Wissenschaftsfreiheit. Warum dieses Grundrecht zunehmend umkämpft ist [1. ed.] 9783848784295, 9783748928058

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Wissenschaftsfreiheit. Warum dieses Grundrecht zunehmend umkämpft ist [1. ed.]
 9783848784295, 9783748928058

Table of contents :
Cover
Hochschulen in den 2020er-Jahren. Intellektuelle Vielfalt oder intellektuelle Lockdowns?
I. Empirische, philosophische und juristische Perspektiven
Die »Cancel Culture«-Hypothese auf dem empirischen Prüfstand
Umkämpfte Wissenschaft, komplizierte Freiheit. Ein philosophischer Beitrag zur Debatte um die Lage der Wissenschaftsfreiheit
Wissenschaftsfreiheit in Zeiten der Anfechtung. Bestand und Gefährdungen des Art.5 Abs.3 Satz1 GG
Der Streit um die Grenzen des Sagbaren an Hochschulen im Lichte von Meinungsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit. Oder: Wie ein Grundrecht funktioniert
II. Disziplinäre und thematische Perspektiven
Vom Verlust der sozialen Realitäten von Religionen – Kennzeichen einer »woken« Religionswissenschaft
Das Verschwinden des Pluralismus. Hegemoniale Diskurse in der Migrationsforschung und die Wissenschaftsfreiheit
Affiziert von den aktivistischen Anfängen. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der Konstitutionsphase der Gender Studies
Gefühlte Wahrheiten. Wie LGBTI-Aktivismus die Wissenschaftsfreiheit bedroht
Cancel-Culture-Skeptiker. Über die ideologischen Konturen eines Sozialphänomens und seine akademischen Folgen
Wie der politische Gebrauch von Wissenschaft die Wissenschaftsfreiheit unterminiert
III. Internationale Perspektive
Inklusivität und die Grenzen der Wissenschaftsfreiheit. Zur Wiederkehr der »repressiven Toleranz«
Autorinnen und Autoren dieses Bandes

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ZfP

Zeitschrift für Politik

Sandra Kostner (Hrsg.)

Wissenschaftsfreiheit Warum dieses Grundrecht zunehmend umkämpft ist

Sonderband 10

ZfP Zeitschrift für Politik

3/2022

Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und Richard Schmidt

Seite 263 – 390

69. Jahrgang

Herausgeber: Prof. Dr. Maurizio Bach, Universität Passau; Prof. Dr. Nils Goldschmidt, Universität Siegen; Prof. Dr. Anna-Bettina Kaiser, Humboldt-Universität zu Berlin; Prof. Dr. Jens Loenhoff, Universität Duisburg-Essen; Prof. Dr. Carlo Masala, Universität der Bundeswehr München; Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Oberreuter, Universität Passau; Prof. Dr. Joachim Scholtyseck, Universität Bonn; Prof. Dr. Roland Sturm, Universität ErlangenNürnberg; Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig, Universität Passau Redaktion: Dr. Andreas Vierecke, München Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Dr. Manfred Brocker; Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle; Prof. Dr. Hans Mathias Kepplinger; Prof. Dr. Peter Graf Kielmansegg; Prof. Dr. Sabine Kropp; Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Lübbe; Prof. Dr. Harvey C. Mansfield; Prof. Jan-Werner Mueller, PhD.; Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin; Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Jürgen Papier; Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber; Prof. Dr. Fritz Plasser; Prof. Dr. Alois Riklin; Prof. Dr. Manfred G. Schmidt; Prof. Dr. Kristina Spohr; Prof. Dr. Tine Stein; Prof. Dr. Charles Taylor; Prof. Dr. Christian Waldhoff

Inhalt Valentyna Romanova und Andreas Umland Innen- und geopolitische Dimensionen ukrainischer Dezentralisierung: Die Kommunalreform der Ukraine und postsowjetische Demokratisierung ..... 265

Zeitschrift für Politik

Marco Bitschnau Sonderband 10 populistisches Schein-rising ................................ 287 Populistische Scheinriesen, Veith Selk und Jörg Kemmerzell Positionen zu Nachhaltigkeit im rechten politischen Denken: Fundamentalpolitisierung, Neutralisierung und retrograde Adaption ............. 303

Zum Thema: Deutsch-griechische Zeitgeschichte Chrysa Vachtsevanou Die Wiege der Demokratie »im Gips«: Die westdeutsche Außenpolitik gegenüber der griechischen Militärdiktatur (1967–1974) ................................ 319 Frank Bösch Deutsch-griechischer Protest: Öffentliches Engagement gegen Griechenlands Diktatur in der Bundesrepublik (1967–1974) ................................................ 336 Hans Peter Schunk Von Haar-Razzien, Polit-Pornographen und freislerischen Eisenfressern: Die Auseinandersetzung der deutschen Presse mit der griechischen Militärdiktatur (1967–1974) ........................................................................................... 355 Buchbesprechungen mit Verzeichnis ......................................................... 374

ZfP 69. Jg. 3/2022

Sandra Kostner (Hrsg.)

Wissenschaftsfreiheit Warum dieses Grundrecht zunehmend umkämpft ist

Sonderband 10

Nomos

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-8429-5 (Print) ISBN 978-3-7489-2805-8 (ePDF)

1. Auflage 2022 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt Hochschulen in den 2020er-Jahren. Intellektuelle Vielfalt oder intellektuelle Lockdowns? ..........................................................................................

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Sandra Kostner I. Empirische, philosophische und juristische Perspektiven ............................

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Die »Cancel Culture«-Hypothese auf dem empirischen Prüfstand ...................

33

Richard Traunmüller Umkämpfte Wissenschaft, komplizierte Freiheit. Ein philosophischer Beitrag zur Debatte um die Lage der Wissenschaftsfreiheit .......................................

55

Marie-Luisa Frick Wissenschaftsfreiheit in Zeiten der Anfechtung. Bestand und Gefährdungen des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ...........................................................................

73

Arne Pautsch Der Streit um die Grenzen des Sagbaren an Hochschulen im Lichte von Meinungsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit. Oder: Wie ein Grundrecht funktioniert ...........................................................................................

91

Christian von Coelln II. Disziplinäre und thematische Perspektiven .............................................

105

Vom Verlust der sozialen Realitäten von Religionen – Kennzeichen einer »woken« Religionswissenschaft ................................................................

107

Inken Prohl Das Verschwinden des Pluralismus. Hegemoniale Diskurse in der Migrationsforschung und die Wissenschaftsfreiheit .......................................

131

Stefan Luft Affiziert von den aktivistischen Anfängen. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der Konstitutionsphase der Gender Studies ..............................

147

Barbara Holland-Cunz Gefühlte Wahrheiten. Wie LGBTI-Aktivismus die Wissenschaftsfreiheit bedroht Alexander Zinn

165

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Inhalt ·

Cancel-Culture-Skeptiker. Über die ideologischen Konturen eines Sozialphänomens und seine akademischen Folgen ........................................

6

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Vojin Saša Vukadinović Wie der politische Gebrauch von Wissenschaft die Wissenschaftsfreiheit unterminiert ..........................................................................................

203

Michael Esfeld III. Internationale Perspektive ..................................................................

219

Inklusivität und die Grenzen der Wissenschaftsfreiheit. Zur Wiederkehr der »repressiven Toleranz« ............................................................................

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Russell A. Berman

Autorinnen und Autoren dieses Bandes ......................................................

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Sandra Kostner

Hochschulen in den 2020er-Jahren. Intellektuelle Vielfalt oder intellektuelle Lockdowns? Zusammenfassung Die Dogmen der identitätslinken Läuterungsagenda haben in den letzten Jahren in allen Fachbereichen, auf denen das Augenmerk ihrer Vertreter liegt, zu spürbaren Verengungen des intellektuellen Klimas an den Hochschulen geführt. Der Grund dafür ist, dass die Vertreter der Läuterungsagenda bestrebt sind, den Wissenschaftsbetrieb zu ideologisieren, zu politisieren und zu moralisieren. Forschung und Lehre dienen ihnen in erster Linie als Instrumente zur agendakonformen Gestaltung der Gesellschaft. Nicht agendakonforme Forschung und Lehre wird mit dem wissenschaftsfremden Mittel der moralischen Diskreditierung delegitimiert. Dieser Beitrag beleuchtet, war­ um der Läuterungsagenda die Einschränkung von Freiheitsrechten inhärent ist. Zudem zeigt er anhand einer Reihe an ausgewählten Beispielen auf, wie durchdrungen das Wissenschaftssystem mittlerweile von den Dogmen dieser Agenda ist. Summary: Universities in the 2020s. Intellectual diversity or intellectual lockdowns? In recent years, the dogmas of the identity-left’s redemption agenda have had a re­ stricting impact on the intellectual climate at universities in all disciplines on which the attention of their representatives is focused. The reason for this is that the rep­ resentatives of the redemption agenda strive to ideologize, politicize, and moralize academia. Research and teaching serve them primarily as tools for shaping society in accordance with their agenda. Research and teaching that does not conform to the agenda is delegitimized by the non-scientific means of moral discrediting. This paper illuminates why imposing restrictions on liberties is inherent in the redemption agenda. In addition, it uses a number of selected examples to show how permeated academia has already become by the dogmas of this agenda. Keywords: Agendawissenschaftler, Concept Creep, Diversität, Ergebnisgleichheit, Identitätspolitik, Normierung, Wissenschaftsfreiheit Dr. Sandra Kostner ist Geschäftsführerin des Masterstudiengangs Interkulturalität und Integration an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Korrespondenzanschrift: [email protected]

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1. Hochschulleitungen und Wissenschaftsfreiheit Unduldsamkeit gegenüber Andersdenkenden ist typisch für Menschen, deren Ziel die ideologiegesteuerte Umgestaltung der Gesellschaft ist. Befinden sich diese Menschen in einer gesellschaftlichen Randposition, bleibt ihr transformatorisches Bestreben ohne nennenswerte Auswirkungen auf das Diskursklima. Schaffen sie es aber, Schlüsselposi­ tionen in der Politik, in der Wissenschaft und in den Medien zu besetzen oder auf diese Bereiche Druck auszuüben, lässt ein repressiver werdendes Diskursklima nicht lange auf sich warten. Denn sie versuchen dann offensiv, alle Meinungsäußerungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse zu unterdrücken, die nicht mit ihrer Weltanschauung konform gehen. Insbesondere an den Hochschulen ist in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme an Intoleranz gegenüber Andersdenkenden zu verzeichnen. Davon betroffen sind so­ wohl Wissenschaftler als auch Studierende. Die Intoleranz, die in stark betroffenen Fachbereichen – allen voran in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften – be­ reits ein Klima der intellektuellen Unfreiheit hervorgebracht hat, zeigt sich unter ande­ rem an der Aggressivität, mit der die Absage von Veranstaltungen mit Gastrednern gefordert wird, die ideologisch »inopportunen« Forschungsfragen nachgehen, deren Forschung »missliebige« Ergebnisse hervorgebracht hat oder die in der Vergangenheit in irgendeiner Weise mit Äußerungen gegen eine ideologische Doktrin verstoßen ha­ ben.1 Finden solche Veranstaltungen dennoch statt, kommt es immer wieder zu massiven Störungen, wie 2012 an der Universität Bremen, als im Rahmen einer Ringvorlesung mit dem Titel »20 Jahre Asylkompromiss« zu einer Gesprächsrunde neben Cornelia Schmalz-Jacobsen (FDP und ehemalige Ausländerbeauftragte der Bundesregierung), Dieter Wiefelspütz (langjähriger innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfrakti­ on) und Konrad Weiß (ehemaliges Bundestagsmitglied von Bündnis 90/Die Grünen), der frühere bayerische CSU-Innenminister Günther Beckstein eingeladen war. Ge­ waltbereite Störer aus der autonomen Szene erzwangen den Abbruch der Veranstal­ tung, indem sie einen ohrenbetäubenden Lärm machten, Wurfgeschosse einsetzten und letztlich zum Podium vordrangen, um »ihr Hassobjekt Günther Beckstein zu attackie­ ren«, was die Polizei gerade noch verhindern konnte.2 Die Diskutanten, allen voran Beckstein, wurden als »Nazis« verunglimpft. Das auf moralische Delegitimierung an­ statt auf Diskurs setzende Agieren der Störer wurde auch durch ein hochgehaltenes Transparent unterstrichen, auf dem der Schriftzug prangte: »Bleiberecht für alle! Ras­

1 Beispiele dafür finden sich in der Falldokumentation des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit e.V.: https://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/dokumentation/. Eine weitere Fall­ dokumentation wurde von Wilhelm Hopf erstellt: Wilhelm Hopf (Hg.), Die Freiheit der Wissenschaft und ihre ›Feinde‹, Münster 2019. 2 Stefan Luft, »Bremen. Der Gewalt weichen – der Umgang mit den Feinden der offenen Ge­ sellschaft« in: Wilhelm Hopf (Hg.), Die Freiheit der Wissenschaft und ihre ›Feinde‹, Münster 2019, S. 87–91, hier S. 88f.

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sist_innen vom Podium schubsen!«3. Die moralische Verurteilung von Diskutanten, die 1992 am Asylkompromiss beteiligt waren, als »Nazi« und »Rassist« diente den Störern offenbar dazu, Gewalt gegen diese Personen zu legitimieren. In anderen Fällen wurden sogar institutionelle Bestrafungen von Wissenschaftlern gefordert, die »missliebige« Referenten eingeladen hatten. Das geschah beispielswei­ se im Sommersemester 2019, als die Ethnologin Susanne Schröter, Leiterin des For­ schungszentrums Globaler Islam an der Goethe-Universität Frankfurt, Referentinnen zu einer Konferenz zum islamischen Kopftuch einlud, die diesem kritisch gegenüber­ stehen. Anonyme Aktivisten forderten in den Sozialen Medien nicht nur die Absage der Konferenz, sondern auch Schröters Entlassung. Die Begründung: Schröter wür­ de mit der Konferenz »Das islamische Kopftuch – Symbol der Würde oder der Un­ terdrückung?« antimuslimischem Rassismus Vorschub leisten. Die Forderungen der Aktivisten wurden nicht erfüllt, im Gegenteil: die damalige Präsidentin der GoetheUniversität Brigitta Wolff und der AStA stellten sich ausdrücklich hinter Schröter. Dennoch mussten für die Frankfurter Konferenz wie auch für die Veranstaltung in Bremen Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden. Allein dieser Umstand wirkt sich darauf aus, ob Wissenschaftler zukünftig Veranstaltungen planen, bei denen sie davon ausgehen müssen, dass Polizeischutz vonnöten ist.4 Einen erheblichen Einfluss darauf, ob Wissenschaftler ihr Recht auf freie Forschung und Lehre auch dann in Anspruch nehmen, wenn es um »protestanfällige« Themen geht, haben Hochschulleitungen und der Kollegenkreis. Halten sie die Wissenschafts­ freiheit hoch, fördert das ein intellektuelles Klima der Freiheit und damit letztlich auch intellektuelle Vielfalt. Senden sie ambivalente Signale, wie das Rektorat der Universität Bremen, das einerseits in einer Presseerklärung das Agieren der Störer »auf das Schärfste« verurteilte, andererseits aber keine Anzeigen gegen die militanten Aktivisten erstattete, sodass deren Gewaltbereitschaft folgenlos blieb, steigt die Wahr­ scheinlichkeit, dass an der betroffenen Universität Wissenschaftler Abstand von der Durchführung potenziell »protestanfälliger« Veranstaltungen nehmen.5 Der von einer erfolgreichen Veranstaltungsverhinderung ausgehende Chilling Effect ist nicht zu un­ terschätzen – auch über den betroffenen Fachbereich oder die Universität hinaus, an der es zu Störungen und zu verhinderten Veranstaltungen kam. Es wird jedoch nicht nur Stimmung gegen etablierte Wissenschaftler wegen ideolo­ gisch »missliebiger« Forschungs- und Vortragsthemen gemacht, sondern auch gegen Nachwuchswissenschaftler. Anfang Juli 2022 war Marie-Luise Vollbrecht, Biologie­ doktorandin an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) von einer solchen Stim­ 3 Anke Kültür, »Wie Günther Beckstein aus dem Hörsaal gebrüllt wurde (2012)« in: buten un binnen, 6. Dezember 2012: https://www.butenunbinnen.de/videos/beckstein-uni-bremen-rev olte-asyl-100.html. 4 »Universität Frankfurt – Kopftuch-Konferenz findet trotz Internet-Kampagne statt« in: Deutschlandfunk, 8. Mai 2019: https://www.deutschlandfunk.de/universitaet-frankfurt-kopft uch-konferenz-findet-trotz-100.html. 5 Luft, »Bremen. Der Gewalt weichen – der Umgang mit den Feinden der offenen Gesell­ schaft«, aaO. (FN 2), S. 89; Cornelia Schmalz-Jacobsen, »Topfdeckel statt Diskussion« in: Wilhelm Hopf (Hg.), Die Freiheit der Wissenschaft und ihre ›Feinde‹, Münster 2019, S. 92f.

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mungsmache betroffen. Vollbrecht stand im Vortragsprogramm der von der HU aus­ gerichteten »Langen Nacht der Wissenschaft«. Der Titel des Vortrags war: »Geschlecht ist nicht gleich Geschlecht – Sex, Gender und warum es in der Biologie nur zwei Ge­ schlechter gibt«. Nachdem ein »Arbeitskreis kritischer Jurist*innen« (akj Berlin) zum Protest vor dem Hauptgebäude der HU aufgerufen hatte, den der Referent_innenrat (AStA) unterstützte, entschloss sich die Ausschreitungen fürchtende Hochschulleitung den Vortrag abzusagen. In einer Pressemitteilung gab der Referent_innenrat als Pro­ testgründe an, dass die von Vollbrecht vertretene Annahme, dass es in der Biologie nur zwei Geschlechter gebe, »nicht nur unwissenschaftlich, sondern auch menschen­ verachtend und queer- und trans*feindlich« sei.6 Die Pressesprecherin des akj Berlin bekräftigte diesen Vorwurf und bezeichnete es als skandalös, dass die HU »einer bekanntermaßen trans*feindlichen Referentin eine Bühne« biete und das auch noch, ohne deren Position in eine Diskussion einzubetten, »in der eine Gegenmeinung vertreten werden kann«. Sie stellte zudem die Behauptung auf, dass Vollbrecht eine »überkommene biologistische und starr zweigeschlechtliche Sichtweise« vertrete, »die heute auch in der Biologie eine Randmeinung« darstelle.7 Vollbrecht machte den Vorgang öffentlich. Die überwiegend das Vorgehen der HU kritisierende Presseberichterstattung trug dazu bei, dass Vollbrecht ihren Vortrag zwei Wochen später halten konnte. Im Anschluss an den Vortrag gab es eine Podiumsdis­ kussion zum Thema »Meinung, Freiheit, Wissenschaft – der Umgang mit gesellschaft­ lichen Kontroversen an Universitäten«, an der auch der Präsident der HU, Peter Frensch, teilnahm. Seine in dieser Runde geäußerte Ankündigung, »Forscher der In­ stitution, die öffentliche Vorträge hielten, demnächst ›besser zu evaluieren und zu scannen‹«8, legt nahe, dass Wissenschaftlern, die »protestanfällige« Themen bearbeiten, an der HU – um die Redewendung vieler Aktivisten zu verwenden – dort »kein Podium« mehr geboten wird; zumindest nicht, wenn diese von der Universität nicht als »wirkliche Experten, Expertinnen, Profis auf dem Gebiet«9 eingestuft werden, was wohl heißt, dass »umstrittene« Themen bearbeitende Nachwuchswissenschaftler bei öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen wie der »Langen Nacht der Wissenschaft« keine Vorträge mehr halten werden. Darüber hinaus hat sich die Universität inhaltlich positioniert, was einem symmetrischen Klima der Freiheit, also eines Klimas, in dem sich alle Seiten gleichermaßen frei fühlen können, ihre Thesen zu äußern, abträglich ist. So antwortete Frensch auf die Wortmeldung eines Mitglieds des akj, das mutmaßte, Vollbrecht würde ihre wissenschaftlichen Ansichten »›vielleicht‹ nur aus ›transfeindli­ cher Ideologie‹« äußern, dass er dieser Vermutung »›durchaus etwas abgewinnen‹«

6 Refrat, »Pressemitteilung: Studierende geschlossen gegen Trans*feindlichkeit – Gegenprotest gegen Marie Luise Vollbrecht«: https://www.refrat.hu-berlin.de/article/pm.kundgebung.akj.ht ml. 7 Refrat, »Pressemitteilung«, aaO. (FN 6). 8 Thomas Schmoll, »›Geschlechter gibt es nur zwei‹ – die Widerrede folgt sofort« in: WELT Online, 15. Juli 2022: https://www.welt.de/politik/deutschland/plus239926193/Marie-LuiseVollbrecht-Geschlechter-gibt-es-nur-zwei-die-Widerrede-folgt-sofort.html. 9 Schmoll, »›Geschlechter gibt es nur zwei‹ – die Widerrede folgt sofort«, aaO. (FN 8).

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könne.10 Noch eindeutiger positionierte sich die Pressesprecherin der HU in einem Gespräch mit der Berliner Zeitung. Bezugnehmend auf einen Anfang Juni 2022 in der WELT veröffentlichten Gastbeitrag, den Vollbrecht mitverfasst hatte, in dem ARD und ZDF ein affirmatives Aufgreifen der Positionen von Transaktivisten in Kinder­ sendungen vorgeworfen wurde, sagte sie, dass Vollbrechts dort geäußerte Positionen, »nicht im Einklang mit dem Leitbild der HU und den von ihr vertretenen Werten« stünden, weshalb sich die Universität »von dem Artikel und den darin geäußerten Meinungen ausdrücklich« distanziere. Damit greift die Universität zwar nicht in die Wissenschaftsfreiheit von Vollbrecht ein. Sie bereitet aber den Boden für ein Klima, in dem jeder, der Vollbrechts Position teilt, weiß, dass die Universität sich von ihm distanzieren und ihm vorwerfen wird, gegen ihre Werte zu verstoßen.11 Für die wissenschaftliche Laufbahn folgenschwerer sind häufig die Fälle, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen oder erst an die Öffentlichkeit dringen, wenn die be­ troffene Person einen Karriereschaden erlitten hat. Das öffentliche Bekanntmachen von Fällen ist für die betroffenen Wissenschaftler ein zweischneidiges Schwert, vor allem dann, wenn sie zu den gut 81 Prozent der befristet beschäftigten Wissenschaft­ ler gehören. Einerseits geht mit der Veröffentlichung oft ein Schutz einher (siehe Vollbrecht), weil die Bevölkerungsmehrheit intellektuellen Normierungsbestrebungen kritisch gegenübersteht. Andererseits wird der Betroffene dergestalt als »umstrittener« Wissenschaftler bekannt, was nicht unbedingt karriereförderlich ist. Vor dieser sorgsa­ men Abwägung von Konsequenzen für das eigene Vorankommen im Wissenschaftsbe­ trieb stehen die Betroffenen in erster Linie dann, wenn auf ideologische Normierung bedachte Kollegen, Studierende oder externe Aktivisten nicht öffentlich agieren, son­ dern sich intern an die Leitungsebenen wenden, um den Betroffenen als jemanden anzuprangern, der »problematische« Positionen vertritt. Als »problematisch« werden zumeist Äußerungen angeprangert, die von spezifischen identitätspolitischen Dogmen abweichen, was sich an den zur Stigmatisierung eingesetzten Etikettierungen zeigt, bei denen »rassistisch«, »islamophob«, »sexistisch« sowie »queer- und transfeindlich« auf den vorderen Plätzen liegen. 10 Schmoll, »›Geschlechter gibt es nur zwei‹ – die Widerrede folgt sofort«, aaO. (FN 8). 11 »Vortrag über Geschlecht und Gender abgesagt: Alle Hintergründe zum Vorfall« in: Berliner Zeitung, 3. Juli 2022: https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/vortrag-ueber-ges chlecht-und-gender-abgesagt-alle-hintergruende-zum-vorfall-li.242834. Vollbrecht war nicht die einzige, die für die Unterzeichnung des Aufrufs gegen die Transberichterstattung im ÖRR in die Kritik geriet. Auch gegen andere Unterzeichner gab es Mobilisierungen vonsei­ ten hochschulinterner Gruppen, die dem Unterzeichner/ der Unterzeichnerin vorwarfen, »rechte und transfeindliche Narrative« zu verbreiten, und damit begründeten, warum sich Hochschulleitungen vom Unterzeichner/ der Unterzeichnerin öffentlich distanzieren sollen. In einem Fall wurde eine Person sogar von einem Mitglied der Hochschulleitung aufgefor­ dert, die Unterschrift »unverzüglich zu entfernen«. Interessanterweise betonten diejenigen, die zur Distanzierung beziehungsweise zur Entfernung der Unterschrift aufriefen, dass Mei­ nungs- und Wissenschaftsfreiheit hohe schützenswerte Güter seien und dass ihre Forderung nicht als Eingriff in diese zu verstehen sei, sondern dem Schutz vulnerabler »Trans*men­ schen« diene. [Die Autorin dieses Beitrags hat als Vorsitzende des Netzwerks Wissenschafts­ freiheit e.V. Kenntnis von diesen Fällen. Die Betroffenen wollen diese nicht namentlich öf­ fentlich machen.]

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Gerade der Vorwurf der »Queer- und Transfeindlichkeit«, wahlweise der »Trans­ phobie«, hat jüngst stark zugenommen und rückt zunehmend ins Zentrum aktivisti­ scher Kampagnen gegen Hochschulangehörige, die es wagen, an identitätspolitischen Doktrin Kritik zu üben, indem sie, wie beispielsweise die Wirtschaftsjuristin Alessan­ dra Asteriti, darlegen, dass »die körperliche Unterscheidung von Männern und Frauen im internationalen Recht wichtig sei«, um die »Ausbeutung, Unterdrückung oder Benachteiligung von Frauen« überhaupt abbilden zu können.12 Asteriti brachte diese Überlegungen 2019, als sie Juniorprofessorin an der Leuphana Universität Lüneburg war, auf Twitter zum Ausdruck. Das war der Startschuss einer »Rufmordkampagne«13 gegen sie. Eine größere Öffentlichkeit erreichte ihr Fall erst im September 2022 durch einen Artikel in der FAZ, und damit zu einem Zeitpunkt, an dem sie die Universität schon verlassen hatte, weil ihre Juniorprofessur nicht verlängert worden war. Wie so oft in diesen Fällen, ist nicht eindeutig nachweisbar, dass der Stellenverlust auf aktivistische Kampagnen zurückgeht. Die Wahrscheinlichkeit darf jedoch aller Erfah­ rung nach als gering angesehen werden, dass der von Aktivisten über einen längeren Zeitraum immer wieder auf die Hochschulleitung ausgeübte Druck, Asteriti – die in Schreiben an die Leitung unter anderem als »transfeindlicher Unmensch« beschrieben wurde, von dem eine »große Gefahr« für die Studierenden ausgehe – zu entlassen, gänzlich wirkungslos blieb.14 Anstatt klar Stellung zu beziehen und Asteritis Recht auf Wissenschaftsfreiheit zu verteidigen, hat sich die Universitätsleitung offensichtlich für eine Mischung aus Weg­ ducken und Besänftigen der Aktivisten entschieden. Ersteres wird dadurch verdeut­ licht, dass die Universität der Nachfrage der FAZ auswich, »ob für sie die Unterschei­ dung zweier biologischer Geschlechter ein menschenfeindlicher Akt« sei.15 Letzteres ist ablesbar an der Stellungnahme »Liberalität, Gleichbehandlung, Respekt für Ge­ schlechtervielfalt in der Hochschule« des Präsidiums vom 2. Dezember 2020. Dort heißt es: »Das Ziel, Gleichstellung und Inklusion, auch bezüglich der Geschlechterviel­ falt, zu betonen, hat für die Universität einen hohen Rang. Aussagen, die sich gegen trans, inter* und nicht-binäre Personen (TIN*) richten, sind mit dem Leitbild der Uni­ versität nicht vereinbar.«16 Es folgt eine Auflistung von Aktivitäten der Universität, die der Anerkennung von Geschlechtervielfalt dienen. Die Freiheit von Forschung und Lehre findet dort hingegen keine Erwähnung, woraus geschlossen werden kann, dass Liberalität vom Präsidium als gleichbedeutend mit der Anerkennung identitätspoliti­ 12 Thomas Thiel, »›Cancel Culture‹ an Unis: Ende einer Treibjagd« in: FAZ, 21. September 2022 (Printausgabe), hier verwendet: aktualisierte Onlinefassung vom 28. September 2022: https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/hoersaal/cancel-culture-rufmord-kampagn e-an-der-universitaet-lueneburg-18328668.html. 13 Thiel, »›Cancel Culture‹ an Unis: Ende einer Treibjagd«, aaO. (FN 12). 14 Thiel, »›Cancel Culture‹ an Unis: Ende einer Treibjagd«, aaO. (FN 12). 15 Thiel, »›Cancel Culture‹ an Unis: Ende einer Treibjagd«, aaO. (FN 12). 16 Präsidium der Leuphana Universität Lüneburg, »Liberalität, Gleichbehandlung, Respekt für Geschlechtervielfalt in der Hochschule«, 3. Dezember 2020: https://www.leuphana.de/unive rsitaet/aktuell/ansicht/2020/12/03/liberalitaet-gleichbehandlung-respekt-fuer-geschlechtervi elfalt-in-der-hochschule.html.

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scher Forderungen gesehen wird. Der AStA der Universität Lüneburg begrüßte in einer gemeinsam mit dem Bündnis feministischer 8. März Lüneburg und dem Check­ point Queer e.V. verfassten Stellungnahme die Positionierung des Präsidiums und for­ derte dieses zu konkreten Umsetzungsschritten auf, darunter: »[e]ine öffentliche Dis­ tanzierung von den transfeindlichen Äußerungen der Junior Professorin Alessandra Asteriti«.17 Die öffentliche Distanzierung nahm die Universität – im Gegensatz zur HU – zwar nicht vor, aber, wie oben ausgeführt, Unterstützung erfuhr Asteriti von der Leitung auch nicht. Das wirft die Frage auf: Warum zeigen Hochschulleitungen, aber auch Fakultäten und Institute, so viel Zurückhaltung bei der Verteidigung eines Klimas der intellektu­ ellen Freiheit? Und warum neigen sie dazu, die Aktivisten durch Distanzierungen von Wissenschaftlern oder durch entsprechende Stellungnahmen und Maßnahmen zu besänftigen, beispielsweise durch – wie in Lüneburg – Angebote von »Anti-Bias Trai­ nings für alle Hochschulmitglieder, um transphobische und anderweitig unterdrücken­ de und diskriminierende Gesinnungen und Verhaltensweisen zu reflektieren und zu verlernen«18? Die naheliegende Antwort, die von anekdotischer Evidenz gestützt wird, ist: Leitungsebenen haben Angst, selbst ins Visier von (aggressiven) Aktivisten zu geraten, deren Ziel die moralische Diskreditierung all derjenigen ist, die sie als Kritiker ihrer identitätspolitischen Agenda einstufen. Das ist umso mehr der Fall, wenn es sich bei den Aktivisten um Kollegen und Studierende handelt. Wenn Leitungsebenen aber nach der Devise handeln: Besänftigung der Aktivisten first, Schutz der Wissenschafts­ freiheit second, dann geht davon ein starker Chilling Effect aus, der sich insbesondere auf befristet beschäftigte Wissenschaftler – also 81 Prozent des wissenschaftlichen Per­ sonals – auswirkt. Einknickende, lavierende oder besänftigend agierende Leitungsebe­ nen senden zudem Signale der Ermunterung an die Aktivisten, sodass alle potenziell von deren Vorgehen betroffenen Hochschulangehörigen davon ausgehen müssen, dass diese ihre intellektuellen Normierungsanstrengungen intensivieren. 2. Identitätspolitik und Wissenschaftsfreiheit Die oben geschilderten Fälle, die lediglich die Spitze des Eisbergs abbilden, stehen in mehrfacher Hinsicht exemplarisch für die Motive, Vorgehensweisen und Folgen der ideologischen Verengungsbemühungen des Erforsch- und Sagbaren, die sich an Hoch­ schulen manifestieren: (1) die – angestrebten oder erfolgten – Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit gehen in Deutschland nicht vom Staat, sondern von Hochschul­ angehörigen oder externen Aktivisten aus; (2) Einschränkungen der Wissenschaftsfrei­ heit sind zumeist das Resultat eines ideologisch motivierten Konformitätsdrucks; (3) begründet werden die Forderungen nach Einschränkungen damit, dass Personen mo­ 17 »Stellungnahme zum Statement des Präsidiums zu Liberalität, Gleichbehandlung, Respekt für Geschlechtervielfalt in der Hochschule«, 8. Dezember 2020: https://checkpoint-queer.de /stellungnahme-zum-statement-des-praesidiums-zu-geschlechtervielfalt-in-der-leuphana/. 18 Präsidium der Leuphana Universität Lüneburg, »Liberalität, Gleichbehandlung, Respekt für Geschlechtervielfalt in der Hochschule«, aaO. (FN 16).

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ralisch als »(antimuslimischer) Rassist«, »Rechter/ Nazi«, »Sexist« oder »Transphober« stigmatisiert werden, weil sie identitätspolitische Dogmen kritisieren; (4) es wird be­ wusst ein moralischer Furor entfacht, der sich einer stark emotionalisierten Sprache bedient, um die Betroffenen sowie die Leitungsebenen moralisch zu überwältigen und dergestalt zum Einknicken zu bringen; (5) Erfolg ist den Aktivisten vor allem dann beschieden, wenn Hochschulleitungen nicht freiheitsaffirmativ reagieren. Da bei den oben analysierten Fällen bewusst nur bereits öffentlich bekannt gewor­ dene herausgegriffen wurden, könnte die Fallschilderung dahingehend einen falschen Eindruck vermitteln, dass die Einschränkungsversuche vor allem von Studierenden und externen Aktivisten ausgehen. Publik werden in der Tat häufiger Aktionen, die von diesen beiden Gruppen initiiert werden. Das hat damit zu tun, dass beide öf­ fentlichkeitswirksame Aktionen präferieren. Wissenschaftler untereinander hingegen tendieren dazu, im Verborgenen zu agieren und haben dafür im Wissenschaftssystem auch ihre Mittel und Wege, worauf weiter unten ausführlicher eingegangen wird. An dieser Stelle soll es zunächst um die Gründe gehen, die zu einem deutlich verstärkten intellektuellen Normierungsdruck an den Hochschulen im vergangenen Jahrzehnt ge­ führt haben. Die Hauptursache für diese freiheitsverengenden Bestrebungen ist eine aus den USA importierte spezifische Form der linken Identitätspolitik. Darauf deuten neben den publik gewordenen Fällen auch erste Studien in Deutschland hin (für eine Analyse der umfangreicheren Datengrundlage in den USA siehe Richard Traunmüller in diesem Band). Die für Deutschland vorliegenden Studien zur Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit an Universitäten zeigen, dass es die identitätspolitisch aufgeladenen Themen Muslime/ Islam, Migration sowie Geschlecht/ Gender/ sexuelle Orientierung sind, bei denen die meisten Lehrenden und Studierenden Einschränkungen wahrnehmen beziehungs­ weise bei denen die meisten Studierenden Einschränkungen für notwendig erachten. So gaben 40 Prozent der 1.000 vom Allensbach-Institut im Auftrag des Deutschen Hochschulverbands und der Konrad-Adenauer-Stiftung im Oktober 2021 befragten Wissenschaftler an, dass sie sich »in ihrer Lehre durch formelle oder informelle Vorga­ ben zur Political Correctness19 stark oder etwas eingeschränkt« fühlten. 18 Prozent sagten, dass »Political Correctness« es verhindere, »dass man bestimmten Forschungs­ fragen nachgehen kann«. Bei der Befragung zwei Jahre zuvor lag der Anteil noch bei 13 Prozent. Der Anteil der Geistes- und Sozialwissenschaftler, die Political Correct­ ness als einschränkend für spezifische Erkenntnisinteressen sahen, hat besonders stark zugenommen: von gut einem Drittel Ende 2019 auf über die Hälfte im Herbst 2021.20

19 Political Correctness ist die gängige Bezeichnung für identitätspolitisch motivierte Veren­ gungen des Sagbaren und somit auch des Erforschbaren. 20 »Wissenschaftler sehen Political Correctness kritisch« in: Forschung & Lehre, 18. November 2021: https://www.forschung-und-lehre.de/zeitfragen/wissenschaftler-meiden-umstrittene-t hemen-4192; »Hochschullehrer beklagen zunehmende Bürokratie« in: Forschung & Lehre, 12. Februar 2020: https://www.forschung-und-lehre.de/politik/hochschullehrer-beklagenzunehmende-buerokratie-2525.

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Dass der Anteil bei diesen Disziplinen so groß ist, hat damit zu tun, dass dort viele Themen bearbeitet werden, auf denen der Fokus identitätspolitischer Akteure liegt. Eine circa 1.000 Studierende der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt umfassende Studie, die im Jahr 2020 der Frage nachging, ob die Meinungs­ freiheit auf dem Campus gefährdet sei, kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass es die Themen Islam, Geschlecht/ Gender/ sexuelle Orientierung und Migration sind, die von Einschränkungsbestrebungen betroffen sind. So vertraten 83 Prozent der befrag­ ten Studierenden die Meinung, dass Personen, die der Ansicht seien, Homosexualität sei unmoralisch, nicht an Universitäten lehren dürften. 64 Prozent vertraten diesen Standpunkt hinsichtlich der Ansicht, dass es »biologische Unterschiede in den Talenten zwischen Männern und Frauen« gäbe. Zudem waren zwischen einem Drittel und der Hälfte der Befragten dagegen, Redner mit abweichenden Meinungen zu den The­ men Islam, Geschlecht und Migration an der Universität zu dulden. Und ein Drittel wollte die Bücher von Autoren, die solche Meinungen vertreten, aus der Universitäts­ bibliothek entfernt sehen. Die befragten Studierenden plädierten aber nicht nur für Einschränkungen, sondern betrachteten sich vor allem, wenn sie nicht dem unter der untersuchten Studierendenpopulation dominierenden linken politischen Spektrum angehörten, als selbst davon betroffen: Ungefähr ein Viertel gab an, schon einmal für eine Äußerung persönlich angegriffen worden zu sein, und ein Drittel sagte, dass sie es bei diesen Themen vermieden, ihre Ansichten in Seminardiskussionen offenzulegen.21 Die Verengung des universitären Erkenntnis- und Diskursklimas ist auf eine spezifi­ sche Form der linken Identitätspolitik zurückzuführen, die ich in einer 2019 publizier­ ten Analyse unter dem Begriff »identitätslinke Läuterungsagenda« gefasst habe.22 Die identitätslinke Läuterungsagenda wird von Personen vorangetrieben, die sich selbst politisch links verorten und die Menschen schematisch in Träger von Opfer- oder Schuldidentitäten einteilen. Ihre Läuterung unter Beweis stellen müssen diejenigen, die aufgrund eines Abstammungsmerkmals für die Unterdrückung, Abwertung und Diskriminierung spezifischer Gruppen verantwortlich gemacht werden und denen deshalb eine Schuldidentität verordnet wird. So müssen sich Männer als geläutert gegenüber Frauen zeigen, Heterosexuelle gegenüber Homosexuellen, sogenannte CisMänner und Cis-Frauen gegenüber Menschen mit einer Transgenderidentität/ queeren Identität, Weiße gegenüber Nichtweißen, Nichtmigranten gegenüber Migranten sowie Christen gegenüber Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften, allen voran gegen­ über Muslimen. Dabei gibt es eine Läuterungspyramide: Lange standen an der Spitze unangefoch­ ten diejenigen, die Unterdrückungs- und Abwertungserfahrungen geltend machen können, die mit der »westlichen Erbsünde« schlechthin verbunden werden, also mit 21 Matthias Revers / Richard Traunmüller, »Is Free Speech in Danger on University Campus? Some Preliminary Evidence from a Most Likely Case« in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 72, Nr. 3 (2020), S. 471–497. 22 Sandra Kostner, »Identitätslinke Läuterungsagenda. Welche Folgen hat sie für Migrationsge­ sellschaften?« in: dies. (Hg.), Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Fol­ gen für Migrationsgesellschaften, Stuttgart 2019, S. 17–73.

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Rassismus und Kolonialismus. Mittlerweile teilen sie sich diese Position mit Menschen, die sich als Transgender oder queer identifizieren. In ihrem Fall reichen für die Gel­ tendmachung des »Opferstatus« Äußerungen wie die, dass es biologische Männer und Frauen gibt, dass es im biologischen Sinne nur diese beiden Geschlechter gibt oder dass die Öffnung von (Schutz-)Räumen für Frauen (wie Frauenhäuser oder Frauenge­ fängnisse) für biologische Männer, die sich als Frauen identifizieren, für biologische Frauen nachteilhaft sein kann. Um als geläutert zu gelten, reicht es für Träger von Schuldidentitäten nicht, indivi­ duell nachweisen zu können, dass sie nicht rassistisch, sexistisch, islamophob, homooder transphob sind. Erst wenn kein Träger einer Schuldidentität mehr in irgendeiner Form ein Denken und Handeln erkennen lässt, das als rassistisch etc. interpretiert wer­ den könnte, wird der Einzelne aus dem Schuldstatus entlassen. Dieses Abhängigkeits­ verhältnis ist der Grund dafür, dass diejenigen, die nach Läuterung streben, versuchen, moralischen, sozialen und institutionellen Druck auf diejenigen auszuüben, die sie als Angehörige »ihrer« Schuldgruppe sehen. Verstärkt wird der Druck von Akteuren der jeweiligen Opferseite, die sich dessen bewusst sind, dass sie nur so lange von der Schuldseite materielle und moralische Kompensationsleistungen einfordern können, so lange dort bei einer hinreichend gro­ ßen beziehungsweise wirkmächtigen Gruppe ein Läuterungsbedürfnis besteht. Daher ist der inzwischen weit fortgeschrittene Abbau von Ungleichbehandlungen für die Ak­ teure auf der Opferseite ein zweischneidiges Schwert: Einerseits ist dieser ein großer Gewinn für sie, andererseits büßen sie so sukzessive ihre gesellschaftliche Wirkmäch­ tigkeit ein. Um den Läuterungsdruck aufrechtzuerhalten, fokussieren sie sich deshalb zunehmend auf Gefühlsverletzungen.23 Sie machen sich dabei die Vorgehensweise des »Concept Creep« zunutze. Dieser Begriff wurde von Nick Haslam, einem australischen Sozialpsychologen, geprägt, um das Phänomen analytisch zu fassen, das verstärkt seit Beginn der 2000er-Jahre um sich greift: die zunehmende Ausdehnung der Vorstellung dessen, was Menschen als Gewalt erleben und was sie emotional schädigt. Diese Ausdehnung findet ihren sprachlichen Ausdruck in Neologismen wie: Mikroaggression, Mikroangriff, Mikroübergriff, Mik­ roinvalidierung sowie Mansplaining oder Whitesplaining. Es werden also etablierte Begriffe für gewalttätiges, teilweise strafrechtsrelevantes Handeln verwendet, um sie durch die Vorsilbe »Mikro« auf Gefühlsverletzungen übertragen zu können, die bis dato nicht mit Gewaltakten oder einem emotionalen Schädigungspotenzial assoziiert wurden.24 Aus Sicht der Vertreter der identitätslinken Läuterungsagenda können nur Träger von Opferidentitäten emotionale (Mikro-)Verletzungen geltend machen. Andersherum heißt das, dass nur die Träger von Schuldidentitäten sprachliche Gewaltakte begehen 23 Kostner, »Identitätslinke Läuterungsagenda. Welche Folgen hat sie für Migrationsgesell­ schaften?«, aaO. (FN 21); Sandra Kostner, »Contra. Streiten mit dem Unterstrich« in: Tages­ spiegel, 24. November 2019, S. 5. 24 Nick Haslam, »Concept creep: Psychology's expanding concepts of harm and pathology« in: Psychological Inquiry 27, Nr. 1 (2016), S. 1–17.

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können. Deshalb gibt es auch kein weibliches Pendant zum Mansplaining, denn nur Frauen als Träger einer Opferidentität können die Worte von Männern als herablas­ send erleben. Das Gleiche gilt für den Neologismus Whitesplaining, der für Äußerun­ gen von Weißen, insbesondere zu den Themen Rassismus und Antidiskriminierung, verwendet wird, wenn das Gesagte nicht im Einklang mit der Läuterungsagenda steht. Ob ein mikroaggressives oder mikroinvalidierendes Verhalten vorliegt, wird allein der Beurteilung der Person überlassen, die sich durch eine Äußerung verletzt fühlt. Zudem gilt die Devise, dass die der Mikroaggression, der Mikroinvalidierung oder des Man-/Whitesplaining bezichtigte Person nicht absichtsvoll verletzend agieren muss. Darüber hinaus gilt es die Träger von Opferidentitäten nicht nur vor Gefühlsverlet­ zungen in konkreten sozialen Interaktionen zu schützen, sondern auch vor emotio­ nalen »Schädigungen« durch Forschungsergebnisse, öffentliche Debatten oder durch Objekte, wie Bücher, Gemälde, Statuen und Straßennamen. Aus diesem Grund wird gefordert, dass alle Meinungsäußerungen zu unterlassen und Objekte zu entfernen (Bücher, Statuen, Gemälde) oder umzubenennen (Straßen) sind, die bei Opfern ir­ gendeine Form von emotionalem Unbehagen oder Erinnerungen an Diskriminierungs­ erfahrungen auslösen könnten.25 Das in Deutschland bekannteste Beispiel aus dem Hochschulkontext ist die von Erfolg gekrönte Skandalisierung des Gedichts »Aven­ idas« von Eugen Gomringer durch Mitglieder der Berliner Alice-Salomon Hochschu­ le, wo das Gedicht an einer Fassade angebracht war. Die Begründung des AStA für die Forderung, das Gedicht zu entfernen, lautete: die Kombination der Worte »Alleen und Frauen // Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer« reproduziere »nicht nur eine klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen* ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren, es erinnert zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen* alltäglich ausgesetzt sind«26. Zum Modus Operandi der Vertreter der Läuterungsagenda gehört auch, dass die Behauptung eines Opfers, dass jemand oder etwas seine Gefühle verletzt habe, nicht hinterfragt werden darf, da dies wahlweise als Mikroaggression, Mikroinvalidierung oder Man-/Whitesplaining erlebt werden könnte. Jegliche Infragestellung einer sol­ chen Behauptung wird als Beweis für die mangelnde Läuterung der Schuldseite ausge­ legt. Um dies zu verhindern, achten die nach Läuterung strebenden Mitglieder der Schuldgruppe peinlich genau darauf, die Gefühle von Angehörigen einer Opfergruppe zu schützen. Das geht bei einem Teil der Läuterungsakteure auf der Schuldseite so weit, dass sie alle Äußerungen von Mitgliedern der Schuldgruppe auf ihr Verletzungs­ potenzial hin untersuchen. Dieses vorauseilende Agieren wird als herausgehobener Läuterungsbeweis gesehen und bringt soziale Anerkennung im identitätslinken Milieu mit sich. Anders gesagt: Wer bei anderen einen nicht läuterungskonformen Sprachge­

25 Kostner, »Contra. Streiten mit dem Unterstrich«, aaO. (FN 22). 26 AStA zitiert in: Anja Kühne / Christian Schröder, »Update / Streit um Gomringers ›aven­ idas‹-Text« in: Tagesspiegel, 30. August 2018: https://www.tagesspiegel.de/wissen/das-neuegedicht-fur-die-alice-salomon-hochschule-5298040.html.

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brauch »entdeckt«, erntet durch dessen Anprangerung Läuterungspunkte in der eige­ nen Community. Zum emotionalen Schutz und zum sozialen Empowerment von Opfergruppen werden zudem Sprachregelungen verfügt, auf deren Einhaltung Läuterungsakteure sorgfältig achten. Viele dieser Sprachregelungen beziehen sich auf Transpersonen, wie Genderleitfäden oder die Nennung von Personalpronomen (also: she/her, wenn sich jemand als Cis-Frau identifiziert oder he/him, bei Selbstidentifikation als Cis-Mann; Transgender verwenden dementsprechend beispielsweise einen typisch männlichen Vornamen und als Personalpronomen she/her, damit jeder weiß, dass sich die Person als Frau identifiziert). In den USA geben inzwischen viele Wissenschaftler ihre Perso­ nalpronomen lieber hinter ihren Namen in Klammern an, um nicht der Transfeindlich­ keit bezichtigt zu werden.27 Das Pendant dazu in Deutschland sind die jeweils als besonders progressiv erachteten Regeln des Genderns (aktuell Gendersternchen oder -doppelpunkte, wie in Wissenschaftler*innen oder Wissenschaftler:innen), die nicht unbedingt aus Überzeugung verwendet werden, sondern um nicht in Konflikt mit identitätslinken Läuterungsakteuren zu geraten. Da die theoretischen Grundlagen der identitätslinken Läuterungsagenda – zentra­ les Stichwort Critical Race Theory – in den 1980er-Jahren an US-amerikanischen Hochschulen entwickelt und im Lauf der Zeit auf beiden Seiten des Atlantiks von immer mehr Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaftlern rezipiert wurden, ist es wenig überraschend, dass die Anhänger dieser Agenda mittlerweile an vielen – auch deutschen – Hochschulen eine kritische Masse bilden, die es ihnen ermöglicht, den Preis für nicht agendakonforme Forschung und Lehre stark anzuheben. Nicht agenda­ konforme Forschung und Lehre ist nach wie vor möglich, nur stellt sie sich schnell als karrieregefährdend, wenn nicht sogar als karrierebeendend heraus. Je größer die weltanschauliche Homogenität an Hochschulen oder in einzelnen Fachbereichen wird, desto schwieriger ist es für Wissenschaftler, frei ihre Forschungsthemen und Lehrin­ halte zu wählen, ohne Gefahr zu laufen, bei der Wahl der »falschen« Themen und Inhalte beruflich ins Abseits zu geraten. In den letzten Jahren wurden aus der identitätslinken Läuterungsagenda abgeleitete Forderungen besonders vehement vonseiten Studierender eingebracht. Allen voran in Nordamerika fordern diese, dass ihr Campus ein »Safe Space« zu sein hat, also ein Raum, in dem kein Opferidentitätsträger in Kontakt mit etwas kommt, das er als diskriminierend oder verletzend empfinden könnte (siehe dazu in diesem Band aus­ führlich Russell A. Berman). Ferner fordern sie, dass Lehrende sogenannte »Trigger­ warnungen« für Seminartexte aussprechen, in denen Wörter vorkommen oder Ideen präsentiert werden, die Opfer von Diskriminierungen re-traumatisieren könnten. Tun Lehrende das nicht, führt das nicht selten dazu, dass Studierende sich bei Leitungsebe­

27 Sandra Ward, »Wenn die Angst vor der Cancel Culture für Professoren zu groß wird« in: WELT-Online, 17. Juli 2022: https://www.welt.de/politik/ausland/plus239796339/US-Univ ersitaeten-Wenn-die-Angst-vor-Cancel-Culture-fuer-Professoren-zu-gross-wird.html?.

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nen beschweren, was teilweise mit erheblichen Konsequenzen für die Lehrenden, bis hin zum Jobverlust, einhergeht.28 In Deutschland werden bislang vonseiten Studierender solche Forderungen zwar vereinzelt vorgebracht, aber in keinem mit den USA vergleichbaren Maße. Auf bei­ den Seiten des Atlantiks wird von denjenigen, die Triggerwarnungen befürworten, argumentiert, dass mit diesem einfach zu vollziehende Akt der Sensibilität keine Ein­ schränkung der Lehrfreiheit einhergehe. Nur: müssen sich Lehrende bei allen Lehrma­ terialien überlegen, wer sich davon in getriggert fühlen könnte, arbeiten sie mit der präventiven Schere im Kopf. Verbunden mit der Forderung, dass der Seminarraum ein »Safe Space« zu sein hat, entsteht ein Klima, in dem Lehrende vorsorglich Materialien aussortieren, bei denen sie denken, dass jemand eine Verletzung geltend machen könn­ te, die ihnen zur Last gelegt wird. Das ist umso mehr der Fall, wenn Triggerwarnungen zu einer Hypersensibilisierung führen oder von Studierenden als Machtinstrument verwendet werden. So werden Triggerwarnungen längst nicht mehr nur in Bezug auf Texte gefordert, in denen in der Vergangenheit gebräuchliche rassistische oder sexistische Begriffe vorkommen, sondern auch für Begriffe wie »verletzen« oder für Inhalte des Sexualstrafrechts. Von letzteren Forderungen berichtete Jeannie Suk Ger­ son, Juraprofessorin an der Harvard Universität, vor einigen Jahren. Sie schrieb in einem Gastbeitrag für den New Yorker, dass Studierende von Lehrenden verlangten, in Klausuren keine Fragen zum juristischen Umgang mit Vergewaltigungen zu stellen, weil sie dies triggern könnte. Einige verlangten sogar, dass Sexualstrafrecht generell nicht unterrichtet werden sollte, weil es potenziell emotionales Leid verursache.29 Wenn Lehrende fürchten müssen, dass Studierende für alle Lehrinhalte Triggerwar­ nungen verlangen könnten, verändert das auch die Vertrauensbeziehung zwischen Stu­ dierenden und Lehrenden. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Forderungen nicht direkt den Lehrenden gegenüber artikuliert, sondern auf den Sozialen Medien – nicht selten verbunden mit Vorwürfen – veröffentlicht werden. Diese Erfahrung musste im Frühjahr 2021 der Bonner Soziologieprofessor Clemens Albrecht machen. Ihm wurde von einer studentischen Gruppe namens KRIPS (kritische Politiolog*innen und Soziolog*innen) auf Instagram Rassismus vorgeworfen. Anlass des Vorwurfs: Ein Bild der Tierschutzorganisation PETA, das er in der Lehre verwendet hatte, zeigte »einen Mann, der an einem Strick um den Hals von einem Baum hängt, in Klammern steht die Jahreszahl 1815. Daneben das gleiche Bild, nur diesmal hängt ein Schwein vom Baum und das Jahr ist 2015«30. PETA will damit zum Ausdruck bringen, dass 28 Für konkrete Beispiele siehe: Bradley Campbell / Jason Manning, The Rise of Victimhood Culture. Microaggressions, Safe Spaces and the New Culture Wars, London 2018; Frank Furedi, What’s Happened to the University? A Sociological Exploration of its Infantilisation, London 2017; Homepage von FIRE: https://www.thefire.org/. 29 Jeannie Suk Gerson, »The Trouble with Teaching Rape Law« in: The New Yorker, 15. De­ zember 2014: https://www.newyorker.com/news/news-desk/trouble-teaching-rape-law. 30 Lena Karger, »›Sieben bis acht Studenten haben mich verteidigt, die anderen haben geschwie­ gen‹« in: WELT-Online, 28. Februar 2022: https://www.welt.de/kultur/plus235703316/Canc el-Culture-Sieben-bis-acht-Studenten-haben-mich-verteidigt-die-anderen-haben-geschwiege n.html.

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sich heutzutage Menschen über die Tiere stellen wie früher über Sklaven, weshalb »Speziesismus« genauso verwerflich sei wie Rassismus. KRIPS machte Albrecht den Vorwurf, durch das Zeigen des Bildes Rassismus banalisiert zu haben. Darüber hinaus kritisierten sie, dass er »keine Triggerwarnung vor die Sekundärliteratur zur Vorlesung gestellt« habe.31 Albrecht lud, nachdem ihn andere Studierende in Kenntnis über die Instagram-Posts gesetzt hatten, zu einer Video-Sprechstunde ein; die meisten der 70 teilnehmenden Studierenden schwiegen, ungefähr sieben Studierende verteidigten ihn gegen die Vorwürfe, die von den teilnehmenden KRIPS-Studierenden wiederholt wur­ den. Wenngleich nur wenige Studierende Albrecht öffentlich bezichtigten, rassistische Inhalte zu verbreiten, hat dies dazu geführt, dass der Dozent seinen Studierenden nicht mehr mit dem gleichen Vertrauen wie zuvor gegenübertritt. Im Hinterkopf lauern die Fragen, was denken diejenigen über meine Lehrinhalte, die in der Vorlesung oder im Seminar still sind? Sitzen wieder Studierende vor mir, die meine Seminarinhalte öffentlich als rassistisch anprangern?32 3. Identitätspolitik und Teilhabechancen im Wissenschaftsbetrieb Nachdem bislang stärker das Agieren von identitätspolitisch motivierten Studierenden und externen Aktivisten betrachtet wurde, soll nun der Fokus auf die Wissenschaftler gelegt werden. Sie tragen neben den Hochschulleitungen in herausgehobenem Maße die Verantwortung dafür, ob ein freies intellektuelles Klima in ihrer Fachdisziplin gegeben ist oder nicht. Legen sie Wert auf ein ergebnisoffenes Streben nach Erkennt­ nis und ein liberales Diskursklima im Kollegenkreis sowie in der Lehre, tragen sie dazu bei, dass Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit im Hochschulalltag auch von allen Hochschulangehörigen gleichermaßen in Anspruch genommen werden kann. Tun sie das nicht, führt das dazu, dass Kollegen und Studierende den Preis für die Inanspruch­ nahme ihrer Grundrechte schnell als zu hoch einstufen und sich der befürchteten Nachteile durch Selbstzensur entziehen. Durch die Vertreter der identitätslinken Läuterungsagenda hat sich ein dogmati­ scher Wissenschaftlertyp im Hochschulsystem etabliert, der Forschung und Lehre als Mittel zur Transformation der Gesellschaft gemäß seiner identitätspolitischen Agen­ da betrachtet. Diese Agendawissenschaftler ideologisieren und politisieren damit For­ schung und Lehre in einem erheblichen Umfang, was vielfach zu einer aktivistischdogmatischen Wissenschaft führt, die keine Kritik duldet. Das äußert sich darin, dass Agendawissenschaftler stark dazu neigen, Forschung als »unwissenschaftlich« oder als »moralisch verwerflich« zu diskreditieren, die zu nicht agendakonformen Ergebnissen kommt. Anstatt mit andersdenkenden Wissenschaftlern und Studierenden in einen von Argumenten getragenen Diskurs einzutreten, greifen sie zu einer freiheitsfeindlichen Instrumententrias, bestehend aus moralischer Diskreditierung, sozialer Ausgrenzung 31 Karger, »›Sieben bis acht Studenten haben mich verteidigt, die anderen haben geschwiegen‹«, aaO. (FN 29). 32 Karger, »›Sieben bis acht Studenten haben mich verteidigt, die anderen haben geschwiegen‹«, aaO. (FN 29).

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und institutioneller Bestrafung. Mit dieser Trias wird die Grenze des Erforsch- und Sagbaren markiert. Der Einsatz der Instrumententrias dient daher in erster Linie der Erzeugung eines Chilling Effect, der nicht nur auf die Person abzielt, die »missliebi­ ge« Forschung betreibt. Der wissenschaftlichen Community und Studierendenschaft insgesamt soll damit signalisiert werden, welche Erkenntnisinteressen man besser nicht verfolgt und welche Argumente man lieber nicht äußert, wenn man nicht moralisch diskreditiert, sozial ausgegrenzt oder institutionell bestraft werden möchte. Verfügen Agendawissenschaftler über ausreichend Macht in ihrem unmittelbaren Umfeld an der Hochschule beziehungsweise in ihrer Fachdisziplin, wird ein freiheitsabträgliches Klima geschaffen, das auf einen intellektuellen Lockdown hinauslaufen kann.33 Die moralische Diskreditierung dient dazu, den Argumenten nicht agendakonform forschender und lehrender Personen jegliche Legitimität abzusprechen. Dazu werden vorzugsweise die oben erwähnten Etiketten »rassistisch«, »sexistisch«, »islamophob«, »transphob«, »menschenfeindlich/-verachtend« und »rechts« eingesetzt. Dergestalt moralisch delegitimierte Kollegen und Studierende dürfen – ja müssen sogar – sozial ausgegrenzt werden (»Kontaktschuld«). Lassen sie sich von diesen beiden Schritten nicht von ihren Erkenntnisinteressen und Argumenten abbringen, wird zur institutio­ nellen Bestrafung gegriffen. Diese ist zugleich das folgenschwerste und damit wirk­ mächtigste Instrument. Dieses Mittel entfaltet auch deshalb zumeist seine erwünschte Wirkung, weil das Wissenschaftssystem von erheblichen Abhängigkeitsverhältnissen durchzogen ist. Studierende sind von der Notengebung der Lehrenden abhängig. Die vielen befristet beschäftigten Wissenschaftler befinden sich nicht selten in einem doppelten Abhängig­ keitsverhältnis. Das ist dann der Fall, wenn der Betreuer ihrer Qualifikationsarbeiten (Promotion, Habilitation) auch derjenige ist, in dessen Drittmittelprojekten sie als Mitarbeiter beschäftigt sind. Wissenschaftler, die sich von Vertrag von Vertrag hangeln, können sich einem intellektuellen Normierungsdruck kaum entziehen. Das führt dazu, dass in von Agendawissenschaftlern dominierten Bereichen der Anteil abweichender Erkenntnisinteressen immer kleiner wird. Dort stehen Andersdenkende mit befriste­ ten Arbeitsverträgen in der Regel vor der Option: dem Druck nachgeben oder den Fachbereich zu wechseln beziehungsweise dem Wissenschaftsbetrieb den Rücken zu kehren. Ein hoher Anteil von Agendawissenschaftlern in einer Fachdisziplin beeinflusst auch die Zusammensetzung von Kommissionen, die über die Vergabe von Drittmitteln entscheiden, sowie von Gremien, die Publikationen begutachten. Wer eine Professur anstrebt, ist besonders stark davon abhängig, dass er Drittmittel einwirbt, viel – und am besten in hochrangigen Zeitschriften – publiziert (Publish-or-perish-System) 33 Siehe dazu ausführlicher auch: Sandra Kostner, »Wenn Wissenschafter eine Agenda verfol­ gen: wie Macht und Moral an den Hochschulen die Erkenntnis ersetzen« in: NZZ, 13. Janu­ ar 2020: https://www.nzz.ch/feuilleton/wissenschaft-wenn-macht-und-moral-die-erkenntni s-ersetzen-ld.1533154; Sandra Kostner, »Disziplinieren statt argumentieren. Zur Verhängung und Umsetzung intellektueller Lockdowns« in: APuZ, 12. November 2021: https://www.bp b.de/shop/zeitschriften/apuz/wissenschaftsfreiheit-2021/343224/disziplinieren-statt-argume ntieren/.

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und bei prestigeträchtigen Fachkonferenzen Vorträge hält. Kurzum: Er muss sich ein möglichst gutes Standing im eigenen Fachbereich erarbeiten. Aber auch etablierte Wis­ senschaftler lässt es nicht unberührt, wenn sie aus ideologischen Gründen von der Forschungsförderung und von Publikationsmöglichkeiten ausgeschlossen werden: ihre Forschungsoptionen werden eingeschränkt und ihr Standing in der wissenschaftlichen Community leidet. Im Gegensatz zu den von studentischer Seite mit Vehemenz geforderten Veranstal­ tungsabsagen und Anprangerungen von Seminarinhalten präferieren Agendawissen­ schaftler »stille« Instrumente, deren Einsatz zudem ungleich schwerer nachweisbar ist. Aus welchen Gründen ein Arbeitsvertrag nicht verlängert wird, weshalb Publikationen nicht angenommen werden, warum Drittmittelanträge nicht erfolgreich sind oder war­ um jemand eine Stelle nicht bekommt, ist oftmals nicht eindeutig auf agendawissen­ schaftliche Normierungsbestrebungen zurückzuführen. Es gibt dann zwar mal mehr, mal weniger klare Indizien dafür, dass es nicht die Qualität eines Antrags, eines Textes oder einer Bewerbung war, die zur Nichtberücksichtigung führte, aber zweifelsfrei lässt es sich nicht beweisen. Nur in seltenen Fällen erhält der Betroffene Kenntnis davon, dass die Ablehnung auf ideologischen Gründen beruht, beispielsweise indem er Einblick in einen entsprechenden Mailwechsel erhält. Wenngleich Wissenschaftler Instrumente bevorzugen, die in der Regel unterhalb der Nachweisgrenze eingesetzt werden können, greifen auch sie gelegentlich zu auf Sichtbarkeit angelegten Instrumenten, etwa dem offenen Brief. Betroffen von einer sol­ chen Aktion war Anfang 2021 der Bamberger Kommunikationswissenschaftler Rudolf Stöber. Er hatte im Dezember 2020 in der Fachzeitschrift Publizistik einen Meinungs­ beitrag mit dem Titel »Genderstern und Binnen-I. Zu falscher Symbolpolitik in Zeiten eines zunehmenden Illiberalismus« veröffentlicht. Der Veröffentlichung seines Beitrags ging die einstimmige Zustimmung der Herausgeber voran. Diese hatten zugleich die Befürworter des Genderns eingeladen, Repliken zu verfassen. Anstatt dieses angebote­ ne Mittel der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu nutzen, wurden Zusagen für Repliken zurückgezogen und ein offener Brief an den Vorstand der Fachgesellschaft verfasst, unter dem 82 Wissenschaftler als Erstunterzeichner aufgeführt sind. Die Un­ terzeichner begründeten die Wahl des offenen Briefes damit, dass Stöbers Beitrag »über weite Strecken unwissenschaftlich, polemisierend und diffamierend geschrieben« sei, dass er »die Ebene einer sachlichen Argumentation« verlassen habe, weshalb eine »fundierte Auseinandersetzung« mit seinem Text nicht mehr möglich sei.34 Sie führten weiter aus, dass Stöbers Text die Zeitschrift und das Fach Kommunikations­ wissenschaft beschädigt habe. Wie sie sich die Zeitschrift vorstellen, legten sie mit diesen Worten dar: »Wir wünschen uns Fachzeitschriften, in denen die Debatten um Anerkennung der gesellschaftlichen Vielfalt aufgegriffen werden und das Bemühen um Gerechtigkeit (auch, aber längst nicht nur in der Sprache) nicht diskreditiert wird. Wir fordern den Vorstand der DGPuK auf, sich zu einer solchen Kultur wissenschaftlicher 34 »Offener Brief an den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommuni­ kationswissenschaft (DGPuK)«, 1. Februar 2021: https://www.dgpuk.de/de/debatte-%C3% BCber-diskriminierungsfreie-sprache.html.

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Zusammenarbeit zu bekennen […]«35. Typisch für solche Briefe ist auch die Betonung, dass »Vielfalt und eine lebendige Debattenkultur«36 für essenziell gehalten werden, nur eben nicht in Bezug auf Texte, die (zu stark) vom eigenen Standpunkt abweichen. Die Antwort des Vorstands auf diesen freiheitsverengenden Aufruf war freiheitsaf­ firmativ: »Der Diskussion über diskriminierungsfreie Sprache können pointierte Bei­ träge guttun, mitunter auch polemische. Und zum Glück leben wir in einem Teil der Welt, in der die Herausgeber*innen einer Fachzeitschrift frei entscheiden können, ob und welche Meinungsbeiträge sie publizieren. Gleichwohl finden wir es wichtig, in der Fachgesellschaft zu debattieren, in welcher Art und mit Rückgriff auf welche Argumente über die Praxis diskriminierungsfreier Sprache diskutiert wird.«37 Einen Chilling Effect hat ein offener Brief – allen voran für Nachwuchswissenschaftler – auch dann, wenn er sein Ziel nicht erreicht, aber dieser Effekt wird durch freiheitsaffirmati­ ve Reaktionen abgeschwächt, weshalb diese für den Erhalt eines Klimas der Freiheit im Wissenschaftsbetrieb wichtig sind. Neben Hochschulleitungen, Fachgesellschaften und den Herausgebern von Zeit­ schriften kommt den Einrichtungen der Forschungsförderung eine wichtige Rolle im Hinblick darauf zu, wie frei Wissenschaftler in der Wahl ihrer Forschungsthemen sowie in der Durchführung von Forschungsvorhaben sind. Müssen Wissenschaftler davon ausgehen, dass Forschungsergebnisse aus fachfremden – allen voran ideologi­ schen – Gründen kaum eine Chance darauf haben, publiziert zu werden, liegt für viele die Schlussfolgerung nahe, dass es sich unter solchen Umständen nicht lohnt, dennoch zu bestimmten Themen zu forschen und die Ergebnisse niederzuschreiben. Ein starkes Signal in diese Richtung sendeten die Herausgeber der Zeitschrift Na­ ture in einem Editorial im Juni 2022. Nature ist eine der renommiertesten und meistre­ zipierten wissenschaftlichen Zeitschriften, insofern erhöht das den Signaleffekt des mit »Research must do no harm: new guidance addresses all studies relating to people«38 überschriebenen Editorials. Selbstredend ist es wichtig, dass Forschung Menschen keinen Schaden zufügt. Die entscheidende Frage ist, was unter Schaden zufügen verstanden wird. Handelt es sich um einen nachweisbaren Schaden, den Individuen erleiden? Oder werden darunter auch potenzielle Mikroinvalidierungen gefasst? Die Ausführungen der Herausgeber zeigen, dass sich ihr Verständnis von Schädigung durch Forschung in letztere Richtung verschoben hat und dass es von den Dogmen der identitätslinken Läuterungsagenda beeinflusst ist. Denn aus dem Text tritt klar die mithilfe des Concept Creep massiv ausgedehnte Vorstellung dessen hervor, wodurch 35 »Offener Brief an den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommuni­ kationswissenschaft (DGPuK)«, aaO. (FN 33). 36 »Offener Brief an den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommuni­ kationswissenschaft (DGPuK)«, aaO. (FN 33). 37 Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, »Debatte über diskriminierungsfreie Sprache«: https://www.dgpuk.de/de/debatte-%C3%B Cber-diskriminierungsfreie-sprache.html. 38 Editorial, »Research must do no harm: new guidance addresses all studies relating to peo­ ple« in: Nature, Volume 606 (14. Juni 2022): https://www.nature.com/articles/ d41586-022-01607-0#Echobox=1655216887.

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Menschen geschädigt werden können. Zudem erfolgt eine Fokussierung auf Gruppen, anstatt auf Individuen. So heißt es im Editorial, dass bestehende ethische Anforderungen bislang nicht den Nutzen und Schaden berücksichtigten, der sich aus der Interpretation von For­ schungsergebnissen für Gruppen ergeben könnte, die nicht direkt an der Durchfüh­ rung eines Projektes beteiligt waren. Exemplarisch wird auf Forschung verwiesen, die dazu führen könnte, dass Menschen »stigmatisiert, diskriminiert oder Rassismus, Se­ xismus oder Homophobie ausgesetzt werden. Solche Arbeiten könnten dazu genutzt werden, die Rechte spezifischer Gruppen zu untergraben, einfach wegen ihrer sozialen Merkmale«39. Um das zu verhindern, sollen Autoren, Gutachter und Herausgeber von Einzelausgaben die möglicherweise schädlichen Folgen von Forschung für Grup­ pen berücksichtigen und so weit als möglich minimieren. Ferner sollen Autoren eine »respektvolle, nicht stigmatisierende Sprache in ihren Manuskripten« verwenden.40 Darüber hinaus werden alle an der Herausgabe einer Ausgabe Beteiligten aufgefordert, darauf zu achten, ob Forschung Hassrede befeuern oder die Würde und die Rechte von Gruppen unterminieren könnte. Im letzten Absatz führen die Herausgeber dann noch eine Begründung an, die in letzter Zeit immer häufiger ins Feld geführt wird. Diese lautet: »Wissenschaft ist viel zu lange benutzt worden, um strukturelle Ungleich­ heiten und Diskriminierung in der Gesellschaft, und somit Unrecht, aufrechtzuerhal­ ten. Unsere Empfehlungen sind ein Schritt, um dem etwas entgegenzusetzen.«41 Wissenschaft wird dergestalt gesellschaftspolitischen Zielen unterworfen, konkret dem Abbau von Ungleichheit und Diskriminierung. Ihr wird zudem implizit der Vor­ wurf gemacht, Ungleichheit und Unrecht unterstützt zu haben oder sogar weiterhin zu unterstützen. Ziele und Vorwurf sind aus der identitätslinken Läuterungsagenda abgeleitet, insbesondere aus einer ihrer zentralen akademischen Manifestationen: der Critical Race Theory (CRT). Die CRT diente von Anbeginn dazu, eine theoretische Fundierung für die Verfolgung politischer Ziele zu schaffen: insbesondere soll die Wiedergutmachung für rassistisches Unrecht sowie die Schließung von Teilhabelücken zwischen Weißen und Nichtweißen erreicht werden. Das sind hehre politische Ziele. Hinsichtlich der Freiheit von Forschung und Lehre sind sie aber durchaus problemati­ scher Natur, weil beide auf diese Weise stark politisiert und moralisiert werden. Die freiheitsfeindlichen Effekte dieser Politisierung und Moralisierung werden da­ durch verstärkt, dass zur Aufrechterhaltung des Läuterungsdrucks nicht nur Gefühls­ verletzungen zum Diskriminierungsindikator werden, sondern parallel dazu jeder sta­ tistisch feststellbare Unterschied zwischen Opfer- und Schuldgruppen als Indikator für fortwirkende Diskriminierung betrachtet wird. Im Hinblick auf den Wissenschaftsbe­ trieb wird jeder Repräsentationsunterschied bei der Zusammensetzung der Mitarbei­ 39 Editorial, »Research must do no harm: new guidance addresses all studies relating to peo­ ple«, aaO. (FN 37). Übersetzung: Sandra Kostner. 40 Editorial, »Research must do no harm: new guidance addresses all studies relating to peo­ ple«, aaO. (FN 37). Übersetzung: Sandra Kostner. 41 Editorial, »Research must do no harm: new guidance addresses all studies relating to peo­ ple«, aaO. (FN 37). Übersetzung: Sandra Kostner.

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terschaft, von Gremien und Kommissionen, beim Anteil der vergebenen Drittmittel oder beim Anteil an publizierten Texten als Resultat fortbestehender »struktureller« Benachteiligung gewertet. Das Adjektiv »strukturell« ist hierbei von essenzieller Be­ deutung. Es besagt, dass Diskriminierungsmechanismen in die gesellschaftlichen Struk­ turen eingebaut sind, einfach aufgrund dessen, dass diejenigen, die sie aufgebaut haben, diese – unbewusst – zu ihrem eigenen Vorteil gestalteten. Da das Wissenschaftssystem von weißen Männern geformt wurde, so die Argumentation, würde es diese automa­ tisch privilegieren und Nichtweiße sowie Frauen benachteiligen. Empirische Belege sind dafür nicht erforderlich. Im Gegenteil: Die CRT-Vertreter haben es mithilfe der Instrumententrias geschafft, dass es viele Akteure im Wissenschaftsbetrieb nicht mehr wagen, belastbare Belege für die Behauptung zu verlangen, dass statistische Unter­ schiede das Resultat »struktureller« Diskriminierung wären. Allein das Einfordern von Belegen wird als Zeichen für Läuterungsresistenz und damit zugleich als Indikator für eine rassistische etc. Stigmatisierungsbereitschaft gedeutet.42 Eigentlich müsste das Konzept strukturelle Diskriminierung, das vor empirischer Überprüfung abgeschirmt wird und das zudem deutliche Merkmale eines Verschwö­ rungsnarrativs trägt, im Wissenschaftsbetrieb chancenlos sein.43 Ebenso chancenlos sollten gesellschaftspolitische Interventionen im Wissenschaftsbetrieb sein, die mit der Funktion von Wissenschaft nichts zu tun haben. Die Aufgabe der Wissenschaft ist Erkenntnisgewinn und nicht die Herstellung von Ergebnisgleichheit zwischen den Gruppen, auf denen das Augenmerk identitätslinker Läuterungsentrepreneure liegt. Hinzu kommt, dass Ergebnisgleichheit zwischen Gruppen ein unrealistisches Ziel darstellt, das (wenn überhaupt erreichbar) nur mit massiven illiberalen Interventionen erzwungen werden kann, ergo: tiefgreifenden Eingriffen in die Wissenschaftsfreiheit. Nun ist jedoch zunehmend das Gegenteil der Fall: Diese Konzepte sind alles andere als chancenlos. Wie einflussreich identitätspolitische Dogmen auch im deutschen Wissenschaftsbe­ trieb bereits sind, verdeutlicht eine im September 2022 vorgelegte Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Die Autoren der Stellungnah­ me Frauen in der Wissenschaft: Entwicklungen und Empfehlungen sprechen sich für Geschlechterparität – ergo Ergebnisgleichheit – aus, weisen männlich dominierten Strukturen eine wesentliche Verantwortung für die Unterrepräsentation von Frauen zu und begründen die Notwendigkeit von Interventionen vor allem mit der unbelegten These, dass es »eine oft mehr implizite als explizite Voreingenommenheit (bias), die die Rekrutierung, Wertschätzung und Förderung von Wissenschaftlerinnen behindert« gä­ be, welche »durch die Dominanz von Männern in Führungspositionen, institutionellen

42 Kostner, »Identitätslinke Läuterungsagenda. Welche Folgen hat sie für Migrationsgesell­ schaften?«, aaO. (FN 21). 43 Sandra Kostner, »Wer den strukturellen Rassismus leugnet, muss selbst ein Rassist sein – Analyse eines gefährlichen Denkfehlers« in: NZZ, 1. Dezember 2020: https://www.nzz.ch/fe uilleton/struktureller-rassismus-analyse-eines-gefaehrlichen-denkfehlers-ld.1589216.

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Entscheidungsgremien und Netzwerken« verstärkt würde.44 Die der Stellungnahme zugrunde liegende Programmatik bringt dieser Textauszug auf den Punkt: »Gleichstellung muss zu einer fest verankerten und priorisierten Aufgabe von Or­ ganisationsleitungen werden. Es bedarf entschlossener Initiativen und nachhaltiger Maßnahmen, um die Strukturen und Verhaltensweisen zu ändern, die die wissen­ schaftliche Karriere von Frauen immer noch behindern und sogar blockieren. Wenn im Folgenden solche Maßnahmen und Interventionen benannt werden, geschieht dies mit Blick auf das Ziel, in absehbarer Zeit für wissenschaftliche Führungspositio­ nen Geschlechterparität herzustellen. Diese Parität ist ein gesamtgesellschaftliches Ziel. Sie sollte in Institutionen wie Akademien, Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen ebenso wie bei der Planung von Verbundprojekten und der Vergabe von Preisen und Auszeichnungen gelten.«45 Um Geschlechterparität herzustellen, fordern die Autoren Interventionen, die mit deutlichen Eingriffen in die freie Auswahl von Bewerbern für Professuren und Lei­ tungsfunktionen einhergehen. So wird empfohlen, Tenure-Track-Stellen und andere weisungsungebundene Positionen paritätisch zu besetzen. In Fächern, in denen der Frauenanteil gering ist, sollen »ambitionierte Ziele« definiert werden. »Werden die Ziele in der vereinbarten Zeitspanne nicht erreicht, sind Konsequenzen materieller und struktureller Art (finanzielle Einbußen, Stellenumwidmungen etc.) zu gewärtigen und umzusetzen.«46 Außerdem soll, um eine »kritische Masse« von Frauen, die bei 30 Prozent angesetzt wird, auch in MINT-Disziplinen zu erreichen, »mindestens jede vierte, prospektiv jede dritte« Professur mit einer Frau besetzt werden.47 Das bedeu­ tet, dass, wenn ein Fach nur einen geringen Frauenanteil aufweist, Frauen bei der Besetzung von Professuren stark bevorzugt und Männer entsprechend benachteiligt werden müssen. Darüber hinaus wird gefordert, dass, wenn »eine wissenschaftliche oder wissenschaftsorganisatorische Schlüsselposition durch einen Mann besetzt« wird, es »transparent und detailliert zu begründen« gilt, »warum keine Wissenschaftlerin rekrutiert werden konnte«48. Es werden überdies auch Eingriffe vorgeschlagen, die die Ausrichtung wissenschaftlicher Konferenzen und die daraus resultierenden Publi­ kationen betreffen. Wirken an diesen nur wenige Wissenschaftlerinnen mit, sollten sie

44 Leopoldina, Stellungnahme Frauen in der Wissenschaft: Entwicklungen und Empfehlungen, September 2022: https://www.leopoldina.org/publikationen/detailansicht/publication/fraue n-in-der-wissenschaft-entwicklung-und-empfehlungen-2022/, hier insbesondere S. 13. 45 Leopoldina, Frauen in der Wissenschaft: Entwicklungen und Empfehlungen, aaO. (FN 43), S. 16. 46 Leopoldina, Frauen in der Wissenschaft: Entwicklungen und Empfehlungen, aaO. (FN 43), S. 18. 47 Leopoldina, Frauen in der Wissenschaft: Entwicklungen und Empfehlungen, aaO. (FN 43), S. 18. 48 Leopoldina, Frauen in der Wissenschaft: Entwicklungen und Empfehlungen, aaO. (FN 43), S. 20.

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»weder hochschulintern noch -extern finanziell unterstützt werden. Hier kommt der DFG und den Wissenschaftsstiftungen eine besondere Verantwortung zu«49. Um die Leitungsebenen dazu zu bringen, all diese Interventionen umzusetzen, soll »die Vergabe institutionsgebundener Mittel und persönlicher Leistungszulagen« an die Erreichung der Gleichstellung geknüpft werden.50 »Einrichtungen, die es wieder­ kehrend an einer tatkräftigen und erfolgreichen Gleichstellungspolitik fehlen lassen, sollten finanzielle Sanktionen gewärtigen.«51 Zusammengenommen läuft dies darauf hinaus, dass Personalentscheidungen von De-facto-Quoten dominiert werden, womit zwangsläufig dem wissenschaftsfremden Kriterium »Geschlechtsmerkmal« mehr Ge­ wicht zukommt als der Qualifikation. Auch die DFG – die größte deutsche Forschungsförderungsorganisation – begüns­ tigt einen Wissenschaftsansatz, der darauf hinausläuft, dass wissenschaftsfremde identi­ tätspolitische Gleichstellungs- und Diversitätsdogmen wichtiger für die Vergabe von Fördermitteln werden als die wissenschaftseigenen Leistungskriterien. Im Juli 2022 teilte die DFG mit, dass die seit 2008 geltenden Forschungsorientierten Gleichstel­ lungsstandards um weitere Diversitätsdimensionen erweitert werden. Nunmehr sollen im Förderhandeln der DFG insbesondere auch »ethnische Herkunft, Religion und Weltanschauung, Behinderung oder chronische/ langwierige Erkrankung sowie soziale Herkunft und sexuelle Orientierung« sowie Intersektionalität berücksichtigt werden. Gleichstellungsmaßnahmen sollen insbesondere für das Diversitätsmerkmal soziale Herkunft, worunter Migrationsgeschichte, ein nicht akademisches Elternhaus und die ökonomische Lage gefasst werden, entwickelt werden.52 In den Forschungsorientierten Gleichstellungs- und Diversitätsstandards der DFG heißt es, dass die Einhaltung dieser Standards im Fall von Mitgliedseinrichtungen entscheidungsrelevant bei der Mittelbewilligung für DFG-Forschungsverbünde ist. Bei Nichtmitgliedern werden die Standards »angemessen berücksichtigt«53. Zur Fest­ stellung, ob diese Standards eingehalten werden, zieht die DFG unter anderem diese Kriterien heran: »Gleichstellung und Diversität werden durchgängig und sichtbar auf allen Ebenen der Organisation verfolgt«; »alle Struktur- und Steuerungsmaßnahmen innerhalb der Einrichtung werden systematisch gleichstellungs- und diversitätsorien­

49 Leopoldina, Frauen in der Wissenschaft: Entwicklungen und Empfehlungen, aaO. (FN 43), S. 21. 50 Leopoldina, Frauen in der Wissenschaft: Entwicklungen und Empfehlungen, aaO. (FN 43), S. 17. 51 Leopoldina, Frauen in der Wissenschaft: Entwicklungen und Empfehlungen, aaO. (FN 43), S. 22. 52 DFG, Pressemitteilung Nr. 27, 5. Juli 2022: DFG startet neue Initiative für Gleichstellung und Diversität: https://www.dfg.de/service/presse/pressemitteilungen/2022/pressemitteilun g_nr_27/index.html. 53 DFG, Die »Forschungsorientierten Gleichstellungs- und Diversitätsstandards« der DFG: https://www.dfg.de/foerderung/grundlagen_rahmenbedingungen/chancengleichheit/all g_informationen/gleichstellungsstandards/.

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tiert gestaltet«; »Gleichstellung und – soweit möglich – auch Diversität« sind bei der Personalauswahl und bei Entscheidungen über Ressourcen zu berücksichtigen.54 Nun sind diese Kriterien vager formuliert als die Interventionen in der LeopoldinaStellungnahme, aber sie orientieren sich letztlich beide an dem Ziel der Gleichstellung, deren Erreichung nicht anhand von Chancengleichheit, sondern anhand von Ergebnis­ gleichheit gemessen wird. Ein wesentlicher Unterschied ist, dass die DFG sich nicht auf eine Diversitätsdimension beschränkt, sondern die Vergabe von Mitteln davon ab­ hängig machen möchte, dass Antragsteller vorweisen können, dass sie eine erhebliche Bandbreite an Diversitätsdimensionen gleichermaßen auf allen Ebenen fördern und sichtbar machen. Eine wissenschaftsfremde Diversitätsfixierung des Wissenschaftsbe­ triebs ist die absehbare Folge. Der Wettbewerb der Hochschulen orientiert sich dann nicht mehr an Exzellenz, sondern daran, wer die meisten Diversitätsdimensionen sicht­ bar machen kann. Damit übernimmt der Wissenschaftsbetrieb politische Aufgaben, die ihn von seiner eigentlich zu erfüllenden gesellschaftlichen Funktion wegführen: der Produktion von möglichst gut abgesichertem Wissen. 4. Resümee und Ausblick Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit gehen gegenwärtig in erster Linie auf die identitätslinke Läuterungsagenda zurück. Es handelt sich dabei nicht um »harte«, son­ dern um »weiche« Freiheitseinschränkungen. Letztere resultieren aus der Schaffung ei­ nes Klimas der intellektuellen Unfreiheit sowie aus systeminternen Anreiz- und Sank­ tionsmechanismen für (nicht) agendakonforme Forschung und Lehre. Verengungen dessen, wer, wozu und mit welchen Ergebnissen forschen, publizieren und vortragen kann, entstehen durch ein Zusammenwirken aus studentischer Skandalisierung von »Verstößen« gegen identitätslinke Dogmen, dem Wegducken beziehungsweise ambiva­ lenten Handeln von Hochschulleitungen, dem Agieren von Agendawissenschaftlern und einer zunehmend an identitätslinken Gesellschaftsvorstellungen orientierten For­ schungsförderung. Warum der Einfluss der Vertreter der identitätslinken Läuterungsagenda in den letzten Jahren zugenommen hat, liegt vor allem daran, dass ihr »Marsch durch die Institutionen« sie in eine Position gebracht hat, wo sie zahlreich genug sind, um institutionenverändernd zu agieren. Dabei kommt ihnen entgegen, dass viele Hoch­ schulangehörige, die ihre Ziele nicht teilen, in einer Kosten-Nutzen-Abwägung zum Schluss gelangen, dass Schweigen eine bessere Option ist, als mit der Instrumententrias (moralische Diskreditierung, soziale Ausgrenzung und institutionelle Bestrafung) kon­ frontiert zu werden. Da Agendawissenschaftler politische Ziele verfolgen und Forschung sowie Lehre zu diesem Zweck einsetzen, bedeutet ihre erfolgreiche Einflussnahme auf das Wissen­ schaftssystem, dass dieses zunehmend auf gesellschaftspolitische Aufgaben hin ausge­ 54 DFG, Die »Forschungsorientierten Gleichstellungs- und Diversitätsstandards« der DFG, aaO. (FN 52).

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richtet wird. Je mehr eine Form der Forschung und Lehre normalisiert wird, die aus der identitätslinken Läuterungsagenda abgeleiteten gesellschaftspolitischen Zielen unterworfen ist, desto stärker wirkt sich das auf das Erforsch- und Publizierbare aus. Besonders problematisch ist, dass die Vorstellung davon, was Menschen als diskrimi­ nierend, stigmatisierend oder schädigend wahrnehmen könnten, mithilfe des Concept Creep enorm ausgedehnt wurde. Zugleich wird diese Vorstellung zum Gradmesser dafür erhoben, ob Forschung gefördert und Texte publiziert werden. Wenn sich die­ ser Publikationsvorbehalt darüber hinaus wie bei Nature auf Forschungsergebnisse erstreckt, die sich nachteilig auf bestimmte Kollektive (i.d.R. Opfer- und Schuldgrup­ pen) auswirken könnten, dann ist der Schritt zum intellektuellen Lockdown nur noch ein kleiner. Es liegt ferner auf der Hand, dass die Orientierung daran, was von Angehörigen spezifischer Gruppen als verletzend, diskriminierend oder re-traumatisierend empfun­ den werden könnte, für das Lehrklima an Universitäten folgenreich ist, weil dann dem Schutz vor Argumenten Priorität gegenüber dem Schutz von Argumenten eingeräumt wird. Ein solches Schutzverständnis untergräbt die Meinungs- und Wissenschaftsfrei­ heit in ihrer verfassungsrechtlichen Intention, d.h. als Recht des Individuums seine Meinung kundzutun und Lehrinhalte frei zu wählen. Und es vermittelt Studierenden ein funktionsfremdes Verständnis von Wissenschaft, das sie dazu motiviert, ihre Ge­ fühle in den Mittelpunkt zu stellen und diese zu nutzen, um weltanschauliche Interes­ sen durchzusetzen. Die identitätslinke Beeinflussung des Wissenschaftssystems zeigt sich auch daran, dass Forschungsförderung vom Erreichen von Gleichstellungs- und Diversitätszielen abhängig gemacht wird. Gradmesser für das Erreichen dieser Ziele ist eine statisti­ sche Angleichung zwischen Gruppen, die als privilegiert (Schuldgruppen) und nicht privilegiert (Opfergruppen) gesehen werden. Wird Forschungsförderung von gesell­ schaftspolitischen Zielen abhängig gemacht, kann zwar weiterhin jeder Wissenschaftler frei seine Forschungsthemen wählen, er hat nur, wenn seine Institution die Gleich­ stellungs- und Diversitätskriterien nicht erfüllt oder er selbst beispielsweise nicht ge­ nügend Frauen an seinem Forschungsvorhaben beteiligt, keine Chance – oder zumin­ dest eine deutlich verringerte Chance – auf Forschungsförderung. Insbesondere Nach­ wuchswissenschaftler können es sich nicht leisten, auf Drittmittel zu verzichten, sodass der beabsichtigte intellektuelle Normierungsdruck gerade bei ihnen seine Wirkung entfalten kann. Zugleich wird durch die Belohnung agendakonformer Forschung das Signal an die wissenschaftliche Community gesendet: intellektueller Konformismus zahlt sich aus. Je mehr Einrichtungen der Forschungsförderung und je mehr Publikati­ onsorgane die Mittelvergabe und die Veröffentlichung von Texten an gesellschaftspoli­ tische Vorgaben knüpfen, desto schwieriger wird es für Wissenschaftler, die am System teilhaben möchten, nicht agendakonforme Forschungsvorhaben zu verfolgen. All das ist zwar im Sinne der Agendawissenschaftler sowie aktivistischer Studieren­ der, aber die intellektuelle Vielfalt, die für ein gut funktionierendes Wissenschaftssys­ tem konstitutiv ist, geht auf diese Weise Schritt für Schritt verloren und macht einer läuterungskonformen – ergo einer spezifischen Form der demographischen – Vielfalt

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Platz, die inhaltlich auf intellektuelle Homogenität hinausläuft. Diese Entwicklungen beeinträchtigen die Freiheit von Forschung und Lehre: Beide können weiterhin in An­ spruch genommen werden, aber es ist klar, dass man mit abweichenden Forschungs­ projekten karrieregefährdendes Terrain betritt. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes analysieren unterschiedliche Aspekte der Freiheit von Forschung und Lehre. Christian von Coelln und Arne Pautsch beleuchten die grundrechtlichen Gewährleistungen der Meinungs- und Wissenschafts­ freiheit. Marie-Luisa Frick arbeitet in ihrem Beitrag heraus, wie ein unterschiedliches Verständnis von Wissenschaftsfreiheit zu Konflikten führt. Ferner stellt sie eine Ty­ pologie verschiedener Arten der Delegitimierung von Wissenschaft beziehungsweise von Wissenschaftlern auf. Richard Traunmüller unterzieht in seinem Beitrag die »Can­ cel-Culture«-Hypothese anhand von Umfragen unter circa 20.000 Studierenden an US-amerikanischen Hochschulen einer empirischen Überprüfung. Russell A. Berman betrachtet ebenfalls die Lage in den USA. Sein Fokus liegt darauf, wie sich die Inklusi­ on von Studierenden mit Minderheitenhintergrund und das Ziel einer diversitätssensi­ blen Lehre auf die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit auswirken. Die nachstehenden Autorinnen und Autoren befassen sich mit verschiedenen Erscheinungsformen ideolo­ gisierter, politisierter und moralisierter Wissenschaft und deren Folgen für die Freiheit von Forschung und Lehre: Inken Prohl untersucht die Gründe und Folgen des »woke turn« in der Religionswissenschaft und arbeitet die Folgen für die Wissenschaftsfrei­ heit heraus. Stefan Luft legt dar, wie die Politisierung der Migrationsforschung Züge einer intellektuellen Hegemonie angenommen hat, die vielfältige Forschungszugänge untergräbt. Barbara Holland-Cunz, Vojin Saša Vukadinović und Alexander Zinn zei­ gen anhand der identitätspolitisch stark aufgeladenen Dimensionen Geschlecht/ Gen­ der und Transgender auf, wie Ideologisierung und Politisierung akademische Diskurs­ räume verengen. Michael Esfeld widmet sich schließlich in seiner Analyse der Frage, wie in der Corona-Krise die Verzahnung von Wissenschaft und Politik – Stichwort: »follow the science« – die Freiheit der Wissenschaft unterminiert hat.

I. Empirische, philosophische und juristische Perspektiven

Richard Traunmüller

Die »Cancel Culture«-Hypothese auf dem empirischen Prüfstand Zusammenfassung Dieser Beitrag versucht, die vielfach geäußerte Sorge um eine »Cancel Culture« an den Hochschulen konzeptionell als überprüfbare Hypothese zu rekonstruieren und empirisch zu testen. Auf Datenbasis einer Umfrage unter rund 20.000 Studenten aus 55 verschiedenen US-amerikanischen Universitätskontexten und unter Verwendung statistischer Regressionsmodelle finden die Vorhersagen der Cancel Culture-Hypothe­ se breite empirische Unterstützung. In Universitätskontexten mit weit verbreiteten kulturellen Normen und Praktiken der Cancel Culture ist das Selbstzensurverhalten der Studenten signifikant stärker ausgeprägt. Weitere Analysen wenden sich alternati­ ven Erklärungen und konkurrierenden Hypothesen zu, die von Kritikern der Cancel Culture-Hypothese vorgebracht werden. Insgesamt liefern die berichteten Ergebnisse einen evidenzbasierten Beitrag zur polarisierten Debatte über Wissenschaftsfreiheit, Studentenproteste und Cancel Culture und legen nahe, dass die sich damit verbunde­ nen Befürchtungen empirisch nicht ohne Weiteres von der Hand weisen lassen. Summary: The Cancel Culture Hypothesis in Empirical Perspective This paper attempts to reconstruct the widely expressed concern about a Cancel Cul­ ture at universities as a testable hypothesis. Based on survey data of approximately 20,000 students from 55 different U.S. university contexts and using statistical regres­ sion models, the predictions of the Cancel Culture Hypothesis find broad empirical support. In university contexts with widespread cultural norms and practices of cancel culture, students’ self-censorship behavior is significantly stronger. Further analyses turn to alternative explanations and competing hypotheses advanced by critics of the Cancel Culture Hypothesis. Overall, the reported findings provide an evidence-based contribution to the polarized debate over academic freedom, student protests, and Cancel Culture, and suggest that related concerns cannot be easily dismissed empirical­ ly. Keywords: Cancel Culture, Wissenschaftsfreiheit, freie Meinungsäußerung, Selbstzen­ sur, Hochschulen Richard Traunmüller ist Professor für Politikwissenschaft und Empirische Demokra­ tieforschung an der Universität Mannheim Korrespondenzanschrift: [email protected]

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Die Vorstellung, dass die Freiheit in liberalen Demokratien nicht formell durch den Staat, sondern informell durch kulturelle Normen und soziale Mechanismen bedroht ist, ist ein klassisches Argument in den Sozialwissenschaften.1 Dieses Argument hat in jüngster Zeit in der Debatte um eine zunehmende »Cancel Culture« an den Hoch­ schulen an neuer Aktualität und Bedeutung gewonnen.2 Nach allgemeinem Verständ­ nis bezieht sich Cancel Culture auf eine Reihe von neuen kulturellen Normen und Praktiken, die darauf abzielen, Redner und Ideen, die als moralisch oder politisch an­ stößig gelten, zum Schweigen oder Verschwinden zu bringen. Doch während es in der lebhaften Debatte nicht an Argumenten und Anekdoten mangelt, sind systematische empirische Untersuchungen noch immer selten anzutreffen3 und selbst Gegenstand von kontroversen Auseinandersetzungen.4 Gibt es Belege für ein restriktives kulturelles Klima an Hochschulen, das offene Debatten verhindert, Selbstzensur fördert und damit letztlich die Wissenschaftsfreiheit bedroht? In diesem Beitrag versuche ich, die Hypothese der Cancel Culture konzep­ tionell zu rekonstruieren und empirisch zu überprüfen. Ich schlage zunächst vor, drei zentrale Dimensionen von Cancel Culture zu unterscheiden: Normen der Into­ leranz, die Praxis des De-Platforming und eine Verhaltensstrategie der Selbstzensur. Die Cancel Culture-Hypothese geht davon aus, dass diese drei Elemente eng kausal miteinander verbunden sind und sich gegenseitig bedingen. Mit anderen Worten gilt es, eine kulturalistische Kontexthypothese zu überprüfen, nach der die vorherrschenden 1 Alexis de Tocqueville, De la Démocratie en Amérique, Paris 1850; John Stuart Mill, On Liber­ ty, London 1859. Elisabeth Noelle-Neumann, »The Spiral of Silence. A Theory of Public Opinion« in: Journal of Communication 24, Nr. 2 (1974), S. 43–51; Glenn C. Loury, »SelfCensorship in Public Discourse: A Theory of Political Correctness and Related Phenome­ na« in: Rationality and Society 6, Nr. 4 (1994), S. 428–461; James L. Gibson, »The political consequences of intolerance: Cultural conformity and political freedom« in: American Politi­ cal Science Review 86, Nr. 2 (1992), S. 338–356; James L. Gibson, »Intolerance and political re­ pression in the United States: A half-century after McCarthyism« in: American Journal of Po­ litical Science 52, Nr. 1 (2008): S. 96–108. 2 Bradley Campbell / Jason Manning, The rise of victimhood culture: microaggressions, safe spaces, and the new culture wars, New York 2018; Greg Lukianoff / Jonathan Haidt, The Coddling of the American Mind: How Good Intentions and Bad Ideas Are Setting up a Generation for Failure, New York 2018; Pippa Norris, »Cancel Culture: Myth or Reality?« in: Political Studies (Online First, 2021). 3 Siehe jedoch Matthias Revers / Richard Traunmüller, »Is free speech in danger on university campus? Some preliminary evidence from a most likely case« in: Kölner Zeitschrift für Sozio­ logie und Sozialpsychologie 72, Nr. 3 (2020), S. 471–497; Eric Kaufmann, »Academic freedom in crisis: Punishment, political discrimination, and self-censorship« Center for the Study of Partisanship and Ideology 2 (2021), S. 1–195; Norris, »Cancel Culture: Myth or Reality?«, aaO. (FN2). 4 z.B. Lars Meier, »Eine soziologische Unschärferelation: Replik zum Aufsatz »Is Free Speech in Danger on University Campus? Some Preliminary Evidence from a Most Likely Case« von Matthias Revers / Richard Traunmüller« in: Kölner Zeitschrift für Soziologie & Sozialpsycholo­ gie 73, Nr. 1 (2021), S. 129–135; Richard Traunmüller / Matthias Revers, »Meinungsfreiheit an der Universität: Unschärfen und Strohmänner (Antwort an Lars Meier)« in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 73, Nr. 1 (2021), S. 137–146; Paula-Irene Villa / Richard Traunmüller / Matthias Revers, »Lässt sich ›Cancel Culture‹ empirisch belegen? Impulse für eine pluralistische Fachdebatte« in: Aus Politik und Zeitgeschichte 71, Nr. 46 (2021), S. 26–33.

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Toleranznormen und Protestpraktiken im universitären Umfeld als wichtige Determi­ nanten für die Neigung zur Selbstzensur wirken. Auf der Grundlage einer Umfrage unter rund 20.000 Studenten aus 55 verschiede­ nen US-amerikanischen Universitätskontexten und unter Verwendung einfacher statis­ tischer Regressionsmodelle finde ich breite Unterstützung für die Vorhersagen der Cancel Culture-Hypothese. In Universitätskontexten mit weit verbreiteten kulturellen Normen und Praktiken der Cancel Culture kommt es nicht nur zu mehr tatsächlichen Ausladungsversuchen und erfolgreichen Ausladungen von Gastrednern – auch das Selbstzensurverhalten der Studenten ist dort signifikant stärker ausgeprägt. Dieses Resultat gilt unabhängig von sozio-strukturellen Merkmalen der Studentenschaft, der vorherrschenden politischen Orientierung, dem Universitätstypus sowie regionalen Eigenschaften des Universitätsstandorts. In weiteren Analysen wende ich mich alternativen Erklärungen und konkurrieren­ den Hypothesen zu, die von Kritikern der Cancel Culture-Hypothese vorgebracht werden. Erstens, untersuche ich die ideologische Dominanzhypothese, der zufolge Selbstzensur das erwartbare Ergebnis einer strukturellen Mehrheiten-MinderheitenDynamik ist, die der »Schweigespirale« ähnelt (und die kürzlich von Pippa Norris vorgeschlagen wurde.5) Obwohl es deutliche politische Unterschiede in der Befürwor­ tung von Toleranz und De-Platforming sowie von Selbstzensurverhalten gibt, stelle ich fest, dass die Wirkung der universitären Cancel Culture nicht auf ein politisch unausgewogenes universitäres Umfeld reduziert oder gar durch dieses wegerklärt werden kann. Zweitens, und das ist noch bedeutsamer, betrachte ich die Minority Empowerment-Hypothese, die eine affirmative Haltung gegenüber der Cancel Culture einnimmt und vornehmlich in der aktivistisch-kritischen Literatur zu finden ist (und in Deutschland prominent etwa von Karsten Schubert vertreten wird6). Im Gegensatz zu der dort geäußerten Vorstellung, dass Cancel Culture und insbesondere aktivistisches De-Platforming probate Mittel sind, um marginalisierten Gruppen zu unterstützen, stellen sie sich als weitgehend unwirksam heraus, wenn es darum geht, die Stimmen von Frauen und Studenten aus ethnischem oder sexuellem Minderheitengruppen zu fördern. Insgesamt liefern die in diesem Artikel berichteten Ergebnisse einen evidenzbasier­ ten Beitrag zu der polarisierten Debatte über Wissenschaftsfreiheit, Studentenproteste und Cancel Culture und legen nahe, dass sich die damit verbundenen Befürchtungen empirisch nicht ohne Weiteres von der Hand weisen lassen. 1. Drei Dimensionen der Cancel Culture Der Begriff Cancel Culture ist bislang nicht klar definiert. Dies liegt mitunter daran, dass es sich in erster Linie um einen politischen und nicht um einen wissenschaftlichen

5 Norris, »Cancel Culture: Myth or Reality?«, aaO. (FN2). 6 Karsten Schubert, »›Political Correctness‹ als Sklavenmoral? Zur politischen Theorie der Pri­ vilegienkritik« in: Leviathan 48, Nr. 1 (2020), S. 29–51.

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Begriff handelt. Im Allgemeinen bezieht er sich aber auf eine Reihe von Normen und Praktiken, die ihren Ursprung im universitären Kontext haben und offene Debatten und Toleranz für abweichende Meinungen zugunsten ideologischer und moralischer Konformität einschränken.7 Um das Phänomen und seine Auswirkung zu rekonstruie­ ren und für eine empirische Analyse zu operationalisieren, schlage ich im Folgenden vor, drei Dimensionen von Cancel Culture zu unterscheiden. Erstens basiert Cancel Culture auf einer (Über-)Sensibilität gegenüber sozialer Un­ gleichheit und einer ausgeprägten Intoleranz gegenüber Ideen, die Gruppenungleich­ heiten legitimieren oder gar als diskriminierend gegenüber sozialen Minderheitengrup­ pen empfunden werden können. Intoleranz bezeichnet hierbei die Weigerung, die freie Äußerung von Ansichten und Argumenten zuzulassen, die man selbst ablehnt oder gar als gefährlich ansieht.8 Die kulturellen Normen, die dieser Intoleranz zugrunde liegen, werden in der Lite­ ratur unterschiedlich beschrieben. Die Soziologen Campbell und Manning beschreiben sie etwa als Ausdruck einer »Opferkultur« (victimhood culture).9 Diese stellt eine eigenständige und neuartige moralische Kultur dar, die sich aus Elementen der tradi­ tionellen Ehrenkultur (honor culture) und der modernen Kultur der Würde (dignity culture) zusammensetzt und deren Träger sehr empfindlich auf verbale Beleidigungen reagieren. Eine besondere Manifestation dieser Moralkultur ist das Konzept der soge­ nannten »Mikroaggressionen«: kleine und oft unbeabsichtigte verbale Äußerungen, die als Beweis für die systematische Unterdrückung von Minderheitengruppen gedeutet werden und daher sanktioniert werden sollen. Die Autoren Lukianoff und Haidt wiederum argumentieren, dass die kulturellen Normen, die in Hochschulen vermit­ telt werden, auf drei Prinzipien beruhen:10 erstens auf einem psychologisierenden Sicherheitsdenken, welches emotionales Unbehagen mit physischer Gefahr gleichsetzt, zweitens auf einer postulierten Überlegenheit subjektiv-emotionaler Empfindung ge­ genüber objektiv-rationaler Betrachtung, und drittens auf der Auffassung, dass die Gesellschaft aus moralisch guten und moralisch schlechten Gruppen besteht, deren moralischer Status sich aus ihrer relativen Position im bestehenden Machtgefüge er­ gibt. Auch wenn sich diese konzeptionellen Darstellungen der Cancel Culture im Detail unterscheiden, stimmen sie doch darin überein, dass der Normen der Cancel Culture in zwei grundlegenden Vorstellungen wurzeln: a) dass die Gesellschaft fundamental 7 Nadine Strossen, Resisting Cancel Culture: Promoting Dialogue, Debate, and Free Speech in the College Classroom. Perspectives on Higher Education, American Council of Trustees and Alumni 2020; Elliot Ackerman et al., »A letter on justice and open debate« in: Harper’s Magazine 7 (2020); Norris, »Cancel Culture: Myth or Reality?«, aaO. (FN 2). 8 John L Sullivan / James Piereson / George E. Marcus, »An alternative conceptualization of political tolerance: Illusory increases 1950s–1970s« in: American Political Science Review 73, Nr. (1979), S. 781–794. 9 Bradley Campbell / Jason Manning, »Microaggression and moral cultures« in: Comparative Sociology 13 (2014), S. 692–726; Bradley Campbell / Jason Manning, »Campus culture wars and the sociology of morality« in: Comparative Sociology 15, Nr. 2 (2016), S. 147–178; Campbell / Manning, The rise of victimhood culture, aaO. (FN 2). 10 Lukianoff / Haidt, The Coddling of the American Mind, aaO. (FN 2).

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in vermeintlich dominante (d.h. männliche, weiße, heterosexuelle) und vermeintlich unterdrückte (d.h. weibliche, nicht-weiße, homosexuelle) Identitätsgruppen unterteilt ist, und b) dass Sprache diese soziale Realität formt, indem sie bestehende Machtver­ hältnisse entweder reproduziert oder aufbricht. Der moralische Impetus der Cancel Culture besteht darin, sich auf die Seite der Unterdrückten zu stellen, die als moralisch überlegen angesehen werden, und die Machtverhältnisse umzukehren, indem Sprache reguliert und vermeintlich privilegierte Gruppen zum Schweigen gebracht werden. Zweitens ist Cancel Culture durch eine besondere Form des aktivistischen Protests gekennzeichnet, die als »De-Platforming« bekannt ist. De-Platforming bezieht sich auf die Praxis, eine Person aufgrund ihrer geäußerten moralischen oder politischen Ansichten daran zu hindern, an einer Universität zu sprechen, sie auszuladen oder dies zumindest zu versuchen. 11 Dabei unterscheidet sich die Praxis des De-Platforming vom traditionellen Protest, da sie nicht einfach dazu dient, Kritik und Meinungsver­ schiedenheiten zu kommunizieren, sondern stattdessen die Ansicht zum Ausdruck bringt, dass die Zielperson moralisch oder politisch derart verwerflich ist, dass ihr eine Stimme auf dem Campus verweigert werden sollte.12 Solche Studentenproteste, die dazu führen, dass kontroverse Redner ausgeladen und Universitätsveranstaltungen mit prominenten Gästen aufgrund von Sicherheitsbedrohungen abgesagt werden müssen, haben in den USA in den vergangenen 20 Jahren deutlich zugenommen (siehe Abbil­ dung 1).

11 Robert Mark Simpson / Amia Srinivasan, »No platforming« in: Jennifer Lackey (Hg.), Aca­ demic freedom, Oxford 2018, S. 186–210. 12 Simpson / Srinivasan, »No platforming«, aaO. (FN 11), S. 186.

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Ausladungsversuche 1998-2020 [Anzahl]

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Abbildung 1: Die Praxis des De-Platforming hat an US-amerikanischen Universitäten in den letzten 20 Jahren deutlich zugenommen. Eigene Darstellung auf Grundlage der Abbildung 1: Die Praxis des De-Platforming hat an US-amerikanischen Universitäten in den letzten 20 Ja FIRE Campus Disinvitation Database (1998–2020). deutlich zugenommen. Eigene Darstellung auf Grundlage der FIRE Campus Disinvitation Database (199 Drittens 2020). beinhaltet Cancel Culture die Verhaltensstrategie der Selbstzensur. Selbstzen­ sur bezieht sich auf das Zurückhalten der eigenen Meinungen oder eigener Stand­ punkte, um soziale Missbilligung und negative Sanktionen zu vermeiden.13 Zu den dieSelbstzensur. Gefühle anderer alternativen Motiven Cancel für Selbstzensur der Wunsch gehören,der Drittens beinhaltet Culture kann die Verhaltensstrategie Selbstzensu nicht zu verletzen, eine Gruppe oder Organisation zu schützen oder eine bestimmte bezieht auf14das Zurückhalten der also eigenen oder eigener um Sache zusich fördern. Obwohl Selbstzensur nichtMeinungen per se problematisch ist, istStandpunkte, sie mit mehreren negativen Externalitäten verbunden. Dazu gehört etwa das Fortbestehen ei­ soziale Missbilligung und negative Sanktionen zu vermeiden.13 Zu den alternativen Mo nes ungewünschten Status quo oder das plötzliche Auftreten unerwarteter, disruptiver Ereignisse. Aber im akademischen Kontext wohldie amGefühle bedeutsamsten dass zu weitver­ für Selbstzensur kann der Wunsch gehören, andererist,nicht verletzen, eine breitetes Selbstzensurverhalten zu verzerrtem Wissen und verarmten Debatten führt.15 Gruppe oder Organisation zu schützen oder bestimmte Sache fördern.14 Obwohl Für den freien Fluss von Informationen und deneine offenen Austausch von zu Argumenten und Ideen ist Selbstzensur schlicht fatal. Selbstzensur also nicht per se problematisch ist, ist sie mit mehreren negativen External Das Konzept der Selbstzensur ist für das Verständnis von Cancel Culture von verbunden. Dazu gehört etwa Fortbestehen quo oder da entscheidender Bedeutung, weil das es darauf verweist,eines dass ungewünschten Cancel Culture Status nicht auf einzelne Ausladungen und Absagen (»Einzelfälle«) reduziert werden kann. Vielmehr

plötzliche Auftreten unerwarteter, disruptiver Ereignisse. Aber im akademischen Konte

13 Daniel »Self-censorship as a weitverbreitetes socio-political-psychological phenomenon: Conception wohl am Bar-Tal, bedeutsamsten ist, dass Selbstzensurverhalten zu verzerrtem W and research« in: Political Psychology 38, Nr. 3 (2017), S. 7–65; Loury, »Self-Censorship in

Discourse«, aaO. (FN 1); 15 Timur Private truths, public lies: The socialund conse­ undPublic verarmten Debatten führt. Für Kuran, den freien Fluss von Informationen den offene quences of preference falsification, Harvard 1997.

14 Bar-Tal, »Self-censorship as a socio-political-psychological phenomenon«, Austausch von Argumenten und Ideen ist Selbstzensur schlicht aaO. fatal.(FN 13). 15 Kuran, Private truths, public lies, aaO. (FN 13).

Das Konzept der Selbstzensur ist für das Verständnis von Cancel Culture von entscheid

Bedeutung, weil es darauf verweist, dass Cancel Culture nicht auf einzelne Ausladunge

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hat Cancel Culture eine starke präventive Wirkung. Selbst jenseits von konkreten Sanktionen, die bestimmte Redner für das, was sie gesagt haben, treffen, schafft sie ein Klima der Furcht, in dem sich Universitätsangehörige selbst zensieren.16 Für jeden abweichenden Standpunkt, der öffentlich sanktioniert wird, bleiben zahllose weitere kritische Argumente oder unangepasste Gedanken einfach unausgesprochen, werden Vorträge oder Seminare nicht organisiert und Texte nicht verfasst oder mit Studenten nicht gelesen, um negative Konsequenzen zu vermeiden.17 Dieser Sachverhalt lässt sich treffend als »Eisbergmodell« der Cancel Culture bezeichnen.18 Einzelne mit medialer Aufmerksamkeit versehene Fälle von Ausladungen stellen demnach nur die sichtbare Spitze des Eisbergs dar, während der Großteil des Schadens, den Cancel Culture anrichtet, unsichtbar ist und unter der Oberfläche verbleibt. 2. Die »Cancel Culture«-Hypothese Eine zentrale Behauptung in der aktuellen Debatte über Cancel Culture lautet, dass die drei oben genannten Aspekte – Intoleranz, De-Platforming und Selbstzensur – in einem engen kausalen Zusammenhang stehen und es sich in diesem Sinne um ein allgemeines kulturelles Syndrom handelt. Insbesondere wird angenommen, dass die weit verbreitete Intoleranz und die aktivistische Praxis des De-Platforming zu einem kulturellen Klima des Konformismus und der Selbstzensur im Universitätskontext beitragen. Studenten, Professoren und andere Mitglieder der Universität würden sich aus Furcht zweimal überlegen, ob sie ihre Ansichten frei äußern wollen, und ziehen es oft vor, lieber ganz zu schweigen.19 Die Cancel Culture-Hypothese konzentriert sich demnach auf die Funktion soziokultureller Normen, die die Grenzen dessen festlegen, was von wem gesagt werden darf, und Sanktionen im Falle von Übertretungen legitimieren. Die Intoleranzdimen­ sion kann hier als der bewertende Aspekt und die De-Platforming-Dimension als der Durchsetzungsaspekt der Cancel Culture verstanden werden. Um eine theoreti­ sche Verbindung zwischen Cancel Culture und individuellem Selbstzensurverhalten herzustellen, ist es weiterhin sinnvoll, auf die sozialpsychologische Unterscheidung zwischen »deskriptiven« und »injunktiven« Normen zu verweisen.20 Der Einzelne kann sich dann zur Selbstzensur entschließen, weil er beobachtet, was andere um ihn herum sagen oder nicht sagen (deskriptive Norm), und weil er beobachtet, was mit denjenigen geschieht, die gegen die vorherrschenden kulturellen Normen der Cancel Culture verstoßen (injunktive Norm).

Strossen, Resisting Cancel Culture, aaO. (FN 7), S. 3. Loury, »Self-Censorship in Public Discourse«, aaO. (FN 1). Kaufmann, »Academic freedom in crisis«, aaO. (FN 3). Loury, »Self-Censorship in Public Discours«e, aaO. (FN 1); Lukianoff / Haidt, The Coddling of the American Mind, aaO. (FN 2); Strossen 2020. 20 z.B. Robert B. Cialdini / Noah J. Goldstein, »Social influence: Compliance and conformi­ ty« in: Annual Review of Psychology 55 (2004), S. 591–621. 16 17 18 19

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Zusammengefasst ist die in der Cancel Culture-Debatte geäußerte Besorgnis über ein kulturelles Klima des Konformismus eine kulturalistische Kontexthypothese, die die vorherrschenden Toleranznormen auf Universitätsebene und die Protestpraktiken der De-Plattformierung mit dem Selbstzensurverhalten auf individueller Ebene in Be­ zug setzt. Bevor ich diese Hypothese einer empirischen Prüfung unterziehe, ziehe ich jedoch noch zwei alternative Hypothesen in Erwägung, die das Argument der Cancel Culture-Hypothese relativieren könnten. 3. Alternative Hypothesen: Die ideologische Dominanzhypothese Die Grundannahme der ideologischen Dominanzhypothese beruht auf der Beobach­ tung, dass Akademiker politisch im Allgemeinen eher zu linken politischen Positionen tendieren. Für die Politikwissenschaften beispielsweise und auf Grundlage von Wäh­ lerregistrierungsdaten berichten Klein und Stern von einem Verhältnis von 5,6 zu 1 zugunsten der Demokraten gegenüber den Republikanern.21 Bei der Betrachtung der Parteizugehörigkeit finden Gross und Simmons sogar ein Verhältnis von 10 zu 1.22 Während die Wissenschaft im Allgemeinen und die Sozialwissenschaften im Besonde­ ren schon immer eher links ausgerichtet waren,23 hat sich dieses politische Ungleichge­ wicht in den letzten Jahrzehnten noch verstärkt. Dominante politische Ideologien in universitären Kontexten sind von Bedeutung, weil sich politische Ungleichgewichte auf das Kommunikationsverhalten von Indivi­ duen auswirken, insbesondere von Personen mit Minderheitsmeinungen.24 Die ideo­ logische Dominanzhypothese ist somit eine Variante des klassischen Arguments der »Schweigespirale«,25 wonach in einem Umfeld, in dem eine ideologische Perspektive dominiert, Individuen mit Minderheitenmeinungen dazu neigen, ihre Meinungen zu unterdrücken, um soziale Ausgrenzung zu vermeiden. Dieser soziale Prozess ist zu­ dem selbstverstärkend. Da Personen mit Minderheitsmeinungen sich nicht zu Wort melden, erscheint das Meinungsklima noch homogener, als es tatsächlich ist, was zu noch mehr Selbstzensur führt und so weiter. Unmittelbar auf dieser Idee aufbauend hat Pippa Norris vor Kurzem das Phänomen der Cancel Culture als »Kongruenztheorie« rekonstruiert, indem sie das Argument der »Schweigespirale« mit der klassischen Modernisierungstheorie kombiniert.26 Die 21 Daniel B. Klein / Charlotta Stern, »Professors and their politics: The policy views of social scientists« in: Critical Review 17, Nr. 3-4 (2005), S. 257–303. 22 Neil Gross / Solon Simmons, »The social and political views of American college and univer­ sity professors« in: dies. (Hg.) Professors and their politics, Baltimore 2014, S. 19–25. 23 siehe z.B. die frühe Studie von Paul F. Lazarsfeld / Wagner Thielens Jr., The Academic Mind, Glencoe 1958. 24 Robert Huckfeldt / John Sprague, »Networks in context: The social flow of political infor­ mation« in: American Political Science Review 81, Nr. 4 (1987), S. 1197–1216; Robert Huck­ feldt / Paul Allen Beck / Russell J. Dalton / Jeffrey Levine, »Political environments, cohesive social groups, and the communication of public opinion« in: American Journal of Political Science 39, Nr. 4 (1995), S. 1025–1054. 25 Noelle-Neumann, The Spiral of Silence, aaO. (FN 1). 26 Norris, »Cancel Culture: Myth or Reality?«, aaO. (FN2).

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Modernisierungstheorie geht von einem Kulturwandel hin zu progressiven Werten wie Geschlechtergleichheit, Antirassismus und LGBTQ-Rechten in postindustriellen Gesellschaften und insbesondere in deren jüngeren und besser ausgebildeten Bevölke­ rungsgruppen aus.27 Infolgedessen wird das universitäre Umfeld von Studenten und Professoren dominiert, die progressive Werte vertreten. Personen, die sozial-konserva­ tive Werte vertreten, fühlen sich wahrscheinlich nicht nur angegriffen, sondern von einer ernsthaften Berücksichtigung – angefangen bei Leselisten bis hin zu Veranstal­ tungsrednern und Seminardiskussionen – ausgeschlossen.28 Dieser Effekt geht jedoch keineswegs nur in eine Richtung. Da die vorherrschende Ideologie in einem Umfeld zentral ist, sagt die Kongruenztheorie auch voraus, dass sich linke Personen in konser­ vativen Universitätskontexten zum Schweigen gebracht fühlen und ihre Überzeugun­ gen nicht zum Ausdruck bringen können. Die ideologische Dominanzhypothese ist zwar ein enger Verwandter der Cancel Culture-Hypothese, doch unterscheiden sich beide Hypothesen in ihren Prämissen und Implikationen. Während die ideologische Dominanzhypothese auf einer struktu­ rellen politischen Mehrheit-Minderheit-Logik beruht, konzentriert sich die Cancel Culture-Hypothese auf die Funktion spezifischer kultureller Normen. In einem Fall handelt es sich um eine generelle und wohl kaum zu vermeidende soziale Regelmäßig­ keit, im anderen Fall um die Wirkung konkreter kultureller Inhalte und Ideen. 3.1 Die Minority Empowerment-Hypothese Kritiker der Cancel Culture-Hypothese – wenn sie diese nicht von vornherein als bloßen Mythos oder moralische Panik abtun29 – bejahen viele der Prinzipien und Normen, die der Cancel Culture zugrunde liegen. Sie betrachten die Gesellschaft, die Wissenschaft und die Hochschulen als inhärent vermachtete und ungerechte institutio­ nelle Strukturen, die dominante soziale Gruppen (d.h. Männer, Weiße, Heterosexuelle) privilegieren, während sie nicht privilegierte soziale Gruppen (d.h. Frauen, Nicht-Wei­ ße, sexuelle Minderheiten) systematisch diskriminieren und ausschließen. Die Befürworter der Cancel Culture argumentieren daher, dass eine gewisse Intole­ ranz und die aktive Verhinderung kontroverser Redner nicht nur legitime Formen der Meinungsäußerung und des Protests sind, sondern auch ein angemessenes Mittel zur Bekämpfung struktureller Diskriminierung auf dem Universitätscampus. Vor allem ist die Cancel Culture weit davon entfernt, eine Bedrohung der akademischen Freiheit darzustellen. Vielmehr fördert sie die akademische Freiheit, weil sie dazu beiträgt, nicht privilegierten Stimmen in der Wissenschaft Raum und Gehör zu verschaffen.30 27 z.B. Ronald Inglehart / Christian Welzel, Modernization, Cultural Change, and Democracy. The Human Development Sequence, Cambridge 2005. 28 Norris, »Cancel Culture: Myth or Reality?«, aaO. (FN 2), S. 3. 29 John K. Wilson, The myth of political correctness: the conservative attack on higher educati­ on, Durham 1995. 30 z.B. Herbert Marcuse, »Repressive Tolerance« in: Robert Paul Wolff / Barrington Moore, Jr. / Herbert Marcuse (Hg.), A Critique of Pure Tolerance, Boston 1965, S. 95–137. José Med­

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Die in der Minority Empowerment-Hypothese zum Ausdruck gebrachten Ansich­ ten sind nicht einfach nur eine normative Umkehrung der Cancel Culture-Hypothe­ se, die auf konkurrierende Werturteile über die Chancen und Gefahren von Cancel Culture hinausläuft. Obwohl sie aus einer normativ-kritischen, nicht aus einer posi­ tiv-analytischen Theorie abgeleitet ist, liefert die Hypothese des Minority Empower­ ments klar beobachtbare Implikationen, die empirisch getestet werden können. Zum Beispiel, indem man die statistischen Analysen getrennt für weibliche Studenten und für Angehörige ethnischer und sexueller Minderheiten wiederholt und untersucht, inwieweit die Toleranznormen und aktivistischen Praktiken der Cancel Culture das Selbstzensurverhalten dieser Gruppen verringern und sie tatsächlich ermutigen, sich freier zu äußern. 4. Daten & Methoden: Das Sample Um die Cancel Culture-Hypothese und ihre Alternativhypothesen zu testen, braucht man Daten, die es erlauben, Studenten in ihren variierenden universitären Umfeldern zu verorten. Die Analysen in diesem Beitrag stützen sich auf von CollegePulse erhobe­ nen Umfragedaten der 2020 Campus Free Speech Rankings.31 Die Daten wurden in einer Online-Umfrage vom 1. April bis 28. Mai 2020 gesammelt und enthalten die Antworten von N=19.969 Studenten, die in einem vierjährigen Studiengang an einer von J=55 Hochschulen in den USA eingeschrieben sind. Die Hochschulstichprobe be­ steht zu 69 Prozent (J=38) aus großen öffentlichen Universitäten und zu 31 Prozent (J=17) aus kleinen privaten oder religiös angegliederten Hochschulen, darunter alle acht Ivy-League-Universitäten (14,5 Prozent). Die Zahl der Studenten reicht von 2137 (DePauw University) bis 52.568 (Texas A&M University) mit einem Mittelwert von 22.134 Studenten und einer Standardabweichung von 11.810 Studenten. Etwa 20 Pro­ zent (J=11) der Universitäten befinden sich im Nordosten, 25 Prozent (J=14) im Mitt­ leren Westen, 33 Prozent (J=18) im Süden und 22 Prozent (J=12) im Westen der Verei­ nigten Staaten. Was die Studierendenmerkmale betrifft, so umfasst die Stichprobe 33 Prozent Studenten im ersten Studienjahr (N=6546), 24 Prozent im zweiten (N=4748), 23 Prozent im dritten (N=4688) und 20 Prozent im vierten Jahr (N=3982). Mehr als die Hälfte oder 59,5 Prozent von ihnen sind weiblich (N=11.889), 42,8 Prozent gehö­ ren einer nicht-weißen ethnischen Minderheit an (N=8511) und 19,7 haben eine sexu­ elle Minderheitsorientierung (N=3919). Politisch gesehen ist die Mehrheit der Studie­ renden, 54,4 Prozent, (im US-amerikanischen Sinne) liberal (N=10.773), 21,7 gemäßigt (N=4295) und 23,9 konservativ (N=4734).

ina, The epistemology of resistance: Gender and racial oppression, epistemic injustice, and re­ sistant imaginations, Oxford 2013. Karsten Schubert, Defending Plurality Four Reasons Why We Need to Rethink Academic Freedom in Europe, Verfassungsblog.de 2021. 31 Sean Stevens / Anne Schwichtenberg, College Free Speech Rankings: What’s the Climate for Free Speech on America’s College Campuses? FIRE 2020.

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4.1 Die Messung von Cancel Culture Der Datensatz enthält verschiedene Fragen zur Messung der Toleranz gegenüber kon­ troversen Standpunkten, Fragen zum De-Platforming als legitime Form des Protests und Items, die das Selbstzensurverhalten der Studierenden erfassen. Die (In-)Toleranznormen werden mit folgender Frage gemessen: »Studentengrup­ pen laden oft Redner auf den Campus ein, um ihre Ansichten zu einer Reihe von The­ men zu äußern. Bitte geben Sie bei den folgenden Fragen an, ob Sie es befürworten oder ablehnen würden, wenn Ihre Schule einen Redner auf dem Campus zulassen wür­ de, der die angegebene Meinung vertritt. a) Die USA sollten die israelische Militärpoli­ tik unterstützen, b) Das Christentum hat einen negativen Einfluss auf die Gesellschaft, c) Abtreibung sollte völlig illegal sein, d) Alle Weißen sind rassistisch, e) TransgenderPersonen haben eine psychische Krankheit, f) Black Lives Matter ist eine Hassgruppe, g) Einige Rassengruppen sind weniger intelligent als andere (1 – Starke Ablehnung, 2 – Eher Ablehnung, 3 – Eher Unterstützung, 4 – Starke Unterstützung).« Die Unterstützung für De-Platforming wird durch folgende Frage erfasst: »Wie akzeptabel ist es Ihrer Meinung nach, wenn Studierende die folgenden Maßnahmen ergreifen, um gegen einen Redner auf dem Campus zu protestieren: a) Entfernen von Flugblättern oder anderen Werbemitteln für einen bevorstehenden Redner oder eine Veranstaltung auf dem Campus? b) Blockieren des Zugangs anderer Studierender zu einer Veranstaltung auf dem Campus? c) Niederschreien eines Redners oder der Versuch, ihn daran zu hindern, auf dem Campus zu sprechen? d) Anwendung von Ge­ walt, um eine Rede oder Veranstaltung auf dem Campus zu verhindern? (1 – Niemals akzeptabel, 2 – Selten akzeptabel, 3 – Manchmal akzeptabel, 4 – Immer akzeptabel).« Die Daten enthalten auch mehrere Umfrage-Items, die die Neigung zur Selbstzen­ sur abfragen. Das erste Item lautet: »Hatten Sie persönlich schon einmal das Gefühl, dass Sie Ihre Meinung zu einem Thema nicht äußern konnten, weil Sie befürchteten, wie Studenten, ein Professor oder die Verwaltung darauf reagieren würden? (1 = Ja, 0 = Nein)«. Etwa 61 Prozent der befragten Studenten bejahen diese Frage. Darüber hinaus enthält die Umfrage eine kurze Batterie mit vier weiteren Fragen, die sich mit der Selbstzensur befassen: »Wie wohl würdest du dich fühlen, wenn du auf deinem Campus Folgendes tun würdest: a) Ein kontroverses politisches Thema mit deinen Kommilitonen diskutieren? b) Einem Professor in Bezug auf ein kontroverses Thema öffentlich widersprechen? c) Eine unpopuläre Meinung auf einem mit deinem Namen verknüpften Social-Media-Konto äußern? d) Einen Artikel oder Brief in der Studen­ tenzeitung schreiben, der die Hochschulverwaltung kritisiert? (1 – Sehr angenehm, 2 – Eher angenehm, 3 – Eher unangenehm, 4 – Sehr unangenehm).« Um Messgrößen zu konstruieren, untersuche ich zunächst die Dimensionalität der Cancel Culture, indem ich die Korrelationen zwischen den einzelnen Items unter­ suche. Zu diesem Zweck führe ich eine Faktorenanalyse auf der Ebene des Hoch­ schulkontexts durch. Dafür aggregiere ich zunächst die Antworten der Studierenden zu Intoleranz, De-Platforming und Selbstzensur auf ihr jeweiliges Campusumfeld, indem ich Durchschnittswerte bilde, die nach Ethnizität, Geschlecht, Jahrgangsstufe,

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Wählerregistrierungsstatus und Status der finanziellen Unterstützung post-stratifiziert werden, um sie für die tatsächliche Zusammensetzung im jeweiligen Hochschulkontext zu gewichten. Tabelle 1: Faktorstruktur der Cancel Culture-Items auf Hochschulebene (Faktorlan­ dungen >.35, Promax-Rotation) Faktor 1: Cancel Culture Index Toleranz: Alle Weißen rassistisch

.96

Toleranz: Christentum schädlich

.94

Selbstzensur: unpopuläre Meinung in sozialen Medien posten

.90

De-platforming: Veranstaltung blockieren

.88

De-platforming: Flyer entfernen

.87

De-platforming: Redner niederschreien

.84

De-platforming: Gewalt gegen Redner

.48

Faktor 2: Toleranz

.37

-.38

Toleranz: Abtreibung immer illegal

.90

Toleranz: BLM ist Hassorganisation

.82

Toleranz: Israels Militärpolitik unterstützen Toleranz: Transgenderpersonen psychisch krank

Faktor 3: Selbstzensur

.79 -.36

Toleranz: Intelligenzunterschiede bei ethnischen Gruppen

.72 .52

Selbstzensur: Professor öffentlich widersprechen

.91

Selbstzensur: kontroverses Thema mit Kommilitonen diskutie­ ren

.69

Selbstzensur: Hochschulverwaltung in Studentenzeitung kriti­ sieren Selbstzensur: Gefühl sich nicht äußern zu können

-.77

.43 .35

Wie in Tabelle 1 dargestellt, ermittle ich auf der Hochschulebene drei Faktoren, die den sozio-kulturellen Campus-Kontext beschreiben. Der erste und stärkste Fak­ tor vereint Elemente aus allen drei theoretischen Dimensionen, was auf eine enge Wechselbeziehung zwischen ihnen und somit auf ein allgemeines kulturelles Cancel Culture-Syndrom auf Hochschulebene schließen lässt. Am stärksten lagen auf diesen Faktor die Toleranz gegenüber Rednern, die sich kritisch gegenüber gesellschaftlich dominanten Gruppen (d.h. Weißen und Christen) äußern, gefolgt von der Rechtferti­ gung von Praktiken der De-Plattformierung, wie z.B. das Blockieren von Eingängen,

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das Entfernen von Flugblättern, das Niederschreien von Rednern und die Anwendung von Gewalt, um Redner zu stoppen. Darüber hinaus wirken sich auch zwei Elemente der Selbstzensur auf diesen Faktor aus: weniger Bereitschaft, unpopuläre Meinungen in sozialen Medien zu äußern, aber mehr Bereitschaft, die Universitätsverwaltung in der Studentenzeitung zu kritisieren. Der zweite Faktor umfasst die verbleibenden To­ leranz-Items (z.B. in Bezug auf Themen wie Abtreibung, BLM, Israel-Politik, Trans­ gender, Intelligenzunterschiede). Der dritte und letzte Faktor umfasst schließlich alle Selbstzensur-Items. 4.2 Statistische Analyse Die statistischen Analysen im vorliegenden Beitrag beschränken sich auf lineare Re­ gressionsmodelle von Aggregatdaten auf der Ebene der Universitäten. Weiterführende Analysen des gleichen Datenmaterials, insbesondere unter Verwendung von hierar­ chischen Modellierungsstrategien, die die Hochschulkontexte mit dem individuellen Verhalten von Studierenden in Bezug setzen, finden sich an anderer Stelle bei Traun­ müller.32 Als zentrale Erklärungsvariable verwende ich die Factor Scores für den ersten Fak­ tor auf Hochschulebene, den ich als »Cancel Culture Index« bezeichne. Dieser Index weist eine gute interne Skalenkonsistenz auf (Cronbachs Alpha von 0,75) und ist über den Hochschulkontext hinweg auf einen Mittelwert von Null und eine Standardabwei­ chung von Eins standardisiert. Die abhängigen Variablen variieren von Analyse zu Analyse und werden in den Abschnitten weiter unten vorgestellt, sobald sie relevant werden. Zusätzlich kontrollieren die Regressionsmodelle weitere Universitätsmerkmale. Da Cancel Culture sozio-kulturelle Normen beschreibt, die sich im Kern mit Gruppenun­ gleichheit und Diversität befassen, gedeiht sie unter ganz bestimmten strukturellen Bedingungen.33 Daher kontrolliere ich den Anteil weiblicher Studierender, den Anteil von Studierenden, die einer ethnischen, nicht-weißen Minderheit angehören, und den Anteil von Studierenden, die einer sexuellen Minderheit angehören. Alle Maße wer­ den aus den Antworten der Studierenden mit Hilfe von Poststratifikationsgewichten aggregiert. Wie Campbell und Manning weiter anmerken, »scheint es unter den Insti­ tutionen eine gewisse Korrelation zwischen Elitestatus und Opferkultur zu geben. [...] Die Opferkultur scheint an teureren und hochselektiven Hochschulen, deren Studentenschaft tendenziell aus wohlhabenderen Verhältnissen stammt, am stärksten ausgeprägt zu sein.«34 Ich füge daher auch eine Dummy-Variable für private Universi­ täten und eine Dummy-Variable für Ivy-League-Universitäten hinzu. Um die vorherr­ schende politische Ideologie auf dem Universitätscampus zu messen, aggregiere ich 32 Richard Traunmüller, »Testing the ›Campus Cancel Culture‹ Hypothesis«, Working Paper, Mannheim 2022. 33 Campbell / Manning, The rise of victimhood culture, aaO. (FN 2). 34 Campbell / Manning, The rise of victimhood culture, aaO. (FN 2), S. 152, eigene Über­ setzung.

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die individuelle ideologische Selbsteinordnung der Studenten auf die Ebene der Uni­ versität. Bei der Berechnung werden die ideologischen Durchschnittswerte gewichtet, um Ungleichgewichte in Bezug auf Ethnizität, Geschlecht, Jahrgang, Status der Wäh­ lerregistrierung und finanzielle Unterstützung auszugleichen. Um weitere strukturelle, kulturelle, politische und regionale Unterschiede der Hochschulstandorte zu erfassen, schließe ich auch Fixed Effects für die US-Zensusregionen ein. 4.3 Empirische Ergebnisse: Überprüfung der Cancel Culture-Hypothese Der Cancel Culture-Index wird aus den Einstellungen der Studenten konstruiert und gibt Aufschluss über das allgemeine sozio-kulturelle Klima auf dem Campus. Aber führt weit verbreitete studentische Intoleranz und Rechtfertigung von De-Platforming in einem Universitätskontext tatsächlich zu mehr Ausladungen von Gastrednern und Absagen von Universitätsveranstaltungen? Auf der Grundlage zusätzlicher Informa­ tionen aus der FIRE Campus Disinvitation Database (1998–2020) lässt sich der Cancel Culture-Index eines Universitätskontexts mit der Anzahl an Ausladungsversuchen und der Anzahl der erfolgreichen Absagen in Beziehung setzen. Ich stelle fest, dass die Einstellung der Studenten ein starker Prädiktor für das tat­ sächliche Absageverhalten ist. Die einfache Korrelation zwischen dem Grad der Can­ cel Culture auf dem Campus und der Anzahl der Versuche, Redner auszuladen, beträgt r = .64 (p