nicht-Menschliches beziehen, darunter etwa Gegenstände der Tier- und Naturethik. Diese Bereiche wollen wir an dieser Stelle ausklammern. 19 Der

Was ist falsch an ontologisch robusten Tatsachen?  |  281

an der existenziellen Unabhängigkeit moralischer Entitäten festhalten und mit Blick auf ihren ausschließlich humanen Bezugspunkt eine Differenz zu naturwissenschaftlichen Entitäten einräumen.22 An dieser Stelle möchten wir nicht verschweigen, dass wir selbst einige Sympathien für diese Position haben.23 Für uns ist es daher nicht sonderlich beunruhigend, wenn Parfit auf einen robusten Realismus festgelegt wäre. Diese Meinung wird aber bei weitem nicht von allen Metaethikern geteilt. Der robuste moralische Realismus ist zahlreichen Kritiken ausgesetzt, die manchmal sogar Zweifel aufkommen lassen, ob eine solche Position überhaupt als diskus­sions­ würdig betrachtet werden sollte.24 Parfit selbst hält sich hier vergleichsweise bedeckt. So finden sich in seinen Schriften tatsächlich keine direkten Argumente gegen den robusten Realismus, sondern lediglich Argumente gegen verschiedene Versionen des Naturalismus, Nicht-Kognitivismus und des Subjektivismus. Der robuste Realismus kommt nur ins Spiel, wenn es um die Konturierung des eigenen Ansatzes geht. So sagt Parfit mehr als nur einmal, dass er den Argumenten seiner Gegner entkommen kann, da sein nicht-realistischer Kognitivismus die kritisierte These nicht implizieren würde.25 22 Vgl.

für diese Differenzierung der Subjektivitätsbedingung auch Svavarsdóttir 2001, 162. 23 Für die Verteidigung einer solchen Position in der Metaethik siehe Rüther 2013 und 2015. Siehe auch den Beitrag Muders/Rüther 2013, der allerdings die besagte Position aus dem Kontext der angewandten Ethik heraus entwickelt. 24 Allerdings deutet sich in der jüngeren metaethischen Theorienbildung an, dass der Realismus im Allgemeinen und seine nicht-naturalistische Variante im Speziellen mittlerweile durchaus ernst genommen werden, was sicherlich auch mit der wachsenden Anzahl seiner renommierten Vertreter zu tun hat. Angefangen mit Shafer-Landaus Moral Realism 2003 sind gerade in den letzten Jahren zahlreiche Publikationen erschienen, die die Verteidigung eines robusten nicht-natürlichen Realismus zum Gegenstand haben. Siehe etwa FitzPatrick 2008, Huemer 2006, Cuneo 2007, Wedgwood 2007, Tännsjö 2010 und Enochs 2011, Vgl. für weitere Erläuterung zur realistischen Tendenz in der Metaethik die Ausführungen in Finlay 2010, 57 (Fn. 1), der sogar eine Spannung zwischen der Selbstdeutung des Realisten als Minderheitenposition und der faktischen Verteilung feststellt. Siehe auch die Umfrage von David Chalmers und David Bourget, in der der Realismus mittlerweile als Mehrheitsposition erscheint: http://philpapers.org/surveys/results.pl. 25 In privater Korrespondenz schlug uns Parfit vor, dass er in Bezug auf moralische Entitäten an der No Clear Question View festhält. Nach dieser Auf282  |  Sebastian Muders und Markus Rüther 

Eine bestimmte These nicht vertreten zu müssen, sagt uns aber noch nichts über die Gründe, warum man diese ablehnt. Welche ontologischen Argumente könnte Parfit gegen den robusten moralischen Realismus ins Feld führen? Diese Frage wird umso drängender, wenn wir das Ergebnis des letzten Abschnitts hinzunehmen, nämlich, dass Parfit selbst die Sogwirkung dieser Position auf seine eigene Theoriebildung zu unterschätzen scheint. Im Folgenden werden wir versuchen, etwas Licht auf die Optio­ nen zu werfen, die Parfit haben könnte, um die ontologischen Verpflichtungen des robusten Realismus zu kritisieren. Zunächst werden wir uns auf John Mackies locus classicus konzentrieren – das Argument der Absonderlichkeit (2.1). Dies ist ein immer noch viel diskutiertes Argument, es scheint uns aber die Möglichkeiten des robusten Realismus zu unterschätzen und ist, wie wir zeigen werden, ein schlechter Kandidat, um eine erfolgreiche Kritik zu etablieren. Zweitens und infolgedessen wenden wir uns vielversprechenderen Möglichkeiten zu, insbesondere Kritiklinien, die mit der Supervenienz von moralischen Tatsachen zu tun haben (2.2). Allerdings wird unsere Konklusion hauptsächlich negativ ausfallen: Wenn wir den Fokus auf ontologische Annahmen legen, können wir keine auf Supervenienz basierenden abschließenden Argumente finden, die den ontologischen Anspruch des robusten Realismus ernsthaft in Frage stellen könnten.

fassung sind moralische Tatsachen nicht die Art von Entität, die klar genug sind, um danach zu fragen, ob sie in einem gewissen ontologischen Sinn existieren, obwohl sie nicht in Raum und Zeit sind. Man könnte annehmen, dass die Übernahme dieser Position es ihm erlaubt, sie explizit als Argument gegen den robusten Realismus zu formulieren. Wie wir aber deutlich gemacht haben, glauben wir, dass die Wahrheit von moralischen Tatsachen bereits durch ihre Existenz in einem ontologisch gewichtigen Sinne vorausgesetzt wird. So ist die Frage: ›Was meinst du, wenn du danach fragst, ob moralische Tatsachen wirklich existieren?‹ hinreichend klar: Sie erfragt, ob moralische Tatsachen tatsächlich wahr sind. Natürlich würde Parfit diese Verdeutlichung ablehnen, da er denkt, dass wir Wahrheit von ontologischer Existenz trennen können. Wie wir in Abschnitt 1.2 versucht haben zu zeigen, erscheinen uns seine Argumente für diese Schlussfolgerung allerdings nicht überzeugend. Was ist falsch an ontologisch robusten Tatsachen?  |  283

2.1  Die ontologische Merkwürdigkeit moralischer Tatsachen

Eine prominente und viel rezipierte Kritiklinie stellt auf die ontologische Merkwürdigkeit ab, die moralische Tatsachen vermeintlich aufweisen. In Parfits Schriften taucht dieser Vorwurf vor allem im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Allan Gibbards Norm-­ Expressivismus auf. So äußert sich Gibbard skeptisch gegenüber Parfits Position und bezichtigt ihn an mehreren Stellen, ein zusätzliches und obskures Reich der Werte einzuführen: Non-Naturalism […] takes the crucial questions of living – what to promote and pursue, what to do and why – and substitutes metaphysical questions about the layout of non-natural properties in a special realm.26

Hierbei paraphrasiert Gibbard offensichtlich die ontologische Spitze des bekannten Queerness-Arguments, das John Mackie bereits 1977 in Ethics – Inventing Right and Wrong in die Diskussion eingebracht hat. Der Kern des Arguments besagt, dass der moralische Realismus ein eigenständiges Reich der Werte annehmen muss, auf das wir uns mit unseren moralischen Urteilen beziehen. Diese Annahme sei aber höchst fragwürdig, da sie Entitäten einführen würde, die uns nach allem, was wir über die Wirklichkeit wissen, höchst unkonventionell – eben: merkwürdig – erscheinen müssen. Nun geht Parfit, wie gesagt, selbst nicht genauer auf das Argument ein, sondern behauptet, dass er mit seinem nicht-realistischen Kognitivismus einer solchen Annahme entgehen könne. Das aber, so haben wir im letzten Abschnitt behauptet, ist mehr als fraglich. Was also könnte es sein, das Parfit an einem, wie er ihn nennt, metaphysischen Non-Naturalismus27 beunruhigt? Sicherlich kann es nicht die bloße Feststellung sein, dass es sich bei so gearteten moralischen Eigenschaften und Tatsachen um merkwürdige Entitäten handelt. Das ist alleine schon deshalb kein 26 Gibbard

2003, 9. charakterisiert diese Position wie folgt: »These people believe that certain claims are made to be true by being correct descriptions of how things are, not in the natural world, but in some other part of reality. In their beliefs about these truths, these people are Metaphysical Non-Naturalists.« (OWM III, 59) 27 Er

284  |  Sebastian Muders und Markus Rüther 

guter Einwand, weil die Welt, wie Mark Platts pointiert auf Mackies Vorwurf antwortet, ein merkwürdiger Ort ist: The world is a queer place. I find neutrinos, aardvarks, infinite sequences of objects, and (most pertinently) impressionist paintings peculiar kinds of entities; but I do not expect nuclear physics, zoology, formal semantics or art history to pay much regard to that.28

Platts lenkt hier den Fokus zu Recht auf die Frage, was es denn eigentlich heißen soll, dass moralische Entitäten merkwürdig sind und aus diesem Grund auch als ontologisch problematisch erscheinen. Was sind Parfits Möglichkeiten? Eine erste Möglichkeit besteht darin, wie etwa Mackie es zu tun scheint29, auf einen metaphysischen Naturalismus zu verweisen und darauf abzustellen, dass innerhalb eines solchen Gesamtrahmens moralische Entitäten keinen Platz haben, sie also aufgrund ihrer Inkompatibilität merkwürdig sind. Das könnte Parfit sicherlich versuchen, wenngleich zwei Gründe gegen eine solche Strategie sprechen: Zum einen kommt sie einer petitio principii sehr nahe. Die entscheidende Frage besteht ja darin, ob moralische Entitäten als eigenständige Entitäten im Gefüge der Welt gedeutet werden können. Diese Frage aber nun durch die Annahme eines bestimmten Mobiliars negativ zu beantworten, kommt einer Vorentscheidung sehr nahe, die bereits voraussetzt, was zu beweisen wäre, nämlich die Nicht-Existenz moralischer Entitäten in diesem Gesamtrahmen. Aber lassen wir diese Schwierigkeit einmal beiseite. Schwerer wiegt nämlich zum anderen, dass selbst ohne vitiöse Zirkelargumentation substanzielle Gründe gegen diese Herangehensweise sprechen. So hatten wir im letzten Abschnitt am Beispiel der Auseinandersetzung mit dem nicht-realistischen Kognitivismus herausgestellt, dass die Annahme von ontologisch eigenständigen moralischen Entitäten in intuitiver Hinsicht30 einige Überzeugungskraft aufweist und daher 28 Platts

1980, 72. Mackie 1977, 37: »I can only state my belief that satisfactory accounts of most of these can be given in empirical terms. If some supposed meta­physical necessities or essences resist such treatment, then they too should be included, along with objective values, among the targets of the argu­ ment from queerness.« 30 Darin bestand der Kern unserer Kritik am nicht-realistischen Kognitivismus, der einerseits beansprucht, eine intuitiv plausible Rekonstruktion un29 Siehe

Was ist falsch an ontologisch robusten Tatsachen?  |  285

gegen den metaphysischen Naturalismus spricht, der Parfits Metaethik im Bereich des aktual Vorhandenen zugrunde liegt. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, dass die Merkwürdigkeit von moralischen Entitäten nicht aufgrund ihrer Inkompatibilität mit einem vorausgesetzten Gesamtrahmen besteht, sondern darin, dass ihre Annahme uns zu explanatorischen Problemen in unserer metaethischen Theorienbildung führt, zum Beispiel, dass sich bestimmte Phänomene nicht zufriedenstellend oder schlechter erklären lassen. In der Literatur werden reichlich »Stolpersteine« genannt.31 Und auch Mackie verweist in seiner Queerness-Argumentation ja bekanntlich nicht nur auf seine Hintergrundmetaphysik, sondern auch auf Überlegungen aus der Motivations- und Rationalitätstheorie.32 Wenn wir auf den bestehenden Diskurs blicken, lässt sich zumindest eine besonders häufig rezipierte Schwierigkeit ausmachen, die gegen die Kernannahme des robusten Realisten – die Existenz moralischer Tatsachen in rerum natura – sprechen könnte. Diese bezieht sich auf den Umstand, dass es für dessen Vertreter vermeintlich eine besondere Herausforderung darstellt, die Supervenienzbeziehung zwischen natürlichen und normativen Eigenschaften zu erklären. Sieht das auch Parfit so? Das ist nur schwer zu sagen, denn obwohl das Supervenienzthema gerade in der Auseinandersetzung zwischen den Vertretern des robusten Realismus und ihren Gegnern auch gegenwärtig immer noch im Mittelpunkt der Debatte steht33, äußert sich Parfit zur Erklärung der Supervenienz im zweiten Band von OWM nur am Rande.34 Wir müssen daher ein Stück serer Alltagspraxis zu liefern, allerdings diesen Anspruch andererseits nicht überzeugend einlösen kann. Die Position scheitert mithin an ihrem eigenen Selbstanspruch. 31 Vgl. für einen Überblick über die gesamte Bandbreite an Problemen etwa Shafer-Landau 2011. 32 Vgl. etwa die Differenzierung der Argumente in Mackie 1977, Kap. 1. 33 Davon zeugt etwa auch, dass bekennende robuste Realisten in ihren Schriften neuerdings viel Raum aufbringen, um sich mit der Supervenienz auseinanderzusetzen. Vgl. etwa das erste Kapitel in Wielenberg 2014. 34 Parfit selbst greift das Thema dort nur in einer kurzen Endnote auf. Er behauptet dort lediglich, dass eine Analyse der normativen Supervenienz nicht auf einer bestimmten Theorie über die Supervenienz mentaler Zustände aufbauen kann: »Normative supervenience should be considered on its own.« 286  |  Sebastian Muders und Markus Rüther 

weit über Parfits Überlegungen hinausgehen, wenn wir im Folgenden prüfen, ob die vorgetragenen Argumente in der Debatte für eine Ablehnung des robusten Realismus sprechen oder nicht.

2.2 Supervenienz

Es gibt eine ganze Reihe von Versuchen, die Supervenienz zwischen natürlichen und nicht-natürlichen Eigenschaften zu bestimmen.35 Weitgehend einig ist man sich aber darüber, dass die starke individuelle Supervenienz diejenige ist, die für den robusten Realisten am schwersten zu integrieren ist. Wenn der robuste Realist es also schafft, diese Supervenienzthese zu integrieren, ist er prinzipiell in der Lage, schwächeren Versionen gerecht zu werden. Im Erfolgsfall ergibt sich also ein Argument a fortiori. Die starke individuelle Supervenienzthese lautet: Es kann unmöglich der Fall sein, dass sich zwei Entitäten, die sich nicht in ihren natürlichen Eigenschaften unterscheiden, sich in ihren normativen Eigenschaften unterscheiden. Diese Formulierung lässt natürlich noch einige Fragen unbeantwortet, etwa nach der modalen Stärke dieser Beziehung (metaphysisch, logisch usw.). Diesem und weiteren Details werden wir uns bei der Diskussion weiter unten zuwenden. Aber muss der robuste Realismus diese Beziehung überhaupt erklären können oder kann er sie nicht einfach zurückweisen? Wir (vgl. OWM II, 756). Das muss überraschen, scheint doch die Supervenienzproblematik gerade auch für Parfits eigene Position hochrelevant, da er ebenso wie der robuste Realist von einer modalen Verknüpfung zwischen nicht-normativen Tatsachen und Gründe-Tatsachen ausgeht: So ist ja die Tatsache, die für oder gegen ein bestimmtes Verhalten spricht, für Parfit stets eine nichtnormative Tatsache, und wenn sich eine Gründe-Tatsache ändert, so dass man etwa nicht länger ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen sollte, so muss auch eine Änderung in den nicht-normativen Tatsachen stattfinden. Eine Auflösung der Supervenienz-Problematik zugunsten des robusten Realismus würde für Parfit nicht allein diese Position attraktiver machen, sondern auch seine eigene Position gegenüber dem Antirealismus stärken. 35 Die verschiedenen Supervenienzformulierungen sind Legion. Für einen Überblick siehe Bennett/McLaughlin 2014, Kap. 4. Was ist falsch an ontologisch robusten Tatsachen?  |  287

denken, dass die Alternative einer Zurückweisung sicherlich gangbar ist (und vereinzelt vertreten wurde). Allerdings erscheint uns der Preis hierfür denkbar hoch. Er käme aus unserer Sicht einer Abkehr von der leitenden realistischen Zielperspektive gleich.36 Hier droht die Einführung eines Reichs der Werte, das tatsächlich nicht mehr mit unserer natürlichen Welt in Kontakt steht. Der robuste Realismus tut also gut daran, eine Erklärung der Supervenienz anzubieten. Wie aber könnte eine solche Erklärung aussehen und was könnte Parfit daran problematisch finden? Um das zu sehen, sollten wir uns noch genauer vor Augen führen, was eigentlich die Explananda für den robusten Realismus sind, wenn er die starke Supervenienz erklären will. Zwei werden in der Literatur immer wieder genannt:37 Das erste Explanandum besteht in der Erklärung des Umstandes, dass normative Eigenschaften in der Tat auf spezifische natürliche Eigenschaften supervenieren. Diese Beziehung können wir spezifische Supervenienz nennen. Das zweite Explanandum besteht darin, dass normative Eigenschaften überhaupt auf natürliche Eigenschaften supervenieren. Diese Beziehung, die unabhängig von einer spezifischen Moraltheorie besteht, die moralische Eigenschaften (»richtig sein«) mit nichtmoralischen Eigenschaften (»das größte Glück der größten Zahl bewirken«) miteinander verknüpft, können wir allgemeine Supervenienz nennen. Beide müssen mit Blick auf das explanatorische Potenzial des robusten Realisten unabhängig voneinander betrachten werden.

2.2.1  Spezifische Supervenienz Wie kann die spezifische Supervenienz vom robusten Realismus erklärt werden? Ein häufig vorgebrachter Vorschlag lautet: Es ist der Inhalt einer bestimmten Norm, der erklärt, warum die Beziehung 36 Wer

etwa die oben erläuterte Supervenienz zurückweist, hat das Pro­ blem, dass nicht mehr ersichtlich ist, wie sich moralische Eigenschaften überhaupt auf die natürliche Welt beziehen können. Diese Position versuchen wir gerade zu vermeiden und aufzuzeigen, dass der robuste Realismus nicht auf sie festgelegt ist. 37 Hierin folgen wir Enoch 2011, Kap. 6.2.2. 288  |  Sebastian Muders und Markus Rüther 

besteht.38 Zum Beispiel: Nehmen wir an, dass der Utilitarismus wahr ist. In diesem Fall ist eine Handlung genau dann gut, wenn sie das Glück aller von der Handlung Betroffenen befördert, und sie ist moralisch verpflichtend, wenn sie dieses Glück maximiert. Nun nehmen wir weiterhin an, dass sich jemand über die Kovarianz wundert, dass eine Handlung das Glück aller Betroffenen befördert und gleichzeitig moralisch gut ist. In diesem Fall kann man seine Aufmerksamkeit auf die utilitaristische Bestimmung des (moralisch) Guten lenken. Was in diesem Fall die Supervenienz zwischen natürlichen und normativen Eigenschaften erklärt, sind inhaltliche Behauptungen des Utilitarismus. Hierbei handelt es sich um eine Vorgehensweise, wie wir sie in der Praxis häufig vorfinden. Wir erklären das Verhältnis zwischen beiden Eigenschaftsklassen sehr häufig mit dem Hinweis darauf, dass eine bestimmte Norm besteht. Aber haben wir damit das grundlegende Problem gelöst? Ein naheliegender Zweifel könnte etwa darin bestehen, dass die Erklärungsleistung, die wir anbieten, nicht ausreichend ist. Wir hatten oben gesagt, dass der alleinige Hinweis, dass die Supervenienz­ bezie­hung besteht, eine zu geringe explanatorische Leistung ist. Wir haben daraufhin einen Vorschlag unterbreitet, was aber für viele nicht viel besser erscheinen mag. Man könnte beispielsweise den Eindruck haben, dass wir einen dogmatischen Hinweis nur durch einen anderen dogmatischen Hinweis ersetzt haben, der selbst erklärungsbedürftig ist. Darauf möchten wir Folgendes antworten: Man sollte nicht verkennen, dass die Erklärungsleistung angestiegen ist. Wir können nun eine intuitiv plausible Antwort darauf geben, was die Supervenienzbeziehung eigentlich erklärt.39 Das ist ein Mehr an Erklärung, als wir bisher zur Verfügung hatten. Wem das allerdings nicht nur quantitativ zu wenig, sondern auch qualitativ die falsche Erklärung zu sein scheint, sollte auch Gründe dafür angeben. Diese Gründe müssen dann aber von anderer Art sein als die bereits besprochenen. 38 Vgl.

für Vorschläge, die in diese Richtung weisen: Shafer-Landau 2003, 85 f. und 96 f., Kramer 2009, 352 f. und Scanlon 2009, 2. Vorlesung. 39 Man könnte an dieser Stelle noch weitergehen und mit FitzPatrick 2008 auf die »Verflechtung« von deskriptiven und evaluativen Eigenschaften abstellen. Obgleich uns dieser Weg sehr attraktiv erscheint, sind wir an diesem Punkt der Argumentation nicht auf ihn festgelegt. Was ist falsch an ontologisch robusten Tatsachen?  |  289

2.2.2  Allgemeine Supervenienz Vielleicht aber haben Einwände, die auf die allgemeine Supervenienzbeziehung verweisen, mehr Aussicht auf Erfolg. Diese besagt, dass normative Eigenschaften auf natürliche Eigenschaften supervenieren. Anders als die spezifische Supervenienz ist sie also nicht auf die Annahme einer bestimmten Moraltheorie festgelegt. Die Grundidee besteht darin, dass es – unabhängig von der Wahrheit einer Moraltheorie – keine normativen Unterschiede geben kann, wenn es nicht zumindest einen relevanten Unterschied in den natürlichen Eigenschaften gibt. Daraus ergibt sich, dass sie nicht mit dem Hinweis auf den Inhalt einer spezifischen Norm erklärt werden kann. Worin besteht das explanatorische Problem für den robusten Realisten? Das ist gar nicht so einfach zu sehen, denn anders als bei der spezifischen Supervenienz handelt es sich bei der allgemeinen Variante um eine begriffliche These.40 Denken wir an einen hypothetischen Sprecher, der mit einer Äußerung dieses Prinzip verletzt, etwa, indem er behauptet, dass sich zwei Folterhandlungen, die sich in all ihren nicht-normativen Eigenschaften gleichen,41 dennoch unterschiedlich zu bewerten seien. In diesem Fall würden wir den Sprecher als jemanden behandeln, der entweder nicht versteht, was er sagt, oder aber eine Äquivokation begangen hat. Wenn aber die allgemeine Supervenienz eine begriffliche These ist, bleibt unklar, was überhaupt noch erklärt werden muss. Natürlich können begriffliche Wahrheiten mit anderen begrifflichen Wahrheiten erklärt werden, aber irgendwann biegt sich der Spaten zurück. Wir sind bei nicht erklärungsfähigen begrifflichen Wahrheiten angekommen. Wenn der robuste Realist also die allgemeine Supervenienz als nicht erklärungsbedürftige begriffliche Wahrheit identifiziert, ist das ebenso wenig mysteriös wie die begriffliche Wahrheit, dass Worte eine bestimmte Bedeutung haben.42 Es bleibt also die Frage, 40 Diesen

Punkt hebt besonderes Dreier 1992, 15 hervor. natürlich Tatsachen wie derjenigen, dass zwei numerisch unterschiedliche Personen an unterschiedlichen Orten (oder eine Person zu unterschiedlichen Zeiten) gefoltert werden, was aber keinerlei normative Rele­ vanz haben sollte. 42 Siehe hierzu etwa das shmong-Beispiel in Ridge 2007, 338. 41 Abzüglich

290  |  Sebastian Muders und Markus Rüther 

warum der robuste Realist die allgemeine Supervenienz überhaupt erklären muss. An dieser Stelle könnte noch eingewendet werden, dass andere Ansätze hier eine Erklärung für begriffliche Wahrheiten anzubieten haben, die dem robusten Realisten fehlt. Das kann man durchaus zugestehen. Allerdings sollte man auch beachten, warum die zusätzliche Erklärung eingefordert wird. Intuitiv verlangen wir, wie gesagt, nicht danach. Die Supervenienz zwischen moralischen und natürlichen Entitäten ist eine grundlegende begriffliche Wahrheit. Es bleiben daher nur Gründe, die auf interne Theorienvoraussetzungen der Gegenseite verweisen. Diese könnten zum Beispiel darin bestehen, dass eine allgemeine Skepsis gegenüber der Existenz von begrifflichen Wahrheiten überhaupt vorhanden ist. In diesem Fall muss ihre unerklärte Annahme in Form der Supervenienzbeziehung in der Tat als ein erklärungsbedürftiger Irrtum erscheinen. Hierzu zwei Bemerkungen: Zum einen bewegen wir uns bei dieser Auseinandersetzung bereits weit außerhalb des ontologischen Rahmens der Metaethik, um die es in diesem Beitrag geht. Wir müssten vielmehr umfangreiche sprachphilosophische Untersuchungen anstellen, die beispielweise die Diskussion um die Abgrenzung von begrifflichen und nicht-begrifflichen Wahrheiten betrifft. Das kann hier nicht geleistet werden, sodass wir nur auf weiterführende Literatur verweisen können.43 Zum anderen, und das ist für unser Argumentationsziel wichtiger, erscheint es uns aber auch als abwegig, dass Parfit dieser argumentative Weg offen steht. So fußt beispielsweise ein Großteil seiner Naturalismuskritik auf der Annahme, dass der Naturalismus den begrifflichen Zusammenhang zwischen normativen Gründen und moralischen Urteilen nicht adäquat rekonstruieren kann. Das aber setzt voraus, dass überhaupt begriffliche Wahrheiten existieren. Aus dieser sprachphilosophischen Richtung erwarten wir daher von seiner Seite keine Einwände.

43 Aus

unserer Argumentation für den robusten Realismus geht hervor, dass wir der Möglichkeit von begrifflichen Wahrheiten durchaus positiv gegen­ überstehen. Für eine ausgezeichnete Verteidigung verweisen wir auf Schroeder 2008. Was ist falsch an ontologisch robusten Tatsachen?  |  291

3.  Fazit und Ausblick Was bedeutet dies nun für Parfits nicht-realistischen Kognitivismus in der Metaethik? Zunächst haben wir in einem ersten Schritt dafür argumentiert, dass auch Parfits Position, anders als von ihm intendiert, nicht ohne ontologischen »Ballast« auskommt. Parfit nimmt Gründe als Grundbausteine für normative Tatsachen an. Diese Gründe, so haben wir argumentiert, werden durch Wert-Tatsachen fundiert, wodurch sich die Frage nach der Ontologie beider Tatsachen-Arten stellt. In diesem Zusammenhang haben wir dafür argumentiert, dass Parfit kein hinreichend neutrales Kriterium dafür bietet, die für ihn ontologisch unverdächtige Welt sinnlich-konkreter Dinge gegenüber normativen Entitäten als meta­physisch »belastenswerter« einzustufen. Auch bleibt unklar, wie hoch die ontologischen Begründungslasten für Wahrheiten ohne Wahrheitsmacher sind und ob nicht (gerade in den Augen eines kritischen Naturalisten) bereits hier ein robuster Realismus mit Parfits Kognitivismus auf gleichem Fuße steht. Was aber spricht von Parfits Warte aus eigentlich gegen das onto­ logische Bild, das der robuste Realismus zeichnet? Diese Frage haben wir in einem zweiten Schritt in den Blick genommen. Wir haben argumentiert, dass weder diejenigen Argumente überzeugen, die wir aus Parfits Schriften rekonstruieren konnten, noch diejenigen, die in der gegenwärtigen Forschungsliteratur zum Thema entwickelt worden sind und von Parfit zur Stärkung seines nicht-realistischen Kognitivismus adaptiert werden könnten. Wir möchten daher Parfit den robusten Realismus als ontologische Position nachdrücklich empfehlen. Natürlich steht unsere Empfehlung noch unter einem gewissen Vorbehalt: Zum einen haben wir unsere eigenen Vorstellungen zur Funktion von Wert-Tatsachen gegenüber Tatsachen über Gründe nur skizzenhaft ausgeführt, zum zweiten mussten wir das Feld möglicher Argumente gegen den robusten Realismus stark einschränken. So bezog sich unsere Argumentation ausschließlich auf den Bereich der Ontologie der Moral. Es ist mit Blick auf die vorhandene Literatur gut möglich, dass sich in der Sprachphilosophie, Handlungstheorie oder Erkenntnistheorie weitere Gegenargumente vonseiten Parfits vorbringen lassen. 292  |  Sebastian Muders und Markus Rüther 

Hierzu noch zwei kurze Bemerkungen: Erstens ist zu beachten, dass auch auf diesen Gebieten kein einfacher argumentativer Sieg zu erringen ist. So hat auch der robuste Realismus in der jüngeren Vergangenheit einige wirkmächtige Verteidiger gefunden, die sich mit von aus diesen Feldern geführten Einwänden gegen diese Position beschäftigt haben.44 Schon aus Platzgründen können wir diese Einwände hier nicht in allen ihren Verästelungen nachzeichnen, sondern müssen an dieser Stelle auf die weitere Literatur verweisen. Zweitens sollte man nicht vergessen, dass die klassischen Argumente gegen den robusten Realismus ontologischer Natur sind. Das verwundert auch nicht sonderlich: Schließlich ist die ontologische Unabhängigkeit moralischer Entitäten die distinktive These dieser Position. Wie zu Beginn des zweiten Abschnitts gesehen, scheint sie mit Blick auf den Theorienvergleich zum nicht-realistischen Kognitivismus Parfits sogar die einzige These zu sein, die beide auf den ersten Blick unterscheidet. So gesehen liegt es nicht gerade auf der Hand, in anderen Bereichen nach schlagkräftigen Argumenten zu suchen, da sich Parfit hier in noch höherem Maße der Gefahr ausgesetzt sieht, mit der Aufnahme derartiger Argumente auch gegen seine eigene Position zu argumentieren. Diese letzten Bemerkungen zeigen natürlich nicht, dass P ­ arfits nicht-realistischer Kognitivismus notwendigerweise in einen ro­bus­­­ ten Realismus kollabieren muss. Stattdessen sollten sie aber deutlich gemacht haben, welche »Zugkraft« vom robusten Realismus ausgeht. Wir haben es hier mit einer Position zu tun, für die aus unserer Sicht gute Gründe sprechen, für die im Diskurs immer häufiger argumentiert wird und die auch von Parfit als attraktive, an seine Position gut anschließende Alternative weiter im Blick behalten werden sollte.

44 Vgl.

und 2015.

die Verteidigungen in Halbig 2007, Enoch 2011 sowie Rüther 2013

Was ist falsch an ontologisch robusten Tatsachen?  |  293

Derek Parfit

Erwiderungen  1  Kants Universalisierungsformel

▷ Erwiderungen auf Thomas Pogge, Matthias Hoesch und Martin Sticker

Manche der Philosophen, die maßgeblich dazu beigetragen haben, das Interesse an Kants Ethik in der englischsprachigen Welt wiederzubeleben, sind zu dem Schluss gekommen, dass Kants Universalisierungsformel uns nicht dabei hilft zu entscheiden, welche Handlungen falsch sind. Allen Wood meint, dass Kants Formel, verwendet man sie als ein solches Kriterium, »fundamental fehlerhaft« und »ziemlich wertlos«1 sei. Barbara Herman ist der Auffassung, dass »trotz einer traurigen Geschichte von Versuchen niemand [Kants Formeln] dazu gebracht hat zu funktionieren«2. Onora O’Neill glaubt, dass Kants Formel in manchen Fällen »entweder eine inakzeptable oder gar keine Orientierung«3 biete. Thomas Hill bezweifelt, dass Kants Formel allein »auch nur eine lose und par­ tielle Handlungsorientierung«4 bieten kann. Diese Kritiken betreffen meines Erachtens eine bestimme Version von Kants Formel. Kant zufolge handeln wir falsch, wenn wir nach Maximen handeln, die keine allgemeinen Gesetze sein können. Obwohl diese Version von Kants Formel falsche Versprechen verurteilt, scheitert sie daran, Tötungen, Verletzungen, Nötigungen, Lügen und Diebstähle, die aus Eigennutz begangen werden, zu verurteilen.5 Eine andere Version von Kants Formel verurteilt das Handeln nach Maximen, von denen wir nicht vernünftigerweise 1 Wood

2006, 345 und Wood 2002, 172 (diese und die folgenden Übersetzungen von Zitaten in diesem Absatz werden zitiert nach Parfit 2017, 283). 2 Herman 1993, 104 u. 132. 3 O’Neill 1975, 125 u. 129. Vgl. auch O’Neill 1989, 130. 4 Hill 2002, 122. 5 Ich verteidige diese Thesen in OWM I, Abschnitt 40.   |  295

wollen können, dass sie allgemeine Gesetze werden. Diese Version von Kants Formel kann meines Erachtens funktionsfähig gemacht werden. Wenn man sie auf bestimmte Art und Weise überarbeitet, ist diese Formel erstaunlich erfolgreich. Ich habe dafür argumentiert, dass diese Formel der Überarbeitung bedarf, weil sie den Begriff der Maxime in einer Weise verwendet, dass er sich auf Lebensgrundsätze (policies) beziehen kann.6 Drei der Beispiele Kants sind die Maxime, anderen »in ihrer Noth nicht Beistand leisten zu wollen«7; die Maxime, »mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern«8; und die Maxime der Selbstliebe bzw. der eigenen Glückseligkeit9. Eines meiner Argumente kann auf die folgende Weise zusammengefasst werden: (1) Nach Kants Formel handeln wir genau dann falsch, wenn wir nach einer Maxime handeln, die einen bestimmten Test nicht besteht. Daher gilt: (2) Kants Formel impliziert, dass es, wenn eine Maxime diesen Test nicht besteht, immer falsch wäre, nach ihr zu handeln, und dass es, wenn eine Maxime diesen Test besteht, immer zulässig wäre, nach ihr zu handeln. (3) Es gibt viele Maximen, die einen Lebensgrundsatz beinhalten, nach denen zu handeln manchmal falsch, aber manchmal zulässig wäre. Daher gilt: (4) Bezogen auf solche Maximen verurteilt Kants Formel entweder fälschlicherweise einige Handlungen, die zulässig sind, oder sie erlaubt fälschlicherweise einige Handlungen, die falsch sind. Ich habe dieses Argument als »Einwand der uneinheitlichen Maximen« (Mixed Maxims Objection) bezeichnet. Wie diese Zusammenfassung zeigt, hängt nichts von den Details des Tests ab, den Kants Formel auf unsere Maximen anwendet. Kants Formel scheitert 6 Ich

bringe dieses Argument in OWM I, Abschnitt 42. 7 TL, AA 06, 453. 8 KpV, AA 05, 27. 9 Vgl. ebd., 24 f. 296  |  Derek Parfit 

schlicht deswegen, weil sie den Begriff der Maxime auf eine Art und Weise verwendet, dass er sich auf Lebensgrundsätze beziehen kann. Um diesen Einwand zu illustrieren, habe ich den Fall eines fiktiven Egoisten diskutiert, dessen einzige Maxime ist: ›Tue das, was am besten für Dich ist!‹ Ich habe dieses Beispiel Kant entliehen, der sich auf die Maxime der Selbstliebe bzw. der eigenen Glückseligkeit bezieht. Diese egoistische Maxime besteht Kants Test nicht. Kants Formel impliziert daher, dass die Handlungen des Egoisten falsch sind bzw. der Pflicht widersprechen, wann auch immer er nach seiner Maxime handelt. Ich habe behauptet, dass diese Implikation falsch ist. Dieser Egoist würde nicht falsch handeln, wenn er seine Schulden bezahlte und seine Versprechen hielte, weil er der Überzeugung ist, dass diese Handlungen am besten für ihn sind. Und er würde auch nicht falsch handeln, wenn er sich wärmere Kleidung anzöge oder ein ertrinkendes Kind in der Hoffnung rettete, dafür eine Belohnung zu erhalten.10 Stellen wir uns als nächstes einen Moralisten vor, dessen einzige Maxime ›Tue Deine Pflicht!‹ ist. Da diese Maxime Kants Test besteht, impliziert Kants Formel, dass die Handlung dieses Moralisten richtig wäre, wann auch immer er nach dieser Maxime handelt, und zwar in dem Sinne, dass sie der Pflicht gemäß ist. Diese Implikation ist inakzeptabel. Wenn Menschen tun, was sie für ihre Pflicht halten, dann mag ihren Handlungen ein gewisser moralischer Wert zukommen. Wir sollten aber nicht schlussfolgern, dass die Handlungen dieser Menschen alle richtig wären. Von denen, die glauben, 10 Thomas

Pogge zweifelt unter anderem meine Interpretation von Kants Auffassung an. Pogge schreibt: »Wenn Kant den Kategorischen Imperativ formuliert, ist er an Parfits Problemstellung, der moralischen Bewertung von Handlungstokens, nicht interessiert. Vielmehr interessiert sich Kant für die moralische Bewertung von Handlungstypen, oder genauer: für die moralische Bewertung der Maximen der Akteure.« (S. 67) Diese Aussagen verwirren mich. Das, was Pogge als Handlungstoken bezeichnet, sind tatsächliche Einzelvorkommnisse eines Typs. Beispielsweise ist ein Schwan ein Typ von Vogel und jeder einzelne Schwan ist ein Token dieses Typs. Wenn wir uns im Voraus fragen, ob es falsch wäre, auf eine bestimmte Weise zu handeln, zielt unsere Frage auf mögliche Handlungen dieses Typs ab. Wenn alle Handlungen eines bestimmten Typs falsch wären, dann wäre auch jede einzelne Handlung von diesem Typ falsch. Indem wir Handlungstypen beurteilen, beurteilen wir auch die Token dieses Typs. Erwiderungen  |  297

dass sie ihre Pflicht tun, und aus diesem Grund handeln, handeln einige ziemlich falsch. Es besteht ein weiteres Problem. Wenn unsere einzige Maxime ›Tue Deine Pflicht!‹ ist, dann kann Kants Formel uns nicht dabei helfen zu entscheiden, ob wir zu einer Handlung verpflichtet sind. Ähnliches trifft auch auf spezifischere Maximen zu, wie etwa ›Halte Deine Versprechen!‹. Kants Formel impliziert, dass es entweder immer richtig oder immer falsch wäre, nach dieser Maxime zu handeln. Das stimmt nicht. Obwohl es richtig wäre, die meisten unserer Versprechen zu halten, wäre es mit Blick auf einige Versprechen falsch, sie zu halten; etwa in dem Fall, dass ein Versprechen nicht zu halten die einzige Weise darstellte, einer unschuldigen Person das Leben zu retten. Thomas Pogge, Matthias Hoesch und Martin Sticker legen in ihren gehaltvollen und zum Nachdenken anregenden Beiträgen in diesem Band verschiedene Erwiderungen auf diesen Einwand der uneinheitlichen Maximen nahe. Eine Art der Erwiderung besteht darin, meine Prämisse (1) zu bestreiten und stattdessen zu behaupten, dass (5) Kant seine Formel nicht dafür vorgesehen hatte, uns dabei zu helfen zu entscheiden, welche Handlungen falsch sind. Hoesch und Sticker schreiben, dass Kants Formel »die moralische Richtigkeit […] von Maximen prüfen möchte«. Ähnlich schreibt Pogge, dass Kants Formel »ein Kriterium für die Zulässigkeit von Maximen« ist und nicht dafür vorgesehen ist, die Richtigkeit einzelner Handlungen abzuschätzen. Auch wenn es manchmal schwierig ist zu entscheiden, was Kant meint oder wovon er überzeugt war, kann (5) meines Erachtens nicht wahr sein. (5) steht mit zu vielen von Kants Behauptungen in Konflikt. Zum Beispiel schreibt Kant: Um indessen mich in Ansehung der Beantwortung dieser Aufgabe, ob ein lügenhaftes Versprechen pflichtmäßig sei, auf die allerkürzeste und doch untrügliche Art zu belehren, so frage ich mich selbst: würde ich wohl damit zufrieden sein, daß meine Maxime […] als ein allgemeines Gesetz […] gelten solle […]?11 11 GMS,

AA 04, 403.

298  |  Derek Parfit 

Kant schreibt auch, dass seine Formel »in Ansehung aller Pflicht überhaupt« das, »was zu thun sei, […] ganz genau bestimmt«12 und dass leicht zu zeigen [sei], wie sie [die gemeine Menschenvernunft] mit diesem Compasse in der Hand in allen vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid wisse, zu unterscheiden, was gut, was böse, pflichtmäßig, oder pflichtwidrig sei [...].13 Kant stellt noch einige ähnliche Behauptungen auf. Er war zumindest dann, wenn er solche Behauptungen aufstellte, der Überzeugung, dass seine Formel uns dabei helfen kann zu entscheiden, welche der uns möglichen Handlungen in dem Sinne richtig oder falsch wären, dass sie der Pflicht gemäß sind bzw. der Pflicht widersprechen. Pogge, Hoesch und Sticker schlagen zudem vor, dass wir zwischen einer Handlung als solcher oder dem, was jemand tut, und dem Umstand, dass diese Person dies tut, weil er oder sie nach einer bestimmten Maxime handelt, unterscheiden sollten. Indem wir diese Unterscheidung in Anschlag bringen, könnten wir die Prämissen (2) und (3) des Einwands der uneinheitlichen Maximen zurückweisen. Wir könnten die These aufstellen, dass (6) unser Handeln nach einer Maxime immer falsch ist, wenn diese Maxime Kants Test nicht besteht; doch das, was wir tun, müsste nicht falsch sein. Mein Egoist handelt beispielsweise falsch, wenn er ein ertrinkendes Kind rettet, weil er hofft, dafür eine Belohnung zu erhalten; dass er das Kind rettet, ist jedoch nicht falsch. Wir können gleichermaßen behaupten, dass (7) unser Handeln nach einer Maxime niemals falsch ist, wenn diese Maxime Kants Test besteht, doch das, was wir tun, könnte falsch sein. 12 KpV,

AA 05, 8 Fn. Kant schreibt weiterhin, dass »aus diesem einigen Imperativ alle Imperativen der Pflicht als aus ihrem Princip abgeleitet werden können« (GMS, AA 04, 421); und er spricht von Pflichten, die »einige von den vielen wirklichen oder wenigstens von uns dafür gehaltenen Pflichten« darstellen, »deren Abtheilung aus dem einigen angeführten Princip klar in die Augen fällt« (GMS, AA 04, 423 f.). 13 GMS, AA 04, 404. Erwiderungen  |  299

Diese Thesen stellen meines Erachtens keine Entgegnung auf den Einwand der uneinheitlichen Maximen dar. Kant hat behauptet, dass seine Formel uns dabei helfen kann zu entscheiden, ob eine Handlung erlaubt oder falsch wäre. Wenn (6) und (7) wahr wären, könnte Kants Formel uns nicht dabei helfen, solche Fragen zu beantworten. Ob eine Handlung falsch wäre, würde nicht von der Maxime abhängen, nach der wir handeln. Pogge schlägt eine andere Antwort vor. Er stellt die These auf, dass (8) wir nach Kant selbst dann, wenn unsere Handlungen pflichtgemäß sind, falsch handeln können, weil wir nicht aus Pflicht handeln bzw. nicht handeln, um unsere Pflicht zu erfüllen (vgl. S. 68). Ich zweifle diese Interpretation von Kants Sichtweise an. Kant behauptet, dass wir, um einige unserer Tugendpflichten zu erfüllen, nicht nur richtig, sondern auch um der Pflicht willen handeln müssen. Kant behauptet aber darüber hinaus, dass wir viele Rechtspflichten haben, die wir erfüllen, indem wir unabhängig von unseren Beweggründen tun, was moralisch gefordert ist. Wenn solche Handlungen nicht um der Pflicht willen ausgeführt werden, haben sie zwar keinen moralischen Wert, sie können aber pflichtgemäß sein und sind in diesem Sinne nicht falsch. Pogge scheint außerdem zu vertreten, dass (9) die Frage, ob wir in Kants Sinn falsch handeln, nur davon abhängt, ob wir aus Pflicht handeln (vgl. S. 67–69). Wenn (9) wahr wäre, könnten wir es vermeiden, in Kants Sinn falsch zu handeln, in dem wir immer um der Pflicht willen handeln. Wir müssten Kants Formel nicht zu Rate ziehen, denn wir müssten uns nicht fragen, welche Handlungen der Pflicht gemäß sind bzw. ihr widersprechen. Diese Version von Kants Auffassung würde nur wenig zu unserem moralischen Nachdenken beitragen. Pogge könnte stattdessen plausiblerer Weise behaupten, dass (10) wir selbst dann, wenn wir in irgendeiner Weise um der Pflicht willen handeln, in Kants Sinn falsch handeln, wenn unsere Handlung nicht auch der Pflicht gemäß ist. 300  |  Derek Parfit 

Nach dieser Sichtweise wäre es erforderlich, dass wir wissen, welche Handlungen der Pflicht gemäß sind bzw. ihr widersprechen, wir müssten also Kants Formel zu Rate ziehen. Damit uns der Gebrauch dieser Formel weiterhelfen kann, müssten wir allerdings eine Erwiderung auf den Einwand der uneinheitlichen Maximen geben können. Diesem Einwand zufolge verurteilt Kants Formel fälschlicherweise einige zulässige Handlungen und erlaubt einige Handlungen, die falsch sind, da es viele Maximen gibt, die Lebensgrundsätze beinhalten, gemäß denen zu handeln manchmal falsch, aber manchmal auch erlaubt wäre. Hoesch und Sticker schlagen einige andere Erwiderungen auf diesen Einwand vor. Sie schreiben: (11) Als Antwort auf seine Einwände empfiehlt Parfit, den Begriff der Maxime zu eliminieren und sich auf die Handlung selbst zu beziehen: Eine Handlung sei erlaubt, wenn man vernünftigerweise wollen könne, dass jeder solche Handlungen für erlaubt hielte. […] Dabei dürfe die Handlung nur mit moralisch relevanten Tatsachen beschrieben werden. (S. 41) Und sie fahren fort: Unter dieser Annahme ist die Mixed Maxims Objection klarerweise umgangen. (S. 41) Hoesch und Sticker scheinen hier meine Annahme zu akzeptieren, dass wir, um die Probleme zu lösen, die der Einwand der uneinheitlichen Maximen mit sich bringt, Kants Formel überarbeiten sollten. Anstatt den Begriff der Maxime in einem weiten Sinne zu verwenden, so dass er sich auf Lebensgrundsätze bezieht, sollte diese Formel von moralisch relevanten Handlungsbeschreibungen Gebrauch machen. An späterer Stelle schreiben Hoesch und Sticker: (12) Der Begriff der Maxime selbst lässt tatsächlich offen, welche (absurden) Bedingungen oder Bestandteile in die Maxime integriert werden können. Es ist aber naheliegend, dass Kant für die Prüfung durch den Kategorischen Imperativ nur solche Maximen zulassen würde, die – wie von Parfit gefordert – genau auf alle moralisch relevanten Eigenschaften Bezug nehmen und nicht auf weitere Eigenschaften. (S. 48 f.) Erwiderungen  |  301

Gemäß dieser Interpretation von Kants Auffassung ist es nicht erforderlich, Kants Formel zu überarbeiten. Kant selbst verwendete demnach den Begriff einer Maxime nicht in einem weiten Sinn, der sich auf Lebensgrundsätze beziehen kann, sondern in einem engen Sinn, der sich allein auf moralisch relevante Beschreibungen möglicher Handlungen beziehen kann. Diese Kant-Interpretation kommt mir unplausibel vor. Kant spricht zum Beispiel von der Maxime, »mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern«14. Diese Maxime ist ein Lebensgrundsatz, der die moralisch relevanten Merkmale der betroffenen Handlungen nicht enthält. Manche Wege, seinen Wohlstand zu vergrößern, sind erlaubt, aber andere sind falsch.15 Kant bezieht sich auch auf die »eigennützige Maxime«16, also auf das, was ich den Lebensgrundsatz des Egoisten nenne: ›Mache immer das, was das Beste für dich wäre!‹. Diese Maxime beschreibt ebenfalls nicht die moralisch relevanten Merkmale dessen, was der Egoist tut, wenn er nach dieser Maxime handelt. Um beurteilen zu können, ob die Handlungen des Egoisten falsch bzw. pflichtwidrig sind, müssen wir wissen, ob der Egoist, wenn er nach seiner Maxime handelt, ein Versprechen hält oder bricht, etwas stiehlt oder eine Schuld bezahlt oder einfach nur wärmere Kleidung anzieht. Hoesch und Sticker könnten vorschlagen, dass wir, (13) obwohl Kant manchmal den Begriff einer Maxime in einem weiten Sinne verwendet, der es versäumt, auf die moralisch relevanten Handlungseigenschaften Bezug zu nehmen, diese Behauptungen ignorieren sollten. Wir sollten Kants Begriff 14 KpV,

AA 05, 27. und Sticker schlagen vor, dass Kants Beispiele von Maximen vervollständigt werden können. Sie schreiben: »Offenkundig nennt Kant nicht immer explizit alle moralisch relevanten Eigenschaften von möglichen Handlungen. Diese sind aber hinzuzudenken, wenn Maximen sinnvoll geprüft werden sollen. Schreibt Kant etwa über die Maxime, ›mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern‹, so ist damit offenbar gemeint: ›Vergrößere dein Vermögen durch alle sicheren Mittel, ungeachtet aller anderen moralisch relevanten Eigenschaften dieser Handlungen!‹ Genau wegen dieses hinzugedachten Zusatzes ist für Kant die Maxime moralisch falsch.« (S. 49) Dieser Vorschlag beantwortet jedoch nicht den Einwand der uneinheitlichen Maximen. Wir sollten nicht davon ausgehen, dass es immer falsch ist, nach dieser Maxime zu handeln. Wie ich schon gesagt habe, gibt es erlaubte sichere Mittel, unseren Wohlstand zu vergrößern. 16 TL, AA 06, 453. 15 Hoesch

302  |  Derek Parfit 

einer Maxime so überarbeiten, dass dieser Begriff sich auf alle und genau diese moralisch relevanten Eigenschaften bezieht. Hoesch und Sticker akzeptierten dann den ersten Teil meines Arguments, dem zufolge gilt, dass Kants Formel erstaunlich erfolgreich ist, wenn sie auf diese Weise überarbeitet und mit einigen anderen wahren Behauptungen kombiniert wird. Ähnliche Bemerkungen lassen sich auf einige der Thesen von Pogge anwenden. Pogge schreibt, dass Kants Formel sich auf Maximen bezieht, die Kant als subjektive Prinzipien des Wollens oder des Handelns definiert – d. h. als persönliche handlungsleitende Grundsätze oder Regeln. (S. 68) Viele solcher Lebensgrundsätze beinhalten keine moralisch relevanten Beschreibungen einer beabsichtigten Handlung. Pogge könnte hinzusetzen, dass diese persönlichen verhaltensleitenden Lebensgrundsätze, sofern Kants Formel erfolgreich sein soll, so aufgefasst werden sollten, dass sie solche moralisch relevanten Beschreibungen beinhalten. Hoesch und Sticker schlagen eine Alternative zu (13) vor. Sie schreiben, dass (14) eine sinnvolle Rekonstruktion der kantischen Ethik aber – anders als Parfit – davon ausgehen [muss], dass mit dem Kate­ gorischen Imperativ eine Handlung nur indirekt als richtig bzw. erlaubt bewertet werden kann, und zwar dann, wenn sie unter mindestens einer Maxime ausgeführt werden kann, die moralisch richtig bzw. erlaubt ist. (S. 53) Bei Pogge heißt es ähnlich: Sicherlich hatte Kant nicht nur zu den Fragen, wann eine Maxime moralisch falsch ist […] und wann jemand einen guten Willen hat, seine Überzeugungen, sondern auch zu Parfits Frage, wann ein Handlungstoken moralisch falsch ist. Aber Kant gibt keinen klaren Weg von der ersten zur letzten Frage an die Hand. […] Der Übergang dürfte in etwa so funktionieren: Ein Handlungstoken ist genau dann falsch (pflichtwidrig), wenn jede Maxime, unter der es ausgeführt werden kann, verboten ist. (S. 69) Erwiderungen  |  303

Diese Behauptungen implizieren, dass (15) eine Handlung – gemäß einer wohlwollenden Rekonstruktion oder Überarbeitung von Kants Auffassung − moralisch zulässig ist, wenn es irgendeine moralisch zulässige Maxime gibt, nach der der Akteur handeln könnte, wenn er auf diese Weise handelt. Es ist moralisch irrelevant, ob der Akteur faktisch nach einer unzulässigen Maxime handelt. Wir können diese Version der kantischen Formel als die ›Irgendeine-mögliche-Maxime-Version‹ (any-possible-maxim version) bezeichnen. Es überrascht mich, dass Pogge, Hoesch und Sticker diese Behauptungen aufstellen. Hoesch und Sticker unterstellen, wie wir gerade gesehen haben, dass Kant, wenn er sich auf die Maxime des Akteurs bezieht, auf moralisch relevante Beschreibungen der Handlung des Akteurs Bezug nimmt. Warum schlagen Hoesch und Sticker zugleich vor, dass Kants Formel stattdessen auf alle der möglichen Maximen bezogen werden sollte, nach denen der Akteur handeln könnte? Inwiefern wäre diese überarbeitete Formel besser als eine Formel, die sich auf die moralisch relevanten Beschreibungen der Handlung des Akteurs bezieht? Pogge stellt heraus, dass es angesichts dieser so überarbeiteten Version von Kants Formel schwierig wäre zu zeigen, dass bestimmte Handlungen falsch sind. Um beispielsweise die Sichtweise zu unterstützen, dass Lügen falsch ist, müsste man zeigen, dass alle denkbaren Maximen, denen folgend unter bestimmten Umständen gelogen werden müsste, verboten sind. Viele dieser unendlich vielen Maximen würden den Begriff der Lüge vermutlich gar nicht verwenden. Wenn wir die Falschheit des Lügens dadurch zu erfassen suchen, dass wir Maximen diskutieren, die Lügen nicht einmal erwähnen, dann sind wir sehr weit davon entfernt, Handlungen zu diskutieren, die in moralisch relevanter Weise beschrieben sind. Diese Irgendeine-mögliche-Maxime-Version ist meines Erachtens nicht, was Hoesch und Sticker eine ›sinnvolle Rekonstruktion‹ (S. 53) der kantischen Formel nennen, denn sie führt dazu, dass diese Formel noch mehr an Plausibilität verliert. 304  |  Derek Parfit 

Wie von Hoesch und Sticker bemerkt, habe ich einen solchen Überarbeitungsvorschlag von Kants Formel erwähnt und zurückgewiesen. Ich habe behauptet, dass (16) es viele Handlungen gibt, die falsch sind, obwohl es eine zulässige Maxime gibt, nach der der Akteur handeln könnte, wenn er auf diese Weise handelt. Ich habe dafür argumentiert, dass die überarbeitete Version von Kants Formel unter dieser Annahme daran scheiterte, viele falsche Handlungen zu verurteilen. Um (16) zu verteidigen, habe ich mich auf den von mir so genannten Seltenheitseinwand (Rarity Objection) bezogen. Ich habe behauptet, dass (17) es einige Maximen gibt, die Kants Test bestehen würden, weil nur wenige Leute jemals nach ihnen handeln würden, wenn diese Maximen allgemein akzeptiert würden. Um (17) zu illustrieren, habe ich zunächst ein albernes Beispiel präsentiert. Ich schrieb: Nehmen wir an, dass ich unrechtmäßig einer in Weiß gekleideten Frau, die Erdbeeren isst, während sie die letzte Seite von Spinozas Ethik liest, ihre Brieftasche stehle. Es ist meine Maxime, auf genau diese Weise zu handeln, wann immer ich kann. Ich könnte vernünftigerweise wollen, dass dies eine allgemeingültige Maxime ist, denn es wäre höchst unwahrscheinlich, dass jemand anderes jemals in die Lage kommt, in genau dieser Weise handeln zu können, so dass die Allgemeingültigkeit dieser Maxime höchstwahrscheinlich keinen Unterschied machen würde. Da ich die Allgemeingültigkeit dieser Maxime vernünftigerweise wollen kann, lassen Kants Formeln meine Handlung fälsch­licherweise zu.17 Hoesch und Sticker schreiben: (18) Es sei aber absurd zu dem Schluss zu gelangen, dass die Maxime erlaubt sei, nur weil sie den Universalisierungstest besteht, indem sie in übertriebener Weise spezifisch formuliert sei; denn dadurch wird der Unterschied zwischen dem einmaligen Befolgen einer Maxime und ihrer allgemeinen Ausübung nahezu nivelliert. (S. 40) 17 OWM

I, 289 und Parfit 2017, 277. Erwiderungen  |  305

Hoesch und Sticker behaupten, dass wir, indem wir (18) in Anschlag bringen, sowohl dem Seltenheitseinwand als auch dem Einwand der uneinheitlichen Maximen begegnen und auch (17) und (16) zurückweisen können und dadurch eine Erwiderung auf mein Argument gegen die Irgendeine-mögliche-Maxime-Version der kantischen Formel vorbringen. Ich weiß nicht, warum Hoesch und Sticker glauben, dass mein albernes Beispiel die Differenz zwischen der Akzeptanz einer Maxime durch nur eine Person und durch jeden unkenntlich macht. Ich habe noch andere, gewichtigere Beispiele gebracht. Ich habe angenommen, dass für das Vergehen eines imaginierten Verbrechers, den wir Herrn Weiß nennen, eine andere Person ungerechterweise verurteilt und bestraft wird, wenn nicht dieser Herr Weiß sich zu seinem Vergehen bekennt. Herr Weiß gesteht nicht, und er handelt dabei nach der Maxime ›Es sollen andere für meine Vergehen bestraft werden!‹. (vgl. OWM I, 330) Hoesch und Sticker könnten nicht einwenden, dass kein Unterschied darin besteht, ob diese Maxime nur von Herrn Weiß oder von jedem übernommen wird. Die Maxime von Herrn Weiß ist in einem Sinn unzulässig, weil es falsch ist, andere für unsere eigenen Vergehen bestrafen zu lassen. Dieser Umstand ist in diesem Zusammenhang aber irrelevant. Wenn Kant behauptete, dass unsere Maximen unzulässig sind, wenn es falsch für uns wäre, nach ihnen zu handeln, wäre Kants Formel trivial und sie könnte uns nicht dabei helfen zu entscheiden, welche Handlungen falsch sind. Kant nimmt an, dass es falsch wäre, nach Maximen zu handeln, die einen anderen Test nicht bestehen, etwa den Test, ob der Handelnde nicht vernünftigerweise wollen kann, dass seine Maximen allgemein akzeptiert werden. Hoeschs und Stickers Annahme (18) zeigt nicht, dass Herrn Weiß’ Maxime daran scheitert, das zu bestehen, was sie den ›Universalisierungstest‹ (S.40) nennen. Noch zeigt (18), dass die Annahmen (17) und (16) falsch sind, was nicht nur eine Erwiderung auf den Seltenheitseinwand, sondern Erwiderungen sowohl auf den Einwand der uneinheitlichen Maximen wie auch auf mein Argument gegen die Irgendeine-mögliche-Maxime-Version von Kants Formel dargestellt hätte. 306  |  Derek Parfit 

Ich fasse diese Thesen nun zusammen. Von den unterschied­ lichen Stellungnahmen, die Hoesch und Sticker mit Blick auf den Einwand der uneinheitlichen Maximen vorbringen, ist die beste meines Erachtens ihre Behauptung, dass (19) der Einwand der uneinheitlichen Maximen entkräftet wäre, wenn Kants Formel den Begriff einer Maxime nicht in dem Sinne verwendete, dass er sich auf Lebensgrundsätze beziehen kann, und stattdessen von moralisch relevanten Handlungsbeschreibungen Gebrauch machte. Das möchte ich mit meinem Einwand der uneinheitlichen Maximen zeigen. Da ich versuche zu zeigen, dass Kants Formel funktionsfähig gemacht werden kann, kann ich es offen lassen, ob Kants Formel, so wie Hoesch und Sticker zusätzlich nahelegen, bereits diese Form besitzt. Dies würde meinem später vorgetragenen Argument entgegenkommen, dass Kants Formel erstaunlich erfolgreich ist, wenn wir sie um einige andere plausible Annahmen ergänzen. * * * An dieser Stelle ist eine kurze und partielle Zusammenfassung meines Arguments sinnvoll, das ich in OWM an späterer Stelle formuliere (vgl. OWM I, Kap. 15 u. 16). Einige von Kants Bemerkungen legen nahe, dass wir falsch handeln, es sei denn, wir tun etwas, von dem wir vernünftigerweise wollen können, dass jeder, sofern er dazu in der Lage ist, es unter ähnlichen Umständen auch tut, oder wir können vernünftigerweise wollen, dass jeder solche Handlungen für moralisch zulässig hält. Obwohl Kants Formel sich auf das bezieht, was wir selbst vernünftigerweise wollen können, habe ich dafür argumentiert, dass es besser wäre, sich auf das zu beziehen, was jeder vernünftigerweise wollen kann. Es kann keinen starken kantischen Einwand gegen diese Änderung geben. Kant nahm häufig an, dass das, was jeder einzelne von uns (each of us) vernünftigerweise wollen kann, mit dem identisch wäre, was jeder (everyone) vernünftigerweise wollen kann. Erwiderungen  |  307

Wir können uns dann auf das beziehen, was ich die Formel des Kantischen Kontraktualismus genannt habe: Jeder sollte denjenigen Prinzipien folgen, deren universale Akzeptanz jeder vernünftigerweise wollen oder wählen kann. Um diese Formel anzuwenden, stellen wir Thesen über eine ganze Reihe von Gedankenexperimenten auf. Wir nehmen an, jede Person hätte die Macht zu entscheiden, dass jedermann bestimmte moralische Prinzipien akzeptierte. Wir fragen uns, von welcher Art die Prinzipien sind, zu deren Wahl jede Person in diesen imaginierten Fällen hinreichende bzw. genügend Gründe besäße. Gemäß einer Version des Regelkonsequentialismus gilt: Jeder sollte denjenigen Prinzipien folgen, deren allgemeine Akzeptanz für den bestmöglichen Welt­ verlauf sorgte. Solche Prinzipien können wir als optimal (optimific) bezeichnen. In einem relevanten Sinne liegt der bestmögliche Weltverlauf vor, wenn die Dinge auf Weisen verlaufen, die zu wollen und zu erhoffen wir alle die stärksten unparteiischen Gründe haben. Ich habe behauptet, dass Kantianische Kontraktualisten folgendermaßen argumentieren könnten: (A) Jeder sollte denjenigen Prinzipien folgen, deren universale Akzeptanz jeder vernünftigerweise wollen oder wählen kann. (B) Jeder kann vernünftigerweise das wählen, zu dessen Wahl er hinreichend starke Gründe besitzt. (C) Es gibt einige optimale Prinzipien. (D) Bei diesen handelt es sich um diejenigen Prinzipien, die zu wählen jeder die stärksten unparteiischen Gründe besitzt. (E) Bei niemandem würden die unparteiischen Gründe, diese Prinzipien zu wählen, in maßgeblicher Weise durch andere relevante konfligierende Gründe aufgewogen werden. Daher gilt: (F) Jeder hätte hinreichend starke Gründe, diese optimalen Prinzipien zu wählen. 308  |  Derek Parfit 

(G) Es gibt keine anderen, in relevanter Weise nicht-optimalen Prinzipien, die zu wählen irgendjemand hinreichend starke Gründe hätte. Daher gilt: (H) Es sind allein diese optimalen Prinzipien, zu deren Wahl jeder hinreichend starke Gründe besitzt und die er also vernünftigerweise wählen kann. Daher gilt: Jeder sollte diesen Prinzipien folgen. Die erste Prämisse dieses Arguments ist die Formel des Kantischen Kontraktualismus. Das Argument ist gültig, und die anderen Prämissen des Arguments sind, wie ich behauptet habe, wahr. Wenn dies so ist, dann verlangt diese kantische Formel von jedem, diesen regelkonsequentialistischen Prinzipien zu folgen. Prämisse (E) ist diejenige These, die am meisten der Verteidigung bedarf. Ein Bestandteil meiner Verteidigung lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Wenn jeder die optimalen Prinzipien akzeptierte und ihnen gemäß handelte, würden die Dinge auf Weisen verlaufen, die zu wollen und zu erhoffen jeder die stärksten unparteiischen Gründe hätte. Manche Leute würden allerdings wissen, dass die Dinge auf eine für sie schlechte Weise verlaufen würden, wenn jeder diese optimalen Prinzipien akzeptierte. Nehmen wir an, es ist ein Schiff verunglückt und nun können die Rettungskräfte entweder mein Leben oder die Leben von fünf hinreichend ähnlichen Fremden retten. Ich hätte unparteiische Gründe zu wollen, dass die Rettungskräfte die fünf Fremden retten, denn es wäre besser, wenn mehr Menschenleben gerettet werden. Ich könnte aber auch starke persönliche Gründe haben zu wollen, dass die Rettungskräfte mich statt der anderen Leute retten. In diesem Fall wie auch in anderen derartigen Fällen verlangen die optimalen Prinzipien von jedem, das zu tun, was die meisten Menschenleben rettet. Wenn jeder diese Prinzipien akzeptierte, wäre das schlechter für mich, weil die Retter nicht mich retten würden. Es würden aber viel mehr Menschen­ leben gerettet, nicht nur in diesem Fall, sondern in vielen anderen vergleichbaren Fällen. Dieser Umstand lieferte mir, wie ich glaube, Erwiderungen  |  309

einen hinreichenden Grund bzw. genügend Grund, um mich dafür zu entscheiden, dass jeder diese Prinzipien akzeptiert. Ich habe auch verschiedene andere Fälle diskutiert und versucht, auf einige Einwände gegen Prämisse (E) zu antworten. Das Argument für den Kantischen Kontraktualismus geht auch davon aus, dass (G) es keine anderen, in relevanter Weise nicht-optimalen Prinzipien gibt, die zu wählen irgendjemand hinreichend starke Gründe hätte. Verglichen mit (E) ist diese Prämisse leichter zu verteidigen. Wenn jeder irgendwelche anderen, nicht-optimalen Prinzipien akzeptierte, hätte dies einen Weltverlauf zur Folge, der gemessen an unparteiischen Maßstäben viel schlechter wäre. Das ist mit der Aussage gemeint, dass diese anderen Prinzipien in relevanter Weise nicht-optimal sind. Diese Umstände lieferten jedem starke unparteiische Gründe, sich nicht dafür zu entscheiden, dass jeder solche nicht-optimalen Prinzipien akzeptiert. Da die meisten Leute keine konfligierenden persönlichen Gründe hätten, könnten die meisten Leute diese Entscheidung nicht vernünftigerweise treffen. Und in fast all diesen Fällen würden die Dinge auch für einige unglückliche Menschen einen viel schlechteren Verlauf nehmen, wenn jeder irgendein solches nicht-optimales Prinzip akzeptierte. Es ist noch klarer, dass gerade diese Menschen sich vernünftigerweise nicht dafür entscheiden könnten, dass jeder dieses Prinzip akzeptiert, denn sie hätten sowohl starke unparteiische Gründe als auch starke persönliche Gründe, diese Entscheidung nicht zu fällen. Ich habe geschlussfolgert, dass (H) es allein die optimalen Prinzipien sind, deren allgemeine Akzeptanz jeder mit hinreichenden Gründen wählen könnte und die deswegen jeder vernünftigerweise wählen könnte. In Kombination mit (H) impliziert die Formel des Kantischen Kontraktualismus, dass jeder diesen Prinzipien folgen sollten. Wir können noch einen anderen Schluss ziehen. Ich hatte dafür argumentiert, dass Kants Formel des allgemeinen Gesetzes der Überarbeitung bedarf und dass die beste Überarbeitung eine Version dieser Formel des Kantischen Kontraktualismus ist. Diese 310  |  Derek Parfit 

Formel hat keine Aussicht auf Erfolg, wenn nicht zutrifft, dass jeder die optimalen Prinzipien vernünftigerweise wählen könnte – dies habe ich ebenfalls zu zeigen versucht. Kants Formel des allgemeinen Gesetzes hat also keine Aussicht auf Erfolg, es sei denn, dass diese Formel in der so überarbeiteten Form den Regelkonsequentialismus impliziert. Im Rahmen seines Beitrags zu diesem Buch bringt Pogge einige relevante und wichtige Thesen vor; er diskutiert allerdings weder den Einwand der uneinheitlichen Maximen noch das Argument, das ich soeben beschrieben habe. Hoesch und Sticker kommen kurz auf dieses Argument zu sprechen. Sie schreiben: In der Literatur ist deshalb mehrfach argumentiert worden, dass bei der Prinzipienwahl die Beteiligten keine optimific principles wählen würden – jedenfalls sofern sie Kantianer sind. Parfit hat dies stets zurückgewiesen: Dass die Beteiligten unparteiische Gründe für optimific principles haben, sei analytisch wahr; und weil einige der Beteiligten starke parteiische Gründe hätten, alle plausiblen Prinzipien, die nicht optimific sind, abzulehnen, könnten letztlich nur optimific principles den kontraktualistischen Test bestehen. Im Folgenden soll daher eine andere Strategie verfolgt werden […]. (S. 56 f.) Sofern Hoesch und Sticker dieses kantische Argument für den Kontraktualismus zurückweisen, weil sie der Überzeugung sind, dass Kantische Kontraktualisten die optimalen Prinzipien vernünftigerweise nicht wählen können, sollte man erwarten, dass sie dies hier sagen. Da Hoesch und Sticker nichts Derartiges behaupten, könnte es sein, dass dieses Argument ihrer Meinung nach wahre Prämissen hat. In dem verbleibenden Teil ihres Aufsatzes legen Hoesch und Sticker einige indirekte Zweifel an diesem Argument nahe. Sie schreiben, dass Parfits These, ein Prinzip sei genau dann moralisch gefordert, wenn es optimific ist, dem Kantianer tatsächlich unplausibel erscheinen wird. (S. 57) Wenn ein Argument sowohl gültig ist als auch wahre Prämissen zu haben scheint, dann mag uns die Implausibilität der Schlussfolgerung dieses Arguments dahin führen, die Prämissen des Arguments Erwiderungen  |  311

anzuzweifeln. Sollten wir aber dabei bleiben, den Prämissen dieses Arguments zu glauben und es für gültig zu halten, dann sollten wir vernünftigerweise die Schlussfolgerung des Arguments akzeptieren. Dass die Schlussfolgerung dieses Arguments implausibel ist, würde dieses Argument nur bedeutsamer machen. Hoesch und Sticker schreiben auch: Weil damit Parfits Theorie zu Prinzipien führt, die grundlegenden Überzeugungen der kantischen Tradition widersprechen, wird […] argumentiert, dass zur Lösung dieses Problems entweder der Kontraktualismus anders konzipiert oder ein Konzept von nicht-deontischen durchschlagenden Gründen eingeführt werden müsste. (S. 57) So weit ist gezeigt, dass Parfits Theorie vor dem Hintergrund der Konzeption absoluter Verbote in der kantischen Tradition Defizite aufweist. (S. 60) Diese Bemerkungen legen nahe, dass es ein Problem gäbe, wenn das kantische Argument für den Kontraktualismus mit einigen weithin geteilten kantischen Überzeugungen über Moral, etwa Überzeugungen über absolute Verbote, konfligierte. Es war allerdings nicht meine Absicht, durch das Vorbringen dieses Arguments diese kantischen Überzeugungen zu diskutieren. Ich habe behauptet, dass die revidierte Formel des Kantischen Kontraktualismus erstaunlich erfolgreich ist, wenn Kants Formel des allgemeinen Gesetzes in einer Weise überarbeitet wird, wie sie klarerweise erforderlich ist. In Teil II sowie im Anhang F zu Band I meines Buches On What Matters diskutiere ich einige von Kants anderen Formeln und Argu­ menten. Übersetzt von Nadine Mooren

312  |  Derek Parfit 

2  Kants Menschheitsformel

▷ Erwiderung auf Peter Schaber In seinem scharfsinnigen und überzeugenden Beitrag diskutiert Peter Schaber zwei Auffassungen davon, auf welche Weise wir andere Menschen achten sollten. Dabei nimmt er an, dass wir meiner Auffassung nach das respektieren sollten, was gut für diese Leute wäre und wofür sie Gründe haben, sich zu entscheiden. Schaber zufolge sollten wir hingegen das respektieren, wofür sich die Leute tatsächlich entscheiden. Eine von Schabers Absichten ist es zu zeigen, dass ich diesem Unterschied nicht ausreichend Rechnung trage. In Schabers treffenden Worten besitzen andere Menschen die normative Autorität zu bestimmen, was wir tun sollten, wenn wir ihnen Achtung entgegenbringen. Ich bin froh, behaupten zu dürfen, dass Schaber und ich weitaus weniger unterschiedlicher Auffassung sind, als er meint. Schaber schreibt: Wie erwähnt ist Parfit der Ansicht, dass Achtung vor Personen sich darauf bezieht, was in ihrem Interesse ist und was sie selber wollen. Er nennt in einem Atemzug zwei Dinge, die nicht identisch sein müssen: das, was im Interesse von Personen ist, und das, was sie wollen. (S. 81) Dieser Unterschied ist mir jedoch nicht entgangen. In der von Schaber zitierten Passage habe ich gegen die Auffassung argumentiert, dass es falsch sei, jemanden zu töten, wenn diese Handlung sowohl das Beste für diese Person wäre als auch von ihr gewollt werden würde. Ich habe hier beide Ausdrücke verwendet, weil ich sehr wohl glaube, dass das, was das Beste für jemanden wäre, nicht immer das ist, was diese Person auch will. Außerdem bin ich der Meinung, dass es im Falle der Nichtübereinstimmung dieser beiden Dinge oftmals falsch ist, nicht das zu tun, was diese Person möchte. Ich stimme auch zu, dass in dem Falle, in dem es für eine Person zwar besser wäre, dass sie sterben würde, sie sich aber dagegen entscheidet, es falsch wäre, sich über ihre Entscheidung hinwegzusetzen, indem man sie tötet. Schaber zitiert in diesem Zusammenhang Scanlons Bemerkung, dass wir Gründe haben, das Leben einer Person nicht Erwiderungen  |  313

zu beenden, »solange die Person, um deren Leben es geht, Gründe hat, weiter zu leben, oder leben möchte«.18 Scanlon setzt an dieser Stelle ein »oder«, weil er glaubt, dass die Tatsache, dass diese Person den Wunsch hat weiterzuleben, uns entscheidende Gründe gibt, ihr Leben nicht zu beenden, auch wenn sie keinerlei Gründe dafür hat. Überdies merkt Schaber an, dass wir gemäß des von mir so genannten kantischen Prinzips der Einwilligung Menschen nur auf Weisen behandeln sollten, denen sie rationalerweise zustimmen könnten, weil sie hinreichend Gründe haben, solche Entscheidungen zu treffen. Dabei entwickle ich Kants Position weiter, nach der es falsch ist, jemanden auf eine Weise zu behandeln, in die er »unmöglich [...] einstimmen [kann] und also selbst den Zweck dieser Handlung enthalten«.19 Onora O’Neill und Christine Korsgaard nehmen an, Kant verurteile hier Handlungen, denen jemand nicht tatsächlich zustimmen könnte, weil diese Person nicht in der Lage ist, ihre Einwilligung zu geben oder sie zu entziehen. Ich schlage aber vor, dass Kant mit »kann unmöglich [...] einstimmen« »kann nicht rationalerweise zustimmen« gemeint hat.20 Obwohl ich ein Prinzip verteidigt habe, das wir das Prinzip der möglichen rationalen Einwilligung nennen könnten, habe ich später behauptet, dass dies nicht das einzige Prinzip sein sollte, da einige Handlungen falsch wären, selbst wenn jeder ihnen rationalerweise zustimmen könnte. Wir sollten uns ebenfalls nach dem Rechte-Prinzip richten, gemäß dem es falsch ist, Leute auf verschiedene Weise ohne ihre Einwilligung zu behandeln, selbst wenn diese Verweigerung des Einverständnisses klarerweise irrational wäre. Außerdem, so möchte ich ergänzen, sollten wir nicht ausschließlich auf tatsächliche Verweigerungen der Einwilligungen reagieren. Ich schreibe diesbezüglich: Wenn Menschen einer Handlung nicht zustimmen können, wir aber wissen, dass sie zugestimmt hätten oder ihre Einwilligung verweigert hätten, dann würden diese Tatsachen eine ähnliche moralische Bedeutsamkeit besitzen. Wenn wir uns fragen, ob eine Person einer Handlung tatsächlich zugestimmt hätte, ist das etwas ganz anderes, als sich zu fragen, ob diese Person ihr ratio­ 18 Scanlon

1998, 105 (Übers.: Lars Kiesling); vgl. auch OWM I, 239. AA 04, 429 f. 20 Dieses Beispiel bespreche ich in OWM I, Kap. 8. 19 GMS,

314  |  Derek Parfit 

nalerweise hätte zustimmen können. Wir könnten wissen, dass bestimmte Menschen einigen von ihrem Einspruch gedeckten (»veto-covered«) Handlungen nicht tatsächlich zustimmen würden, obwohl es für sie irrational wäre, ihre Einwilligung vorzuenthalten. In solchen Fällen könnten wir sagen, dass Menschen das Recht haben, irrational zu sein und die entsprechenden Folgen dafür zu ertragen.21 Schaber betrachtet folgendes fiktive Szenario und schreibt: Aber man könnte auch eine andere Position vertreten, der zufolge Paul nur dann geachtet wird, wenn sein eigener Wille respektiert wird: Jill sollte dieser Position zufolge Paul nicht davon abhalten, sein Projekt zu verfolgen, und zwar deshalb nicht, weil es nun einmal das ist, was er tun möchte. Jill mag recht damit haben, dass er keinen Grund hat, das Projekt zu verfolgen, aber er möchte es nun einmal verfolgen. Das ist sein Wille. Und sein Wille muss nicht deshalb geachtet werden, weil er Gründe hat, das Projekt zu verfolgen, sondern vielmehr, weil es das ist, was er tun möchte. Gemäß dieser Auffassung wäre es falsch, Paul von seinem Projekt abzuhalten, weil dies zu tun einer Missachtung seiner Person gleichkäme. (S. 82) Ich treffe ähnliche Aussagen. Meiner Auffassung nach werden uns Handlungsgründe nicht durch unsere Wünsche gegeben, sondern durch Tatsachen, die uns Gründe geben, bestimmte Wünsche zu haben. Falls wir keinen Grund haben, einen bestimmten Wunsch zu haben, dann gibt uns die Tatsache, dass wir diesen Wunsch haben, noch keinen direkten Grund zu versuchen, den Wunsch zu erfüllen. Unsere Wünsche können uns lediglich derivative Gründe liefern, beispielsweise wenn uns die Erfüllung eines Wunsches Lust oder Schmerzen verschaffen würde. Obzwar ich behauptet habe, dass uns Wünsche höchstens solche derivativen Gründe liefern können, habe ich einer anderen von Scanlons Behauptungen beigepflichtet und sie reformuliert. Ich schrieb: Wenn wir die Wünsche anderer Leute erfüllen könnten oder ihnen dabei behilflich sein könnten, ihre Ziele zu erreichen, dann können uns diese Tatsachen nicht-derivative Handlungsgründe 21 OWM

I, 195; Übers.: Lars Kiesling. Erwiderungen  |  315

liefern. Wenn andere Menschen einen bestimmten Wunsch oder ein Ziel haben, ohne jedoch einen Grund dafür zu haben, dann haben sie möglicherweise keinen Grund für ihr Bemühen, diesen Wunsch zu erfüllen oder das Ziel zu erreichen. Wir hingegen könnten solche Gründe haben. Indem wir diese Personen dabei unterstützen, ihre Ziele zu erreichen oder ihre Wünsche zu erfüllen, respektieren wir ihre Autonomie und vermeiden paterna­ listisches Verhalten. Die Wünsche, Ziele oder Entscheidungen anderer Leute ähneln in dieser Hinsicht oftmals Wahlstimmen, denen wir in jedem Fall die gleiche Bedeutung zumessen sollten, selbst wenn die Wähler keinen Grund für ihre Wahlentscheidung haben.22 Diese Textstellen zeigen in meinen Augen, dass ich Schabers Unterscheidung zwischen der Achtung für die Gründe einer Person und der Achtung für die Entscheidungen einer Person ausreichend Rechnung trage. Falls sich unsere Sichtweisen hier unterscheiden, dann nur hinsichtlich derjenigen Fälle, in denen wir jemanden gerechtfertigterweise auf eine Art behandeln können, die im Interesse der Person wäre, obwohl uns diese Person ihre Einwilligung in unser Tun verweigert. Schaber würde uns vermutlich erlauben, dasjenige zu tun, was erheblich besser für bestimmte Menschen wäre, auch wenn diese uns ihre Zustimmung verweigern. Solche Handlungen wären beispielsweise gerechtfertigt, wenn sie Menschen begünstigen, die klarerweise an starken psychischen Beeinträchtigungen leiden. Es gibt meiner Meinung nach aber auch weniger extreme Fälle, in denen wir uns gerechtfertigterweise über eine verweigerte Einwilligung hinwegsetzen können. Wir könnten gerechfertigterweise einen jungen Menschen während einer depressiven Episode vom Suizid abhalten, falls wir hinreichend gute Gründe hätten anzunehmen, dass seine Depression vorübergehen wird und dass der Rest seines Lebens wahrscheinlich lebenswert sein wird. Ein anderes, e­ twas trivialeres Beispiel ist die rechtliche Erfordernis, uns beim Autofahren anzuschnallen. Gegen solche kleineren Einschränkungen unserer Freiheit, die uns dazu zwingen, rational zu handeln, gibt es keine triftigen Einwände. Es gibt eine Menge weiterer Fälle, in denen ich vielleicht eher als Schaber geneigt bin anzunehmen, dass 22 OWM

I, 66; Übers.: Lars Kiesling.

316  |  Derek Parfit 

wir gerechtfertigterweise zum Wohl einer Person in deren Auto­ nomie eingreifen könnten. Aber diese Meinungsverschiedenheiten müssen nicht tiefgreifend sein. Wir haben noch einen anderen, kleineren Dissens. Ich habe Kants Bemerkung zurückgewiesen, nach der die Achtung vor einer Person streng genommen die Achtung vor dem moralischen Gesetz ist. Demgegenüber habe ich geschrieben: »Respekt vor Personen sollte, genaugenommen, Respekt vor ihnen sein« (OWM II, 168). Obwohl Schaber diese These akzeptiert und zitiert, schreibt er später: »Jemanden zu achten bedeutet, seine normative Autorität zu achten« (S. 89). Ich würde hiergegen geltend machen, dass ebenso wenig wie Menschen dasselbe sind wie das moralische Gesetz, sie ebenfalls nicht mit ihrer normativen Autorität identisch sind. Wiederum würde ich sagen, dass die Achtung vor Personen gerade im Respekt vor ihnen selbst besteht.

▷ Erwiderung auf Dieter Birnbacher Große Teile von Dieter Birnbachers höchst aufschlussreichem Beitrag befassen sich mit Kants Überzeugung, dass (A)  es falsch ist, Menschen bloß als Mittel zu behandeln. Diese Auffassung wird laut Birnbacher heutzutage weitgehend mit dem Ausdruck »Instrumentalisierung« wiedergegeben, der »in zunehmendem Maße in Gesetzestexte, standesrechtliche und -ethische Richtlinien und nicht zuletzt in internationale Abkommen und Verträge eingeht«. (S. 91) Dieser Wortgebrauch scheint mir allerdings ungeeignet, da er suggeriert, es sei generell falsch, Menschen als Mittel zu behandeln. Wie Birnbacher ebenfalls anmerkt, kann es sein, dass nichts dagegen spricht, Menschen als Mittel zu betrachten. Beispielsweise können wir jemanden als Mittel behandeln, um an Informationen zu gelangen, indem wir die Person fragen, wie spät es ist oder ob wir uns auf dem richtigen Weg zu unserem Reiseziel befinden. Kant wandte sich nicht dagegen, Menschen als Mittel zu benutzen, sondern dagegen, sie bloß als Mittel zu benutzen. Der Begriff »Instrumentalisierung« sollte deshalb durch eine Phrase wie etwa »bloße Instrumentalisierung« ersetzt werden. Falls wir nämErwiderungen  |  317

lich behaupten würden, es sei falsch, Menschen zu instrumentalisieren, dann würde diese Behauptung fälschlicherweise eine Vielzahl zulässiger Handlungen missbilligen. Obwohl Kants These (A) bereits mit dem Ausdruck »bloß« operiert, muss sie dennoch reformuliert werden. Birnbacher weist darauf hin, dass es durchaus möglich ist, jemanden bloß als Mittel zu behandeln, ohne sich Kritik auszusetzen, wenn man weiß, dass die eigene Handlung der entsprechenden Person zugutekommen oder sie in keinster Weise schädigen würde. Ich habe bei solchen Erwägungen einen imaginierten Fall betrachtet, in dem ein Egoist stets nach der Maxime handelt: ›Tue das, was am besten für dich ist!‹. Dieser Mensch, so habe ich angenommen, würde – unter einem gewissen Risiko für sich selbst – ein Kind vor dem Ertrinken retten, obwohl sein Hintergedanke für das Vollziehen dieser Tat ist, dafür belohnt zu werden. Da diese Person das Kind bloß als Mittel benutzt, um eine Belohnung zu erhalten, hat ihre Handlung keinen moralischen Wert. Ihre Handlung wäre allerdings nicht falsch in dem Sinn, dass sie gegen eine Pflicht verstoßen würde. Es ist moralisch zulässig, das Leben des Kindes zu retten, auch wenn man dies nur als Mittel zum Zweck tut. Aus diesem Grund können wir Kants (A) ersetzen: (B) Es ist falsch, jemandem als einem bloßen Mittel zu einem anderen Zweck einen Schaden zuzufügen. Birnbacher fügt dem den Vorschlag hinzu, die weitergehende Behauptung aufzustellen, dass solche Handlungen nur dann falsch sind, wenn sie jemanden ohne dessen Einverständnis schädigen. Ich denke, dass diese Modifikation von (B) nicht immer notwendig ist, da in manchen Fällen die jeweilige Handlung selbst dann falsch wäre, wenn wir die Zustimmung des Betroffenen haben würden. Ich verzichte an dieser Stelle allerdings darauf, solche Fälle zu besprechen. Gemäß der These, die ich als Birnbachers Vorschlag (BV) bezeichne, gilt: Wir handeln dann dahingehend falsch, jemanden bloß als Mittel zu behandeln, wenn wir eine Person schädigen, während wir sie als Mittel gebrauchen, irgendein anderes Ziel zu erreichen, ohne deren Einverständnis dazu zu haben. 318  |  Derek Parfit 

In Anwendung auf viele Fälle scheint BV durchaus plausibel zu sein. Allerdings gibt es meiner Meinung nach einige Ausnahmefälle.23 ­Einen solchen Fall habe ich bereits einmal entworfen: Zwei Zehen: Infolge eines Erdbebens sind Sie und ihr Kind unter Trümmern gefangen, die einzustürzen drohen und Sie beide dadurch töten würden. Ich sitze neben Ihnen fest, bin allerdings außer Gefahr. Sie können das Leben Ihres Kindes nicht retten, außer wenn Sie meinen Körper ohne mein Einverständnis als eine Art Schild gebrauchen, was zum Verlust einer meiner kleinen Zehen führen würde. Würden Sie darüber hinaus den Verlust einer weiteren meiner Zehen verursachen, könnten Sie auch Ihr eigenes Leben retten. Stellen Sie sich nun weiter vor, dass Sie glauben, nur die Rettung des Kindes könne die Herbeiführung einer solchen Verletzung eines anderen rechtfertigen, und Sie aus diesem Grund das Leben Ihres Kindes retten, indem Sie mich nur einen Zeh verlieren lassen, und dadurch Ihren eigenen Tod hinnehmen, anstatt mich einen weiteren Zeh verlieren zu lassen. In diesem Beispielfall würde mich Ihre Handlung als Mittel für das Ziel, Ihr Kind zu retten, ohne meine Zustimmung schädigen. Birnbachers Vorschlag würde in diesem Fall nun implizieren, dass es von Ihnen falsch war, mich zu schädigen, indem Sie mich als Mittel zum Zweck gebraucht haben. Das ist, meiner Ansicht nach, nicht richtig. Ob Sie nun falsch gehandelt haben oder nicht, Sie haben mich nicht als bloßes Mittel zum Zweck benutzt. Sie können mich in diesem Fall gar nicht als bloßes Mittel zum Zweck behandeln, wenn Sie lieber Ihren eigenen Tod in Kauf nehmen, als dass Sie mir den Verlust einer weiteren meiner Zehen auferlegen. Sie kommen der Handlung, mich als bloßes Mittel zu behandeln, nicht einmal nahe. Da Birnbachers Vorschlag in den meisten Fällen plausibel angewendet werden kann, werde ich im Weiteren nicht diskutieren, wie dessen Modifikation aussehen könnte, damit er in Fällen wie Zwei Zehen nicht impliziert, dass wir jemanden als bloßes Mittel gebrauchen. Stattdessen wende ich mich weiteren möglichen Einwänden gegen BV zu. 23 Ich

diskutiere diesen Aspekt der kantischen Position in OWM I, Kap. 9. Erwiderungen  |  319

Um seinen Vorschlag zu illustrieren, bezieht sich Birnbacher auf mehrere vieldiskutierte fiktive Fälle. Nehmen wir an, dass in Nebengleis ein unbemannter, fahrerloser Zug unkontrolliert ein Gleis hinunterollt, auf dem sich fünf Personen befinden, und droht, sie zu töten. Sie beobachten diese Situation und wären in der Lage, einen Hebel zu bedienen, um den Zug auf ein anderes Gleis zu lenken. Ich allerdings befinde mich auf diesem anderen Gleis. Falls Sie nun den Hebel umlegen würden, um die fünf Menschen zu retten, würden Sie dafür sorgen, dass der Zug stattdessen mich erfasst und dadurch tötet. Die meisten von uns würden in diesem Fall Ihre Handlung nicht als falsch bewerten. Auch durch BV würde Ihre Handlung nicht verurteilt werden, da meine Tötung nicht Mittel zum Zweck der Rettung der fünf anderen Menschen war, sondern nur eine ihrer vorhersehbaren Nebenfolgen. Stellen Sie sich nun den nächsten Fall vor: Brücke: Ein anderer außer Kontrolle geratener fahrerloser Zug steuert auf fünf Personen zu und droht, sie zu töten. Sie könnten die Leben dieser fünf Menschen retten, indem Sie verursachen, dass ich vor den Zug falle, sodass dieser durch den Aufprall gestoppt wird und ich zu Tode komme. Viele würden diese Handlung für falsch halten. Auch Birnbachers Vorschlag verurteilt diese Handlung, weil BV impliziert, dass Sie mich in diesem Fall ohne mein Einverständnis als Mittel töten würden, um das Leben der fünf anderen Menschen zu retten. Es ist allerdings unklar, wie mit BV erklärbar wäre, warum Ihre Handlung in Nebengleis zulässig ist, in Brücke hingegen nicht. Betrachten wir als ein weiteres Beispiel den Fall Handgranate: Ein anderer außer Kontrolle geratener Zug rast auf fünf Menschen zu. Sie könnten diese Menschen retten, indem Sie einen Sprengkörper zünden würden, dessen Explosion den Zug stoppen würde. Ihnen ist jedoch klar, dass mich diese Detonation ebenfalls töten würde, da ich ganz in der Nähe stehe. Viele Menschen würden sagen, diese Handlung sei falsch. BV hingegen würde diese Handlung nicht verbieten. Mein Tod wäre im Rahmen dieser Handlung nämlich nicht das Mittel, sondern eine 320  |  Derek Parfit 

vorhersehbare Nebenfolge der Verursachung der Explosion, die den Zug stoppt. Falls die Handlung in Brücke und in Handgranate falsch ist, dann liegt die Falschheit der Handlung in Brücke möglicherweise an etwas anderem als der Tatsache, dass die Handlung mich als ein bloßes Mittel tötete. Ich habe andernorts dafür argumentiert, dass es in Fällen, in denen es falsch ist, das Leben einer Person als Mittel zur Rettung anderer zu opfern, ebenfalls falsch wäre, den Tod dieser Person als Nebenfolge der Rettungsmaßnahme in Kauf zu nehmen (vgl. OWM III, Kap. 56). Wir können uns nun einem noch weiterreichenden Problem zuwenden. Laut Kants Menschheitsformel gilt: Wir dürfen alle rationalen Wesen – oder Personen – niemals bloß als Mittel behandeln, sondern müssen sie stets als Zweck an sich behandeln. Kants Verständnis der Instrumentalisierung, so Birnbacher, hat sein Konzept von Selbstzweckhaftigkeit zum Gegenbegriff, wobei mit diesen Gegenbegriffen alle Möglichkeiten erfasst werden (S. 91). Vor dem Hintergrund dieser Lesart der kantischen Formel können wir annehmen, dass (C) wir eine Person als Zweck an sich behandeln, wenn wir sie nicht bloß als Mittel gebrauchen. Wie Birnbacher ebenfalls bemerkt, kann (C) einige unplausible Implikationen aufweisen. Im Kontext dieser Definitionen schreibt Birnbacher: Die Behandlung einer Person als Mittel und nicht bloß als Mittel würde demnach (paradoxerweise) implizieren, dass man diese Person als Zweck an sich behandelte.24 Es gibt jedoch auch weitere solcher widersinniger Implikationen. Stellen wir uns einen zusätzlichen Fall vor, den wir als Der schlechte Samariter bezeichnen: Sie sehen mich verletzt am Rande des Weges liegen und verzweifelt um Hilfe rufen. Sie igno­ rieren mich und gehen unbekümmert weiter. 24 So

schrieb er in einer unserer Korrespondenzen. Erwiderungen  |  321

In Birnbachers Lesart behandeln Sie mich in Kants Sinne als Zweck an sich, da Sie mich nicht bloß als Mittel gebrauchen. Würde dies zutreffen, wäre Kants Menschheitsformel belanglos. Denn würden Sie meine Hilfsbedürftigkeit in diesem Fall ignorieren, würden Sie mich letztlich als bloßes Ding behandeln, wie einen Haufen Lumpen, der am Wegesrand liegt. Bezüglich dieser Lesart der kantischen Formel gäbe es Ihrer Handlung gegenüber keinerlei Einwand, da (C) nahelegt, dass Sie mich als Selbstzweck behandeln würden, obwohl Sie mich eigentlich als bloßen Gegenstand betrachten. Kants Formel würde einen Großteil ihrer Attraktivität einbüßen, wenn wir tatsächlich andere Menschen als Zweck an sich behandeln könnten, indem wir sie ignorierten und sie sterben ließen, obwohl wir sie problemlos vor dem Tod bewahren könnten. Um diese paradoxen Implikationen zu vermeiden, könnte Birnbacher die begrifflichen Gegensätze andersartig beschreiben. Birnbacher könnte behaupten, dass (D) wir Menschen in Kants Sinne bloß als Mittel behandeln würden, falls es uns misslingt, sie als Selbstzweck zu behandeln. Im Falle des schlechten Samariters würden wir also mit Bezug auf (D) sagen können, dass Sie mich nicht als Zweck an sich behandelt haben, indem Sie meine Hilfsbedürftigkeit ignoriert haben. Auf Grundlage dieses Verständnisses der kantischen Formel würde ihre Handlung völlig zu Recht verurteilbar werden. Aber diese Modifikation hätte dafür eine andere problematische Konsequenz. Falls es sich bei den beiden genannten Ausdrücken wirklich um begriffliche Gegensätze handelt, dann würde die Formel implizieren, dass Sie mich bloß als Mittel behandelten, wenn Sie mich letztlich einfach nur ignorierten. Wie ich bereits gesagt habe, ist das irreführend, da Sie mich nicht als Mittel behandeln. Denn wenn wir nicht handeln, dann können wir nicht bloß auf diese Weise handeln. Legen wir Kants Formel auf diese Weise aus, dann sollten wir nicht behaupten, dass es Kants Auffassung nach falsch ist, Menschen bloß als Mittel zu behandeln. Denn würden wir diese Behauptung aufstellen, dann könnten unsere Hörer und Leser denken, wir meinten damit, dass

322  |  Derek Parfit 

es Kants Auffassung nach falsch ist, Menschen bloß als Mittel zu behandeln. Dabei würde es nicht ausreichen, zu ergänzen, dass wir jemanden auch dann bloß als Mittel benutzen können, wenn wir diese Person nicht als Mittel benutzen. Es würde mehr Klarheit gewonnen werden, wenn wir Kants Formel so vereinfachten, dass sie letztlich nur noch verlangt, dass wir Menschen stets als Selbstzweck behandeln. Da diese Phrase keine Alltagsbedeutung hat, sollte sie nicht zu Missverständnissen führen, wobei wir lediglich erläutern müssten, welche Handlungen Kants Auffassung nach Menschen nicht als Zweck an sich behandeln. Wenn ich diese Behauptungen aufstelle, bin ich nicht vollkommen anderer Meinung als Birnbacher. Wie ich bereits erwähnt habe, vertritt auch Birnbacher die Auffassung, dass Kants Formel paradoxe Implikationen aufweist, wenn man sie derart auslegt, dass die Ausdrücke ›jemanden bloß als Mittel benutzen‹ und ›jemanden als Selbstzweck behandeln‹ Gegenbegriffe bilden. Ich habe letztlich nur behauptet, dass die Anwendung dieser Interpretation der Formel auf Fälle wie den schlechten Samariter zu noch schwerwiegenderen Paradoxien führt. Falls Birnbacher und ich uns überhaupt uneins sind, dann mag das letztlich die Frage betreffen, wie die kantische Menschheitsformel zu reformulieren wäre, damit sie solche paradoxen Implikationen vermeiden würde. Man könnte nun behaupten, dass wir gemäß Kants Formel Menschen stets als Selbstzweck behandeln müssen und sie niemals in dem speziellen Sinn bloß als Mittel gebrauchen dürfen, der sich auf eine jede Handlung bezieht, bei der Menschen nicht als Zweck an sich behandelt werden. Wenn allerdings die beiden Ausdrücke Gegenbegriffe bilden und somit alle Möglichkeiten abdecken, dann ist es nicht nötig, beide Ausdrücke zu verwenden. Es wäre folglich besser, zu sagen, Kants Formel besage, dass wir Menschen stets als Zweck an sich behandeln sollten. An dieser Stelle könnte nun eingewendet werden, dass diese Verkürzung der Formel bezüglich dessen, wie wir Menschen denn nun Erwiderungen  |  323

behandeln sollen, uninformativ ist. Indes weist auch die längere Version diesen Mangel auf. Wir müssen schlechterdings in beiden Fällen erklären, dass Menschen als Selbstzweck zu behandeln in Kants intendiertem Sinne letztlich heißt, dass wir Menschen weder (im gewöhnlichen Sinne) bloß als Mittel benutzen dürfen noch sie lediglich als Ding behandeln dürfen, dessen Wohlbefinden und moralischen Status wir schlichtweg ignorieren. In einem nächsten Schritt könnten wir nun weitere Behauptungen darüber aufstellen, welche anderen Arten der Behandlung unserer Mitmenschen von der kantischen Formel verlangt werden. Ein Beispiel dafür wäre Kants Prinzip der Einwilligung. Dieses Prinzip verlangt von uns, Menschen nur auf eine Weise zu behandeln, der diese Menschen rational zustimmen könnten (und zwar in einem Sinn von Zustimmen, der eine Auswirkung auf Handlungen hat), weil sie hinreichend Gründe dazu haben einzuwilligen. Im Rest seines Beitrags macht Birnbacher aus meiner Sicht verschiedene scharfsinnige und plausible Aussagen über andere Ideen Kants, so z. B. über den Respekt vor anderen Menschen und über Verstöße gegen die Menschenwürde. Übersetzt von Lars Kiesling

3  Kants Formeln, zukünftige Menschen und das Problem der Nicht-Identität

▷ Erwiderungen auf Johann Frick und Tim Henning Ich habe keine Kommentare zu dem herausragenden Beitrag von ­Johann Frick, da ich alle Grundthesen von Frick teile. Tim Henning verteidigt in der ersten Hälfte seines weitreichenden und erhellenden Beitrags einige Thesen bezüglich Kants Menschheitsformel und seiner Formel des allgemeinen Gesetzes, die ich für wahr und wichtig erachte. Da ich diese Formeln bereits an anderer Stelle ausführlich erörtert habe, werde ich hier lediglich einige Zweifel mit Blick auf ein paar Thesen von Henning vor­ bringen. Henning schlägt vor, dass wir versuchen sollten, Kants Anspruch zu verteidigen, dass alle seine Formeln »nur so viele Formeln eben 324  |  Derek Parfit 

desselben Gesetzes«25 seien. Meines Erachtens sollten wir Kants Anspruch zurückweisen. Wenn alle Formeln von Kant dasselbe moralische Gesetz zum Ausdruck brächten, würden wir deutlich weniger von Kant lernen. Man kann diesen Punkt auf folgende Weise illus­ trieren. Wir könnten entweder versuchen zu zeigen, dass (1) Kant uns mit seiner Forderung, andere als Zweck an sich zu behandeln, sagen will, dass wir nach Maximen handeln sollten, deren Allgemeingültigkeit wir wollen können, oder dass (2) Kant uns mit seiner Forderung, nur nach solchen allgemeingültigen Maximen zu handeln, sagen will, dass wir andere als Zweck an sich behandeln sollten. Wenn entweder (1) oder (2) wahr wäre, würde es ausreichen, eine von Kants Formeln zu diskutieren, da die andere Formel nichts hinzufügte. Rawls hat in ähnlicher Weise vorgeschlagen, wir sollten versuchen, Kants Anspruch zu verteidigen, dass alle seine Formeln »precisely the same law« darstellen.26 Kant ist jedoch ein bedeutenderer Philosoph, als mit diesem Vorschlag unterstellt wird. In diesem Sinne schrieb ich: Kant geht sogar noch weiter damit, seine Errungenschaften zu unterschätzen, weil er bestreitet, dass er auch nur ein einziges neues Prinzip formuliert. In Wahrheit brennt Kant auf gerade mal vierzig Seiten ein Feuerwerk ab, das uns mehr neue und fruchtbare Ideen liefert als alle Philosophen der vorangegangenen Jahrhunderte zusammen.27 Wir sollten versuchen, so viel wie möglich aus Kants außergewöhnlich reichhaltigen Schriften über Ethik zu lernen. Im Rahmen seiner Diskussion von Kants Menschheitsformel schreibt Henning: Es ist in der Literatur zu Kant sehr umstritten, was genau es heißt, die Menschheit in einer Person als Zweck an sich selbst 25 GMS,

26 Rawls

AA 04, 436.

27 OWM

2000, 181. I, 183; Übers.: Nadine Mooren. Erwiderungen  |  325

zu behandeln. Ich beginne mit einem Vorschlag, der mir auf der richtigen Fährte zu sein scheint […]. (S. 149) Wenn das stimmt, sollten die anderen Formulierungen uns dabei helfen können, ZF [die Menschheitsformel] zu erläutern. (S. 151) Kants Menschheitsformel hat meines Erachtens keinen präzisen Inhalt. Wie Kemp Smith schreibt, ist Kant »unter den großen Denkern der am wenigsten präzise«.28 Wir interpretieren keinen heiligen Text, der eine bestimmte verborgene Bedeutung enthalten muss. In seiner Diskussion von Kants Formel des allgemeinen Gesetzes schreibt Henning: Und die Interpretation der Gesetzesformel sieht sich vielen notorischen Unklarheiten gegenüber, von denen viele von Parfit diskutiert werden. […] Meine persönliche Ansicht ist, dass die Gesetzesformel alles andere als ein hoffnungsloser Fall ist. (S. 153) Diese Bemerkungen könnten nahelegen, dass ich nicht nur Interpretationsprobleme der Formel des allgemeinen Gesetzes hervorhebe, sondern auch glaube, dass diese Formel ein hoffnungsloser Fall ist. Das trifft nicht zu. Ich argumentiere dafür, dass diese Formel ziemlich viel leisten kann, wenn wir sie in einer Weise überarbeiten, die offenkundig nötig ist. Ich behaupte, dass Kants Formel nicht erfolgreich ist, wenn sie den Begriff einer Maxime in dem weitgefassten Sinn enthält, der sich auch auf Lebensgrundsätze beziehen kann. Kant geht davon aus, dass Maximen Lebensgrundsätze sein können, denn einige seiner Beispiele sind die Maxime, »mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern«29; die Maxime, anderen »in ihrer Noth nicht Beistand leisten zu wollen«30; und die Maxime der Selbstliebe bzw. der eigenen Glückseligkeit31. Ich habe behauptet, dass die Frage, ob jemandes Handlung falsch ist, nicht von dem Lebensgrundsatz abhängen kann, nach dem diese Person handelt, da es viele Lebensgrundsätze gibt, nach denen zu handeln 28 Kemp

Smith 1915, 527 (Übers.: Nadine Mooren). Obwohl diese Bemerkung sich auf Kants erste Kritik bezieht, gilt sie meines Erachtens auch für Kants Bücher über Ethik. 29 KpV, AA 05, 27. 30 TL, AA 06, 453. 31 KpV, AA 05, 24 f. 326  |  Derek Parfit 

manchmal falsch, manchmal aber auch richtig wäre. Es ist nicht immer falsch, noch ist es immer richtig, dass wir unser Vermögen durch ein sicheres Mittel vergrößern. Handelten wir nach der Maxime der Selbstliebe bzw. der Maxime ›Tue, was auch immer am besten für dich ist!‹, wären viele unserer Handlungen falsch, doch andere unserer Handlungen wären zulässig. Es kann sein, dass wir unsere Versprechen halten oder unsere Schulden begleichen, um unser Ansehen zu bewahren, oder dass wir ein ertrinkendes Kind retten in der Hoffnung, dafür eine Belohnung zu erhalten. Diese Handlungen besäßen keinen moralischen Wert, aber sie würden im Sinne Kants auch nicht der Pflicht widersprechen. Und es ist auch nicht immer falsch, denen, die in Not sind, nicht zu helfen. Ich habe behauptet, dass Kants Formel sich, um erfolgreich zu sein, nicht auf Maximen im Sinne von Lebensgrundsätzen beziehen darf, sondern sich in einem enger gefassten Sinn auf Maximen beziehen muss, die als moralisch relevante Handlungsbeschreibungen definiert sind. Henning stellt ähnliche Thesen auf. Er behauptet, dass »wir uns oft auf unser Urteil darüber verlassen können, wann eine mögliche Formulierung einer Maxime die relevanten motivierenden Gründe eines Akteurs erfasst und wann nicht« (S. 153). Henning schlägt einige Neuformulierungen für Kants Formel des allgemeinen Gesetzes vor, die von dem enger gefassten Maximenbegriff Gebrauch machen würden. Henning schreibt, dass Kant von uns fordert, in jeder Entscheidung die gleichen Entscheidungsmöglichkeiten aller anderen Personen als einschränkende Bedingung zu behandeln (S. 153), und dass Kant mit einem Gesetz ein Prinzip meint, das allen Vernunftwesen zur Maxime dienen könnte […]. Das heißt aber, dass die Sorge darum, ob meine Maxime Gesetz sein kann, nichts anderes ist als eine Sorge um die gleichen Entscheidungsmöglichkeiten aller Vernunftwesen. (S. 152) Diese Vorschläge für Versionen von Kants Formel sind meines Erachtens zu vage und hätten häufig unplausible Implikationen. Viele falsche Handlungen sind vereinbar bzw. kompatibel damit, dass jeErwiderungen  |  327

der unter denselben Umständen dieselben Handlungen wählt. Ich habe ein paar abgeänderte Fassungen von Kants Formel beschrieben und verteidigt, die ich für besser halte. Nach einem meiner Vorschläge gilt: Eine Handlung ist falsch, es sei denn, ein Prinzip, dessen allgemeine Akzeptanz jeder vernünftigerweise wollen kann, erlaubt solche Handlungen.32 Ich habe dafür argumentiert, dass diese Version von Kants Formel erstaunlich erfolgreich ist. Ich weiß nicht, ob Henning meine Behauptungen über die Leistungsfähigkeit der so überarbeiteten Formel akzeptieren würde. In meiner Erörterung von Kants Menschheitsformel habe ich zunächst Kants Forderung diskutiert, dass wir Menschen, um sie als Zwecke zu behandeln, nur auf Weisen behandeln dürfen, denen sie potentiell zustimmen können. Mit dieser These wird vorgeschlagen, dass es falsch wäre, irgendjemanden auf eine Weise zu behandeln, in die die jeweilige Person nicht vernünftigerweise einwilligen könnte. Ich argumentierte dafür, dass dieses Prinzip der Einwilligung sich plausibel auf viele Arten von Handlungen anwenden lässt, auch wenn es nicht die Gesamtheit der Moralität abdecken kann. Im Anschluss daran habe ich Kants Forderung diskutiert, dass wir Menschen niemals bloß als Mittel behandeln dürfen. Ich habe die These vertreten, dass diese Forderung sehr wenig aussagekräftig ist. Henning kommt zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Er legt nahe, dass nach Kants Auffassung »jemanden bloß als Mittel gebrauchen« bedeuten könnte, speziell ihn oder sie in einer Weise [zu behandeln], die ich nicht generell für Personen gutheißen kann. (S. 156) Henning stellt heraus, dass derlei Thesen die Wendung »bloß als Mittel« nicht in ihrem gewöhnlichen Sinne verwenden. Als Beispiel nimmt Henning an, dass er sieht, wie jemand in einem Pool zu ertrinken droht, dessen Leben er leicht retten könnte. Im Sinne der kantischen Konzeption schlägt Henning vor, dass er, wenn er diese Person einfach ertrinken ließe und weiterliefe, 32 OWM

I, 341 und Parfit 2017, 302.

328  |  Derek Parfit 

die ertrinkende Person als ein bloßes Mittel behandelte. Diese Ausdrucksweise erscheint gekünstelt. Können wir wirklich sagen, dass ich diese arme Person als ein Mittel gebrauche? Was ist der Zweck, zu dem sie mir als Mittel dient? Wir könnten alternativ sagen, dass wir, wenn wir jemanden nicht als ein Mittel behandeln, wir diese Person auch nicht bloß als ein Mittel behandeln können. Henning unterbreitet sodann den Vorschlag, dass Kants Verwendungsweise der Wendung ›bloß als Mittel‹, obwohl sie nicht der gewöhnlichen Verwendung entspricht, zumindest nicht »allzu unnatürlich« ist. Wenn er die Person ignorierte, deren Leben er leicht retten könnte, dann könnten wir laut Henning behaupten, dass mein Verhalten ihr gegenüber sich ausschließlich an dem orientiert, was meinen eigenen Zielen dient. In diesem Sinn ist mein Verhalten ihr gegenüber anscheinend instrumentell. (S. 156) Meines Erachtens ist diese These aber sehr unnatürlich. Wir behandeln etwas instrumentell, wenn wir von diesem Ding in einer Weise Gebrauch machen, um eines unserer Ziele zu erreichen. Wenn wir lediglich einen verletzten Fremden missachten, dann gibt es keinen Sinn, in dem unser Verhalten dieser Person gegenüber instrumentell ist. Wir gebrauchen die Personen nicht, deren Existenz wir igno­ rieren. Henning schreibt auch: Es ist von sekundärer Bedeutung, ob Kants Wortwahl in allen relevanten Fällen gleichermaßen selbstverständlich ist oder nicht. (S. 157) Dieser Umstand wäre von sekundärer Bedeutung, wenn wir uns immer daran erinnerten, dass Kant diese Worte nicht in ihrer gewohnten Weise verwendet. Dieser Umstand kann jedoch leicht vergessen werden. Um ein triviales Beispiel zu geben, habe ich eben geschrieben: Wir sollten nicht behaupten,  dass es Kants Auffassung nach falsch ist, Menschen bloß als Mittel zu behandeln.

Erwiderungen  |  329

Denn würden wir diese Behauptung aufstellen, dann könnten unsere Hörer und Leser denken, wir meinten damit, dass es Kants Auffassung nach falsch ist, Menschen bloß als Mittel zu behandeln. (S. 322 f.) Dieter Birnbacher hat mir vorgeschlagen, dass ich eine dieser beiden eingerückten Formulierungen abändern sollte, damit sie nicht identisch sind. Es war allerdings meine Absicht, dass diese Formulierungen identisch sind. Wenn wir sagen, dass es nach Kant falsch ist, Menschen bloß als Mittel zu behandeln, dann könnten unsere Leser glauben, dass wir meinen, was wir sagen. Wenn wir davon überzeugt sind, dass Kant diese Formulierung nicht in der gewohnten Weise verwendet hat, dann sollten wir keine so missverständ­ lichen Aussagen treffen. Henning bietet einen plausiblen Vorschlag an, wie Kants Auffassung reformuliert werden kann. Wir könnten sagen, dass nach Kants Menschheitsformel gilt: Wir sollen jeden als Selbstzweck behandeln und nicht als eine »Sache« […] – also als etwas, mit dem ich ganz allein nach Maßgabe meiner Ziele umgehen kann. (S. 156 f.) Wenn wir jemanden verletzen und dies für uns das Mittel darstellt, um ein Ziel zu erreichen, kann es sein, dass wir diese Person als bloßes Ding behandeln, denn wir gebrauchen Dinge, um unsere Ziele zu erreichen. Wir würden jemanden aber auch dann als ein bloßes Mittel behandeln, wenn wir ihm nicht das Leben retteten, obwohl wir wüssten, dass wir das leicht tun könnten. Einige Leute wurden auf andere Weise durch Kants Verwendung der Formulierung ›bloß als Mittel‹ in die Irre geführt. Einige Leute argumentieren dafür, dass es nach Kant zwar gerechtfertigt sein kann, jemanden zu töten, wenn dies eine absehbare Nebenfolge der Rettung einiger anderer Menschenleben darstellt; dass es aber falsch wäre, jemanden als Mittel zur Rettung anderer Menschenleben zu töten. Kant hat aber nicht zwischen diesen beiden Arten, jemanden zu töten oder zu verletzen, unterschieden. Im speziellen Sinne Kants behandeln wir bestimmte Leute bloß als ein Mittel, wenn es uns misslingt, diese Menschen als Zweck an sich zu behandeln. Kant 330  |  Derek Parfit 

hätte nicht geglaubt, dass wir Menschen als Zweck an sich behandeln, wenn wir sie nicht als Mittel, sondern nur im Sinne einer absehbaren Nebenfolge töten. In der zweiten Hälfte seines Beitrags möchte Henning zeigen, dass seine »Lesart der Ethik Kants, die von Parfits eigener an vielen Stellen abweicht, einen Ansatz zur Lösung des Problems der NichtIdentität ergibt, den Parfit nicht berücksichtigt« (S. 147). Meine Kommentare zu Hennings Thesen decken sich teilweise mit Fricks Kommentaren zu ähnlichen Thesen anderer Autoren. Ich werde als erstes das Problem der Nicht-Identität beschreiben.33 Immer wenn wir fragen, was wir tun sollten oder in welcher Weise der Verlauf der Dinge besser oder schlechter wäre, müssen wir einen von drei Fällen betrachten. In Same People Cases würden in allen möglichen von uns betrachteten Weltverläufen die gleichen und nur die gleichen Menschen existieren. Darüber hinaus gibt es zwei Arten von Different People Cases. In manchen Fällen würde dieselbe Menge von Menschen existieren, aber manche darunter wären andere Menschen. In anderen Fällen existierte eine andere Zahl an Menschen. Bei fast allen realen Fällen handelt es sich um Different Number Cases, doch wissen wir selten, in welcher Weise unsere Handlungen oder Lebensgrundsätze die Menge an Menschen beeinflussen, die später leben würden. Wenn uns das Wissen über solche Fakten fehlt, können wir die schwierigen Probleme außer Acht lassen, die solche Fakten mit sich bringen. Allerdings können wir häufig wissen, dass unsere Entscheidung zwischen verschiedenen Handlungen oder Lebensgrundsätzen Einfluss darauf hätte, wer die Menschen sein werden, die später leben. Manche dieser Same Number Cases rufen das von mir so genannte Problem der Nicht-Identität hervor. Dieses Problem ist von großer praktischer Relevanz, denn es liegt in vielen Fällen vor, bei denen es darum geht, dass unsere gegenwärtigen Handlungen oder Lebensgrundsätze zukünftige Generationen beeinflussen werden. Wir können dieses Problem mit einem Beispiel in einem kleineren Maßstab illustrieren. Nehmen wir an, dass eine Frau, Mary, eine Krankheit hat, die dazu führen könnte, dass 33 Ich

diskutiere dieses Problem in RaP, Kap. 16. Erwiderungen  |  331

eines ihrer Kinder eine Behinderung haben wird. Obwohl diese Behinderung nicht marginal ist, wäre das Leben dieses Kindes immer noch lebenswert. Ich nehme hier einmal an, dass diese Behinderung ohne Folgen bliebe, mit der Ausnahme, dass dieses Kind nur vierzig Jahre alt würde. Wir können als nächstes drei Möglichkeiten mit­ ein­ander vergleichen: In Fall Eins ist Mary bereits schwanger. Wenn Mary sich einer Behandlung unterzieht, wird sich bei dem Kind keine Behinderung ausbilden und es wird achtzig Jahre alt. In Fall Zwei würde Marys Kind, wenn sie jetzt schwanger würde, nur vierzig Jahre alt werden. Wenn Mary drei Monate warten würde, würde ihre Krankheit verschwinden und sie würde später mit einem anderen Kind schwanger werden, das achtzig Jahre alt würde. In Fall Drei ist Marys Krankheit unheilbar. Jedes Kind, mit dem Mary schwanger werden könnte, würde nur vierzig Jahre alt ­werden. Es scheint klar, dass Mary sich in Fall Eins der Behandlung unterziehen sollte, die ihre Krankheit heilen kann. Es wäre falsch, wenn sie es verursachte, dass ihr Kind statt achtzig nur vierzig Jahre lang lebte. Die meisten von uns würden annehmen, dass es in Fall Zwei besser wäre, wenn Mary mit dem Schwangerwerden wartet. Mary besitzt einen starken moralischen Grund dafür zu sorgen, dass das Kind, mit dem sie schwanger wird, achtzig und nicht vierzig Jahre alt wird. Es ist allerdings unklar, warum es schlechter wäre, wenn Mary jetzt schwanger würde. Wenn Marys Kind nur vierzig Jahre alt würde, wäre das für Mary selbst und für einige andere Menschen schlecht. Marys Hauptsorge sollte allerdings das Wohl ihres künftigen Kindes sein. Das Problem besteht darin, dass es, wenn Mary jetzt schwanger würde, nicht für dieses Kind schlecht wäre, da das Leben dieses Kindes lebenswert wäre, obwohl es nur vierzig Jahre alt werden würde. Würde Mary hingegen warten, würde dieses Kind gar nicht existieren. Mary hätte ein anderes Kind, das achtzig Jahre alt würde. Dies ist der Grund, warum ich hier vom Problem der Nicht-Identität spreche. Fall Drei ruft ein anderes Problem hervor. Sollte es so sein, dass 332  |  Derek Parfit 

jedes von Marys Kindern nur vierzig Jahre alt würde, wäre es falsch für sie, überhaupt ein Kind zu bekommen? Um diese Frage zu vereinfachen, können wir annehmen, dass es kein anderes Kind gibt, das Mary und ihr Partner adoptieren könnten. Wenn Mary kein Kind bekommt, das nur vierzig Jahre alt wird, dann würden sie und ihr Partner zu ihrem Leidwesen niemals ein Kind haben können. Wir können dies als das No-Child-Problem bezeichnen. Probleme ziehen unterschiedliche Anschlussfragen nach sich. In Fall Zwei hätte Mary ein Kind, egal ob sie wartet oder nicht. Diese Same Number Cases sind meines Erachtens recht leicht zu beurteilen. Wenn im Vergleich zweier Weltverläufe dieselbe Anzahl Menschen existierte, scheint es mir recht klar zu sein, dass es besser wäre, wenn die Menschen existieren, deren Leben lebenswerter wäre. Das Problem, das sich uns stellt, besteht aber darin zu erklären, warum dieser Weltverlauf der bessere wäre. Wir können nicht behaupten, dass der andere Weltverlauf schlechter wäre, weil er schlechter für irgendwelche Menschen wäre. Es wäre für die anderen Menschen nicht schlechter, gezeugt worden zu sein, weil ihre Leben auch lebenswert gewesen wären. Nehmen wir an, dass Mary sich in Fall Zwei dazu entscheidet, jetzt ein Kind zu empfangen, das wir Tom nennen können. Obwohl Tom nur vierzig Jahre alt werden würde, wäre Marys Entscheidung für Tom nicht schlechter. Wenn Mary gewartet hätte, hätte Tom niemals existiert. Es hätte ein anderes Kind gegeben, das gezeugt worden wäre und achtzig Jahre gelebt hätte. Ich wende mich nun Hennings Erläuterungen solcher Fälle zu. Im Rahmen der Beschreibung einer Variante von Fall Zwei schreibt er: Intuitiv scheint es richtig, zu sagen, dass Mary warten sollte. Und der Grund dafür scheint nicht nur damit zu tun zu haben, dass Mary sich damit ihr eigenes Leben leichter machen würde. Der Grund scheint vielmehr auch mit der Situation ihres Kindes zu tun zu haben. Was man sagen möchte, ist, dass Mary um ihres Kindes willen warten sollte. Aber Parfits Punkt ist, dass wir dies nicht sagen können. (S. 160) Wie Henning sagt, können wir nicht behaupten, dass Mary Tom zuliebe gehandelt hätte, wenn sie Tom niemals empfangen hätte. Da Toms Leben lebenswert gewesen wäre, hätte seine Existenz kein Übel für ihn dargestellt. Erwiderungen  |  333

Diese Fälle werfen zwei Fragen auf: Q1: Wäre es falsch, sich für ein Kind mit einer Behinderung zu entscheiden, anstatt ein anderes, völlig gesundes Kind zu bekommen? Q2: Ware es falsch, sich für ein Kind mit einer Behinderung zu entscheiden, wenn die einzige mögliche Alternative darin besteht, kein Kind zu bekommen? Im Rahmen der Erörterung seiner Version von Fall Zwei schlägt Henning einige Teilantworten auf Q2 vor. Diese Antworten erscheinen mir scharfsinnig und plausibel. Henning behauptet, dass es einige Versionen dieses Falls gibt, in denen Mary jetzt ihr Kind bekommt, das Kind Grund zur Beschwerde hat und Mary falsch gehandelt haben wird. Das mag beispielsweise dann wahr sein, wenn Mary egoistische Beweggründe hatte, jetzt ein Kind zu bekommen, und sich nicht um die Behinderung ihres Kindes gesorgt hat. Oder Mary mag fälschlicherweise davon ausgegangen sein, dass sie, wenn sie abwartet, dasselbe Kind bekommen würde, das dann keine Behinderung hätte. Mary könnte sich dafür entscheiden, nicht abzuwarten, obwohl sie der Überzeugung ist, dass ihr Nichtabwartenkönnen für ihr Kind deutlich schlechter wäre. Diese Handlung wäre auch falsch. So heißt es bei Henning: Angenommen, Mary […] entscheidet sich tatsächlich dafür, jetzt schwanger zu werden – allerdings in Unwissenheit darüber, dass es sich um eine Different People Choice handelt. Sie glaubt vielmehr, dass sie demselben Kind ein gesundes Leben hätte schenken können, wenn sie nur gewartet hätte. (Angenommen, sie weiß nicht um wesentliche Faktoren der menschlichen Fortpflanzung oder um die philosophische Doktrin der essentiality of origins.) In diesem Falle scheint es mir klar zu sein, dass ihr Kind einen legitimen Grund zur Beschwerde hätte. Es könnte mit Recht davon ausgehen, dass ihm Unrecht getan wurde, obgleich es natürlich nicht wirklich geschädigt wurde (jedenfalls im herkömmlichen, komparativen Sinne). Immerhin hat seine Mutter in einer Weise gehandelt, bei der sie glauben musste, dass sie ihm beträchtliche und leicht vermeidbare Lasten zumutet. (S. 166)

334  |  Derek Parfit 

Henning schlägt eine weitere Variante dieses Falls vor, in der Mary berücksichtigt, dass es sich um eine Different People Choice handelt, und es gilt: Hätte es eine Möglichkeit gegeben, das spezifische zukünftige Kind, das sie nun zeugt, besser zu stellen, dann hätte sie das getan. (S. 167) Er schlägt vor, dass Mary etwa nach der folgenden Maxime handeln könnte: Ich zeuge jetzt ein Kind, weil ich glaube, dass dies schön für mein Kind und mich wird, und weil ich sichergestellt habe, dass es keine Möglichkeit gibt, diesem Kind seine Schwierigkeiten zu ersparen. (S. 168) »Bei dieser Maxime«, schreibt Henning, »ist nicht zu sehen, warum sie nicht als allgemeines Gesetz gewollt werden könnte« (S. 168). Henning scheint daraus den Schluss zu ziehen, dass Mary in dieser Version von Fall Zwei nicht falsch handeln würde. In dieser Beschreibung müsste das Problem der Nicht-Identität hier nicht gelöst werden, weil hier gar kein solches Problem vorläge. Wenn es nicht wahr ist, dass Mary warten sollte, um ihr Kind später zu bekommen, bedarf es auch keiner Erklärung, warum Mary abwarten sollte. Obwohl Henning annimmt, dass Mary in dieser Version von Fall Zwei weiß, dass sie später ein anderes Kind haben könnte, das keine Behinderung haben würde, beschreibt Henning Mary als besorgt um das möglicherweise behinderte Kind, das ich Tom genannt habe. Mary empfängt Tom jetzt, weil es keinen Weg gibt, Tom vor einer Behinderung zu bewahren. Henning schreibt: »Hätte es eine Möglichkeit gegeben, das spezifische zukünftige Kind, das sie nun zeugt, besser zu stellen, dann hätte sie das getan.« (S. 167) Es ist unklar, warum Mary sich nicht für den anderen Weg entscheidet, der ihr Kind besser dastehen ließe. Angesichts der zwei möglichen Kinder könnte sie sich dafür entscheiden, das Kind zu bekommen, das keine Behinderung davontragen würde. Genau wie Mary scheint Henning diese andere Möglichkeit zu ignorieren. Wie ich bereits erwähnt habe, schreibt Henning an einer früheren Stelle:

Erwiderungen  |  335

Intuitiv scheint es richtig, zu sagen, dass Mary warten sollte. Und der Grund dafür scheint nicht nur damit zu tun zu haben, dass Mary sich damit ihr eigenes Leben leichter machen würde. Der Grund scheint vielmehr auch mit der Situation ihres Kindes zu tun zu haben. Was man gerne sagen würde, ist, dass Mary um ihres Kindes willen warten sollte. Aber Parfits Punkt ist, dass wir dies nicht sagen können. (S. 160) An späterer Stelle aber heißt es: Und noch weniger ist es klar, dass das gezeugte Kind einen Grund zur Beschwerde hätte. (S. 161) Das ursprüngliche Problem bestand allerdings nicht in der Frage, warum das Kind Grund zur Beschwerde hätte. Es bestand darin, dass das Kind keinen Grund zur Beschwerde hätte. Wenn wir davon ausgehen, dass Mary abwarten sollte, obwohl jedes Kind, das sie jetzt bekommen würde, keinen Grund zu Beschwerde hätte, müssen wir eine andere Erklärung dafür anbieten, warum Mary abwarten sollte. Diese Bemerkungen legen nahe, dass Henning wenig über dieses Problem sagt, obwohl er behauptet, dass seine Kantinterpretation einen Ansatz zur Lösung des Problems der Nicht-Identität ergibt. Henning diskutiert ein hiervon verschiedenes Problem, nämlich die Frage, ob es falsch wäre, wissend ein Kind zu bekommen, das eine Behinderung hätte, wenn wir zugleich wüssten, dass das Leben dieses Kindes lebenswert wäre. Die meisten von Hennings Bemerkungen ließen sich auch auf Fall Drei anwenden, den Henning nicht explizit erörtert. Diese Bemerkungen missachten den Umstand, dass Mary in Fall Zwei zu einem späteren Zeitpunkt ein anderes Kind haben könnte, dem es besser ginge, weil es keine Behinderung hätte. Wie Frick in seinem Beitrag bemerkt, haben andere, die derartige Fälle diskutieren, ähnliche Tatsachen ignoriert. Henning kommt kurz darauf zu sprechen, wie sich uns das Problem der Nicht-Identität in einer viel weiterreichenden Fassung stellte, wenn unsere Handlungen oder politischen Programme Menschen beeinflussten, die mehr als ein Jahrhundert nach uns leben werden. Henning schreibt: Auf mehr oder minder verschlungenem Wege bestimmen viele Alltagsentscheidungen also mit, welche Personen zukünftig ent336  |  Derek Parfit 

stehen. […] Wenn dieser Einfluss auf die Existenz zukünftiger Personen erst einmal deutlich geworden ist, wird klar, dass wir uns dem gegenüber sehen können, was Parfit Different People Choices nennt. Dies sind Entscheidungen, in denen die langfristigen Folgen der verschiedenen Alternativen vollständig verschiedene zukünftige Populationen betreffen würden. […]   Angenommen, wir verzichten auf eine restriktive Klimapolitik und vergeuden Ressourcen auf Kosten späterer Generationen. Diese Entscheidung erscheint moralisch falsch. Aber wenn wir den Einfluss solcher Entscheidungen auf die Existenz der zukünftigen Personen bedenken, wird es schwierig, diesen Befund zu begründen. Denn unsere Entscheidung stellt die zukünftigen Menschen nicht schlechter – es ist ja nur allzu wahrscheinlich, dass sie ohne diese Entscheidung gar nicht erst existiert hätten.   So ergibt sich das Problem der Nicht-Identität, das Parfit so formuliert: »Since [the choice] will be worse for no one, we need to explain why we have a moral reason not to make [the choice].« (S. 147 f.) Ich habe vorgeschlagen, dass wir uns in solchen Same Number Cases zunächst auf den Same Number Quality Claim berufen können bzw. auf Q: Wenn im Vergleich zweier möglicher Weltverläufe dieselbe Anzahl an Menschen lebte, wäre es schlechter, wenn die, die leben, schlechter gestellt sind oder eine geringere Lebensqualität haben als die, die sonst gelebt hätten. Dieses Prinzip ist nicht Personen-betreffend (person-affecting), denn es geht nicht darum, was für bestimmte Menschen schlechter wäre. Wie in seiner Diskussion von Mary scheint Henning auch hier davon auszugehen, dass unsere moralischen Forderungen auf die Beeinträchtigungen von Personen Bezug nehmen sollten. In seinen Worten: Wenn wir heute Ressourcen verschwenden, dann scheinen wir in der Tat nicht nur den zukünftigen Weltzustand zu verschlechtern, sondern irgendwie auch den zukünftigen Menschen Unrecht zu tun. Die Frage lautet: Kann dieser persönliche Aspekt unserer ethischen Bewertung aufrecht erhalten werden, wenn man zugleich dem Problem der Nicht-Identität Rechnung trägt? (S. 148) Erwiderungen  |  337

Mit den anderen Behauptungen von Henning lässt sich eine Antwort auf diese Frage geben. Da es andere Menschen wären, die existierten und denen es besserginge, lässt sich der von Henning so genannte persönliche Aspekt unserer Beurteilung nicht aufrechterhalten. Wenn unsere energiepolitischen Grundsätze dafür sorgen, dass die künftige Lebensqualität aufgrund erschöpfter Ressourcen und einer überhitzten Erdatmosphäre deutlich geringer ist, dann sind diese politischen Programme falsch, selbst dann und auch wenn sie nicht für bestimmte künftige Menschen schlechter wären.34 Henning schreibt, dass die Handlungen derer, die Ressourcen erschöpfen, ohne sich des Problems der Nicht-Identität bewusst zu sein, dem Fall [gleichen], in dem Mary jetzt ein Kind zeugt, obwohl sie fälschlich glaubt, dass sie ein und dasselbe Kind leicht hätte besser stellen können. Wenn den Menschen dabei tatsächlich klar ist, dass sie es mit einer Different People Choice zu tun haben, und sie beschließen, Ressourcen zu verschwenden, dann ist es wahrscheinlich, dass es Menschen sind, denen das Los zukünftiger Menschen gleichgültig ist (und die die Tatsache der NichtIdentität vielleicht als bloße Entschuldigung verwenden). In all diesen Fällen, so wurde hier argumentiert, ergibt die kantische Theorie, dass sie zukünftigen Personen Unrecht tun und sie als bloße Mittel zu egoistischen Zwecken behandeln. (S. 170) Es mag sein, dass es viele Menschen gibt, auf die diese Aussagen zutreffen. Es gibt aber auch viele andere Menschen, deren Überzeugungen und Handlungen nicht in derselben Weise verwerflich wären. Wenn sie sich des Problems der Nicht-Identität bewusst werden, das sich aus den Folgen unserer politischen Programme für künftige Generationen ergibt, bedienen sie sich des Umstands der Nicht-Identität nicht im Sinne einer Entschuldigung, um ihre eigennützigen Ziele weiterzuverfolgen. Viele dieser Menschen bedauern den Umstand, dass diese Fälle das Problem der Nicht-Identität aufwerfen. Diese Menschen sind der Überzeugung, dass es falsch wäre, politische Programme zu verfolgen, die in einem immensen Ausmaß 34 Weitere

Fragen würden sich ergeben, wenn manche dieser Leben nicht lebenswert wären. Ich blende derartige Fragen hier aus. 338  |  Derek Parfit 

die Qualität des menschlichen Lebens zukünftiger Jahrhunderte vermindern. Sie bedauern es, wenn ihnen bewusst wird, dass wir diese politischen Programme nicht auf eine bekannte, die Beeinträchtigung von Personen betreffende Art kritisieren können, indem wir uns darauf berufen, in welcher Weise diese Programme zukünftigen Menschen abträglich wären. Ich bedauere es, dass ich einen gewissen Schaden angerichtet habe, indem ich hierauf hingewiesen habe. Ich versuche nun, Wiedergutmachung zu leisten. Ich glaube, dass wir einiges von dem, was Henning als den »persönlichen Aspekt unserer ethischen Bewertung« bezeichnet, bewahren können. Wenn das stimmt, könnten Hennings und meine Auffassung sich einander annähern. Wir können als erstes zwischen komparativen und existentiellen Schäden und Begünstigungen unterscheiden.35 Nehmen wir an, dass wir die Existenz eines Kindes mit dem TaySachs-Syndrom bewirken, so dass dieses Kind sich niemals ent­ wickeln und sein kurzes Leben von viel Leid geprägt sein wird. Dieser Schaden wäre nicht komparativ, denn es wäre für das Kind nicht besser, wenn es niemals existiert hätte. Dieser Schaden wäre existentiell, denn dieses Kind lebte nur ein kurzes Leben, das intrinsisch schlecht und nicht lebenswert wäre. Bewirkten wir stattdessen die Existenz eines Kindes, dessen Leben lebenswert wäre, stellte dies keine komparative Begünstigung, sondern eine existentielle Begünstigung dar. Es ist etwas Gutes, ein Leben zu haben, das lebenswert ist. Wir können sodann zwei Arten von Personen-betreffenden Prinzipien unterscheiden. Nach der ersten Version gilt das Enge Prinzip: Einer von zwei Weltverläufen kann nicht schlechter sein, wenn dieser Weltverlauf für niemanden schlechter wäre. Nach dem Weiten Prinzip gilt: Einer von zwei Weltverläufen wäre in einer Hinsicht schlechter, wenn dieser Weltverlauf für die Menschen weniger gut wäre. 35 Ich

folge hier den Vorschlägen, die McMahan in seinem Aufsatz ›Causing People to Exist and Saving People’s Lives‹ unterbreitet (McMahan 2013). Erwiderungen  |  339

Sofern wir Same People Cases betrachten, fallen diese Prinzipien zusammen. Wäre einer von zwei Weltverläufen für jemanden schlechter, dann wäre dieser Weltverlauf für diese Person auch weniger gut. Da diese Aussagen sich decken, haben wir keinen Grund, die Formulierung ›weniger gut für‹ zu verwenden, wenn wir bereits die Formulierung ›schlechter für‹ gebraucht haben. Dies zeigt nicht, dass wir beim Nachdenken über diese Fälle das Enge Prinzip eher als das Weite Prinzip akzeptieren. Da diese Prinzipien hier zusammenfallen, unterscheiden wir sie nicht. Bei der Betrachtung von Different People Cases fallen diese Formulierungen und die Dinge, die sie zum Ausdruck bringen, nicht zusammen. Selbst dann, wenn einer von zwei Weltverläufen für existierende Menschen nicht schlechter wäre, kann es sein, dass diese Handlung oder dieser Weltverlauf für diese Menschen weniger gut ist, als es die andere Handlung oder der andere Weltverlauf für andere existierende Menschen gewesen wäre. In derartigen Fällen müssen wir zwischen dem Engen und dem Weiten Personenbetreffenden Prinzip wählen. Ich habe dafür argumentiert, dass wir das Enge Prinzip zurückweisen sollten. Dieses Prinzip besitzt einige Implikationen, die klarerweise falsch sind. Dieses Prinzip ist darü­ ber hinaus strukturell fehlerhaft, denn es kann implizieren, dass Weltverlauf X schlechter wäre als Weltverlauf Y, der schlechter wäre als Weltverlauf Z, der schlechter wäre als Weltverlauf X.36 Wir sollten stattdessen das Weite Personen-betreffende Prinzip in Anschlag bringen. In Fall Zwei wäre es nicht schlechter für Tom, wenn Mary ihn bekommt, auch wenn Tom nur vierzig Jahre alt würde. Marys Handlung verschaffte Tom eine existentielle Begünstigung. Würde Mary aber warten, bekäme sie ein anderes Kind, das achtzig Jahre alt würde. Marys Handlung verschaffte diesem Kind eine größere existentielle Begünstigung. Das Weite Prinzip impliziert, dass es besser wäre, wenn Mary abwartete, und dass sie dies auch tun sollte. Wenn Mary Tom bekommt, wäre diese Handlung für Tom nicht schlechter, aber diese Handlung würde Tom weniger begünstigen, als Mary das spätere Kind hätte begünstigen können, das achtzig Jahre alt würde. Marys Handlung wäre weniger gut für Tom, als Marys spätere Handlung für das andere Kind gewesen wäre. 36 Ich

verteidige diese Thesen in OWM II, Abschnitt 78.

340  |  Derek Parfit 

Ähnliche Bemerkungen treffen auf unsere Entscheidung für eines von zwei politischen Programmen zu, das die Lebensqualität in künftigen Jahrhunderten verminderte. Es kann sein, dass dieses politische Programm für die, die später leben, nicht schlechter wäre, denn diese Menschen hätten ein lebenswertes Leben; und hätten wir uns nicht für dieses Programm entschieden, hätten diese künftigen Menschen niemals existiert. Wir besäßen aber starke moralische Gründe, uns nicht für dieses politische Programm zu entscheiden. Auch wenn es mit Blick auf bestimmte Menschen nicht schlechter wäre, wäre es weniger gut für bestimmte Menschen, als es das andere politische Programm für andere Menschen gewesen wäre, die später hätten leben können. Wir besitzen starke moralische Gründe, nicht das zu tun, was Menschen deutlich weniger begünstigt, als wir andere Menschen hätten begünstigen können. Wenn wir dieses Weite Personen-betreffende Prinzip in Anschlag bringen, lösen wir das Problem der Nicht-Identität. Diese Lösung bewahrt einen Teil dessen, was Henning als den »persönlichen Aspekt« unseres moralischen Nachdenkens bezeichnet. Wenn wir dieses Weite Prinzip akzeptieren, sollten wir davon überzeugt sein, dass einige Handlungen für einen schlechteren Weltverlauf sorgen würden und moralisch falsch sein könnten, auch wenn diese Handlungen für niemanden schlechter wären. Es kann sein, dass es in solchen Fällen niemanden gibt, der sich beschweren könnte oder dem wir geschadet haben. Wir können aber plausibler Weise davon ausgehen, dass solche Handlungen für einen schlechteren Weltverlauf sorgten und falsch wären, wenn und weil diese Handlungen Menschen weniger begünstigten, als andere Handlungen andere Menschen begünstigt hätten. Es kann falsch sein, das zu tun, was in dieser Weise deutlich weniger gut für die Menschen wäre. Ich hoffe, dass Henning diese und andere ähnliche Thesen akzeptieren könnte. Ähnliches gilt in einem deutlich größeren Maßstab. Viele Leute glauben, dass es schlecht für viele existierende Menschen wäre, wenn die Geschichte der Menschheit endete, dass dies aber sonst in keiner Weise schlecht wäre. Wenn es keine künftigen Menschen gäbe, wäre es auch nicht schlechter für irgendwelche künftigen Menschen. Wir sollten stattdessen davon ausgehen, dass es sehr schlecht wäre, wenn die Geschichte der Menschheit endete, denn es Erwiderungen  |  341

wäre deutlich weniger gut für viele künftige Menschen. Wir sollten bald in der Lage sein, den meisten Leiden vorzubeugen oder sie zu erleichtern, und unsere Nachkommen könnten fortleben und sich noch Millionen von Jahrhunderten in diesem Sonnensystem ausbreiten. Da das Leben dieser Nachkommen sehr lebenswert wäre, würden wir das größtmögliche Gut hervorbringen und dafür sorgen, dass die Geschichte der Menschen ihren besten Verlauf nimmt, indem wir ihnen diese existentiellen Begünstigungen garantieren. Übersetzt von Nadine Mooren

4  Praktische Gründe

▷ Erwiderung auf Peter Stemmer Wenn wir sagen, jemand habe einen Grund, auf eine bestimmte Art zu handeln, meinen wir damit laut Bernard Williams in etwa, dass diese Handlung einen der gegenwärtigen Wünsche dieser Person erfüllen kann oder dass diese Person nach wohlinformierter Überlegung motiviert wäre, auf diese Weise zu handeln. Williams nennt dies die interne Bedeutung des Ausdrucks »ein Grund«. Ich selbst nutze diesen Ausdruck in einem anderen, rein normativen Sinne, den Williams die externe Bedeutung von »ein Grund« nennt und von dem er oft behauptet hat, diesen nicht zu verstehen. Diese externe Bedeutung des Ausdrucks »ein Grund« kann nicht sinnvoll über andere Begriffe definiert werden, allerdings kann sie mithilfe des Ausdrucks »eine Tatsache, die dafür spricht …« verständlich gemacht werden. In einigen Passagen seines klaren und kraftvollen Beitrags bestreitet Peter Stemmer, dass es einen solchen Unterschied zwischen den Bedeutungen gibt, in denen Williams und ich den Ausdruck »ein Grund« benutzen. Dies wäre nur dann wahr, wenn entweder (1) Williams den Ausdruck »ein Grund« nicht im dem von ihm definierten internen Sinne benutzt, sondern nur im externen Sinn; oder 342  |  Derek Parfit 

(2) ich den Ausdruck »ein Grund« nicht in dieser externen Bedeutung benutze, da ich ihn lediglich in dem von Williams definierten internen Sinne verwende. Keine dieser Behauptungen ist wahr, wie viele Belegstellen aus Williams’ und meinen Texten zeigen würden. Um nur ein Beispiel zu geben: Williams stellt sich jemanden vor, der weiß, dass er ein Medi­ kament nehmen muss. Williams schreibt: Falls ein Akteur wirklich keinerlei Interesse daran hat, das zu erlangen, was er braucht, und diese Haltung nicht auf einer falschen Überzeugung beruht; und wenn er ein solches Motiv auch nicht durch Motive erreichen kann, die durch deliberative Prozesse von der Art entstanden sind, die wir zuvor diskutiert hatten; dann sind wir, denke ich, gezwungen zu sagen, dass er im internen Sinne tatsächlich keinen Grund hat, diese Dinge anzustreben. […] Falls wir uns darüber klar werden, dass uns so ein Gedanke nicht in den Sinn kommt und wir weiterhin darauf bestehen zu sagen, diese Person habe diesen Grund, dann müssen wir in einem anderen Sinn von »Grund« sprechen, und zwar im externen Sinn.37 In meiner Diskussion dieses Beispiels behaupte ich, dass dieser fiktive Akteur, auch wenn er nicht motiviert ist, die Medizin zu nehmen, von der er weiß, dass er sie braucht (und folglich keinen internen Grund in Williams’ Sinn hat), dennoch einen rein normativen, externen Grund hat, das Medikament einzunehmen. Auch meine ich, dass (3) Stemmer den Ausdruck »Grund« in einem Sinn benutzt, der sich von meiner rein normativen Interpretation unterscheidet und der internen Bedeutung dieses Ausdrucks von Williams ähnelt. Stemmer stellt etliche Behauptungen auf, die (3) untermauern. Beispielsweise schreibt Stemmer, dass wir den Begriff des Grundes verändern und ihm einen neuen Inhalt verleihen würden, wenn wir diesen Begriff auf eine Weise benutzten, die nicht implizieren würde, dass Gründe durch gegenwärtige Wünsche gegeben werden. 37 Williams

1981, 105 (Übers.: Lars Kiesling). Erwiderungen  |  343

Wir würden von einem auf gegenwärtigen Wünschen basierten Begriff eines Grundes zu einem Begriff wechseln, der – wie in meinem Verständnis – keine solche Implikation bezüglich unserer gegenwärtigen Wünsche hat. Wie Stemmer auch zu Recht schreibt: Die entscheidende Differenz zwischen einer wollens-basierten Konzeption und einer Theorie, wie sie Parfit intendiert, betrifft also die Frage, ob es externe, wollensunabhängige Gründe fürs Wollen gibt. (S. 181) Solche wollensunabhängigen Gründe gibt es seiner Meinung nach aber nicht. Mein »entscheidender Fehler am Anfang«, so Stemmer, »liegt in der Idee einer nicht-natürlichen Tatsache«. Über die Plausibilität solcher Tatsachen schreibt er: Ist die Annahme, dass es so etwas gibt, mit einem wissenschaftlich informierten, auf höhere Wahrheiten verzichtenden Weltverständnis vereinbar? […] Tatsächlich wird nach meinem Eindruck, was Gründe sind und wie wir sie erkennen, bei Parfit, je länger seine Ausführungen werden, immer mysteriöser, so dass auch der Gründebezug der Menschen mysteriös und rätselhaft erscheint. (S. 171) Wenn ich davon spreche, dass manche normativen Wahrheiten nicht-natürliche Tatsachen sind, dann meint das, dass diese Wahrheiten nicht-empirisch sind, da wir keine empirischen Belege für oder gegen unsere Überzeugungen über diese Wahrheiten haben können. Ich habe diese Wahrheiten mit anderen Arten nicht-empi­ rischer Wahrheiten verglichen, beispielsweise mit logischen, mathematischen und modalen Wahrheiten. Während Stemmer diese Auffassung ablehnt, spricht er lediglich davon, dass mathematische Wahrheiten eine »dunkle und tatsächlich ganz anders gelagerte Epis­temologie und Ontologie« aufweisen. So gefasst ist der Einwand zu verkürzt ausgedrückt, als dass ich imstande wäre, darauf zu antworten.38 Als nächstes lehnt Stemmer meine These ab, nach der unsere Überzeugungen über Gründe nicht wirklich normativ sind, wenn sie lediglich Überzeugungen über natürliche Tatsachen wie etwa 38 Ich

bespreche diese Themen in OWM II, Kap. 31 – 33 und Appendix J.

344  |  Derek Parfit 

psychologische und kausale Tatsachen darstellen. Dagegen meint Stemmer: Es wäre indessen ganz abwegig, anzunehmen, weil es natürliche Tatsachen sind, die in einer bestimmten Kombination normativ sind, gebe es ›eigentlich‹ keine Normativität und keine normativen Phänomene. Es gibt sie offensichtlich. (S. 176) Williams macht ähnliche Bemerkungen. Er schreibt: Es ist für jeden adäquaten Ansatz, der erfassen will, was ›A hat einen Grund, X zu tun‹ meint, essentiell, dass er normativ ist […].39 Außerdem schreibt er: Kann eine Behauptung darüber, dass ein Akteur einen Grund hat, X zu tun, nicht darüber hinaus gehen zu sagen, was zu tun der Akteur sowieso bereits motiviert ist […], dann ist diese Definition des Ausdrucks »Grund« sicherlich zu eng gefasst. ›A hat einen Grund, X zu tun‹ bedeutet mehr als ›A ist gegenwärtig ­geneigt, X zu tun.‹«40 Aber diese Behauptung könnte nach Williams’ Vorschlag besagen, dass A geneigt sein würde, X zu tun, falls A Kenntnis von einer bestimmten Tatsache hätte oder eine falsche Überzeugung aufgeben würde. Indem wir solch eine Auffassung oder einen Begriff eines Grundes benutzen, würden wir den tatsächlichen Überzeugungen dieser Person »etwas hinzufügen oder sie korrigieren«, wie Williams schreibt, »und das reicht bereits hin, um diese Auffassung normativ zu machen.«41 Wie ich angemerkt habe, ist Williams’ Begriff von »Grund« nur schwach oder minimal normativ. Ähnliches gilt für Stemmers Auffassung. Er behauptet, Normativität entstehe, wenn zwei nicht-normative Elemente miteinander kombiniert würden. Diese Elemente sind ein Wunsch und die Tatsache, dass eine bestimmte Handlung für die Erfüllung dieses Wunsches kausal notwendig ist – daraus entstehe das »normative Müssen«. Seiner Meinung nach ist das alles, was nötig ist, da es »ganz 39 Williams

2006, 110 (Übers.: Lars Kiesling). 1995, 36 (Übers.: Lars Kiesling). 41 Ebd. (Übers.: Lars Kiesling). 40 Williams

Erwiderungen  |  345

falsch [wäre], sich, wenn vom normativen Müssen die Rede ist, auf die Suche nach einem andersartigen, speziell normativen Müssen neben dem Müssen der notwendigen Bedingung zu machen.« (S. 173) Falls es solch ein spezielles normatives Müssen oder Sollen nicht gibt, sondern lediglich einen Wunsch und eine kausale Tatsache, dann sind diese Behauptungen über Gründe höchstens minimal nor­mativ. Ferner schreibt Stemmer: Denken wir noch einmal an eine Norm. Die Intention des Normgebers ist es, die Normadressaten zu einer bestimmten Handlung (oder ihrer Unterlassung) zu bewegen. (S. 179) Der Normgeber versucht, durch Gründe, dadurch, dass etwas für etwas spricht, zu motivieren. (S. 179) Stemmers Normgeber könnte treffender als Motivgeber bezeichnet werden. Diese Person motiviert andere Leute zu einer bestimmten Handlung, indem sie sie glaubhaft warnt, dass ihnen andernfalls »etwas Negatives« widerfahren wird. Die Motive oder Anreize, die durch solche Warnungen gegeben werden, sind nicht plausibel als Normen beschreibbar. Stemmers Gebrauch des Wortes »Norm« entspricht dem frühen Gebrauch des Ausdrucks des Genötigtwerdens (being obliged). Demnach werden wir genötigt, auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln, wenn wir beispielsweise aufgrund einer glaubhaften Drohung dazu gezwungen werden. (Diese Bemerkung über den englischen Ausdruck »obliged« könnte beim deutschsprachigen Gegenstück nicht zutreffend sein.) Stemmer stellt einige überraschende Behauptungen darüber auf, warum wir keine Gründe für bestimmte Wünsche haben können. So nimmt er an: (4) Falls es eine evolutionäre Erklärung dafür gibt, warum wir einen Wunsch haben, dann können wir keinen Grund für diesen Wunsch haben. Stemmers Hauptbeispiel ist unser Wunsch weiterzuleben. Stemmer schreibt: Wir können nicht anders, als dieses Wollen zu haben, und wir sind nicht fähig, es abzuschütteln. […] Ich kann mir aber nicht vorstellen, den Wunsch, weiterzuleben, nicht zu haben. […] Wir 346  |  Derek Parfit 

folgen mit diesem Wollen keinem Grund, es geht nicht aus einer Überlegung hervor, wir haben es einfach. Die Frage nach Gründen hat hier folglich keinen Sinn. Es wäre völlig deplaciert, jemanden zu fragen, warum er weiterleben will. (S. 186) Diese Behauptungen übersehen die Tatsache, dass viele Menschen nicht weiterleben wollen. Dabei berufen sie sich oft auf Tatsachen, die ihnen einen Grund geben, bald sterben zu wollen, etwa im Falle von Krankheiten, die unter großen Schmerzen langsam zum Tod führen. Diese Leute zu fragen, warum sie sterben wollen, ist nicht völlig deplatziert. Und genauso wie diese Menschen glauben, dass sie einen Grund haben, sterben zu wollen, haben viele andere die Überzeugung, dass sie einen Grund haben, am Leben bleiben zu wollen. Es ist außerdem keineswegs wahr, dass die Überzeugungen besagter Menschen über ihre Gründe und Wünsche niemals Resultat einer Überlegung sind.42 Stemmer wendet sich anschließend einer von ihm als »attraktiv« bezeichneten Position zu, die besagt, dass Tatsachen über unsere zukünftigen Freuden und Schmerzen uns einen Grund geben, diese Freuden empfinden und diese Schmerzen vermeiden zu wollen. Stemmer bemerkt ganz richtig, dass solche Gründe nicht im Rahmen einer auf gegenwärtige Wünsche beschränkten, internen Interpretation erfasst werden können, da unsere hedonischen Gründe, diese zukünftigen Freuden empfinden zu wollen, nicht durch Tatsachen geliefert werden würden, die teilweise von unseren gegenwärtigen Wünschen handeln. Stemmer argumentiert jedoch, dass wir überhaupt keine Gründe dafür haben, zukünftige Lustempfindungen zu wollen oder zukünftige Schmerzempfindungen vermeiden zu wollen. Wir haben keine solchen Gründe, so Stemmer, da wir 42 Stemmer

schreibt: »Die Annahme, dass das Weiterleben-Wollen Teil unserer biologischen Ausstattung ist, dass es uns von Natur aus ›eingepflanzt‹ ist, scheint das Phänomen zutreffender zu beschreiben als die Annahme, dass es einen Grund für dieses Wollen gibt und dass wir es deshalb haben.« (S. 188). Stemmer bemerkt zu Recht, dass wir keine motivierenden oder erklärenden Gründe für unseren Überlebenswillen haben. Allerdings zeigt diese Behauptung darüber, warum wir dieses Bestreben haben, noch nicht, dass wir nicht normative Gründe dafür haben können, diesen Wunsch zu haben oder nicht zu haben – abhängig davon, wie der Rest unseres Lebens aller Erwartung nach aussehen wird. Erwiderungen  |  347

nicht anders können, als solche Wünsche zu haben, »[u]nd wo keine Überlegung, da auch keine Gründe« (S. 193). Wie zuvor übersehen diese Ausführungen die Tatsache, dass wir oftmals Überzeugungen über hedonische Gründe haben. Ein Beispiel dafür ist unsere Überzeugung, dass wir mehr Grund dafür haben, eine unausweichliche Qual in näherer Zukunft zu erleiden, und weniger Grund, diese Qual aufzuschieben, falls sie dadurch noch schmerzvoller werden würde. Stemmer könnte nicht behaupten, dass wir keinen Grund haben können, die unausweichliche Qual in näherer Zukunft zu bevorzugen, da wir nicht anders können, als diese Präferenz zu haben. Denn viele Leute bevorzugen es eben doch, diese Qualen aufzuschieben, obwohl die Qual dadurch nur schmerzvoller wird. Es gibt viele andere Weisen, auf die wir die Stärke von miteinander konfligierenden hedonischen Gründen vergleichen können. Später behauptet Stemmer: »Diese Überlegungen enthalten auch eine Antwort auf Parfits ›Agony-Argument‹ gegen eine subjektivistische Konzeption von Gründen.« (S.195) Mein Argument, auf das sich Stemmer bezieht, lautete: Wir alle haben einen Grund, jegliche zukünftige Qual vermeiden zu wollen und zu versuchen, sie zu vermeiden. Der Subjektivismus impliziert, dass wir keinen solchen Grund haben. Daher gilt: Der Subjektivismus ist falsch.43 Dieses Argument scheitert Stemmers Meinung nach, weil wir gar nicht anders können, als zukünftige Qualen vermeiden zu wollen. Aber selbst wenn wir gar nicht anders können, als diesen Wunsch zu haben, zeigt das noch nicht, dass wir nicht dennoch einen Grund haben können, diesen Wunsch zu haben. Es gibt viele Überzeugungen, die zu haben wir gar nicht anders können, aber das zeigt nicht, dass wir nicht dennoch über Gründe verfügen können, diese Überzeugungen zu haben. Dasselbe gilt für Wünsche. 43 OWM

I, 76 bzw. Parfit 2017, 197 f.

348  |  Derek Parfit 

Stemmer lehnt auch meine These ab, dass wir Gründe haben zu wollen, dass andere Leute nicht leiden. Er schreibt: Parfit sagt, Schmerzen – und Leiden insgesamt – seien etwas Schlechtes nicht nur für den, der leidet, sondern überhaupt. Schmerzen und Leiden seien »impersonally bad«. Aber das führt nicht weiter. Heißt es, so wie er Schlechtsein versteht, doch nur, dass das Unangenehmsein der Schmerzen ein Grund ist, die Schmerzen nicht zu wollen, und zwar ein Grund nicht nur für den, der die Schmerzen hat, sondern für alle. Deshalb, nochmal: Wodurch geht mich die Tatsache, dass ein anderer Schmerzen hat, an? [...] Wenn man davon absieht, dass ich sie vielleicht nicht will, [...] [w]odurch kann sie dann ein Grund für mich sein? (S. 197 f.) Stemmer hat zuvor behauptet, dass wir keinen Grund dafür haben können, um unsere zukünftigen Schmerzen besorgt zu sein, da wir nicht anders können, als uns darum zu sorgen. Stemmer fragt an der angeführten Textstelle, inwiefern wir einen Grund haben können, uns um die Schmerzen anderer zu sorgen, wenn wir uns nicht um sie sorgen. Diese Bemerkungen scheinen eine andere Möglichkeit nahezulegen. Stemmer könnte behaupten, dass wir, wenn wir uns um die Schmerzen anderer sorgen, einen Grund haben, uns zu sorgen. Aber Stemmer macht keine derartige Aussage. Wie es scheint, hat in Stemmers Augen nichts Bedeutung in einem normativen, Gründe-implizierenden Sinn. Wir haben keinen Grund, uns um irgendetwas zu sorgen.

▷ Erwiderung auf Ulla Wessels Wie auch Peter Stemmer verteidigt Ulla Wessels eine subjektivistische Theorie, der zufolge alle praktischen Gründe Gründe für Handlungen sind, die durch Tatsachen darüber geliefert werden, wie wir unsere gegenwärtigen Wünsche erfüllen könnten. Im ersten Teil ihres scharfsinnigen Beitrags weist sie mein Agony-Argument zurück, das sich gegen solche auf gegenwärtigen Wünschen basierenden Theorien wendet. Folgendes habe ich behauptet:

Erwiderungen  |  349

Wir alle haben einen Grund, jegliche zukünftige Qual vermeiden zu wollen und zu versuchen, sie zu vermeiden. Der Subjektivismus impliziert, dass wir keinen solchen Grund haben. Daher gilt: Der Subjektivismus ist falsch.44 Während Wessels dieses Argument diskutiert, bezieht sie sich auf das von ihr als »Indifferenz-Fall« bezeichnete Beispiel, in dem jemand keinen Wunsch hat, zukünftige Qualen zu vermeiden. Wessels schreibt: Das Agony-Argument fußt auf der Annahme, dass der Indifferenz-Fall möglich ist. [Zitat stammt aus einer früheren Fassung] Außerdem behauptet sie: (A) Da jeder zukünftige Qualen vermeiden will, implizieren subjektivistische Theorien, dass auch jeder einen Grund hat zu versuchen, zukünftige Qualen zu vermeiden. Aber weder setzt mein Argument voraus, dass der Indifferenz-Fall möglich ist, noch ist (A) eine relevante Behauptung. Denn wie ich schrieb, gilt: Manche Subjektivisten mögen behaupten, dass wir dieses Argument ignorieren können, da mein Beispiel rein fiktiv ist. Jede tatsächliche Person, so würden sie vielleicht sagen, will alle zukünftige Qualen vermeiden.   Diese Erwiderung würde scheitern. Erstens fragen wir danach, ob subjektive Theorien implizieren, dass wir alle einen Grund haben, alle zukünftigen Qualen vermeiden zu wollen. Um diese Behautpung zu stützen, dass wir alle einen solchen Grund haben, reicht es nicht zu behaupten, dass jeder diesen Wunsch hat […].45 44 OWM I, 76 bzw. Parfit 2017, 197 f. Wörtlich formuliert Wessels die beiden

Prämissen wie folgt: »(i) Wir haben einen Grund zu wünschen und auch darauf hinzuwirken, dass wir keine starken Schmerzen haben. (ii) Subjektivistische Theorien implizieren, dass wir einen solchen Grund nicht haben.« (S. 206) 45 OWM I, 76 bzw. Parfit 2017, 198. 350  |  Derek Parfit 

Nirgends in ihrem Beitrag diskutiert Wessels meine These, dass wir alle einen Grund für diesen Wunsch haben. Wessels behauptet nur, dass, da wir alle diesen Wunsch haben, wir alle Gründe haben zu versuchen, diesen Wunsch zu erfüllen, indem wir in einer Weise handeln, die künftige Qualen vermeiden könnte. Wessels Missverständnis könnte zum Teil mein Fehler sein. Ich hätte dieses Argument einfacher formulieren sollen, sodass es auf keinerlei Handlungsgrund Bezug nimmt. Ich hätte behaupten sollen: Wir haben alle einen Grund, jegliche zukünftige Qual vermeiden zu wollen. Der Subjektivismus impliziert, dass wir keinen solchen Grund haben. Daher gilt: Der Subjektivismus ist falsch. In Erwiderung auf dieses Argument könnte Wessels behaupten: (B) Da jeder zukünftige Qualen vermeiden möchte, hat jeder einen Grund, diesen Wunsch zu haben. Wie ich allerdings erörtert habe, wäre es schwierig, diese Behauptung zu verteidigen. Wenn wir einen Wunsch haben, gibt uns diese Tatsache noch keinen Grund, diesen Wunsch zu haben. Wie ich auch geschrieben habe, könnte mein Argument mithilfe einer einfachen Frage zusammengefasst werden. Subjektivisten sind keine normativen Skeptiker oder Irrtumstheoretiker, da sie daran glauben, dass wir Handlungsgründe haben können. Warum aber können wir nicht auch Gründe für einige unserer Wünsche haben? Wenn wir uns daran erinnern, wie es ist, verbrannt oder ausgepeitscht zu werden – warum können diese Tatsachen uns nicht einen Grund geben, vermeiden zu wollen, erneut verbrannt oder ausgepeitscht zu werden? Ich habe behauptet, dass Subjektivisten darauf keine gute Antwort haben. Nehmen wir als nächstes an, Wessels läge richtig und tatsächlich wolle jeder alle zukünftigen Qualen vermeiden. Falls wirklich ausnahmslos jeder diesen Wunsch hätte, könnte es den Anschein haben, dass es nur von geringer praktischer Bedeutung wäre, ob wir Erwiderungen  |  351

auch Gründe für diesen Wunsch haben. Aber Wessels könnte nicht behaupten, dass jeder sich gleichermaßen um all seine künftigen Qualen sorgt. Denn viele Menschen kümmern sich weniger um die Aussicht auf zukünftige Schmerzen, wenn diese Schmerzen weiter in der Zukunft liegen. Deshalb schieben viele eine Tortur auf, obwohl sie wissen, dass diese Aufschiebung jene Tortur nur noch vergrößern wird. Daher ist es von großer praktischer Wichtigkeit, ob wir diesen Leuten einsichtig machen können, dass sie keine Gründe haben, sich weniger um weiter in der Zukunft liegende Torturen zu kümmern. In anderen Teilen ihres Beitrags stellt Wessels verschiedene interessante Behauptungen darüber auf, was die Ursache dafür ist, dass wir Wünsche bezüglich zukünftiger Schmerzen haben. Wessels schlägt vor, dass (C) es eine begriffliche Wahrheit ist, dass jeder, der sich lebhaft vorstellt, wie es wäre, Qualen zu erleiden, zukünftige Qualen vermeiden will. Dem könnte sie hinzufügen, dass (D) wir uns gleichermaßen um solche lebhaft vorgestellten Qualen kümmern würden, egal ob sie in naher oder in ferner Zukunft liegen würden. Wären diese Behauptungen begrifflich wahr, dann möglicherweise deshalb, weil wir, falls wir diese Wünsche nicht hätten, uns diese zukünftigen Erfahrungen nicht auf eine Weise vorgestellt hätten, die wir als »hinreichend lebhaft« bezeichnen würden. Eine solche Verteidigung aber würde diese Behauptungen uninteressant machen. Es gibt eventuell aber nicht-triviale Möglichkeiten, solche Behauptungen zu verteidigen. Wessels bezieht sich auch auf Christoph ­Fehiges Behauptung, dass (E) es eine begriffliche Wahrheit ist, dass wir, falls wir uns die Erfahrungen anderer Personen lebhaft vorstellen würden, gleichermaßen um das Leid oder Glück aller besorgt wären. Vor dem Hintergrund dieser optimistischen Sichtweise scheitern Sadisten daran, sich hinreichend lebhaft vorzustellen, wie es wäre, den Schmerz zu empfinden, den sie gerade ihren Opfern zufügen. 352  |  Derek Parfit 

Ich weiß zu wenig über diese Behauptungen, um in der Lage zu sein, diesen Teil von Wessels Beitrag kommentieren zu können. In ihrem Beitrag diskutiert Wessels außerdem kurz Theorien, denen zufolge wir Gründe haben, die durch Tatsachen über unsere zukünftigen Wünsche geliefert werden. Wenn wir später Schmerzen fühlen und damit Empfindungen haben, die wir heftig ablehnen, dann entwickeln wir, so stellt sie heraus, einen sehr starken Wunsch, diese Empfindungen künftig nicht zu haben. Nun könnte man behaupten, dass uns diese zukünftigen Wünsche wunschbasierte Gründe liefern, solche zukünftigen Schmerzen vermeiden zu wollen, obwohl wir diesen Wunsch zum jetzigen Zeitpunkt nicht haben. Ich habe allerdings nur diejenigen wunschbasierten Theo­rien besprochen, die Wessels »präsentistisch« nennt. Wenn wir uns aber auf Gründe berufen, die uns durch unsere zukünftigen Wünsche nahegelegt werden, dann berufen wir uns nicht auf eine auf gegenwärtigen Wünschen basierende Theorie, sondern auf eine Theorie, der zufolge wir Gründe haben, uns um unser zukünftiges Wohlergehen zu kümmern und es zu befördern. Solche Theorien über Gründe sind in meinem Sinne objektivistisch, weil sie sich auf Tatsachen berufen, die nicht von unseren gegenwärtigen Wünschen handeln, sondern von unserem zukünftigen Wohlbefinden. Im Gegensatz zu den auf gegenwärtigen Wünschen basierenden Theorien behaupten diese Theorien, dass wir Gründe haben, uns um unser zukünftiges Wohlergehen zu sorgen. Wir können Objektivisten dieser Art sein, obwohl wir eine Wunscherfüllungstheorie des Wohlergehens vertreten.46 Übersetzt von Lars Kiesling

5  Epistemische Gründe

▷ Erwiderung auf Gerhard Ernst In seinem bemerkenswert originellen Beitrag diskutiert Gerhard Ernst einige meiner Thesen zur Unterscheidung zwischen epistemischer und praktischer Rationalität. Einer bestimmten Auffassung zufolge sind wir epistemisch rational, wenn wir auf eine Art und Weise handeln, die uns voraussichtlich dazu führt, wahre Überzeugungen 46 Diese

Auffassungen über Gründe verteidige ich in OWM I, Kap. 2 – 4. Erwiderungen  |  353

zu bilden. Ich habe darauf hingewiesen, dass wir ebenfalls praktisch rational handeln, wenn wir uns demgemäß verhalten. Wir haben das Ziel, wahre Meinungen zu bilden und verhalten uns deshalb auf eine Weise, die uns hilft, dieses Ziel zu erreichen. Da derartige Handlungen praktisch rational sind, liegt in solchen Fällen keine tiefgehende Unterscheidung zwischen praktischer und epistemischer Rationalität vor. Diese Unterscheidung sollte, meiner Ansicht nach, anders­ artig und andernorts getroffen werden. Ich habe behauptet, (A) die eigentliche Unterscheidung besteht darin, zwischen willentlichen Handlungen, mit denen wir auf praktische Gründe rea­ gieren, und den nicht-willentlichen Überzeugungsbildungen (als Reaktion auf epistemische Gründe) zu differenzieren.47 Es könnte hilfreich sein, diese Unterscheidung anhand eines Vergleichs zweier imaginierter Personen zu illustrieren. Eine dieser Personen, Adam, hat sich das Ziel gesetzt, wahre Überzeugungen zu haben. Er versucht, dieses Ziel auf rationale Weise zu erreichen, indem er nach neuen Belegen sucht, Beweise prüft etc. Obwohl Adam rational handelt, erreicht er dieses Ziel aber nur selten. Oft bemerkt er nicht – oder schätzt falsch ein –, welche Tatsachen Belege für bestimmte Überzeugungen sind, und bei der Betrachtung seiner Beweise und anderer Argumente übersieht er vielerlei logische Fehler. Auf diese Weise führen Adams Handlungen ihn dazu, viele falsche Überzeugungen zu generieren. Eine andere imaginierte Person, Jack, kümmert sich weniger darum, ob seine Überzeugungen wahr sind. Jack sucht niemals nach Belegen und prüft auch die Beweise und Argumente nicht, die er manchmal erbringen muss. Obgleich Jack nur sporadisch auf Weisen handelt, die ihm helfen würden, wahre Überzeugungen zu formen, reagiert er doch unfehlbar auf seine Sichtweise der Tatsachen, die ihm epistemische Gründe liefern. Er erfasst immer zutreffend, welche Tatsachen Belege für entsprechende Überzeugungen sind, schlussfolgert dabei korrekt und entdeckt logische Fehler anderer. Deswegen hat Jack letztlich viele wahre Überzeugungen. Ich glaube, dass von diesen zwei Leuten der aktive Prüfer, Adam, sich zwar praktisch rational, aber nicht epistemisch rational verhält. Es ist der faule Jack, der epistemisch rational ist. 47 Diese

Behauptungen habe ich in OWM I, Abschnitt 16 aufgestellt.

354  |  Derek Parfit 

Darüber hinaus habe ich behauptet: (B) Um praktisch rational zu sein, ist es nicht ausreichend, auf unsere Handlungsgründe auf bestimmte Weise zu reagieren. Wir müssen auch auf unsere praktischen Gründe dafür, bestimmte Überzeugungen und Wünsche zu haben, reagieren.48 Da das Wort »praktisch« sich vom griechischen Wort ableitet, das auf Handlungen referiert, weite ich die Bedeutung dieses Wortes aus, wenn ich behaupte, dass wir praktische Gründe für bestimmte Wünsche und Ziele haben. Ich nenne sie aber aufgrund ihrer nahen Verwandtschaft zu unseren Handlungsgründen dennoch praktisch. Dieselben Tatsachen geben uns oft sowohl Gründe dazu, bestimmte Wünsche und Ziele zu verfolgen, als auch auf Weisen zu handeln, die deren Erfüllung ermöglichen. Wissen wir beispielsweise, dass eine bestimmte Erfahrung schmerzhaft sein würde, gibt uns diese Tatsache sowohl Grund dazu, diese Erfahrung vermeiden zu wollen, als auch zu versuchen, diese Erfahrung zu vermeiden. In einem nächsten Schritt können wir behaupten: (C) Wenn wir uns Tatsachen bewusst sind, die uns starke Gründe liefern, bestimmte Wünsche oder Ziele zu haben, sind die meisten unserer Reaktionen darauf genauso nicht-willentlich wie unsere Reaktionen auf starke epistemische Gründe. Diese Thesen lassen sich veranschaulichen, indem wir uns verschiedene Fälle vorstellen, in denen ein verrückter Despot eine glaubwürdige Drohung ausspricht. Stellen wir uns vor, dass ein Tyrann androht, uns morgen Mittag foltern zu lassen, es sei denn, wir glaubten bis dahin, die Erde sei flach. Falls wir daran scheitern, diese Überzeugung zu bilden, und deshalb gefoltert worden sind, könnte jemand anderes sagen: »Du Idiot! Warum hast du nicht einfach geglaubt, die Erde sei flach?« Darauf könnten wir entgegnen, dass obwohl die Drohung des Despoten uns starke Gründe geliefert hat, glauben zu wollen, die Erde sei flach, und wir auch versucht haben, dies zu glauben, wir diese Überzeugung unmöglich willentlich formen konnten. Wir hätten eine indirekte Methode nutzen müssen, z. B. indem wir jemanden dazu bewegt hätten, uns zu hypnotisieren, 48 Ich

verteidige diese Ansicht in OWM I, Kap. 1-4. Erwiderungen  |  355

der gleichzeitig dafür Sorge tragen würde, dass wir vergessen, woher diese Überzeugung stammt. Ähnliches gilt für unsere Wünsche. Stellen Sie sich vor, dieser Herrscher droht uns nun Folter an, falls wir bis morgen Mittag nicht den Wunsch haben, gefoltert zu werden. Falls es uns misslingt, diesen Wunsch zu haben, könnte erneut jemand sagen: »Du Idiot! Warum wolltest du nicht gefoltert werden?« Wir könnten ähnlich entgegnen, dass wir nicht in der Lage waren, so einen Wunsch willentlich zu bilden. Auch hier müssten wir ein indirektes Verfahren anwenden, bspw. Hypnose. Kehren wir nun zu meiner Behauptung vom Anfang zurück. Ich habe dort gesagt, dass (A) die eigentliche Unterscheidung darin besteht, zwischen willentlichen Handlungen, mit denen wir auf praktische Gründe rea­ gieren, und den nicht-willentlichen Überzeugungsbildungen (als Reaktion auf epistemische Gründe) zu differenzieren. In Ernsts Diskussion von (A) argumentiert er dafür, dass wir den Terminus »willentliche Handlungen« durch das Wort »Absichten« ersetzen sollten. Ernst schreibt: (D) Sollte Parfit andererseits darauf hinauswollen, dass es die Art und Weise ist, wie wir Absichten im Unterschied zu Überzeugungen erwerben, die für den Unterschied zwischen praktischer und epistemischer Rationalität entscheidend ist, müsste er das genauer erklären, als er es tut. Auf den ersten Blick gibt es hier nämlich vor allem Ähnlichkeiten: Das Fassen einer Absicht ist, ebenso wenig wie die Ausbildung einer Überzeugung, eine Handlung. (S. 227) Ich stimme zu, dass es keinen tiefgehenden Unterschied hinsichtlich dessen gibt, wie wir Absichten und Überzeugungen bilden. Stellen wir uns vor, unser Despot würde drohen, dass wir gefoltert werden, falls wir nicht bis morgen Mittag beabsichtigen, unsere Nase abzuschneiden. Scheiterten wir daran, diese Absicht zu fassen, könnte wiederum jemand sagen: »Du Idiot! Warum hast du nicht beabsichtigt, deine Nase abzuschneiden?« Und erneut könnten wir entgegnen, dass es kein willentlicher Akt ist, so eine Absicht zu fassen. Wir können nichts beabsichtigen, von dem wir wissen, dass 356  |  Derek Parfit 

wir es später gar nicht tun wollen. Diese Punkte verdeutlichen, warum ich in (A) auf willentliche Handlungen Bezug genommen habe und nicht auf das Fassen von Absichten. Zu Recht behauptet Ernst, dass die Bildung vieler Absichten genauso nicht-willentlich wie die Bildung von Überzeugungen ist. Sicherlich würde aber auch Ernst nicht behaupten, willentliche Handlungen seien ebenso nicht-willentlich wie die Formung von Überzeugungen. Deswegen beziehen sich meine Thesen nicht auf die Bildung von Absichten, sondern auf willentliche Handlungen. Meiner Unterscheidung zwischen Absichten und Handlungen fügt Ernst eine Anmerkung hinzu: Von ›Absichten‹ spreche ich hier in einem weiten Sinn. Gemeint ist die mentale Einstellung, welche einer (versuchten) Handlung korrespondiert. (S. 226, Fn. 5) Ernsts »mentale Einstellung« könnte als der mentale Anteil einer willentlichen Handlung beschrieben werden. Obwohl einige unserer willentlichen Handlungen rein mental sind und lediglich physische Veränderungen in unserem Gehirn beinhalten, beinhalten die meisten solcher Handlungen ebenfalls Veränderungen in anderen Teilen unseres Körpers. Nur in einigen wenigen Ausnahmefällen führen die mentalen Anteile einer willentlichen Handlung nicht zu den intendierten physischen Veränderungen. Beispielsweise im Falle einer Person, die versucht, ihren Arm zu heben, dabei allerdings feststellen muss, dass der Arm gelähmt ist. Manchmal wird dieser mentale Teil einer willentlichen Handlung Volition genannt. Ernst benutzt den Ausdruck »Intention« in einem weiten Sinne, der nicht nur herkömmliche Absichten umfasst, sondern auch Voli­tio­ nen. Dennoch stützt diese weite Verwendung meines Erachtens nicht den Einwand gegen meine These (A), den Ernst mit (D) erhebt. Obschon die Bildung der meisten unserer Absichten keine willentliche Handlung ist und sich in dieser Hinsicht nicht von der Bildung von Überzeugungen unterscheidet, sind hingegen die Volitionen – welche die mentalen Anteile dieser Absichtsbildungen sind – vollständig willentlich. In dem seltenen Ausnahmefall, den ich gerade beschrieben habe, versucht jemand, absichtlich seinen Arm zu heben. Daher kann mein (A) folgendermaßen umformuliert werden: Erwiderungen  |  357

(A2) Die tiefgehende Unterscheidung liegt darin, dass wir auf der einen Seite willentliche Volitionen und Handlungen haben können, mit denen wir auf praktische Gründe reagieren, und auf der anderen Seite mit nicht-willentlich gebildeten Glaubensannahmen konfrontiert sind, mit denen wir auf epistemische Gründe reagieren. Dass, wie Ernst bemerkt, die Bildung der meisten unserer Absichten genauso nicht-willentlich ist wie die Formung der meisten unserer Überzeugungen, ist allerdings kein Einwand gegen (A2). Da Ernst nichts Weiteres zu meiner Unterscheidung auf Grundlage von (A) sagt, können wir uns nun seiner eigenen Position zuwenden. Ernst unterscheidet zwischen R-Rationalität, welche Reaktionen auf Gründe beinhaltet, und K-Rationalität, die vornehmlich in der Konformität mit rationalen Anforderungen besteht. Unser Hauptstreitpunkt kann recht einfach beschrieben werden. Ich glaube, dass (E) epistemische und praktische Rationalität beide sowohl R-Ratio­ nalität als auch K-Rationalität beinhalten. Ernst hingegen glaubt, dass (F) obwohl praktische Rationalität sowohl R-Rationalität als auch K-Rationalität beinhaltet, epistemische Rationalität lediglich K-Rationalität enthält. Diese Behauptungen Ernsts implizieren, dass (G) epistemische Rationalität niemals eine Reaktion auf epistemische Gründe beinhaltet. Bei seiner Erklärung von (G) schreibt Ernst: Ich bezeichne Rationalität im Sinn des Vermeidens von Widersprüchen (was auch Rationalität im Sinne des Erfüllens von Enkrasia umfasst sowie die Fälle von Rationalität als das korrekte Reagieren auf P-Überzeugungen, die Broome akzeptiert) im 358  |  Derek Parfit 

Folgenden als K-Rationalität; und ich bezeichne Rationalität im Sinne des korrekten Reagierens auf (scheinbare) Gründe, wo es nicht um das Vermeiden von Widersprüchen geht, als R-Rationalität. (S. 234) Den Begriff »Widerspruch« benutzt Ernst ebenfalls in einem weiten Sinne, sodass er verschiedene Arten von Inkonsistenzen umfasst. Ernsts Definition von epistemischer R-Rationalität ignoriert jedoch Fälle, in denen wir beides versuchen: einerseits korrekt auf (scheinbare) epistemische Gründe zu reagieren und andererseits dabei auch einen Widerspruch oder eine andere Art von Inkonsistenz zu vermeiden. Es gibt, so meine ich, eine ganze Reihe solcher Fälle. Beispielsweise habe ich in meiner Replik auf Hoesch/Sticker sinngemäß behauptet: Falls wir wissen, dass ein Argument gültig ist und wahre Prämissen hat, sodass dessen Konklusion wahr sein muss, geben uns diese Tatsachen maßgebliche epistemische Gründe, diese Konklusion zu glauben. Vor dem Hintergrund meines Ansatzes könnten wir auf diesen ausschlaggebenden Grund rational reagieren, indem wir diese Konklusion einfach glauben. Ernsts Definition zufolge allerdings würde unsere Reaktion keine R-Rationalität involvieren, da von uns, seiner Meinung nach, nicht rational gefordert ist, auf diesen Grund zu reagieren und somit eben diese Schlussfolgerung zu ziehen. Ich stimme ihm insofern zu, als ich glaube, dass von uns nicht immer rational gefordert ist, auf solche maßgeblichen epistemischen Gründe zu reagieren. Gleichwohl können wir dennoch in dieser Hinsicht aufgefordert sein, wenn wir uns fragen, ob uns nicht bestimmte Tatsachen solche Gründe liefern. Es wäre zwar widersprüchlich, sowohl zu glauben, dass die Konklusion eines Arguments wahr sein muss, als auch, dass diese Konklusion falsch sein könnte. Allerdings zeigt das nicht, dass wir nicht auch auf diesen maßgeblichen Grund reagieren können. Und falls wir auf solche maßgeblichen Gründe reagieren, brauchen wir nicht auf die rationale Forderung des Vermeidens von Widersprüchen zu reagieren. Werden wir uns der Tatsachen bewusst, die uns entscheidende epis­ temische Gründe geben, eine bestimmte Überzeugung zu haben, Erwiderungen  |  359

ist dies genug für eine entsprechende Überzeugungsbildung. Es ist irreführend, R-Rationalität derart zu definieren, dass sie keine solchen Reaktionen auf derartige Gründe umfasst. Ernst unterbreitet den Vorschlag, dass wir, um rational zu sein, auf praktische Gründe, nicht aber auf epistemische Gründe reagieren müssen. Wir müssen nicht auf epistemische Gründe reagieren, solange wir uns nicht fragen, ob bestimmte Tatsachen uns Gründe liefern. Aber wenn wir uns solcher Tatsachen bewusst sind, die uns entscheidende Gründe liefern, um bestimmte Überzeugungen zu haben, und wir uns zusätzlich fragen, ob diese Überzeugung wahr ist, dann sind wir – so meine ich – rational verpflichtet, auf die Gründe zu reagieren. Außerdem müssen wir nicht auf alle praktischen Gründe reagieren. In manchen Fällen beinhalten Reaktionen auf epistemische Gründe nämlich gar nicht die Vermeidung von Widersprüchen. Falls wir wissen, dass P wahr ist und Q impliziert, geben uns diese Tatsachen entscheidende Gründe, Q zu glauben. Fragen wir uns, ob Q wahr ist, und misslingt es uns, Q auch wirklich zu glauben, dann ist es das Scheitern unserer Reaktion auf die epistemischen Gründe, das uns nicht vollständig rational sein lässt. Ernst kann hier nicht behaupten, Grund dafür, dass wir nicht vollständig rational sind, sei, dass wir daran gescheitert seien, widersprüchliche Überzeugungen zu vermeiden. Falls es uns misslingt, Q zu glauben, dann haben wir keine widersprüchlichen Überzeugungen. Wenn wir Q nicht glauben, dann heißt das noch nicht, dass wir glauben, Q sei falsch. Ernst könnte entgegnen, dass sich unser Zweifeln an der Wahrheit von Q in diesem Beispiel dem Haben widersprüchlicher Überzeugungen stark annähert, aber eine solche Behauptung trifft auf viele andere Beispiele ebenfalls nicht zu. So etwa auf den folgenden Fall: Ich möchte meine Gesundheit bewahren und bin davon überzeugt, dass Rauchen die beste Möglichkeit dazu bietet. Ich bin dieser irrationalen Überzeugung, weil mein Nachbar geraucht hat, bis er 100 Jahre alt geworden ist. Und diese Tatsache überwiegt in meinen Augen jegliche anderen Belege dafür, dass Rauchen tödlich ist. An anderer Stelle habe ich außerdem folgenden Fall beschrieben: 360  |  Derek Parfit 

Stellen Sie sich vor, dass ich, obwohl ich weiß, dass meine Siegchance in einer Lotterie bei eins zu einer Milliarde liegt, davon ausgehe, dass diese Tatsache mir keinen Grund gibt, an meinem Sieg zu zweifeln. Und obgleich mir klar ist, dass niemand anderes einen unbewaffneten Kampf mit zehn hungrigen Löwen gewinnen könnte, gibt mir diese Tatsache keinen Grund, meine Überzeugung fallen zu lassen, dass ich so einen Kampf dennoch überleben würde. […] Durch das Festhalten an solchen Meinungen […] würde ich daran scheitern, auf offensichtliche und starke maßgebliche Gründe zu reagieren. Dies reicht aus, um solche Überzeugungen als irrational einzustufen.49 Wenn ich weiß, dass meine Siegchance bei einer Lotterie eins zu einer Milliarde ist, ich aber glaube, dass ich trotzdem gewinnen werde, dann habe ich keine widersprüchlichen Überzeugungen. Die Überzeugung, dass ich gewinnen werde, ist nicht gleichzusetzen mit der Überzeugung, dass es wahrscheinlich ist, dass ich gewinnen werde. Da meine Gewinnchance jedoch so verschwindend gering ist, kann ich aber rationalerweise nicht den festen Glauben haben, dass ich wirklich gewinne. Es gibt eine Vielzahl solcher Fälle, in denen wir nicht vollständig rational sind, weil wir daran scheitern, auf eindeutige Gründe zu reagieren, obwohl wir keine inkonsistenten Überzeugungen haben. In seinen eigenen Diskussionen solcher Fälle behauptet Ernst hingegen, es sei möglich, nicht auf epistemische Gründe zu reagieren, ohne deshalb irrational zu sein. Diese Behauptung ist wahr, da einige epistemische Gründe nicht offensichtlich oder maßgeblich sind. Überdies sind wir rational nicht dazu gezwungen, alle Schlussfolgerungen zu ziehen, die wir ziehen könnten. Dennoch zeigt die Tatsache, dass es solche Fälle gibt, noch nicht, dass es niemals irrational oder zumindest nicht vollständig rational ist, wenn wir nicht auf eindeutige und maßgebliche epistemische Gründe reagieren. Würde Ernst eingestehen, dass epistemische Rationalität die Reaktion auf epistemische Gründe doch umfassen kann, könnte er die schwächere These vertreten, dass epistemische Rationalität oftmals 49 OWM

I, 122 (Übers.: Lars Kiesling). Ich verteidige diese Aussagen über Rationalität in OWM I, Kap. 5 und in Appendix A. Meine Thesen über Gründe bespreche ich in OWM I, Kap. 1 – 4. Erwiderungen  |  361

die Vermeidung von Widersprüchen in unserem Überzeugungssystem beinhaltet. In diesem Fall wären Ernst und ich einer Meinung. Ferner vertrete ich die Auffassung, dass »die Rationalität unserer Überzeugungen entweder auf ihrem Ursprung oder ihrer Konsistenz im Zusammenhang mit unseren übrigen Überzeugungen beruht – oder auf diesen beiden Faktoren«.50 Ernst schließt jedoch: Während praktische Rationalität sowohl in R-Rationalität als auch in K-Rationalität in Bezug auf unsere Absichten besteht, geht es bei epistemischer Rationalität allein um K-Rationalität in Bezug auf unsere Überzeugungen. Das ist der grundlegende Unterschied zwischen praktischer und epistemischer Rationalität. (S. 242 f.) Diese These ist aber, wie ich bereits dargelegt habe, nicht gerechtfertigt. Der entscheidende Unterschied, so glaube ich, liegt zwischen unseren willentlichen Reaktionen auf Handlungsgründe und unseren nicht-willentlichen Reaktionen auf epistemische Gründe. Diese Unterscheidung wird durch meine imaginierten Personen, Adam und Jack, illustriert. Adam ist praktisch rational, indem er bei dem Versuch, wahre Überzeugungen zu bilden, nach neuen Evidenzen sucht, Beweise prüft und versucht, Widersprüche zu vermeiden. Adam ist jedoch epistemisch irrational, wenn er nicht in der Lage ist, auf Tatsachen zu reagieren, die ihm entscheidende und eindeutige epistemische Gründe geben, bestimmte Überzeugungen zu akzeptieren, und dabei daran scheitert, viele offensichtliche Widersprüche zwischen seinen Überzeugungen zu bemerken. Jack bemüht sich nicht darum, sich wahre Meinungen anzueignen, und sucht weder nach Hinweisen noch prüft er Beweise. Dennoch ist Jack epistemisch überaus rational, da er in jedem Fall auf nicht-willentliche Weise auf sein Bewusstsein über epistemische Gründe rea­ giert und dabei niemals widersprüchliche Überzeugungen formt. Obwohl ich einige von Ernsts Behauptungen in Zweifel gezogen habe, schließe ich mich vielen anderen an, bspw. seinen originellen und plausiblen Thesen über rationale Anforderungen und seinen Auffassungen über die Position John Broomes. Übersetzt von Lars Kiesling 50 OWM

I, 128 (Übers.: Lars Kiesling).

362  |  Derek Parfit 

6  Gleichheit und Vorrangigkeit

▷ Erwiderung auf Annette Dufner Telischen Egalitaristen zufolge ist es intrinsisch schlecht, wenn manche Personen schlechter gestellt sind als andere, sofern sich ihr Wohlbefinden ohne ihr Zutun – weder durch eigene Entscheidungen noch durch Eigenverschulden – auf diesem schlechteren Niveau befindet. Diese Überzeugung impliziert, dass es intrinsisch gut wäre, wenn diese Ungleichheit verschwinden würde, indem den besser gestellten Menschen irgendein Unglück widerfahren würde, das dafür sorgt, dass sie genauso schlecht gestellt wären wie alle anderen. Dieses Resultat (outcome) wäre in den Augen extremer Egalitaristen alles in allem betrachtet besser. Moderate Egalitaristen hingegen lehnen diese Folgerung ab. Obwohl das Resultat der Angleichung durch die Schlechterstellung der Bessergestellten auf eine Weise besser wäre, wäre es ihnen zufolge alles in allem betrachtet nicht besser, da der Wert der Aufhebung der Ungleichheit durch den Unwert der Schädigung der Bessergestellten und der daraus resultierenden Schlechterstellung dieser Personen überwogen würde. Diese Egalitaristen müssen jedoch eingestehen, dass dieses Resultat ihrer Position zufolge auf eine Weise besser wäre, obwohl das Resultat für einige Personen schlecht und für niemanden besser wäre. Man könnte sogar hinzufügen, dass solchen egalitaristischen Positionen zufolge dieses Resultat immer noch auf eine Weise besser wäre, selbst wenn alle Personen auf einer niedrigeren Stufe des Wohlergehens schlechter gestellt werden würden, sodass das Resultat für jeden schlechter wäre. Viele finden solche egalitaristischen Auffassungen unglaubhaft. Ich habe dies als den »Einwand der Angleichung nach unten« (Levelling Down Objection) bezeichnet. Einer anderen Auffassung nach, die ich als telischen Prioritarismus (Telic Priority View) bezeichnet habe, ist Ungleichheit nicht intrinsisch schlecht, allerdings erzeugt die Besserstellung von Personen mehr Gutes, je schlechter sie gestellt sind. Als ich diese Position besprochen habe, die bereits zuvor unter anderen Namen vertreten worden ist (z. B. von Larry Temkin, Joseph Raz und anderen), war mein Ziel aufzuzeigen, wie es möglich ist, viele telisch egalitaristiErwiderungen  |  363

sche Auffassungen über die relative Güte verschiedener Resultate zu akzeptieren, ohne dabei dem Einwand der Angleichung nach unten anheimzufallen. Bei der Verteidigung des Prioritarismus habe ich allerdings den telischen Egalitarismus nicht vollends zurückgewiesen. Obwohl der Einwand der Angleichung nach unten schwer wiegt, ist er nicht entscheidend. Außerdem habe ich behauptet, dass einige plausible moralische Überzeugungen am besten egalitaristisch zu verteidigen sind.51 In ihrem hervorragenden Beitrag diskutiert Annette Dufner bestimmte Argumente gegen den Prioritarismus, die von Michael Otsuka and Alex Voorhoeve vorgebracht worden sind. Zunächst werde ich erörtern, welche dieser Einwände meines Erachtens die besten sind.52 Nehmen wir Folgendes an: Fall 1: Wir könnten entweder dem schlecht gestellten Ted einen bestimmten Vorteil (benefit) zukommen lassen oder dem bereits besser gestellten Tom einen erheblich größeren Vorteil gewähren. Utilitaristen würden nun behaupten, dass wir das Resultat verbessern würden, wenn wir Tom den größeren Vorteil zukommen ließen, da es in jedem Fall besser wäre, die Gesamtsumme des Nutzens zu maximieren, wobei es – moralisch gesehen – keinen Unterschied machen würde, wie der Nutzen verteilt ist. Bei der Betrachtung von Fall 1 müssten Egalitaristen und Prioritaristen nicht nur wissen, wie groß der Vorteil ist, den wir Ted und Tom zukommen lassen könnten, sondern auch, wie schlecht gestellt Ted und wie gut gestellt Tom ist. Beiden Positionen zufolge würden wir das Resultat auf eine Weise verbessern, wenn wir Ted, der schlechter gestellt ist, den kleineren Vorteil zukommen lassen würden. Das Resultat wäre den Egalitaristen zufolge besser, da der kleinere Vorteil für Ted die Ungleichheit zwischen Ted und Tom reduzieren würde. Prioritaristen hingegen würden dies damit begründen, dass Vorteile für Ted mehr Gutes tun würden, weil Ted schlecht gestellt ist. 51 Diese

Thesen werden von mir in Parfit 1995 verteidigt. dieser Argumente werden ausführlicher von mir in Parfit 2012

52 Einige

diskutiert.

364  |  Derek Parfit 

Obwohl es das Resultat auf eine Weise besser machen würde, wenn wir Ted den kleineren Vorteil gewähren würden, wäre dieses Resultat aber in anderer Hinsicht schlechter, da wir Tom nicht den größeren Vorteil zukommen lassen würden. Um zu entscheiden, welches Resultat alles in allem betrachtet besser wäre, müssen wir die Stärke der konfligierenden Gründe vergleichen. Wir müssen uns fragen, ob unsere egalitaristischen oder prioritaristischen Gründe dafür, Ted den kleineren Vorteil zukommen zu lassen, unsere utilitaristischen Gründe, Tom den größeren Vorteil zukommen zu lassen, überwiegen oder ob sie von diesen selbst überwogen werden. Verschiedene Versionen dieser Grundpositionen beurteilen die Stärke dieser Gründe auf unterschiedliche Weise. Wie diese Bemerkungen bereits suggerieren, könnten manche Egalitaristen und Prioritaristen immer zu demselben Schluss darüber gelangen, welche Resultate alles in allem betrachtet besser oder schlechter wären. Ihre Überzeugungen würden sich lediglich darin unterscheiden, welche Tatsachen diese Resultate besser oder schlechter machen. In ihrem Angriff auf den Prioritarismus beziehen sich Otsuka und Voorhoeve auf einen Fall, in dem unsere möglichen Handlungen nur eine einzige Person betreffen würden; nennen wir sie Dick. Dieser Fall beinhaltet einen Faktor der Unsicherheit, da Dick ein bisher nicht vollständig diagnostiziertes Leiden hat, wobei er mit derselben Wahrscheinlichkeit entweder schlecht oder gut gestellt sein wird. Nun stellen wir uns also vor, dass wir in Fall 2 entweder A tun könnten, was Dick einen Vorteil zukommen lassen würde, falls er am Ende schlecht gestellt sein sollte, oder B, was ihm einen größeren Vorteil zuteilwerden ließe, falls er letzten Endes gut gestellt sein sollte. Dem Prioritarismus zufolge entspräche dieser Fall dem ersten Fall. In Fall 1 würden wir das Resultat verbessern, indem wir den kleineren von zwei Vorteilen Ted zukommen ließen, da Ted wesentlich schlechter gestellt ist als Tom. Auf ähnliche Weise könnten wir in Fall 2 das Resultat erwartbar verbessern, indem wir Dick von den zwei zu erwartenden Vorteilen den kleineren zukommen ließen, weil ihm dieser Vorteil zugutekommen würde, falls er letztlich (nach der vollständigen Diagnose) wesentlich schlechter gestellt Erwiderungen  |  365

sein sollte. In beiden Fällen könnte der kleinere Vorteil mehr Gutes hervorbringen, weil er jemandem zuteilwerden würde, der schlechter gestellt ist. In den Augen von Otsuka und Voorhoeve sind diese prioritaristischen Überzeugungen fehlgeleitet. Da in Fall 2 nur eine einzige Person involviert ist, können wir nicht ernsthaft glauben, dass wir das Resultat erwartbar verbessern würden, indem wir täten, was für diese einzelne Person doch erwartbar schlechter wäre. Wir würden diese Person in diesem Fall auf eine Weise behandeln, die sie ratio­ nalerweise ablehnen würde. Wir können dies den Ein-PersonenEinwand mit erwartbarem Nutzen nennen.53 Bei der Bewertung dieses Einwandes müssen wir zunächst anmerken, dass wir hier nicht darüber sprechen, was man in diesen Fällen tun sollte. Da unsere Handlungen sich in Fall 2 beide jeweils nur auf eine einzige Person auswirken würden, könnten wir annehmen, dass wir Dick auf die von ihm bevorzugte Weise behandeln sollten. Denn dies wäre wohl die beste Möglichkeit, Dicks Autonomie zu respektieren. Manchen Auffassungen nach sollen wir Personen nämlich so behandeln, wie sie es bevorzugen, behandelt zu werden, selbst wenn das, was sie präferieren, schlechter für sie wäre. Wenden Prioritaristen nun ihre Position auf Fälle wie Fall 2 an, dann stellen sie laut Otsuka unplausible Behauptungen darüber auf, was wir diesen Menschen schuldig sind und welche Handlungen gerechtfertigt wären. Telische Prioritaristen treffen solche Aussagen allerdings gar nicht. Genau wie telische Egalitaristen machen auch sie nur Aussagen, die sich mit der relativen Güte verschiedener Resultate beschäftigen. Sind wir keine Handlungskonsequentialisten, dann ist es uns durchaus möglich zu glauben, dass wir oft das tun sollten, was das Resultat besser macht; allerdings auch, dass dies nicht immer erforderlich ist. Denn falls Dick rational bevorzugt, dass wir B tun, weil diese Handlung ihm erwartbar ein für ihn besseres Resultat einbringen würde, dann ist dies möglicherweise das, was wir tun sollten. Obwohl wir keine Handlungskonsequentialisten sind, sollten wir versuchen, wahre Überzeugungen über die relative Fall 2 könnte Dick rational bevorzugen, dass wir ihm den größeren der zwei erwartbaren Vorteile zukommen lassen. In diesem Falle könnten wir nicht ernsthaft annehmen, es sei erwartbar besser, diejenige Dick betreffende Handlung auszuführen, gegen die Dick sich rational entschieden hat. 53 In

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Güte verschiedener Resultate zu generieren, da uns dies oft dazu verhelfen würde, wahre Überzeugungen darüber zu bilden, was wir tun sollten. Kommen wir als nächstes zu Otsukas und Voorhoeves Behauptung zurück, dass Fall 2 einen Einwand gegen den Prioritarismus liefert. Dieser Einwand besagt, dass wir nicht die Auffassung vertreten können, dass wir das Resultat einer Handlung erwartbar besser machen, wenn wir das tun, was erwartbar schlechter für diese Person wäre. Otsuka und Voorhoeve stimmen zu, dass wir in Fall 1 das Resultat verbessern könnten, wenn wir dem schlecht gestellten Ted einen kleineren Vorteil zukommen ließen, anstatt dem gut gestellten Tom einen größeren Vorteil zukommen zu lassen. Diese Handlung könnte das Resultat verbessern, weil es die Ungleichheit zwischen Ted und Tom vermindern würde. Dies gilt ihrer Meinung nach allerdings nicht für Fall 2. Da dieser Fall nur eine Person betrifft, haben wir keine egalitaristischen Gründe, dieser Person den kleineren von zwei erwartbaren Vorteilen zukommen zu lassen. Indem sie diesen Unterschied zwischen den beiden Fällen ignorieren, ignorieren Prioritaristen, so Otsuksa, fälschlicherweise die Separatheit von Personen. Dieses originelle und plausible Argument, so glaube ich, schlägt allerdings fehl. Zwar ist es wahr, dass wir in Fall 2 zwischen Handlungen wählen, die jeweils nur eine einzige Person betreffen würden. Allerdings diskutieren wir jetzt konfligierende Ansichten über die relative Güte verschiedener Resultate. Die Güte solcher Resultate kann nicht davon abhängig sein, wie viele Personen von unseren potentiellen Handlungen betroffen wären. Sind wir Egalitaristen, die es als intrinsisch schlecht empfinden, wenn einige Personen schlechter gestellt sind als andere, dann müssen wir entscheiden, welche die Gruppen sind, auf die diese Auffassung Anwendung findet. Nennen wir sie die moralisch relevanten Gruppen. Diese Frage mag in manchen Fällen schwer zu beantworten sein. Wir könnten beispielsweise unsicher darüber sein, ob Ungleichheit an sich schlecht ist, wenn die schlechter und besser gestellten Menschen jeweils in unterschiedlichen Gemeinschaften leben oder wenn sie in derselben Gesellschaft leben, aber zu verschiedenen Zeitpunkten. Wir könnten uns beispielsweise auch unsicher darüber sein, ob es intrinsisch schlecht ist, dass die meisErwiderungen  |  367

ten Personen in Subsahara-Afrika schlechter gestellt sind als die meisten Personen, die anderswo leben, oder darüber, ob es an sich schlecht wäre, wenn wir einen schlechteren Lebensstandard hätten als die Generationen, die nach uns leben werden. Aber kein Egalitarist glaubt, dass es, damit Ungleichheit zwischen verschiedenen Personen intrinsisch schlecht ist, nötig sei, dass es sich bei diesen Personen um Menschen handelt, die von unseren gegenwärtigen Handlungen betroffen sein können. Diese Position würde sonst letztlich der Auffassung entsprechen, es sei für die Behauptung, dass es an sich schlecht ist, wenn manche Menschen leiden, nötig sei, dass unsere Handlungen Auswirkungen auf das Leid dieser Menschen haben können. In Fall 2 ist Dick zwar die einzige Person, die durch unsere Handlungen betroffen sein kann, dennoch ist er nicht die einzige existierende Person. Egalitaristen müssen sich deshalb bezüglich Fall 2 fragen, inwiefern unsere Handlungen die Ungleichheit zwischen Dick und anderen Mitgliedern der von uns für moralisch rele­vant gehaltenen Gruppe beeinflussen. In Fall 2 können wir annehmen, dass gilt: Wenn Dick am Ende schlecht dastehen wird, dann wäre er schlechter gestellt als die meisten Personen in dieser relevanten Gruppe; wenn Dick aber am Ende gut dastehen wird, wäre er besser gestellt als die meisten Personen eben jener Gruppe. Auf der Grundlage einer telisch egalitaristischen Bewertung dürfen wir annehmen, dass wir das Resultat erwartbar verbessern würden, wenn wir Dick diejenige Behandlung zukommen ließen, die ihm einen kleineren Vorteil für den Fall einbringen wird, dass er letztlich schlecht dastehen sollte. Die Tatsache, dass es sich dabei lediglich um den kleineren von zwei möglichen Vorteilen handelt, kann dabei von dem Umstand überwogen werden, dass die Ungleichheit zwischen Dick und den anderen Menschen aus der relevanten Gruppe verringert werden würde. Wenn wir ihm stattdessen den größeren Vorteil für den Fall, dass er letztlich doch gut dasteht, zukommen lassen, würde die Tatsache, dass dieser Vorteil größer wäre, auf ähnliche Weise von dem schlechten Umstand überwogen werden, dass dadurch eine größere Ungleichheit zwischen Dick und den anderen Menschen verursacht werden würde. Ebenso wie Prioritaristen können also auch Egalitaristen der Auffassung sein, dass wir das erwartbare Resultat verbessern wür368  |  Derek Parfit 

den, wenn wir Dick den kleineren erwartbaren Vorteil zuteilwerden ließen. Ähnliches gilt auch für andere, noch kompliziertere Fälle, in denen unsere Handlungen die Ungleichheit zwischen Dick und anderen Personen beeinflussen könnten.54 Otsuka und Voorhoeve sind sich solcher Einwände gegen ihre Thesen über Fälle des Typs 2, in denen unsere möglichen Handlungen nur eine einzelne Person betreffen würden, bewusst. Dennoch seien diese Thesen gerechtfertigt, zumindest sofern dieses Individuum die einzige Person ist, die man begünstigen kann, und man ihr Schicksal isoliert von jeglicher Betrachtung darüber beurteilt, wie schlecht oder gut gestellt andere Menschen sind (man selbst eingeschlossen).55 Ich glaube, dass diese Verteidigungsstrategie zum Scheitern verurteilt ist. Da Egalitaristen davon überzeugt sind, dass jede Ungleichheit zwischen den Mitgliedern einer relevanten moralischen Gruppe intrinsisch schlecht ist, wäre es vollkommen fehlgeleitet, sie zu der Bewertung eines Falles zu nötigen, bei der sie gezwungen wären, das Schicksal eines Individuums zu beurteilen, ohne berücksichtigen zu dürfen, ob diese Person innerhalb der relevanten Gemeinschaft besser oder schlechter gestellt ist. Dies wäre, als würden wir die wenig hilfreiche Frage stellen, wie Egalitaristen diesen Fall bewerten müssten, wenn sie ihre egalitaristischen Überzeugungen ignorieren würden. Vor diesem Hintergrund könnten sich Prioritaristen also sehr wohl gegen die Angriffe Otsukas und Voorhoeves verteidigen. Sie können nämlich darauf hinweisen, dass – falls Otsuka und Voorhoeve ihre eigenen egalitaristischen Überzeugungen auf den Fall 2 anwenden würden – ihre Überzeugungen letztlich ebenso nahelegen würden, dass wir das erwartbare Resultat verbesgilt auch für den Fall, dass Dick auf Grundlage beider Prog­ nosen entweder besser oder schlechter gestellt wäre als die meisten anderen Menschen – obwohl das wesentlich komplizierter ist. In beiden dieser Fälle könnten Prioritaristen und telische Egalitaristen sich einig werden, dass die Zuweisung des kleineren erwartbaren Vorteils an Dick das Resultat auf eine Weise verbessern würde, selbst wenn dies erwartbar schlechter für Dick wäre. Denn so könnte entweder die Ungleichheit vermindert bzw. weniger dazu beigetragen werden, diese Ungleichheit noch zu vergrößern; oder es könnte jemand profitieren, der schlechter gestellt ist. 55 Otsuka 2009, 173 f. (Übers.: Lars Kiesling) 54 Ähnliches

Erwiderungen  |  369

sern könnten, wenn wir das tun, was erwartbar schlechter für Dick wäre. Fall 2 stellt somit keine Grundlage für einen egalitaristischen Einwand gegen den Prioritarismus dar. Als Reaktion auf derartige Einwände haben Otsuka und Voorhoeve ihr Argument später modifiziert. Sie behaupten, dass dieses Argument jedenfalls dann Schlagkraft hatte, wenn man es auf eine imaginierte Welt anwendet, in der nur eine Person existiert. Da hier keinerlei Ungleichheit zwischen verschiedenen Personen bestehen kann, würde nur die prioritaristische Position die unplausible Konsequenz hervorbringen, dass eines von zwei Resultaten erwartbar besser wäre, obwohl dieses Resultat erwartbar schlechter für diese eine Person sein würde. Eine derartige Einschränkung dieses Arguments gegen den Prioritarismus würde es in meinen Augen extrem abschwächen. Es wäre auf keinen tatsächlichen Fall anwendbar. Dieser Umstand wäre unerheblich, wenn das Argument zeigen würde, dass der Prioritarismus bei der Betrachtung eines imaginierten Szenarios tiefgehende inhärente Irrtümer offenbaren würde – das tut es aber nicht. Würden wir verschiedene Stadien einer imaginierten Welt, in der nur eine Person existiert, vergleichen, könnten wir immer noch gerechtfertigt annehmen, dass, falls dieser Person ein Nutzen zuteilwird, dieser Nutzen das Resultat in einem umso größeren Ausmaß verbessern würde, je schlechter es dieser Person ergehen würde. Eine mögliche Verteidigung dieser Ansicht wäre die folgende. Angenommen, diese Einzelperson – nennen wir sie Solo – sei das einzige Mitglied der moralisch relevanten Gemeinschaft, auf die egalitaristische Prinzipien angewendet werden sollen. Ferner kann angenommen werden, dass es in dieser Welt neben Solo, der einzigen Person, noch viele primitive, aber leidensfähige Tiere gibt. Auf dieser Grundlage können wir nun verschiedene Zustände dieser imaginierten Welt vergleichen. Angenommen, in Fall 3 würde es entweder zutreffen, dass (1) dem schlecht gestellten Solo ein großer Nutzen zuteilwerden würde oder (2) das Ausmaß des Leids dieser primitiven Lebewesen reduziert werden würde. In einem weiteren Fall, in 370  |  Derek Parfit 

Fall 4, trifft zu, dass entweder (1) dieser große Nutzen Solo zukommen würde, dem es bereits gut ergeht, oder (2) das Leid der Lebewesen um das gleiche Ausmaß reduziert werden würde. Es liegt nahe anzunehmen, dass der Vorteil für Solo in Fall 3, in dem es Solo schlecht ergeht, die Verminderung des Leids der anderen primitiven Lebewesen moralisch überwiegen könnte. Falls aber dieser immense Vorteil Solo in Fall 4 zufallen würde, in dem er bereits gut gestellt ist, könnte man ebenso plausibel annehmen, dass diese Zuteilung des Nutzens an Solo weniger dazu beitragen würde, das Resultat zu verbessern, und daher durch die Güte der Leidverminderung der anderen Lebewesen moralisch überwogen werden würde. Diese prioritaristischen Annahmen über die moralische Güte der Resultate sind in meinen Augen recht überzeugend. Auf der Grundlage dieser Position würden Vorteile für Solo umso mehr zur Verbesserung des Resultats beitragen, je schlechter gestellt Solo ist. Selbst wenn man diesen imaginierten Extremfall in Betracht zieht, ist Otsukas und Voorhoeves Argument gegen den Prioritarismus meines Erachtens nicht erfolgreich. All diese Thesen – so sollte man erneut betonen – beziehen sich letztlich immer auf die relative Güte verschiedener Resultate. Zwar mögen Otsuka und Voorhoeve richtig liegen, in Fall 2 zu fordern, dass wir Dick den größeren erwartbaren Nutzen zukommen lassen sollten, da Dick rationalerweise vorziehen könnte, dass wir dies tun. Allerdings impliziert dies nicht, dass wir durch diese Maßnahme das Resultat erwartbar verbessern würden. Als Prioritaristen oder Egalitaristen ist es uns erlaubt zu glauben, dass wir Dicks Autonomie respektieren sollten, indem wir ihn so behandeln, wie er es sich wünscht, selbst wenn wir denken, dass wir dadurch das Resultat erwartbar verschlechtern würden. Daher schließe ich, dass Fall 2 keine Grundlage für einen starken Einwand liefert – weder gegen den Prioritarismus noch gegen den telischen Egalitarismus. Nun können wir uns Dufners Thesen über Otsukas und Voorhoeves Einwände gegen den Prioritarismus und über die moralischen Unterschiede zwischen Fall 1 und Fall 2 zuwenden. Prioritaristen gewähren der Bevorzugung von schlechter gestellten Menschen nur eine gewisse Priorität. Dufner weist darauf hin, dass wir daher in manchen Versionen von Fall 2 sehr wohl geneigt Erwiderungen  |  371

wären, Dick den größeren Nutzen zukommen zu lassen, den er erhalten würde, wenn es ihm letztendlich besser erginge. Angenommen aber, wir handeln auf diese Weise und Dick hat Pech, sodass er am Ende schlecht gestellt ist und wir ihm daher keinen Vorteil mehr haben zukommen lassen. In diesem Fall erläutert Dufner nun, dass wir uns bei einer Beschwerde Dicks darüber, was wir getan haben, damit rechtfertigen können, dass wir ihm den größeren zweier erwartbarer Nutzen haben zukommen lassen und dass dies ausreichend wäre, um unsere Handlung zu rechtfertigen. Dieser Fall wäre vergleichbar mit einem Szenario, in dem ein Arzt einen Patienten mit einer Methode behandelt, die mit größter Wahrscheinlichkeit den Patienten rettet, diese Behandlung allerdings fehlschlägt und ein weitaus riskanterer Eingriff den Patienten hingegen tatsächlich gerettet hätte. Die Handlung des Arztes wäre dennoch gerechtfertigt und in einem evidenz-relativen Sinne auch richtig. Nach diesem Muster können Prioritaristen auch in Fall 1 meinen, dass wir dem besser gestellten Tom den größeren Vorteil zukommen lassen sollten, anstatt den kleineren Vorteil an den schlecht gestellten Ted gehen zu lassen. In diesem Falle könnte Ted sich beschweren, wir hätten ihm den Vorteil zukommen lassen sollen. Dufner legt nun dar, dass wir hier nicht behaupten könnten, wir hätten Ted zumindest einen erwartbaren Nutzen zukommen lassen. Unsere Handlung ist mit absoluter Sicherheit schlechter für Ted gewesen. Im Vergleich zu Fall 2 liefert Fall 1 deshalb, so Dufner, einen stärkeren Einwand gegen den Prioritarismus. Diese Tatsache werde von Otsuka und Voorhoeve übersehen. Beide erkennen nicht, dass ihre Einwände gegen den Prioritarismus nicht in den Fällen stärker sind, in denen nur eine Person entweder gut oder schlecht gestellt ist, sondern in Fällen, in denen wir den größeren von zwei Vorteilen einer von zwei Personen zukommen lassen können, die mit Sicherheit besser gestellt ist. Solche Fälle nennt Dufner »Mehr-PersonenFälle mit Gewissheit«. Ihrer Meinung nach bleiben solche Fälle »ein allgemeines Problem für den Prioritarismus […].« (S. 254) Genau wie Otsukas und Voorhoeves Argument ist auch Dufners Argument scharfsinnig. Aber auch ihr Argument, so glaube ich, schlägt fehl. Dufner behauptet zu Recht, dass Prioritaristen zugestehen müssen, dass man ihrer Position zufolge Tom den größeren Nutzen zukommen lassen sollte, obwohl dieser bereits viel besser 372  |  Derek Parfit 

gestellt ist als Ted. Und sollte Ted sich beschweren, könnten sie nicht wahrheitsgemäß behaupten, sie hätten ihm wenigstens eine Chance auf das Erhalten eines Vorteils gegeben. Allerdings behauptet Dufner nun weiter, dass wir auf der Grundlage prioritaristischer Gründe handeln würden, wenn wir Tom den größeren Nutzen zuteilen. Diese Aussage ist aber irreführend. Der prioritaristische Anteil unserer Position stützt nämlich die Entscheidung, Ted den kleineren Nutzen zukommen zu lassen, da wir schließlich glauben, dass Vorteile moralisch besser sind, wenn sie denjenigen zukommen, denen es schlechter geht als anderen. Falls wir dennoch glauben, dass wir dessen ungeachtet Tom den größeren Vorteil zukommen lassen sollten, obwohl Tom bereits gut gestellt ist, dann glauben wir dies, weil wir davon überzeugt sind, dass unser prioritaristischer Grund, Ted zu bevorzugen, von unserem utilitaristischen Grund, Tom profitieren zu lassen, überwogen wird. Der Vorteil für Tom wäre immens genug, um zu glauben, die Größe des Vorteils könne die Tatsache überwiegen, dass Vorteile für Tom, der besser gestellt ist, weniger dazu beitragen, das Resultat zu verbessern. Bevorzugen wir also Tom, so hat Ted vielleicht Grund zur Beschwerde; da wir ihn aber nicht aus prioritaristischen Gründen benachteiligen, bietet dieser Fall keinen Einwand gegen den Prioritarismus. In anderen Teilen ihres Beitrags beschäftigt sich Dufner mit Otsukas Vorwurf, »der Prioritarismus ignoriere die intrinsische Schlechtigkeit von Ungleichheit« (S. 254). Für sich genommen ist dieser Angriff nicht schlagkräftig. Man kann den Prioritarismus nicht plausibel auf der Grundlage ablehnen, dass er keine Version des telischen Egalitarismus ist. Aber wenn wir den Prioritarismus verteidigen, weisen wir den telischen Egalitarismus möglicherweise nicht zurück. Unser Ziel ist vielleicht lediglich zu zeigen, wie wir viele Auffassungen verteidigen können, die auch Egalitaristen akzeptieren – jedoch auf eine Weise, die nicht dem Einwand der Angleichung nach unten ausgesetzt ist. Es mag andere plausible Überzeugungen geben, die ihrerseits nur auf Grundlage eines Egalitarismus verteidigt werden können. Derartige Überzeugungen bespricht Dufner. Sie präsentiert, was sie selbst eine modifizierte Version des Prioritarismus nennt; besser noch sollte man diese Position eine Mischposition nennen, die egalitaristische und prioritaristische Auffassungen miteinander komErwiderungen  |  373

biniert. In manchen Fällen können wir dieser Position zufolge eine Lotterie benutzen, anstatt Personen auf eine Weise zu helfen, die das meiste Gute hervorbringen würde. Dadurch würden wir anderen Personen zumindest eine gewisse Chance geben, von diesen Vorteilen zu profitieren. Diesen Vorschlag diskutiert Dufner in meinen Augen auf scharfsinnige und plausible Weise. Übersetzt von Lars Kiesling

7  Metaphysischer Non-Naturalismus

▷ Erwiderung auf Sebastian Muders und Markus Rüther In ihrem bemerkenswert reichhaltigen Beitrag machen Sebastian Muders und Markus Rüther einige scharfsinnige und interessante Anmerkungen zu meinen metaethischen Überzeugungen. Die Erwiderungen auf diese Einwände, die ich in Reaktion darauf hatte anbringen wollen, wären an dieser Stelle jedoch unpassend. Muders und Rüther argumentieren dafür, dass ich eine Position annehmen solle, die sie als eine robuste Version des nicht-reduktiven normativen Realismus bezeichnen. Mir fällt es schwer, eine gute Antwort auf ihre Überlegungen zu finden, weil ich keine klare Vorstellung davon habe, was eine robuste Form dieser Position genau sein soll. Mein erster Entwurf einer Erwiderung auf ihre Argumente bestand größtenteils aus Versuchen, meine eigene Position zusammenfassend darzustellen. Da ich diesen Versuch bereits im bald erscheinenden dritten Band meines Buches On What Matters unternommen habe, scheint mir das Einfügen einer Übersetzung des Abschnitts 38 aus dem dritten Band von On What Matters geeigneter zu sein (OWM III, 55–64). Dort schreibe ich: Mithilfe einiger Fragen können wir grob einige Ansichten unterscheiden, die metaethischer Natur sind – in dem Sinne, dass sie sich mit der Wahrheit und der Bedeutung moralischer und anderer normativer Aussagen befassen. Die Relationen zwischen diesen Ansichten lassen sich folgendermaßen veranschaulichen:

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Beabsichtigen die meisten Menschen mit ihren normativen Behauptungen Wahrheiten auszudrücken?



Ja Nein

Begrifflicher Kognitivismus (Conceptual Cognitivism)

Non-Kognitivismus (Non-Cognitivism)


Gibt es normative Wahrheiten?

Ja Substantieller Kognitivismus (Substantive Cognitivism)

Nein Nihilismus oder Irrtumstheorien (Nihilism, or Error Theories)


Sind diese Wahrheiten irreduzibel normativ?

Ja

Nein

Haben diese Wahrheiten gewichtige­ (weighty) onto­logische Implikationen?

Ja Metaphysischer Non-Naturalismus (Metaphysical Non-Naturalism)

Nein Nicht-realistischer Kognitivismus (Non-Realist ­Cognitivism)

Sind die Begriffe und Aussagen, mit denen wir solche Wahrheiten ausdrücken, irreduzibel normativ?

Ja

Nein

Nicht-analytischer Natura­lismus (Non-Analytical Naturalism)

Analytischer Naturalismus (Analytical ­Naturalism)

Erwiderungen  |  375

Da die meisten von uns glauben, dass manche normativen Aussagen wahr sind, sollten die Non-Kognitivisten ihre Position revidieren, indem sie begriffliche Kognitivisten werden. Sollten sie dennoch an der Meinung festhalten wollen, es gäbe keine normativen Wahrheiten, sollten sie zusätzlich Nihilisten oder Irrtumstheoretiker werden. Genau das hat A. J. Ayer ohne viel zu zögern getan, nachdem er zuvor eine Reinform des Non-Kognitivismus verteidigt hatte. Als Ayer nämlich John Mackies Entwurf einer moralischen Irrtums­ theo­rie zur Kenntnis genommen hatte, war sein erster Kommentar: »Genau das hätte ich sagen sollen!«. Von den Kognitivisten, die glauben, es gäbe einige normative Wahrheiten, sind manche Anhänger des normativen Naturalismus (Normative Naturalism). Diese Leute sind davon überzeugt, dass normative Wahrheiten Wahrheiten über die natürliche Welt ähneln, da auch sie empirisch entdeckt werden können, und zwar in dem Sinne, dass teilweise beobachtbaren Dinge oder Ereignisse uns Anhaltspunkte für oder gegen unsere Überzeugungen in diese Wahrheiten liefern. Dem analytischen Naturalismus (Analytical Naturalism) zufolge können alle normativen Begriffe und Behauptungen hingegen auf nicht-normative Weise definiert oder reformuliert werden. Bezüglich mancher normativer Begriffe und Aussagen ist diese Sichtweise recht plausibel. Wenn einige beispielsweise davon sprechen, dass eine Handlung rational sein würde, könnten sie damit lediglich zum Ausdruck bringen, dass diese Handlung den Zielen des Akteurs entspricht. Das wäre keine normative Behauptung. Auch einige evalua­ tive Behauptungen könnten in nicht-normativer, naturalistischer Form formuliert werden. Wenn man etwa behauptet, dass etwas gut schmeckt, oder dass eine Medizin die beste Medizin ist, meint man damit vielleicht lediglich, dass man den Geschmack mag, oder dass diese Arznei die sicherste und effizienteste Medizin ist. Auch das sind keine normativen Behauptungen. In Bezug auf andere normative Begrifflichkeiten und Aussagen kann der analytische Naturalismus jedoch nicht plausibel gemacht werden. Wie bereits erwähnt, verwenden manche Leute den Begriff eines rein normativen Grundes (purely normative reason). Dieser Begriff kann nicht zweckdienlich über andere Wörter definiert werden. Wir können sagen, dass eine Tatsache einen Grund darstellt oder 376  |  Derek Parfit 

uns uns einen Grund liefert, wenn sie für einen Wunsch oder Überzeugung spricht, oder uns einen Handlungsgrund liefert. Aber dies ist lediglich eine andere Art zu sagen, diese Tatsache sei ein Grund, oder liefere uns einen Grund. Auch können die meisten moralischen Begriffe und Aussagen nicht auf nicht-normative Weise umdefiniert oder umformuliert werden. Obwohl es früher einige analytische moralische Naturalisten (Analytical Moral Naturalists) gab, gelten die Auffassungen dieser Leute heutzutage richtigerweise als zu unplausibel, um überhaupt diskussionswürdig zu sein. Heutzutage nimmt beispielsweise niemand mehr an, dass die meisten Menschen mit ihrer Behauptung, eine Handlung sei moralisch richtig, einfach meinen, dass diese Handlung Leid minimieren würde oder eine Handlung wäre, der die meisten Menschen zustimmen würden. Nicht-analytische Naturalisten (Non-Analytical Naturalists) glau­ ben, dass einige normative Begriffe und Aussagen in dem Sinne irreduzibel normativ seien, dass sie nicht auf nicht-normative Weise definiert oder umformuliert werden können. Aber diese Naturalisten glauben darüber hinaus, dass solche normativen Aussagen natürliche Tatsachen zum Ausdruck bringen, falls sie wahr sind. Dieser Auffassung nach meint die Phrase »moralisch richtig« zwar nicht »minimiert Leid« oder »würde von den meisten Menschen Zustimmung erfahren«; aber die Tatsache, dass eine Handlung moralisch richtig ist, könnte dieselbe Tatsache sein wie die, dass die Handlung Leiden vermindert oder von den meisten Menschen befürwortet werden würde. Folgt man den Non-Naturalisten (Non-Naturalists), wie ich es einer bin, dann können irreduzibel normative Aussagen nur irredu­ zibel normative Wahrheiten zum Ausdruck bringen. Dabei sollte man aber zumindest zwei Arten normativer Wahrheiten voneinander unterscheiden. Manche Wahrheiten sind in einem Norm-implizierenden oder Regel-implizierenden Sinne normativ. Beispiele dafür wären die Tatsachen, dass in manchen Gesellschaften bestimmte Handlungen illegal sind oder gegen eine weithin akzeptierte moralische Norm, einen Berufskodex, einen Ehrenkodex, die Etikette oder gar gegen linguistische Regeln verstoßen, die die korrekte Schreibweise oder adäquate Verwendung eines Wortes festlegen. Diese normativen Wahrheiten sind meiner Ansicht nach insofern natürliche Tatsachen, als sie im Rahmen eines naturalistischen Erwiderungen  |  377

Frameworks erklärt werden können. Wir können z. B. beschreiben, wie Menschen ein Rechtssystem erschaffen können und wie sie in diesem System Gesetze verabschieden, die bestimmte Handlungen verbieten. Wir können dann sagen: »Darin besteht die Illegalität dieser Handlungen.« Auf ähnliche Weise können wir beschreiben, wie Menschen es wahr machen können, dass es in einer Gesellschaft andere weitverbreitete Normen und Regeln der Etikette oder der korrekten Schreibweise eines Wortes gibt. Diese normativen Wahrheiten sind darüber hinaus auch in einem anderen, eng damit verbundenen Sinne natürliche Tatsachen, dass sie empirisch entdeckt werden können. Wir können in vielen Fällen ermitteln, ob in einer Gesellschaft bestimmte Handlungen gesetzeswidrig sind oder mit anderen weithin akzeptierten Normen oder Regeln konfligieren. Andere Wahrheiten sind, wie ich behauptet habe, in einem anderen Sinne normativ, und zwar in einem stärkeren, Gründe-implizierenden Sinne. Beispiele dafür sind Gründe-implizierende moralische Wahrheiten sowie Wahrheiten über nicht-moralische Gründe, die für eine bestimmte Überzeugung, Handlung oder einen bestimmten Wunsch sprechen. Diese Wahrheiten sind in den Augen von NonNaturalisten irreduzibel normativ. Sie können nicht auf naturalistischer Grundlage erklärt werden. Wir können nicht einfach eine naturalistische Beschreibung von bestimmten Handlungen, Ereignissen oder Sachlagen vorlegen und dann sagen: »Das heißt es für eine bestimmte Tatsache, dass sie uns einen entscheidenden Grund gibt« oder »Das also macht diese Handlung zu einer falschen Handlung«. Ebenso sind diese Wahrheiten auch keine natürlichen Tatsachen in dem Sinn, dass sie empirisch entdeckt werden können. Es kann keine empirischen Belege für oder gegen die Überzeugungen geben, dass wir Gründe dazu haben, zukünftigen Schmerz vermeiden zu wollen; oder dass es falsch ist, Menschen zu seinem eigenen Vergnügen zu foltern. Wie wir sehen werden, kommt es hier zu einer Komplikation. Denn manche irreduzibel normative Begriffe können auf natürliche Gegebenheiten referieren. Aussagen dagegen, die diese Begriffe beinhalten, können sich weder auf natürliche Tatsachen beziehen noch könnten diese Tatsachen durch andere irreduzibel normative Aussagen ausgedrückt werden. Wenn wir einen triftigen Grund haben, etwas zu tun, dann kann diese Tatsache nicht dasselbe sein 378  |  Derek Parfit 

wie eine kausale oder psychologische Tatsache (z. B. die Tatsache, dass diese Handlung die Erfüllung eines unserer Ziele ermöglichen würde). Und wenn bestimmte Handlungen richtig oder falsch sind, dann können diese Tatsachen auch nicht dasselbe sein wie bestimmte natürliche Tatsachen, wie beispielsweise die Tatsache, dass diese Handlungen Leid verringern oder vergrößern würden oder dass es sich um Handlungen handelt, die von den meisten Leuten gutgeheißen oder missbilligt werden würden. Als nächstes können wir grob zwischen verschiedenen Positio­ nen unterscheiden, die in ontologischer Hinsicht voneinander abweichen, und zwar in dem Sinne, dass sie voneinander abweichende Aussagen darüber treffen, was existiert oder real ist. Diese Positionen beziehen sich auf alle Arten von Wahrheiten – nicht nur auf normative Wahrheiten. Hier sind drei Beispiele für solche Auffassungen: Alethischer Realismus (Alethic Realism): Alle Behauptungen werden dadurch wahr gemacht, dass sie zutreffend beschreiben (oder mit dem korrespondieren), wie sich die Dinge in Teilen der Realität verhalten. Naturalismus bezüglich der Realität (Naturalism about Reality): Die natürliche, raumzeitliche Welt ist die gesamte Realität. Alethischer Naturalismus (Alethic Naturalism): Alle Wahrheiten sind Wahrheiten über natürliche Tatsachen. Viele Menschen sind alethische Naturalisten, weil sie einen alethischen Realismus vertreten und zugleich Naturalisten bezüglich der Realität sind. Andere alethische Realisten hingegen sind keine Anhänger des Naturalismus. Sie sind davon überzeugt, dass bestimmte Behauptungen dadurch wahr gemacht werden, dass sie korrekte Beschreibungen der Dinge sind, wie sie sich nicht in der natürlichen Welt, sondern in anderen Teilen der Realität verhalten. Hinsichtlich ihrer Überzeugungen über diese Wahrheiten sind sie Anhänger des metaphysischen Non-Naturalismus (Metaphysical Non-Naturalists). Andere lehnen den alethischen Realismus jedoch ab. Manche dieser Theoretiker habe ich früher als nicht-metaphysische NonNaturalisten (Non-Metaphysical Non-Naturalists) bezeichnet; hier möchte ich sie als nicht-realistische Kognitivisten (Non-Realist Cog­ Erwiderungen  |  379

nitivists) kennzeichnen. Man ist Kognitivist, aber kein Realist bezüglich einer bestimmten Art von Aussagen, falls man glaubt, solche Aussagen können zwar wahr sein, aber bestreitet, dass diese Behauptungen wahr werden, indem sie korrekt beschreiben, wie sich die Dinge in manchen Teilen der Realität verhalten, oder damit korrespondieren. Diese Uneinigkeit besteht beispielsweise im Falle arithmetischer Wahrheiten, z. B. bei der Wahrheit, dass es eine unendlich große Menge von Primzahlen gibt. In den Augen mancher metaphysischer Non-Naturalisten existieren Zahlen zwar nicht in der natürlichen Welt, jedoch in einem nicht-raumzeitlichen Teil der Realität, den manche eine platonische Realität nennen. Nicht-realistische Kognitivisten teilen diese Überzeugung nicht. Wahre Aussagen über Zahlen implizieren für sie nicht deren Existenz in einem ontologisch gehaltvollen Sinne, weder in der natürlichen Welt noch in einem anderen nicht-raum-zeitlichen Teil der Realität. Ähnliches gilt für logische und modale Wahrheiten. Exemplarische Fälle sind Wahrheiten über die Gültigkeit von Argumenten sowie die Wahrheit, dass zwei plus zwei vier ergibt, und nicht etwa drei oder fünf. Logische Gültigkeit ist keine natürliche, empirisch entdeckbare Eigenschaft, und wenn wir die Modalaussage treffen, dass zwei und zwei vier ergeben muss, beschreiben wir nicht bloß, wie sich die Dinge in der tatsächlichen Welt verhalten. Es gibt keine mögliche Welt, in der zwei und zwei nicht vier ergeben. Nicht-realistische Kognitivisten bestreiten, dass solche logischen und modalen Aussagen wahr gemacht werden, indem es einen Teil der Realität gibt, den sie korrekt beschreiben oder dem sie korrespondieren. Falls es hier überhaupt eine Abhängigkeit gäbe, dann würde sie in der entgegengesetzten Richtung gelten. Die Realität müsste diesen Wahrheiten korrespondieren. Nicht einmal ein allmächtiger Gott hätte es falsch sein lassen können, dass zwei und zwei vier ergibt. Ich habe dafür plädiert, dass wir eine Position dieser Art akzeptieren sollten.56 Aussagen John Skorupskis in seinem herausragenden Buch The Domain of Reasons (Skorupski 2010) überlappen teilweise mit dem hier dargestellten nicht-realistischen Kognitivismus. Jedoch ist Skorupskis Position zu originell, komplex und raffiniert, als dass ihr eine kurze Besprechung an dieser Stelle gerecht werden könnte. 56 Die

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Ähnliche Differenzierungen existieren bezüglich normativer Wahrheiten. Einige Norm implizierende Wahrheiten sind, so habe ich behauptet, natürliche Tatsachen. Wir können auf naturalistische Weise erklären, wie Menschen bestimmte Regeln und Normen schaffen können und dass Wahrheiten über diese Normen empirisch entdeckbare Tatsachen sind. Es gibt auch andere reaktions­ abhängige (response-dependent) normative Wahrheiten, die naturalistisch erklärt werden können und ebenfalls empirisch entdeckbare Tatsachen darstellen. Wenn manche Metaethiker glauben, dass alle normativen Wahrheiten von dieser Art sind, dann ist dies sicherlich dem Umstand geschuldet, dass sie Naturalisten bezüglich der Realität sind, die annehmen, dass die natürliche Welt die Gesamtheit der Realität darstellt. Andere Wahrheiten sind, wie ich behauptet habe, auf eine noch stärkere, Gründe implizierende Weise normativ. Wir können diese Wahrheiten weder naturalistisch erklären noch empirisch entdecken. In dieser Hinsicht entsprechen diese nicht-empirischen normativen Wahrheiten logischen, mathematischen und modalen Wahrheiten. Da es sich bei diesen Wahrheiten um diejenigen handelt, die im Weiteren genauer diskutiert werden, werde ich den Ausdruck – falls ich nichts Näheres zu dessen Verwendung anmerke – den Begriff »normativ« in diesem starken, Gründe implizierenden Sinne verwenden. Genau wie im Falle anderer nicht-empirischer Wahrheiten kön­ nen unsere Ansichten über diese Wahrheiten zwei Formen annehmen. Metaphysische Non-Naturalisten glauben, dass, wenn wir irreduzibel normative Aussagen treffen, diese Behauptungen die Existenz ontologisch gewichtiger, nicht-natürlicher Entitäten oder Eigenschaften implizieren. Naturalisten hingegen finden diese Auffassung mysteriös oder zumindest wenig plauisbel. Nicht-realistische Kognitivisten bestreiten, dass normative Aussagen derartige ontologische Implikationen haben. In ihren Augen werden normative Aussagen nicht dadurch wahr gemacht, dass sie damit korrespondieren, wie die Dinge in einem Teil der Realität wirklich sind, oder diesen Teil korrekt beschreiben. Eine Art dieser Position wird u. a. von Nagel, Scanlon und mir selbst verteidigt.57 57 Obwohl

Nagel sich selbst einen Realisten nennt, benutzt er diesen Erwiderungen  |  381

An dieser Stelle könnte kritisch bemerkt werden, dass ich bei der Unterscheidung dieser Positionen nicht bestimmt habe, was mit »ontologisch gewichtig« oder mit »einem Teil der Realität« gemeint ist. Dieser Umstand erklärt sich dadurch, dass ich diese Phrasen für Positionen verwendet habe, die ich selbst nicht akzeptiere, da ich der Meinung bin, dass ihre ontologischen Implikationen ob­ skur sind. Betrachten wir in der spatio-temporalen Welt konkrete Objekte, wie z. B. Sterne, Steine und Menschen, so können wir die klare und nützliche Behauptung aufstellen, dass diese Gegenstände in einem ontologisch gewichtigen Sinne existieren. Vor diesem Hintergrund können wir dann auch die Existenz von Geistern, Phlogiston oder cartesianischen Egos bestreiten. Wir können ebenso klare und hilfreiche Aussagen über die Eigenschaften (und deren Ursachen und Wirkungen) konkreter Gegenstände machen. Kausaleigenschaften sind also von ontologisch distinkter Art. Bei der Betrachtung anderer Arten von Entitäten und Eigenschaften können wir dagegen keine brauchbaren Aussagen treffen. Beispielsweise fragen sich Plato­nisten und Nominalisten in ihrer Betrachtung der Mathematik, ob Zahlen und andere abstrakte Entitäten in einem fundamentalen ontologischen Sinne existieren, obwohl diese Entitäten nicht in Zeit und Raum aufzufinden sind. Diese Frage aber, so meine ich, ist nicht klar genug, als dass es wert ist, sie zu diskutieren. Einige Ontologen behaupten in ihrer Auseinandersetzung mit solchen Fragen, dass das Wort »existieren« und die Phrase »es gibt« nur eine einzige, ernstzunehmende Bedeutung haben, die von Quine der »wörtliche und basale Sinn« genannt wird.58 Da wir wissen, so behaupten sie, was es heißt, dass es Sterne gibt, sollten wir auch in der Lage sein, die Frage zu verstehen, ob Zahlen in demselben Ausdruck in einem weiten Sinne. Er schreibt: »Normativer Realismus besagt, dass Propositionen darüber, was uns Handlungsgründe liefert, unabhängig davon wahr oder falsch sein können, wie uns die Dinge erscheinen, und dass wir darauf hoffen können, die Wahrheit zu finden, indem wir die Ebene der Erscheinungen überschreiten und sie kritischer Prüfung unterziehen. Auf Grundlage dieser Methodik ist es nicht das Ziel, einen neuen Aspekt der externen Welt zu entdecken, der Wert genannt wird, sondern einfach nur die Wahrheit darüber, was wir und andere tun oder wollen sollten.« (Nagel 2012, 139; Übers.: Lars Kiesling). 58 Quine (1969), 98–100. 382  |  Derek Parfit 

Sinne existieren. Diese Position, die man als Single Sense View bezeichnen kann, sollten wir verwerfen. Konkrete Objekte und d ­ eren kausale Eigenschaften existieren in einem aktualistischen Sinne (­actualist sense). Die Phrase »es gibt« kann von uns allerdings auch in einem possibilistischen Sinne (possibilist sense) verwendet werden. Wir können bspw. wahrheitsgemäß behaupten, dass es einen möglichen Palast gab, der von Christopher Wren entworfen worden, aber niemals erbaut worden ist, sodass er niemals wirklich existiert hat. Diese Aussage führt in keinen Widerspruch, da mit »es gab« nicht »es hat tatsächlich existiert« gemeint ist. In vielen anderen Fällen können wir ähnliche wahrheitsgemäße Behauptungen darüber aufstellen, dass es etwas anderes gibt, das hätte geschehen können, oder dass wir etwas anderes hätten tun können. Es gibt auch einen klar nicht-ontologischen Sinn, in dem es verschiedene Arten abstrakter Entitäten gibt. Beispielsweise gibt es unendlich viele Primzahlen. Wir können aber nicht sinngebend fragen, ob solche Abstrakta in einem anderen ontologisch gewichtigen Sinne existieren. Da ich bestreite, dass diese Frage überhaupt klar genug ist, um sie zu stellen, ist es nicht nötig, meinen Gebrauch der Phrase »ontologisch gewichtig« tiefergehend darzulegen. Auch die Ausdrücke »real« und »Realität« können wir in verschiedenen Bedeutungen verwenden. Bei meiner Erläuterung des nicht-realistischen Kognitivismus habe ich »Realität« in einem einigermaßen klaren, ontologisch gewichtigen Sinne benutzt. In dieser Bedeutung sind bloß mögliche Dinge, Handlungen oder Ereignisse genauso wenig Teil der Realität wie abstrakte Entitäten, wie z. B. gültige Argumente oder Primzahlen. Wir können allerdings den Ausdruck »Realität« in einem weiten Sinne verwenden, der nahelegt, dass alle Wahrheiten solche sind, die etwas über die Realität aussagen. Wenn wir »Realität« aber in diesem Sinne verwenden, würde die Phrase »über die Realität« dem Wort »wahr« nichts hinzufügen. Wir wären darauf festgelegt, zu behaupten, dass wahre Aussagen dadurch wahr gemacht werden, dass sie einen Teil der Realität korrekt beschreiben oder damit korrespondieren. Wir würden in einen Selbstwiderspruch geraten, wenn wir das Gegenteil behaupten würden. Vor dem Hintergrund dieser Verwendung des Wortes »Realität« könnten wir allerdings den nicht-realistischen Kognitivismus auf eine andere Weise erläutern. Wir könnten dann nämlich beErwiderungen  |  383

haupten, dass im Kontext dieser Position manche nicht-empirische Wahrheiten – z. B. logische, mathematische und modale Wahrheiten – keine problematischen ontologischen Fragen aufwerfen. Mathematiker müssten in diesem Fall nicht fürchten, dass ausnahmslos alle arithmetischen Behauptungen falsch sein könnten, weil Zahlen letztlich gar nicht existierten. Außerdem müssten wir nicht besorgt darüber sein, dass unsere nicht-empirischen normativen Überzeugungen allesamt falsch sein könnten, da es keine nicht-natürlichen Eigenschaften des Rechthabens oder des Falschliegens, des Gutoder Schlechtseins oder des normativen Grund-Seins gibt.59 Hier ist eine weitere Möglichkeit, diese Position zusammenzufassen. Alethische Realisten glauben, dass (A) alle wahren Behauptungen durch die Art und Weise wahr gemacht werden, wie sie die Dinge in einem Teil der Realität zutreffenderweise beschreiben oder ihnen entsprechen. Metaphysische Naturalisten glauben, dass (B) die natürliche Welt das Ganze der Realität ausmacht. Meines Erachtens ist die Kombination dieser Thesen nicht zu verteidigen. Wenn wir den Ausdruck »Realität« in einem ontologisch gewichtigen Sinne verwenden und (B) akzeptieren, sollten wir (A) ablehnen. Wir sollten also der Überzeugung sein, dass manche wahre Behauptungen nicht dadurch wahr gemacht werden, indem sie mit Dingen korrespondieren, die es entweder in der natürlichen Welt oder einem anderen Teil der Realität gibt. Beispiele dafür sind die oben aufgelisteten Arten nicht-empirischer Wahrheiten. Benutzen wir hingegen den Ausdruck »Realität« in einem weiten Sinn, der impliziert, dass alle Wahrheiten etwas über die Realität aussa59 Putnam

schreibt: »das neu aufgekeimte (und fortwährende) gute Ansehen der Ontologie […], das auf die Veröffentlichung W. V. O. Quines On What There Is Mitte des vergangenen Jahrhunderts folgte, hat für ausnahmslos jeden Teil der analytischen Philosophie desaströse Konsequenzen. […] Die Idee, dass ›existieren‹ eine einzigartige und genau festgelegte Bedeutung haben soll, sozusagen in Stein gemeißelt, ist fehlgeleitet. […] Zu fragen, ob Zahlen existieren, heißt, eine Frage zu stellen, deren Sinn Ontologen nicht bestimmen konnten. Zu äußern ›mit existieren meine ich existieren‹ und dabei mit dem Fuß aufzustampfen, reicht nicht aus.« (Putnam 2005, 2; Übers.: Lars Kiesling) Siehe auch Scanlon 2014. 384  |  Derek Parfit 

gen, sollten wir (B) ablehnen. Wir sollten dann annehmen, dass es nicht-empirische Wahrheiten gibt, die keine Wahrheiten über die natürliche Welt sind. Diese Wahrheiten, so können wir hinzufügen, werfen keine schwierigen ontologischen Fragen auf. Nicht-empirische Wahrheiten werfen meines Erachtens einige schwierige philosophische Fragen auf. Manche dieser Fragen sind epistemischer Natur, insofern sie von Fragen handeln, ob und wie wir unsere Überzeugungen über diese nicht-empirischen Wahrheiten rechtfertigen können. Auch können diese Wahrheiten wichtige metaphysische Fragen aufwerfen, etwa Fragen über Möglichkeit und Notwendigkeit. Diese Fragen sind aber nicht ontologischer Natur, da nicht gefragt wird, ob bestimmte Eigenschaften oder Entitäten in einem bestimmten Sinne real sind, also in einer Weise existieren, die von manchen Ontologen als einzigartig, tiefgehend und fundamental bezeichnet wird. Ich habe diese Thesen in den Kapiteln 31 und 33 sowie Appendix J meines zweiten Bandes von OWM verteidigt und hoffe, diese noch weitergehend andernorts verteidigen zu können. Übersetzt von Lars Kiesling

Erwiderungen  |  385

Siglenverzeichnis AA

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RL

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TL

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Bibliographie  |  395

Autorenverzeichnis Dieter Birnbacher ist emeritierter Professor für Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Annette Dufner ist Professorin für Ethik und Medizinethik am Institut für Wissenschaft und Ethik der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn. Gerhard Ernst ist Professor für Philosophie an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg. Johann Frick ist Assistant Professor am Institut für Philosophie und dem Center for Human Values der Princeton University. Tim Henning ist Professor für Praktische Philosophie und Geschichte der Philosophie an der Universität Stuttgart. Matthias Hoesch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster »Religion und Politik« und vertritt derzeit die Professur für Politische Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sebastian Muders ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Zürich.

Derek Parfit war Emeritus Senior Research Fellow am All Souls College der Oxford University und Gastprofessor an der Harvard University, der New York University und der Rutgers University. Thomas Pogge ist Leitner Professor of Philosophy and International Affairs an der Yale Universität und Professor of Political Philosophy an der University of Central Lancashire. Markus Rüther ist wissenschaft­ licher Mitarbeiter am Institut für Neurowissenschaft und Medizin (INM-8) des Forschungszentrums Jülich. Peter Schaber ist Professor für Angewandte Ethik an der Universität Zürich. Peter Stemmer ist Professor für Philosophie an der Universität Konstanz Martin Sticker ist Research Fellow am Trinity College Dublin. Ulla Wessels ist Professorin für Praktische Philosophie an der Universität des Saarlandes.