Wissenschaftslehre (1805) 9783787326099, 9783787305766

Angesichts der bekannten Problematik, daß Fichte die Wissenschaftslehre in mehr als zehn Fassungen vortrug, selbst jedoc

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Wissenschaftslehre (1805)
 9783787326099, 9783787305766

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Johann Gottlieb Fichte Wissenschaftslehre 1805

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JOHANN GOTTLIEB FICHTE

Wissenschaftslehre

1805 Aus dem Nachlaß herausgegeben von HANS GLIWITZKY mit einem Sachregister von ERICH). RUFF und einem Beitrag "Zu Fichtes Tätigkeit in Erlangen" von ERICH FUCHS

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 353

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. isbn 978-3-7873-0576-6 ISBN eBook: 978-3-7873-2609-9

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1984. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­ papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in www.meiner.de Germany.

INHALT

Einleitung. Von Hans Gliwitzky . . . . . . . . . . . . . . .

VII

I. 1. Die leitende Frage der Wissenschaftslehre nach Inhalt, Form und Einheit des Wissens . . . . . . . . VII 2. Die Frage nach dem Sinn der WL selbst . . . . . . VIII 3. Die besonderen WL konstituierenden Kriterien der Notwendigkeit und des Ausschlusses alles Faktischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . X 4. Die Frage nach dem Sinn als problematischer Sinn der Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVI 5. Die Paradoxie als Mittel der Objektivation von Evidenz in der WL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIX 6. Die Vollendung der WL durch ihre Selbstaufhebung............................... XXI 7. Das Problem der Vollendung der WL als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVII 8. Zur Beurteilung von Fichtes eigenem historischsystematischen Verständnis einer 'Vollendung' der WL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LII

9. 10. 11. 12. 13.

II. Zur Gliederung der WL 05 . . . . . . . . . . . . . . . . LXIV Das Manuskript der WL 05, seine Blattfolge, seine Vortragseinteilung und -datierung . , . . . . LXVI Vorläufige übersieht der WL-Darstellungen Fichtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXXI Literatur zur WL 05 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXXII Editionsprinzipien mit Abkürzungsverzeichnis und Leseschlüssel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXXIII

Zu FichtesTätigkeit in Erlangen. Von Erich Fuchs -mit einer Liste der Teilnehmer am WL-Vortrag- LXXVII

VI

Inhalt

J. G. Fichte

Die Wissenschaftslehre ( 1805) Faksimile der ersten Manuskriptseite . . . . . . . . . . . . .

2

1. Stunde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stunde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Stunde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [4. Stunde] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [5. Stunde] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Stunde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Stunde................. . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Stunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Stunde... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Stunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.Stunde ................................. [12. Stunde] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Stunde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Stunde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.Stunde ................................. 16. Stunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17. Stunde................................. 18. Stunde........................... . . . . . . 19. Stunde ................................. 20. Stunde ................................. 21. Stunde ................................. (22. Stunde) ................................ 23. Stunde ................................. 24. Stunde ................................. 25. Stunde ................................. 26. Stunde ................................. 27. Stunde ................................. 28. Stunde ................................. 30. Stunde .................................

5 10 15 21 25 31 37 43 47 54 59 65 70 76 81 85 90 94 101 107 113 115 120 124 129 134 139 144 149

Register ................................... 1. Personen ................................ 2. Zitierte Schriften ......................... 3. Sachen ................................. 4. Schemata ...............................

155 155 155 155 191

EINLEITUNG

I.

1. Die leitende Frage der Wissenschaftslehre nach Inhalt, Form und Einheit des Wissens Die hier erstmals veröffentlichte Darstellung der Wissenschaftslehre (WL)* J ohann Gottlieb Fichtesaus dem Jahre 1805 hat neben gewissen Erschwernissen (wie etwa der teilweise stenogrammartigen Kürze) in mancher Hinsicht Vorzüge vor früheren Fassungen, insbesondre auch vor der vielfach als Höhepunkt angesehenen zweiten Fassung der WL aus dem Jahre 1804. Während z.B. in dieser zuletzt erwähnten und bereits bekannten Darstellung 1 schon im Ansatz beansprucht wird, die Wahrheit darzustellen 2 - eine Behauptung, der heute nicht weniger als vor zweitausend Jahren weitgehend mit Skepsis begegnet wird -, stellt Fichte hier einfach die Fra-

* In Text und Anmerkungen benutzte Abkürzungen:

AA PhB Sch. SW WL

Akademie-Ausgabe (Kant bzw. Fichte) Philosophische Bibliothek, Meiner, Harnburg J.G. Fichte Briefwechsel, hrsgg. von Hans Schulz, 1. und 2. Band, Leipzig 1925 Johann Gottlieb Fichte's sämmtliche (I--VIII, Berlin 184546) und nachgelassene (IX-XI, Bonn 1834-35) Werke, hrsgg. von I.H. Fichte Wissenschaftslehre

Im Folgenden zitiert als WL 04 2 nach der Ausgabe der Philosophischen Bibliothek Nr. 284: "Johann Gottlieb Fichte Die Wissenschaftslehre Zweiter Vortrag im Jahre 1804 vom 16. April bis 8. Juni Gereinigte J:.assung herausgegeben von Reinhard Lau th und J oachim Widmann unter Mitarbeit von Peter Schneider" Harnburg 1975. 2 WL 04 2 S. 7. 1

VIII

Hans Gliwitzky

ge: 'Was ist das Wissen an sich?' 3 und läßt ausschließlich in ihrer Beantwortung die WL bestehen 4 • Mit dieser an das Wissen selbst gerichteten Frage zielt Fichte auf das Wissen "im Ganzen u. Einen, ohne alle zufällige Bestimmung" 5 ; er will also darstellen, was im Unterschiede zum Wissen aus Erfahrung, wie zu nicht bewährbaren bloßen Ansprüchen auf Wissen oder immer wandelbarer bloßer Meinung Wissen in vollkommener und endgültiger Klarheit ist. Wer sich diese Frage stellt, kann auch ohne Vorkenntnis anderer WL-Fassungen und der Entdeckungsgeschichte, die zur WL führte, Fichtes Argumentation kontrollierend nachvollziehen. Er kann dann an sich selbst, d.h. an seinem eigenen bisherigen Wissen prüfen, ob ihm alle Bestimmungen, Argumente und Begründungen schon bekannt waren, ob er etwas zu bestreiten, zu ergänzen oder ob er Teile anderen gegenüber unangemessen gewichtet findet. Aus dem so sei es schon vor der Aneignung dieser WL-Fassung oder erst anhand von ihr - durchkonstruierten Wissen wird er jedenfalls fernerhin alle anderweitigen Wissensansprüche beurteilen.

2. Die Frage nach dem Sinn der WL selbst Wer es am Studium der WL, wie Fichte bei deren Konzeption, erfahren hat, daß man nach jahrelanger Arbeit "sich wieder gerade da findet, wo man [schon vorher] war" 6 , der wird auf ein Mittel bedacht sein, sich gegen mögliche Verstrickungen in der Reflexion zu schützen. Ein solches Mittel wäre, sich die Frage nach dem Sinn der WL selbst ständig präsent zu halten. Es ist dies die Frage, wozu denn ein solches - wie sich beim Einlassen darauf sehr bald herausstellen wird- höchst kompliziertes Verfahren gut ist bzw. sein soll; und damit auch, ob dieses Verfahren in der von Fichte 3

4 5

6

WL 05 lr5,4. V gl. WL 05 2v6,1: "Frage beantwortet, u. die W.L. geschlossen." WL 05 lr5,4. WL 05 21 v0,3.

Einleitung

IX

gehandhabten Weise für die vollendete Antwort notwendig ist; kurz: die Frage nach dem letzten Sinn des sowohl inhaltlich als auch strukturell äußerst komplexen Prozesses bzw. Gebildes der sich differenzierenden WL. Wenn demnach hier die Frage nach dem Sinn der höchst komplexen Entfaltungen der WL sozusagen als gesonderte oder andere Frage gegenüber der von Fichte aufgeworfenen herausgestellt wird, so soll damit von vomherein deutlich gemacht werden, daß in einer bis zum Ende konsequenten Beantwortung der Frage 'was ist das Wissen an sich' auch die nach dem Sinn, der ja nicht außerhalb des Wissens stattfinden kann und folglich auch in eine erschöpfende Behandlung des Wissens gehört, ihre Antwort bzw. Lösung erhalten muß. Dabei soll hier noch unentschieden bleiben, ob Fichte in bestimmten WL-Partien trotzseiner anders gestellten Frage nicht auch implizit auf die durch die ausdrückliche Sinnfrage vorgenommene Verschärfung des Problems Antwort gibt. Wohl aber werden mit dieser Entgegensetzung von zwei Fragen das Verhältnis von Aufwand und Ergebnis in so manchen Ausführungen Fichtes und damit Schwankungen im Selbstverständnis der WL der Aufmerksamkeit empfohlen. Es braucht auch nicht verschwiegen zu werden, daß eine erneute Frage, was hier unter 'Sinn' gefaßt bzw. intendiert ist, in einer diskursiven Antwort zwangsläufig- wenn schon nicht in ein unendliches Hinterfragen- mindestens grundsätzlich in so etwas wie eine Wissenslehre führen muß. Und damit würde die hier als Hilfe zur Kontrolle der WL angebotene Sinnfrage möglicherweise selbst in die apostrophierte Komplikation der WL verstrickt werden. Eine Hilfe kann also diese Sinnfrage als Kriterium nur für den sein, dem es gelingt, sie en twed.er sozusagen naiv (d. i. 'wissenschaftlich' unreflektiert) aufrecht zu erhalten oder sie gleich radikal durch ihre Aufhebung zu beantworten (siehe 4. bis 6.), um dann am einen oder anderen Falle ( d. i. an der naiv aufrecht erhaltenen oder gleich zuendegeführten Frage) den Gang der WL überprüfend nachzuvollziehen und zu beurteilen.

X

Hans Gliwitzky

3. Die besonderen WL konstituierenden Kriterien der Notwendigkeit und des Ausschlusses alles Faktischen Neben den üblichen für eine exakte Formalwissenschaft geltenden Maximen bzw. Kriterien der gegenseitigen Unabhängigkeit, Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit ihrer Axiome - wovon die Unabhängigkeit in der 'Wissenschaft' Philosophie, der es gerade um 'absolute Einheit' des Wissens geht, nur eine vorläufige Bedeutung haben, die Widerspruchsfreiheit hier (wenn auch nicht in der WL selbst) als trivial vorausgesetzt werden kann und die Vollständigkeit noch zu einem besonderen Thema dieser Einleitung wird (vgl. 7 .) - sind für die WL noch die Kriterien der Notwendigkeit und des Ausschlusses alles Faktischen besonders zu markieren. Die WL geht nämlich darauf aus, alle im Wissen grundlegend und damit notwendig enthaltenen Voraussetzungen reflexiv einzuholen, d.h. diese sich nochmals ausdrücklich bewußt zu machen 7 • Als letzte Begründung für das Ausgehen auf Erschöpfung aller Wissensbedingungen macht Fichte - und damit wird praktisch die Sinngebung der WL in negativer Abgrenzung vollzogen, der die 'Darstellung der Wahrheit' als positive Bestimmung entspricht, -in verschiedenen Formulierungen immer wieder geltend: nichts für 'absolut' oder das 'Absolute' anzuerkennen, was bloß 'relativ' oder Ergebnis von Denkgesetzen ist 8 • Derselbe Grund wird auch ausgedrückt in der Forderung: sich mit keinem Faktum zu begnügen 9 • Denn jedes Faktum verweist (einschließlich des Faktums des V erweisens) durch die Frage nach seiner möglichen Rechtfertigung oder letztlich seinem Sinn über sich hinaus und erweist sich so selbst als noch relativ. Man könnte hier also versucht sein den Schluß zu ziehen, daß nur, wer in einem spezifisch philosophisch-wissenVgl. z.B. WL 05 6v0,2. Z.B. WL 05 6v0,1-2. 9 Vgl. WL 05 5r5,3 (siehe dazu auch die möglicherweise modifizierte "GrundMaxime der W.L." zu Beginn der 30. Stunde, 43rl. 7

8

Einleitung

XI

schaftliehen System sich selbst einholend die Totalität der Wissensbedingungen reflektiert, die Chance habe, nichts bloß Relatives für absolut zu halten. - Fichte hat diese hier als möglich erscheinende Konsequenz (daß nur der Philosoph die Verwechselung von Relativem und Absolutem vermeiden könne) meines Wissens nicht ausdrücklich behauptet, so daß man sie seiner klar intendierten Lehre nicht anlasten kann. Ob und inwiefern er sie durch sein tatsächliches Verfahren dennoch nahegelegt hat, wird erst zu beurteilen sein, wenn das Verhältnis von Inhalt, Struktur und Sinn der WL deutlicher hervortritt. Das Ausgehen aufWissensbedingungen, auf grundlegende Wissensbedingungen und auf die Totalität der grundlegenden Wissensbedingungen stellt für sich schon ein kompliziertes Problem dar. Versuchen wir seine Auflösung durch eine Klärung: Worauf wird denn mit der Frage nach dem Wissen an sich eigentlich ausgegangen, da doch der Fragen· de jedenfalls um sich in seiner Existenz schon wetß, bevor er diese bestimmte Frage stellt, und indem er sie stellt, auch die Bestimmtheit dieser Frage wenigstens in gewissen Grenzen im Unterschied zu anderen möglichen Bestimmun· gen oder Verhaltensweisen seiner Existenz ebenfalls schon weiß? Wissen also vollzieht sich immer schon. Und wenn das so ist, müssen natürlich auch die grundlegenden Bedingungen dieses Wissens schon vollständig erfüllt sein. Wonach wird denn dann also gefragt? So viel ist jedenfalls offensichtlich, daß der, der die Frage nach dem Wissen an sich erhebt, sich mit dem Wissen um seine tatsächliche Existenz nicht begnügt. Worauf also geht er aus? Von der (stillschweigend konstitutiven und auf eine bestimmte Antwort abzielenden) Investition, die in dieser Frage nach dem Wissen gemacht wird, hängt das Ergebnis der Antwort in ihrem Selbstverständnis entscheidend ab. Da mancherlei mit einer solchen Frage beabsichtigt sein kann, läßt sich dies auch nicht ohne Gefahr von Mißverständnissen von Anfang an und mit einem Worte bezeichnen. Mögliche fundamentale Ziele dieser auf Wissen gerichteten Frage müssen daher nach und nach durch Abgrenzungen sichtbar gemacht werden.

XII

Hans Gliwitzky

Zunächst und in dem einen Verständnis schließt Fichte mit der Frage 'was ist das Wissen' durch den Zusatz "im Ganzen u. Einen, ohne alle zufällige Bestinunung" 10 alles Empirische aus, also alles, was für das Wissen so sein kann oder auch anders, in dem Sinne, daß zu einem je bestimmten einzelnen Wissenjeweils auch sein Gegenteil bzw. ein anderes bestimmtes Wissen widerspruchsfrei vorstellbar ist; kurz: er schließt das Daseinszufällige oder Aposteriorische aus. Die Frage nach dem Wissen zielt dann nicht direkt auf die Mannigfaltigkeit des faktischen phänomenalen Wissens, sondern darauf, was Wissen noch unangesehen seiner je konkreten besonderen Inhalte zu Wissen macht. Anders ausgedrückt geht es darum, was es ermöglicht, verschiedene besondere Inhalte doch alle übereinstimmend als Wirsensinhalte oder kurz als Wissen zu behaupten. Daß wir für die Behauptung verschiedener besonderer Inhalte de facto im Leben ständig beanspruchen, sie zu wissen (ich weiß, wie spät es ist; ich weiß, daß vor mir ein Blatt Papier liegt; ich weiß, daß der Weg, den ein frei fallender Körper zurücklegt, 1/2 gt 2 entspricht; usw.), bedarf keines weiteren Kommentars. Insofern also überhaupt Verschiedenes als gewußt behauptet werden kann, muß Wissen eben so geartet sein, daß es Verschiedenes beinhalten kann, oder: es muß eine bestimmte allgemeine Struktur haben, die die Vereinzelung des Konkreten ermöglicht. Die Frage nach dem Wissen "im Ganzen u. Einen, ohne alle zufällige Bestimmung" kann sich demnach auf die allem besonderen Wissen zugrundeliegende Wissensstruktur richten. Soll es sich dabei nicht um speziell eingegrenzte Wissensstrukturen handeln, die nur für besondere Inhalte gelten, sondern um diejenige Struktur, die jedem Wissen überhaupt zugrundeliegt, so muß die Rekonstruktion ausgehen von 'Wissen vom Wissen', d.i. vom sich selbst wissenden Wissen oder existierenden Selbstbewußtsein und fortschreitend die grundsätzlich es selbst konstituierenden Be· dingungen entfalten. Das heißt aber dann, daß in einem Rückblick auf ein schon vollzogenes tatsächliches Wissen 10

WL 05 lr5,4.

Einleitung

XIII

das diesen Wissensvollzug Ermöglichende nochmals vollzogen oder bewußt gemacht wird um der Abgrenzung des Zufälligen vom Notwendigen willen, wobei der Blick gebunden ist an den faktischen Erstvollzug. Die Abgrenzung des bloß Daseinszufälligen vom Daseinskonstitutiven kann damit eines der möglichen Ziele der Frage nach dem Wissen an sich sein. Gelingt eine solche Abgrenzung, so ist zunächst die Idee der Struktur des (faktisch existierenden) Selbstbewußtseins in einer Rekonstruktion nochmals vor sich selbst gebracht, die - bei Vollständigkeit letzterer - sogar ihr eigenes Sich-rekonstruierenKönnen mitrepräsentieren muß. Immer aber setzt die Rekonstruktion die faktische Existenz des Selbstbewußtseins voraus und gründet so selbst in einem Faktum, d.i. in der Sich-selbst-Vorgegebenheitdes Bewußtseins. Faßt man jedoch in einem zweiten Verständnis die Maxime der WL "sich mit keinem Faktum zu begnügen" nun so radikal, daß man sich auch mit dem unhintergehbaren und insofern 'absoluten' Faktum der Sich-selbst-Vorgegebenheit des Bewußtseins nicht begnügen will, so kann sich dieses Kriterium sinnvollerweise gerade nicht mehr auf den oben entwickelten Strukturaspekt des Selbstbewußtseins beziehen. Vielmehr ist dann 'Geltung' im Sinne von Bewertung des Bewußtseins zu thematisieren, weil ein faktisches Datum ja tatsächlich zu keiner wertenden Begründung etwas beitragen kann. Das Selbstbewußtsein als sich selbst (existentiell in seinem 'daß') vorgegebenes müßte demnach in bezugauf ein so entworfenes -jetzt wertendes (und nicht mehr strukturelles) - Wissen noch suspendiert und unter dem nunmehr ausschließlich verbliebenen Aspekt einer essentiellen Selbstschöpfung ('was') betrachtet werden. Wohlgemerkt: nicht seiner eigenen, eben sich selbst unhintergehbaren faktischen Geltung nach; wohl aber der zunächst buchstäblichen Formalität des eigenen und nur durch sich selbst hervorgebrachten Kriteriums nach. Da nun auch dieser Aspekt offensichtlich eine der möglichen Betrachtungsweisen von Bewußtsein ausmacht, muß er in der grundlegenden Systematik von Wissen und folglich in einem vollständigen Rekonstruieren seiner selbst

XIV

Hans Gliwitzky

auch veranschlagt werden. Damit erweitert sich die bisher nur als indikative oder Ist-Struktur erschienene Wissensstruktur um die absolut eigenständige und gleich ursprüngliche (weil qualitativ nicht weiter reduzierbare) Dimension einer Wert- oder Sollens-Struktur. Die obige Behauptung, daß die Frage nach dem Wissen darauf ausgeht, was Wissen erst zu Wissen macht, ist selbst also noch von zunächst doppelter Bedeutung; sie führt unter dem Thema der Selbstvorgegebenheit wie auch unter dem komplementären der Selbsthervorbringung in ein Verhältnis wechselseitiger Verweisung: Zum ersten kann also die Frage, was Wissen erst zu Wissen macht, darauf zielen, die allen besonderen Wissensbehauptungen zugrunde liegende eine Wissensstruktur zu fassen. Rekonstruiert Bewußtsein sich unter diesem Aspekt, so muß es die eigene Faktizität oder Sich-selbst-Vorgegebenheit stets gegenbildlieh zum Regulativ eines Sich-selbst-Erzeugens erblicken und beide als seine Strukturmomente abbilden. -Will das sich rekonstruierende Bewußtsein noch verstehen, was es dabei selbst tut, so muß es diese Rekonstruktion der Struk· tur als eine freie Selbsterzeugung festhalten, die (als spezifisch rekonstruierende) für den Vollzug von Selbstbewußtsein nicht notwendig ist, da es sich ja unmittelbar bewußt ist, auf einer darunter liegenden Verhaltensebene auch etwas anderes als die Rekonstruktion seiner prinzipiellen Struktur vollziehen zu können. Es bringt sich also in dieser freien Selbsterzeugung als speziell philosophisches Bewußtsein hervor. An diesem, Bewußtsein erst zu konkreter Essenz bringenden Wahl- und Willensakt wird nun gerade exemplarisch die zweite Weise von Wissensgeltung deutlich: Die Frage, was Wissen noch vor aller essentiellen Besonderheit zu aktuierendem Wissen macht, kann nämlich auch ausgehen nicht auf die Struktur des Wissens, sondern auf die beständige Selbsterzeugung des Wissens, also zurückführen "in die Quelle, u. den Geburtsort aller Bestimmungen", "wo es durchaus noch gar keine besondre Bestimmung giebt" 11 • 11

WL05lvl,3.

Einleitung

XV

Unter diesem dynamischen Aspekt macht sich Wille bzw. Sollsein zum ausschließlichen Thema des sich reflektierenden Bewußtseins. Läßt sich dies -unter der (übrigens faktischen) Bedingung einer Spaltung, Verdoppelung oder Vervielfältigung von Wille 12 - systematisieren, so wird ein System aufeinander geschlüsselter Sollenssätze, für Fichte das System der Sittlichkeit bzw. Sittenlehre, nun einsichtig zum 'absoluten Wissen' der WL 13 • Allerdings bleibt ein Drittes: Die Frage, was Wissen erst zu Wissen macht, kann auch noch auf ein Wissen oder eine geistige Wirklichkeit zielen, worin alle noch einer Frage würdige Differenz aufgehoben ist, also auch aller mit sich in Differenz befindlicher Wille und damit zugleich das korrespondierende Soll, - eine Differenz, die ja Bedingung von Sittlichkeit und eines Systems derselben ist. In diesem Sinne sagt Fichte: "ist der letzte Zweck der, daß der Mensch zum e w i g e n L e b e n, zum Haben dieses Lebens und seiner Freude und Seligkeit, in sich selber und aus sich selber, komme" "und nur in der Erreichung [Hervorhebung von mir] dieses Zweckes erreicht [das Dasein] und stellt es dar seine eigentliche Bestimmung. Nur im Wissen, und zwar im absoluten, ist Werth, und alles Uebrige ohne Werth." 14 Vgl. WL 04 3 (Fichte·Nachlaß III,7) 10r/v: "Die absolute Einheit des Philosophen ist das Eine reine Ich. Muß erscheinen als erzeugt durch Freiheit aus einer gegebnen Totalität; offenbar der Iche. Das wirkliche Leben sezt daher nothwendig, als bedingt pp ein vorhandenes System von Personen, die insgesammt sich setzen als Ich." Vgl. auch WL 05 44r4. 13 Vgl. z.B. WL 01/2, Philosophische Bibliothek Band 302 S. 217: "Die tiefste Wurzel alles Wissens ist die unerreichbare Einheit des reinen Denkens, u. des beschriebnen Denkens der Wahrnehmung = dem Sittengesetze - als höchstem Stellvertreter aller Anschauung - denn sie erfaßt die Intelligenz, als absoluten Realgrund derselben. Dieses ist nun durchaus nicht dieses, oder jenes Wissen sondern es ist das absolute Wissen schlechthin als solches". Als weiteres Beispiel siehe "Die Thatsachen des Bewußtseins" von 1813, SW IX, S. 570: "Darin eben besteht der Erfolg dieser Klarheit [der Philosophie oder WL), daß dem Menschen das Licht aufgeht über die einzige Realität im Leben, den sittlichen Willen". 14 WL 04 2 S. 254 und 255. 12

XVI

Hans Gliwitzky

Wo aber alle noch einer Frage würdige Differenz im Wissen aufgehoben ist, muß auch jede weitere argumentierende Aussage über das Wissen enden. Faßt man dieses Enden aller weiter begründenden Aussagbarkeit als abschließende Einsicht- wie wir sie ja hier vollziehen- noch in einer Berechtigung beanspruchenden Aussage, so hat diese Aussage jedenfalls eine paradoxe Form: wir sagen argumentierend aus, daß argumentierend nicht ausgesagt werden kann. Die Kriterien der Notwendigkeit und des Ausschlusses alles Faktischen führen also nach allem Bisherigen unter Umständen zu Unverträglichkeiten miteinander. Denn die radikale Anwendung der Maxime, sich mit keinem Faktum zu begnügen, hebt sogar den auf sich als Faktum treffenden Reflex des Bewußtseins (als jedenfalls noch in Betracht zu ziehenden) auf, innerhalb dessen erst so etwas wie 'Notwendigkeit' gewußt werden kann. Die Qualität des Sich-selbstHervorbringens weist also einerseits strikte jede Qualität von Notwendigkeit ab und dennoch sind wir andererseits gerade dabei, das Verhältnis dieses Widerstreits mit dem Anspruch auf Einsehbarkeit, also doch mit gutem und die Einsicht nötigenden Grund, zu entwickeln, was zunächst auf eine Art 'höhere Notwendigkeit' 15 verweist.

4. Die Frage nach dem Sinn als problematischer Sinn der Frage Wenden wir nun diese eben entwickelte Reflexionsform der rest- und rückhaltlosen Selbstrechtfertigung (bezüglich Vgl. WL 05 3v6; hierzu siehe auch Fichtes Bemerkung, daß man "einen anderen Begriff der Nothwendigkeit, als den gewöhnlichen anzuschaffen" habe (WL 05 19rl,7) sowie WL 04 3 (Fichte-Nachlaß 111,7) 19v: "daß in der Form meines Verfahrens zweierlei Widersprechendes ist a.) daß ich wieder auf eine faktische Erscheinung mich berufe, hier wo ja durchaus alles intelligirt werden soll b.) ist ja oben die Nothwendigkeit dieser Reflexion aus dem Gegensatze des Seyns bewiesen worden, der hier wiederum die Erscheinung der Freiheit pp beides wird sich bald heben, u. bei dieser Gelegenheit sich zeigen, warum dieser s c h e i n b a r e W i d e r s p r u c h d u r c h a u s i n k e i nem philosophischen Systeme vermieden werden kann." (Sperrung von mir) 15

Einleitung

XVII

selbstvorgegebener wie selbsterzeugender und schließlich differenzentledigter Geltung) auf die Frage nach dem 'Sinn' von WL an, so ergibt sich eine eigentümliche Einsicht bzw. Problemlage: Die Abgrenzung des Daseinszufälligen vom Daseinskonstitutiven, die sich in der Rekonstruktion der Wissensstruktur ausdrückt, läßt sich zufolge ihrer eigenen Basisfaktizität, die zunächst nur besagt, daß Bewußtsein ist und keineswegs, daß es wert ist, Bewußtsein zu sein, nochmals befragen: nämlich auf ihren Sinn hin. Zur Behandlung dieses Problems sind wir aber unweigerlich gezwungen, uns der Bedeutung von Geltung im skizzierten zweiten, beständig sich neu erzeugenden Sinne zu bedienen, also jenes Geltungsaspekts mit der Leitfrage nach einem 'absoluten Wissen' um das 'Warum und Wozu' von Bewußtsein überhaupt - ein Fragehorizont, der aus der Struktur absoluter Sich-selbst-Vorgegebenheit weder hervorgeht noch in ihr abschließend aufgehen kann. Mit der Frage nach einem nicht weiter hinterfragbaren Sinn (angesichts dessen jeder Begründungszusammenhang evidentermaßen zuende gekommen ist, wohingegen das sich selbst befragende Bewußtsein aus sich selbst ein 'absolutes soll' beständig hervorzubringen hätte) ist jene Wissensqualität in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit gerückt, die wir dann fragloses oder sinnerfülltes Wis-sen zu nennen haben. Ohne Schwierigkeit läßt sich nun aber einsehen, daß mit dem Sinn fordernden Aufwerfen dieser Frage nach sinnerfülltem oder fraglosem Wissen (solange eine Antwort überhaupt noch begründet und damit befragbar sein soll) eine Frage sich erhebt bzw. durchhält, die das Eintreten bzw. Vollziehen dessen, worauf sie ausgeht, durch den nicht aufgegebenen Begründungsanspruch, also durch sich selbst verhindert. Diese Einsicht legt es nahe, von der Frage abzulassen. Tut man dies zunächst formal, indem man versucht, keine Frage mehr zu artikulieren, so ist damit noch nicht garantiert, daß sich nun auch schon tatsächlich sinnerfülltes Wissen ereignet oder einstellt. Bei genauerer Betrachtung dieses Verhaltens nämlich wird sichtbar, daß trotz einer ersten Einsicht in die Unvereinbarkeit von Frage und wirklich ge-

XVIII

Hans Gliwitzky

wordener Sinnerfüllung des Wissens das Fragen als geistige Realität noch keineswegs aufgehoben sein muß, sondern eben nur in negativer Konsequenz das Artikulieren von Fragen unterbleibt. Denn es ist implizit ja schon wieder ein zurecht befragbarer Anspruch, mit dem das (vorgebliche) Aufgeben der Frage sich gegen das wirkliche Eintreten sinnerfüllten Wissens absetzt. Im Bemerken dieses noch immer Nicht-aufgegebenHabens bzw. Nicht-aufgegeben-Seins der Begründungsdimension erfährt man sich selbst als den wiederholt Fragenden. Das Fragen muß also zwar aufgehoben sein, wenn sinnerfülltes Wissen stattfinden soll; es kann aber nur zufolge einer Einsicht endgültig aufgegeben werden, die von der Erfahrung einer wiederholten Frage her der unendlichen Wiederholbarkeit der Frage inne wird und darin die (paradoxe) 'Antwort' erhält, daß sie grundsätzlich ohne begründbare Antwort bleiben muß. Erlaubt also das sich selbst vorgegebene Wissen noch eine Frage über sich hinaus - wer diese Frage erst gar nicht stellt, etwa aus der Teileinsicht heraus, daß Wissen eben über seine eigenen Bedingungen nicht hinaus kann, der hat damit auch keine Not -, so läßt sich für das sich selbst erzeugende Wissen in Absicht seiner Selbstbegründung nur einsehen, daß die Frage nach sinnerfülltem Wissen (die auch von der die WL leitenden Frage nach dem Wissen an sich umfaßt sein muß) aufgehoben sein und sich also aufgeben muß, um sinnerfülltes Wissen werden zu können. Wann immer also eine Frage und damit natürlich auch die nach Sinn statt hat, ist sinnerfülltes Wissen (noch) nicht verwirklicht. Von daher verkehrt sich nun die Behauptung, daß sinnerfülltes Wissen dasjenige sei, was im Blick auf Erfahrungsund Prinzipienwissen noch darüber hinaus in Frage stehen kann, in ihr Gegenteil: Sinnerfülltes Wissen kann - von diesem Ergebnis des Durchschauens her - gerade nicht in Frage stehen. Nur ist dabei nicht zu vergessen, daß die Einsicht, daß sinnerfülltes WiSsen nicht in Frage stehen kann, zu ihrer einsichtigen Artikulierung eben dieser aktuierenden und somit erfahren werden müssenden Prozedur, die

Einleitung

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wir hier betrieben haben und die wesentliches Thema der WL ist, initial immer schon bedurfte. Mithin muß der Fragende bis zur Entlassung aus der Frage - als dann eben unmittelbar Wissen geworden - diese durch ihn geschaffene Situation einer primären Negation 16 fortwährend durch Negation dieser Negation zu überwinden suchen 17 • Auch dies wäre noch ein Schluß, der trotz des plausibel gemachten Endes aller Begründbarkeit, von einem sich selbst durchschauenden Wissen als WissensWissen mit gutem Grund vor sich zu bringen ist, - als weiterer einsichtiger Bestandteil einer sich selbst erschöpfenden WL. Das einsichtige Aufgeben der Frage (wovon hier immerhin argumentierend und damit implizit auch fragend noch gesprochen wird) ist also nur darzustellen mit und in einer (bewußt) paradoxen Umschreibung, d.h. im Wissen ihres nicht angemessen beschreiben Könnens und doch dadurch zugleich angemessenen Beschreibens.

5. Die Paradoxie als Mittel der Objektivation von Evidenz in der WL Paradoxe Beschreibungen finden sich in der WL überall dort, wo die das Wissen als sich selbst genügende Sinnerfüllung (in der hier vorliegenden WL-Fassung unter "göttlichem Existieren", "totalklarem Aufgehen im Lichte", "wahrhaft innerer .Wahrheit" und anderem mehr wiederzufinden) begründenden Momente und Strukturen bis hin zur umfassendsten Struktur oder Form selbst als unzureichend, aber darin zugleich als unvermeidlich aufgewiesen werden. So wird in paradoxer Formulierung z.B. vom 'Absoluten' gesagt, daß es selbst ein Relationsbegriff ist, der nur verVgl. AA 111, 2 S. 392: "der erste, der eine Frage über das Daseyn Gottes erhob, durchbrach die Gränzen, erschütterte die Menschheit in ihren tiefsten Grundpfeilern, und versetzte sie in einen Streit mit sich selbst, der noch nicht beigelegt ist". 17 Vgl. WL 12 (SWX) S.323: "Dann [Hs.: Nun] aber ist man auch die W.L., und hat sie zum ewigen, freien Besitz. (Freilich gelingt es nicht jedesmal; da muß man es wieder versuchen.)" 16

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ständlich ist im Gegensatz mit dem 'Nichtabsoluten' 18 und daß durch Beilegung der 'Absolutheit' sie gerade genommen wird 19 ; von der Form in ihrer Absolutheit: daß sie sich im Vernichten ihrer selbst setzt und sich vernichtet im absoluten Setzen 20 ; oder von der Objektivität: daß sie "Identität in der Nichtidentität u. Nichtidentität ·(in) der Identität, in absoluter, u. unabtrennbarer Vereinigung" 21 sei. Dies alles kann zwar mit durchgehender Evidenz letztlich nur behauptet werden durch das Wissen sinnerfüllten Wissens, welches seinem Inhalte nach gerade jeder Abgrenzung, Beschreibung, Qualifizierung usw. entzogen ist, weil es in einer solchen Beschreibung oder Qualifizierung immer schon als sinnerfülltes auch abgesetzt und erloschen ist. Dieses 'Wissen' bleibt jedoch für das Argumentieren immer ein Wissen 'von' einem Wissen, damit aber Form, die sich entgegensetzt einen 'Inhalt', bleibt also selbst als höchste oder umfassendste Form - sich erfassend nur durch ihren Gegensatz -notwendig paradox. (Im ekstatischen Aufgehen im Lichte 22 oder sinnerfüllten Wissen wird (auf) diese Form nicht mehr gesehen; anders ausgedrückt: sie findet im lebendigen Wissen der Sinnerfüllung als bloße Form oder noch abzusetzendes Faktum gar nicht mehr statt, wohl aber bedarf die Form, damit sie höchste Form des Wissens sei, immer des Bezuges- nämlich: sichtrotz faktischer Unleugbarkeit nicht als erfüllte Wahrheit gelten zu lassen - auf das jederzeit mögliche Aufgehen im sinnerfüllten Wissen.) Die WL begreift daher selbst, daß sie sich aufgeben muß: WL wird erst durch ihre Vernichtung 23 • Sofern sie auf sinnVgl. z.B. WL 05 3v52; 5v3,3. WL 05 5v4. 20 WL 05 37v3,1; vgl. dazu auch 42r3,4-12. 21 WL 05 23r2,3. 22 Von einem Wege ein solches 'Aufgehen' (das der 'bei Besinnung' bleibende wissenschaftliche Philosoph gerade abhält) zu erreichen, spricht Fichte möglicherweise in der WL 04 2 S. 35: "('Falls wir nur recht bei Besinnung bleiben,' sage ich, denn wir könnten uns auch in das Intelligible [Copia: lntelligiren] verlieren, und es giebt sogar an seinem Orte eine Kunst, mit Bewußtsein sich darin zu verlieren)." 23 VgL WL 05 17v5,4. 18

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erfülltes Wissen, als "totalklare[s] Aufgehen im Lichte" 24 ausgeht, faßt sie schließlich die höchste Form des Wissens als bloße Bedingung des erst noch sich vollenden und vollendet werden Sollens. So endet z.B. die WL 12 in dem Selbstverständnis: "Wer die WL. erkannt hat, ist in alle Bedingungen eingesetzt des Willens; und es fehlt nur am Willen noch selbst. " 25

6. Die Vollendung der WL durch ihre Selbstaufhebung Dieses Wissen des sinnerfüllten Wissens ist nun einerseits dasjenige Wissen, das jedem Menschen unabhängig von Rasse, Stand und Bildung, auch unabhängig von physischer und psychischer Gesundheit und Normalität und zu allen Zeiten - also auch vor Fichtes Entdeckung der 'WL'- sowohl als Aufgehen darin als auch als Wissen 'von' einem Wissen (also in der Differenz und Paradoxie des dieses Aufgehen zu sein und zugleich nicht zu sein zugänglich ist. Andererseits ist es dasjenige, was Fichte in einer Hinsicht berechtigt, die WL als vollendet zu behaupten - 'vollendet' wohlverstanden nicht mehr im apodiktisch-objektivierenden (wovon noch weiter unten), sondern im Sinne des Aufgebens und Aufgehobenseins jeglicher faktischen Position, also auch jeder Differenz als solcher und damit natürlich auch jeder nur dem Philosophen vorbehaltenen WL als WL. Diese Vollendungsbehauptung ist eben ermöglicht aus der Evidenz des Mit-sich-zur-Ruhe-Kommens als dem 'göttlichen Existiren'. In der hier vorliegenden WL 05 setzt Fichte nach Abweisung dreier 'Absoluter' 26 als nicht wahrhaft absolut 27 "das eigentl. Reale, das göttliche Existiren" darein, ,,daß, u. wie gelebt wird" 28 und fügt hinzu, daß es sich hierbei um den "absoluten Endpunkt der Spekulation" handelt, bei dem 24

25 26 27

28

WL 05 10v4,1. SW X S. 491. WL0518v2,1-5. Vgl. WL 05 2lv0,9. WL 05 28r0,5.

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es "bei allen weitem Bestimmungen, welche die Form erhalten dürfte" bleiben wird 29 • Wenn und indem Fichte zur Überprüfung der Vollendung der Wissenschaftslehre anbietet, ihr an dem, was sie als ihr Höchstes setzt, eine Unterscheidung nachzuweisen, die sie selbst nicht gemacht hat 30 , so kann er die WL mit Recht als vollendet behaupten, da der Unterschied zwischen dem Wissen 'von' sinnerfülltem Wissen und eben diesem 'Höchsten': dem Aufgehen im sinnerfüllten Wissen- als Differenz einsichtig unüberbietbar ist. Man ist eben entweder in Differenz zum sinnerfüllten Wissen oder man geht darin auf. Der Transzendentalphilosoph, der in Reflexion auf die Bedingung dieser Aussage (entweder in Differenz oder die Ein· heit zu sein), behauptet, er sei notwendig beides zugleich, behält zwar der Form nach immer Recht; er ist es jedoch insofern auch dann noch immer nur in der Form. Die Form aber ist nach Fichte selbst noch in der Form zu vernichten31, d. i. für ungültig (in der Bedeutung differenzentledigter Geltung) zu erkennen; und in diesem letzten loslassenden Akt ist der Philosoph- wenn man nicht schon wieder seinen spezifischen Weg mitveranschlagt - von jedem sich selbst in seinem Wesen erkennenden Menschen nicht mehr zu unterscheiden. Die jedem Menschen (zumindest von seiner Anlage her) mögliche unmittelbare Klarheit (seiner selbst) und die höchste wissenschaftliche Evidenz (der philosophischen ErWL 05 28r0,6. "Wo noch irgend die Möglichkeit einer Unterscheidung deutlich, oder stillschweigend, eintritt, ist die Aufgabe nicht gelöst. Wer in oder an [Hervorhebung von mir] dem, was ein philosophisches System als sein Höchstes setzt, irgend eine Distinktion als möglich nachweisen kann, der hat dieses System widerlegt." (WL 04 2 S. 7) Hier geht es zunächst um das 'an dem': eine fundamentalere oder auch nur gleich fundamentale Differenz wie diejenige zwischen dem Wissen 'von' sinnerfülltem Wissen und dem 'Aufgehen' darin läßt sich nicht behaupten, ohne ihr Verständnis immer schon vorauszusetzen. Das 'in dem' dagegen kann die formal-diskursive Vollständigkeit der Wissenskonstitutiva betreffen, von der noch später (siehe 7.) die Rede sein wird. 31 Vgl. WL 05 15r4,7; 37v3,1; 42r2,6. 29

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hellung) sind darin, was hier 'klar' oder 'evident' heißen soll, ein und dasselbe, verschieden nur in der unterschiedlichen besonderen Hinsicht des Erkenntnisinteresses in und am Leben, was das unterschiedlich Besondere, also Individuelle, (an) der Geschichte von Menschen ausmacht. Eine weder im üblichen Sinne 'wissenschaftliche' noch an einem spezifischen Glaubensbekenntnis orientierte Beschreibung sinnerfüllten Wissens in einem Augenblick findet sich in Dostojewskijs Roman "Der Idiot". Ich lasse diese hier folgen, weil sich daran jeder mit Hilfe seiner eigenen Erfahrung nochmals darüber orientieren· kann, was mit 'sinnerfülltem Wissen' und in welcher Form dieser 'Inhalt' behauptet wird. Insbesondere kehren in dieser Beschreibung die herausgestellten Charakteristika einer argumentierenden Darstellung wieder: Paradoxie, Aufgehobensein alles Zweifeins und Fragens, Ungenügen jeder Beschreibung und das sich Nichteinlassen auf einen Disput (zum Letzteren siehe 7.1.): "Er dachte unter anderem auch daran, daß in seinem früheren epileptischen Zustand kurz vor jedem Anfall (wenn der Anfall nicht gerade nachts im Schlaf kam) ganz plötzlich mitten in der Traurigkeit, der inneren Finsternis, des Bedrücktseins und der Qual, sein Gehirn sich für Augenblicke gleichsam blitzartig erhellte und alle seine Lebenskräfte sich mit einem Schlage krampfhaft anspannten. Die Empfindung des Lebens, des Bewußtseins verzehnfachte sich in diesen Augenblicken, die nur die Dauer eines Blitzes hatten. Der Verstand, das Herz waren plötzlich von ungewöhnlichem Licht erfüllt; alle Aufregung, alle Zweifel, alle Unruhe löste sich gleichsam in eine höhere Ruhe auf, in eine Ruhe voll klarer, harmonischer Freude und Hoffnung, voll Sinn und letzter Schöpfungsursache. Aber diese Momente, diese Lichtblitze waren erst nur eine Vorahnung jener einen Sekunde, in der dann der Anfall eintrat (länger als eine Sekunde währte es nie). Diese Sekunde war allerdings unerträglich. Wenn er später in bereits gesundem Zustande über diese Sekunde nachdachte, mußte er sich sagen, daß doch all diese Lichterscheinungen und Augenblicke eines höheren Bewußtseins und einer höheren Empfindung seines Ich,

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und folglich auch eines 'höheren Seins', schließlich nichts anderes waren als eine Unterbrechung des normalen Zustandes, eben als seine Krankheit; war aber das der Fall, so konnte man es doch keineswegs als 'höheres' Sein, sondern im Gegenteil nur als ein niedrigstes betrachten. Und doch, trotz alledem, kam er zu guter Letzt zu einer überaus paradoxen Schlußfolgerung: 'Was ist denn dabei, daß es Krankheit ist?' meinte er schließlich, 'was geht es mich an, daß diese Anspannung nicht normal ist, wenn das Resultat, wenn der Augenblick dieser Empfindung, nachher bei der Erinnerung an ihn und beim überdenken bereits in gesundem Zustand, sich als höchste Stufe der Harmonie, der Schönheit erweist, als ein unerhörtes und zuvor niegeahntes Gefühl der Fülle, des Maßes, des Ausgleichs und des erregten, wie im Gebet sich steigernden Zusammenfließens mit der höchsten Synthese des Lebens?' Diese nebelhaften Ausdrücke kamen ihm selbst sehr verständlich vor, nur fand er sie noch viel zu schwach. Daran aber, daß dies wirklich 'Schönheit und Gebet', daß dies wirklich 'höchste Synthese des Lebens' war, daran konnte er nicht zweifeln, ja, konnte er Zweifel überhaupt nicht für zulässig halten. Denn das waren doch in diesem Moment nicht irgendwelche geträumten Visionen, wie nach dem Genuß von Haschisch, Opium oder Alkohol, die die Denkfähigkeit herabsetzen und die Seele verzerren, unnormale und unwirkliche Trugbilder. Das konnte er nach dem Vergehen des krankhaften Zustandes völlig klar beurteilen. Jene Augenblicke waren vielmehr eine außergewöhnliche Steigerung des Selbstbewußtseins - wenn man diesen Zustand mit einem einzigen Wort bezeichnen soll -,des Selbstbewußtseins und zugleich eines im höchsten Grade unmittelbaren Selbstgefühls. Wenn er in jener Sekunde, das heißt, im allerletzten Augenblick des Bewußtseins, vor dem Anfall, sich manchmal noch klar und bewußt zu sagen vermochte: 'Ja, für diesen Augenblick kann man das ganze Leben hingeben!', so war dieser eine Augenblick wohl etwas Einzigartiges und auch das ganze Leben wert. übrigens: für den dialektischen Teil seines Folgeschlusses konnte er nicht einstehen, der Stumpfsinn, die seelische Finsternis, die Idiotie standen ihm als Folge-

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erscheinungen dieser 'höchsten Augenblicke' klar vor Augen. Darüber würde er im Ernst natürlich nicht disputiert haben. In seiner Schlußfolgerung, das heißt in seiner Einschätzung dieses Augenblicks lag zweifellos ein Fehler, aber die Tatsache der Empfindungen, ihre Realität gab ihm doch zu denken und machte ihn einigermaßen befangen. In der Tat, was tun mit dieser Wirklichkeit? Sie ließ sich doch nicht verleugnen, war doch da, er hatte doch sich selbst noch in eben jener Sekunde zu sagen vermocht, daß diese Sekunde um des grenzenlosen Glückes willen, das er voll empfand, am Ende wohl das ganze Leben wert sein könne. 'In diesem Augenblick glaube ich jenes Wort zu verstehen, daß hinfort keine Zeit mehr sein soll'[.]" 32 Fichtes in einem Satz formulierte Antwort auf die Frage der WL 'was ist das Wissen an sich?' könnte ebenso als angemessene Beschreibung sinnerfüllten Wissens dienen. Sie lautet: "das Wissen ist an sich die absolute f oder was das gleiche bedeutet, wie sich zeigen wird, des Absoluten Existenz"33. Wer etwa sein Wissen von Sinnerfüllung mit dieser Formel zu Beginn der WL beschrieben sieht, wird sich im Verlauf der ständig sich wandelnden Differenzierungen der WL in immer neue Zweifel hinsichtlich dieser Identifikation gestürzt sehen. Dennoch ist es entscheidend, diese Identifikation aufrecht zu erhalten. Nur wenn man die Forderung Fichtes radikal ernst nimmt, sich "mit keiner Fakticität [ ... ] zu begnügen" 34 und die Einschränkung dieser Forderung, sich mit keiner Faktizität zu begnügen: 'es sei denn mit dem als notwendig und damit unvermeidlich nachgewiesenen FakPiper-Ausgabe 1977, S. 347-349;- Zum 'Eintreten der Harmonie' laut WL vgl. z.B. in der Fassung von 1801/2: "das absolute Wissen vom absoluten Wissen = Gewißheit, träte ein, wenn diese Uebereinstimmung selbst, dieses Zusammenfallen einträte. [ ... ] Nun aber kommt, wohlgemerkt, diese Harmonie, dieses Zusammenfliessen der beiden Endpunkte nur jenseit des Wissens zu Stande, [ ... ] man kann daher wissen, das Daß, (aber nie} anschauen das Wie." AA 11,6 S. 224-225; PhB Band 302 S. 110-111. 33 WL 05 2v4,2. 34 WL 05 5r5,3. 32

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turn des Bewußtseins seiner selbst' eben gerade noch immer als Einschränkung dieser Forderung klar vor Augen behält, nur dann kommt es zum richtigen Selbstverständnis der WL. Andernfalls bleibt es bei einer Verabsolutierung der Reflexion in irgendeinem willkürlichen Standpunkte. Die Analyse der Konstitution des Schwebens zwischen einer noch faktischen Position (des 'Wir') und einer ebenfalls objektivierten und damit faktischen Position einer von uns 'unabhängigen Vernunft' wird einen andern Teil der WL ausmachen. Daß der Name WL jedoch mehr bezeichnet und damit für wenigstens zweierlei steht (nämlich für das in bezug auf differenzlose Geltung Sichsuspendieren einerseits und für das Sich-selbst-Behaupten in einer unwandelbaren Struktur andererseits), ist für die richtige Beurteilung der WL entscheidend. Hier kam es zunächst darauf an, die WL in ihrem letzten 'Begründungszusammenhang', nämlich ihrer Selbstentwertung hinsichtlich differenzentledigteT Geltung, sichtbar zu machen. Dieser kommt in Fichtes WL-Darstellungen in den verschiedensten Formen immer wieder zum Ausdruck: 1801/2 lautet z.B. eine solche Beschreibung: "Sonach ist die Wissenschaftslehre, die ja das Wissen vom Wissen ist, keine Mehrheit von Erkenntnissen, kein System, oder Zusammenfügung von Sätzen, sondern sie ist durchaus nur ein einiger, untheilbarer Blik. " 35 Eine Passage in der hier vorliegenden Fassung von 1805 faßt die entsprechende Einsicht so: "Objektivität im materiellen Sinne, als Wahrheit u. Realität, u. im formalen, als projicirtes, sind durchaus unabtrennlich, u. im Wesen dasselbe: und die Form der Projektion ist eben das ewige Geständniß des Lichts von seinem eignen Nichts gegenüber der Wahrheit. Wird nun aber diese Objektivität, durch das sich selbst verstehen, in die Form des Als aufgenommen, so geht die Realität wieder verloren, und das ganze Nichts tritt abermals ein." 36 Und schließlich in der prägnantesten Kurzformel von 1805 wird die WL erst durch ihre Vernichtung: "Sie d[ie]. W.L. kann nichts 35 36

AA 11,6 S. 140. WL 05 34v2,4-5.

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mitbringen, denn sie vernichtet sich, u. wird erst durch diese Selbstvemichtung. " 37

7. Das Problem der Vollendung der WL als Wissenschaft Fichte behauptet nun aber die erstmalige Vollendung der Wissenschaftslehre als die für alle Menschen und Zeiten gültige Lösung des Rätsels der Welt und des Bewußtseins 38• Da hier jedoch bisher nur von vollendetem Wissen als von der jedermann lebensmäßig zugänglichen Erkenntnis des Grundwesens des Bewußtseins die Rede war, bedarf die Behauptung der erstmaligen Vollendung der Wissenschaftslehre erst noch ihrer Legitimation. Ein erstmalig in oder mit der WL vollendetes Wissen müßte über die Erkenntnis der Ungültigkeit alles faktischen Bewußtseins (hinsichtlich differenzentledigteT Geltung) hinaus noch in einer andem Hinsicht vollendete Erkenntnis des Wissens sein. Denn ginge es der WL lediglich um die Wiederbelebung der 'uralten Lehre', daß nur das rechte Wissen oder die Weisheit Wert hat 39 , warum sollte dann vom Zeitpunkt Fichtes persönlicher Entdeckung und Darstellung dieser Einsicht mit mehr Recht als Wissenschaftslehre bezeichnet werden, als was in der Menschheit schon längst bekannt und auch bei den verschiedenen Völkern und Stämmen vermutlich auf verschiedenste Weise bezeichnet war? Obwohl also nicht zu bestreiten ist, daß es Fichte mit der WL auch um den Vollzug bzw. das Erreichen einer Einsicht ging, die nach ihm selbst uralte Lehre ist, war es doch noch darüber hinaus in pointierter Weise seine Absicht, alles mögliche Wissen überhaupt in seiner grundsätzlichen Möglichkeit zu erschöpfen und in endgültiger Weise darzustellen. Da aber gerade der Weise, der ein jeder Mensch WL 05 17v5,4. Vgl. das 'Pro memoria' an das Königliche Kabinett in Preußen vom 3. Januar 1804, AA 111,5 S. 222ff. und die Ankündigung zur WL vom 1.1.1804: WL 04 2 S. 2. 39 Vgl. WL 04 2 S. 255. 37 38

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auch ohne spezifisch wissenschaftliche Bildung - sein kann, weiß, daß über das Wissen 'von' sinnerfülltem Wissen (als höchster Differenz) nichts hinausreicht als das Aufgehen in dem sinnerfüllten Wissen selbst, müßte die WL, wenn sie ihren Anspruch auf Neuschöpfung grundsätzlicher Art ausweisen will, nicht nur ein vollständiges Wissen von sich selbst in diesem ihrem Grundwesen haben, sondern diese nochmals in besonderer WeiSe als vollständig wissen; sie müßte also ein Verständnis besonderer Selbstschöpfung oder konstruierender Nachkonstruktion haben, das der Weise nicht notwendig zu kennen braucht. Diese Vollendung in einer besonderen Vollständigkeit, die erst den neuen Namen 'WL'- über eine bloß historische Benennung fundamentaler Selbstbesinnung des Menschen hinaus - rechtfertigen würde, stellt nun aber das weitere Problem dar. 7.1. Das Problem der formal-diskursiven Vollständigkeit der WL in ihrer apodiktischen Ausdifferenzierung Vergegenwärtigen wir uns nochmals, wie es über die jedem Menschen grundsätzlich mögliche Vollendung des Wissens angesichts deren WL sich durch ihre Vernichtungvollziehthinaus noch zu einem Problem formal-diskursiver Vollständigkeit der WL kommen kann. Denn aufgrund der Einsicht, daß jedem die Vollendung des Wissens als absolutes Ereignis40 zugänglich ist, könnte die Philosophie eigentlich enden, bevor sie noch in weiterer apodiktischer Differenzierung begonnen hat. Auf die Frage 'was ist das Wissen im Ganzen u. Einen ohne alle zufällige Bestimmung?' kann man - wie gezeigt antworten: es ist sinnerfülltes Wissen, 'totalklares Aufgehen im Lichte', 'absolute Existenz' (wie Fichte in der hier vorliegenden Fassung der WL antwortet 41 ), oder wie immer sonst man es nennen möchte. Vgl. z.B. WL 01/2: der "inner[e] Charakter des Wissens [ist] ein absolutes Entspringen"; AA 11,6 S. 291. 41 WL 05 2v4,2. 40

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Der Fach-Philosoph, insbesondere der Transzendentalphilosoph, der gewohnt ist, auf die Bedingungen der Möglichkeit seiner Behauptungen zu reflektieren, wendet dann aber gewöhnlich ein: aber du weißt doch von diesem 'sinnerfüllten Wissen', weißt also von deinem Wissen im Unterschied zum sinnerfüllten Wissen, bist also selbst die Einheit deines Wissens vom Wissen und deines Wissens vom 'sinnerfüllten Wissen', darin also auch Subjekt, Objekt, Identität, Differenz, übergehen von einem zum andern, usw.; bist also strukturierender und strukturierter Bezug von Momenten. Und ich kann ja tatsächlich die bisher als höchste bezeichnete Differenz: das Wissen 'von' sinnerfülltem Wissen (wie etwa die Differenz zwischen 'Existenz' und 'Absolutem') wieder daraufhin befragen, wie sie denn gewußt wird, und dann ersehen, daß ihr Wissen zugleich durch die Differenz von Subjekt und Objekt, Soll und Ist, Ich und Du usw. konstituiert ist bzw. sich in dieser Differenzierung konstituiert. Ich kann also de facto die Frage nach dem 'Wissen im Ganzen u. Einen ohne alle zufällige Bestimmung' auf eine über die als 'höchste' bezeichnete hinausgehende grundlegende Differenzierung richten. Der erwähnte Philosoph wird sogar in Verweigerung einer paradoxen Beschreibung darauf insistieren, daß ihn die unklare Bestimmung des 'Verhältnisses' von 'höchster Differenz' (dem Wissen 'von' sinnerfülltem Wissen) einerseits und dem 'Aufgehen im sinnerfüllten Wissen' andererseits, die - wie sich noch zeigen wird - wenigstens eine doppelte Differenz oder Spaltung in sich vollzieht bzw. enthält, geradezu zwinge, fortschreitend genauer zu differenzieren. Angesichts der Frage 'was ist das Wissen im Ganzen u. Einen?' sind demnach zwei tiefgreifend verschiedene Haltungen oder Stellungnahmen möglich: Derjenige, der zur Einsicht des Ereignischarakters der bisher beschriebenen Vollendung des Wissens- gleichgültig auf welchem Wegegelangt ist, wird für sich selbst die Frage als widersprüchlich oder sinnlos konstatieren, weil man das Wissen in seiner grundlegenden Differenziertheit zugleich und insofern man es als Einheit fassen soll, auch als Differenziertheit zu fassen

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hätte, und deswegen verweigern, sich auf eine weitere Antwort einzulassen. Denn er weiß eben, daß er seine direkte und praktische Ausrichtung auf das Mit-sich-zu-Ende-Kommen des Wissens als 'letzter Begründung', nämlich als Befriedung im sinnerfüllten Wissen42 , bewußt verlassen müßte, weil jedes neuerliche Eröffnen einer Frage und Insistieren auf deren Beantwortbarkeit Wissen gerade nicht mit sich zur Ruhe kommen läßt. Mit anderen Worten: er weiß, daß der Diskurs darüber, ob eine der möglichen bloß theoretischen Antworten auf die Frage 'was ist das Wissen an sich?' ein größeres Recht, mehr Wahrheit, oder ausschließlich Wahrheit zukomme, nicht enden wird, solange man sich darauf einläßt, weil eben schon dieses Einlassen auf weiteres nur auf gültige Theorie gerichtetes Fragen selbst Motor beständig neuer Differenzbildung ist. Die andere Geisteshaltung oder Stellungnahme, die man auch die philosophisch-wissenschaftliche nennen kann, besteht darin, daß man den mit der Frage nach der Einheit des Wissens sich erzeugenden Widerspruch zunächst ungeahndet zuläßt, weil man einräumt, daß es nun doch einmal so ist, daß wir zu sinnerfülltem Wissen sowohl in Differenz stehen als auch beider Einheit sind (da wir sonst ja gar nicht wüßten, wovon wir redeten- also auch dieses unser eigenes gerade sich vollziehendes Reden nicht möglich wäre); man versucht dann eine Beschreibung dieses Wissens von Differenz und Einheit durch eine Ko'nstruktion zu geben, die den Kriterien der Widerspruchsfreiheit, Unhintergehbarkeit und Vollständigkeit genügt, wobei die jeweils (fortzeugend) sichtbar werdenden Widersprüche in weitere Differenzierung aufgelöst werden sollen. Der wissenschaftliche Philosoph oder Wissenschaftslehrer wirft also tatsächlich in einem anderen - nunmehr zu untersuchenden - Erkenntnisinteresse, und zwar in allgemeinverbindlich objektivierender Absicht die Frage nach der 'Ableitung' der Strukturen bzw. fundamentalen Inhalte des Wissens in ihrer Vollständigkeit als WL auf. Vgl. den Hinweis auf die Kunst, sich mit Bewußtsein im Intelligiblen zu verlieren: WL 04 2 S. 35 (siehe Anmerkung 22). 42

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Eine solche Interessesetzung im Aufwerfen dieser Frage läßt sich nun allerdings aus sinnerfüllter Vollendung des Wissens (für sich) weder zureichend motivieren noch argumentativ zwingend herleiten- allerdings auch nicht zurückweisen; denn im vollendeten Wissen in dieser Bedeutung findet kein Problem und keine Frage statt. Fragt man neuerlich nach der Bedingung dieser letzteren Behauptung daß es im vollendeten Wissen kein Problem und keine Frage gibt -, so muß man natürlich einräumen, daß dies alles nur so behauptet werden kann, wenn man selbst eine Weiterdifferenzierung des Wissens vollzogen hat, also selbst der diskursiven Systematik des philosophisch-wissenschaftlichen Anspruchs wenigstens stückweise gefolgt ist bzw. einen solchen Anspruch erhoben hat. Daraus ist jedoch nicht zwingend zu folgern, daß es nicht andere Weisen menschlichen Selbstverhaltens und Selbstverständnisses gibt, in denen der Weg philosophischer Objektivation gar nicht erst eingeschlagen wird. Und daher kann man auch nicht ausschließen, daß unter jenen Menschen, die zur Philosophie oder Wissenschaft im objektivierenden Sinne nicht entschieden sind, auch solche sein können, die noch selbstsicher genug sind, um der philosophisch-wissenschaftlich objektivierenden Fixierungen nicht zu bedürfen. Wenn man eingedenk all dessen über die grundsätzlich Jedem mögliche Vollendung und die ebenso Jedem mögliche Einsicht in den Ereignischarakter (oder die 'Absolutheit') dieses Wissens hinaus dennoch die Frage nach den Strukturen bzw. fundamentalen möglichen Inhalten des Wissens in ihrer Vollständigkeit stellt, muß ein solcher Versuch objektivierender Selbstversicherung einen anderen Grund haben; Dieser kann dann nur in der faktischen Freiheit des Menschen liegen; und zwar zum einen in seiner individuell-personalen Willkür, zum anderen- wie sich zeigen wird- in der interpersonalen Gebotenheit gegenseitiger Anerkennung.

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7.2. Die Legitimation des sich Einlassens auf formal-diskursive 'Vollständigkeit' Setzt man den soeben herausgestellten faktisch freien Grund für das sich Einlassen auf formal-diskursive Vollständigkeit nochmals einer Bewertung aus - und das tun wir immer, wenn wir menschliches Vollziehenunter der Alternative von richtig oder falsch und gut oder böse beurteilen-, so muß auf jeden Fall die individuell freie Wahl jedes Menschen, nämlich wie eben die gerade skizzierte Alternative der beiden möglichen Geisteshaltungen entschieden wird, in dessen persönlichen Sinnsetzung gewahrt bleiben. Von einer Seite und zu einem Teil also muß für andere Individuen diese Setzung als in letzter Instanz im wirklich gewordenen Willen des Einzelnen begründet, darüber hinaus unbegründbar bleiben. Zu begründen im Sinne von interpersonal verbindlicher Ausweisbarkeit - und das heißt in strengem Sinne legitimieren - wäre also nur ein solcher Anteil an der Willensentscheidung (zur formal-diskursiven Selbstanalyse des Wissens), der aus einer mehreren Individuen gemeinsamen und interpersonal konstituierenden Setzung resultiert. Dabei ist aber ein historisch identisches Interesse oder eine gemeinsame praktische Problemlage unter mehreren Individuen noch nicht gleichzusetzen mit der Legitimation. Legitimieren können vielmehr nur normative Konsequenzen, die aus dem in Wahrheit auch mich erst selbst als Person ermöglichenden Akt interpersonaler Anerkennung hervorgehen. Diese wäre aber eben als prinzipielle Respektierung und Verwirklichung der Autonomie jedes Menschen gerade die Befreiung von solchen empirisch-konkreten Bedingungen und Verhältnissen, die Sinnerfüllung faktisch beeinträchtigen. In einer historisch nun einmal zur philosophisch-systematischen Objektivation entschiedenen und dadurch zwangsläufig auf Diskursivität eingestellten und eingeübten menschlichen Geisteshaltung kann und muß gegebenenfalls gerade die formal-objektivierende Verrechnung (als das transzendentalphilosophische System) der Wissen konstituierenden

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Momente und Strukturen zum Instrument der Kritik und der Befreiung eines falschen Selbstbewußtseins-aber niemals zum selbstbegründeten Inhalt - werden. In diesem Sinne legitimiert sich die Disziplin wissenschaftlicher Philosophie als Selbstbereinigung eines faktisch herrschenden verstellten - nämlich in seine selbstproduzierten Widersprüche verstrickten - Selbstverständnisses des Wissens. Endlich bleibt dann, eingedenk dieses eigentlichen Sinnes des Systems wie seines Postulats formal-diskursiver Vollständigkeit, die Funktion und der Stellenwert dieser spezifisch philosophischen Tätigkeit selbst als Instrument nochmals ausdrücklich zu deklarieren. Und wenn man - wie Fichte etwa - dies als noch innerhalb des philosophischen Systems zu leisten beansprucht 43 , so ist zu beachten, daß hier 'philosophisches System' in einer doppelten Bedeutung auftritt: Frage ich nochmals nach dem Gebrauchswert oder Nutzen einer vollständigen formal-diskursiven Differenzierung, die eben als behauptete vollständige schon ein System beansprucht, so liegt die Antwort hierauf, sofern sie wiederum eine philosophisch-systematische Antwort sein will, jedenfalls nicht auf der gleichen (Reflexions-)Ebene wie das System der behaupteten formal-diskursiven und soweit auch objektivierten Vollständigkeit selbst; dadurch entsteht so etwas wie ein 'System des Systems' oder ein Metasystem. Und eben das entspricht ja auch genau dem Programm einer Transzendentalphilosophie, die sich nicht einfach mit Gegenständen - in unserem Falle mit formal-diskursiv und objektivierend vollständig aufgeführten Prinzipien -, sondern darüber hinaus auch mit unserer Erkenntnisart (als produzierendem Akt) von Gegenständen befaßt. Dabei aber darf gerade nicht übersehen werden, daß sich hier erneut im objektiviert abgesetzten Ergebnis ein Paradoxon einstellt, wenn man nämlich System- und Metasystem-Aussage auf einen Nenner zu bringen sucht. Erfüllt also das philosophische System in seiner objektivierten formal-diskursiven Vollständigkeit seinen vollen 43 Vgl. dazu die Passagen über Selbstableitung der WL in den verschiedenen Darstellungen; so z.B. WL 05 23r3.

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Zweck dieser lag letztlich, sei es auch nur mittelbar, in der Befreiung von sinnerfülltes Wissen verhindernden Bedingungen oder Bewußtseinsinhalten -, so ist, wie bereits angehoben, gerade diese seine Mittelfunktion selbst nochmals einsichtig zu machen: Die bloße Befreiung von der verhindernden Situiertheit, die sich hier im Durchlaufen und Erschöpfen der das Wissen konstituierenden Prinzipien vollzieht, bringt selbst nicht schon zwangsläufig sinnerfülltes Wissen mit sich, ist also selbst als so reflektierte Totalität des Wissens nicht mit wirklich sinnerfülltem zu identifizieren. Daß das 'System des Systems' genau dies als sein Ende ausspricht, aussprechen muß -wenn es nicht wieder willkürlich enden will -, erfüllt erst den Anspruch auf Vollständigkeit wirklich. Auch das als Kritik des falschen Selbstverständnisses sich interpersonal legitimierende systematisch-diskursive Philosophieren setzt also zwar frei gegenüber hindemden Bedingungen, kann aber nicht selbst sinnerfülltes Wissen als materiale Erfüllung der Freiheit erzeugen oder gar erzwingen. Wollte man nun noch als 'Legitimation für das transzendentale System' (über die interpersonale Rechtfertigung hinaus) beanspruchen, daß sie erst dann vollständig eingelöst ist, wenn gleichzeitig mit ihr tatsächlich sinnerfülltes Wissen selbst eintritt, also die 'Legitimation' letztlich sich erst mit dem Eintreten dieses Wissens selbst bewährt, so wäre ein 'Zustand' eingetreten, in welchem das 'Verhältnis' von Legitimation zu sinnerfülltem Wissen und damit zugleich formal-diskursives Philosophieren bereits insgesamt aufgehoben ist. In diesem Zusammenhang scheint mir eine Aussage Fichtes beachtenswert, in der er den 'ewigen, freien Besitz der WL' mit einem 'nicht jedesmal Gelingen' verbindet: "Dann aber ist man auch die W.L., und hat sie zum ewigen, freien Besitz. (Freilich gelingt es nicht jedesmal; da muß man es wieder versuchen)." 44

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Vgl. WL 12 SW X, S. 323.

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7.3. Die Idee der Vollständigkeit in formal-diskursiver Ausdifferenzierung der Wissenskonstitutiva Das Sicheinlassen auf formal-diskursive Vollständigkeit (System-Philosophie) besagt also unter anderem, daß man weder aufgeht im sinnerfüllten Wissen - das Erkenntnisinteresse an einem objektivierenden Diskurs wäre sonst aufgehoben -, noch daß man sich verliert in den unendlich möglichen besonderen Bestimmungen faktischen Wissens eine systematische (strukturelle) Geschlossenheit gegen die sich einstellende mögliche unendliche Vermannigfaltigung wäre nie zu erreichen. Denn das Eingehen auf beliebige Einzelbestimmungen faktischen Wissens bringt es mit sich, daß man durch willkürliches Bilden bzw. Herausgreifen von Wissensinhalten und -formen in bzw. aus der Mannigfaltigkeit unserer Lebenswirklichkeit den Bezug auf systematische Begrenzbarkeit und damit seine reflexive (oder auch transzendentale) Strukturierbarkeit verliert. Die Frage dagegen nach dem 'Wissen im Ganzen u; Einen ohne alle zufällige Bestimmung' geht - sofern damit nun auch Entfaltung der Ermöglichungsbedingungen beabsichtigt ist 45 auf ein wie auch immer geartetes 'Wesen' des Wissens und damit auf eine grundsätzliche Geschlossenheit desselben aus. Mit einer solchen Frage ist also gegenüber dem Sichverlieren in unendlich möglichen verschiedenen Wissensvollzügen oder Wissensinhalten eine erste Selbstbeschränkung durchgeführt. Man besinnt sich dabei auf dasjenige Wissen, welches in allem konkret Mannigfaltigen als dessen Konstituierung stattfindet und gilt. Es wird dann (wie in 3. unter den Wechselbegriffen von Daseinszufälligkeit und Daseinskonstitution bezeichnet) auf dasjenige Wissen- sich selbst re-konstruierend - gesehen, welches notwendigerweise dadurch, daß man überhaupt irgend etwas weiß oder wissend vollzieht, immer schon mitvollzogen hat bzw. mitvollzieht. Dieses in allem empirischen Wissen als seine Ermöglichungsbedingung sich mitvollziehende Wissen wird das apriorische Zu dem doppelten Ziel der Frage nach dem "Wissen an sich" (als nach dem "Wissen im Ganzen u. Einen ohne alle zufällige Bestimmung") vgl. WL 05 1v1,3-5. 45

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oder Prinzipien-Wissen genannt. Mit dieser Eingrenzung auf dasjenige, was in allem Wissen vorhanden ist und gilt oder, was dieses Wissen als solches konstituiert, ist aber eben durch das Ausgehen auf etwas letztlich prinzipiell Faßbares eine Vollständigkeit behauptet. 'Vollständigkeit' {nämlich: formal-diskursive Ausdifferenzierung des Prinzipienwissens) als Idee ist also selbst konstitutiv für eine dritte Art von Wissen, welche weder sinnerfülltes Wissen noch ein im Empirisch-Faktischen sich verlierendes Wissen ist. Hier aber ist nun die berechtigte Frage zu stellen, wie in bezugauf eine jede beanspruchte und folglich im auszuführenden System zu bestimmende Vollständigkeit (von unterschiedenen Wissens-Momenten oder -Beziehungen) die aufgeführten Wissens-Bestände oder -Vollzüge als vollständig zu bestätigen sind; d.h. wie sich die konstitutiven Momente und Strukturen in ihren formalen und/bzw. inhaltlichen Bestimmungen tatsächlich auch als vollständig behaupten lassen, oder, wie die (bedingt) notwendige Antizipation der Idee in der Durchführung ihre Bestätigung erhält. 7 .4. Die In-sich-Rückläufigkeit als Kriterium formal-diskursiver Vollständigkeit Fange ich im Erweis der Vollständigkeit an Elementen und Strukturen des Wissens bei irgendeinem Moment oder Verhältnis, das ich darunter erblicke, an, also etwa: daß die Frage nach dem Wissen sich selbst wiederum an Wissen richtet bzw. an Wissen gerichtet ist, Wissen sich also als subjektives wie als objektives Wissen versteht, darin mit sich als in einer Hinsicht identisch, in einer anderen als nicht-identisch, übergehend von einem zum anderen, usw. und höre bei einem Momente auf, über das hinaus (im Absehen von demjenigen, wovon ich absehen kann, ohne mich selbst als Wissen zu verlieren) kein anderes bekannt ist, so ist der Charakter dieser Vollständigkeit eine In-sich-Rückläufigkeit: Im Versuch des Auffindens eines möglichen noch nicht gewußten weiteren Momentes komme ich beim Scheitern dieses Versuches zwangsläufig auf die schon als wissenskonstitutiv gewußten Momente zurück; oder anders ausge-

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drückt: jedes Moment bringt ein anderes mit sich, bis es auf das zuerst gefaßte wieder zurückführt. Die Frage allerdings, welche und damit auch wieviele gleichgrundlegende Wissenskonstitutiva zu behaupten sind und was sie zu bedeuten haben, wird - wie es jedenfalls schein~ - bis heute von den Philosophen nicht einhellig beantwortet. Dies hat zwei miteinander wechselseitig zusammenhängende wesentliche Gründe. Zum einen bestimmt unter dem Gesichtspunkt der Darstellbarkeit sich selbst reflektierenden Wissens die Differenziertheit der Begrifflichkeit einer Sprache die mögliche Differenziertheit des Zugriffs (auf Wissen). Also je differenzierter die Begrifflichkeit ist, desto vielfältiger sind auch die instrumentell-kategorialen Analysemöglichkeiten und Darstellungsweisen. Dies bedeutet aber zum anderen, da Bewußtsein sich seine Begrifflichkeit und Sprache selbst schafft und gibt, daß das je aktuelle und individuelle Bewußtsein selbst den Horizont seiner möglichen Hinsichten bestimmt. (Man vergleiche dazu bei Fichte die Äußerungen zur Kunst des Schaffens und Findens in der Darstellungsform 46 .) Diese Hinsichten sind allerdings wiederum Ausdruck der vielfältigen Möglichkeiten des -je auch sprachlich und geistesgeschichtlich situierten - Denkens, zu sich selbst Stellung zu nehmen. Entsprechend vielfältig sind die möglichen analytischen Aspekte sowie die korrespondierenden Darstellungsinteressen. Das Problem dieser Art von Vollständigkeit, also nicht nur der In-sich-Rückläufigkeit, sondern auch der Abzählbarkeit der Dimensionen und Betrachtungsaspekte wird aus diesen Gründen hier bewußt offen gehalten. Auf das Problem als solches muß aber ausdrücklich hingewiesen werden. Die Schwierigkeiten, die sich nämlich unter dieser Vollständigkeitsirlee ergeben, sind in der Tat erheblich. Einige davon seien paradigmatisch angedeutet.

46

Z.B. WL 05 24r3,1 und 29vl,l4-15; WL 04 2 S. 100.

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7.5. Das Problem verschiedener Disjunktionsmomente, ihre Reflexionsebenen und Darstellungsfolge Betrachtet man die soeben gekennzeichnete In-sich-Rückläufigkeit der Momente einer formal-diskursiven Vollständigkeit daraufhin, wie sie zustande gekommen ist, so kann man verschiedene Disjunktions- und Reflexionsebenen voneinander abheben: Frage ich etwa, wie das in 7.4. erwähnte 'übergehen' von einem zum anderen Moment selbst möglich ist, so muß ich behaupten, daß es dazu der Glieder bedurfte, zwischen denen übergegangen wird. Ich muß also in dieser Sicht behaupten, daß zuerst die Glieder realisiert sein müssen, um dann von einem zum anderen übergehen zu können. Den Gliedern kommt also in dieser Betrachtung der Vorrang vor dem übergehen von einem zum anderen zu, und insofern stellen die Glieder eine erste Disjunktionsebene gegenüber dem übergehen von einem Glied zum anderen dar. Frage ich jedoch, wie es ursprünglich zum Wissen der Glieder (zwischen denen dann übergegangen werden kann) kommt, so muß ich ein erstes wissendes Unterscheiden oder In-Differenz-Setzen als vorgängig den sodann unterschiedenen Gliedern oder Momenten gegenüber behaupten. Damit erhält nun das wissende Unterscheiden einen Vorrang gegenüber den unterschiedenen Momenten, die in dieser Sicht erst Produkt des sehenden Unterscheidens sind. Fragt man nun erneut nach den Ermöglichungsbedingungen des sehenden Unterscheidens- als erst Hervorbringens (idealer Aspekt) gegenüber einem als nicht-hervorgebracht stets Vorauszusetzenden (realer Aspekt) -und hält dabei die beiden ersten Antworten mit ihren vorausgehenden Fragen geistig präsent, so kommt es ihnen gegenüber zur Behauptung einer 'höheren' realen Bedingung als wiederum Vorgegebenes, der sich bei weiterem Befragen als weiterem Hervorbringen eine wiederum 'höhere' ideale voraussetzen läßt usw. Mit dem 'usw.' ist zum einen eine beliebige Wiederholbarkeit immer desselben Verfahrens ausgedrückt, das man daher als 'leer' bezeichnen kann, zum anderen aber die Er-

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kenntnis des Gesetzes der notwendigen Wechselbedingtheit einer jeden realistischen Position durch eine idealistische und umgekehrt. über dieses Gesetz der wechselseitigen Bedingtheit von idealen und realen Positionen bzw. Behauptungen (und damit von Idealismus und Realismus) hinaus, das eine zentrale Funktion in Fichtes WL hat, beinhaltet die Vollständigkeitsirlee der Konstitutivmomente und Strukturen des Wissens noch erheblich mehr Implikationen als die bisher herausgestellten. Ohne Anspruch auf vollständige Darlegung dieser Implikationen - der ja, wie oben gezeigt wurde, seinen letzten Grund teilweise in der Freiheit des Zuganges ansetzen muß - sei hier durch ebenso willkürliches Herausgreifen eines weiteren Konstitutionszusammenhanges auf Probleme der exakten oder widerspruchsrestlosen Durchführung eines solchen Vollständigkeitsentwurfes hingewiesen: Sieht man erneut zurück auf den Selbstvergewisserungsprozeß in der schrittweisen Beantwortung der an Wiss.en gerichteten Frage nach dem Wissen, so liegt darin offensichtlich- außer der ihr Verständnis konstituierenden Subjekt/Objekt-Relation- ein tatsächliches Ausgehen auf Gewißheit. Von der zu erreichenden Gewißheit her - als dem objektivierten Ziel - erscheint das tatsächliche Ausgehen darauf- nun objektiviertes Faktum - als in Anspruch genommen durch die beabsichtigte Gewißheit oder anders ausgedrückt: als gefordert dadurch, daß gesichertes Wissen sein soll (allerdings eben als Konsequenz aus dem selbst auferlegten Ausgehen darauf). Damit läßt sich eine weitere Doppelung oder Spaltung im Wissen behaupten, die gegenüber der Subjekt/ObjektRelation als Soll/Ist-Relation zu unterscheiden ist. Beachtet man, wie soeben die Soll/Ist-Spaltung gewonnen wurde, so ist sichtbar, daß sie nicht nur tatsächlich an zweiter Stelle in zeitlicher Reihenfolge als den Selbstvergewisserungsprozeß konstituierend nachgewiesen, sondern daß dafür die Subjekt/Objekt-Spaltung auch schon benutzt wurde. Damit scheint sich eine sachlich (oder transzendentallogisch) begründete Rangordnung zugunsten der Subjekt/ Objekt-Spaltung gegenüber der für den Selbstvergewisse-

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rungsprozeß gleicherweise konstitutiven Sollfist-Spaltung abzuzeichnen. Insofern man aber aus der Subjekt/Objekt-Spaltung, so wie sie bisher bestimmt und gefaßt ist, nämlich als sehender Vollzug des Wissens gegenüber dem gesehenen Produkt Wissen, allein und ohne stillschweigende Verschiebung oder weitere Durchdringung kein Wissen von einem Soll gewinnen kann, bleibt für das Soll gegenüber der soweit bestimmten Subjekt/Objekt-Spaltung noch eine eigenständige Quelle, und damit ist die Rangordnung zugunsten der Subjekt/Objekt-Spaltung in dieser genetisierenden Sicht wieder abzuweisen. Diese eigenständige Quelle (das 'Ausgehen auf' oder das 'Wollen', das aus keinem Objekt zu gewinnen ist) gibt die erste Begründung für die Behauptung einer relativ selbständigen zweiten Grundspaltung ab, bzw. für eine Priorität gleicher Art von 'Soll und Ist', wie sie oben der Subjekt/Objekt-Spaltung zuzustehen schien. Achtet man schließlich noch darauf, daß die Frage nach dem Wissen und ihre Beantwortung hier in einer sich mitteilenden Darstellung eines Individuums an andere erfolgt, so ist für den Gesamtakt der Darstellung des Selbstvergewisserungsprozesses als WL jedenfalls diese weitere Spaltung zwischen Subjekt und Subjekt als Individuen ebenso fundamental wie die bisher genannten. Man kann zwar unter anderem dagegen einwenden, daß die Darstellung für andere Individuen nicht notwendig zum Selbstvergewisserungsprozeß meiner selbst gehört; der Einwand setzt aber wieder gerade voraus, wogegen er sich wendet: nämlich mich selbst als bereits ausgegrenztes Individuum und damit eine interpersonale Relation in der Konstitution des Wissens, was eben die interpersonale Bedingtheit von Behauptung und Einwand nur bestätigt. Außer diesen hier in einer abgekürzten Teilbegründung miteinander verknüpften Differenzierungen finden sich in der folgenden WL-Darstellung eine Fülle weiterer Unterscheidungen, von denen hier ohne jede verknüpfende Erklärung einige genannt seien: Absolutes- Relatives, SeinExistenz, Wirklichkeit - Möglichkeit, Identität - Duplizität, unendliche Reflektierbarkeit- In-sich-Geschlossenheit,

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Glauben - Wissen, Etwas - Nichts, Grund - Folge, Begriff- Anschauung, Vernunft- Verstand, Intelligenz (umfassend Verstand und Vernunft) - Intuition, Nachkonstruktion- Vorkonstruktion, usw. Um sich in der Fülle von Differenzierungen, die in der WL nicht wie soeben ohne plausiblen Zusammenhang aneinandergereiht, sondern in wenigstens teilweise 47 rational zwingenden Übergängen eingeführt werden, nicht zu verwirren, bedürfte es einer sicheren Ordnung. Diese scheint sich auch im einsichtigen Aufweis der Beziehungen und ihrer Momente zu ergeben. Bei intensiver Auseinandersetzung mit Fichtes Darstellung der WL wird sich zwar die Nachvollziehbarkeit der Einsicht in den Zusammenhang der von ihm beigebrachten Momente ergeben. Was jedoch nicht unbedingt ebenso einsichtig erscheinen wird, ist das Beibringen der material geschiedenen Momente selbst und damit natürlich auch die Darstellungsfolge der Verknüpfungen. Wodurch die Vollständigkeit der material geschiedenen Momente (wie Subjekt, Objekt, Soll, Ist usw.) über die bloße ln-sich-Rückläufigkeit hinaus als in Wahrheit vollständig garantiert werden kann, bleibt hier ganz dahingestellt. Am Beispiel der oben dargelegten dreifachen Spaltung des Wissens in Subjekt/Objekt, Sollfist und Subjekt/Subjekt läßt sich wenigstens das Problem der Darstellungsfolge veranschaulichen: ich könnte die Beantwortung der Frage 'was ist das Wissen an sich' mit jeder der drei Spaltungen beginnen, und habe ich sie mit einer begonnen, mit jeder der beiden weiteren fortsetzen. Also etwa: ich ersehe, daß in der Frage nach dem Wissen eine Forderung nach Selbstvergewisserung erhoben wird, beginne also mit dem Soll in Relation zum Ist meines faktischen teilweise noch nicht Selbstvergewissertseins. Ich kann nun fortfahren damit, daß ich die Forderung als durch mein eigenes Aufwerfen der Frage begründet ersehe, also als subjektiv aktuierende WL 05 llrl ,3-4: "Ich geleitet durch den mir bekannten Lichtpunkt: Sie durch ein formales Schema"; vgl. WL 05 llrl ,14: "aus mir allein hier begreiflichen Gründen". 47

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Forderung (hier wird nun 'subjektiv' primär nicht von der Seite des Sehens, sondern des Wollens genommen) im Gegensatz zu einem objektiv abgesetzten Ergebnis derselben und hätte damit an zweiter Stelle meiner Darlegung eine Subjekt/Objekt-Spaltung aufgewiesen. Ich könnte aber ebensogut zunächst herausstellen, daß eine Forderung ihrem Wesen nach Wille ist. Insofern nun dieser Wille sich nicht absolut frei setzt, sondern sich selbst vorgegeben findet, ist er auch nicht absolut frei, die Frage nach dem Wissen nicht aufzuwerfen. Vielmehr findet er sich in Anspruch genommen durch diese Frage. Die Forderung muß also insofern auch noch Forderung eines anderen Willens als desjenigen sein, mit dem er sich faktisch identifiziert. Damit aber setzt er sich einen anderen Willen und in der Konsequenz ein anderes Subjekt entgegen und erfaßt sich so als interpersonal konstituiert. (In der zuletzt durchgeführten Argumentation wurde die Interpersonalität noch direkter als schon in einer Forderung oder einem Soll beschlossen sichtbar gemacht, als dies zuvor durch den Rückgriff auf den Selbstvergewisserungsprozeß in seiner Darstellung für Andere geschah.) Es geht hier aber nicht darum zu zeigen, wie in der WL der Zusammenhang von materialem Umfang und Rangordnung der Wissenskonstitutiva gelöst wird. Es geht vielmehr darum, diese Lösung als eine der wesentlichen Aufgaben der WL in ihrem Anspruch auf Vollendung, sofern damit auch die dargestellte formal-diskursive Vollständigkeit der Wissenskonstitutiva gemeint ist, vorzustellen. Das Problem der Darlegungsfolge wird sich spätestens einstellen, wenn man bei Fichte als Kriterium des richtigen Verständnisses seiner argumentierenden Ausführungen aufgestellt finden wird, daß man das in der WL-Darstellung nächstfolgende Theorem vorher zu erraten hat 48 • - Wie dann allerdings dieses von Fichte indizierte Erfordernis des Vorhererratens, das sich ja wohl wieder auf konstitutionslogische, also notwendige Verhältnisse gründen soll, mit der 48

WL 05 6r5,3-5.

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'Kunst des Schaffens und Findens' 49 , die ja wesentlich freie Hervorbringung ist, vereinbart werden kann, bleibt hier als Problem offen, zumal Fichte meines Wissens selbst keine eindeutige und klare Entscheidung trifft 50 • Als Vorgeschmack auf diese Probleme sei vorweggenommen, was Fichte nach mehr als zehnjähriger Arbeit an der WL rückblickend in unserem Text sagt: Durch ein bestimmtes "Reflektiren, wenn es nicht höchst vorsichtig vollzogen wird, kann man sehr leicht wieder auf die ersten Punkte, in denen man schon stand zurükgeworfen werden, woraus Cirkel, (u) Stillstand, des wissenschaftl[ichen] Fortganges, Ermüdung, Verdruß, u. wenn man nicht fest entschlossen ist, sein Leben an die Wissenschaft zu setzen, Verzweiflung an derselben (ent)stehen. Mir, in meinen eignen Spekulationen ist dies gewiß viel tausend mal begegnet; u. es hat mir gewiß mehrere Jahre meines Lebens gekostet. Wenn man nach durcharbeiteten Jahren sich wieder gerade da findet, wo man erst war: nicht müde wird, u. wieder ansezt" 51 • Die Äußerung soll zwar den Mut nicht lähmen, sich auf den Nachvollzug seiner Darstellungen einzulassen; wenn aber Fichte 1812 schließlich selbst sagt, daß die WL sehr kurz dargestellt werden kann 52 , erhebt sich natürlich die Frage, was denn in den bisherigen Darstellungen verzichtbar und was darin unverzichtbar ist und was davon denn nun tatsächlich vorher erratbar sein soll. 7.6. Die Hilfskonstruktion der 'Fünffachheit' zur Behauptung formal-diskursiver Vollständigkeit der WL Das in 7 .4. und 7 .5. bezeichnete Problem der Darstelli..mg des Wesens von Wissen in formal-diskursiver Vollständigkeit umfaßte über die ln-sich-Rückläufigkeit hinaus auch die Abzählbarkeit der grundlegenden Dimensionen und Hinsichten des Wissens und damit seiner zu unterscheidenden (materialen) Momente. 49 50 51 52

Vgl. Anmerkung 46. Vgl. dazu auch WL 05 6r6,2. WL 05 2lv0,1-3. WL 12 SW X S. 368.

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Da in den verschiedenen Fassungen der WL wiederholt Hinweise Fichtes auf eine 'Fünffachheit' bzw. 'Drei- oder Fünffachheit' der Synthesis des Wissens vorkommen und diese in späteren Interpretationen auch eine besondere Beachtung zur Erschließung des Verständnisses der WL gefunden haben, sei hier noch auf einige Schwierigkeiten hingewiesen, die Struktur des Wissens durch eine Zahl oder ein Zahlenverhältnis allgemeingültig zu fassen. Die Idee formal-diskursiver Vollständigkeit enthält zwar in einem reflektierten Verständnis ihrer selbst zum wenigsten eine Dreiheit unterschiedener geistiger Akte. Denn wenn Diskursivität besagt, daß schrittweise unterschieden wird, also wenigstens zwei Momente zugleich gesehen werden, dann ist die Behauptung, daß diese zwei in einer bestimmten Hinsicht auch alle und darum in einem 1\-ledium 'Einheit' aufeinander beziehbar sind, das Dritte, was mindestens an Unterschiedenem in der Idee diskursiver Vollständigkeit beschlossen ist. Die Mindestimplikation einer als vollständig behaupteten Strukturiertheit des Wissens ist also immer eine dreifach gegliederte 53 • Die Dreiheit als Mindestzahl oder Untergrenze stellt also kein Problem dar, wenn man sich einmal auf die Forderung formal-diskursiver Vollständigkeit der Wissenskonstitutiva eingelassen hat. Die Schwierigkeit liegt vielmehr darin, die abzählbare bzw. abgezählte Strukturiertheit des Wissens in seinem Grundwesen völlig einsichtig, d.h. mit einem allseitig gerechtfertigten Allgemeingültigkeitsanspruch bei mehr als drei Momenten als Obergrenze abzuschließen. Die eigentliche Wurzel dieser Schwierigkeit wurde bereits in 7 .4. an der Wechselbedingtheit der je bestimmten begrifflich-sprachlichen Darstellung des Wissens und der selbstschöpferischen Produktion der Mittel der Darstellung durch das Wissen sichtbar. Hier geht es nun darum, dieses Problem Kants Verteidigung der Trichotomie aller seiner systematischen Einteilungen Kritikern gegenüber (vgl. Kr.d.U. S. LVII Anmerkung) ist daher in der Voraussetzung der Systemphilosophie, daß es näm· lieh um diskursive Vollständigkeit der Erkenntnisprinzipien geht, als Mindestdifferenzierung einsichtigerweise unbestreitbar. 53

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auch hinsichtlich eines bestimmten in den WL-Darstellungen immer wieder vorkommenden Schemas für den kontrollierenden Nachvollzug der WL in Erinnerung zu halten. Wenn Fichte in der WL 04 2 die "Drei= oder Fünffachheit" als die in Zahlen ausgedrückte Strukturiertheit bzw. Strukturierbarkeit des Wissens einführt 54 , scheint das "oder" zu besagen, daß man seiner Ansicht nach formal-diskursive Vollständigkeit der Wissenskonstitutiva sowohl in einer Dreifachheit wie auch in einer Fünffachheit grundsätzlich abschließend darstellen kann. Das Problem wird deutlicher, wenn man die drei oder die fünf gezählten Momente inhaltlich angibt. Fichte hatte in der WL 04 2 in einem bestimmten Stadium die Einsicht in das wahre Wesen des Wissens als "schwebend"55 zwischen zwei verschiedenen Ansichten erblickt und aufgezeigt. Die beiden Ansichten bestanden darin, daß wir zum einen uns selbst als Bedingung aller Erkenntnis ansahen, indem nur dadurch, daß wir bestimmte geistige Akte vollzogen, sich uns bestimmte einsichtige Konsequenzen ergaben 56 , zum anderen ein von uns unabhängiges x (von Fichte "die von aller Willkühr und Freiheit und Ich durchaus unabhängige Vernunft" genannt 57 ), insofern wir nicht auf einen absoluten Erstvollzug unsrerseits rekurrieren konnten, der ausschließlich durch uns begründet wäre. Zwischen diesen beiden Ansichten also schwebt die 'Evidenz', und Fichte fährt fort: "Soll sie nun realiter construirt werden, so muß sie eben so construirt werden, also construirt werden als schwebend von a zu b, und wiederum von b zu a, und erschöpfend durchaus beides, also schweben'd wiederum zwischen dem zwiefachen Schweben. W[ as] d[ as] E[rste] w[äre] und eine Drei= oder Fünffachheit der Synthesis giebt. " 58 Durch die hypothetische Annahme "Soll [die zwischen beiden Ansichten schwebende Evidenz] construirt werden" 54 55 56 57 58

Vgl. WL 04 2 S. 41. ebd. WL 04 2 S. 39. WL 04 2 S. 40. WL 04 2 S. 41.

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und die stillschweigende Voraussetzung, daß dieses Konstruieren nicht ein ins Unendliche fortgehendes, sondern ein zum Stehen gebrachtes und damit in endlich vielen Schritten gefaßtes Konstruieren sein soll, bringt Fichte es in dem "so muß" zu einer "Drei= oder Fünffachheit der Synthesis". Dabei bezeichnet er nicht ausdrücklich, was jeweils mit 1, 2 und 3, bzw. insofern er Fünffachheit im Blick hat, mit 1 bis 5 gezählt werden soll. Für eine Zählung von 1 bis 3 bieten sich zunächst zwei Möglichkeiten in den von Fichte unmittelbar gesteckten Grenzen an. Dabei kommt in Frage, die Ansichten a (1) und b (2), das Schweben zwischen beiden als 3 zu zählen; wie auch das Schweben von a zu b (1), das Schweben von b zu a (2) und das Schweben zwischen dem zwiefachen Schweben als 3 zu veranschlagen. Für die Zählung von 1 bis 5 kann ich mit den beiden Ansichten als 1 und 2 beginnen, das Schweben von 1 zu 2 als 3, das Schweben von 2 zu 1 als 4 und das Schweben zwischen dem zwiefachen Schweben als 5 zählen. Es kommt hier nicht darauf an zu entscheiden, welche Zählung Fichte im Auge hatte 59 , sondern vielmehr darauf, die mehrfache Anwendbarkeit des Schemas herauszustellen, um deutlich zu machen, daß zwar eine formal-konstitutive Strukturgrenze (bei 3, bei 5 oder auch bei 7) zu gewinnen ist, daß diese jedoch für keine material-inhaltliche Besetzung zureichend dienen kann. Macht man Fichtes Voraussetzung, daß die zwischen zwei Ansichten schwebende Evidenz in einer drei- oder Für die Zuordnung der Dreifachheit zum reinen Schweben (genauer: dem Schweben zwischen dem zwiefachen Schweben) unter Außerachtlassung der beiden verschiedenen Ansichten spricht, was Fichte kurz vor der ersten Erwähnung der .,Drei= oder Fünffachheit" ausgeführt hatte: die verschiedenen Ansichten waren hinsichtlich ihres Einleuchtens gleich: .,beides leuchtet ein, beides daher ist gleich wahr;[ ... ] die Evidenz ruht weder in dem Einen, noch in dem Andem, sondern durchaus zwischen beiden. Wir haben daher [ ... ] hier das Princip der Sonderung, nicht [ ... ] zwischen zwei Gliedern, die denn doch an sich verschieden sein sollen [ ... ], sondern in einem absolut bei aller Sonderung innerlich sich selbst Gleichbleibenden". (WL 04 2 S. 41.) 59

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fünffachen Synthesis zu ihrer - zum Stillstand kommenden - Vollständigkeit gelangt, nicht mit, weil man das Schweben zwischen dem zwiefachen Schweben selbst wiederum als zwiefach oder in zwei Richtungen zerlegt erblickt, so kommt man durch Zählung an diesem zwiefachen Schweben zwischen dem zwiefachen Schweben analog der "Drei= oder Fünffachheit" je nach gezählten Momenten auf eine Fünf- oder Siebenfachheit60 • Diese Prozedur kann ich nun beliebig zu einer Sieben- oder Neunfachheit, zu einer Neun- oder Elffachheit usw. fortsetzen. Verweist man auf die sich offensichtlich einstellende Leerheit der formalen Steigerung, so muß gerade die prinzipielle Grenze zwischen einer noch inhaltlich bedeutungsvollen und einer schon leeren Iteration genau angehbar sein. Und in der Tat gibt es auch eine solche 'inhaltlich' begründete Fixierung auf Fünf- oder Siebenfachheit der Wissenskonstitution, die aus einer bestimmten, auf Selbstvergewisserung gerichteten Reflexion entspringt. Sie basiert auf der Voraussetzung, die notwendig im Willen- soweit überhaupt in der Möglichkeit- zur Selbstvergewisserung beschlossen liegt, nämlich in der Voraussetzung einer tatsächlichen Abschließbarkeit des Selbstvergewisserungsprozesses. Objektiviere ich diese Voraussetzung, so habe ich im Prinzip dasjenige vor mir, was man Wissen vom Wissen oder das System des Wissens nennt. Nun ist es allerdings so, daß diese auf Selbstvergewisserung gerichtete Reflexion selbst von einer Problematizität, einem Schwanken, Schweben oder einem Zweifel ausgeht bzw. erst daraus entsteht. Denn die Selbstvergewisserung ist ja noch nlcht erreicht, sondern soll erst in einem Prozeß erreicht werden. Der Einwand, daß die Fünf- oder Siebenfachheit gegenüber der Drei- oder Fünffachheit nichts Neues mehr biete, trifft streng formal nicht zu. Denn in demselben Maße, in dem das Schweben (3) zwischen zwei Ansichten (1/2) zu einem Schweben (5) zwischen einem Schweben (3/4) zwischen zwei Ansichten (1/2) und abermals zu einem Schweben (7) zwischen einem Schweben (5/6) zwischen einem Schweben (3/4) zwischen zwei Anskilten (1/2) weiterdifferenziert wird, modifizieren sich auch die abzählbaren voneinander - sei es auch nur durch Iteration immer desselben Verfahrens - unterschiedenen Momente. 60

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Gehe ich nun - mit dem Ziel, das vorausgesetzte System des Wissens im Wissen schrittweise einzuholen - von einem Zweifel, ob etwas so oder anders bzw. so oder nicht so ist, als den Ansichten 1 und 2 aus und kann mich weder in 1 noch in 2 vergewissern oder zur Ruhe kommen (was eben gerade Zweifel besagt), so bleibt mir die Möglichkeit, mich auf das Zweifeln als das 'Zwischen' (3) selbst zu richten und zu prüfen, ob und gegebenenfalls was dieses Zweifeln denn nun selbst sei. Ersehe ich nun ferner, daß der Zweifel von mir praktiziert wird, so komme ich zu der Einsicht: ich bin zwezfelnd (oder: im Zweifel) (4). Bezogen auf die Voraussetzung einer tatsächlichen Abschließbarkeit des Selbstvergewisserungsprozesses im System, mache ich jedoch hier nur die tatsächliche ( d. i. die einfach faktische im Gegensatz noch zur apodiktischen) Feststellung, daß ich zweifelnd existiere. Frage ich weiter, ob ich dieses Zweifelsein nicht vermeiden kann, so setze ich mich- wenigstens im Versuch- in Distanz zu meinem z~eifelnden Existieren (5). Indem ich schließlich ersehen kann, daß dieser Versuch, die Spannung zwischen zweifelndem Existieren und mir selbst (als versuchend) durch ein Dazwischentreten aufzulösen, selbst ein erneutes- gegenüber dem Zweifel (3) 'Zwischen' vollzieht (6) und dieses Zwischen mit seiner Iteration nichts Neues mehr erbringt als die Iteration selbst, komme ich zu dem Abschluß dieses Prozesses in der Einsicht, daß, wenn ich zweifle, ich über alle unendliche Iterierbarkeit dieses Zweifelns immer auch schon - und darin eben zweifelsfrei -also notwendig bin ( 7). Erst am Übergange von 5/6 einerseits nach 7 andrerseits wird der Unterschied zwischen der prinzipiellen Iterationsfähigkeit des Bewußtseins in formal-unendlicher Weise und der Einsicht in die beginnende Leerheit dieser Operation als aber selbst 'inhaltlich' noch notwendiges l\'1oment offenbar. Zählt man nun von diesen Argumentations- und Reflexionsvollzügen nicht die einzelnen isolierten Momente, sondern die aufeinander gestuften Reflexionsebenen und läßt die beiden Momente der Ausgangsantithetik beiseite, so kann man tatsächlich von einer siebengliedrigen Gege-

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benheit als einer auf eine Fünffachheit reduzierte Struktur sprechen 61 • 7. 7. Die Vervielfältigung der Wissensstruktur durch Kombination mit anderen Wissenskonstitutiva Allerdings sind damit die Formalisierungsmöglichkeiten einer "Drei= oder Fünffachheit" der Konstitution von Bewußtsein keineswegs erschöpft. Sie bleiben vielmehr kraft des Gesetzes der unendlichen Reflektierbarkeit (aus Freiheit) selbst unendlich, solange Freiheit existiert und sich darauf einlassen will. Hier soll nur mehr an das in 7.4. und 7.5. näher bestimmte Problem wieder angeknüpft werden. Die beiden verschiedenen Ansichten, daß wir Bedingung der Erkenntnis seien-und daß es nicht wir, sondern ein von uns unabhängiges x·sei, lassen sich in die Formel der Differenz von Denken und Sein (D - S) oder als idealistisches und realistisches Prinzip fassen. Fordert man über die faktische Feststellung dieser Prinzipien von 'Welt und Bewußtsein' hinausgehend Einsicht in ihre Begründung, indem man die bloß faktische Feststellung dieser Prinzipien für die "Lösung des Räthsels der Welt und Für die rein formale Konstruktion bleibt auf eine in der Zählung der Fünffachheit noch immer enthaltene Unschärfe kritisch hinzuweisen: Die Ausgangsmomente wurden als auf einer Basisebene für die Reflexion stehend betrachtet. Untersuche ich diese Voraussetzung selbst auf ihre Haltbarkeit in ihrer genetischen Konstitution und der dieser entsprechenden Rekonstruktion, so können neue· Probl,eme entstehen: Der Zweifel, ob etwas rot oder grün (so oder anders) ist, richtet sich auf eine Alternative, die zunächst ohne weiteres als in einer Basisebene liegend betrachtet werden kann. Der Zweifel dagegen, ob etwas so oder nicht so ist, richtet sich auf etwas, das ursprünglich nicht auf einer Reflexionsebene liegt. Denn die Negation setzt die Position voraus, während man von einer Position nicht in derselben Hinsicht behaupten kann, daß sie eine andere Position voraussetze. Für den Nachweis der bestimmten Fünffachheit kam es nur darauf an, die Momente der Ausgangsantithetik als auf einer Ebene liegend zu betrachten, gleichgültig, ob sie in einer anderen möglichen Betrachtungsweise als vor- bzw. nachrangig zueinander zu behaupten sind. 61

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des Bewußtseyns"62 nicht als zureichend anerkennt, so ergibt sich neben der Differenz zwischen D und S eine weitere Differenz zwischen einem mit der Forderung selbst hervorgebrachten sich selbst auferlegten Soll und einem sich selbst vorgegebenen Ist (Faktum). Ich muß also perspektivisch hier eine in den zwei Ausgangsmomenten (nämlich in Soll und Faktum) andere Fünffachheit statuieren, als das Schweben zwischen dem Schwe~ ben zwischen zwei verschiedenen Ansichten (D und S). Diese formale Wiederholung des (hier nicht weiter ausgeführten) Schemas der Fünffachheit- jetzt nicht unter dem Aspekt des Verhältnisses von Sein und Denken, sondern unter dem von Soll und Faktum - kommt jedoch gerade dadurch zustande, daß eine bestimmte daraufhin angelegte Argumentation durchgeführt wurde. Es bieten sich aber eben noch weitere materiale Aspekte dafür an: Erinnern wir uns z.B. daran, daß die Ausführungen der WL-Darstellung zur Mitteilung an Andere gema