Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?: Wandel und Variationen einer Frage 9783787324606, 9783787324590

Die Frage ›Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?‹ gehört zu den ebenso traditionsreichen wie umstrittenen

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Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?: Wandel und Variationen einer Frage
 9783787324606, 9783787324590

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Daniel Schubbe · Jens Lemanski · Rico Hauswald (Hg.)

Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Wandel und Variationen einer Frage

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-2459-0 ISBN eBook: 978-3-7873-2460-6

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2013. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt Rico Hauswald · Jens Lemanski · Daniel Schubbe Variationen und Implikationen der Frage ›Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?‹ – Zur Einleitung des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Jens Lemanski ›Cur Potius Aliquid Quam Nihil‹ von der Frühgeschichte bis zur Hochscholastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Stefan Heßbrüggen-Walter Creatio ex nihilo und creatio nihili: Etwas und Nichts im Schöpfungsdenken der frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Hubertus Busche Die letzte Warum-Frage – Ihre zweifache Gestalt und ihre Beantwortung bei Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115

Markus Gabriel Schellings Antwort auf die Grundfrage der Metaphysik in der Urfassung der Philosophie der Offenbarung . . . . . . . . . . . . .

159

Matthias Koßler Lieber gar Nichts als Etwas – Die Frage unter pessimistischen Vorzeichen bei Schopenhauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Reinhard Schulz Karl Jaspers: Sein-Nichts-Spekulation und gegenwärtig leben – Einheit oder Widerspruch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

Ivo De Gennaro · Gino Zaccaria ›Um des Seyns willen‹ – Heidegger und der Schritt zum Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Waltraud Meints Hannah Arendts politische Übersetzung der Frage ›Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?‹ . . . . 263 Christian Weidemann Warum existiert überhaupt etwas und nicht nichts? Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie . . . . . . . . . . . 283 Josef M. Gaßner · Harald Lesch · Jörn Müller Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Ansätze und Perspektiven der Physik und Kosmologie . . . . . 339

Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383

6 | inhalt

– Rico Hauswald · Jens Lemanski · Daniel Schubbe –

Variationen und Implikationen der Frage ›Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?‹ Zur Einleitung des Bandes

1. Variationen und Implikationen In der Ideengeschichte kursieren Fragen, deren Antworten ebenso umstritten sind wie bereits die Sinnhaftigkeit der Fragestellungen selbst. Die Frage ›Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?‹ ist eine solche. Sprechen einige von ihr als der Grundfrage der Metaphysik, so stellen andere bereits abwertend fest, dass sie »in verschiedenen Abwandlungen und in nahezu allen Sprachen die ganze Welt der Kindheit durchzieht«1, oder verwerfen sie als »leer laufende metaphysische Frage«2. Obgleich die Frage immer wieder als klassisches metaphysisches Problem in die Mottenkiste der Philosophie verbannt wurde, dürfte unabhängig aller kritischen Argumente allein die Tatsache, dass diese Frage hartnäckig in verschiedenen Abwandlungen aufgegriffen wurde und zuverlässig ihre Renaissancen erlebt,3 dafür sprechen, sie in die Ideengeschichte mit aufzunehmen und ihr eine solche zu widmen. Unabhängig davon, ob man dieser Frage einen systematischen Sinn zu- oder abspricht, ist schwer zu leugnen, dass sie zu denjenigen zumindest der abendländischen Philosophiegeschichte gehört, anhand derer sich auch eine Entwicklung des Denkens und seines Selbstverständnisses nachzeichnen lässt. Während Arthur O. Lovejoy in seinem richtungsweisenden Aufsatz »The Historiography of Ideas« darauf hinweist, dass die Ideengeschichte Kategorien, Gedanken über einzelne Aspekte gemeinschaftlicher Erfahrungen, implizite und explizite Voraussetzungen, heilige Formulierungen und Schlagwörter, spezielle philosophische Theoreme oder allgemeine Hypothesen, Verallgemeinerungen oder methodologische Annahmen verschiedener Wissenschaften untersuche,4 wäre zusätzlich zu dieser Auf| 7

zählung eben auch eine spezifische Fragestellung als Exspektant für das thematische Zentrum einer historiographischen Ideenanalyse in Betracht zu ziehen. Dabei kann eine Kategorisierung der Frage an verschiedenen Punkten ansetzen: so beispielsweise auf der Seite der Antworten, die von theologischen über metaphysische bis zu sprachphilosophischeliminativistischen und physikalischen Ansätzen reichen. Dass es sich bei dieser Aufzählung keineswegs um eine chronologische Abfolge handelt, zeigt indessen das neu erwachte Interesse der analytischen Philosophie an metaphysisch-ontologischen Fragestellungen. Während Rudolf Carnap Martin Heideggers Auseinandersetzung mit ›Nichts‹ noch als Beispiel für seinen Versuch, metaphysisches Fragen als sinnlos zu entlarven, nutzte, finden sich in der aktuellen analytischen Szene vermehrt Autoren, die die ›Grundfrage‹ etwa im Kontext der Auseinandersetzung mit dem metaphysischen Nihilismus diskutieren, d. h. der These, dass es möglich gewesen wäre, dass nichts existiert, oder anders ausgedrückt, dass es ›leere‹ mögliche Welten gibt. Der Ansatz auf der Seite der Antworten ist allerdings problematisch, weil dieser suggeriert, dass es so etwas wie eine einheitliche Fragestellung gäbe. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein. Bereits die Formulierungen der Frage weichen stark voneinander ab: So formulieren Peter van Inwagen und E. J. Lowe die »Ultimate Why Question«5 so: »Why is there anything at all?«6, bei John F. Wippel findet sich folgende Formulierung: »Why is there anything at all rather than nothing whatsoever?«7, bei Daniel Goldstick heißt es hingegen: »Why is there something rather than nothing?«8. Auch bei den ›Klassikern‹ der Ideengeschichte finden sich unterschiedliche Formulierungen: So formuliert Leibniz u. a. »pourquoi il y a plus tôt quelque chose que rien«9, Schelling hingegen u. a. »Warum ist nicht nichts, warum ist überhaupt etwas?«10 und Heidegger u. a. schließlich »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?«11. Handelt es sich bei all diesen Formulierungsvarianten bloß um stilistische Variationen oder finden sich in diesen auch unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und Implikationen in Bezug auf die Fragerichtung? Deutlicher werden diese Unterschiede, wenn man zusätzlich die Fragen mit berücksichtigt, die sich zwar von der ›Grundfrage‹ deutlich abheben, aber dennoch in einem 8 | rico hauswald · jens lemanski · daniel schubbe

systematischen Zusammenhang mit ihr zu stehen scheinen: ›Warum ist diese Welt so (und nicht anders) beschaffen?‹, ›Warum ist dieser oder jener Wirklichkeitsbereich nicht leer?‹, ›Warum gibt es materielle Gegenstände?‹ oder schließlich ›Wenn es einen Schöpfergott als letzten Grund gibt, warum ist er und nicht vielmehr nicht?‹. Wie die ›Grundfrage‹ im Laufe der Geschichte genau formuliert, mit welchen anderen Fragen sie in Verbindung gebracht, in welchen Kontexten stehend sie wahrgenommen und mit welchen Mitteln sie zu beantworten versucht wurde, lässt zudem auch einen Bezug zur allgemeinen geistesgeschichtlichen Situation erkennen. Während etwa die Frühgeschichte der Frage bis einschließlich Leibniz und Schelling einen klarerweise theologischen oder mythischen Bezug hat, scheint in Zeiten, in denen das Urknallmodell unser kosmologisches Weltbild dominiert, eine Bezugnahme auf physikalische Theorien schwer vermeidbar zu sein. Wenn man heute die Frage stellt ›Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?‹ ist man schnell auch bei Fragen wie ›Was war vor dem Urknall, was hat ihn ausgelöst?‹ oder ›Wieso sind die Naturkonstanten so fein aufeinander abgestimmt, wie sie es zu sein scheinen?‹. Noch für Leibniz war dagegen die Frage, warum Gott die Welt geschaffen hat, eine geradezu offensichtliche Variante, eine Reformulierung der Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts. Dass Gottes Existenz ihrerseits begründungsbedürftig und daher keine Antwort auf die Frage darstellen kann, scheint ein allzu naheliegender Einwand gegen diesen Zug Leibniz’ zu sein, der jedoch ebenfalls den theologischen Hintergrund seines Denkens ausblendet. Denn an dieser Stelle wird der Zusammenhang der ›Grundfrage‹ mit traditionellen theologischen Motiven wie der notwendigen Existenz Gottes, die in den verschiedenen ›Gottesbeweisen‹ zu zeigen versucht wurde, ersichtlich. Was notwendig ist, ist nicht noch auf ein zusätzliches erklärendes Prinzip angewiesen. Immerhin taucht der Verweis auf die Notwendigkeit bestimmter Entitäten als mögliche Antwort auf die Frage, warum überhaupt etwas ist, auch in jüngsten Debatten der analytischen Metaphysik auf – nur dass es dort nicht mehr unbedingt Gott, sondern auch abstrakte Gegenstände wie Mengen oder Propositionen sind, deren notwendige Existenz als Explanans dafür, dass überhaupt etwas ist, zu verwenden versucht wird. Der theologische Hintergrund der Argumentation Leibniz’ Einleitung | 9

erhellt schließlich auch, wieso er die Frage nach dem Dass der Welt (»Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?«) so eng mit jener nach ihrem Wie (»Warum ist diese Welt (und nicht eine anders beschaffene)?«) verknüpft sieht. In dieser Doppelfrage spiegelt sich die theologische Unterscheidung zwischen zwei Aspekten der Freiheit Gottes vor Erschaffung der Welt wider, nämlich seine Freiheit, überhaupt eine Welt zu erschaffen oder nicht zu erschaffen, und seine Freiheit zur besonderen Wahl einer so oder eben auch anders beschaffenen Welt.12 Viele Philosophen, die sich nach Leibniz mit der ›Grundfrage‹ befasst haben, sind ihm in dieser Verbindung der Frage nach dem Dass mit jener nach dem Wie der Welt nicht gefolgt, sondern hielten es eher wie Wittgenstein, der in Satz 6.44 des Tractatus Logico-Philosophicus formuliert: »Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist.«13 Andere haben eine solche Verbindung sogar explizit kritisiert. So versucht beispielsweise Heidegger mit seiner Formulierung der ›Grundfrage‹, die seiner Meinung nach übergangene ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem bereits mit der Fragestellung sichtbar zu machen. Mit seiner Formulierung der Frage sucht er den von ihm betonten Grundzug der abendländischen Metaphysik – die Fixierung auf das Seiende – zu verdeutlichen. Auch die Großschreibung des ›Nichts‹ hat bei Heidegger eine Bedeutung, die die Spezifik seiner Fragestellung unterstreicht: Das großgeschriebene ›Nichts‹ ist keine bloße Negation des Seienden, sondern vielmehr der Versuch, ein erfahrbares ›Nichts‹ aufzuweisen, dass in einer ganz bestimmten Stimmung – der Angst im Sinne Heideggers – erfahrbar wird.14 Bei Heidegger findet sich unterdessen auch ein Hinweis darauf, dass es für die Bedeutung der Frage einen Unterschied macht, ob der Zusatz ›und nicht vielmehr Nichts‹ explizit Verwendung findet oder aber wie in der Formulierung von beispielsweise van Inwagen in einem ›at all‹ verschluckt wird. Der Punkt, auf den Heidegger dabei aufmerksam macht, ist, dass die einfache Frage ›Warum ist überhaupt Seiendes?‹ dazu verführt, dass »wir fragend unmittelbar nur bei dem fraglos vorgegebenen Seienden ansetzen und kaum ansetzend auch schon weiter und wegschreiten zum gesuchten auch seienden Grund«15. Nimmt man den Zusatz ›und nicht vielmehr Nichts‹ hingegen in die Fragestellung mit auf, so »wird dieses Sei10 | rico hauswald · jens lemanski · daniel schubbe

ende fragenderweise in die Möglichkeit des Nichtseins hinausgehalten. Das Warum gewinnt dadurch eine ganz andere Macht und Eindringlichkeit des Fragens«16. Damit wird schließlich ein weiterer Aspekt der Fragestellung problematisch: das Verständnis des ›Warum‹. Auch in dieser Hinsicht ist keineswegs entschieden, ob sich nicht bei den Autoren unterschiedliche Bedeutungen und Konnotationen des Fragewortes ›warum‹ ausmachen lassen. Aus der prononcierten Rolle des Prinzips des zureichenden Grundes (principium rationis sufficientis) ergibt sich bei Leibniz die ›Grundfrage‹, für Arthur Schopenhauer hingegen verliert dieses Prinzip jegliche metaphysische Dimension. Heidegger versteht unter dem ›Warum‹ nicht die Suche von Ursachen und Erklärungsgründen, sondern vielmehr »den Bezug zu Grund. Allein, weil gefragt wird, bleibt offen, ob der Grund ein wahrhaft gründender, Gründung erwirkender, Ur-grund ist; ob der Grund eine Gründung versagt, Ab-grund ist; ob der Grund weder das Eine noch das Andere ist, sondern nur einen vielleicht notwendigen Schein von Gründung vorgibt und so ein Un-grund ist«17. Die ›Grundfrage‹ ist somit eng an das Verständnis des ›Warum‹ und den Satz vom zureichenden Grund gebunden, dabei herrscht allerdings keine Einigkeit darüber, wie beide – beispielsweise in Bezug auf Ursachen oder Gründe – zu verstehen sind. Zudem: Warum eigentlich fast immer ›warum‹ und beispielsweise so selten ›wieso‹ oder ›weshalb‹? Gibt es weitere Rahmenbestandteile, die die Frage allererst möglich machen? Ein weiterer Bestandteil eines solchen Rahmens, scheint der Schöpfungsgedanke zu sein: Kann die Frage überhaupt in einer Epoche gestellt werden, in der die Welt, der Kosmos, das Universum allgemein als ungeschaffen, unveränderlich und ewig gilt? Unter zeitgenössischen Forschern wird dies zum Teil verneint, weil einige der Ansicht sind, dass erst eine Vorstellung von einer Schöpfung aus dem Nichts (creatio ex nihilo) die ›Grundfrage‹ überhaupt legitimieren konnte.18 Gibt es also einen systematischen Grund, von vornherein auszuschließen, dass die ›Grundfrage‹ in der antiken Philosophie, in der Scholastik oder im Humanismus überhaupt gestellt werden konnte? Und ist die ›Grundfrage‹ wirklich so ›ultimativ‹, wenn man trotz einer creatio ex nihilo an zyklische Erneuerungsprozesse im Universum glaubt, an ein ›Jenseits‹ Einleitung | 11

oder vielleicht sogar an viele Welten?19 Ist der Glaube an die Schöpfung aus dem Nichts also eine hinreichende oder eine notwendige Bedingung für die ›Grundfrage‹ oder vielleicht doch zuletzt gar kein so entscheidendes Kriterium, um die Bedeutung der Frage zu explizieren? Denn was heißt überhaupt ex nihilo bzw. wie muss das ›Nichts‹ verstanden werden? Die sprachlichen Feinheiten, die allein bei der Rede von einer Schöpfung a nihilo, de nihilo und ex nihilo von Jahrhundert zu Jahrhundert variieren, dürften bereits verdeutlichen, dass zum Verständnis der ›Grundfrage‹ nicht allein vorab die Frage geklärt werden muss, ob ›nichts‹ groß oder klein geschrieben wird, ob es ein nihil privativum oder negativum substituiert und ob in ihm ein ›etwas‹ schon enthalten ist oder selbst noch einmal ›aus Nichts‹ geschaffen werden muss. Und selbst wenn alle Antworten darauf gegeben wären, bliebe es wahrscheinlich weiterhin offen, ob die ›Grundfrage‹ wirklich eine Grundfrage oder doch vielmehr eine Ursachenfrage ist. Anders gefragt: Ist also die Voraussetzung für eine mögliche Beantwortung der ›Grundfrage‹ erst durch die sich in der Menschheitsgeschichte entwickelte Fähigkeit gegeben, einen nach Gründen handelnden personalen Gott, eine notwendig wirkende divinatorische Ursache oder doch ein zufällig naturalistisches Prinzip zu verbalisieren oder zumindest zu imaginieren? Vielleicht ist die Frage selbst der pointierteste Ausdruck eines umfassenden Staunens vor dem, was ist und dass es ist. Die Frage lässt die Rätselhaftigkeit unserer Existenz und der des Universums spürbarer werden als andere Fragen. Insofern scheint diese Frage unverwüstlich zu sein, so aussichtslos eine befriedigende Antwort auch sein mag. Allerdings sind die Frage und ihre Antwortversuche eben vielschichtiger als ein erster Blick auf die Antworten vermuten lässt – und dies durchaus auch hinsichtlich einer existentiellpraktischen Dimension. Dabei zeigt sich eine jeweilige Art und Weise, wie wir mit dieser Rätselhaftigkeit umzugehen geneigt sind – ja überhaupt bereit sind, ihr einen Raum zu geben, aber auch, ob sich dieser Raum überhaupt öffnet. Bei der ›Grundfrage‹ ist somit auch auf folgende Fragen zu achten: Wie wird diese Frage formuliert? Welche Schwerpunkte werden bei der Formulierung der Fragestellung gesetzt? Welche Antwortmöglichkeiten sind im Kontext der jeweiligen Stellung der Frage vorgezeichnet? Die Frage danach, warum etwas ist und nicht nichts, zeigt sich so auch als ein Spiegel 12 | rico hauswald · jens lemanski · daniel schubbe

eines sich im Wandel befindlichen Metaphysik- und PhilosophieVerständnisses, ja vielleicht sogar des Verständnisses unseres Aufenthaltes in der Welt, das die Formulierung der Frage und damit den Ausdruck des vielleicht umfassendsten Staunens mal mehr oder weniger explizit erlaubt. Fragen sind eben auch schon immer von vorausgehenden Antworten getragen.

2. Zu den Beiträgen des Bandes Angesichts dessen, dass die ›Grundfrage‹ bei den verschiedensten Autoren in unterschiedlichsten Kontexten auftaucht, kann das Projekt, für die Frage nicht nur systematisch, sondern auch historisch eine Schneise der Orientierung zu schlagen, nicht mehr als ein Versuch sein. Die Auswahl der Autoren und Ansätze ist somit angesichts der Quellenlage beschränkt, aber – wie wir hoffen – dennoch repräsentativ für entscheidende Entwicklungsschritte, Neuakzentuierungen und Antwortversuche. Ausgangspunkt ist dabei die Infragestellung der landläufig verbreiteten Meinung, dass die Frage ›Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?‹ zuerst in der von Leibniz formulierten Version »pourquoi il y a plus tôt quelque chose que rien« auftritt. Angeregt durch verschiedene bislang noch nicht zusammengestellte Forschungsergebnisse zur Geschichte der Frage, geht Jens Lemanski in seinem Beitrag der These nach, dass die ›Grundfrage‹ bereits lange vor Leibniz formuliert wurde. Bei der Überprüfung dieser These differenziert er zunächst systematisch die ›Grundfrage‹ in zwei Einzelfragen: ›Warum ist überhaupt etwas?‹ und ›Warum ist nicht vielmehr nichts?‹. Anhand dieser systematischen Unterscheidung durchsucht er die Philosophiegeschichte von der Frühgeschichte bis zur Hochscholastik hinsichtlich des Auftretens der Einzelfragen und ihrer Verbindung zur Grundfrage. Der Beitrag hebt sich insofern von den anderen inhaltlich und formal ab, als er methodisch gemäß der ihn leitenden Fragestellung eine lexikalisch-kritische Zusammenstellung und Besprechung von historischen Fundstellen und aktuellen Forschungsthesen liefert. Während sich Lemanski auf rein historische Linien der ›Grundfrage‹ konzentriert, gewinnt die Untersuchung der Frage mit SteEinleitung | 13

fan Heßbrüggen-Walters Beitrag eine erste semantische Dimension. Heßbrüggen-Walter klärt die für ein Verständnis der ›Grundfrage‹ relevanten Begriffe ›Etwas‹ und ›Nichts‹ in der frühen Neuzeit bis zu Leibniz. Anhand der so explizierten Bedeutungsvarianten dieser Begriffe zeigt Heßbrüggen-Walter, wie sich unterschiedliche Verständnismöglichkeiten der ›Grundfrage‹ ergeben. Dabei kommt er zu der Feststellung, dass in dem schöpfungstheologischen und -philosophischen Diskurs der damaligen Zeit weniger der heute weit verbreitete Sinn der ›Grundfrage‹ bestand, der nach einem Grund oder einer Ursache für die Entstehung des ›Etwas‹ aus dem ›Nichts‹ fragt; vielmehr belegt Heßbrüggen-Walter, dass in dem damaligen Fragehorizont vor allem eine Schöpfung des Nichts (in Form einer Unbestimmtheit) thematisiert wurde, dessen Übergang zum Etwas (in Form einer Bestimmtheit) dann fragwürdig erschien. Hubertus Busche verdeutlicht in seinem Beitrag, dass Leibniz’ ›letzte Warum-Frage‹ eigentlich eine Konjunktion zweier Fragen ist, deren zweiter Teil nicht nur in der Leibniz-Rezeption häufig übersehen worden ist, sondern auch in den späteren Diskussionen der ›Grundfrage‹ – die sich ja häufig auf Leibniz als zentrale, ursprüngliche Referenz bezogen haben – bestenfalls als nachgeordnet, irrelevant oder gar irreführend in diesem Kontext angesehen wurde. Während die erste Teilfrage auf die Existenz von etwas überhaupt abzielt, fragt die andere nach der konkreten Gestalt dieses etwas: Warum ist das, was ist, so, wie es ist, und nicht anders? Beide Fragen sind Leibniz zufolge durch das Prinzip des zureichenden Grundes legitimiert. Für Leibniz gehören beide Fragen nicht nur logisch zusammen, sondern verweisen auf ein und dasselbe Erklärungsprinzip: Gott hat die Welt überhaupt geschaffen und zwar genau so, wie sie ist, weil Gottes Wille so bestimmt ist, dass er nach dem Bestmöglichen strebt. Und bei der existierenden Welt – hierin wird der Bezug zu Leibniz’ Theodizee deutlich – handelt es sich eben genau um die beste aller möglichen. Während nun Leibniz die ›Grundfrage‹ noch als unlösbare Verbindung der Fragen nach dem Dass und nach dem Wie der Welt ansah, findet spätestens bei Schelling, der gleichwohl explizit auf Leibniz Bezug nimmt, eine Fokussierung auf die erste der Teilfragen statt. Wie originell nicht nur diese Neuformulierungen, sondern darüber hinaus auch die Neubeantwortungen der leibnizschen 14 | rico hauswald · jens lemanski · daniel schubbe

›Grundfrage‹ sind, demonstriert Markus Gabriel besonders an den Vorlesungen 4–11 der Urfassung der Philosophie der Offenbarung. Zum einen weist dieses Werk einen beständigen Traditionsbezug auf, da es als Spätwerk und mit seiner ›Grundfrage‹ belegt, dass Schellings Philosophie insgesamt als eine Auseinandersetzung mit der leibnizschen ›Grundfrage‹ verstanden werden kann, zum anderen lässt sich ein Bezug zur modernen Sprachphilosophie herstellen. Letzteres expliziert Gabriel anhand einer ›Theorie der logischen Zeit‹, in der Schelling so erscheint, als wolle er den sellarsschen Raum der Gründe durch eine Zeit der Urteile ergänzen. Das heißt, die Faktizität eines Urteils in der Gegenwart verweist auf eine Vergangenheit, in der der Mensch die ihm obliegende Freiheit des Urteilens verwirklichen wollte. Dieser durch den Willen bewirkte Übergang von der Vergangenheit in die Gegenwart, von der Möglichkeit in die Tatsächlichkeit des Urteilens eröffnet eine Analogie: So wie das Urteil durch den menschlichen Willen hervorgebracht wurde, so wird auch das Sein selbst hervorgebracht worden sein. Jedes singuläre Urteilen des Menschen gibt somit eine mikroskopische Antwort auf die makroskopische Frage nach dem Übergang vom ›Nichts‹ zum ›Etwas‹. Wie Matthias Koßler herausstellt, erlebt die Fragestellung durch Arthur Schopenhauer insofern eine Wendung im 19. Jh., als sich der Bewertungsrahmen, in dem sie gestellt wird, verändert. Mit Schopenhauer werde die Möglichkeit des Nichtseins der Welt zu einer echten Alternative: Die Existenz der Welt lasse sich nicht rechtfertigen, in erkenntnistheoretischer Hinsicht nicht, weil das Prinzip des zureichenden Grundes nicht in den Gegenstandsbereich der Metaphysik reiche, in metaphysischer Hinsicht nicht, weil der Wille als ›Ding an sich‹ als grundloses, reines Wirken verstanden werden muss. Koßler zeigt, dass die Frage bei Schopenhauer damit aber nicht verschwindet, sondern von einer theoretischen zu einer existentiellen wird, die den Sinn und Zweck des leidvollen Lebens angesichts einer grund- und sinnlosen Welt, in der das Nichtsein die bessere Wahl ist, umgreift. Es gehe dann um eine Haltung zur Welt, die sich auf die Option einer Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben beziehe. Somit sei der Wert des Lebens nach Schopenhauer in der Lektion zu suchen, das Leben »nicht zu wollen«. Einleitung | 15

Die von Schopenhauer eingeschlagene existentielle Wendung wird von Karl Jaspers unter anderen – ja, lebensbejahenderen – Vorzeichen fortgesetzt, ohne allerdings, dass Jaspers Schopenhauer zu würdigen wüsste. So macht Reinhard Schulz in seinem Beitrag über die ›Grundfrage‹ bei Jaspers die Unterscheidung zwischen einem theoretisch-ontologischen und einem existentiellen Sinn zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Schulz zeigt, dass Jaspers die ›Grundfrage‹ zwar von Leibniz, Kant und Schelling aufgreift, sie aber doch im Sinne des Bemühens seiner Philosophie, zu einem Ergreifen der eigenen Existenz beizutragen, antizipiert. Seinem eigenen Selbstverständnis nach folge Jaspers in dem Versuch, die ›Grundfrage‹ bewusst in der ›Schwebe‹ zu halten – also weder ganz auf die Seite der Subjektivität noch einer vermeintlichen Objektivität zu stellen – im Gegensatz zu Schelling der Denkhaltung Kants. Die »Sein-Nichts-Spekulation« erweise ihren Wert bei Jaspers nicht in möglichen Antworten, sondern in der Weise einer Ergriffenheit, die gerade in den »Grenzsituationen« für die Konstitution »wahrer Existenz« von Bedeutung sei. Damit gehe Jaspers auch über die auf die Angst bezogene Thematisierung des ›Nichts‹ bei Kierkegaard, Sartre, Camus und Heidegger hinaus. Die durch Schopenhauer und Jaspers vollzogene, ›existentialistische‹ Wendung der ›Grundfrage‹ erhält durch Heidegger eine abermalige Wendung, und zwar innerhalb eines Denkens, das man als ›seinsgeschichtlich‹ charakterisieren könnte. Entgegen der gewöhnlichen Behandlung des Themas bei Heidegger über die Schrift Was ist Metaphysik? entwerfen Ivo De Gennaro und Gino Zaccaria ihren Beitrag von der Abhandlung Besinnung aus. Im Mittelpunkt steht dabei Heideggers Auseinandersetzung mit der abendländischen Metaphysikgeschichte hinsichtlich der von ihm betonten »Seinsvergessenheit« und des von ihm angedachten Grundes als das »Warumlose«. Den Ausgangspunkt bildet dabei die Unterscheidung zwischen der metaphysischen Warumfrage (»Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts?«), der nicht länger metaphysischen Grundfrage der Metaphysik (»Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?«) und der eigentlichen Grundfrage (»Wie west das Seyn?«). Anhand des von Heidegger betonten Übergangs von dem Erstaunen vor dem Seienden zu seiner Bestimmung sowie Heideggers Thematisierung des Nihilismus gibt De 16 | rico hauswald · jens lemanski · daniel schubbe

Gennaro einen Blick auf die Zusammenhänge der Entwicklung der drei Frageformen hinsichtlich des »Ausbleiben des Seins« frei. Innerhalb dieser Geschichte der »Seinsvergessenheit« der Metaphysik macht Zaccaria mit einer Auslegung des Denkens Giacomo Leopardis auf einen Gegenpunkt aufmerksam, insofern Leopardis Denken als ein »augenblickliches Aufblitzen des Ausbleibens des Seins« gelesen werden könne. Eine völlig neue – weil zwar auf dem Boden der abendländischen Philosophiegeschichte stehende, aber in Absetzung zur Philosophie formulierte – Wendung bekommt die ›Grundfrage‹ im Zuge ihrer Umformulierung durch Hannah Arendt – und zwar zu der Frage »Warum ist überhaupt Jemand und nicht vielmehr Niemand?«, die Arendt als Kernfrage der Politik bezeichnet. Wie Waltraud Meints in ihrem Beitrag zeigt, steht diese Umformulierung in engem Zusammenhang mit Arendts kritischer Auseinandersetzung mit den Grundlagen philosophischen Denkens – insbesondere auch dem ihrer Lehrer Karl Jaspers und Martin Heidegger. Die Bedeutsamkeit, die Arendt der Frage als politische zuerkennt, erläutert Meints mit Blick auf die zentralen Aspekte des Arendtschen Denkens. Insbesondere ihre Betonung des öffentlichen Raums, der Pluralität der Menschen und die Auffassung, dass sich das Selbst und die Welt allererst in einer gemeinsamen praxis konstituieren, führt – wie schon bei Jaspers – zu einer abweichenden Bewertung der ontologischen Dimension der ›Grundfrage‹ und schließlich zu ihrer Perspektivierung. Mit dem Fokus auf ›Jemand‹ anstelle von ›etwas‹ tritt bei Arendt die ›Natalität‹ in den Vordergrund und somit die Fähigkeit anzufangen. Damit gehört die Umakzentuierung der ›Grundfrage‹ durch Arendt in den Horizont ihres Versuches, den politisch-weltlichen Umgang des Menschen in die Aufmerksamkeit zu rücken. Christian Weidemann zeichnet die Karriere der metaphysischen ›Grundfrage‹ im Kontext der analytischen Philosophie nach. Er verdeutlicht, wie sich an ihrer Behandlung auf eindrucksvolle Weise die zum Teil radikalen Brüche der Einstellungen der Analytiker gegenüber der Metaphysik generell spiegeln. Während die Stammväter der analytischen Philosophie im späten 19. und frühen 20. Jh. (Frege, Moore, Russell, Wittgenstein) noch durchaus die grundsätzliche Berechtigung metaphysischer Fragen einschließlich der ›Grundfrage‹ akzeptierten, folgte in der Hochzeit des Logischen Einleitung | 17

Empirismus eine Phase extremer Metaphysikskepsis, die sich in einer kompletten Zurückweisung der Frage, warum überhaupt etwas ist, als unsinnig geäußert hat. In der gegenwärtigen analytischen Metaphysik wird die Frage wieder ernst genommen, auch wenn es einzelne Stimmen gibt, die dies beklagen und wie Stephen Maitzen fordern: »Stop Asking Why There’s Anything«. Weidemann rekonstruiert die wesentlichen Argumente und Aspekte, die im Kontext der analytischen Behandlung der ›Grundfrage‹ einschlägig sind. Dazu gehört insbesondere das Problem, ob es überhaupt leere mögliche Welten gibt, oder ob nicht vielmehr immer zumindest abstrakte Objekte wie Mengen oder solche Propositionen, in denen notwendige Wahrheiten ausgedrückt werden, existieren. Auch in einer Welt, in der nichts Materielles existiert, scheinen doch – so der Gedanke – auch z. B. mathematische Wahrheiten zu gelten. Einige Autoren wie E. J. Lowe gehen von hier noch einen Schritt weiter und meinen zeigen zu können, dass nun die Existenz abstrakter Objekte die Existenz konkreter Objekte voraussetzt, so dass die Frage, warum es überhaupt etwas gibt, dadurch beantwortet wäre, dass es einfach notwendigerweise etwas geben muss. Die Gültigkeit der Argumentation Lowes ist allerdings von einigen gewichtigen Einwänden wie dem sog. Substraktionsargument bedroht. Robert Nozick und Peter van Inwagen haben demgegenüber wiederum eine Art statistisches Argument ins Feld geführt, das die gegen Null gehende Wahrscheinlichkeit einer leeren Welt zeigen soll. Schließlich gibt es noch eine Reihe von Argumenten, die mit religions- und naturphilosophischen Aspekten in Verbindung stehen, etwa das Argument der Feinabstimmung, Alvin Plantingas modalontologischer Gottesbeweis oder das ›Kalam‹-Argument, das in seinen jüngsten Versionen insbesondere als Reaktion auf den Erfolg des Urknallmodells in der physikalischen Kosmologie seit der zweiten Hälfte des 20. Jhs. zu verstehen ist. Derartige Argumente werfen die Frage auf, welche systematischen Zusammenhänge überhaupt zwischen der metaphysischen Grundfrage und Modellen der empirischen Kosmologie bestehen können. Vor diesem Hintergrund erörtern Josef M. Gaßner, Harald Lesch und Jörn Müller in ihrem abschließenden Aufsatz grundsätzlich die Frage, welchen Beitrag empirische Erkenntnisse und Modelle in diesem Kontext liefern können. Sie kommen zu dem Ergebnis, 18 | rico hauswald · jens lemanski · daniel schubbe

dass zumindest empirische Teilantworten möglich sind. Sie verweisen auf die Heisenbergsche Unschärferelation, der zufolge ein vollkommenes Nichts aufgrund quantenmechanischer Prinzipien gar nicht möglich ist. Dies scheint den Urknall zu einer Art (physikalisch) notwendigem Ereignis zu machen. Die Autoren zeichnen dann nach, wie sich nach dem Urknall komplexere Materie bis hin zu hochentwickelten Lebewesen gebildet hat, die in der Lage sind, die Frage ›Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?‹ zu stellen. Überdies wird aber auch gezeigt, dass nicht nur die Physik Teilantworten auf die ›ultimative Warum-Frage‹ geben (oder zumindest zu einer gewissen Schärfung beitragen) kann, sondern dass umgekehrt die physikalische Perspektive bestimmte metaphysische Voraussetzungen machen muss, die sie selbst nicht begründen kann, nämlich insbesondere die Annahme einer Ordnung der Natur, die Existenz universeller Naturgesetze und ein realistisches Weltbild.

3. Dank Wir möchten den Autoren ausdrücklich für ihr Mitwirken an diesem Band danken. Ebenfalls danken wir dem Meiner Verlag für die Aufnahme in das Verlagsprogramm, insbesondere Marcel SimonGadhof für das Interesse, das er dem Band entgegengebracht hat, und die freundliche Betreuung. Dank gebührt auch den vielen Studentinnen und Studenten, die das von Jens Lemanski und Daniel Schubbe im Sommersemester 2010 an der Johannes GutenbergUniversität Mainz geleitete Seminar ›Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr Nichts?‹ besucht und durch die belebten und vielschichtigen Diskussionen das Verständnis und die Orientierung der Seminarleiter im Thema variiert haben. Ein besonderer Dank der Herausgeber gilt Judith Schmidt, M.A., für ihre großartige Unterstützung beim Korrekturlesen der Beiträge und der Erstellung des Manuskripts.

Einleitung | 19

Anmerkungen

Ernst Bloch: Tagträume vom aufrechten Gang, S. 129. 2 Peter Bieri: Was macht Bewusstsein zu einem Rätsel?, S. 49. 3 So freut sich die Frage zur Zeit wieder verstärkter Beliebtheit im angelsächsischen Raum, wie neben zahlreichen Aufsätzen die Sammelbände von John F. Wippel (Hg.): The Ultimate Why Question, und Tyron Goldschmidt (Hg.): The Puzzle of Existence, illustrieren. 4 Arthur O. Lovejoy : The Historiography of Ideas, S. 533: »There are, I have suggested, many ›unit-ideas‹ types of categories, thoughts concerning particular aspects of common experience, implicit or explicit presuppositions, sacred formulas and catchwords, specific philosophic theorems, or the larger hypotheses, generalizations or methodological assumptions of various sciences.« 5 So der Titel des von John F. Wippel herausgegebenen Bandes The Ultimate Why Question. 6 Peter van Inwagen /E. J. Lowe: Why Is There Anything at All? 7 John F. Wippel: The Ultimate Why Question, S. 1. 8 Daniel Goldstick : Why is There Something Rather than Nothing? 9 Gottfried W. Leibniz: Principes de la Nature et de la Grace fondés en Raison, S. 12. 10 Friedrich W. J. Schelling: Aus den Jahrbüchern der Medicin als Wissenschaft, S. 174. 11 Martin Heidegger : Einführung in die Metaphysik, S. 1. 12 Für Einzelheiten siehe den Beitrag von Hubertus Busche in diesem Band. 13 Wittgenstein hält sogar noch am Beginn seiner zweiten Schaffensphase an dem Staunen über die Existenz der Welt fest (vgl. Ludwig Wittgenstein: Lecture on Ethics, S. 10.). 14 Vgl. Walter Patt : ›Warum ist überhaupt etwas, und nicht vielmehr nichts?‹, S. 175. 15 Martin Heidegger : Einführung in die Metaphysik, S. 21. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 2. 18 Vgl. Albert Zimmermann: Die ›Grundfrage‹ in der Metaphysik des Mittelalters, S. 143. 19 Das letztere Problem wird u. a. behandelt bei Richard Dawkins: The God Delusion, S. 134–161. 1

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Bibliographie

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Einleitung | 21

– Jens Lemanski –

›Cur Potius Aliquid Quam Nihil‹ von der Frühgeschichte bis zur Hochscholastik* 1. Cur Potius Aliquid Quam Nihil – Einleitung In der heutigen Forschung zur antiken und mittelalterlichen Philosophie werden zwei Fragen der sog. ›big questions‹ immer intensiver behandelt: 1. die Frage ›Warum (fand) nicht eher (eine Schöpfung statt)?‹, die im Folgenden mit Cnc (cur non citius) abgekürzt wird,1 und 2. die Frage ›Warum ist eher/überhaupt etwas als/ und nicht vielmehr nichts?‹, kurz Cpaqn (cur potius aliquid quam nihil).2 Die Cpaqn–Frage lässt sich darüber hinaus in die zwei Fragen a) warum ist etwas und b) warum ist nicht nichts, das heißt a) Ca (cur aliquid) und b) Cnn (cur non nihil) differenzieren, aus denen sie genau genommen zusammengesetzt ist. Der noch immer herrschenden Lehrmeinung zufolge finden sich die beiden Hauptfragen, Cpaqn und Cnc, erstmals in der Philosophie von Gottfried W. Leibniz,3 obwohl es mittlerweile mehrere Forschungsresultate gibt, die darauf hinweisen, dass sich diese beiden Fragen bis zur Hochscholastik vollständig, d. h. wortwörtlich bzw. explizit entwickelt haben. * Sofern nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen vom Verfasser. Hochgestellte Zahlen vor einem Wort in den petit gesetzten Zitaten verweisen auf die Vers- oder Zeilennummern der zitierten Texte. Diese Nummern sind dann angegeben, wenn der Verfasser sich auf die Zeile (= Z.) oder den Vers (= V.) im Haupttext bezieht. Abkürzungen der griechischen und lateinischen Autoren und Werke orientieren sich an: Hubert Cancik u. a. (Hg.): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 1, S. XXXIX– XLVII und Henry George Liddell/Robert Scott: A Greek-English Lexicon, S. XVI–XXXVIII. Griechische Quellen werden zitiert nach der Bibliographie Luci Berkowitz (Hg.): Thesaurus Linguae Graecae. Lateinische Texte werden zitiert nach der Bibliographie Auctoritate et Consilio Academiarum quinque Germanicarum (Hg.): Thesaurus Linguae Latinae. Index. | 23

Allerdings zeigt bereits ein grober Forschungsüberblick, dass sich kein einheitliches Bild bezüglich der Entwicklungsgeschichte der Cpaqn–Frage aufstellen lässt: Forscher wie Bruno Snell oder Charles Kahn behaupten, dass chronologisch gesehen bis zu Parmenides das sprachliche Vermögen fehlt, um die für eine erste Variante der Cpaqn-Frage so wichtigen Abstraktionsbegriffe wie ›Sein‹, ›Etwas‹ und ›Nichts‹ zu bilden. Aus einer Studie von Walter Patt lässt sich herauslesen, dass die ersten Cpaqn-Varianten auf dem principium rationis beruhen, welches auf Aristoteles zurückgeht. Werner Beier-waltes meint dagegen, dass die erste Cpaqn-Variante sogar schon im Neuplatonismus formuliert worden sei, allerdings semantisch nicht an die Radikalität von Leibniz und Heidegger heranreiche. Dagegen sieht Lloyd P. Gerson Plotin derart stark von Platons Parmenides beeinflusst, dass der Platonismus fons et origo der ersten Cpaqn-Variante sein könne. In der arabischen Philosophie, so Jon McGinnis, sei die Lage dagegen klarer. Seiner Meinung nach finden sich dort keine Cpaqn-Varianten, aber man könne derartige Fragen und besonders Antworten aus dem sog. ›kosmologischen Argument‹ ableiten. Bereits in den 1960er Jahren hatte Albert Zimmermann behauptet, dass man zumindest in der Hochscholastik eine erste ›wortwörtliche‹ Cpaqn-Frage finde. Da sich aufgrund dieser größtenteils unabhängig voneinander argumentierenden Forschungsergebnisse kein kohärentes entwicklungsgeschichtliches Bild der Cpaqn-Frage einstellen kann, sollen im Folgenden die einschlägigen Quellen der Cpaqn-Frage bis zur Hochscholastik noch einmal chronologisch durchgegangen werden, um so vor allem die Belege der einzelnen Fragen und deren Varianten zusammenzustellen. Der vorliegende Überblicksartikel greift somit zwar die herrschenden Forschungsthesen kritisch auf, orientiert sich aber vorwiegend an den einzelnen Epochen und den darin aufgefundenen Texten, in denen Ca-, Cnn- und Cpaqn-Fragen und deren Varianten expliziert werden, um daraus Kontinuitäten und Brüche in der Entwicklungs- und Einflussgeschichte der Frage aufzuzeigen. Da man allerdings in der antiken Philosophie selbst der Meinung war, dass Varianten der Cpaqn-Frage bereits in der frühgeschichtlichen bzw. archaischen Zeit gestellt wurden,4 soll zuerst die Frage geklärt werden, ab wann die sprachlichen Bedingungen und Vor24 | jens lemanski

aussetzungen erfüllt waren, um die Cpaqn-Frage überhaupt stellen zu können.

2. Frühgeschichtliche Mythen Dass sich eine Cpaqn-Variante in den Mythen der altorientalischen Sprachen nachweisen lässt, scheint aufgrund rezeptionsgeschichtlicher Probleme5 und aufgrund der Schwierigkeit, dass die Mythen Antworten auf Fragen geben, bevor sie diese überhaupt stellen, nahezu ausgeschlossen zu sein. Untersucht man aber bspw. A) aus dem afroasiatischen Sprachraum ägyptische, B) aus dem mesopotamischen Sprachraum sumerische und C) aus dem indogermanischen Sprachraum hethitische Kosmogonien als repräsentative Vertreter der jeweiligen Sprach- und damit auch Mythengemeinschaft, so lassen sich in einigen dieser Texte bereits Motive und Zwecke als mögliche Antworten auf eine Ca-Frage aufzeigen: Für A) die Ägypter ist der Grund dafür, dass überhaupt etwas, also Himmel und Erde geschaffen wurden, der, dass der Sonnengott und Weltschöpfer Re wollte, dass die Seelen der Götter in der Welt wohnen.6 B) Obwohl die mesopotamischen Mythen keine Antwort auf die Frage geben, warum überhaupt die Götter Himmel und Erde geschaffen haben, stellen jene dort doch erstmals ihre eigenen kreativen Absichten in Frage7 und erklären, dass sie Menschen schaffen wollen, damit diese für sie die schwere Tagesarbeit verrichten.8 C) Im hethitischen Mythos sind entweder niemals die Beweggründe für die Beantwortung einer Cpaähnlichen Frage festgehalten oder uns nicht mehr überliefert worden, so dass sich hier nur die Faktizität einer Schöpfung ablesen lässt. Die frühgeschichtlichen Mythen aus den drei hier näher untersuchten Sprachkreisen weisen darüber hinaus nicht den Abstraktionsgrad auf, um sprachlich Begriffe wie ›Sein‹ oder ›Etwas‹ aus einem ›Nichts‹ hervorgehen zu lassen: A) In den altägyptischen Kosmogonien wird das Nichts (genauso wie das Alles) durch den Sonnengott Atum9 vertreten, wohingegen in der jüngeren Kosmogonie der terminus a quo der Schöpfungsgeschichte der Urgott Nun – eine Art personal verstandenes materiales Urwasser10 – als ›Nährboden‹ einer beständigen Schöpfung fungiert,11 aus dem auch die übrigen ägyptischen Götter entstanden sein sollen.12 B) Auch die ›Cur Potius Aliquid Quam Nihil‹ | 25

sumerischen Kosmogonien setzen kein Nichts an den Anfang der Schöpfung oder in eine irgendwie geartete Zeit davor. Sie berichten vielmehr von dem Gott An, der für die Zustandsänderung der bereits bestehenden Weltteile Himmel und Erde verantwortlich ist: »An, der Herr, erhellte den Himmel, die Erde war dunkel, in die Unterwelt wurde nicht ges[chaut], aus der Tiefe wurde (noch) kein Wasser geschöpft, nichts wurde geschaffen, auf der weiten Erde wurden (noch) keine (…) gemacht.«13

Diese Passage aus dem mesopotamischen Nibru-Mythos deutet trotz des nicht überlieferten Textstückes den fehlenden sprachlichen Abstraktionsgrad dadurch an, dass nur mittels bestimmter Negationen diejenigen Einzeldinge in der Vorzeit negiert werden, die aus dem gegenwärtigen Schöpfungszustand bereits bekannt sind.14 C) Die spärlichen Hinweise auf kosmogonische Vorstellungen in den hurritisch-hethitischen Mythen sind ebenfalls weit entfernt von der für uns so klassischen Unterscheidung zwischen den Begriffen ›Nichts‹, ›Sein‹ und ›Etwas‹, doch lassen sich dort erste quantitative Differenzen zwischen der vorweltlichen Einheit und der geschaffenen Zwei- bzw. Vielheit bildlich interpretieren, die für die Entstehung der Cpaqn-Frage in der griechischen Henologie bedeutend sein könnten.15 B) Auch im weiteren Anschluss an das oben angeführte Zitat des Nibru-Mythos wird die Urzeit als eine Einheit beschrieben, in der »[Himmel (und) Erd]e noch aneinander gebunden« waren.16 A) Ebenso belegen die ägyptischen Sarkophagtexte diese quantitative Vorstellung einer Entwicklung, der zufolge erst durch die Schöpfung »zwei Dinge in diesem Lande entstanden«17. Somit sind, wie wir noch sehen werden, trotz des fehlenden Abstraktionsgrades in den frühgeschichtlichen Mythen dennoch bereits die Bedingungen geschaffen worden, dass Varianten der Cpaqn-Frage überhaupt in der abendländischen Tradition gestellt werden konnten.

3. Geometrische Zeit, Beginn der Archaik In der gegenwärtigen Forschung wird besonders der Einfluss der hethitisch-hurritischen Mythen auf die frühgriechischen Epiker Homer und Hesiod betont.18 Aufgrund dieser Einflüsse scheinen die 26 | jens lemanski

bereits in Kapitel 2 angeführten Gründe, die gegen die Möglichkeit einer Cpaqn-Frage in der Frühgeschichte sprechen, z. T. auch bei den Griechen zu greifen: Bei den frühgriechischen Dichtern werden zwar die unsterblichen Götter als »ewig seiend« (αἰὲν ἐόντων; Hom. Od. III 147; IV 583; Hes. Theog. 21, 33, 105, 801) bezeichnet, dennoch scheint besonders Hesiod diesem Faktum zu widersprechen, wenn er deren Geburt in seiner Theogonie beschreibt. Seit der Antike gehen die Meinungen darüber auseinander, ob nun Hesiod die Geburt der Götter a) aus dem Chaos oder b) aus dem Nichts beschreibt. a) Entstehen nämlich die Götter nicht aus dem Nichts, sondern aus einem damals als Urwasser, Unordnung, Dunkelheit o. ä. interpretierten Chaos,19 so kann man – ähnlich den ägyptischen Mythen – sagen, dass einerseits auch bei Hesiod eine Antwort den Ca-Fragen vorausgeht, andererseits keine Cnn-Alternative aufkommen kann, da eine creatio ex nihilo nominell und semantisch undenkbar bleibt. b) Entsteht aber selbst das Chaos, aus dem dann wiederum allein Tag und Nacht hervorgehen (Th. 123: ἐκ Χάεος δ’ Ἔρεβός τε μέλαινά τε Νὺξ ἐγένοντο·), als ein Erstes (Th. 116: ἤτοι μὲν πρώτιστα Χάος γένετ’·), d. h. scheinbar wie aus einem Nichts – eine Meinung, die in der Antike bes. Ps.-Aristoteles (De Meliss. 975a12) vertrat –, so würde Hesiod damit die Ausbildung des Kausalitätsprinzips (principium rationis sufficientes) untergraben,20 wodurch ebenfalls das Aufkommen einer Cpaqn-verwandten Frage erschwert sein könnte. Einzig in dem »damit« (ἵνα) von V.127 der hesiodischen Theogonie kann man die Bestimmung einer kreativen Absicht bzw. eine einzelne Angabe eines Ca-Grundes finden: Gaia, die Erde, brachte Ouranos, den Himmel, hervor, »damit dieser sie ganz bedecke« (ἵνα μιν περὶ πάντα καλύπτοι). Weitere Gründe, warum darüber hinaus noch etwas geschaffen wurde, gibt Hesiod nicht an. Im Unterschied zu den vorangegangenen Kosmogonien, in denen entweder a) noch die Götter als Berichterstatter in persona auftraten oder b) der Mythos als objektiver Bericht verfasst war oder c) zuletzt bei Homer die Autorität eines »göttlichen Dichters« (θεῖος ἀοιδός, Od. I 336; III. 43, 47, 87, 539 u.v.a.) unbegründet behauptet wurde, versucht Hesiod den Wahrheitsgehalt der göttlichen Schöpfungsgeschichte selbst narrativ zu legitimieren. Er rechtfertigt nämlich die Wahrheit des Mythos dadurch, dass er in einer Art autobiographischer ›Cur Potius Aliquid Quam Nihil‹ | 27

Erzählung davon berichtet, wie die wahrheitsverkündenden Musen (V.28) »31mir [sc. Hesiod] göttlichen Sang ein- »31ἐνέπνευσαν δέ μοι αὐδὴν θέσπιν, 32 ἵνα κλείοιμι τά τ’ ἐσσόμενα πρό τ’ hauchten, 32 damit ich Künftiges und Vergangenes ἐόντα […].« (ferner: V.38) rühme […].«

Der Dichter wird mittels der hier geschilderten Inspiration (V.31) zum Medium einer sonst transzendenten Wahrheit,21 wodurch zum einen protologische wie eschatologische Aussagen (V.32) im Mythos legitimiert werden und zum anderen Autoritäten entstehen, durch die wahrheitsbeanspruchende Mythologeme zu Dogmen werden können22 – eine Tendenz, die für die Entwicklung der Cpaqn-Varianten in den drei monotheistischen Weltreligionen von Bedeutung sein wird.23 Weiterhin gibt es aber auch rein pragmatische Gründe, die das Aufkommen der Ca- und Cnn-Fragen verhindern. Denn wie die frühzeitlichen Mythen, so besitzt auch – laut Bruno Snell – die Sprache Homers und Hesiods noch nicht den Abstraktionsgrad, um eine nominelle Entsprechung der Cnn-Frage überhaupt stellen zu können.24 Zwar ist bereits bei Homer die abstrakte Verbform von ›sein‹ (εἶναι), nämlich τὰ ὄντα, aufzufinden (bspw. Il. I 69 f.)25, die für die Bildung der Ca-Frage wichtig wäre, doch – ähnlich dem sumerischen Nibru-Mythos – kennt Homer höchstens bestimmte Negationen bereits bekannter Einzeldinge (bspw. Od. IX 34 f.), aber kein abstraktes ›Nichts‹.26 Allerdings setzt sich bei beiden Dichtern auch die schon in den frühgeschichtlichen Mythen besprochene Quantitätsthematik hinsichtlich der einheitlichen Vorwelt und der sich sukzessiv vervielfältigenden Schöpfung weiter fort. Sie zeichnet sich besonders im zunehmend deutlicheren Henotheismus der Götterhierarchie ab und kann somit als Vorgeschichte der philosophischen Henologie und des theologischen Monotheismus interpretiert werden.27

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4. Eleaten Wie belastend der Autoritätsanspruch Hesiods in der Antike war, belegt der Ernst, mit dem seine Theogonie diskutiert und interpretiert wurde. Aus dem Kontext der Fragmente Xenophanes’ kann man bereits eine Kritik an dem dort angezeigten Anthropomorphismus, dass Götter geboren seien sollen (DK 21 B 14,1: ἀλλ’ οἱ βροτοὶ δοκσι γεννᾶσθαι θεούς), erkennen. Von den heutigen Forschern, die schon den Vorsokratikern Cpaqn-Varianten attestieren, wird gewöhnlich das parmenideische Fragmente B 8 als Beleg herangezogen.28 Dort heißt es: »6Denn welchen Ursprung könntest du dafür [sc. ›Ist‹] suchen? 7 Wie, woher wäre es gewachsen? ›Aus dem Nichtseienden‹ werde ich weder 8 zu sagen noch zu denken dir gestatten; denn weder sagbar noch denkbar 9 ist ›ist nicht‹. Und welche Verpflichtung hätte es auch antreiben sollen, 10 später zu wachsen als früher, nachdem es aus dem Nichts begonnen hat?«

»6τίνα γὰρ γένναν διζήσεαι αὐτοῦ [sc. ἔστιν]; 7 πῆι πόθεν αὐξηθέν; οὐδ’ ἐκ μὴ ἐόντος ἐάσσω 8 φάσθαι σ’ οὐδὲ νοεῖν· οὐ γὰρ φατὸν οὐδὲ νοητόν 9 ἔστιν ὅπως οὐκ ἔστι. τί δ’ ἄν μιν καὶ χρέος ὦρσεν 10 ὕστερον ἢ πρόσθεν, τοῦ μηδενὸς ἀρξάμενον, φῦν;«

Gleich wie man die als generelle Terme benutzten Wortformen von bspw. ›ἔστιν‹ (hier: V.6) oder ›μὴ ἐόντος‹ (V.7) versteht und übersetzt,29 so scheinen hier doch erstmals die sprachlichen Bedingungen erfüllt zu sein, um die Cpaqn-Frage überhaupt stellen zu können. Darüber hinaus kann V.6 (und die Pointierung in V.7) als eine semantische Variante der Ca-Frage gedeutet werden, weil auch hier nach dem Grund von ›Sein‹ bzw. ›Ist‹ gefragt wird. Gleichzeitig kann Parmenides aber nicht als Urvater einer Cpaqn-Variante angesehen werden, da V.7 f. eindeutig die Cnn-Alternative ausschließt. Dieser Ausschluss kann a) einerseits – wie bei Hesiod30 – dadurch begründet werden, dass man das ›ich‹ (V.7) mit der wahrheitsverkündenden Göttin des Proömiums (DK 28 B 1) identifiziert, welche die evtl. vom Initianden Parmenides (das ›dir‹ bzw. ›σ’‹ in V.8) erwogene Cnn-Alternative nahezu dogmatisch als Antwort- wie Frage›Cur Potius Aliquid Quam Nihil‹ | 29

möglichkeit verbietet;31 b) andererseits kann man das ›ich‹ aber auch mit Parmenides selbst identifizieren, der seinem Rezipienten in V.4–6 die logischen Gründe für den Ausschluss der Cnn-Alternative angibt.32 c) Letztendlich könnte es aber auch Parmenides’ Intention gewesen sein, dem Rezipienten beide Lesarten, a) und b), nahezulegen. Die Tatsache, dass das ›ich‹ in V.7 das Nichtseiende als Antwortoption33 auf die in V.6 f. gestellten Fragen ausschließt, legt den Verdacht nahe, dass eben diese Cnn-Alternative im Anschluss an die Ca-Frage bereits vor Parmenides diskutiert wurde (s. u.), jetzt aber ohne weitere Gründe nicht mehr gebilligt werden kann. Im Unterschied zu den Ca-Fragen in V.1 f. scheinen V.5 f. und V.9 f. rhetorische Cnc-Fragen zu sein, die als Argument gegen eine mit der Cnn-Alternative zusammenhängende creatio ex nihilo gewertet werden müssen.34 So entscheidend Parmenides für die weitere Traditionsgeschichte ist, so sind doch bereits bei dem um mindestens 20 Jahre älteren syrakusanischen Komiker Epicharmos35 nicht nur die sprachlichen Voraussetzungen, sondern auch der Inhalt einer ersten CpaqnVariante und Cnc-Frage erbracht worden, wie man aus dem von Diogenes Laertius überlieferten Fragment B 1 herauslesen kann: »1[A:] Aber immer waren die Götter »1—ἀλλ’ ἀεί τοι θεοὶ παρῆσαν doch da und niemals hat’s an ihnen χὐπέλιπον οὐ πώποκα, 2 τάδε δ’ ἀεὶ πάρεσθ’ ὁμοῖα διά τε gefehlt, 2 und auch das ›immer‹ war unverändert τῶν αὐτῶν ἀεί. 3 —ἀλλὰ λέγεται μὰν Χάος πρᾶτον da und immer durch dieselbe Weise. 3 [B:] Aber man sagt ja doch, das Chaos γενέσθαι τῶν θεῶν. 4 sei als erstes von den Göttern entstan- —πῶς δέ κα; μὴ ἔχον γ’ ἀπό τινος μηδ’ ἐς ὅ τι πρᾶτον μόλοι. den. 4 5 [A:] Wie kann das sein? wenn es doch —οὐκ ἄρ’ ἔμολε πρᾶτον οὐθέν; nichts gab, woher oder wohin es kom—οὐδὲ μὰ Δία δεύτερον 6 τῶνδέ γ’ ὧν ἁμὲς νῦν ὧδε λέγομες, men konnte. 5 [B:] Dann kam eher Nichts zuerst? ἀλλ’ ἀεὶ τάδ’ ἦς.« [A:] Nicht einmal als zweites, beim Zeus! 6 und auch als keines von dem, worüber wir hier jetzt reden, sondern [allein] dieses ›immer‹ war.«

Trotz der nicht zu leugnenden Übersetzungsschwierigkeiten kann DK 23 B 1 doch als missing link zwischen Parmenides und Hesiod 30 | jens lemanski

bzw. den frühgeschichtlichen Mythen interpretiert werden.36 Denn bereits die als A gekennzeichnete Dialogfigur deutet schon in V.1 auf die ewig seienden Götter von Homer und Hesiod und votiert für ein ewiges Sein, das Parmenides’ Ontologie vorwegzunehmen scheint. Der als doxographisches argumentum auctoritatis vorgebrachte Einwand von B in V.3 nimmt dann eindeutig Bezug auf Hesiods Protologie (Theog. 116). Mit einer rhetorischen Frage stellt A allerdings in V.4 dieses Chaos-Mythologem und damit den ganzen Grund der Schöpfung in Frage, wodurch sich semantisch eine Nähe zur Ca-Frage einstellt, die syntaktisch nur dadurch nicht vollständig erfüllt werden kann, dass Epicharmos nach der Manier griechischer Philosophen nach dem Wie (πῶς) und nicht nach dem Warum fragen lässt. M. E. ist Epicharmos einer ersten Cpaqn-Variante näher als Parmenides, weil die Verneinung in der von A in V.4 gegebenen Begründung eine Vorlage für das argumentum ad consequentiam von B in V.5 bildet, in dem erstmals eine absolute Negation (οὐδείς) als kontradiktorische Alternative zu etwas Seiendem – allerdings humoristisch37 – erwogen werden kann. Damit stellt B die Cnn-Alternative (ἄρα οὐδείς) zu der von A als Gegenargument instrumentalisierten Ca-Frage dar. Darüber hinaus kann man in der Diskussion zwischen A und B in V.3 und V.5 bezüglich des chrono- bzw. genealogisch ersten (πρότερος) und zweiten (δεύτερος) bereits einen Vorläufer der Cnc-Frage sehen.38 M. E. ist für die Cpaqn-Frage aber nicht nur entscheidend, dass A eine Variante von Ca als Einwand gegen B erhebt und B dieses mit der überspitzten Cnn-Alternative kontern will; ebenso entscheidend ist es nämlich auch, dass einerseits A in V.4 mit der Cpa-Variante ein Enthymem vorbringt, das als Argument nur dann funktioniert, wenn man das eigentlich erst von Leukipp (DK 67 B 2)39 begründete principium rationis ergänzt, und anderseits B in V.5 zuerkennt, dass er aus argumentativen Gründen den nihilo nihil fit-Grundsatz der vorsokratischen Philosophie40 brechen muss. Der gesamte Dialog macht deutlich, dass die sich in den frühgeschichtlichen wie -griechischen Schöpfungsmythen aufdrängende Frage nach dem Seienden und dem Nichtseienden vermutlich in der Komödie problematisiert wurde, so dass sie z. T. unmittelbar bei Parmenides (bspw. DK 28 B 8,6 f.) aufgegriffen werden konnte. ›Cur Potius Aliquid Quam Nihil‹ | 31

Der bereits angesprochene nihilo nihil fit-Grundsatz manifestiert sich explizit erst in V.5 f. von Melissos’ Fragment DK 30 B 1, das zudem in V.3 ziemlich klar an die Syntax von Epicharmos’ DK 23 B 1,1 anknüpft und auch die logische Argumentation des Parmenides gegen eine creatio ex nihilo fortsetzt: »3Immer war, was da war, und immer wird es sein. 4 Denn wäre es entstanden, so wäre notwendigerweise vor dem Entstehen 5 Nichts. Wenn nun Nichts war, so könnte nicht Etwas entstehen 6 aus Nichts.«

»3ἀεὶ ἦν ὅ τι ἦν καὶ ἀεὶ ἔσται. 4 εἰ γὰρ ἐγένετο, ἀναγκαῖόν ἐστι πρὶν γενέσθαι εἶναι 5 μηδέν· εἰ τοίνυν μηδὲν ἦν, οὐδαμὰ ἂν γένοιτο οὐδὲν 6 ἐκ μηδενός.«

Das Fragment zeigt, dass eine Generation nach Epicharmos die Diskussion um Hesiods Theogonie mit philosophischem Ernst fortgesetzt wurde und sich der im Laufe dieser Diskussion etablierte Gegensatz von Nichts und Sein zugunsten des letzteren weiter verschärft hat.

5. Attische Philosophie Lloyd P. Gerson, einer der letzten Vertreter der traditionellen bzw. ›dogmatischen‹ Platoninterpretation, ist der Auffassung, dass in der Fortsetzung des parmenideischen Ansatzes vor allem die platonische Eroslehre »fons et origo« der Cpaqn-Frage und -Antwort sei, die dann der Neuplatonismus rezipiert und weiter ausgebaut habe.41 Nicht nur Gersons großer Intepretationsaufwand, sondern auch die Tatsache, dass die Platonforschung der letzten 50 Jahre42 aus vielerlei berechtigten Gründen – ähnlich der neueren Parmenidesforschung43 – nicht mehr Platon mit den Meinungen und Argumenten seiner Dialogfiguren gleichsetzt, lassen Zweifel an Gersons ›dogmatischer‹ Interpretation aufkommen, in der immer noch eine einzige Meinung hinter allen Argumenten der platonischen Dialoge stehen soll. Im Unterschied zu Gerson werde ich in diesem und dem folgenden Kapitel die These vertreten, dass die neuplatonische CpaqnVariante nicht von Platon, sondern von Aristoteles ausgeht. Die Bedeutung der platonischen Dialoge für Cpaqn lässt sich schon daran ablesen, dass sie 1) die syntaktischen Feinheiten der 32 | jens lemanski

Rede über Sein und Nichts in ihrem jeweils absoluten Sinn weiter differenzieren (vgl. bes. Resp. 478b6–11; Symp. 205b8–c2; Crat. 421b6–c2; Soph. 236a ff.; Parm. 162a ff.).44 2) Eine semantische Annäherung an die Cpaqn-Frage findet man zudem bei Leg. 894a1 f. – eine Textstelle, die einerseits ein Scharnier innerhalb der kosmogonischen Texte Platons bildet, andererseits in den viel bekannteren Gottesbeweis eingebettet ist (891d6–899d3), der heute als »cosmological argument« bekannt ist.45 Dieser Exkurs (891d6: ἀηθεστέρων λόγων) in den platonischen Nomoi beginnt damit, dass man über »die erste Ursache des Entstehens und Vergehens« (891e5: ὃ πρῶτον γενέσεως καὶ φθορᾶς αἴτιον) referiert und dann ab 892c9 eine eigene ›überschwängliche‹ Diskussion einleitet, die zunächst als ein fiktiver Dialog über eine Dihairesis von Ruhe und Bewegung anhand eines Kreisvergleichs präsentiert wird.46 Gegen Ende dieses fiktiven Dialoges tritt die Frage (894a1 f.) auf,47 welches Ereignis die »Entstehung von allem« bedingt: »γίγνεται δὴ πάντων γένεσις, ἡνίκ’ ἂν τί πάθος ᾖ;« Nicht nur aufgrund des temporalen Fragepartikels ›ἡνίκα‹,48 sondern auch aufgrund der fehlenden Cnn-Alternative ist die platonische Phrase aber Cnc näher als Cpaqn. Dass allerdings die Antwort auf diese Frage, so die Diskutanten, nur in »der selbst sich selbst zu bewegen vermögenden Bewegung« (896a1 f.: τὴν δυναμένην αὐτὴν αὑτὴν κινεῖν κίνησιν) der Seele liegen kann, verweist zum einen auf die kosmogonischen Anspielungen der unentstandenen und unsterblichen Weltseele in Phaidr. 245d1–246a2; zum anderen kann der athenische Dialogführer hier auch eine Analogie zwischen dem Gott und einem »sterblichen Handwerker« in Hinblick auf die Kunstfertigkeit und Fürsorge für sein Produkt herstellen, da nicht Zufall und Natur, wie die Gottlosen behaupten, sondern die lebendige Seele der »erste Entstehungsgrund von allem« (Leg. 899c7: »ψυχὴν γένεσιν ἁπάντων εἶναι πρώτην« auch b5 f.) sei. Die platonischen Nomoi stellen damit ein Scharnier zwischen der kosmologischen Psychologie des Phaidros und dem Demiurgenmythos des Timaios dar. 3) Die dort von Timaios rezipierte ägyptische Protologie (vgl. Tim. 20d ff.; 26e ff.; 30a1 f.) beginnt in Tim. 28a in Form einer ›pragmatischen Rede‹49 mit der Wiederaufnahme50 des principium rationis (28a4–6):

›Cur Potius Aliquid Quam Nihil‹ | 33

»Alles, was entsteht, muss aber nun aus einer Ursache notwendig entstehen; denn unmöglich, kann etwas ohne Ursache entstehen.«

»πᾶν δὲ αὖ τὸ γιγνόμενον ὑπ’ αἰτίου τινὸς ἐξ ἀνάγκης γίγνεσθαι· παντὶ γὰρ ἀδύνατον χωρὶς αἰτίου γένεσιν σχεῖν.« (vgl. auch 28c2 f.; 29b1 f.)

Nach antiker Lehrmeinung nimmt der an dieses Zitat anschließende Prinzipienexkurs die heutzutage meistens Aristoteles zugeschriebene Vier-Ursachen-Lehre vorweg.51 Obwohl das als Einleitung der Finalursache interpretierte52 und von Timaios angeführte Lemma in Tim. 29d7 f. (Λέγωμεν δὴ δι’ ἥντινα αἰτίαν γένεσιν καὶ τὸ πᾶν τόδε ὁ συνιστὰς συνέστησεν. = Wir wollen also angeben, aus welchem Grund [/warum] der Zusammenfügende das Entstehen und das All erschaffen habe.) nicht als Frage, sondern als Zielsetzung des folgenden Exkurses bei Platon formuliert war, sieht man bspw. an der lateinischen Paraphrase Senecas, dass das platonische Lemma dennoch bereits im Hellenismus als Frage expliziert wurde.53 Seneca legt nämlich bei seiner Entschlüsselung der platonischen Ursachenlehre in seinen Briefen an Lucilius zuletzt dem Timaios eine Variante der Ca-Frage in den Mund: »Der Zweck, ist dasjenige, weswegen er [sc. der Gott] geschaffen hat. || Du fragst, welchen Zweck Gott verfolgte? Das Gute, so wie es jedenfalls Platon sagt: ›Was war der Grund für Gott, die Welt zu schaffen? Er ist gut […]‹«

»Propositum, propter quod fecit [sc. Deus]. || Quaeris, quod sit propositum deo? bonitas ita certe Plato ait: ›quae deo faciendi mundum fuit causa? bonus est: […]‹« (Ad Lucilium 65, 9 f.)54

Durch die bei Platon vom guten Demiurgen gewollte Angleichung (Tim. 29e6 f.; 30a2 f.; 30d1–3) des gewordenen Kosmos (28b7–c2; ferner: 27d6 f.) an das Vorbild des ewig Seienden (29a3–5; ferner: 27d6) und der damit verbundenen Vervollkommnung des Schöpfers und seiner schönsten bzw. bestgelungensten (29a5: κάλλιστος) Welt, könnte man vermuten, dass der ägyptische Mythos des Timaios nicht nur der Cpaqn-Frage, sondern auch deren Kontext und Antwort in Leibniz’ Prinzipienschrift vorgreift. Für die Entwicklung der neuplatonischen Cpaqn-Varianten ist m. E. aber Aristoteles entscheidender als Platon. 1) So bezieht Aristoteles bspw. im zwölften Buch seiner Metaphysik den Kontingenzgedanken, dass etwas Seiendes auch nicht sein kann, auf das Sein selbst:55 34 | jens lemanski

»23Man meint, alles Wirkliche sei möglich, das Mögliche aber 24nicht vollständig wirklich, so dass das Vermögen das Erste sei. 25Wenn dies so wäre, so wäre nichts von dem Seienden; denn es kann sein, 26dass etwas, das zu sein möglich ist, doch nicht ist.«

»23δοκεῖ […] τὸ μὲν ἐνεργοῦν πᾶν δύνασθαι τὸ δὲ δυνάμενον 24οὐ πᾶν ἐνεργεῖν, ὥστε πρότερον εἶναι τὴν δύναμιν. 25ἀλλὰ μὴν εἰ τοῦτο, οὐθὲν ἔσται τῶν ὄντων· ἐνδέχεται γὰρ 26 δύνασθαι μὲν εἶναι μήπω δ’ εἶναι.« (Met. XII 6, 1071b23–26)

Hier (bes. Z.23) wie im Kontext des Zitats kritisiert Aristoteles die Position,56 dass das Vermögen (δύναμις) anstelle des Wirklichen (ἐνέργεια) das Erste bzw. Frühere (πρότερον) sein könne. Ähnlich dem parmenideischen V.9 aus DK 28 B 8 kann man Aristoteles’ enthymemische Argumentation so verstehen, dass er der Gegenseite vorwirft, die in Z.25 f. gegebene Prämisse eines fehlenden Existenzgrundes bzw. einer derartigen -motivation müsse zu der offensichtlich falschen Konsequenz einer vollkommenen Nichtexistenz führen (Z.26). Kurz gesagt: Nur dort, wo aus dem kontingenten Vermögen die Wirklichkeit abgeleitet wird, ist eine Ca-Frage inkl. der Cnn-Alternative überhaupt sinnvoll. Da für Aristoteles die CnnAlternative aber nach dem principium convenientiae (bes. Met. V 29, 1024b26–28) nicht unserer Wirklichkeit entspricht, muss er bereits eine Antwort mittels der ontologischen Priorität der ἐνέργεια (bes. Met. IX 9) geben, bevor er die Ca-Frage überhaupt stellt. 2) Dass sich die Ca-Frage aber dennoch bei Aristoteles findet, zeigt seine häufig auf Platon bezogene Kritik an der Zahlenlehre in Met. XIV 2. Dass nämlich Philosophen überhaupt die bereits seit Met. XIII charakterisierte Zahlenlehre vertreten können,57 erklärt Aristoteles so: »35Von den nun vielen Gründen 1für die Rückkehr zu den genannten Prinzipien, ist der hauptsächlichste aber eine 2archaische Aporie [58]. Denn man erwog selbst, dass das Seiende in jedem Fall eins sein müsse, 3[d. h.] das Sein selbst, wenn man nicht den parmenideischen 4Ausspruch, ›nimmer wirst du erkennen, dass das Nichtseiende sei‹ [= DK 28 B 7.1] lösen und zugleich darüber hinweg gehen 5und

»35πολλὰ μὲν οὖν τὰ αἴτια 1τῆς ἐπὶ ταύτας τὰς αἰτίας ἐκτροπῆς, μάλιστα δὲ τὸ ἀπορῆ-2σαι ἀρχαϊκῶς. ἔδοξε γὰρ αὐτοῖς πάντ’ ἔσεσθαι ἓν τὰ ὄντα, 3 αὐτὸ τὸ ὄν, εἰ μή τις λύσει καὶ ὁμόσε βαδιεῖται τῷ Παρμενίδου 4λόγῳ ›οὐ γὰρ μήποτε [†]τοῦτο δαμῇ[†], εἶναι μὴ ἐόντα,‹ 5ἀλλ’ ἀνάγκη εἶναι τὸ μὴ ὂν δεῖξαι ὅτι ἔστιν· οὕτω γάρ, ἐκ 6τοῦ ὄντος καὶ ἄλλου τινός,

›Cur Potius Aliquid Quam Nihil‹ | 35

anstelle dessen die Notwendigkeit zeigen könnte, dass das Nichtsein wirklich sein müsse; dann würde folglich aus 6dem Seienden und einem Anderen das Seiende entstehen, wenn es eine Vielheit davon gäbe.«

τὰ ὄντα ἔσεσθαι, εἰ πολλά ἐστιν.« (Met. 1088b35–1089a6)

Angenommen, der letzte Satzteil von Z.6 ist wahr, d. h. es gibt – gemäß den in Phy. 185a20–29 beschriebenen Bedingungen – eine Vielheit des Seienden, dann kann es wohl nur zwei Wege oder Positionen in Hinblick auf eine damit verbundene mögliche Ca-Frage geben: a) Z.2 f. sagt, die Vielheit des Seienden sei eins, d. h. alles ist immer und ist immer gleich oder b) Z.6 sagt, aus dem Seienden und einem Anderen ist das Seiende entstanden. Die Bedingung von b) bzw. Z.6 sind aber in Z.3–6 aufgelistet: i) DK 28 B 7,1 muss widerlegt werden, ii) die Wirklichkeit des Nichtseienden muss erwiesen werden, so dass es gemäß Z.6 als Anderes59 in die Entstehungsgeschichte integriert werden kann. Werden die Bedingungen i) und/ oder ii) nicht erfüllt, so wird sich Position a) durchsetzen. Nicht nur Z.3 f., sondern auch Plat. Soph. 242d, Arist. Phy. 186a19–21 u. De gen. 314a6 ff. legen nahe, dass die Position a) die eleatische Philosophie darstellt; Position b) beschreibt dagegen die Meinungen von Platons Sophistes (bes. 237a, 241d, 256e), verweist aber gleichzeitig mit der Bedingung ii) auf eine Weltentstehungsgeschichte, in der das Nichts als Anderes integriert wird. Und m. W. kann man diese Position ii) innerhalb der archaischen Aporie (Z.2) – ἀρχαϊκός dürfte hier ›vorplatonischen‹ heißen, da Platon selbst laut Aristoteles aufgrund der Aporie zu der in Met. 1088b14–35 beschrieben Position zurückgekehrt sein soll – nur in der Deutung des hesiodischen Chaos als Nichts bei Epicharmos (DK 23 B 1,3 u. 5) finden. Nun zeigt Aristoteles aber im Anschluss an dieses Zitat die Schwächen der beiden Wege oder Positionen innerhalb der Aporie auf und resümiert erst dann (Met. 1089a32), dass sich die gesamte Untersuchung tatsächlich um die Ca-ähnliche Frage dreht, inwiefern dem Seienden Vielheit zukomme. Aristoteles geht eine derartige Untersuchung aber nicht weit genug. Er verlangt, dass die Frage »Was ist der Grund für die Vielheit dieses Seienden?« (1089b15: τούτοις δὴ τί αἴτιον τοῦ πολλὰ εἶναι;)60 noch radikaler ge36 | jens lemanski

stellt wird, nämlich »wie das Seiende [überhaupt] vieles« sein kann (1089b21 u. 23: πῶς πολλὰ τὰ ὄντα). Damit ist Aristoteles in Met. XIV 2 der Ca-Frage noch näher als jeder Philosoph vor ihm, da die zweite Frage einen Nachdruck impliziert, der in der deutschen Übersetzung nur mit einem ›überhaupt‹ zur Sprache gebracht werden kann. Und aufgrund der oben beschriebenen Aporie kann diese Ca-Variante auch mit einer Variante von Cnn ergänzt werden. Der implizite Grund dafür liegt in der archaischen Aporie selbst, die nur aus zwei Alternativen, b) und a) besteht: Wäre das Sein nämlich nicht vieles, so wäre es eins (auch gemäß 1001b4–7 sowie ff.). Die in Met. 1089b extrapolierte Cpaqn-Variante lautet daher, warum ist überhaupt b) anstatt a), d. h. warum ist überhaupt Vielheit und nicht vielmehr Einheit.

6. Vom Hellenismus zur Spätantike Abgesehen von der an Epicharmos erinnernden Frage des jungen Epikur,61 was denn wohl laut Hesiod vor dem Chaos gewesen bzw. woraus es entstanden sei, und den als missing links62 zwischen Aristoteles (bes. Phys. 252a11–19) und Augustinus (bes. Conf. XI, 5–6) zu wertenden Weiterführungen der Cnc-Frage bei Lukrez (De rer. nat. V,156–195) und Cicero (De nat. deor. I,18–25) oder Origenes (De princ. I 9), verblassten im Hellenismus und der Spätantike die in der vorsokratischen und attischen Philosophie explizierten Varianten der Cpaqn-Frage zusammen mit der Kenntnis der esoterischen Schriften des Aristoteles. Platons Timaios kann dagegen als der vielleicht einflussreichste Text der Antike gesehen werden, was für die Geschichte der Cpaqn-Frage nicht unbedeutend ist, da sich innerhalb des Platonismus die sog. Dreiprinzipienlehre herausbildete, der zufolge für die Weltentstehung (nach Tim. 28a4– 29b1, 29d7–30a6) Gott, die Materie und die Idee benötigt würden (vgl. bspw. Alkin. Didask. IX, 162,25–166,13); dies war zudem der Grund, weshalb viele Denker glaubten, dass der platonische Demiurg den Kosmos nicht aus dem Nichts, sondern aus einer als Nichts verstandenen, ungeordneten prima materia ordnete (bspw. ebd., XIV, 169,32–35).63 Doch trotz dieses Einflusses blieb in dieser philosophiegeschichtlichen Entwicklungsphase – mit Ausnahme der ›Cur Potius Aliquid Quam Nihil‹ | 37

oben genannten Paraphrase Senecas – eine Rezeption von Tim. 29d7 f. als Cpaqn-Frage aus. Zumindest zeigen zahlreiche Stichproben in den einschlägigen Werken, Fragmenten und Testimonien der Sokratiker, Megariker, Platoniker, Peripatetiker, Epikureer, Stoiker, Skeptiker und Neupythagoreer keine nennenswerten weiteren Auseinandersetzungen in Bezug auf die attischen Cpaqn-Varianten oder ähnlichen Weltentstehungsfragen.64 Erst der Neuplatonismus offeriert wieder eine deutliche Variante der Cpaqn-Frage, dann aber nicht, wie Gerson meint, im Anschluss an Platon, sondern vielmehr im Anschluss an Aristoteles. Bereits in der frühneuzeitlichen Literatur vor Leibniz galt Plotin als derjenige, der die Notwendigkeit der sich vervielfältigenden Emanation der göttlichen Einheit in Frage stellte.65 In der Moderne hat Werner Beierwaltes dann auf Folgendes hingewiesen: Die für die CpaqnFrage einschlägigen Paraphrasen Plotins seien »keinesfalls gleichzusetzen mit der sogenannten Urfrage der Metaphysik ›Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts?‹ […], weil sie immerfort die Existenz des Einen voraussetzen«. Plotin frage, so Beierwaltes, dagegen implizit und nur etwas abgeschwächter, warum es »außer dem Einen« überhaupt Seiendes und nicht nichts gebe66 – eine Frage, die die Cnn-Variante und die Ca-Frage des Aristoteles nur wieder aufgreifen würde. Im Folgenden werde ich weiterhin gegen Gersons weitläufige Interpretation die wohl philologisch stichhaltigere These vertreten, dass nicht die platonischen Dialoge (Parm. 142b5–c5 in Verbindung mit Smp. 206a11–209d1), sondern Aristoteles’ Metaphysik XIV 2 fons et origo der plotinischen CpaqnVariante sind (1). Im Unterschied zu Beierwaltes möchte ich auch dafür argumentieren, dass sich aus dem Kontext der plotinischen Frage nicht nur eine syntaktische Parallele, sondern auch die uneingeschränkt-semantische Radikalität der neuzeitlichen Cpaqn-Frage ableiten lässt (2). 1) Spätestens seit einem Plotin-Kommentar von Christian Tornau67 ist bekannt, dass sich bereits in einer von Plotin früh verfassten Enneade eine Variante der Cpaqn-Frage findet. Plotin schreibt nämlich:

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»2Nun hat aber die Notwendigkeit dieses 3Seins die Seele einerseits erfasst, verlangt aber andererseits nach einer Antwort auf 4die schon bei den Weisen vor langer Zeit vielberedete Frage, wie aus dem Einem, welches 5so ist, wie wir über das Eine sagen, dieses überhaupt irgendetwas wie 6eine Vielheit oder Zweiheit oder Zahl zu hypostasieren vermochte und warum es nicht 7bei sich blieb und stattdessen eine derartige Vielheit hat hervorströmen lassen, die wir in der Wirklichkeit antreffen und 8von der wir fordern, sie auf jenes [Eine] zurückzuführen.«

»2Νῦν μὲν γὰρ τὴν ἀνάγκην τοῦ 3εἶναι ταῦτα ἡ ψυχὴ ἔχει, ἐπιποθεῖ δὲ τὸ θρυλλούμενον δὴ 4τοῦτο καὶ παρὰ τοῖς πάλαι σοφοῖς, πῶς ἐξ ἑνὸς τοιούτου 5ὄντος, οἷον λέγομεν τὸ ἓν εἶναι, ὑπόστασιν ἔσχεν ὁτιοῦν 6εἴτε πλῆθος εἴτε δυὰς εἴτε ἀριθμός, ἀλλ’ οὐκ ἔμεινεν ἐκεῖνο 7ἐφ’ ἑαυτοῦ, τοσοῦτον δὲ πλῆθος ἐξερρύη, ὃ ὁρᾶται μὲν ἐν τοῖς 8οὖσιν, ἀνάγειν δὲ αὐτὸ πρὸς ἐκεῖνο ἀξιοῦμεν.« (Enn. V 1 [10], 6,4–8)

Dass Plotin die Frage nicht selbst erdacht hat, sondern nur wieder aufnimmt, wird durch Z.4 belegt. Gleichzeitig knüpft dieser Verweis m. E. semantisch an Aristoteles’ eigenen Verweis auf die archaische Aporie in Met. XIV 2 an. Denn wie Seneca in Epist. 65, 9 f. eine verkürzte Variante von Platons Tim. 29d7 f. wiedergibt, so scheint auch Plotin hier einerseits in Z.4 (… τοῖς πάλαι σοφοῖς) auf Aristoteles’ Met. 1089a2 anzuspielen und andererseits in Z.4 ff. (πῶς ἐξ ἑνὸς…) eine Neuformulierung von Met. 1089b15, b21 und 23, d. h. von den aristotelischen Cpaqn-Varianten, vorzunehmen.68 Anhand der Tatsache, dass sowohl Plotin als auch Aristoteles über eine alte bzw. archaische Aporie zwischen Einheit und Vielheit diskutieren, der zufolge bereits die Weisen der Vorzeit sich gefragt hätten, wieso die Entscheidung für den Weg der Vielheit und nicht für die Einheit gefallen sei, bestätigt sich erneut Porphyrius’ Aussage (vit. Plot. 14,6–7), dass die Enneaden nichts anderes als eine intensive Auseinandersetzung mit der aristotelischen Metaphysik seien. 2) Dass diese und die anderen Cpaqn-Varianten bei Plotin – auf die zuletzt Gerson hingewiesen hat69 – aber nicht nur eine syntaktische Annäherung an die erste ›wortwörtliche‹ Cpaqn-Frage sind, sondern deren Radikalität vorwegnehmen, wird m. E. nicht allein durch Plotins Verweis deutlich, dass durch die faktische Beantwortung von Wie- und Was-Fragen auch Warum-Fragen beantwortet werden (Enn. VI 7 [38] 2), sondern vor allem aufgrund der ›Cur Potius Aliquid Quam Nihil‹ | 39

expliziten Identifikation der reinen Einheit mit dem Nichts. Plotin nimmt nämlich seiner ersten Cpaqn-Variante in Enn. V 1 [10], 6 vorweg, dass eine Einheit, die ohne Vielheit bestehe, dasselbe sei wie ein Nichts.70 Dadurch lässt sich gleichzeitig der Umkehrschluss ableiten, dass die Vielheit kein Nichts, sondern mindestens etwas bzw. etwas Seiendes sei. Berücksichtigt man diesen Kontext, so bedeutet Plotins Cpaqn-Variante, ›Wie kann überhaupt Vielheit und nicht nur Einheit sein‹, nichts anderes als ›Warum ist überhaupt etwas/Seiendes und nicht vielmehr nichts‹ – ohne dass man der Einschränkung von Beierwaltes, ›Warum ist überhaupt Seiendes außer dem Einen‹, zustimmen müsste. Plotin radikalisiert somit die aristotelische Cpaqn-Variante.

7. Der späte Neuplatonismus und die christliche, islamische und jüdische Philosophie des frühen Mittelalters Obwohl die Frage, wie aus der Einheit Vielheit entstehen könne, bes. im späten Neuplatonismus weiter gestellt und diskutiert wurde (bes. Damas. De princ. 91), scheint für die Weiterführung der CpaqnFrage wichtiger zu sein, dass im Umkreis der neuplatonischen Timaios-Kommentatoren die Behauptung erwuchs, dass Gott bei einer möglichen creatio ex nihilo nicht einmal die Materie benötige, die zuvor ja gemäß der platonischen Dreiprinzipienlehre mit ›nichts‹ bzw. einem primordialen Zustand der Unordnung gleichgesetzt wurde. In dieser Behauptung klingt bereits der Einfluss der neuen, frühchristlichen Lehre an, dass Gott »aus Nichts das Seiende erschuf« (Theophil. Ad Autol. II, 4,25: τὸ ἐξ οὐκ ὄντων ποιεῖν).71 Ausgehend von den heute größtenteils verlorenen Schriften Ammonios Sakkas’ und vor allem Porphyrius’72 entwickelte sich eine reine Cnn-Frage in Form von ›Warum gibt es nicht nichts…‹, die größtenteils im Zusammenhang mit einer Cnc-Frage auftrat. Belege dafür finden sich sowohl bei Augustinus als auch bei Proklos,73 aber auch in einem von Photios überlieferten Fragment des Hierokles von Alexandrien, der darüber hinaus die Cnn-Alternative (Z.11 f.) in eine Ca-Frage (Z.12) überführt:

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»11Wenn es überhaupt 12besser war, nicht zu schaffen, wieso wurde dann zum Schaffen übergegangen? 13Wenn aber das Schaffen [besser war], warum hat er dann nicht aus der Ewigkeit gehandelt […]?«

»11Εἰ γὰρ 12ἄμεινον μὴ ποιεῖν, πῶς εἰς τὸ ποιεῖν μεταβέβηκεν; 13Εἰ δὲ τὸ ποιεῖν, τί μὴ ἐξ ἀϊδίου ἔπραττεν;« (Phot. Bibl., cod. 251, 461a11–13)

Derartige Varianten der Cpaqn-Frage wurden im spätantik-frühmittelalterlichen Christentum entweder direkt – mit Verweis auf die nach 2. Tim 3,16 zum Dogma erhobene Theopneustie- und Inspirationslehre,74 wie wir sie in viel schwächerer Form von Hesiod kennen – unterdrückt (vgl. bspw. Philop. De op. mund. II 13; III 4) oder – mit Rekurs auf etwaige, durch die Inspirationslehre zu weiteren Dogmen erhobenen Bibelstellen – indirekt beantwortet (vgl. bspw. Eriug. De div. nat. V 33). Ausnahmen finden sich vielleicht nur bei Augustinus, der mindestens drei Varianten der Cpaqn-Frage stellt: 1. Warum hat Gott die Welt geschaffen (De div. quaest. LXXXIII 28: Quare Deus mundum facere voluerit), 2. warum hat Gott Himmel und Erde geschaffen (Gen. c. Manich. I 2, 4: ›quare fecit Deus caelum et terram‹) und 3. warum hat Gott geschaffen (De civ. Dei XI 21: quare [sc. Deus] fecerit). Alle drei Varianten zeigen, dass er die Cpaqn-Frage auf die Frage nach dem Willen (voluntas) und dem Be- bzw. Entschluss Gottes (decretum Dei) reduziert, obwohl Augustinus diese reduktionistische Fragevariante dreimal mit stark unterschiedlichen Nuancen und z. T. in Anknüpfung an die bestehenden Traditionen beantwortet: nämlich 1. aristotelisch, weil man nicht nach der Ursache einer Ursache von allem fragen dürfe, 2. mit der harschen Antwort ›quia voluit‹ und 3. platonisch, »quia bona est«. Dass mit der creatio ex nihilo-Lehre jede Ca-Frage nach dem Motiv oder Grund für die Schöpfung auch gleichzeitig eine Cnn-Alternative impliziert, lässt sich dadurch erklären, dass zum einen das Nichts kein Etwas einer prima materia mehr ist und zum anderen Gott selbst, nach dogmatischer Auffassung, auch kein Etwas sein soll.75 Die knappen Antworten des Augustinus bilden damit nicht nur einige der wenigen ernsthaften Auseinandersetzungen mit der Cpaqn-Frage in der Patristik, sondern besitzen damit auch für die mittelalterliche Theologie das Potential einer kanonischen Antwort auf unbequeme Fragen. ›Cur Potius Aliquid Quam Nihil‹ | 41

Glaubt man Jon McGinnis, so scheinen sich aber die spärlichen Tendenzen der Patristik zur Cpaqn-Frage in der islamischen Philosophie fortzusetzen. Seine eng gefasste Cpaqn-Frage kann McGinnis bei ibn Sīnā und anderen arabischen Philosophen nicht lokalisieren und somit versucht er, aus dem metaphysischen Argument, d. h. aus dem Gottesbeweis eine Antwort auf die nicht aufzufindende Cpaqn-Frage bei ibn Sīnā zu deduzieren.76 Dadurch aber, dass sich an zentralen Stellen der Theologia Aristote77 lis , nämlich a) Theol. VIII 136–137 und b) Theol. X 2, Übersetzungen von a) Enn. V 1 [10], 6,2–6 und b) Enn. V 2 [11], 1,3–4 finden, werden die bei Plotin extrapolierten Cpaqn-Varianten schon früh in die arabische Philosophie eingeführt. Doch obwohl al-Kindī henologische Themen in seiner Metaphysik behandelt, al-Fārābī die Theologia Aristotelis oftmals in seiner Harmonie zwischen Platon und Aristoteles (alĞamʿ baina raʾyay al ḥakīmayn) erwähnt und ibn Sīnā nach plotinischer Manier78 die Frage nach der notwendigen Emanation (Met. IX 6)79 erwähnt, findet sich erst in dem Kapitel ›Ursache und Wirkung‹ (III 9 = Epist. XL) der Enzyklopädie der Lauteren Brüder (Rasāʾil Iḫwān aṣ-Ṣafāʾ) die eigenständige Cpaqn-Frage, »warum er [sc. Gott] sie [sc. die Welt] gemacht [hat], nachdem sie vorher doch nicht war«: »Fragt man: warum schuf Gott die Welt nachdem sie vorher nicht war? so antworte man, Gott ist weise und seine Weltschöpfung eine Weisheit; die Ausführung der Weisheit ist für den Weisen nothwendig, somit schuf Gott als nothwendige Folge seiner Weisheit die Welt.«80

»wa-kayfa iḏā qīla: lima ḫalaqa llāh taʿālà l-ʿālam baʿda an lam yakun? fayaqūlu li-anna llāh ḥakīm wa-ḫalqu-hu l-ʿālam ḥikma, wa-fiʿl al-ḥikma ʿan alḥakīm wāǧib, wa-bi-wāǧib al-ḥikma iḏan ḫalaqa l-ʿālam.«

Während sich an dieses Zitat sowohl eine Cnc-Variante (»warum schuf Gott die Welt zu einer Zeit und nicht vorher?«) als auch Fragen nach dem Warum der Form und nach dem Wie der Schöpfung anschließen, lässt der Iraner Nāṣir-i Ḫusrau in Gušāyis wa-rahāyiš (§ 3, 21) umgekehrt die Cpaqn-Variante aus der Cnc-Frage entstehen: Er fragt zunächst, warum der allmächtige Schöpfer nicht schon eher erschaffen habe und was nun seine Gründe für die Schöpfung seien.81 Eine weitere eindeutige Cpaqn-Variante findet sich zudem in ašŠahrastānīs Schrift über die Religionsparteien und Philosophenschu42 | jens lemanski

len (Kitāb al-milal wa-n-niḥal), die wiederum auf Aristoteles anspielt (II 2, 2 (Punkt 16) = [327]): »Es fragte ein materialistischer Philosoph den Aristoteles und sagte: wenn er (der Schöpfer) anfangslos und Nichts ausser ihm war, er dann aber die Welt hervorgebracht hat, warum hat er sie hervorgebracht?«82

»wa-qad saʾala baʿḍ ad-dahrīya Arisṭūṭālīs wa-qāla: iḏā kāna lam yazal wa-lā šayʾ ġayru-hu, ṯumma aḥdaṯa l-ʿālam, fa-lima aḥdaṯa-hu?«

Obwohl die hier genannten Varianten ebenso wie bei Augustinus die Cpaqn-Frage auf die Frage nach der Entscheidung Gottes reduzieren, wurde doch in der späteren arabischen Philosophie die Frage nach der (notwendigen) Emanation83 der Vielheit aus der Einheit wieder aufgenommen, und zwar in Hinblick auf den ex uno non provenit nisi unum-Lehrsatz84 – das henologische Pendant zum eleatischen nihilo nihil fit-Prinzip. Diese Wiederaufnahme der plotinischen Cpaqn-Variante (Enn. V 1 [10], 6,4–6) findet man – neben vielerlei Cnc-Varianten85 – bei al-Ġazālī in seinem Werk Inkohärenz der Philosophen (Tahāfut al-Falāsifa), prop. I86, bevor sie von Ibn Rušd in der Inkohärenz der Inkohärenz (Tahāfut at-Tahāfut) II 1 rezipiert und kritisiert wurde.87 Auch die jüdische Philosophie des Mittelalters knüpft mindestens in Gestalt von Moses Maimonides, genauer gesagt dessen Führer der Unschlüssigen (Dalālat al-ḥāʾirīn) II 22, an diese Diskussion an,88 obwohl bereits bei al-Ġazālī die plotinische Gleichsetzung des Einen mit dem Nichts, d. h. die CnnVariante Enn. IV 8 [6], 1 verlorengeht, und die Diskussion damit in der aristotelischen Aporie zwischen Einheit und Vielheit verharrt.89

8. Die Zeit der Frühscholastik In der Zeit der in Europa einsetzenden sog. Frühscholastik hatte sich die christliche Rezeption einer Cpaqn-Variante in einem anderen Weltteil bereits etabliert. So findet man bspw. in der syrischen Enzyklopädie Causa causarum,90 die zwischen dem Ende des 10. und dem 12. Jh. entstandenen sein dürfte, eine mehrfach auftauchende Cpaqn-Frage in der Art von: »warum der Schöpfer Ge›Cur Potius Aliquid Quam Nihil‹ | 43

schöpfe schuf und Welten herstellte« (II 1 = 36a ff.; ferner: I 4 = 15a u. 15b). Bei den europäischen Kanonikern und sog. Frühscholastikern findet man die erste Variante einer Ca-Frage bei Anselm von Canterbury, der zum einen methodisch die Inspirationslehre umgeht (bes. De incarn. verbi VI) und zum anderen die creatio ex nihilo-Lehre ausführlich behandelt (Monol. VI ff.), aber allein fragt, wie jemand überhaupt behaupten könne, dass aus dem Nichts etwas werde (ebd., VIII: cui aut qualiter persuadeatur quia ex nihilo aliquid efficiatur?). Einflussreicher dürfte dagegen erst Peter Abaelard gewesen sein, der in seiner wahrscheinlich bis 1138 abgefassten Theologia Christiana III 34 die augustinische Frage aus Gen. c. Manich. I 2, 4 wieder aufnimmt, warum Gott Himmel und Erde geschaffen habe. Diese Frage zitiert er zusammen mit Augustinus’ Divers. quaest. LXXXIII 28 in quest. 13 von Sic et non, und gibt später (q. 47) auch die einschlägige Frage, »cur mundus factus sit«, aus den spätantiken ps.-augustinischen Quaestiones Veteris et Novi Testamenti wieder, in denen bereits ausführlich die Frage, »cur deus mundum fecerit?« (Quest. vet. test. II = cap. 3) diskutiert wurde. Eine ähnliche Formulierung findet man zudem in der Disputation des Honorius Augustodunensis, in welcher der Meister auf die Frage des Schülers, was die Ursache für die Erschaffung der Welt gewesen sei (Eluc. I 5 quae causa fuit ut crearetur mundus?), mit der Güte (bonitas) und der Gnade (gratia) eine platonisch-christliche Antwort anbietet.91 Interessant ist aber besonders, dass Peter Abaelard einige Jahre nach der Theol. Christ. die Auseinandersetzung mit diesem Thema anhand der Calcidius-Übersetzung (PL IV 22,17–19) des platonischen Lemmas Tim. 29d7 f. eröffnet, die er aber mittels eines kleinen Einschubs (im Folgenden durch meine Kursivierung gekennzeichnet) fast so klar als Frage ausweist, wie es schon Seneca lange zuvor in seiner Paraphrase getan hatte:92 »Es muss gesagt werden, untersucht [/ erforscht/erfragt] er [sc. Platon/ Timaios], warum der Schöpfer und Werkmeister die gesamte Zeugung zu formieren [/zu ordnen] erwogen hat. Weil er der Beste war.«

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»Dicendum, inquit, cur conditor fabricatorque geniturae omne hoc instituendum putaverit. Optimus erat.« (Theologia Scholiarum III 5)

Daran – sowohl mit Zustimmung als auch vehementer Ablehnung – anknüpfend entwickelte sich bis über die Mitte des 12. Jhs. hinaus eine Generation von Denkern, deren heterogene Auseinandersetzung mit der Schöpfungsfrage im Folgenden mit einigen Beispielen belegt werden soll. Zum Zweck der historischen Darstellung lassen sich diese grob in zwei Schulen und einen Vermittler einteilen: 1) die Zisterzienserabtei Cîteaux, 2) Petrus Lombardus sowie 3) die Domschule von Chartres 1) Im kritischen Anschluss an Abaelard findet man in der Disputatio adversus Petrum Abelardum III des Zisterziensers Wilhelm von Saint-Thierry das Zitat einer augustinischen Cpaqn-Variante. Als ein weiteres Beispiel kann man auch die eigenständige, wenn auch sehr kurze Cpaqn-Variante angeben, die Wilhelms etwas älterer Ordensbruder Aelred von Rievaulx im Speculum caritatis angibt: Dort dient die charitas als Antwort auf die im Nebensatz gestellte Frage, warum Gott die Schöpfung erschuf (Spec. car. I 19, 56: cur creauit creanda).93 2) Auch Petrus Lombardus, der zu Lebzeiten zwischen Peter Abaelard und auch den Vertretern der beiden genannten Schulen stand, zitiert die augustinischen Cpaqn-Varianten in seinem Sentenzenbuch (Lib. sent. I 45, 4). Auch wenn dies die wahrscheinlich einschlägigsten Passagen zur Cpaqn-Frage bei Petrus Lombardus sind, so ist doch für die weitere Entwicklung der Cpaqn-Geschichte im Mittelalter bes. sein Lib. sent. II 1 von Bedeutung, da Lombardus dort die christliche Lehre des Schöpfers verfestigt, der aus nichts etwas schöpft (cap. 1: Creator enim est qui de nihilo aliquid facit.) – und zwar im direkten Unterschied zur platonischen Dreiprinzipienlehre (tria initia), in der der Werkmeister (artifex) nicht nur 1. sich selbst als Gott (Deus), sondern auch 2. die Idee (exemplar) und 3. die ungeschaffene Materie (materia increata sine principio) zum ›machen‹ (facere) benötigt.94 3) Damit steht Lombardus im direkten Gegensatz zu Denkern wie Thierry von Chartres, der bes. im Tractatus 295 versucht hat, die Weltentstehungslehre des Timaios mit der christlichen Kosmogonie zu vereinen.96 Weit über Platon hinaus, kann man sogar vermuten, dass in der Domschule von Chartres zeitgleich Hermann von Carinthia, in De essentiis, auch auf die plotinische Cpaqn-Variante anspielt, wenn er fragt, wie denn das primordiale Eine überhaupt ›Cur Potius Aliquid Quam Nihil‹ | 45

vieles sein könne (60vG: Quid enim plura quod unum?).97 Zuletzt soll nicht unerwähnt bleiben, dass von den vielen Textstellen, an denen Wilhelm von Conches sich den in Chartres bekannten CpaqnVarianten nähert, ohne diese doch explizit zu formulieren (bspw. Phil. I 11 = § 37; I 13 = §44; II 2 = § 5), ein Bonmot heraussticht, dass dieser gegen die Meinung derjenigen richtet, die sich für eine zufällige Weltentstehung aussprechen: Hätte nämlich der Zufall diese Welt geschaffen, warum hat er dann nicht ein Haus geschaffen oder etwas, das leichter wäre (Phil. I 2 = § 6: Si enim casus mundum operatus esset, quare domum vel aliquid tale quod levius est, non faceret)? Trotz des durchaus humoristischen Untertons schwingt in der Tatsache, dass für Gott die Alternative zur Weltschöpfung durchaus leichter ist (levius est) bereits eine wichtige Thematik für die frühe Neuzeit und bes. Leibniz mit.

9. Die vielleicht erste ›wortwörtliche‹ Cpaqn-Frage in der lateinischen Hochscholastik Wie die Frühscholastik immer mehr antike Cpaqn-Varianten wiederaufgegriffen hatte, so wurden diese Varianten dann auch an der Wende zum 13. Jh., und damit zur Hochscholastik, ein festes Repertoire in den sog. Summae Theologicae. Als Beispiel seien hier nur die augustinischen Cpaqn-Varianten im Werk des Alexander von Hales angeführt,98 der als typischer Vertreter der 1) Theologischen Fakultät von Sorbonne anzusehen wäre, wollte man – zusammen mit der 2) Pariser Artistenfakultät – auch diese Epoche wieder auf zwei Gruppen reduzieren, die allein für den Bereich des heutigen Frankreichs repräsentativ wären. Albert Zimmermann hatte 1962 in seiner Kölner Antrittsvorlesung dafür argumentiert, dass die Cpaqn-Frage bei den Autoren im Umkreis dieser beiden Pariser Fakultäten aus der Interpretation der lateinischen Fassung von Arist. Met. 1003a32 f. und 1025b3 f. erwächst. An diesen Textstellen hatte Aristoteles die metaphysische Aufgabe als das Auffinden der »ersten Ursachen des Seienden« (ens primae causae) bestimmt.99 1) Zimmermann hatte zudem festgehalten, dass die Cpaqn-Frage bei Heinrich von Gent, ein Magister der Facultas Theologica zu Paris, zwar »keinen Platz« haben könne; bei 46 | jens lemanski

Thomas von Aquin müsse es dagegen aber »Raum für die Grundfrage der Metaphysik« als Frage nach Gott gegeben haben, weil dieser (bspw. nach Summ. I. 3, n. 1220 u. a.) schließlich die Ursache des Seienden ist, sich selbst aber (nach In Dionysii Areop. de div. nom. c. 5, l. 2, n. 660) davon ausnimmt und die Schöpfung daher einen Grund bedarf.100 2) Interessanter als diese Auseinandersetzung mit den Autoren im Umfeld der Theologischen Fakultät ist aber die im frühen 20. Jh. durch Clemens Baeumker initiierte Forschung zur Pariser Facultas Artium, da Martin Grabmann 1923 in der Münchener Staatsbibliothek einen Handschriftencorpus auffand,101 in dem Albert Zimmermann später die erste Cpaqn-Frage entdeckte, die »wortwörtlich der Formulierung bei Leibniz entspricht«102. Die aufgefundenen Handschriften ergänzten das bis dato nur bruchstückhaft vorliegende Werk Siger von Brabants, und die für uns einschlägige Passage findet sich im Commentum am Beginn des vierten Buchs der Münchener Textfassung der Questiones in Metaphysicam,103 die vermutlich zwischen 1272 und 1275 geschrieben wurden. Den entscheidenden Cpaqn-Passus leitet Siger hier in Anknüpfung an die bereits von Zimmermann angegebenen lateinischen Aristoteles-Zitate ein, da nach Zimmermanns Meinung Siger behauptet, dass Aristoteles nicht über die ersten Ursprünge und Ursachen des gesamten Seienden handeln könne, denn wenn alles einen Grund hätte, müsste auch die erste Ursache bedingt sein (Quest. in met. IV,54–64).104 Da nun die Cpaqn-Frage auch die ersten Ursprünge und Ursachen des gesamten Seienden miteinschließe, sieht Zimmermann in Sigers Interpretation der aristotelischen Metaphysik gerade die »Ablehnung dieser Frage«105. – Wippel hat darüber hinaus zu belegen versucht, dass nicht nur für ibn Sīnā, sondern auch für Siger Gott zu dem Seienden gerechnet wird (Quest. in met. I, q. 2).106 Wippel versucht damit zu erklären, warum Siger scheinbar mit dem sonst für die Cpaqn-Frage so wichtigen principium rationis bricht, dem zufolge ja alles Seiende einen Grund haben müsse. Es stimmt tatsächlich, dass Siger die Cpaqn-Frage (Z.65 f., 68 f.) stellt, während er argumentativ mit Hilfe einer Analogie zu einer ebenfalls unbeantwortbaren Frage (Z.69 f.) versucht, die Hypothese (Z.63–65), dass nicht alles dem principium rationis unterliegen kann, in eine Konklusion zu überführen (Z.70 f.): ›Cur Potius Aliquid Quam Nihil‹ | 47

»63Weder hat nämlich jedes Seiende eine Ursache seiner Seiendheit, noch hat jede Frage, die nach dem Sein fragt, 65eine Ursache [/Sache]. Wenn nämlich gefragt werden mag, warum ist mehr [in höherem Maße/ eher] etwas in der Natur der Dinge als 66nichts, ist es zulässig, wenn man über verursachte Dinge spricht, zu antworten[:] weil es ein 67erstes unbewegtes Bewegendes und eine erste unveränderliche Ursache gibt. Wenn allerdings 68über die ganze Gesamtheit der seienden [Dinge] gefragt werden mag, warum ist mehr [in höherem Maße/eher] etwas darin [/ in dieser] als 69nichts, so ist es nicht zulässig eine Ursache [/Sache] anzugeben, weil es dasselbe ist, dies zu fragen [wie], 70warum mehr [in höherem Maße/ eher] Gott ist als nicht ist, und dies hat keine Ursache [/Sache]. Deswegen hat weder 71jede Frage ihre Ursache [/Sache], noch jedes Seiende eine Ursache.« 64

»63Non enim omne ens 64entitatis suae causam habet nec omnis quaestio quaerens de esse habet 65causam. Si enim quaeratur quare magis est aliquid in rerum natura quam 66nihil, in rebus causatis loquendo, contingit respondere quia est aliquod 67Primum Movens immobile et Prima Causa intransmutabilis. Si vero 68quaeratur de tota universitate entium quare magis est in eis aliquid quam 69nihil, non contingit dare causam, quia idem est quaerere hoc et quaerere 70quare magis est Deus quam non est, et hoc non habet causam. Unde non 71omnis quaestio habet causam nec etiam omne ens.« (Quest. in met. IV, 64–71. Hervorh. v. mir, J. L.)

So bedeutend Zimmermanns Fund dieser Cpaqn-Frage bei Siger von Brabant ist, so sehr geben sie und ihre Interpretation Rätsel und Probleme auf: Das aliquid/aliquod-Wortspiel in Z.65 f. stützt zunächst Wippels Vermutung, dass Gott bei Siger etwas Seiendes ist, da die Cpaqn-Frage in Z.65 f. dadurch beantwortet werden kann, dass das »[irgend]etwas in der Natur der Dinge« (aliquid in rerum natura) auch »[irgend]ein erstes unbewegtes Bewegendes« (aliquod Primum Movens immobile) beinhalte. Dagegen behauptet m. E. Zimmermann zu Unrecht, dass Sigers Text auf eine »Ablehnung dieser Frage« hinausläuft, da Siger ebenso in Z.69 wie in der Hypothese (Z.64) und Konklusion (Z.70 f.) nur die Antwort bzw. die Begründung der Frage ablehnt, nicht aber die Frage selbst. Das verdeutlicht auch das causa-Wortspiel: Nicht jedes Seiende besitzt eine ›causa‹ bzw. ›Ursache‹ im Sinne von ›Prinzip‹, so wie auch nicht jeder Frage eine ›causa‹ bzw. ›Sache‹ im Sinne von ›Antwort‹ zukommt. Dies wird für Siger argumentativ aber erst dadurch deutlich, dass 48 | jens lemanski

er die Cpaqn-Fragen überhaupt stellt: Bei der ersten Cpaqn-Frage (Z.65 f.), die sich ›nur‹ auf die Physik (in rerum natura) beschränkt, ist es zulässig (Z.66) diese mit Prinzipien der Metaphysik (Z.67) zu beantworten. Wird aber die Cpaqn-Frage auf den Bereich der Metaphysik (in eis = tota universitate entium) übertragen (Z.65 f.), so ist zumindest die Antwort auf diese Frage unzulässig (Z.69), weil der Versuch einer Antwort auf die Frage nach noch höheren Prinzipien von dem bereits höchsten Prinzip (Z.67) einer sinnlosen oder vielleicht sogar gotteslästerlichen Frage gleichkommt (Z.70). Kurz gesagt: Fragen der Physik können mit Hilfe der Metaphysik beantwortet werden, aber für die Metaphysik kann es keine Metametaphysik geben, da man sonst die aristotelischen Prinzipien der Metaphysik bzw. Gott verendlichen würde. Damit ist auch Sigers Text zuletzt mit Wippels These,107 Siger würde im Unterschied zu Thomas Gott zu dem Bereich des Seienden hinzuzählen, nicht vereinbar: Wenn Siger nämlich Gott in dem Textabschnitt als das ›Seiende‹ bestimmt, das keine Ursache hat, dann nimmt er dadurch nämlich genau dieses Seiende von allem endlichen Seienden aus, da das principium rationis sufficientis auf das physische, nicht aber auf das metaphysische Seiende angewandt werden kann (Z. 63 f., Z.71).

10. Cur potius Cpaqn quam nihil? – Aus- und Rückblick Sosehr die beiden Cpaqn-Fragen Sigers schon wie die Paraphrase einer halt nur noch nicht geschriebenen Phrase klingen, so bleibt doch fraglich, ob dies doch auch semantisch »wortwörtlich der Formulierung bei Leibniz entspricht«, wie Zimmermann behauptet. In Hinblick auf die hier kurz vorgestellten Cpaqn-Varianten bis zur Hochscholastik dürfte aber schon die Wortwahl und Syntax von Sigers Frage selbst wie eine creatio ex nihilo wirken: Zwar erwächst sie eindeutig einem aristotelischen Kontext und erinnert semantisch stellenweise an frühere Aspekte aus der Geschichte der CpaqnFrage, doch dass ihre eigenwillige Syntax und Wortwahl auch hier nicht als aus einer Traditionsgeschichte erwachsen nachgewiesen werden konnten, darf verwundern.108 Glaubt man modernen Autoren wie Noam Chomsky oder Robert Brandom, that almost »every sentence uttered by an adult native speaker is being uttered for the ›Cur Potius Aliquid Quam Nihil‹ | 49

first time […] in human history«109, so sollte es noch mehr verwundern, dass Siger eine derart ähnliche Formulierung wie Leibniz, vice versa, wählt. Da ich meine Verwunderung über 1. Sigers Herausgelöstheit aus der Historie der sich doch häufig gegenseitig beeinflussenden Cpaqn-Varianten, 2. seine allerdings semantische Verbundenheit an unterschiedliche Traditionsstränge und 3. seine sich aufdrängende Verwandtschaft mit den leibnizschen CpaqnVarianten hier nicht als Hypothesen formulieren möchte, da diese eine weiterführende Forschung evtl. auf eine falsche Fährte führen könnte, möchte ich doch einige Fragen formulieren, die der hier vorgelegte und selbstverständlich keinesfalls erschöpfende Überblick hoffentlich dennoch legitimieren konnte: 1. Gibt es vor Siger von Brabant weitere Cpaqn-Fragen? Gibt es bei der Suche gute Gründe, manche Bereiche der Philosophiegeschichte genauer zur Kenntnis zu nehmen als andere? 2. In welcher Tradition steht Siger mit seiner Cpaqn-Frage? Ist die Cpaqn-Frage tatsächlich so etwas wie ein ›aristotelisches Argument‹, um das »erste unbewegte Bewegende und eine erste unveränderliche Ursache« vor dem principium rationis zu verteidigen? 3. Gibt es eine verschlungene Rezeptionsgeschichte, die von Sigers Cpaqn-Frage zu Leibniz führen könnte? Oder ist es eher denkbar, dass beide von einer Art ›Quelle Q‹ abhängig sind? Trotz dieser Unklarheiten konnte der hier skizzierte Überblick ausgehend von der eleatischen Kritik an Hesiods Theogonie doch zwei Traditionsstränge aufzeigen: nämlich 1) Senecas Interpretation der Cpaqn-Frage im platonischen Timaios und 2) Plotins Interpretation der Cpaqn-Frage in der aristotelischen Metaphysik. Obwohl Augustinus dann die Cpaqn-Frage auf eine Frage nach dem Willen Gottes reduziert, bleiben beide Traditionsstränge doch in seinen Antworten erhalten. Diese Reduktion setzt sich in der arabischen und christlichen Philosophie fort, obwohl in der Zeit der Hochscholastik besonders die späte arabische und jüdische Philosophie wieder an den zweiten Traditionsstrang anknüpft und Siger von Brabant unmittelbar die erste ›wortwörtliche‹ Cpaqn-Frage aufstellt. Wollte man nun abschließend die Frage stellen, warum es überhaupt die Cpaqn-Frage gibt und nicht vielmehr nicht, so könnte man in Anbetracht ihrer bis zur Hochscholastik skizzierten Geschichte bereits antworten: weil die sprachlichen Mittel immer weiter verfeinert wurden, so dass sie überhaupt gestellt werden konnte. 50 | jens lemanski

Anmerkungen

Vgl. bspw. Richard Sorabij: The Philosophy of the Commentators, 200–600 AD: Physics, S. 180 ff. 2 Vgl. bspw. den Sammelband John F. Wippel (Hg.): The Ultimate Why Question. 3 Zu Cnc vgl. Gottfried W. Leibniz: Fünftes Schreiben [an Clarke], § 56. In: ders.: Philosophische Schriften, Bd. VII, S. 405. Zu Cpaqn bei Leibniz siehe den Aufsatz von Hubertus Busche in diesem Band. 4 S. u. Abschn. 5 und 6. 5 Die Verschrift lichung vieler Mythen hat nämlich erst lange nach ihrer mündlichen Verbreitung stattgefunden, vgl. Volker Haas/Heidemarie Koch: Religionen des Alten Orients. Hethiter und Iran, S. 80 ff. 6 Alan Henderson Gardiner : Hieratic Papyri in the British Museum, Tf. 64–65 = Übers. Emma Brunner-Traut: Altägyptische Märchen, S. 119: »Ich [sc. Re] bin es, der den Himmel gemacht hat und die Geheimnisse der beiden Horizonte, damit die Seelen der Götter darin wohnen.« 7 Erich Ebeling: Keilschrift texte aus Assur religiösen Inhalts, Bd. IV, V.16 f. (= VAT 9307); Übers. Manfried Dietrich u. a. (Hg.): Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Bd. III, S. 606 f., V.16 f.: »Was wollen wir [Götter, J. L] machen, was wollen wir erschaffen?« 8 VAT 9307; Übers. Manfried Dietrich u. a. (Hg.): Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Bd. III, S. 606 f., V.24–27: »Im Uzumua, dem Band von Himmel und Erde, wollen wir die Alla-Gottheiten schlachten (und) aus ihrem Blut die Menschheit erschaffen. Das Arbeitspensum der Götter sei ihr Arbeitspensum!« 9 Vgl. John A. Wilson: Before Philosophy, S. 62. 10 Vgl. Jan Assmann: Theologie und Weisheit im alten Ägypten, S. 19. 11 Bes. die Abschnitte 87C-D des Kairener Amunshymnus, in Jan Assmann: Ägyptische Hymnen und Gebete, S. 198 ff., gelten als Belege einer creatio continua aus dem Nun (vgl. ebd., S. 206; s. auch Maria Michela Luiselli: Der Amun-Re Hymnus, bes. S. 12, 20). Dort wird der Sonnengott Re als »der Eine Einsame«, der »alles Seiende geschaffen hat« (87E, V.107 f.), bezeichnet. Diese beständige Schöpfung des Seienden durch den Gott Re geschieht aber nicht ex nihilo, sondern ex Oceano (87C, V.98), der wiederum Re erschaffen hat. 12 Charles Maystre: Le livre de la Vache du Ciel dans les tombeaux de la Vallée des Rois, S. 62 f. (= col. 8 nach Sethos I); Übers. Beyerlin, Walter (Hg.): Religionsgeschichtliches Textbuch zum Alten Testament, S. 36: »Und Rê sprach zu Nun: Du ältester Gott, aus dem ich entstanden bin […].« 13 Jan van Dijk : Existe-t-il un ›Poème de la Création‹ sumerien?, S. 125; Übers. Manfried Dietrich u. a. (Hg.): Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Bd. III, S. 353, V.1–2. 1

›Cur Potius Aliquid Quam Nihil‹ | 51

Ähnlich auch bei den Ägyptern, siehe die Zusammenstellung bei Jan Assmann: Schöpfung, Sp. 677 ff. 15 Im Ullikummi-Lied, das wahrscheinlich an der Wende vom dritten zum zweiten Jahrtausend entstanden ist, wird bspw. berichtet, wie auf dem urzeitlichen Weltriesen Upellurri Himmel und Erde erbaut wurden, vgl. Volkert Haas: Geschichte der hethitischen Religion, S. 94: »Als man den Himmel und die Erde auf mir [sc. Upellurri] erbaute, da merkte ich gar nichts. Und als es dazu kam, daß man Himmel und Erde mit einer kupfernen Sichel auseinanderschnitt, auch da merkte ich nichts. Jetzt aber schmerzt etwas meine rechte Schulter.« Vgl. dazu ebd., S. 106 ff. 16 Jan van Dijk : Existe-t-il un ›Poème de la Création‹ sumerien?, S. 125; Übers. Otto Kaiser u. a. (Hg.): Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Bd. III, S. 353, V.5. 17 Adriaan de Buck u. a. (Hg.): The Egyptian Coffin Texts, Bd. II, 396b. 18 Vgl. bspw. Martin Litchfield West: The East Face of Helicon, bes. S. 276– 438. West schreibt, dass vor allem die Parallelen zwischen Hesiod und den orientalischen Mythen so eindeutig sichtbar sind, dass kein Kommentator sie heute umgehen könne. 19 Vgl. Robert Mondi : Χαος and the Hesiodic Cosmogony. Mondi berichtet, dass ›Χαος‹ von den Peripatetikern als ›Raum‹, von den Stoikern als ›Urwasser‹, von Bakchylides als subätherische Region, von Aristophanes als präkosmische Dunkelheit und von Ovid als Unordnung interpretiert wurde, und zieht zahlreiche Parallelen zu frühgeschichtlichen Mythologemen. 20 Vgl. Joachim Klowski : Der historische Ursprung des Kausalprinzips, S. 240 f. 21 Ausführlich dazu Athanasios Kambylis: Die Dichterweihe und ihre Symbolik, bes. S. 31–69. 22 Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 239–291. 23 Bereits Heidegger hatte in Hinblick auf das Christentum darauf angespielt, vgl. Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 1–9 (§ 1). 24 Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes, S. 13, ferner: S. 26, 49 f. 25 Vgl. Joachim Klowski : Zum Entstehen der Begriffe Sein und Nichts (I. Teil), S. 147; ders.: Parmenides Grundlegung seiner Seinslehre B 2–7, S. 110 f. Klowski argumentiert hier besonders gegen Charles Kahn (vgl. bspw. The Verb ›Be‹ in Ancient Greek, S. 349 ff. – später: Essays on Being, S. 85 f., ferner: S. 169). 26 Joachim Klowski: Zum Entstehen der Begriffe Sein und Nichts (II. Teil), S. 228. 27 Vgl. Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes, bes. S. 50 f. 28 Vgl. mit der dort angegebenen Literatur Charles H. Kahn: Essays on Being, bes. S. 167–180, oder auch Roy Sorensen: Nothingness. 29 Einen partiellen Forschungsüberblick zu diesem seit langem bestehenden Problem fi ndet man bei Luis Andrés Bredlow: Parmenides and the Gram14

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mar of Being. Persönlich überzeugend – wenn auch in der Forschung zu wenig beachtet – fi nde ich auch heute noch Joachim Klowski: Parmenides Grundlegung seiner Seinslehre B 2–7. 30 Vgl. Hermann Diels: Parmenides, S. 10 ff. (anders allerdings: S. 21 f.). 31 Vgl. bspw. M. Laura Gemelli Marciano: Images and Experience; Auguste Francotte: Le genre de vie parménidien, S. 15–66. 32 Vgl. mit der dort angegebenen Literatur Chiara Robbiano: Becoming Being, S. 27 ff. 33 Es ist wahrscheinlich, dass die Antwortmöglichkeiten auf die Cpa-Frage nur den Methoden des durch DK 28 B 1.2 ff. und B 6.5 ff. konstituierten Trihodos entsprechen können, also Sein, Nichts und Unentschiedenheit. 34 Für V.9 f. bestätigt diese Interpretation auch Richard Sorabij: Time, Creation and the Continuum, S. 232 f. 35 Zu Leben und Werk vgl. Lucia Rodríguez-Noriega Guillén: Epicarmo de Siracusa. 36 Eine Andeutung dafür fi ndet sich in Jenny Strauss Clay : Hesiod ’s Cosmos, S. 67, Anm. 71. 37 Jüngst wurden in Rainer Kerkhof : Dorische Posse, Epicharm und attische Komödie, S. 67 f., zwei Gründe vorgebracht, die die von H. Diels attestierte Echtheit des Fragments in Zweifel ziehen: 1. die Bedeutung ›fehlen‹, ›nicht da sein‹ von dem in V.1 vorkommenden ὑπολείπειν ließe sich nicht vor Aristoteles nachweisen und 2. erinnern die Verse nicht an ein Luststück, da das Wechselgespräch »in völligem Ernst durchgeführt« sei. Der Verweis auf massive Belegstellen in Buch III von Thukydides’ Historiae sollten Argument 1, der Verweis auf Epicharmos’ zwei Wortwitze in V.5 sollten Kerkhofs Argument 2 entkräften. Es gibt somit keinen Grund DK 23 B 1 als ps.-epicharmisches Fragment abzuqualifi zieren. 38 Vgl. Jenny Strauss Clay : Hesiod ’s Cosmos, S. 67, Anm. 71. 39 Vgl. Joachim Klowski : Der historische Ursprung des Kausalprinzips, bes. S. 240 ff. Der Versuch von Walter Patt: ›Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?‹, die Entwicklung der Cpaqn-Frage aus der aristotelischen Ursachenlehre historisch nachzukonstruieren, scheint aufgrund der Fragmente Leukipps und Epicharmos’ zu spät anzusetzen. 40 Vgl. Ps.-Arist . De Meliss. 974a2–4; 975a21 f. (= DK A 5; zu Melissos); 975b1 (= DK B 12 zu Empedokles); 977a14–22 (= DK A 28; zu Xenophanes). 41 Vgl. Lloyd P. Gerson: Goodness, Unity and Creation in the Platonic Tradition. Hier leitet er aus der zweiten Hypothese des Spätdialogs Parmenides (bes. 142b5–c5 unter Zuhilfenahme von Resp. 509b6–10) eine Variante der Cpaqn-Frage ab, auf die die Eroslehre des mittleren Platon angeblich mit Symp. 206a11 ff. eine Antwort biete – und zwar in Form einer Selbsthervorbringung des höchsten Prinzips aus dem Nichts. 42 Vgl. den Forschungsüberblick von Gerald A. Press: State of the Question in the Study of Plato. ›Cur Potius Aliquid Quam Nihil‹ | 53

S. o. Abschn. 4. Gemeint sind besonders Forscher im Umfeld von Peter Kingsley und Gemelli Marciano. 44 Vgl. zum relativen Gebrauch Charles H. Kahn: Essays on Being, S. 182– 187. Kahn behauptet sogar (bes. S. 167), dass die Sprache der platonischen Metaphysik größtenteils nur die Sprache Parmenides’ sei, ohne aber auch Epicharmos oder Melissos hinzuzuziehen. 45 Vgl. bes. den Klassiker von William L. Craig: The Cosmological Argument from Plato to Leibniz. 46 Vgl. Christian Pietsch: Die Dihairesis der Bewegung in Platon, Nomoi X 893b1–894c9. 47 Zur kontextuellen Einordnung der Frage vgl. Mischa von Perger : Die Allseele in Platons ›Timaios‹, S. 154 mit Anm. 73. 48 Klaus Schöpsdau : Platon, Nomoi (Gesetze), S. 79, übersetzt daher nicht zu Unrecht: »Wann geschieht also die Entstehung eines jeden Dinges, welches Ereignis muß dazu gegeben sein?« 49 ›Pragmatisch‹, da Timaios nur versucht, nicht dem principium convenientiae entsprechend die Wahrheit (Tim 29c5–7), sondern nach dem probabilistischen Prinzip das Unmitteilbare (28c3–5) in einem »über diese Sachverhalte wahrscheinlichen Mythos« (29d1: »περὶ τούτων τὸν εἰκότα μῦθον«; ferner: 29c2; 30a1 f.) darzustellen (vgl. dazu auch Prokl. In Plat. Tim. BiTeu I, 290,3–13). 50 S. o. Abschn. 3. 51 Vgl. bspw. Hans Joachim Krämer : Platonismus und Hellenistische Philosophie, S. 108–131. 52 Einschlägig ist auch hier wieder Prokl. Diad. In Plat. Tim. BiTeu I, 357,12–23. 53 Peter Abaelard wird später eine ähnliche Interpretation vertreten, S. u. Abschn. 8. 54 Vgl. Eduard Norden: Agnostos Theos, S. 348. 55 Zu dieser Textstelle meint Robert Schnepf : Die Frage nach der Ursache, S. 62, Anm. 65, »Aristoteles scheint die förmliche Frage [sc. Cpaqn] zu streifen«; Schnepf erklärt aber leider nicht warum. 56 Diese Position scheint die logischen Modalschlüsse ab esse ad posse valet, a posse ad esse non valet consequentia auf die Ontologie zu übertragen. 57 Vgl. Walter Burkert : Lore and Science in Ancient Pythagoreanism, S. 15–53. 58 In den Standardübersetzungen wird die wichtige Textstelle ›ἀπορῆσαι ἀρχαϊκῶς‹ zumeist mit ›altertümlicher Zweifel‹ o. ä. übersetzt. Allein Hector Carvallo schlägt ›veraltete Fragestellung‹ vor. M. E. passen sowohl ›Fragestellung‹ aufgrund des Kontextes als auch ›Aporie‹ aufgrund des Bildes mit ›ἐκτροπῆς‹. Das ›veraltet‹ führt aber m.E. eine zu starke Wertung mit sich; daher plädiere ich eher für ›altertümlich‹, ›aus alter Zeit kommend‹ u. ä. 59 Aristoteles identifi ziert ›τὸ μὴ ὂν‹ von 1089a5 mit ἄλλος von a6, da jenes bei a15 zusammen mit dem Seienden auft ritt wie dieses bei a6. 43

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Die Differenzen bei der Übersetzung des Lemmas bleiben bis zur frühen Neuzeit: »Hiis itaque que causa essendi multa?« (Wilhelm von Moerbeke); »talibus vero que causa multa esse?« (Anonymer Übers., XII o. XIII. Jh.); »Quid igitur his causae est ut multa sint?« (Bessarion); »His itaque quae causa essendi multa:« (Averroes nach der Giunta-Ausgabe 1542); »Quae igitur causa est, cur haec multa sint?« (Joachim Périon). 61 Vgl. S. Emp. Adv. math. 10.18–19; Diog. Laert. 10.2. Nach Epikur tritt die Frage noch bei Theophil. Ad Autol. II, 6 auf. 62 Richard Sorabij: Time, Creation and the Continuum, S. 233, verweist bei der Abhandlung der Cnc-Frage nur auf Philon und Origenes als Verbindungsglieder zwischen Aristoteles und Augustinus. 63 Zur Dreiprinzipienlehre vgl. Heinrich Dörrie: Die Frage nach dem Transzendenten im Mittelplatonismus, S. 218 ff. 64 Von den gesichteten Texten könnten höchstens leichte Anklänge bei Theophr. Metaph. 8a27 ff.; Lucr. De rer. nat. V, 1161–1225; Cic. De nat. deor. II, 133, PistSoph. 208 ff. gefunden werden. 65 Vgl. bspw. Christian Knorr von Rosenroth: Apparatus in Librum Sohar, S. 80 (= In Cap. I, I, 3): »Cum ex asserto Judaico fluat, Mundum conditum necessitate quadam: annon hæc esse posset ratio quare Pythagoræi Decadem seu mundum appellarint ἀνάγκη: et quare Plotinus asserat: mundum esse necessariam Emanationem à Deo? Ennead. 5. lib. 9. c. 12. En. 3. l. 2. c. 3. En. 1. l. 8 c. 9.« 66 Werner Beierwaltes: Einleitung II, S. 11 f. 67 Vgl. Plotin: Ausgewählte Schriften, S. 351, Anm. 37. 68 Plotin benutzt zudem auch in Enn. IV 2 [4], 2,45, die einschlägige Formulierung ›πολλὰ τὰ ὄντα‹, die bes. von Aristoteles in Met. XIV 2 geprägt wurde. Diese Formulierung fi ndet sich (eventuell noch vor Plotin) nur noch in dem Metaphysikkommentar von Ps.-Alexander von Aphrodisias (CAG 1, S. 805,7–812,25, bes. S. 810,2 ff.). Alexander versteht in seinem Metaphysikkommentar aber die Rede von der ›Vielheit des Seienden‹ als identisch mit einer platonischen ›Vielheit der Ideen‹ (S. 764,17). Eine Interpretation, die Plotin scheinbar nicht geteilt hat, aber der heutigen Aristoteles-Forschung eher entgegen kommen würde. 69 Vgl. Lloyd P. Gerson: Goodness, Unity and Creation in the Platonic Tradition, S. 32, Anm. 5. Die Textstellen lauten konkret: Enn. Übers. Orig. V 2 [11], 1,3–4 »Wie kann es [sc. d. (Prinzip »Πῶς οὖν [sc. (ἀρχὴ) πάder) Gesamtheit] selbst nun ντων] ἐξ ἁπλοῦ ἑνὸς aus einem einfachen Eins οὐδεμιᾶς ἐνταὐτῷ φαινοstammen, obwohl in diesem μένης ποικιλίας, οὐ διπλόης selbst keine Vielheit erscheint, οὔτινος ὁτουοῦν;« noch irgendeine Zweiheit von irgendetwas?« 60

›Cur Potius Aliquid Quam Nihil‹ | 55

III 9 [13], 4,1

»Wie wird aus dem Einen »Πῶς οὖν ἐξ ἑνὸς πλῆθος;« Vielheit?« III 8 [30], »…wie die Vielheit aus dem »…πῶς τὸ πλῆθος τῆς ζωῆς 10,14–15 entstand, was nicht Vielheit ἐξ οὐ πλήθους ἦν…« war…« V 3 [49], 15,3–7 »Wenn er [sc. der Nous] »εἰ δὲ [sc. ὁ νοῦς] μὴ ἔχων nicht [vieles] hat, wie kommt [τὸ πλῆθος], πῶς ἐξ αὐτοῦ τὸ aus ihm dann die Vielheit? πλῆθος; Ἓν μὲν γὰρ ἐξ αὐτοῦ Denn ein Nichtvieles kann ἁπλοῦν τάχ’ ἄν τις δοίη – er wohl leicht aus sich selbst καίτοι καὶ τοῦτο ζητηθείη ἄν, heraussetzen – obwohl auch πῶς ἐκ τοῦ πάντη ἑνός […] – da noch die Frage bestünde, πῶς δὲ πολλά;« wie es aus einem durchweg Einen [möglich sei] […] – wie aber wohl vieles?« 70 Vgl. Enn. IV 8 [6], 1,1–3: »Εἴπερ οὖν δεῖ μὴ ἓν μόνον εἶναι – ἐκέκρυπτο γὰρ ἂν πάντα μορφὴν ἐν ἐκείνῳ οὐκ ἔχοντα, οὐδ’ ἂν ὑπῆρχέ τι τῶν ὄντων στάντος ἐν αὐτῷ ἐκείνου, […].« 71 Vgl. auch Johannes Köhler : Schöpfung III. 72 Vgl. Matthias Baltes: Die Weltentstehung des platonischen Timaios, Bd. I, S. 187 ff.; Bd. II, S. 47 ff. Obwohl Baltes (Bd. I, S. 12 f., 202 f.) mit Bernd Effe: Studien zur Kosmologie und Theologie der Aristotelischen Schrift ›Über die Philosophie‹, bes. S. 23 ff., zu Recht darauf hinweist, dass der hier erwähnte Passus aus Porphyrius’ Timaioskommentar und die von ihm abhängenden Autoren sich auf Aristoteles De philosophia (BiTeu 1886/1967, I 5, Fr. 15 = Philo Aet. Mund. 8,39–43) bzw. die davon wiederum abhängenden Autoren wie Aëtios (DoxGr. 300a18 ff. = [Ps.-]Plut. De plac. phil. I 7), Lucr. V,156 ff. oder Cic. De nat. deor. I 9,21 ff. beziehen, so taucht die im Haupttext dargestellte Cpaqn-Variante nur bei Hierokles, Proklos und Augustinus auf. 73 Vgl. Aug. Conf. XI 10, 12,9–13: »Siehe, sind diejenigen nicht voll von Altertümlichkeiten, die [gegen] uns sagen: ›Was tat denn Gott, bevor er Himmel und Erde erschuf? Wenn er nämlich untätig war, sagen sie, und nicht etwas erschaffen wurde, warum blieb es nicht immer und weiterhin so, wie [zu der Zeit als] er immer zurückwich vor seinem Werk?‹«

»Nonne ecce pleni sunt uetustatis suae qui nobis dicunt: quid faciebat deus antequam faceret caelum et terram? si enim uacabat, inquiunt, et non operabatur aliquid, cur non sic semper et deinceps, quemadmodum retro semper cessauit ab opere?«

Vgl. Prokl. In Tim. (BiTeu 1903) I 288,22–24:

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»[…] warum begann er dann nicht »[…] διὰ τί μὴ πρότερον ἤρχετο eher mit dem Hervorbringen und γεννᾶν καὶ κοσμοποιεῖν; ἀλλ’ οὐχὶ Schaffen des Kosmos? Aber dies muss τοῦτο ἄμεινον. τί οὖν οὐκ ἔμενεν ἐπὶ nicht besser sein [als das Nichtschaf- τῆς ἀργίας […];« fen]. Warum verharrte er dann nicht folglich in seiner Untätigkeit […]?« 74 Vgl. zum Dogma Iren. Adv. haeres. II 28, 2,21–29; Dion. Areop. De div. nom. 588A. Vgl. auch Jens Lemanski: Philosophia in bivio. 75 Vgl. bspw. Heinrich Denzinger: Enchiridion Symbolorum, S. 134 = Urk. 285. 76 Vgl. Jon McGinnis: The Ultimate Why Question. Zum engen Vorverständnis vgl. ebd., S. 65: »The question ›Why is there anything at all rather than absolutely nothing?‹ was not a question medieval Arabic-speaking philosophers were prone to raise, at least not in this exact wording.« Dass McGinnis die Frage zu eng fasst, ergibt sich aus dem Aufsatz von Hubertus Busche in diesem Band. 77 In der heutigen Forschung werden unter dem Stichwort ›Plotiniana Arabica‹ bes. drei erhaltene Schriften subsumiert, die sog. Theologie des Aristoteles (Uṯūlūǧiyā Arisṭūṭālīs), die Briefe über die göttliche Wissenschaft (Risāla fī l-ʿilm al-ilāhī) und die Dicta eines griechischen Weisen (Qāla š-šayḫ al-yūnānī), welche als freie Paraphrasen von Plotins Enn. IV–VI gelten, die wahrscheinlich von Porphyrius kompiliert, von Ibn Nāʿima al-Ḥimṣī ins Arabische übertragen und von al-Kindī zwischen 833–842 n. Chr. korrigiert wurden. Vgl. Peter Adamson: The Theology of Aristotle. Zur frühneuzeitlichen Rezeptionsgeschichte vgl. auch Udo Reinhold Jeck : Platonica Orientalia, S. 345– 367. 78 S. o. Abschn. 6. 79 Anklänge an die Cpa-Frage fi nden sich noch bei Met. III 7; VII 3. Eine Cnc-Variante wird eindeutig in Met. IX 2 gegeben. 80 Übers. v. Friedrich Heinrich Dieterici: Die Lehre von der Weltseele, S. 153, 154. 81 Vgl. Naşir Khusraw : Knowledge and Liberation, S. 32: »O brother! You asked: […] why the Creator who is omnipotent delayed in the creation of the world, and why did He not create before He [actually] created it? […] why did He not start earlier as there was none to prevent Him [from doing so]? And when God had not yet created the world, what promted Him to create it, whereas before it there was nothing? […] Then what was the delay in the creation of the world till the appointed time or period when He created it, and what was the reason for it? Explain!« 82 Übers. v. Theodor Haarbrücker : asch-Schahrastâni’s Religionspartheien und Philosophenschulen, Bd. 2, S. 182. 83 Einen Überblick zur Beziehung der islamisch-jüdisch-christlichen Emanationslehre im Zusammenhang mit der Prinzipienlehre gibt Matthias Koßler: Empirische Ethik und christliche Moral, S. 213–309. ›Cur Potius Aliquid Quam Nihil‹ | 57

Cristina D’Ancona: Ex uno non fit nisi unum. Zu den Cnc-Varianten in der islamischen und jüdischen Philosophie des Mittelalters vgl. Herbert A. Davidson: Proofs for Eternity, Creation and the Existence of God, bes. S. 51–56, 69–75. 86 »How can that which is one become two, nay, a thousand, and then regain its oneness?« (Übers. v. Sabih Ahmad Kamali: Tahāfut al-Falāsifah, S. 19) 87 »Dies ist der Wortlaut des Weisen (Aristoteles), des Führers der Schule (imām alḳaum) in einigen seiner metaphysischen Abhandlungen: Manche stellten die Frage: wie erschuf Gott absolut neu die Welt nicht aus einem Dinge und wie bewirkte er ein ens aus einem non-ens?« (Übers. v. Max Horten: Die Hauptlehren des Averroes, S. 140,22–26) 88 Vgl. dazu Arthur Hyman: From What is One and Simple only What is One and Simple Can Come to Be. 89 Ich danke Daniel Potthast für die Korrekturen in diesem Kapitel. 90 Vgl. zu diesem Werk Gerrit J. Reinink : Communal Identity, S. 275–288, zur Datierung bes. S. 287 f. Eine dt., hier zitierte Textfassung bietet Carl Kayser (Hg.): Das Buch von der Erkenntniss der Wahrheit. 91 Zur Einordnung der Antwort in den historischen Kontext vgl. Friedrich Ohly: Die Trinität berät über die Erschaff ung des Menschen und über seine Erlösung, bes. S. 254 ff. 92 S. o. Abschn. 2.4. 93 Vgl. auch Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland, Bd. 2, S. 473– 496. 94 Zur weiteren Diskussion dieser Thematik siehe die Ausführungen über Thomisten und Skotisten von Stefan Heßbrüggen-Walter in diesem Band. 95 Nach der Textfassung von Nicholas M. Haring : A Commentary on Boethius’ ›De Trinitate‹ by Thierry of Chartres. 96 Vgl. Anneliese Stollenwerk : Der Genesiskommentar Thierrys von Chartres und die Thierry von Chartres zugeschriebenen Kommentare zu Boethius ›De Trinitate‹, S. 37 ff. 97 Unabhängig von Hermann kann man diese plotinische Variante auch aus dem Liber de causis IV (V) 56 herauslesen. 98 Vgl. bspw. Alexander de Hales: Summa Theologica, bspw. lib. I, pars I, inq. I, trac. VI, quaest. II, cap. III 1; lib. II, inq. I, tract. I, sect. I, quast. II, mem. IV, cap. II 5 (jeweils allein Aug. de div. quaest. LXXXIII 28) u. v. a. 99 Vgl. Albert Zimmermann: Die ›Grundfrage‹ in der Metaphysik des Mittelalters, S. 145. 100 Da John F. Wippel im Anschluss an eine rege Diskussion im angloamerikanischen Raum konstatiert hat, dass er bei Thomas die Cpaqn-Frage oder deren Varianten nicht gefunden habe, kann sein Versuch, eine neuthomistische Antwort auf die Frage zu geben, hier unberücksichtigt bleiben. Vgl. John F. Wippel: Thomas Aquinas on the Ultimate Why Question; vgl. bes. zu Wip84 85

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pels Fragestellungen S. 84, 89, zur angloamerikanischen Diskussion S. 91–93, 103 f. mit Anm. 50, zur Beantwortung der Frage S. 97 f., 105 f. 101 Vgl. den bis heute interessanten Forschungsbericht von Martin Grabmann: Neu aufgefundene Werke des Siger von Brabant und Boetius von Dacien. 102 Albert Zimmermann: Staunen, vertrauen, lernen, S. 31 f. Ähnlich auch ders.: Some Aspects of the Reception of Aristotle’s ›Physics‹ and ›Metaphysics‹ in the Th irteenth Century, S. 224. 103 Die hier benutzte Textfassung fi ndet sich in Siger de Brabant: Questiones in metaphysicam. 104 Vgl. die ausführlichere Darstellung des Kontextes bei Albert Zimmermann: Die ›Grundfrage‹ in der Metaphysik des Mittelalters, S. 147 f. 105 Ebd., S. 149, ferner: S. 156. 106 Vgl. John F. Wippel: Thomas Aquinas on the Ultimate Why Question, S. 86; ders.: Thomas Aquinas and Siger of Brabant, S. 150 f. 107 Wippels These funktioniert hinsichtlich des aliquid/aliquod-Wortspiels auch nur dann, wenn man die Einschränkung in Z.66, »wenn man über verursachte Dinge spricht« (in rebus causatis loquendo), außer Acht lässt. 108 Es muss aber angemerkt werden, dass bes. Grabmann und Zimmermann immer wieder auf die Eigenständigkeit von Sigers Aristoteleskommentar hingewiesen haben. 109 Robert Brandom: Making it Explicit, S. 365.

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– Stefan Hessbrüggen-Walter –

Creatio ex nihilo und creatio nihili Etwas und Nichts im Schöpfungsdenken der frühen Neuzeit

Leibniz fragt in den 1714 erschienenen Principes de la Nature et de la Grace fondés en Raison: (LF) »[…] pourquoi il y a plus tôt quelque chose que rien.«1

Wie diese Passage im Deutschen lauten soll, ist nicht nur ein philologisches Problem. Johann Gottfried Gottsched übersetzte 1744: »Warum ist vielmehr etwas, als nichts vorhanden?«2 Artur Buchenau und Herbert Herring lassen Leibniz fragen, »[…] warum es eher Etwas als Nichts gibt«3. Hans Heinz Holz formuliert: »[…] warum gibt es überhaupt etwas und nicht nichts?«4 Gottsched und Holz scheinen darin übereinzustimmen, dass ›etwas‹ und ›nichts‹ als Indefinitpronomina aufzufassen sind. Buchenau bzw. Herring erwecken den Eindruck, als hätten ›etwas‹ und ›nichts‹ substantivisch einen Bezug auf ›Quasi-Dinge‹, das Etwas und das Nichts. Gottsched und Buchenau bzw. Herring lesen ›plus tôt‹ als Anzeige eines graduellen Gegensatzes (›vielmehr‹, ›eher‹), während Holz den Gegensatz als kontradiktorischen auffasst und Leibniz stillschweigend dahingehend verbessert. Damit bieten sich die folgenden drei Lesarten von (LF) an: (LFGottsched) Warum ist es in höherem Maße der Fall, als es nicht der Fall ist, dass mindestens ein Ding existiert? (LFBuchenau) Warum ist es in höherem Maße der Fall, dass das Etwas existiert, als es der Fall ist, dass das Nichts existiert? (LFHolz) Warum ist es der Fall, dass mindestens ein Ding existiert, und nicht der Fall, dass kein Ding existiert?

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Spätestens beim Vergleich dieser drei Paraphrasen ist Holz seine stillschweigende Verbesserung von Leibniz vielleicht nicht mehr zu verdenken. Werden ›etwas‹ und ›nichts‹ als Indefinitpronomina aufgefasst, sind sie naturgemäß unbestimmt. Sie bezeichnen also lediglich im Zusammenhang eines Satzes das Bestehen oder Nichtbestehen des Sachverhalts, dass mindestens ein Ding existiert. Dieses Bestehen oder Nichtbestehen eines Sachverhalts ist aber ein kontradiktorischer Gegensatz: Zu behaupten, etwas könne ›in höherem Maße der Fall oder nicht der Fall sein‹, ist schlicht widersinnig. Diesen Widersinn hebt die von Buchenau vorgenommene Substantivierung auf, allerdings um dem Preis, Leibniz unausgesprochen zu unterstellen, dass Etwas und Nichts koexistieren können. Holz durchschlägt diesen gordischen Knoten, indem er das französische ›plus tôt‹ in ein eindeutiges, aber von seiner Wortbedeutung her fragwürdiges ›überhaupt‹ ummünzt. Nicht alle Fragen der Übersetzung philosophischer Texte sind zugleich philosophische oder auch nur philosophiehistorische Fragen. In diesem Falle jedoch zeigt die Diskrepanz der Übersetzungsvorschläge tatsächlich die Existenz zweier philosophiehistorischer, wenn nicht sogar philosophischer Probleme an: Denn es ist tatsächlich unklar, wovon Leibniz spricht, wenn er von ›etwas‹ und ›nichts‹ spricht und ob dieser Gegensatz ein kontradiktorischer Gegensatz ist oder nicht. Bereits Wolfgang Hübener hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Gegensatz von ›etwas‹ und ›nichts‹ in einem umfänglichen frühneuzeitlichen Diskurs erörtert wurde, der Leibnizens Denken wesentlich geprägt hat. Weiter stellt er fest, dass Leibniz selbst hier nicht zu letzter Klarheit gelangt sei.5 Ein wesentliches Hindernis für ein zutreffendes Verständnis von (LF) liegt sicherlich darin begründet, dass der Kontext, in dem Leibniz diese Frage stellt, für den heutigen Leser nicht mehr offensichtlich ist. (LF) ist nämlich kein metaphysisches oder ontologisches, sondern ein schöpfungstheologisches oder, wenn man so will, ›schöpfungsphilosophisches‹ Problem. Dies verrät der unmittelbar anschließende Satz: »Car le rien est plus facile et plus simple, que quelque chose.«6 Die Frage sei sinnvoll, so Leibniz, weil das Nichts ›müheloser und einfacher‹ sei als etwas oder das Etwas. ›Facile‹ ist ein Adjektiv, das in erster Linie auf Handlungen anzuwenden ist, und zwar relativ auf einen Han66 | stefan hessbrüggen-walter

delnden. Kopfrechnen ist nicht an sich mühelos.7 Es gibt aber, wenn überhaupt, nur eine Handlung, in der über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von ›etwas überhaupt‹ entschieden wird. Denn es gibt, wenn überhaupt, nur einen Handelnden, der entscheiden kann, ob ›etwas überhaupt‹ ist oder ob nichts ist. Diesen Handelnden nennt die philosophische Tradition Gott, sein Handeln Schöpfung (creatio). Herrschender frühneuzeitlicher Meinung zufolge erfolgte diese Schöpfung selbst ›aus nichts‹ (ex nihilo) und der Schöpfer brachte in ihr ›etwas‹ (aliquid) zustande. (LF) fragt also primär nicht nach dem abstrakten metaphysischen oder ontologischen Verhältnis von ›etwas‹ und ›nichts‹, sondern danach, warum Gott es nicht mit nichts oder dem Nichts hat bewenden lassen, sondern etwas oder das Etwas hat wirklich werden lassen. Damit sind wir in der Lage, (LF) derart zu ergänzen, dass die tatsächliche Komplexität des Problems deutlich wird: (LF᾽) Warum hat Gott eher oder in höherem Maße etwas (oder das Etwas) wirklich werden lassen (und was genau hat er wirklich werden lassen?), als es bei nichts (oder dem Nichts) zu belassen (und wobei genau hätte er es belassen?), wenn doch nichts (oder das Nichts) einfacher und müheloser zu bewirken ist als etwas (oder das Etwas)?

Leibniz zeigt innerhalb der Principes de la Nature et de la Grace fondés en Raison nicht an, wie er (LF᾽) genau verstanden wissen will. Die folgenden Ausführungen werden den schöpfungstheologischen bzw. -philosophischen Kontext dieser Frage im Denken der frühen Neuzeit rekonstruieren, um zu verdeutlichen, was ein zeitgenössischer Leser unter dieser Frage verstanden haben mag. Keiner der im Weiteren zu erörternden Denker hat selbst Leibnizens Frage vorweggenommen. Aber ihre Theorien enthalten jene wesentlichen Elemente, die es Leibniz erlaubt haben, diese Frage – vermutlich tatsächlich als erster nachmittelalterlicher Denker – ausdrücklich zu stellen.8 Dies schließt ausdrücklich auch die frühneuzeitliche Scholastik ein, die als Hintergrund zum Verständnis eher heterodoxer Positionen unerlässlich ist.

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1. Etwas und Nichts im scholastischen Denken der frühen Neuzeit Der frühneuzeitliche Thomismus artikuliert im frühneuzeitlichen Diskurs ein Verständnis des Gegensatzes von ›etwas‹ und ›nichts‹, das der heute gängigen Auffassung beider Begriffe wohl am nächsten kommen dürfte. ›Nichts‹ bezeichnet den Anfangspunkt (terminus a quo) der Schöpfung, die die Existenz selbständiger und vollständiger Dinge (res secundum se totae) zur Folge hat, die damit als ›etwas‹ zu gelten haben. Der Begriff ›Nichts‹ bezeichnet dabei kein ›Ding‹, sondern vielmehr die Tatsache, dass kein Aspekt oder Element der in der Schöpfung hervorgebrachten selbständigen Dinge vor ihrer ›Verwirklichung‹ (productio) bereits existiert hat.9 Würde ›nichts‹ als präexistentes Ding angesehen, so würde es entweder Materie oder Form sein müssen und unter hylemorphistischen Vorzeichen als Materie durch Form, als Form durch Materie vervollständigt. Das Entstehen eines Dings aus der Zusammenfügung von Materie oder Form ist aber keine Schöpfung (creatio): »Wenn nämlich etwas einem Ding vorhergegangen ist und dieses Ding nicht [sc. als ganzes] durch Verwirklichung entsteht, handelt es sich nicht um eine Schöpfung, weil jenes Ding nicht aus nichts, sondern aus etwas entsteht, sei es Form oder Materie. Man sagt nämlich von einem Ding, dass es aus allem entsteht, was es zu diesem Ding macht.«10

Die Thomisten argumentieren also für die Gleichsetzung von Nichts und Nichtsein disjunktiv: Sollte Nichts mehr sein als Nichtsein, müsste es Bedingungen erfüllen, die für alles gelten sollen, das als nicht Nichtseiendes in Frage kommt, hier die Bedingung, entweder Form oder Materie zu sein. Die leere Extension von ›nichts‹ und ›Nichtsein‹ wird dann dadurch belegt, dass eine solche Bedingung nicht erfüllt sein kann: Was als Gegenstand von Schöpfung gelten soll, muss als ganzes im Akt der Schöpfung wirklich werden und kann nicht Form oder Materie einer der Schöpfung vorhergehenden Entität verdanken. Eine weitere Bedingung, die Seiendes erfüllen muss, um in diesem Verständnis als Gegenstand von Schöpfung gelten zu können, betrifft seine kausale Genese. Alles, was existiert, muss entweder 68 | stefan hessbrüggen-walter

von etwas anderem verursacht worden sein, aus nichts geschaffen worden sein oder ungeschaffen sein. Alles, was ungeschaffen ist, ist entweder Gott oder nichts, denn alles, was weder Gott noch nichts ist, ist von Gott geschaffen worden. Soll der Begriff ›Nichts‹ mehr bezeichnen als das Nichtsein, folgt entweder ein infiniter Regress von Ursache und Wirkung oder es muss entgegen der Prämissen natürlicher Theologie angenommen werden, dass es eine ungeschaffene Entität gibt, die nicht Gott ist.11 Ein Thomist würde (LF) also in folgendem Sinne lesen: (LFThom) Warum hat Gott selbständige Substanzen erschaffen und nicht den vor der Schöpfung bestehenden Zustand der Nichtexistenz von irgendetwas belassen?

Die Annahme, ›nichts‹ könne mehr bezeichnen als die bloße Tat-sache der Nichtexistenz von irgendetwas, widerspricht dem Thomisten zufolge der metaphysischen Grundannahme des Hylemorphismus, denn ein solches vor der Schöpfung existierendes Ding müsste entweder Form oder Materie sein. Dann aber wäre Schöpfung ein natürlicher Vorgang der Veränderung. Weiter führt eine solche Annahme in einen infiniten Regress von Ursache und Wirkung, weil immer zu fragen ist, ob ein solches vor der Schöpfung existierendes ›Ding‹ als von Gott geschaffen anzusehen ist oder nicht. Weitere Beiträge zum scholastischen Debattenstand durch den Skotismus betreffen hauptsächlich drei Punkte: Erstens kann gezeigt werden, dass die Disjunktionen, die der Thomist seinen Argumenten zugrunde legt, nicht vollständig sind. Zweitens ist für den Skotisten mit guten Gründen auch eine Welt denkmöglich, die den Anforderungen des Hylemorphismus nicht genügt, in der also zwar Stoff und Privationen, nicht aber Formen und Kausalität existieren. Drittens ermöglicht es das skotistische Denken, Schöpfung als atemporal zu begreifen. Die wesentliche Innovation des Skotismus gegenüber der thomistischen Identifikation von ›nichts‹ und ›nicht sein‹ ist schließlich die These, dass im Zusammenhang der Schöpfung aus dem Nichts unter ›nichts‹ die Existenz der zu schaffenden Dinge im Geist oder Willen Gottes zu verstehen ist.12 Zunächst ist hierbei zu berücksichtigen, dass für den Skotisten die Existenz von Dingen im Geiste oder Willen Gottes von der Existenz eines Dings als Objekt göttlicher Allmacht unterschieden ist. Creatio ex nihilo und creatio nihili | 69

Denn die logische Vereinbarkeit eines Prädikats und eines Subjekts in einem Urteil ist der Sache nach unabhängig davon, dass das Ding auch im Geiste Gottes präsent ist. Logische Möglichkeit ist begrifflich unabhängig von Gottes Denken über die Welt: »[…] Wir können Dinge hinsichtlich des Bestehens einer Verbindung zwischen Subjekt und Prädikat [sc. in einem Urteil] betrachten, [sc. und zwar] bevor wir begreifen, dass [sc. die Dinge] von Gott erkannt worden sind. Und dann existieren [sc. diese Dinge] nur der logischen Möglichkeit nach, was nichts anderes bezeichnet als die Abwesenheit von Widersprüchen, wie sie in unmöglichen Dingen ohne weitere Bedingungen vorgefunden werden. So ist das Urteil ›Der Mensch ist nicht vernunftbegabt‹ unmöglich im logischen Sinn, der nur das Wesen der Begriffe selbst betrifft […].«13

Weiter muss logische Möglichkeit von natürlicher Möglichkeit unterschieden werden: ›Der Blinde sieht‹ ist deswegen ein falsches Urteil, weil ein Blinder nicht über das natürliche Sehvermögen verfügt, nicht jedoch deswegen, weil Subjekts- und Prädikatsbegriff logisch unvereinbar wären, denn auch der Blinde ist ein Mensch, dem naturgemäß das Sehvermögen zukommt.14 Dass Blinde sehen, wäre also logisch möglich, ist aber physikalisch unmöglich. Wenn aber nicht alles, was logisch möglich ist, auch von Gott als logisch möglich erkannt oder gewollt sein muss, wenn weiter nicht alles, was logisch möglich und von Gott als logisch möglich erkannt worden ist, auch in der Natur tatsächlich muss möglich sein können, hat dies Auswirkungen auch auf unser Verständnis der Schöpfung selbst: »[…] daraus folgt, dass Dinge zuerst als logisch mögliche existieren, [sc. und erst dann] als von Gott erkannte oder gewollte, dann als Gegenstände [sc. im eigentlichen Sinn], nämlich [sc. als Gegenstände] des auf Gegenstände bezogenen Schöpfungsvermögens, insofern es schöpfend ist, [sc. denn] dann [sc. erst] werden sie in der Schöpfung in reales Sein überführt […]«15.

Die weiteste Bedingung dafür, dass etwas als von Gott geschaffen in Frage kommt, ist also logische Möglichkeit. Diese wird begrenzt durch weitere Bedingungen: Was geschaffen werden soll, muss dem göttlichen Geist und Willen gegenwärtig sein und zum Gegenstand 70 | stefan hessbrüggen-walter

des Schöpfungsvermögens Gottes werden. Erst die Betätigung dieses Schöpfungsvermögens lässt das zu schaffende Ding wirklich werden. Das Nichts des Skotisten ist unter solchen Voraussetzungen nicht das Nichtsein der Thomisten: »[…] ›aus nichts‹ darf nicht als ›aus schlechthin nichts‹ aufgefasst werden, sondern [sc. muss als] ›aus jenem, das weder hinsichtlich des Seins seines Wesens (esse essentiae), noch hinsichtlich des Seins in Wirklichkeit (esse existentiae) über Sein verfügt‹ [sc. aufgefasst werden], weil nichts derartiges [sc. also weder Sein des Wesens noch Sein in Wirklichkeit in der Schöpfung] vorausgesetzt werden darf, nicht jedoch als ›aus nichts‹ im Sinne von ›aus keinem anderen‹ (ex nullo) […].«16

Alles, was von Gott geschaffen wird, muss also im Geiste Gottes gegenwärtig sein. Aber nicht alles, was im Geiste Gottes gegenwärtig sein mag, muss deswegen auch faktisch von ihm geschaffen worden sein. Was im Geiste Gottes gegenwärtig ist, existiert dort aber weder dem ›Sein seines Wesens‹ noch dem ›Sein in Wirklichkeit‹ nach. Deswegen kann es mit Fug und Recht als ›nichts‹ bezeichnet werden. Die disjunktiven Argumente des Thomismus richten gegen eine solche skotistische Interpretation des Nichts als Gegenwärtigsein im Geiste oder Willen Gottes nichts aus. Weder führt die skotistische Position in einen infiniten Regress von Ursache und Wirkung, denn kognitive oder volitive Zustände Gottes werden nicht verursacht. Noch folgt aus ihr die Annahme einer zweiten Gottheit, denn die Ewigkeit und Akausalität der kognitiven oder volitiven Zustände Gottes implizieren nicht, dass diese ihr Sein sich selbst verdanken. Sollen aber kognitive und volitive Zustände Gottes als Nichts in Frage kommen, aus dem die Schöpfung entstand, muss geklärt werden, wie die Präposition ›aus‹ in diesem Zusammenhang aufzufassen ist. Es kann sich ja weder darum handeln, dass dieses Nichts die Stoffursache der Schöpfung ist, noch können Zustände des Geistes oder Willens Gottes als Wirkursache der Welt angesehen werden, denn die Welt verdankt ihre Existenz ja gerade einem von Denken und Willen unterschiedenen schöpferischen Vermögen Gottes. Die Priorität des Nichts ist für den Skotisten vielmehr eine ›Priorität der Ordnung nach‹ (ordinabiliter).17 Creatio ex nihilo und creatio nihili | 71

Diese Form der Priorität lässt sich durch ein Gedankenexperiment erläutern. Man denke sich eine Welt, in der es keine Kausalität gibt. Weil auch die Form eines Dings verursacht wird, denn auch Formursachen sind für den Aristoteliker Ursachen, gibt es in einer solchen Welt keine Formen. Es gibt aber sehr wohl Materie und Privationen, weil nämlich Privation nicht verursacht wird und der Materie die Form, die ihr zukommen sollte, ja faktisch nicht zukommt. Eine Welt, in der nur Materie und Privationen existieren, ist also denkmöglich. Wir können uns aber keine Welt denken, in der zwar Materie und Form, aber keine Privationen existieren, denn für jede geformte Materie ist es denkmöglich, dass sie die ihr entsprechende Form auch nicht haben könnte.18 Dies aber heißt, dass Privation der natürlichen Ordnung nach gegenüber der Form prioritär ist, weil es mögliche Welten gibt, in denen es Privationen, aber keine Form gibt, aber keine möglichen Welten, in denen es Formen, aber keine Privationen gibt. In jeder möglichen Welt, in der es Formen gibt, gibt es also auch Privationen. Umgekehrt gilt dies nicht. Deswegen sind Privationen gegenüber Formen der Ordnung nach prioritär. Gleiches gilt mutatis mutandis für das Verhältnis von Nichtsein und Sein. Denn in einer Welt, in der es keine Kausalität gibt, in der also Gottes schöpferisches Vermögen nicht betätigt wird, gibt es sehr wohl ›nichts‹ im skotistischen Sinne, nämlich das Sein von Dingen im Geiste oder Willen Gottes. Wirkliche Dinge aber gibt es nicht, denn diese bedürfen, um wirklich zu sein, der Kausalität des göttlichen Schöpfungsvermögens. ›Nichts‹ im Zusammenhang der creatio ex nihilo ist für den Skotisten also gleichbedeutend mit dem Sein von Dingen im Geiste oder Willen Gottes. Erst wenn ein Ding zum Gegenstand des Schöpfungsvermögens Gottes wird, das von Geist und Willen Gottes unterschieden werden muss, wird es zu ›etwas‹. Formuliert man (LF) also im Geiste des Skotismus, so müsste die Frage folglich lauten: (LFScot) Warum hat Gott sein schöpferisches Vermögen betätigt und es nicht dabei belassen, dass Dinge lediglich in seinem Intellekt oder seinem Willen existieren?

Die Argumente des Skotisten gegen die thomistische Identifikation von ›nichts‹ und ›nicht sein‹ eröffnen anhand des Gedankenexpe72 | stefan hessbrüggen-walter

riments einer Welt ohne Ursachen eine Neubewertung der Rolle der Materie im Schöpfungsakt. Das vom Thomisten vorgetragene ›hylemorphistische Dogma‹ der Denkunmöglichkeit ungeformter Materie wird zumindest relativiert. Die Lehre von der Priorität der Ordnung entbindet theologisches Schöpfungsdenken von der Notwendigkeit, Schöpfung zwangsläufig als einen Vorgang in der Zeit oder auch nur als einen Vorgang, mit dem die Zeit beginnt, zu denken. Beide Optionen sind von den Denkern, mit denen es sich nun zu befassen gilt, weiter erforscht worden, indem erstens Materie als Nichts, aus dem die Welt entsteht, aufgefasst wird und zweitens Schöpfung nicht als kausales Geschehen, sondern als Emanation gedeutet wird.

2. Materie als Nichts An der Wende vom 16. zum 17. Jh. erörtert die protestantische Schulmetaphysik in Deutschland die Deutung der creatio ex nihilo jenseits der Vorgaben spätscholastischen Denkens. Im Mittelpunkt steht dabei die Rolle der ›ersten Materie‹ im Schöpfungsakt: Nicolaus Taurellus und Clemens Timpler halten sie für ein eigenständiges Stadium der Schöpfung, das erst in einem zweiten Schritt selbständige Substanzen und damit die Welt hervorbringt.19 Während Timpler jedoch die erste Materie als Stoffursache selbständiger Substanzen anzusehen scheint, sieht Taurellus hierin eine unzulässige Einschränkung der Allmacht Gottes und begreift erste Materie als ›negativ unendlich‹ und damit als nichts im theologischen Sinne. Auch der Rostocker Theologe und Philosoph Eilhard Lubinus identifiziert erste Materie mit dem absoluten Nichts, hält sie aber im Gegensatz zu Taurellus und Timpler für ungeschaffen, also ewig. Das hat zur Folge, dass auch in der vollendeten Schöpfung das Nichts in Substanzen erhalten bleibt, die folglich nicht als selbständig existierend angesehen werden: Alles, was von Gott geschaffen wird, ›beinhaltet‹ Etwas und Nichts und wird nur durch Gott in seinem Sein erhalten. Bartholomäus Keckermann lehnt die Erstmaterie als unterscheidbaren Aspekt des Schöpfungsakts ab und verteidigt den thomistischen Gedanken selbständiger Substanzen, die keines solchen Zwischenschritts bedürfen. Er begründet dies in erster Linie Creatio ex nihilo und creatio nihili | 73

mit dem Lehrsatz, dass wir Gott nicht die Verursachung von Unvollkommenheiten zuschreiben dürfen.

2.1 Taurellus Die schöpfungstheoretisch wohl verblüffendste These seines Philosophiae Triumphus notiert Nicolaus Taurellus in einer Marginalie: »Die ›erste Materie‹ (materia prima) der Naturphilosophen ist das Nichts der Theologen.«20

Um dies zu verstehen, muss sowohl geklärt werden, warum überhaupt erste Materie als Kandidat für das Nichts, aus dem die Welt geschaffen wurde, in Frage kommt, wie auch, ob diese theologische Interpretation der creatio ex nihilo die einzig verbindliche darstellt oder ob es nicht vielleicht auch ein ›Nichts der Philosophen‹ (also ein nihil philosophorum) geben könnte.21 Das erste Argument für die Gleichsetzung von Materie und Nichts behauptet die Möglichkeit eines unendlichen Nichts: »Wenn diese Materie ein unendliches Vermögen hat, ist sie unendlich. Diese Unendlichkeit muss aber entweder im Wege der Bejahung oder der Verneinung verstanden werden: Was nämlich Bejahung und Verneinung enthält, kann nicht unendlich sein, weil es teils existiert, teils aber nicht. Wäre also die Unendlichkeit dieser Materie als Bejahung aufzufassen, würde nichts entstehen können, weil alles zuvor existiert, wenn [sc. die Unendlichkeit jedoch] als Verneinung [sc. aufzufassen wäre], wird sie [sc. die Materie] nichts sein.«22

Unendlichkeit kann selbst bejahend oder verneinend gedacht werden. Wenn Unendlichkeit bejahend gedacht wird, würde bereits das unendliche Ding alles wirklich werden lassen können. Bejahende Unendlichkeit kommt folglich einzig Gott zu. Also muss erste Materie vor der Schöpfung ›negativ unendlich‹ und damit eben nichts sein. Diese negative Unendlichkeit besteht nach Taurellus darin, dem Schöpfungshandeln Gottes keinerlei Widerstand entgegenzusetzen:

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»Und so behaupten wir, dass Gott allmächtig ist, sowohl weil er über ein unendliches Vermögen für [sc. die Erschaffung einer] Substanz verfügt als auch, weil er in gleicher Weise über unendliche Materie verfügt, das heißt, [sc. über Materie,] die durch überhaupt kein eigenes Handlungsvermögen den [sc. auf sie] Wirkenden behindert. Aber niemand dürfte annehmen, dass [sc. die Materie] nicht bloß nicht hindert, sondern [sc. zur Schöpfung] einen Beitrag leistet.«23

Erste Materie ist also keine Teilursache der Schöpfung. Gott bedarf im Schöpfungsakt keines ›kausalen Beistands‹ einer von ihm unabhängigen Entität. Deswegen ist erste Materie zugleich nichts, weil sie keinerlei kausale Wirksamkeit aufweist. Dies unterscheidet sie etwa von der Materie eines Handwerkers: Das Holz, aus dem ein Schreiner einen Tisch fertigt, ist die materiale Ursache des Tisches. Die erste Materie ist hingegen nicht in gleicher Weise die materiale Ursache der Schöpfung. Gottes Allmacht wird durch sie also nicht in Frage gestellt: »Das heißt, dass der ersten Handlung [sc. also Schöpfung], die, weil sie einfach ist, eine [sc. und] nicht mehrere Ursachen anerkennt, [sc. nur] die erste Ursache zuzuschreiben ist, und dass Gott, weil er nicht über Mitursachen verfügt, das gesamte Vermögen für sein Handeln in sich selbst trägt, so dass er mit gutem Grund allmächtig zu nennen ist.«24

Erste Materie scheint also deswegen für Taurellus nichts zu sein, weil sie keinerlei kausalen Beitrag zum Schöpfungsgeschehen leistet und ihr deswegen nur ›negative Unendlichkeit‹ zukommt. Auf diesem Wege hofft Taurellus, Naturphilosophie und Theologie miteinander vereinbar zu machen: »Die erste Materie ordnen wir also der ersten Ursache zu, der Natur zweite [sc. Ursachen], den Naturphilosophen bieten wir folgende Betrachtungen an, weil sie Erforscher der Natur, nicht einer höheren Ursache sind: Es gehört sich nicht, das, was die Natur übertrifft, in naturphilosophischen Quaestionen zu erörtern, weil es bislang einen großen Nachteil für die Philosophierenden nach sich gezogen hat. Weil die ersten Dinge, die da sind, auf einfachste Weise existieren, werden wir die Materie, die als erste existiert hat, weil sie durch Creatio ex nihilo und creatio nihili | 75

keinen Akt zusammengesetzt worden ist, mit Recht als Nichts bezeichnen. Dass aus diesem [sc. Nichts] alles gemacht worden ist, ist uns durch göttliche Eingebung offenbart worden.«25

Die Aufgabe der Naturphilosophie besteht also nicht in der Erforschung übernatürlicher Ursachen. Das heißt für die philosophische Reflexion des Schöpfungsakts, dass diese philosophische Teildisziplin hier schlicht unzuständig ist. Umgekehrt folgt, dass nicht alles, was überhaupt Gegenstand der Reflexion werden kann, den Anforderungen der Naturphilosophie, etwa der Behauptung eines durchgängigen Hylemorphismus, gerecht werden muss. Dies eröffnet die Möglichkeit, eine Schöpfung der ›sichtbaren und unsichtbaren‹ Welt aus ungeformter erster Materie und der Formgebung Gottes zu erklären. Wenn aber erste Materie der Schöpfung der natürlichen Welt vorhergeht, steht unmittelbar die Frage im Raum, ob dieses Nichts auch in zeitlicher Hinsicht unendlich, also ewig ist (Taurellus bezeichnet eine solche ewige Erstmaterie als ›Chaos‹). Taurellus verneint diese Frage, denn eine ewige Erstmaterie wäre mit Notwendigkeit existent.26 Dann aber wäre sie zugleich unveränderlich: »Weil sich jede Veränderung in der Zeit vollzieht, ewige Dinge jedoch die Zeit nicht kennen, hat das Chaos, wenn es ewig existiert hat, sich ohne Bezug zur Zeit nicht verändern können.«27

Zweitens muss ewige Erstmaterie zugleich von sich aus existieren, weist dann aber Eigenschaften auf, die mit der Rolle des Nichts in der Schöpfung unvereinbar sind.28 Wenn aber erste Materie nicht ewig ist, muss sie von Gott als der einzigen ersten Ursache geschaffen worden sein. »Weil es schließlich ein einziges erstes Prinzip der Dinge gibt, die existieren, ein Prinzip, dem als erster Ursache alles unterliegt, schließen wir, dass diese Materie […] dessen Wirkung ist, und weil sie noch sehr viel weniger als die Welt ewig hat existieren können, bleibt nichts anderes, als dass von uns zugestanden wird, dass sie selbst auch in der Zeit geschaffen worden ist.«29

Wer die Ewigkeit der ersten Materie behauptet, verletzt außerdem die von Taurellus behauptete Grenze zwischen naturphilosophischen und spekulativen Erklärungen und die daraus abzuleitende 76 | stefan hessbrüggen-walter

Existenz zweier Arten von Gründen (ratio) und Ursachen bzw. Wirkungen: »Diese unsere Behauptung über die Welt [sc. also die Behauptung, dass erste Materie geschaffen und nicht ewig ist,] kann nicht durch irgendetwas, was augenfällig ist, widerlegt werden, weil wir einen doppelten Grund dessen lehren, was entsteht, den doppelten Ursachen von Wirkungen folgend, der ersten [sc. Ursache] nämlich und den zweiten [sc. Ursachen] […].«30

Gott wirkt immer auf übernatürliche Weise, die nicht auf natürlichem Wege erklärt werden kann. Dies gilt insbesondere für den Schöpfungsakt.31 Taurellus illustriert dies durch den Vergleich der Schöpfung mit einem Wunder, also einem übernatürlichen Akt Gottes in der raumzeitlichen Welt: Wenn Gott aus einer Maus einen Elefanten schafft, ist der Elefant naturgemäß größer als die Maus. Die dafür erforderliche zusätzliche Materie muss von Gott ex nihilo geschaffen werden. Wäre dem nicht so, müsste die Verwandlung der Maus in einen Elefanten als natürliche Veränderung aufgefasst werden. Gott würde also in diesem Fall lediglich an die Stelle einer sonst wirksamen natürlichen Ursache treten. Gott ist aber eine immer übernatürlich wirkende Ursache.32 Dass also die Schöpfung aus nichts mit naturphilosophischen Vorgaben unvereinbar sein mag, ist Taurellus zufolge also deswegen bedeutungslos, weil die für diesen Schöpfungsakt relevanten Eigenschaften Gottes sowieso nicht mit den Sinnen erfasst werden können. Nur was mit den Sinnen erfasst werden kann, ist aber legitimer Gegenstand naturphilosophischer Begründung: »Deswegen ist zu betrachten, was zur Prüfung vorgeschlagen wird: Wenn es nämlich die Natur übersteigt, muss es eher mit dem Geist als mit den Sinnen erwogen werden. Aufgrund dieser Behauptung gilt nicht, wenn für uns die Frage des göttlichen Vermögens auftaucht, dass die Sinne befragt werden, ob es möglich sei, dass etwas aus nichts entsteht, sondern es ist das Wesen der ersten Ursache zu betrachten.«33

Für Taurellus ist das Nichts der creatio ex nihilo also zunächst die erste Materie, aus der alles entsteht, was als ›etwas‹ bezeichnet werden darf: Creatio ex nihilo und creatio nihili | 77

»Wir mögen also sagen, dass die erste Handlung schlechthin die Wirkung hervorbringt, dass heißt, wir schließen, dass Gott aus nichts oder der ersten Materie alles, was ist, geschaffen hat, damit später etwas aus etwas (aliquid ex aliquo) auf natürliche Weise entsteht, weil sie [sc. die erste Handlung] die Verbindung von Ursachen, nämlich der Stoff- und Wirkursache, nicht kennt.«34

Der Schöpfungsakt hat also aus nichts, nämlich der ersten Materie, jene ersten Instanzen von ›etwas‹ hervorgebracht, aus denen dann auf natürliche Weise, also durch generatio, nicht creatio, alles weitere hervorgegangen ist. Schöpfung unterscheidet sich von natürlicher Veränderung dadurch, dass sie ohne Bezug auf ein Etwas vonstatten geht (sine ullius respectu fieri debuit). »Zuerst musste also etwas ohne eine Beziehung zu etwas entstehen, damit daraus folgend das Übrige entstehen konnte. Etwas [sc. entstand] aus nichts, damit etwas aus etwas entstehen konnte. Zuerst musste die Materie erschaffen werden, damit etwas aus ihr entstehen konnte.«35

Der Schritt vom Nichts zum Etwas setzt aber voraus, dass erste Materie nicht als solche existent bleibt, sondern auf eine Form bezogen wird. Weil aber erste Materie negativ unendlich ist, besitzt sie ein unendliches passives Vermögen, geformt zu werden. Folglich kann sie nur durch ein unendliches Wesen mit einer Form versehen werden, also durch die erste (Form-)Ursache, also durch Gott: »Weil wir schließlich im zweiten Teil dieses Buches beweisen werden, dass jedes Vermögen für irgendeine Verwirklichung existiert, und durch die Veränderungen selbst der Natur belehrt werden, dass jedes Ding ein seiner Form entsprechendes Vermögen hat, schließen wir, dass auch die erste Materie in und aufgrund ihrer [genauer: der zu ihr gehörenden, S. H.-W.] Form das Vermögen besitzt, dass Beliebiges aus ihr entsteht. Weil sie [sc. die Materie] unendlich ist, können wir ihr keine andere Form als Gott [sc. selbst] zuschreiben.«36

Erste Materie ist ›negativ unendlich‹ und deswegen das Nichts, aus dem Theologen zufolge die Welt erschaffen worden ist. Da sie aber selbst nicht ewig sein kann, muss sie ihrerseits aus absolutem Nichtsein erschaffen worden sein. Taurellus unterscheidet also zwei 78 | stefan hessbrüggen-walter

Stufen oder Aspekte der Schöpfung der Welt: philosophisch die Erschaffung erster Materie aus dem als Abwesenheit von Sein zu verstehenden ›Nichts der Philosophen‹ und theologisch die Erschaffung der Welt, wie sie uns vertraut ist, aus der ersten Materie als dem ›Nichts der Theologen‹. Nur im Zusammenspiel können also Theologie und Naturphilosophie das Zustandekommen der uns vertrauten raumzeitlichen Welt und der in ihr enthaltenen Substanzen erklären. Der ›spekulative‹ Philosoph hat demgegenüber aufzuweisen, wie die Schöpfung der raumzeitlichen Welt aus ›Nichts im theologischen Sinne‹ zu verstehen ist, nämlich als Schöpfung aus einer ersten Materie, die ihrerseits – was den Theologen anscheinend nicht zu interessieren braucht – von Gott aus absolut nichts geschaffen worden sein muss. Das aber hat zur Folge, dass Taurellus nicht eine, sondern zwei Versionen von LF anzunehmen hätte, eine philosophische und eine theologische: (LFTau-phil) Warum hat Gott prima materia erschaffen und es nicht dabei belassen, dass ›überhaupt nichts‹ existiert? (LFTau-theol) Warum hat Gott selbständige Substanzen erschaffen und es nicht dabei belassen, dass nur prima materia existiert?

2.2 Lubinus Der Rostocker Philosoph und Theologe Eilhard Lubinus stimmt zwei Jahrzehnte nach Taurellus diesem in zwei Hinsichten zu: Auch er nimmt zwei voneinander zu unterscheidende Begriffe des Nichts an und identifiziert ebenfalls Nichts mit der ersten Materie. In zwei wesentlichen Punkten weicht seine Position jedoch von Taurellus ab: Denn Lubinus unterscheidet nicht zwischen theologischem und philosophischem, sondern zwischen absolutem und privativem Nichts. Und er lehnt die These ab, dass das Nichts von Gott geschaffen worden sei. Erste Materie ist ewig. Diese Schöpfungstheorie wird in gedrängter Form in einer 1599 von Heinrich Biesenthal in Rostock verteidigten Dissertation entwickelt, deren Text allerdings allem Anschein nach auf deren Präses, also Lubinus selbst zurückgeht.37 Lubinus entwickelt die These vom absoluten Nichts, das zugleich ungeschaffene erste Materie ist, aus der EntgegensetCreatio ex nihilo und creatio nihili | 79

zung mit dem absolut Seienden, also Gott.38 Diese Entgegensetzung ist erforderlich, weil das absolute Nichts für sich genommen unerkennbar ist.39 Es gibt jedoch nicht bloß Gott und erste Materie, absolutes Sein und absolutes Nichtsein: »Dieses Nichts ist jedoch den geschaffenen Dingen in zweierlei Hinsicht gegenübergestellt, als sozusagen privatives oder als sozusagen negierendes, wie die Schulphilosophen sagen. Verneinend nenne ich es, wenn nichts Zugrundeliegendes mehr vorhanden ist, privativ aber, wenn noch etwas Zugrundeliegendes übrig ist, das irgendeiner guten Sache mangelt, die ihm von Natur aus zukam.«40

Lubinus führt hier zwei weitere Kategorien ein, die der geschaffenen Dinge und die des privativen Nichts. Das ›privative Nichts‹ kommt in seiner Ursprungsbedeutung solchen endlichen Dingen zu, die gegenüber anderen ihrer Art als unvollkommen anzusehen sind. Selbst solche unvollkommenen Exemplare ihrer Art sind aber gegenüber dem absoluten Nichts immer noch in erheblich höherem Maße als seiend zu betrachten: »Diese erste Materie ist selbst gegenüber jenen Dingen, die einer guten Sache mangeln, bei Weitem unterlegen. Denn die Privation wird so genannt, weil ihr noch etwas Bestimmtes zugrundeliegt, das verbleibt und insofern es verbleibt. Auf welche Weise auch immer es schließlich existiert, ist es [sc. das Zugrundeliegende] noch etwas und wird von Gott als etwas [sc. partiell] Gutes erhalten, wenn es auch von seiner Vollkommenheit und seinem Guten abgefallen ist und sich allmählich dem verneinenden Nichts annähert.«41

Diese Annäherung an das Nichts ist aber kein Spezifikum jener Exemplare einer Art, die nicht mehr über eine wesensmäßig gute Eigenschaft verfügen. Der Sache nach sind alle geschaffenen und damit endlichen Dinge davon abhängig, dass sie von Gott in ihrem Sein erhalten werden: »Uneigentlich und in zweiter Linie [sc. werden wir das absolute Nichts betrachten, insofern es] dem geschaffenen Ding selbst [sc. gegenübersteht], also einem endlichen Seienden und einem zeitlichen Gut, das insofern endlich genannt wird, als es von Ewigkeit an 80 | stefan hessbrüggen-walter

nicht gewesen ist und aus dem Nichts erschaffen worden ist, dessen Samen es in sich zurückhält und in das es seinem Wesen nach auch aufgelöst wird, wenn es nicht durch die Kraft und Allmacht Gottes als des gleichsam höchsten Seienden erhalten wird.«42

Alles, was nicht Gott ist, trägt also, weil es aus absolut nichts, nämlich aus ungeschaffener erster Materie, erschaffen worden ist, einen Samen dieses Nichts in sich. Ohne Bezug auf göttlichen Beistand betrachtet würden diese endlichen Dinge also unabhängig davon, ob sie ein ›relativ‹ vollkommenes oder ›relativ‹ unvollkommenes endliches Ding sind, wieder diesem Nichts anheimfallen. Das aber heißt, dass wir zwar auch für Lubinus zwei Fassungen von (LF) unterscheiden müssen, dass aber nicht der doppelte Begriff des Nichts, wie bei Taurellus, zu einer solchen Unterscheidung nötigt. Vielmehr können wir endliche Dinge dem absoluten Nichts in zwei Hinsichten entgegenstellen und uns entweder auf den Übergang vom absoluten Nichts zur Existenz endlicher Dinge beziehen oder darauf, warum in der Welt, in der wir leben, endliche Dinge als ›Komposita‹ von ›etwas‹ und ›nichts‹ existieren bzw. warum die ›Samen des Nichts‹, die diese Dinge in sich tragen und von Natur aus ihren Verfall herbeiführen würden, durch das Gegengewicht der ›Seiendheit‹ am Wirksamwerden gehindert werden. Zu fragen ist also: (LFLub-1) Warum hat Gott endliche Dinge erschaffen und es nicht bei der Existenz der (unerschaffenen) prima materia belassen? (LFLub-2) Warum ist das Etwas in der Welt wirksamer als das Nichts?

2.3 Timpler Clemens Timpler leugnet zwar die creatio ex nihilo, akzeptiert aber dennoch der Sache nach das zweistufige Schöpfungsmodell von Taurellus.43 Zuerst entsteht durch Gottes Willen ungeformte Materie aus nichts (also aus Nichtsein im thomistischen Sinne). Aus dieser ersten Materie schafft Gott die Welt.44 Sofern Schöpfung also Schöpfung der Welt ist, muss diese aus ungeformter Materie heraus erfolgen und ist also nicht Schöpfung Creatio ex nihilo und creatio nihili | 81

aus nichts.45 Die Welt als Aggregat selbständig existierender Substanzen ist also nicht aus nichts geschaffen worden: »Was im strengen Sinne aus nichts gemacht worden ist, entbehrt der Materie. Aber die Welt entbehrt nicht der Materie. Also ist sie nicht im strengen Sinne aus nichts gemacht worden.«46

Diese Unterscheidung ist erforderlich, weil die Gesamtheit aller selbständig existierenden Substanzen, also die Welt, ja eine Stoffursache haben muss, denn diese Substanzen bestehen ja aus Materie: »Alles, was aus irgendeiner Materie gemacht worden ist, ist materiell (materiatum). Daraus folgt, dass, was aus keiner Materie gemacht worden ist, immateriell (immateriatum) ist, es sei denn, wir wollten behaupten, dass etwas materiell sein kann, was dennoch aus keiner Materie geschaffen (productum) worden ist.«47

Wäre also die Welt, wie die Thomisten annehmen, unmittelbar aus nichts erschaffen worden, wären die ersten selbständig existierenden Substanzen zwar materiell gewesen, ohne dass sie aber eine Stoffursache haben. Wir können Gott ohne Weiteres zuschreiben, Form-, Zweck- und Wirkursache der von ihm geschaffenen Welt zu sein. Wir können ihm allerdings nicht zuschreiben, auch selbst deren Stoffursache zu sein, denn auch Gott ist ja immateriell. Timpler will allerdings den Eindruck vermeiden, hier Gottes Allmacht einzuschränken. Die Erforderlichkeit einer von Gott geschaffenen Materie ist also nicht absolut, sondern ein Ergebnis göttlichen Willens.48 Die Unterschiede zwischen Timpler und Taurellus betreffen also nicht die Sache selbst: Beide verteidigen ein zweistufiges Modell der Schöpfung und betonen die Notwendigkeit, dass zunächst erste Materie zu erschaffen ist, bevor selbständige Substanzen möglich sind. Timpler hält aber, anders als Taurellus, den Gebrauch von ›nichts‹ innerhalb der Theologie, also bezogen auf die Erschaffung der Welt als eines Aggregats selbständig existierender Substanzen, für unzulässig und bejaht, dass erste Materie die materiale Ursache der Welt ist. Denn für ihn, anders als für Taurellus, ist sie kausal wirksam. Die Möglichkeit einer creatio ex nihilo muss hinsichtlich der Erschaffung der Welt verneint werden: Nur (LFTau-phil) ist eine gültige Formulierung von LF. 82 | stefan hessbrüggen-walter

2.4 Keckermann Auch Bartholomäus Keckermann, Studienfreund Timplers in Heidelberg, bietet keine sachlich neue Formulierung für (LF). Seine Lösung ist die gleiche wie die der Thomisten. Zielpunkt der Schöpfung ist die selbständig existierende Substanz: »An dieser Stelle muss berücksichtigt werden, dass die Schöpfung nur auf Substanzen bezogen wird, […] weil Substanzen der grundlegende Endpunkt der Schöpfung sind und deswegen als an sich geschaffene [sc. Substanzen] bezeichnet werden […].«49

Die Annahme einer zweistufigen Schöpfung, wie sie von Taurellus und Timpler vertreten wird, stellt unzulässig Gottes Allmacht in Frage: Wer verneint, dass Gott die Welt selbständiger Substanzen aus nichts hätte schaffen können, macht ihn abhängig von einer außerhalb seiner selbst befindlichen Entität.50 Dies haben natürlich auch Taurellus und Timpler gesehen: Taurellus war diesem Problem dadurch aus dem Weg gegangen, dass er die kausale Wirkungslosigkeit der ersten Materie behauptete. Timpler hingegen steht auf dem Standpunkt, dass die Welt von Gott aus freier Wahl so eingerichtet worden ist, dass zuerst ungeformte Materie zu erschaffen ist.51 Die von Lubinus vertretene Ansicht, eine solche erste Materie sei ihrerseits ewig, bietet ebenfalls keinen Ausweg, da aus ihr ein processus in infinitum resultiert, vermutlich weil die Ewigkeit erster Materie als unendliche Aneinanderreihung von Zeitpunkten verstanden werden muss im Unterschied zur Ewigkeit Gottes, die ja gleichbedeutend ist mit der Unanwendbarkeit temporaler Kategorien auf Göttliches.52 Weiter gilt, dass das von Taurellus und Timpler vorgeschlagene Modell einer zweistufigen Schöpfung weder mit dem biblischen Text noch mit dem Wesen des Schöpfers und seiner Schöpfung in Einklang gebracht werden kann.53 Denn gegenüber einer Welt selbständiger Substanzen muss erste Materie unabhängig davon, wie sie aufgefasst wird, auf jeden Fall als defizient gelten, weil sie nicht ein gleiches Maß an Ordnung aufweist. Es ist aber ein unverzichtbarer Teil unseres Verständnisses des Schöpfers, dass er eher Ordnung als Verwirrung schafft: Gott ist kein Bäcker, der zunächst einen Teig herstellt, der erst in einem zweiten Schritt geformt wird.54 Auch die Creatio ex nihilo und creatio nihili | 83

von Taurellus vertretene und von Timpler ja zumindest vorausgesetzte Wandelbarkeit einer solchen Erstmaterie erscheint für Keckermann unannehmbar, weil Materie immer Materie für eine bestimmte Form ist und es nicht einsichtig zu machen ist, wie die unterschiedlichen Materien künftiger Dinge am Anbeginn der Welt haben zusammen existieren können.55 Die Materie eines Dings ist vielmehr ein Aspekt dieses Dings und wird zusammen mit ihm als selbständig existierender Substanz erschaffen.56

2.5 Kircher Etwa ein halbes Jahrhundert nach Taurellus, Timpler und Keckermann trägt Athanasius Kircher weitere Einsichten zur Rolle der ersten Materie im Schöpfungsvorgang bei. Ob Kircher mit den Erörterungen seiner protestantischen Vorgänger vertraut war, kann hier nicht entschieden werden. Ein Bemühen um die Integration unterschiedlicher Lehren in ein umgreifendes Ganzes, darin Leibniz nicht unähnlich, ist jedoch bei genauerer Betrachtung durchaus zu erkennen. Auf den ersten Blick fällt dieses Bemühen um eine Synthese allerdings nicht ins Auge, da Kircher die thomistische Gleichsetzung von Nichts und Nichtsein in vollem Umfang zu akzeptieren scheint.57 Dies gilt auch für Gottes Schöpfungsakt: »Und so bleibt also, [sc. nachdem andere Möglichkeiten ausgeschlossen worden sind], dass, wenn Gott weder aus seiner eigenen Substanz noch aus einer weiteren ihm äußerlichen und wie er ewigen [sc. Substanz etwas verwirklicht hat], dass er alles aus nichts verwirklicht hat, aus dem Nichtseienden, aus dem, was nicht ist, alle Dinge erzeugt und gemacht hat.«58

Dass es mit dieser Identifizierung von Nichts und Nichtsein nicht sein Bewenden hat, wird in einer Passage deutlich, die Parallelen zwischen dem Gegensatz von Form und Materie und dem Gegensatz von Sein und Nichtsein aufzeigt: »Auf welche Weise auch immer alle Dinge von Gott aus nichts geschaffen worden sind, so werden sie im Nichts im Gleichgewicht 84 | stefan hessbrüggen-walter

gehalten und erhalten. So wie nämlich die Materie zugleich dasjenige ist, aus dem heraus alle natürlichen Veränderungen bewirkt werden, und die Form [sc. dasjenige ist], aus dem nämlich alles entsteht, die wahrnehmbare Substanz, Grundlage, Gerüst und Stütze von allem, so bildet auch das Nichts und das Nichtseiende bezogen auf Gott eine schattenhafte Ähnlichkeit zur Materie aus. So wie nämlich die Materie jeder natürlichen Verbindung zugrundeliegt, so liegt jedem geschaffenen Ding das Nichts zugrunde, und jedes geschaffene Ding ist im Nichts aufgenommen worden, in das Nichts gesetzt und in ihm erhalten worden […].«59

Ähnlich wie Lubinus und anders als die Thomisten scheint Kircher also der Ansicht zu sein, dass das vor Erschaffung der Welt vorhandene Nichts im Schöpfungsakt nicht vollkommen vergangen ist, sondern auch in der Welt noch wirkmächtig bleibt. Und tatsächlich sind alle weiteren von Kircher erörterten Stadien der Schöpfung – der Entwurf der Welt im Geiste Gottes, der unendliche dreidimensionale Raum und schließlich die erste Materie – zuvor von anderen Denkern als Kandidaten für das Nichts, aus dem die Welt entstand, angesehen worden. Zunächst existiert die Welt in Gottes Geist und ist Kircher zufolge ›nichts anderes als Gott‹ (in ipso Deo, nil aliud quam Deus). Gott beschloss, als sich ›die Zeit erfüllt hatte‹ (completa temporis mensura), seinen Begriff der Welt ›nach außen zu wenden‹ (conceptum mundum ad extra evolvere) und schuf ex nihilo (also aus völligem Nichtsein) Himmel und Erde.60 Die Frage ist jedoch, ob die Identifikation von Nichts und völligem Nichtsein in diesem Zusammenhang haltbar ist oder ob nicht, wie der Skotist meinen würde, die Präsenz der Welt im Geiste Gottes selbst als Nichts anzusehen wäre.61 Denn es muss doch auch für Kircher einen Unterschied machen, ob die Welt nur im Geiste Gottes existiert oder ob dieser ›Begriff der Welt‹ nach außen getragen und verwirklicht wird. Dann aber muss die Verwirklichung der Welt außerhalb Gottes eher als ›etwas‹ gelten denn als deren bloße Repräsentation im göttlichen Geist. Bei Taurellus fiel die Schöpfung sichtbarer und unsichtbarer Dinge in den Zuständigkeitsbereich der Theologie. Kircher teilt diese Auffassung bestenfalls bedingt. Denn er beansprucht naturCreatio ex nihilo und creatio nihili | 85

philosophische Kompetenz nicht nur für den Anfang der Welt aus nichts, sondern auch für die Schöpfung von Himmel und Erde, die, wie nun zu zeigen sein wird, bestenfalls in eigenschränktem Sinne als Schöpfung von ›etwas‹ anzusehen ist. Dass Kircher damit im Widerspruch zur orthodoxen Exegese des biblischen Schöpfungsberichts steht, dürfte offensichtlich sein. Die Schaffung des Himmels wird von Kircher mit der Schaffung des Raums gleichgesetzt.62 Dieser Raum soll jedoch nicht mit der äußersten Himmelsphäre (coelum empyreum), also der Heimstatt von Engeln und Seligen gleichgesetzt werden, sondern bezeichnet Kircher zufolge vielmehr den ›Raum und Ort des ganzen Weltbaus‹ (totius mundanae fabricae spatium et locum).63 Hier sind zwei Bedeutungen zu unterscheiden: Wird der Begriff des Raums in Beziehung gesetzt zu Gott, so muss gelten, dass alles, was sich jenseits der Grenzen der Welt befindet, als Gott und somit nicht als nichts anzusehen ist. Da aber außer Gott in diesem Raum nichts gegenwärtig ist, kann Raum bezogen auf die natürliche Ordnung sehr wohl als ›nichts‹ angesehen werden: »Du sollst wissen, dass der Raum eines derartigen Nichts in doppelter Hinsicht betrachtet werden kann, entweder sofern die Beziehung auf Gott oder auf die natürliche Ordnung des Seienden gemeint ist. Auf die erste Weise betrachtet, gibt es wahrhaft nichts außerhalb der Welt, was nicht von der Fülle der göttlichen Substanz erfüllt ist; hinsichtlich der zweiten Art und Weise können wir [sc. den Raum] richtigerweise ›nichts‹ nennen, weil dort tatsächlich außer Gott nichts ist […]«64.

Die Erschaffung der Erde ist für Kircher die Erschaffung eines ›strukturierten Chaos‹: Zwar ist die als Erde zu bezeichnende Materie ungeordnet, aber zugleich mit Anlagen ausgestattet, aus denen sich im weiteren Verlauf die uns bekannte Welt entwickeln soll: »Unter der wüsten und leeren Erde und dem vom Dunkel erfüllten Abgrund wird nichts anderes verstanden als jene ungeordnete Masse (moles chaotica), jenes ungeheure Chaos all jener Dinge, aus denen in der Folge die Welt zu bilden war, und das durch eine Mischung aus keimhaften Gründen (seminalium rationum mixtura) befruchtet ist.«65 86 | stefan hessbrüggen-walter

Kircher vertritt also anscheinend genau jenen Standpunkt, den Keckermann kritisiert hatte.66 Materie ist nicht Materie für eine bestimmte Art von Dingen, denn die erste Materie trägt die Anlage zur Ausbildung aller Dinge schon in sich. Die Existenzweise von Formen in der Erstmaterie unterscheidet sich aber von der Existenz dieser Form im ausgebildeten Exemplar einer Gattung.67 Deswegen sind Formen nur in Latenz in der Erstmaterie vorhanden, Kircher wird also von Keckermanns Vorwurf faktisch nicht getroffen. Kircher präzisiert diesen Gedanken durch die Einführung des Begriffs der panspermia, der das Potential der ersten Materie bezeichnet, Naturdinge bzw. materielle Substanzen auszubilden.68 Dieses Potential darf nicht als Form im aristotelistischen Sinne missverstanden werden. Es handelt sich vielmehr um ein – wenn auch sehr besonderes – materielles Prinzip von derselben Beschaffenheit wie die Materie der Himmel.69 Aus ihm entstehen zunächst die ersten Exemplare jeder natürlichen Art.70 Sie verfügen über ein ›Fortpflanzungsvermögen‹ (virtus seminalis), das neuen Individuen erlauben wird, sich zu vollgültigen Mitgliedern ihrer Art zu entwickeln und auf diesem Weg die jeweilige natürliche Art in ihrem Bestand zu erhalten.71 Ist aber nun die Erde bzw. die mit ihr zu identifizierende Erstmaterie ›etwas‹ oder ›nichts‹? Zu beachten ist sicherlich, dass für Kircher erst das Licht die als erstes wirksame Form der Welt (primigenia mundi forma) darstellt. Ohne Licht hätte die Welt, weil zu einer Existenz im Dunkel verurteilt, nicht bestehen können.72 Das aber heißt im Umkehrschluss, dass die Erde als Erstmaterie selbst noch keine Form aufweist, sondern lediglich mit der Anlage zur Entwicklung von Formen, eben der panspermia, ausgestattet ist. Vor diesem Hintergrund sowie in Anbetracht der Tatsache, dass panspermia von Kircher als zwar feinstoffliches, aber dennoch letztendlich materielles Prinzip eingeführt wird, kann die als Erstmaterie identifizierte Erde zumindest nicht als vollgültiges ›etwas‹ angesehen werden. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der der Erde entgegengesetzte Himmel von Kircher ja explizit als ›nichts‹ qualifiziert wird. Es wäre kaum einzusehen, warum demgegenüber Erstmaterie schon als vollgültiges ›etwas‹ sollte in Betracht kommen müssen. Kirchers Bekenntnis zum Nichts im thomistischen Sinne scheint also relativiert werden zu müssen, denn es hat den Anschein, als Creatio ex nihilo und creatio nihili | 87

ob man den Übergang von ›nichts‹ zu ›etwas‹ als graduellen Prozess aufzufassen hätte, in dem Schritt für Schritt die entstehende Welt dem Status vollgültigen Seins angenähert wird. Zunächst wendet Gott sein eigenes Denken der Welt nach außen und schafft den Raum als Sphäre, die zwar von seiner Gegenwart erfüllt ist, sonst aber nichts ist. Dieser Erschaffung des ›Himmels‹ wird die Erschaffung der ›Erde‹, also einer ersten Materie entgegengesetzt, die zwar mit Anlagen zu weiterer Entwicklung versehen ist, dennoch aber nur Materie ist, weil auch diese Anlagen zur Entwicklung selbst materiell verfasst sind. Erst wenn das Licht als erstes formgebendes Element des Schöpfungsprozesses hinzutritt, verwandelt es die ansonsten zum Vergehen bestimmte Vorform der Welt in die Welt selbst. Ist diese Interpretation stichhaltig, kann der Gegensatz zwischen ›etwas‹ und ›nichts‹ bei Kircher nicht mehr als ein kontradiktorischer aufgefasst werden. Hierauf deutet auch hin, dass Kircher ja das gleichzeitige Vorhandensein von ›etwas‹ und ›nichts‹ in der Schöpfung anerkennt.73 Deswegen ist wohl davon auszugehen, dass ungeachtet der Versicherungen, den Begriff des Nichts im Sinne der thomistischen Orthodoxie aufzufassen, Kircher in Wahrheit ähnlich wie Lubinus beide als Prinzipien auffasst, die in wechselnden Kräfteverhältnissen wirksam sein können. Übertragen auf (LF) würde dies, wie bei Lubinus, folgende allgemeine Formulierung nach sich ziehen: (LFKirch-1) Warum ist das Etwas in der Welt wirksamer als das Nichts?

Diese mit (LFLub-2) identische Formulierung kann allerdings weiter ausdifferenziert werden, denn die Wirksamkeit des Etwas gegenüber dem Nichts zeitigt ja in jedem Stadium der Schöpfung genau definierte Ergebnisse: (LFKirch-2) Warum hat Gott den imaginären Raum geschaffen und es nicht dabei belassen, die Welt zu repräsentieren? (LFKirch-3) Warum hat Gott die von Natur aus mit Formen begabte Materie geschaffen und es nicht bei der Existenz des imaginären Raums belassen?

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(LFKirch-4) Warum hat Gott die von Natur aus mit Formen begabte Materie mit seinem Licht erleuchtet und es nicht bei der Existenz der von Natur aus mit Formen begabten Materie belassen?

Kirchers Modell der Schöpfung lässt also sowohl eine bloß graduelle Unterscheidung von Etwas und Nichts als Prinzipien zu und erlaubt zugleich die binäre Entgegensetzung von Schöpfungsstadien als jeweils relatives Nichts und Etwas. Was aus einer Sicht als ›etwas‹ in Frage kommt, kann in anderer Sicht auch als ›nichts‹ gelten.

3. Emanation und Nichts Die Frage, wie eine Theorie der creatio ex nihilo die Präposition ›aus‹ (ex) interpretiert, ist, wie oben gezeigt, bereits in der skotistischen Tradition zum Gegenstand der Reflexion geworden. Während gemeinhin angenommen wird, dass die Präposition eine zeitliche oder kausale Relation bezeichnet, verdeutlichten die skotistischen Gedankenexperimente einer Welt ohne Form und Kausalität die Möglichkeit, die Präposition als Ausdruck einer Relation der Ordnung nach (ordinabiliter) aufzufassen. Diese Deutungsoption wird innerhalb der christlichen Aneignung kabbalistischen Denkens gegen Ende des 17. Jhs. wieder aufgegriffen, und zwar im Rahmen eines ›emanativen‹ Verständnisses von Schöpfung.74 Zieht man Goclenius’ philosophisches Lexikon zu Rate, so bezeichnet Emanation in einem unspezifischen Verständnis das »Ausfließen [sc. von etwas] aus einem anderen« (fluere ab alio).75 Löst man diese Metapher auf, so bezeichnet Emanation eine Relation zwischen dem, was emaniert, und dem, aus dem es emaniert (dem, wie Goclenius es nennt, subiectum der Emanation). Dasjenige, das emaniert, verdankt seine Existenz Prinzipien, die zum Wesen des subiectum gehören. Diese Relation ist unauflöslich (ein nexus vinculumque indissolubilis). Goclenius lässt offen, ob eine solche Verbindung, insofern sie unauflöslich ist, auch als ewig zu gelten hat, also weder einen Anfang noch ein Ende in der Zeit hat, oder ob sie zwar unauflöslich ist, aber dennoch einen Anfang in der Zeit haben kann. Was emaniert, entsteht also, so hat es den Anschein, nicht aus nichts, sondern immer aus etwas, nämlich aus dem subiectum der Creatio ex nihilo und creatio nihili | 89

Emanation. Sofern das Ergebnis einer Emanation so ewig ist wie dasjenige, aus dem es emaniert, scheinen Theorien, die die Entstehung der Welt auf Emanation zurückführen, keinen Raum für eine creatio ex nihilo zu lassen. Der Gedanke, dass es ein Nichts vor dem Bestehen der Welt gegeben habe, bei dem ihr Schöpfer es hätte bewenden lassen können, hätte dann im Rahmen einer Theorie der Schöpfung als Emanation keinen Platz. Dem ist jedoch nicht so. Vielmehr wird auch in emanativen Schöpfungstheorien die Rolle des Nichts unterschiedlich bewertet, wie die nun zu erörternden Vorschläge von Christian Knorr von Rosenroth und Francis van Helmont zeigen. Sie finden sich in einer monumentalen Sammlung von Übersetzungen und Kommentaren kabbalistischer Texte, die in zwei Bänden unter dem Titel Kabbala Denudata zwischen 1677 und 1684 veröffentlicht worden ist.76 Die Rekonstruktion beider Modelle wird dadurch erschwert, dass sie jeweils in Form einer dialektischen Auseinandersetzung mit dem ebenfalls kabbalistisch interessierten Neuplatonisten Henry More entwickelt werden. Seine Kritik muss also, soweit für das Verständnis von Knorr und van Helmont relevant, in die Darstellung einbezogen werden.

4. Knorr von Rosenroth Christian Knorr von Rosenroth entwickelt seine Position anhand einer kabbalistischen Abhandlung aus der lurianischen Schule, dem Sefer ha-Derushim des Chaim Vital, dessen erster Traktat in der Kabbala Denudata unter dem Titel »Tractatus I. Libri Druschim, seu Introductio Metaphysica ad Cabbalam«77 in lateinischer Übersetzung vorliegt. Die dort entwickelten Lehren werden von More unter dem Titel »Quaestiones et Considerationes paucae«78 kritisiert. Knorr von Rosenroths Entgegnung trägt den Titel »Ad Considerationes et Quaestiones […] Amica Responsio ad D. Henricum Morum«79. Henry Mores »Ulterior disquisitio«80 beschließt die Debatte. Im Liber Druschim ist Emanation selbst ein Geschehen in der Zeit: Vor diesem Geschehen füllt das göttliche Licht den gesamten, anscheinend bereits als existent gedachten Raum aus und ist zudem an jeder Raumstelle mit sich selbst identisch.81 Zu einem bestimmten 90 | stefan hessbrüggen-walter

Zeitpunkt entscheidet sich der göttliche Geist, Welten hervorzubringen (condere mundos), indem er durch Emanation emanierende Dinge hervorbringt (emanando producere emanantia).82 Dafür muss innerhalb des vom göttlichen Licht erfüllten Raums eine Veränderung herbeigeführt werden: »[…] dann weicht dieses gewissermaßen zusammengedrängte Licht aus seinem Mittelpunkt zu den Seiten zurück; und so wird ein leerer Ort zurückgelassen, ein wüster Raum, [sc. überall] mit gleichem Abstand zu jenem Punkt [sc. dem Mittelpunkt, der entstehende Raum ist also sphärisch] und durch Aushöhlung in seiner Mitte [sc. also der Mitte der Lichtsphäre] zustandegebracht.«83

Diese ›Selbsteinschränkung‹ des Göttlichen soll Raum schaffen für dasjenige, was als Resultat der Emanation zustandekommt:84 »Dadurch, dass eine solche Kontraktion und Kompression zustandegebracht und ein leerer und wüster Ort und Raum in der Mitte des Unendlichen übrig gelassen wurde, entstand tatsächlich ein Wo, in dem das Emanierende […] existierte.«85

Dieser These von der göttlichen Selbsteinschränkung als Ausgangspunkt der Schöpfung setzt Henry More zunächst den Einwand entgegen, dass kein zureichender Grund dafür ersichtlich ist, dass der ›Raum der Welt‹ ausgerechnet am Mittelpunkt des göttlichen Raums anzusiedeln ist, wenn doch das göttliche Licht überall sich selbst gleich ist: »Wenn aber schon das göttliche Licht dem notwendigen Wesen nach auch unveränderlich und überall sich selbst ähnlich ist, wie kann es geschehen, dass es sich von irgendeinem Punkt zurückzieht, wodurch es eine ungeheuerliche Höhlung (vasta concavitas) zurücklässt, in der der Ort für die Erschaffung der Welt liegt?«86

Weiter stellt sich für More die Frage, warum Gott nicht auch in jenem Raum gegenwärtig sein kann, in den hinein emaniert wird. Die Lehre von der Selbsteinschränkung Gottes scheint für ihn auf einer Verwechslung zwischen Ausdehnung und Undurchdringlichkeit zu beruhen und führt dazu, Gott zu einer materiellen Entität zu erklären.87 Schließlich stellt sich die Frage, inwiefern ein leerer Raum überhaupt als Nichts anzusehen ist, ob es sich nicht vielmehr um Creatio ex nihilo und creatio nihili | 91

eine notwendig existierende, aber von Gott unterschiedene unkörperliche Entität handeln müsse.88 Knorr von Rosenroth trägt den Einwänden Mores zum Teil durch eine Relativierung seiner Thesen Rechnung: Der durch den Rückzug des göttlichen Lichts entstehende Raum muss nicht vollkommen leer gedacht werden. Dass nämlich einmal in diesem Raum göttliches Licht gegenwärtig gewesen ist, bleibt auch dann spürbar, wenn es sich bereits aus diesem Raum zurückgezogen hat, so wie auch ein Duft spürbar bleiben kann, wenn sein Träger im Raum nicht mehr vorhanden ist.89 Die von ihm behauptete Unveränderlichkeit des göttlichen Lichts dürfe nicht als absolute Unveränderlichkeit missverstanden werden. Zahlreiche Schriftstellen, wie etwa die Erscheinung Gottes im Dornbusch, belegten, dass Gott in vielerlei Form gegenwärtig sein kann.90 Als Antwort auf Mores Forderung nach einem Grund für die Verortung des leeren Raums in der Mitte des Göttlichen schlägt Knorr die Hypothese vor, dass auf diesem Wege die zu erschaffende Materie nicht am äußeren Rand des göttlichen Lichts zerstreut, sondern in dessen Mitte konzentriert wird.91 More ist durch Knorr von Rosenroths Entgegenkommen jedoch nicht zufriedenzustellen: Der Vergleich der göttlichen Präsenz im leeren Raum mit der Präsenz eines Dufts verschärft vielmehr den Vorwurf, Gott als materielle und nicht bloß ausgedehnte Substanz zu denken.92 Die von Knorr behauptete Wandelbarkeit des Göttlichen bezieht sich auf Handlungen Gottes in der Welt, nachdem sie erschaffen worden ist und er in ihr wirksam wird.93 Daraus ist hinsichtlich des Zustands Gottes vor Erschaffung der Welt nichts abzuleiten, zumal für eine Wandelbarkeit Gottes vor Erschaffung der Welt kein vernünftiger Grund vorzubringen ist: Wenn nichts außer Gott existiert, ist nicht einsehbar, warum er sich hätte wandeln sollen.94 Will man also, wie Knorr, eine Rolle für das Nichts in einem emanativen Entstehen der Welt identifizieren, läuft man, wie More zeigt, Gefahr, Metaphern aufzurufen, die in Bezug auf göttliches Handeln aus philosophischer Sicht zumindest problematisch sind. Knorrs Standpunkt läuft Gefahr, Gott als materielles Wesen misszuverstehen. Unwandelbarkeit und Ewigkeit Gottes stehen gleichfalls in Frage, weil der erste Schöpfungsakt, nämlich die Schaffung von Nichts, ›innerhalb‹ Gottes vollzogen wird und somit nicht nur 92 | stefan hessbrüggen-walter

Emanation als Prozess verstanden wird, sondern auch das Wesen, das emanierend an diesem Prozess teilhat, unzulässigerweise verzeitlicht wird. Für die Analyse von (LF) ist die Debatte deswegen instruktiv, weil anders als Taurellus, Timpler und Kircher Knorr von Rosenroth offen zu erkennen gibt, dass sich das Nichts, aus dem die Welt entsteht, göttlichem Wirken verdankt. Dementsprechend ist hier der Sache nach eher von einer creatio nihili und einer darauf folgenden emanatio in nihil als von einer creatio ex nihilo die Rede. Hinsichtlich der Frage, ob es sich hier um das absolute Nichts handelt, wie es uns aus der thomistischen Tradition vertraut ist, oder um ein bloß relatives Nichts, ist Knorrs Standpunkt schwankend. Fest steht jedenfalls, dass auch Knorr von Rosenroth im Anschluss an Vital die creatio ex nihilo bzw. besser emanatio in nihil als einen zweistufigen Prozess versteht. Insofern müssen ihm nicht eine, sondern zwei mögliche Versionen von (LF) zugeschrieben werden: (LFKnorr-1) Warum hat Gott das Nichts ›erschaffen‹ und es nicht dabei belassen, dass er überall existiert? (LFKnorr-2) Warum hat Gott es nicht beim von ihm erschaffenen Nichts belassen, sondern sich in dieses entäußert?

Innerhalb von KD findet sich eine weitere Polemik von Henry More, die Fundamenta Philosophiae sive Cabballae Aëto-paedo-melissae (die Grundlagen einer Kabbala oder Philosophie der Adler-KnabenBiene). Der Titel basiert auf einem merkwürdigen Traum Mores, der für die Interpretation des Textes im hier relevanten Zusammenhang jedoch vernachlässigt werden kann.95 Der Text fasst zunächst die zu kritisierende Position in einer Reihe sogenannter ›Axiome‹ zusammen, die sich allerdings in wesentlichen Hinsichten von den von Knorr verteidigten Standpunkten unterscheiden. Die Fundamenta sind also keine bloße Fortsetzung der Debatte mit Knorr. Vielmehr zielen sie anscheinend auf Francis van Helmont, den Verfasser einer Entgegnung unter dem Titel Ad Fundamenta Cabbalae Aëto-paedomelissae Dialogus.96 Dies ist schon daran ablesbar, dass, anders als in der Kontroverse zwischen Knorr von Rosenroth und More, die Möglichkeit der Creatio ex nihilo und creatio nihili | 93

creatio ex nihilo explizit erörtert wird. More referiert die von ihm zu kritisierende Position in dieser Hinsicht anhand zweier miteinander zusammenhängender Axiome. Erstens gelte für den Kabbalisten, dass nichts aus nichts erschaffen werden kann, die creatio ex nihilo also geleugnet werde.97 Und zweitens werde insbesondere die Möglichkeit geleugnet, Materie zu erschaffen.98 Im strikten Sinne werde die Existenz von Materie sogar insgesamt geleugnet, weil sie als böse gelten müsse und deswegen nicht für sich existieren könne. Der Kabbalist verteidige also eine spiritualistische Position, nach der nur Geistiges im eigentlichen Sinne als existent angenommen werden könne.99 Daraus aber folge wiederum, dass alles, was existiert, nur als Teil des göttlichen Wesens existieren kann und damit das göttliche Wesen selbst teilbar ist.100 More hält demgegenüber an der Möglichkeit einer creatio ex nihilo fest. Sie sei zwar schwer einzusehen, aber möglich, wohingegen ihre Leugnung inakzeptable Konsequenzen nach sich ziehe: Wenn nichts aus nichts geschaffen werden kann, kann auch Materie nicht aus nichts erschaffen werden. Dann aber muss alles, was ist, selbst aus Geist, und zwar aus dem Geist Gottes, erschaffen werden.101 Wenn demgegenüber die Möglichkeit einer Erschaffung von Materie aus Nichts zugestanden werde, sei die Gefahr des Spiritualismus und der damit verbundenen Annahme eines teilbaren Gottes gebannt.102 Dieser Spiritualismus sei weiter deswegen unhaltbar, weil die augenscheinliche Vielfalt der materiellen Welt innerhalb eines solchen Modells nur erklärt werden kann, wenn den aus Gott emanierenden spirituellen Teilen des göttlichen Wesens unterschiedliche Eigenschaften – hier unterschiedliche Aktivitätsgrade – zugeschrieben werden. Damit seien aber diese Wesen selbst unvollkommen und könnten folglich nicht Teile des göttlichen Wesens sein.103 In Mores Sicht der Dinge beruht diese Form des Spiritualismus implizit auf sensualistischen Vorurteilen: Die Leugnung der creatio ex nihilo könne nur durch Rekurs auf Einschätzungen der Einbildungskraft und somit letztlich durch Verallgemeinerung von Sinneswahrnehmungen begründet werden.104 In seiner Antwort auf More stellt van Helmont die von ihm vertretenen Positionen klar und bestätigt, dass er die creatio ex nihilo verneint. Mores Vorwurf, er unterstelle die Teilbarkeit der gött94 | stefan hessbrüggen-walter

lichen Substanz, beruht hingegen auf einem unzutreffenden Verständnis des Begriffs der Emanation. Für van Helmont existiert keine begriffliche Notwendigkeit, Schöpfung – etwa im Unterschied zum natürlichen Werden – von vornherein als Schöpfung aus nichts aufzufassen. Jede Handlung eines unendlichen Wesens, aus der ein von diesem abtrennbares Seiendes hervorgeht, kann als Schöpfung gelten, ohne dass zuvor in irgendeinem Sinne ein ›Nichts‹ vorhanden gewesen sein muss.105 Weiter gilt, dass Schöpfung überhaupt nicht ›aus‹ (ex) etwas hervorgehen könne, weil durch diese Präposition eine Stoffursache angegeben werde.106 Ergebnis des Schöpfungsprozesses ist aber für van Helmont nichts Stoffliches, sondern allein Geistiges: Der von More unterstellte Spiritualismus wird von van Helmont also bejaht. Schöpfung bzw. Emanation vollzieht sich aber ›von etwas her‹ (ab aliquo): Emanation der Geschöpfe Gottes gleicht in dieser Hinsicht nicht dem natürlichen Entstehen und Vergehen. Vielmehr muss Emanation unter spiritualistischen Vorzeichen nach dem Muster geistiger Zustände gedacht werden: Wenn ein Engel sichtbare Gestalt annimmt, geschieht dies nicht auf natürlichem Wege aus einer Stoffursache, sondern auf übernatürlichem Wege ›vom Engel her‹. Gleiches gilt für mentale Zustände und die geistige Substanz, die in einem solchen Zustand ist.107 Materie ist unter solchen Voraussetzungen, wie oben bereits angedeutet, das Ergebnis der Verbindung (coalitio) mehrerer solcher Geistwesen.108 Ein schon von Goclenius hervorgehobener Aspekt des Begriffs der Emanation ist hierbei auch für van Helmont essentiell: Das Band zwischen demjenigen, von dem aus emaniert wird, und demjenigen, das emaniert, ist unauflöslich. Insofern sind die von Gott emanierenden Geistwesen ewig, weil sie in gleicher Weise Zustand des göttlichen Geistes sind wie Gedanken des Menschen Zustand des menschlichen Geistes. Aus der Ewigkeit des göttlichen Geistes folgt aber die Ewigkeit seiner Zustände.109 Dasjenige, was aus Gott emaniert, soll also einerseits abtrennbar sein, denn sonst würde es nicht als Ergebnis einer Schöpfungstätigkeit Gottes angesehen werden können. Andererseits steht es aber in einem unauflöslichen Zusammenhang mit ihm, der u. a. dazu führt, dass auch Gottes Geschöpfe als ewig anzusehen sind. Unter diesen Vorzeichen kann der Vorrang des Schöpfers vor seinen Geschöpfen nicht, wie Creatio ex nihilo und creatio nihili | 95

in orthodoxen Schöpfungstheologien, im Gegensatz von Ewigkeit und Zeitlichkeit bestehen, denn ewig ist für van Helmont nicht nur Gott, ewig sind auch seine Geschöpfe.110 Vielmehr handelt es sich um einen Vorrang der ›Ordnung der Natur‹ nach, nicht der Zeit nach: Ordine naturae; licet non temporis.111 Versteht man diese kurze Bemerkung im skotistischen Sinne, so hieße das wohl, dass wir uns zwar einen Kosmos denken können, in dem Gott nicht emaniert, nicht aber einen Kosmos, in dem es Resultate einer Emanation gibt, ohne dass Gott emaniert. Damit ist allerdings Mores Einwand der vorausgesetzten Teilbarkeit Gottes noch nicht ausgeräumt. Van Helmont verweist hier auf den Unterschied zwischen numerischer Identität und Identität der Art nach. Gott und seine Geschöpfe sind spirituelle Wesen. In diesem Sinne sind sie der Art nach identisch. Daraus folgt aber nichts für die von More unterstellte numerische Identität des Schöpfers und seiner Geschöpfe. Abhängigkeit vom Urheber der Emanationen (auctor emanationum) ist nicht gleichbedeutend mit dessen Teilbarkeit.112 Knorr von Rosenroth und van Helmont bewerten die Rolle des Nichts in der Schöpfung also unterschiedlich. Van Helmonts Leugnug der creatio ex nihilo erlaubt es ihm, jene problematischen Metaphern der Selbstbeschränkung zu vermeiden, die Mores Kritik gegen Knorr anführt. Schöpfung ist für van Helmont damit nicht Ereignis, sondern Verhältnis, nicht zeitlich, sondern ewig. Damit aber entfällt jede Möglichkeit, (LF) zu formulieren: Denn wenn Gottes Geschöpfe selbst ewig sind, ist der Begriff des Nichts ein leerer Begriff. Selbst in einer Welt, in der Gott nicht emanierte, würde nicht nichts existieren, da van Helmont auch Gott als Etwas bezeichnet (Emanation vollzieht sich nicht ex nihilo, sondern ab aliquo). Die Kabbala muss also entweder eine räumliche Ausdehnung Gottes und die Notwendigkeit seiner Selbsteinschränkung annehmen oder Emanation als ein strikt außerhalb der Zeit stehendes Verhältnis zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen ansehen. Im letzteren Fall bleibt für das Nichts kein Raum: (LF) wird im Wortsinne ›gegenstandslos‹.

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5. Zum Sinn von (LF) für Leser der frühen Neuzeit Abschließend ist der Beitrag der hier vorgestellten Auffassungen zur Bedeutung von ›etwas‹ und ›nichts‹ in schöpfungstheologischen und -philosophischen Zusammenhängen und damit zum Verständnis von (LF) bzw. (LF᾽) zu klären. Ein thomistisches Verständnis von (LF᾽) wäre darauf festgelegt, dass Gott eher selbständige Substanzen erschaffen hat, als es bei der Nichtexistenz von Substanzen zu belassen. Weiter wäre anzunehmen, dass ein Zustand der Nichtexistenz von Substanzen müheloser zu bewirken ist als ein Zustand der Existenz selbständiger Substanzen. Es ist jedoch fraglich, ob ein solcher absoluter Begriff des Nichtseins in (LF᾽) intendiert ist, denn der Thomismus behauptet ja nicht, dass der Zustand der Abwesenheit von Sein vor der Schöpfung von Gott bewirkt worden wäre. Der Thomist könnte also (LF᾽) nur so verstehen, dass das Unterlassen einer Handlung müheloser ist als ihre Ausführung. Die Frage, ob die Herbeiführung des Nichts verglichen mit der Herbeiführung des Etwas müheloser ist, ist für den Thomismus undenkbar. Dann aber beinhaltet (LF᾽) im thomistischen Verständnis lediglich die schlichte Frage, warum Gott sich der Mühe der Schöpfung überhaupt unterzogen habe – eine Frage, die Leibniz wohl auch in dieser schlichteren Form hätte stellen können.113 Im skotistischen Verständnis würde (LF᾽) danach fragen, warum Gott sein schöpferisches Vermögen betätigt und es nicht dabei belassen hat, dass Dinge lediglich in seinem Intellekt oder seinem Willen existieren, und zwar unter der Voraussetzung, dass das bloße Repräsentieren eines Dings müheloser und einfacher ist als seine Hervorbringung in der Wirklichkeit. Es ist aber schon nicht ohne Weiteres einsichtig zu machen, dass die bloße Repräsentation eines Gegenstands im Geiste Gottes müheloser herbeizuführen ist als die Schöpfung einer dieser Repräsentation entsprechenden selbständig existierenden Substanz. Die Crux sowohl des thomistischen als auch des skotistischen Schöpfungsverständnisses liegt darin, dass in beiden Positionen das Nichts nicht als etwas aufgefasst wird, was seinerseits von Gott herbeigeführt würde. Dann aber verwandelt sich der Gegensatz zwischen ›etwas‹ und ›nichts‹ in den Gegensatz zwischen Handlung und Unterlassung. Gleiches gilt dann übrigens für jenes Verständnis Creatio ex nihilo und creatio nihili | 97

des Nichts, das Taurellus als philosophisches Verständnis ansieht. Denn auch hier wäre lediglich zu fragen, warum Gott erste Materie erschaffen und es nicht dabei belassen hat, dass ›überhaupt nichts‹ existiert. Wenn hingegen Taurellus den Theologen fragen lässt, warum Gott selbständige Substanzen erschaffen hat und es nicht bei der Erschaffung von Erstmaterie belassen hat, stellt sich die Situation anders dar: Dann nämlich geht es nicht mehr um einen Vergleich zwischen einer Handlung und einer Unterlassung, sondern um die Frage, warum nicht bloß eine, sondern zwei Schöpfungshandlungen von Gott vollzogen worden sind. Nach Taurellus würde man also nicht nach Gründen für Schöpfungshandeln überhaupt fragen, sondern danach, warum Gott mehr als eine Schöpfungshandlung vollzogen hat, wenn doch die erste Schöpfungshandlung, also die Hervorbringung von Erstmaterie, einfacher und müheloser ist als die zweite Schöpfungshandlung der Hervorbringung von sichtbaren und unsichtbaren Substanzen. Nur weil Gott nach Taurellus auch noch das Nichts erschaffen hat, aus dem theologisch gesehen die Welt entsteht, wird es möglich, die Herbeiführung von Nichts mit der Herbeiführung von Etwas sinnvoll zu vergleichen. Während es kaum denkbar erscheint, absolutes Nichtsein und die Existenz von etwas in der Dimension der ›Einfachheit‹ zu vergleichen, leuchtet es durchaus ein, dass eine von Gott erschaffene Welt, in der es nur Erstmaterie gibt, ›einfacher‹ ist als eine Welt, in der es geformte Materie bzw. selbständige Substanzen gibt. Lubinus stimmt zwar mit Taurellus darin überein, dass das Nichts mehr beinhaltet als die Abwesenheit von Sein. Da er aber überdies die Ansicht vertritt, dass diese Erstmaterie nicht von Gott erschaffen worden ist, müsste ihm zufolge gefragt werden, warum Gott endliche Dinge erschaffen und es nicht bei der Existenz der unerschaffenen prima materia belassen hat. Wenn Gott jedoch die Existenz der Erstmaterie nicht herbeigeführt hat, fällt die Frage nach der Existenz endlicher Dinge wie im scholastischen Denken mit der Frage nach der Existenz von Schöpfung überhaupt zusammen. Wenn allerdings wiederum mit Lubinus gefragt würde, warum ›das Etwas‹ in der Welt wirksamer sei als ›das Nichts‹, obwohl ›das Nichts‹ doch einfacher ist und müheloser bewirkt werden kann, wird der Gegensatz zwischen Etwas und Nichts als ein Gegensatz zweier Prin98 | stefan hessbrüggen-walter

zipien begriffen. Damit würde es sich folglich um einen graduellen Gegensatz der Wirksamkeit dieser Prinzipien in der Welt hier und jetzt handeln, demgegenüber die schöpfungstheologische Dimension von (LF᾽) zurücktreten würde. Wiederum müsste aber, anders als dies Lubinus vertritt, gelten, dass Gott auch das Nichts selbst noch herbeigeführt hat, um hieraus eine Formulierung von (LF᾽) abzuleiten, die nach mehr fragt als nach den Gründen, aus denen Gott dem ewigen Nichts ein Sein entgegengesetzt hat. Die Herbeiführung des Nichts durch Gott wird auch von Clemens Timpler verneint. Zwar teilt er der Sache nach Taurellus’ zweistufige Auffassung der Schöpfung, doch lehnt er die These ab, dass es sich bei der Schaffung selbständig existierender Substanzen um eine creatio ex nihilo gehandelt habe. Deswegen läuft (LF᾽), wenn man Timplers Schöpfungsverständnis zugrundelegt, wiederum darauf hinaus, dass zwischen Handeln und Unterlassen Gottes zu entscheiden wäre: Die Erschaffung selbständiger Substanzen ist keine Schöpfung aus nichts. Die Erschaffung der Erstmaterie ist zwar Schöpfung aus nichts, aber Schöpfung aus absolutem Nichtsein. Folglich würde (LF᾽) im Sinne Timplers lediglich fragen, warum Gott Erstmaterie geschaffen und es nicht beim absoluten Nichtsein belassen hat. Eine Schöpfung selbständiger Substanzen aus Erstmaterie liegt hingegen, da es sich hier um keine Schöpfung aus nichts handelt, von vornherein außerhalb des Gegenstandsbereiches von (LF᾽). Die Frage, warum Gott die Schöpfung der Erstmaterie vollzogen und nicht unterlassen hat, ist aber wiederum nur eine Frage nach dem Willen Gottes, wie Timpler ja auch ausdrücklich anführt. Wenn aber eine über die Frage nach der Willensbildung Gottes hinausgehende Formulierung von (LF᾽) nur möglich ist, wenn Gott auch das Nichts, aus dem die Welt entsteht, selbst noch herbeigeführt hat, steht damit der von Keckermann angeführte Einwand im Raum, dass Gott die Schöpfung von Unordnung und Unvollkommenem unterstellt würde. Athanasius Kircher bemüht sich, die Möglichkeit der Herbeiführung von Nichts gegen solche Einwände zu immunisieren, indem er die Deutung von (LF᾽) als Gegensatz zweier Prinzipien zurückprojiziert auf das Schöpfungsgeschehen. An die Stelle der Prinzipien des Etwas und des Nichts treten konkrete Entitäten, der Raum oder die mit Formanlagen begabte ErstCreatio ex nihilo und creatio nihili | 99

materie. Jede dieser Entitäten weist ›mehr Etwas‹ auf als die ihr im Schöpfungsgeschehen vorhergehende und als ›relatives Nichts‹ entgegengesetzte. In ihrer Reihung ›überbrücken‹ sie also die Kluft zwischen völligem Nichts und vollgültigem Etwas. In einer von Kircher bestimmten Sicht würde also (LF᾽) die Frage beinhalten, warum Gott den imaginären Raum geschaffen und es nicht dabei belassen hat, die Welt zu repräsentieren, warum weiter die von Natur aus mit Formen begabte Materie geschaffen wurde und Gott es nicht bei der Existenz des imaginären Raums belassen hat, und warum schließlich die von Natur aus mit Formen begabte Materie mit Gottes Licht erleuchtet wurde und es nicht bei der Existenz der von Natur aus mit Formen begabten Materie blieb. Den von Taurellus und Kircher nicht ausdrücklich erörterten Gedanken, dass Gott in der Schöpfung auch das Nichts, aus dem die Welt entstand, selbst herbeigeführt hat, rückt Knorr von Rosenroth ins Zentrum seiner Überlegungen. In seiner Perspektive wäre also (LF᾽) so zu stellen, dass zunächst zu fragen wäre, warum Gott das Nichts erschaffen hat und es nicht dabei beließ, dass er überall existiert, wenn es doch einfacher und müheloser zu bewirken ist, dass er überall existiert. Während allerdings auf dieser Ebene wiederum nur der Unterschied zwischen einem Handeln und einem Unterlassen thematisch wird, kann mit Knorr weiter gefragt werden, warum Gott es nicht beim von ihm erschaffenen Nichts belassen hat, sondern sich in dieses entäußert hat. Van Helmont hingegen kommt in schöpfungstheologischer Hinsicht nicht als Bezugspunkt für (LF᾽) in Betracht, weil für ihn die Alternative zwischen ›etwas‹ und ›nichts‹ nicht existent ist, denn ›nichts‹ ist für ihn ein leerer Begriff. Beiden kabbalistischen Positionen wird von More der Vorwurf eines unreflektierten Sensualismus gemacht.

6. Schlussfolgerungen (LF᾽) kann also vor dem Hintergrund des schöpfungstheologischen bzw. schöpfungsphilosophischen Diskurses der frühen Neuzeit entweder so gedeutet werden, dass ein Handeln Gottes mit einem Unterlassen dieser Handlung verglichen wird. Oder die Frage wird so gedeutet, dass zwei Schöpfungshandlungen miteinander verglichen 100 | stefan hessbrüggen-walter

werden. Wird ein Handeln und ein Unterlassen miteinander verglichen, ist (LF᾽) eine verklausulierte Frage nach dem Schöpfungswillen Gottes, die auch ohne Bezug auf die Dichotomie von ›etwas‹ und ›nichts‹ gestellt werden könnte. Werden zwei Schöpfungshandlungen miteinander verglichen, fragt (LF᾽) hingegen nach dem Grund der zweiten Schöpfungshandlung, also der Schaffung einer Welt als eines Aggregats von Substanzen, in denen Form und Materie miteinander verbunden sind. (LF᾽) beruht also allem Anschein nach auf einem Diskurs über schöpfungstheologische und -philosophische Fragen außerhalb der katholischen Schulphilosophie, auch wenn, wie gesehen, schon der Skotismus hier gegenüber den Thomisten neue Theorieoptionen eröffnet hatte. Kandidaten für das Nichts innerhalb der Schöpfung sind die von Gott geschaffene erste Materie, der imaginäre Raum, die Repräsentation der Welt im Geist Gottes oder eine von Gott in sich selbst hervorgerufene Leere. Damit kann Leibnizens ursprüngliche Frage, also (LF), durchaus im Sinne Buchenaus als prinzipientheoretischer Gegensatz gelesen werden. Ist eines dieser Prinzipien, wie bei Lubinus, ungeschaffen, fragt (LF) aber auch in dieser prinzipientheoretischen Form nur danach, warum Gott das Schöpfungshandeln vollzogen und nicht unterlassen hat. Möglich bleibt aber ebenfalls eine Lesart von (LF), die mit Kircher ›nichts‹ nicht als in der Welt wirksames Prinzip, sondern (vielleicht im Sinne von Gottsched?) als ein definiertes Stadium der Schöpfung begreift. Dann aber kann es sich nicht um die völlige Abwesenheit von Sein handeln, wie sie in der thomistischen Interpretation der creatio ex nihilo und in der Verbesserung von Leibniz durch Holz vorausgesetzt wird. (LF) setzt also, wenn der Vergleich zweier Schöpfungshandlungen intendiert ist, nicht allein die creatio ex nihilo, sondern auch eine creatio nihili voraus. Damit sind zwei Einwände gegen die Legitimität dieser Frage denkbar: Mit Keckermann kann gegen eine dann zu unterstellende Rolle des Nichts oder der Erstmaterie im Schöpfungsprozess eingewendet werden, dass Gott nicht die Erschaffung von unvollkommenen Entitäten unterstellt werden darf und dass die Erforderlichkeit einer Erstmaterie für die Erschaffung selbständig existierender Substanzen Gottes Allmacht unzulässig Creatio ex nihilo und creatio nihili | 101

einschränkt. Mit More wäre gegen die Kabbala darauf zu verweisen, dass eine Erschaffung des Nichts durch Gott im Zusammenhang einer emanativen Theorie der Schöpfung wohl nur auf dem Hintergrund einer materialistischen Interpretation der Gottesvorstellung möglich sein mag, während ein spiritualistisches Verständnis der Schöpfung als ewiger Emanation, wie van Helmont zeigt, für das Nichts keinen Raum mehr lässt. Eine Interpretation von (LF) im Kontext des Leibnizschen Denkens hätte folglich nicht nur zu prüfen, welches Verständnis der Frage Leibniz zu unterstellen ist, sondern auch, inwiefern Leibnizens Entfaltung dieser Frage vor den Einwänden Keckermanns oder Mores gefeit ist.

Anmerkungen 1

Gottfried W. Leibniz: Vernunft prinzipien der Vernunft und der Gnade,

S. 12. Gottfried W. Leibniz: Vernünftige Grundsätze von der Natur und von der Gnade, S. 774. 3 Gottfried W. Leibniz: Vernunft prinzipien der Vernunft und der Gnade, S. 13. 4 Gottfried W. Leibniz: In der Vernunft begründete Prinzipien der Natur und Gnade, S. 427. 5 Vgl. Wolfgang Hübener : Scientia de aliquo et nihilo, S. 54. 6 Gottfried W. Leibniz: Vernunft prinzipien der Vernunft und der Gnade, S. 12. 7 Dies zeigt im Französischen bereits die Wurzel ›fac-‹ an. Die Formulierung ist also elliptisch und müsste eigentlich ›car le rien est plus facile à faire‹ oder ›car le rien est plus facile à achever‹ lauten. 8 Zur antiken und mittelalterlichen Diskussion siehe den Beitrag von Jens Lemanski in diesem Band; zur Mehrdeutigkeit von ›nichts‹ im frühneuzeitlichen Diskurs vgl. Wolfgang Hübener: Scientia de aliquo et nihilo, S. 41 ff. In diesem Zusammenhang ist die salvatorische Klausel angezeigt, dass die Behauptung, eine Frage sei innerhalb eines Zeitraums nicht gestellt worden, naturgemäß auf einer unvollständigen Induktion beruhen muss. 9 Vgl. Gabriel Vázquez: Commentariorum, Disp. CLVVII, Cap. III, S. 257: »Est igitur creatio productio alicuius ex nihilo, non quia nihilum sit veluti materia, aut quid pertinens ad constitutionem rei productae; sed quia sit terminus a quo productionis; perinde autem est, rem ex nihilo, tanquam ex termino a quo produci, atque nihil praeexistere ante productionem, quod ad constitu2

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tionem illius rei quodammodo pertineat, vel quod idem est, atque rem fieri secundum se totam.« 10 Ebd.: »Nam quando aliquid rei praecessit, et ea productione non fit, non est creatio; quod illa res non ex nihilo, sed ex aliquo fiat, sive illud sit forma, sive materia, res enim dicitur fieri ex omni eo quod constituitur.« 11 Vgl. Johannes a Sancto Thoma : Cursus Theologicus, S. 241: »[…] si non poneretur aliqua productio ex nihilo, omnis productio esset ex aliquo ente praesupposito, sed ex hoc sequeretur vel processus in infi nitum in causis et effectibus, vel quod aliquod ens extra Deum non sit factum, neque creatura, quorum utrumque est aperte falsum: ergo necesse est ponere creationem ex nihilo.« 12 Vgl. Francisco de Herrera : Disputationes theologicae, S. 4: »[…] nihil creatur a Deo, quod prius non fuerit in eius intellectu, et voluntate, […].« 13 Vgl. ebd.: »[…] possumus considerare res secundum praecisam connexionem subiecti cum praedicato, ante illud instans, in quo intelligimus cognosci a Deo, et tunc tantum sunt in potentia logica, quae nihil aliud dicit, quam non repugnantiam extremorum, qualis reperitur in impossibilibus absolute, […] sicuti et ista, homo est irrationalis, est impossibilis impossibilitate logicae, quae tantum respicit naturam ipsorum extremorum […].« 14 Vgl. ebd. 15 Ebd.: »[…] hinc provenit, quod res prius sint in potentia logica, deinde in esse cognito, vel volito, deinde in potentia obiectiva, idest sunt obiectum potentiae creativae Dei, quatenus creativa est, deinde producuntur in creatione in esse reale […]«. 16 Ebd.: »[…] de nihilo non debet intelligi, de simpliciter nihilo, sed de nihilo, idest, de illo, quod non habet esse, nec secundem esse essentiae, nec secundum esse existentiae, quia nihil tale debet praesupponi, non tamen de nihilo, idest, de nullo esse […].« 17 Vgl. ebd., S. 2: »Secundo est notandum […] quod, ly, de nihilo positum in defi nitione creationis, sumitur multipliciter. Primo modo materialiter, et in hoc sensu omnes Philosophi consenserunt, quod ex nihilo nihil fit, quia impossibile est quod nihil sit materia alicuius entis. Secundo modo capitur causaliter, et tunc sensus est, quod nihil est causa alicuius; et in hoc sensu illa propositio (de nihilo nihil fit) verissima est, quia nihil non potest esse causa efficiens alicuius. Tertio modo ordinabiliter, ut sensus sit, ex nihilo aliquid fit, idest, post nihilum aliquid fit, et in hoc sensu concedunt Philosophi, Deum posse creare, […].« 18 Vgl. ebd.: »In hoc igitur consistit prioritas naturae privationis, in ordine ad formam respectu materiae, quia posita entitate materiae, et remota, vel circumscripta omni causa prima, vel secunda extrinseca, materia habebit privationem, et non formam; et quia forma non potest esse in materia nisi per actionem alicuius causae, ideo dicitur, quod privatio formae prius convenit materiae, quam ipsa forma.« Creatio ex nihilo und creatio nihili | 103

Zu Taurellus’ Tätigkeit in Altdorf vgl. Wolfgang Mährle: Academia Norica, S. 346 ff., und die dort angegebene Literatur. Joseph S. Freedman: European Academic Philosophy in the Late Sixteenth and Early Seventeenth Centuries, S. 600 f., berührt Timplers schöpfungstheoretische Ansichten nur am Rande. 20 Nicolaus Taurellus: Triumphus, S. 246: »Materia prima physicorum nihilum est theologorum.« 21 Andreas Blank : Existential Dependence, S. 4 ff., beschränkt seine Darstellung auf Taurellus’ Kritik emanativer Modelle der Schöpfung, ohne auf Taurellus’ Gegenvorschlag näher einzugehen. 22 Nicolaus Taurellus: Triumphus, S. 245: »Haec materia si potentiam habeat infi nitam, infi nita est. Ea porro infi nitas vel affi rmatione debet intelligi vel negatione: Nam quae affi rmationem habent, et negationem infi nita esse nequeunt, quod partim existant, partim vero non. Si sit ergo haec materiae infi nitas affi rmatione intelligenda nihil fieri poterit quod omnia prius existat, si negatione nihil erit.« 23 Ebd., S. 245 f.: »Deum itaque omnipotentem esse dicimus, tum quod infi nitam pro substantia potentiam habeat, tum quod materiam suarum operationum pariter infi nitam habeat id est: quae nulla penitus agendi facultate operantem impediat: Nec est quod non impedire quidem, sed juvare quis existimet.« 24 Ebd., S. 246 f.: »Primam primae causae tribuendam esse actionem hoc est, quae simplex cum sit, unam non plures agnoscat causas, Deumque quod concausas non habeat, omnem in seipso suarum actionum habere potentiam, ut fit merito dicendus omnipotens.« 25 Ebd.: »Primam ergo materiam primae causae tribuemus, et naturae secundas, Physicisque cum naturae sint non causae superioris indagatores, hasce consyderandas offeremus: Non decet enim ut quae naturam superant Physicis discutiantur quaestionibus, quod hactenus magno contigit Philosophantium incommodo. Quamobrem cum prima simplicissime quod sunt existant, materiam quae prima fuerit, quod nullo sit actu composita Nihilum merito vocabimus, ex quo divinitus omnia esse facta nobis est revelatum.« 26 Vgl. ebd., S. 234: »Cum enim ab aeterno quae sunt, in aeternum quoque sint necessario, nec ut supra saepe dictum est, immutari possint, stulte profecto quod ab aeterno chaos extiterit, aliquando mutatum esse statuerimus.« 27 Ebd., S. 235: »[…] Cum omnis mutatio in tempore fiat, aeterna vero tempus nesciant, Chaos si ab aeterno fuit, temporis videlicet expers immutari non potuit.« 28 Vgl. im einzelnen ebd., S. 235 f. 29 Ebd., S. 236: »Denique cum unicum sit primum rerum quae sunt principium cui ceu [sic!] causae primae quidvis subjicitur, hanc […] materiam […] ejus effectum esse concludimus, cumque multo minus ab aeterno quam mun19

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dus esse potuerit, restat nihil quam ut ipsam in tempore quoque factum esse nobis concedatur.« 30 Ebd., S. 237: »Non haec enim nostra de mundo sententia, ullo quod oculis obijciatur [sic] infringi potest, cum duplicem eorum que fiunt rationem doceamus, secundum duplices effectuum causas, primam nimirum, atque secundas, […].« 31 Vgl. ebd., S. 238. 32 Vgl. ebd., S. 239 f.: »Si fiat ex aliquo quicquid modo fieri debet, miror quam Deo possimus actionem adscribere, cum id naturae sit, ut positis omnibus causis suos proferat effectus, nisi forsan hoc inter utramque causam discrimen statuatur, ut non natura quidem sed Deus ex quovis quidlibet efficere possit, quae ratio fuerit miraculorum. Sed hoc aeque fuerit impossibile, quin et hoc concesso aliquid ex nihilo fieri posse consequeretur: Nam si possit elephas ex musca fieri, cum ejus quantitati materia nequaquam respondeat, partem solum ex musca, reliquum vero elephantis ex nihilo factum oportuerit.« 33 Ebd., S. 243 f.: »Consyderandum est igitur quid examinandum proponatur: Nam si naturam superet, mente potius quam sensu ponderari debet, quo nomine, dum nobis de Divina potentia quaestio est orta, non est ut sensus interrogentur, an possit aliquid ex nihilo fieri, sed […] primae causae substantia consyderanda est.« 34 Ebd., S. 247: »Primam ergo dicemus actionem simpliciter effectum proferre, hoc est, ut causarum conjunctionem nesciat, materiae nimirum et efficientis, Deumque ex nihilo seu materia prima quaecunque sunt omnia fecisse concludemus ut aliquid post ex aliquo fieret naturaliter.« 35 Ebd., S. 247 f.: »Primum ergo aliquid sine ullius respectu fieri debuit, ut secundum quid caetera fieri possent. Aliquid ex nihilo, ut aliquid ex aliquo fieri posset. Prius siquidem materia fuerit facienda, quam aliquid ex ea fieret.« 36 Ebd., S. 248: »Denique cum secunda hujus libri parte, potentiam omnem actus alicujus esse demonstraverimus, ipsisque naturae doceamur motibus, talem unumquodque potentiam habere, qualis ejus forma fuerit materiam quoque primam, in et a sua forma potentiam, ut quidvis fiat habere concludimus. Formam vero cum infi nita sit, ei praeter Deum nullam possumus adscribere.« 37 Eilhard Lubinus: Materia prima. Da die Arbeit unpaginiert ist, wird im Folgenden auf die durchnummerierten Thesen verwiesen. 38 Vgl. ebd., Th . 12: »Est ergo hoc Nihil absentia Entis, hoc Malum absentia Boni, haec materia absentia Ideae vel Formae, per quam Ideam Plato Deum intellegit. Vel, ut Plotinus ait, est deformitas omnium deformitatum, imus defectus, extrema omnium rerum indigentia.« 39 Vgl. ebd., Th . 5: »Quia vero hujus Materiae primae tanquam, non Entis nullae sunt qualitates, utpote, quae per se, ut Plotinus ait, nec cognosci, nec cogitari potest: Contemplabimur illud ex collatione cum suo contrario Ente vel Bono.« Das absolute Nichts ist überdies unaussprechlich (Th. 10): »Liceat Creatio ex nihilo und creatio nihili | 105

autem nobis his vocabulis ac verbis humanis uti, cum divina desint, minus forte proprijs; quorum potissimum penuria in hac materia laboramus.« Es handelt sich nicht um eine Eigenschaft (Th. 14): »Cum enim huic Malo Bonum opponimus, […] non intelligimus qualitatem quandam […]«. Und es kann auch nicht als Träger von Eigenschaften aufgefasst werden (Th. 15): »Sic cum Materiam Malum dicimus, non illud Bono opponimus tanquam Substantiam: Sic enim bonum esset. Hoc autem absurdissimum, Cum Substantia qua Substantia, hoc est qua bonum quid est, Substantiae id est bono non opponatur; et Materia prima formam etjam, vel Esse non habeat.« Zur ›Gegensatz-Ontologie‹ von Lubinus und ihren historischen Wurzeln vgl. ausführlich Thomas Leinkauf: Einheit und Gegensatz, S. 88 ff., sowie Wolfgang Hübener: Scientia de aliquo et nihilo, S. 50 ff. 40 Eilhard Lubinus: Materia prima, Th . 24 f.: »Opponitur autem hoc nihil ipsis creatis dupliciter, vel tanquam privans, vel tanquam negans, ut Scholastici loquuntur. Negans appello, cum ne subjectum quidem amplius reliquum est; Privans autem, cum subjectum adhuc superest, quod aliqua re bona privat, quae suae naturae conveniebat.« 41 Ebd., Th. 27: »Imo haec materia prima ipsis rebus, quae bona quadam re privantur, longe deterius quid. Cum privatio dicatur certi cujusdam subjecti ratione, quod reliquum est, et quatenus reliquum est, qualecunque id tandem sit, est aliquid adhuc, et a Deo adhuc tanquam bonum sustentatur, licet a sua perfectione et bono fi nito desciverit, et ad nihil negativum paullatim accedat.« 42 Ebd., Th . 9: »Improprie vero et δευτέρως [sc. hoc non ens opponi considerabimus] ipsi creaturae tanquam fi nito Enti et bono in tempore, quod eo nomine fi nitum est quatenus ab aeterno non fuit, sed olim ex nihilo creatum fuit, cujus semina in se retinet, in quod etiam resolvitur sua natura, nisi Dei tanquam summi Entis, […] virtute et omnipotentia fulciatur.« Vgl. auch Th. 31: »Quatenus res sunt, a Deo sunt, et sunt bonae, quatenus autem corrumpuntur, et ad defectum vel nihilum vergunt, ex Nihilo contrahunt, unde creatae sunt, quod tunc fit, cum Summum Ens, cujus beneficio aliquid erant, et subsistebant, omnipotentem suam manum illis subtrahit, illasque ad materiam primam relabi patitur.« 43 Vgl. Clemens Timpler : Physicae Systema, S. 35: »Creatio enim est duplex; una immediata, altera mediata. Prior est productio entis ex nihilo; posterior autem non item […]«. 44 Vgl. ebd., S. 33 f.: »[…] mundus est productus proxime et immediate ex caelis et elementis: remotis vero ex massa rudi et informi, quam Deus in principio creationis ex nihilo creavit.« 45 Vgl. ebd., S. 33: »Quicquid ex materia est productum, id proprie non est ex nihilo factum: Atque mundus ex materia est productus: Ergo mundus proprie non est ex nihilo factus.« 46 Ebd., S. 34: »Quicquid proprie ex nihilo est factum, id expers est mate106 | stefan hessbrüggen-walter

ria. Atque mundus non est expers materiae, Ergo non est proprie ex nihilo factus.« 47 Vgl. ebd.: »[…] omne, quod ex aliqua materia est factum, materiatum est: ita quod ex nulla materia est factum, immateriatum est: nisi velimus statuere posse aliquid esse materiatum, quod tamen ex nulla materia est productum.« 48 Vgl. ebd., S. 36: »Creatio enim tametsi sit opus infi nitae virtutis, tamen quandoque requirit materiam praeexistentem, non quidem ex absoluta necessitate, sed ex hypothesi decreti et voluntatis divinae.« 49 Bartholomäus Keckermann: Systema Theologiae, S. 125: »Ubi id observari debet, creationem referri ad solas substantias, […] quod substantiae sint terminus fundamentalis creationis, atque adeo per se creatae dicantur […].« 50 Vgl. ebd., S. 125. 51 S. Anm. 48. 52 Vgl. Bartholomäus Keckermann: Systema Theologiae, S. 125. 53 Vgl. ebd., S. 127. 54 Vgl. ebd., S. 127 f.: »Cum natura creatoris id pugnat; quia is est Deus ordinis, non autem confusionis, qui initio res inter sese commisceat et congerat in unam massam, velut pistores solent farinam; post vero demum ex illa massa res creandas digerat atque in ordinem disponat; quorsum enim is, qui infinitae potentiae est, res prios confundat, quod est impotentiae; postea vero demum ex confuso digestum efficiat?« 55 Vgl. ebd., S. 128: »Denique etiam ipsi rerum naturae ista confusio adversatur; quia plane impossibile est rerum principia sive materias et formas in unam massam commisceri, cum quaelibet materia determinata sit ad suam formam, et forma ad materiam; determinatio autem est distinctio, tollens confusionem; ut taceam, quod nullus appareat modus unionis; quo omnium rerum materiae inter se possunt coniungi […]«. 56 Vgl. ebd., S. 128 f. 57 Vgl. Athanasius Kircher : Iter Extaticum, S. 434: »Quodlibet ens est; quodlibet aliquid est; ente sunt omnia plena; nihil otiosum, vacuum nihil, nihil inane, exulat ab universo nihil.« 58 Ebd., S. 435: »Restat itaque, ut si Deus non de sua substantia, neque de externa ulla alia ipsi coaeterna, omnia de nihilo produxerit, de non ente, de eo quod non est, genuerit feceritque universa.« 59 Ebd.: »[…] quemadmodum de nihilo a Deo creata sunt omnia, ita in nihilo librata et stabilita sunt. Sicuti enim materia eadem est ex qua educitur omnis actus naturalis, et forma, utpote ex qua omnis fit, sensibilis substantia, omnium fulcrum, fundamentum, stabilimentumque; ita et nihil, et non ens ad Deum in universorum creatione umbratilem quandam materiei similitudinem expressit. Sicuti enim materia omnis naturali actui subest, ita omni creaturae subest nihil, et omnis creatura recepta est, et posita stabilitaque in nihilo […].« Creatio ex nihilo und creatio nihili | 107

Vgl. ebd., S. 366. Thomas Leinkauf: Mundus combinatus, S. 363, weist darauf hin, dass für Kircher in diesem Schöpfungsakt bereits alles in der Welt Vorkommende gesetzt und von Gott erkannt sei, erklärt allerdings nicht, wie sich dies mit der Sequentialität des biblischen Schöpfungsberichts verträgt. 61 Zum Skotismus s. Anm. 15. 62 Kircher verwendet hierfür den aus der jesuitischen Tradition vertrauten Begriff des spatium imaginarium. Siehe dazu Edward Grant: Much Ado About Nothing, S. 218 ff., sowie zur Rezeption in der Leibnizzeit Wolfgang Hübener: Scientia de aliquo et nihilo, S. 43 ff. 63 Vgl. Athanasius Kircher : Iter Extaticum, S. 366. 64 Ebd., S. 436: »Scias sub duplici respectu istiusmodi spatium nihili, considerari posse; vel prout respectum dicit ad Deum, vel ad ordinem naturalem entium. Priori modo consideratum, vere nihil est extra mundum, quod non divinae substantiae plenitudine impleatur; posteriori vero modo recte nihil dicere possumus, cum revera praeter Deum nihil ibi sit […]«. 65 Ebd., S. 366: »Per terram hanc inanem et vacuam, tenebrarumque abyssum, nihil aliud intelligitur, quam moles illa chaotica, sive chaos illud immensum, omnium eorum, quibus postea mundus formandus erat, seminalium rationum mixtura foetum.« 66 S. Anm. 55. 67 Vgl. Hiro Hirai: Kircher’s Chymical Interpretation. 68 Vgl. Athanasius Kircher : Iter extaticum, S. 347: »[…] intra quam [sc. materiam] quicquid in natura rerum mixtorum substantiarumque materialium postea producendum erat, velut sub πανσπερμία quadam confusum latebat.« 69 Vgl. ebd., S. 347. Thomas Leinkauf : Mundus combinatus, S. 92, spricht von ihr als »intelligibler Materie«. 70 Vgl. Athanasius Kircher : Iter extaticum, S. 347: »Divinus enim Architectus […] ex hac unica materia chaotica, veluti ex subjacente materia et Spiritus divini incubitu jam foecundata, postea omnia, et coelos et elementa, atque ex his compositas tam vegetabilium, quam animalium species (exceptum anima rationali) solo Omnipotentis vocis imperio eduxerit […].« 71 Vgl. ebd. 72 Vgl. ebd., S. 368: »Et fuit lux, primigenia mundi forma; quae uti omnium maxime mundo necessaria fuit, utpote sine qua mundus aeternis tenebris damnatus consistere non potuisset; ita ante omne reliquarum formarum apparentiam praecedere debuit.« S. a. Thomas Leinkauf: Mundus combinatus, S. 366 ff. 73 S. Anm. 59. 74 Wilhelm Schmidt-Biggemann : Christliche Kabbala, konnte bis zur Drucklegung dieses Bandes leider nicht zur Kenntnis genommen werden. 75 Vgl. hier und im Folgenden Rudolph Goclenius: Lexicon, S. 146: »Proprie est [sc. emanatio] fluere ab alio, seu ex principiis essentiae subiecti existere ab essentia alicuius indissolubili nexu vinculoque proficisci. Sic emanant Reales 60

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proprietates. Sic ex anima emanant potentiae.« Zu Goclenius’ eigener Auffassung der Emanation vgl. die sehr instruktiven Ausführungen von Andreas Blank : Existential Dependence, S. 8 ff. 76 Christian Knorr von Rosenroth : Kabbala Denudata. Im Folgenden zitiert als KD. 77 KD, S. 28–61. 78 KD, S. 62–72. 79 KD, S. 73–99. 80 KD, S. 173–224. 81 Vgl. Chaim Vital: Liber Druschim, S. 32: »Scito, quod antequam emanarent emanantia, et creata essent creata, Lux suprema extensa fuerit plenissime, et impleverit omne Ubi, adeo ut nullus daretur Locus vacuus in Notione Lucis, nullumque spatium inane, sed omnia essent plena Luce illa Infi niti hoc modo extensa, cui sub omni notione sua fi nis non erat, eo, quod nihil esset, nisi extensa illa Lux, quae una quadam et simplici aequalitate ubique sibi erat similis; atque ista vocabatur Or Haensoph Lux Infi niti.« 82 Vgl. ebd.: »Cum autem in mentem veniret Extenso huic, quod vellet condere mundos, et emanando producere Emanantia, atque in lucem proferre Perfectionem potentiarum suarum activarum, et Nominum atque Cognominum suorum, quae erat causa impulsiva creandi mundi […]«. 83 Ebd.: »[…] tum compressa quadantenus Lux ista, a puncto quodam medio circumcirca ad latera recessit; atque sic relictus est Locus quidam vacuus, […] spatium inane, aequidistans a puncto illo, exacte in medio ejus constituto.« 84 Dementsprechend wertet Susanne Edel : Die individuelle Substanz bei Böhme und Leibniz, S. 53, diese Lehre der Kabbala als einen Versuch, Emanation und creatio ex nihilo miteinander zu vereinbaren. 85 Chaim Vital : Liber Druschim, S. 33: »Instituta igitur tali contractione atque compressione, per quam locus quidam vacuus spatiumque in medio Infi nito relinqueretur inane; jam sane Ubi quoddam constitutum erat in quo existerent Emanantia […].« 86 Henry More: Quaestiones et Considerationes, S. 65: »Jam vero cum hic Or-haensoph naturae sit necessariae ac immutabilis et ubique sibi similis, qui fieri potest, ut retrahat seipsum a puncto ullo, quo adeo vastam relinquat concavitatem, in qua Mundis creandis sit locus?« Der aus heutiger Sicht offensichtlichere Einwand, wie ein unendlicher Raum überhaupt eine Mitte haben kann, wird von More hingegen nicht aufgegriffen. 87 Vgl. ebd.: »Quasi Natura Dei crassa esset ac corporea, nec mundi, ubi ipse sit, esse possint.« 88 Vgl. ebd., S. 66: »Postremo, vacuum illud quod imaginantur, postquam Deus se a puncto quopiam subtraxerit, non est mera Non-Entitas sed substantia incorporea et necessario existens […]. Unde sequeretur, quod Spiritus sit necessario existens et tamen distinctus a Deo, quod est impossibile.« Creatio ex nihilo und creatio nihili | 109

Vgl. Christian Knorr von Rosenroth: Ad Considerationes et Quaestiones, S. 89. 90 Vgl. ebd. 91 Vgl. ebd., S. 89 f.: »Et profecto hac hypothesi materia in centrum relegatur angustum, cum contraria hypothesis eandem in circumferentia Emanationum collocet amplissimam, conceptu sane dificillimo.« 92 Vgl. Henry More: Ulterior Disquisitio, S. 200. 93 Vgl. ebd. 94 Vgl. ebd.: »[…] respondeo fuisse ante ullum Mundum conditum, immutabilem quandam Divinitatis Lucem sive gloriam, quam nefas est existimare ulla ex parte minui posse, sed eandem prorsus ubique est et ante et post Mundum conditum, nec ullam aliam fuisse ante Mundum conditum praeter hanc essentialem. […] Quando vero nulla fuit externa Creatio, incredibile est Deum tunc ullas induisse mutabiles et variabiles glorias aut praesentis, cum nulla esset Creatura cui irradiaret, suaque Essentialis gloria abunde sibi sufficeret.« 95 KD, S. 293–307. 96 KD, S. 308–312. Einen eindeutigen Bezugspunkt für Mores Polemik innerhalb von KD habe ich nicht eruieren können. 97 Vgl. Henry More: Fundamenta, S. 293: »Ex nihilo nihil posse creari.« 98 Vgl. ebd.: »Ac proinde nec Materiam creari posse.« 99 Vgl. ebd.: »Cujus Consectarium, aut Fundamentum potius sit, Nullam rem vilem a se existere posse. […] Nullam igitur Materiam esse in rerum natura. Quicquid vero est, Spiritum esse.« 100 Vgl. ebd. 101 Vgl. ebd., S. 295: »Quamvis quibusdam quidem nihil durius aut absurdius videatur quam Creatio alicujus substantiae ex nihilo, considerandum tamen esse, an quicquam magis absurdum esse possit, quam primi hujus Axiomatis Consectaria; Nam ex hoc fonte […] haec immanissima absurda profluunt. […] Divinam Essentiam in partes posse dividi sive discerpi.« More übersieht an dieser Stelle die Möglichkeit präexistenter Materie. 102 Vgl. ebd., S. 296: »Unde manifestum est, Materiam creari posse, quanquam non possit a seipsa existere, nec necesse esse ut quicquid est, sit Spiritus […]«. 103 Vgl. ebd. 104 Vgl. ebd., S. 304. 105 Vgl. Franciscus van Helmont : Ad Fundamenta, S. 308: »[…] novi quendam e postratibus, qui Creationem proprie dictam defi nit Effectionem Efficientis infi niti, qua constituitur ens separabile.« 106 Vgl. ebd., S. 309: »Quia particula Ex tantum est characteristica materia; nec proprie ad spiritum pertinet; qui tamen potissimum est creationis proprie dictae subjectum […]«. 107 Vgl. ebd., S. 309. 108 Vgl. ebd. 89

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Vgl. ebd.: »Sic autem creatura esset Deo coaeterna; et coëxistens. […] Non aliter ac Soli coëxistere dicitur radius et lux; Menti idea; Enti modus; Dependens, ei a quo dependet: Effectum Efficienti in actu posito: vel similiter.« 110 Vgl. ebd., S. 310. 111 Ebd. 112 Vgl. ebd., S. 312: »Non enim omnis Spiritus est Essentia Divina, […] identitate numerica, sed tantum specifica vel generica. […] Et haec, in quantum producta, (non excludunt enim ipsam quoque concurrentem divinitatem,) non a se existunt, sed ab Autore Emanationum; qui solus a se existit […]. Essentiam autem divinam, […] dividi posse, non admittimus, sed unitatem in ea quam maxime veneramur.« 113 Dies gilt erst recht in Anbetracht der Tatsache, dass diese Frage im scholastischen Diskurs extensiv erörtert worden ist. Vgl. Tilman Ramelow: Gott, Freiheit, Weltenwahl, bes. S. 336 ff. 109

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– Hubertus Busche –

Die letzte Warum-Frage Ihre zweifache Gestalt und ihre Beantwortung bei Leibniz

»Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?« Einerseits ist Heideggers Behauptung sicherlich zutreffend, dass diese Frage die »Grundfrage der Metaphysik« bilde, nämlich die »erste aller Fragen« – »dem Range nach«1. Andererseits dokumentieren die Beiträge des vorliegenden Bandes klar, dass diese »Grundfrage der Metaphysik« – die letzte Warum-Frage oder »ultimate why question«2 – eine noch immer weitgehend unbekannte Vorgeschichte hat3 und in ihrer Bandbreite selten ausführlich analysiert worden ist. Unter den nicht gerade zahlreichen Philosophen, die sich näher der letzten Warum-Frage gewidmet haben, ist Leibniz sicherlich die erstrangige Adresse. Denn zum einen formuliert er als einer der ersten die Frage in ihrer expliziten Form und verleiht ihr eine gedanklich klare und deutliche Gestalt. Zum anderen ist sein ganzes philosophisches System nichts Geringeres als eine systematische, sehr differenzierte und konsequent durchgeführte Beantwortung der letzten Warum-Frage. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich gänzlich auf die gedankliche Auseinandersetzung, welche die letzte Warum-Frage innerhalb der Leibnizschen Philosophie erfährt. Sein Hauptziel besteht darin, jene differenzierte Argumentation, mit der Leibniz den Vorrang von ›etwas‹ vor ›nichts‹ begründet, systematisch zu rekonstruieren. Um hierfür Platz zu gewinnen, müssen übergreifende Reflexionen auf die alltagsferne Logik der letzten Warum-Frage4 ebenso ausgeklammert werden wie seinsgeschichtliche Verortungen Leibnizens5 oder historische Vergleiche mit Leibniz’ Vorläufern (wie Siger von Brabant) und Nachfolgern (wie Schelling oder Heidegger).6 Um die Rekonstruktion der Leibnizschen Antwort auf die letzte WarumFrage systematisch angehen zu können, gliedert sich die Durchfüh| 115

rung in drei Schritte: Erstens (1.) ist der Hintergrund und volle Sinn von Leibniz’ letzter Warum-Frage sowie ihre zweifache Gestalt herauszuarbeiten. Zweitens (2.) ist die allgemeine Struktur von Leibniz’ systematischer Antwort auf die Doppelfrage herauszustellen; Leibniz’ Antwort verteilt sich ihrerseits auf drei Ebenen in Gott als dem letzten Grund der Dinge: eine volitive, eine kognitive und eine potestative. Drittens (3.) schließlich sollen die einschlägigen Leibnizschen Texte zur letzten Warum-Frage daraufhin geprüft werden, ob sie nicht Leibniz’ berühmtes Theologumenon von Gottes Wahl der bestmöglichen Welt als reduzierbar auf naturphilosophische Prinzipien erweisen. In diesen Schriften steht nämlich bemerkenswerterweise die naturphilosophische Begründungsebene ganz im Vordergrund der Aufmerksamkeit, obwohl sie logisch nachrangig ist. Insgesamt wird die Rekonstruktion zeigen, dass sich Leibniz mit seiner letzten Warum-Frage zwar trivialerweise im Deutungshorizont der christlichen Schöpfungslehre bewegt, dass er aber hinsichtlich jener wahren Wirklichkeit, die bei ihm ›Gott‹ genannt wird, durchaus eigene Wege geht.

1. Leibniz’ letzte Warum-Frage – ihr Sinn und ihre zweifache Gestalt Leibniz hat sich schon früh mit der letzten Warum-Frage auseinandergesetzt. Bereits der 25-Jährige fragt, »warumb die dinge, so doch könten nicht seyn, etwas seyn«7. In ihrer ausgereiftesten Fassung lautet die Frage bei Leibniz: »Warum gibt es eher etwas als nichts (pourquoi il y a plus tôt quelque chose que rien)?« Leibniz charakterisiert sie als »die erste Frage (la première question)«, denn sie und das »Recht«, sie zu stellen, ergebe sich logisch aus dem »erhabenen Prinzip«, dem zufolge »nichts ohne zureichenden Grund geschieht«8. Wonach wird hier überhaupt gefragt? Ist die Frage selbst nicht absurd oder falsch gestellt? Zur Vermeidung vorschneller Urteile ist zunächst zu klären, was mit der Frage überhaupt erfragt wird, d. h., worin ihr Sinn besteht. Dieser aber hängt weitgehend an der Bedeutung von ›nichts‹ und ›etwas‹. Das Indefinitpronomen ›etwas (aliquid, quelque chose)‹ bezeichnet nach Leibniz zunächst im weitesten Sinne jegliches, was 116 | hubertus busche

überhaupt »gedacht werden kann«, und folglich nicht notwendig etwas materiell Seiendes. Umgekehrt steht ›nichts (nihil, rien)‹ im weitesten Sinne für dasjenige, was zwar »benannt«, aber »nicht gedacht werden kann«, wie z. B. der sinnlose Laut »Blitiri«9. Weil aber, was widerspruchsfrei gedacht werden kann, grundsätzlich möglich ist, steht ›etwas‹ in der weitesten Bedeutung für jegliches (logisch) Mögliche, während umgekehrt ›nichts‹ für dasjenige steht, was grundsätzlich (logisch) unmöglich ist. Über diese laxeste Bedeutung hinaus unterscheidet Leibniz aber noch mehrere Bedeutungen von ›etwas‹ und ›nichts‹ und hält diese z. B. in den beiden folgenden Tabellen mit begrifflichen Gegensätzen fest: A. »Etwas: Seiendes oder Mögliches Existierendes Reales Nichts: Chimäre [,] Unmögliches Nicht-Existierendes Scheinbares

Eines Ansammlung«10.

B. »Etwas: Seiendes Nichts: Nicht-Seiendes

Absolutes Beschränktes«11.

Konkretes Abstraktes

Positives Privatives

Die je vier Arten von ›etwas‹ und ›nichts‹ in Tabelle A. und B. brauchen hier nicht im Einzelnen interpretiert oder gar problematisiert zu werden. Es genügt zu zeigen, was bei nur wenig Aufmerksamkeit in die Augen springt, nämlich dass Leibniz unter ›etwas‹ teils Seiendes oder logisch Mögliches, teils existierendes substantiell Seiendes und dessen Eigenschaften (Eines, Positives, Absolutes), teils physisch Wirkliches (Reales, Konkretes) versteht. Umgekehrt zeigt sich, dass die Bedeutung von ›nichts‹ erstaunlich komplex ist. Es schließt nicht nur logisch Unmögliches ein, wie Hirngespinste, und umfasst nicht nur substantiell wie physisch Nicht-Existierendes. Vielmehr lassen sich auch die bestimmten Negationen metaphysischer Größen als Arten des ›relativen Nichts‹ auffassen; so ist z. B. eine bloße Ansammlung materieller Partikel zwar selbstverständlich ein physisches Etwas, gleichwohl aber ein Nichts an substantieller Einheit (die nur bei Monaden und den durch sie dominierten Organismen anzutreffen ist); ähnlich gehört z. B. eine körperliche Krankheit zwar zur Realität eines konkreten Körpers, ist aber zugleich bloß eine Privation oder ein nihil privativum von Gesundheit. Angesichts dieser zunächst eher verwirrenden Vielfalt von BedeutungsaspekDie letzte Warum-Frage | 117

ten ist es angezeigt, zunächst einige Bedeutungen von ›etwas‹ und ›nichts‹ auszuschließen, die in Leibniz’ »erster Frage« nicht gemeint sein können, um dann umgekehrt den positiven Sinn der Frage erläutern zu können. Erstens zielt Leibniz’ letzte Warum-Frage in keiner Weise darauf zu begründen, warum Gott selbst ist und nicht vielmehr kein Gott.12 Denn obwohl auch Gott begrifflich unter ›etwas (aliquid)‹ fällt13 – denn er ist eine existierende unendliche Substanz, Eines und Absolutes –, wäre die Frage nach dem Grund von Gottes Existenz ebenso widersinnig wie töricht. Wer so fragte, hätte die Semantik von Gott als dem letzten Grund der Dinge (ultima ratio rerum) und als dem notwendig Seienden (ens necessarium) gar nicht erst verstanden. Das Prinzip Gott gehört demnach nicht etwa auf die Seite jenes zu Erklärenden (explanandum), das in der letzten Warum-Frage fraglich ist, sondern ist umfangsidentisch mit dem erklärenden Prinzip selbst (explanans), das zur Beantwortung der letzten Warum-Frage herangezogen wird. Dasjenige ›Etwas‹, dessen Vorrang vor ›nichts‹ zu begründen Ziel der Frage ist, kann folglich nur jenes sein, das – bei Unterstellung der Existenz Gottes – von Gott erschaffen wurde und weiterhin geschaffen wird. Zweitens kann a priori auch ausgeschlossen werden, dass Leibniz’ letzte Warum-Frage darauf zielt zu begründen, weshalb statt des logisch Unmöglichen vielmehr logisch Mögliches herrscht. Dies liefe auf widersinnige Fragen wie die hinaus, warum nicht statt des Satzes von der Identität oder des Satzes vom zu vermeidenden Widerspruch deren Gegenteil gültig sein sollte. Aus beiden Ausschließungen leuchtet direkt ein, dass diejenigen Bedeutungsaspekte von ›etwas‹ und ›nichts‹, die in Leibniz’ Frage intendiert sind, auf der Ebene der kontingenten Dinge liegen müssen, deren Gegenteil keinen logischen Widerspruch einschließt. »Wenn es kein notwendiges Wesen gäbe, so gäbe es auch nichts kontingent Seiendes; es muss nämlich ein Grund dafür angegeben werden, dass die kontingenten Dinge eher existieren als nicht existieren.«14 Der mutmaßliche Sinn der Leibnizschen Frage kann also vorerst in üblichem theologischen Vokabular spezifiziert werden: Warum hat Gott Substanzen und Körper sowie beider Modifikationen (d. h. die Welt) erschaffen, wo es doch keinen Widerspruch eingeschlossen hätte, wenn er gar nichts (dergleichen) erschaffen hätte? Diese Konkretisie118 | hubertus busche

rung, die wahrscheinlich auch die meisten Leser intuitiv mit Leibniz’ Frage verbinden dürften, wird auch durch alle einschlägigen Textstellen als inhaltlich zutreffend erwiesen. Leibniz formuliert seine Frage nämlich auch so, dass er nach dem »Grund (ratio)« dafür fragt, »dass die Welt [!] eher existiert als nicht existiert (Mundi existentis potius quam non existentis)«. Hierbei versteht er unter »Welt« die »Ansammlung der endlichen Dinge (aggregatum rerum finitarum)« und erläutert seine Antwort, der zufolge nur Gott dieser letzte Grund sein kann, mit dem Argument, dass »weder in einem Einzelnen noch in der ganzen Ansammlung und Serie der Dinge der zureichende Grund ihres Existierens (sufficiens ratio existendi) gefunden werden«15 könne. Nun wird man zunächst einwenden wollen, dass die Bedeutung von ›etwas (aliquid)‹ keineswegs identisch ist mit der Bedeutung von ›Welt (mundus)‹. ›Welt‹ ist nämlich üblicherweise umfangsidentisch mit ›alle Dinge‹ oder ›das All der Dinge‹. Es macht aber einen himmelweiten Unterschied, ob Leibniz’ letzte Warum-Frage gemäß der Logik des Gegensatzes von ›etwas‹ und ›nichts‹ aufgebaut ist oder gemäß der Logik des Gegensatzes von ›alles‹ und ›nichts‹. Wer fragt, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, abstrahiert gerade von jeder näheren Bestimmtheit: ›Etwas‹ bedeutet in diesem Zusammenhang soviel wie ›irgendetwas‹, was auch immer es konkret sein mag. Wer dagegen fragt, warum die Welt, d. h. alle Dinge, nämlich das alles hier und dort, ist und nicht vielmehr nichts, fragt dagegen gerade nach etwas Bestimmtem, nämlich nach der so und nicht anders beschaffenen Ordnung aller Dinge. Die erste Frage fragt nach dem Grund dafür, dass überhaupt irgendetwas existiert, die zweite Frage dagegen nach dem Grund dafür, dass die Welt, deren Teil wir sind und von der wir Ausschnitte beobachten können, so und nicht anders existiert. Dass Leibniz diese beiden Fragen aber nicht etwa verwechselt, sondern klar von einander unterscheidet, eröffnet gerade die Einsicht in eine Pointe, die in der Forschung bislang nicht fruchtbar gemacht wurde: Was für gewöhnlich und sogar für Interpreten wie Schelling oder Heidegger als die einzigartige Grundfrage der (Leibnizschen) Metaphysik gilt, erweist sich bei genauerer Betrachtung als nur die erste zweier zusammengehöriger Fragen, die auch in Leibniz’ diesbezüglichen Texten oft beide zugleich formuliert werDie letzte Warum-Frage | 119

den. So schließt sich etwa auch an der eingangs herangezogenen, berühmtesten Textstelle, in § 7 der Principes, an die bereits behandelte »erste Frage« unmittelbar eine zweite Frage an, auch wenn diese nicht in Frageform formuliert wird: »Unterstellt man darüber hinaus, dass es Dinge geben muss« – d. h. dass es in der Tat einen zureichenden Grund dafür gibt, warum eher etwas als nichts existiert – »so muss man [auch] einen Grund dafür angeben können, warum sie so existieren müssen, wie sie existieren, und nicht anders«. Dieser Grund aber sei der »zureichende Grund für die Existenz des Universums«16. Dass beide Fragen nicht nur logisch zusammengehören, sondern sogar auf denselben Grund zielen, bezeugt beispielsweise Leibniz’ Gleichsetzung seines »Großen Axioms: Nichts ist ohne Grund« mit der Behauptung: »Nichts existiert, ohne dass sich ein Grund angeben lässt (zumindest von einem allwissenden Wesen), warum es eher ist als nicht ist und warum es eher so ist als anders.«17 Beide Fragen bilden demnach ein Paar oder Doppel: »Es gibt in der Natur einen Grund dafür, dass etwas eher existiert als nichts. Dies ist eine Folge jenes großen Prinzips, dass nichts ohne Grund geschieht, so wie es auch einen Grund dafür geben muss, dass dieses eher existiert als jenes.«18 Was also gemeinhin als die Grundfrage der Metaphysik ausgezeichnet wird, ist nur der erste Teil einer Doppelfrage, deren zweiter Teil auf die Begründung der bestimmten Ordnung jener Welt zielt, deren Teil wir sind und von der wir Ausschnitte beobachten können. Jede der beiden Fragen ergibt nur im Zusammenhang mit der jeweils anderen ihren vollen Sinn, auch wenn es zunächst den Anschein haben könnte, als wäre die erste Frage gegenüber der zweiten vorrangig. Wie unschwer zu erkennen ist, korrespondiert die Leibnizsche Doppelfrage einer scholastischen Differenzierung hinsichtlich der christlichen Schöpfungslehre. Die Unterscheidung betrifft zwei Aspekte der Freiheit Gottes ›vor‹ Erschaffung der Welt und wird folgendermaßen begründet: Gott hatte zunächst die freie Wahl, eine Welt zu erschaffen oder nicht zu erschaffen, hatte also eine Freiheit der Alternative oder der Ausübung (libertas contradictionis seu exercitii). Dass Gott für den Fall, dass er sich für die erste Alternative entschied, dann auch noch die Wahlfreiheit hatte, diese oder eine andere Welt zu schaffen, macht dagegen seine Freiheit der besonde120 | hubertus busche

ren Wahl (libertas specificationis seu contrarietatis) aus. Die beiden von Leibniz als Doppelfrage verstandenen Teilfragen schließen sich exakt an diese dogmatische Zweiteilung an, indem sie nach dem Grund für die Richtung fragen, zu deren Gunsten sich Gott hinsichtlich beider Aspekte seiner Wahlfreiheit schließlich entschied. Da sich Gott offensichtlich dazu entschieden hat, etwas (eine Welt) zu erschaffen, verlangt das Prinzip des zureichenden Grundes eine Antwort auf die Frage, was ihn zugunsten der Entscheidung bewog, überhaupt etwas außer ihm selbst zu erschaffen (erste Frage). Da sich Gott darüber hinaus offensichtlich dazu entschieden hat, diese bestimmte Welt zu erschaffen, von der wir nur ein Bruchstück überschauen, verlangt das principium rationis sufficientis eine Antwort auch auf die Frage, was ihn zugunsten der Entscheidung bewog, gerade diese und keine andere Welt (unter zahllosen möglichen) zu erschaffen (zweite Frage). Leibniz billigt der besagten dogmatischen Unterscheidung zweier Freiheiten Gottes zwar einerseits einen legitimen Kern zu; denn auch er gliedert ja die Frage nach dem letzten Grund in zwei entsprechende Teilfragen. Andererseits distanziert er sich aber von der theologisch zugrunde liegenden Zweiteilung. Es ist bezeichnend, dass er die Differenz von libertas contradictionis und libertas specificationis m. E. an keiner einzigen Stelle seiner zahlreichen Schriften und Briefe terminologisch und affirmativ verwendet.19 Der Grund für Leibniz’ Ablehnung besteht darin, dass er die Differenzierung zweier Freiheiten Gottes hinsichtlich seiner Schöpfung für irreführend hält. Denn sie verteilt Gottes Wahl, die beste aller möglichen Welten zu erschaffen, auf zwei unterschiedliche Stadien seiner rationalen Entscheidungsfindung, reißt also das Motiv seiner Welterschaffung in zwei Teilgründe auseinander und verdunkelt dadurch die Rationalität der Weltschöpfung. Leibniz behauptet entgegen jener Verdopplung des letzten Grundes, dass zwar beide Fragen als Fragen unterschieden werden müssen, dass es aber nur einen einzigen Grund gibt, der sie beide beantwortet: »Derjenige Grund, welcher bewirkt, dass diese Dinge eher existieren als andere, bewirkt auch, dass etwas eher existiert als nichts. Denn wenn der Grund dafür angegeben wird, dass diese Dinge existieren, wird damit auch angegeben werden, warum irgendwelche Dinge existieren.«20 Es versteht sich, dass dieser eine Grund für das zweifache Warum kein Die letzte Warum-Frage | 121

anderer sein kann als derjenige, den Leibniz immer wieder den »letzten Grund der Dinge (ultima ratio rerum)«21 nennt. Leibniz’ Insistieren darauf, dass Gottes Entscheidung zugunsten der Erschaffung von etwas überhaupt kein anderer Beweggrund (gewesen) sein kann als der zugunsten dieser bestimmten Welt, beruht inhaltlich auf dem Argument, dass der Wille zur Schaffung von etwas überhaupt völlig blind und irrational (gewesen) wäre, wenn er nicht zugleich ein Wille (gewesen) wäre, das Bestmögliche zu schaffen. Das Bestmögliche aber ist, wie noch zu erläutern, gerade diese Serie von Dingen und Ereignissen, deren Bestandteil unsere Welt ist. Gott kann folglich nicht zunächst irgendetwas hat erschaffen wollen, um dann gleichsam in einem zweiten Reflexionsschritt zu überlegen und zu entscheiden, wie denn dieses Etwas näher zu spezifizieren sei. Dies hieße, das Universum zum Produkt einer haarsträubenden Irrationalität zu machen. Es ist vielmehr genau umgekehrt, dass Gottes Wille, das Bestmögliche (diese bestimmte Welt) zu schaffen, zugleich auch der Grund dafür war, überhaupt etwas zu schaffen: »Meinem Urteil nach würde Gott, wenn es keine beste Reihe der Dinge gäbe, überhaupt nichts erschaffen, weil er nicht ohne Vernunftgrund handeln, also etwas weniger Vollkommenes nicht einem anderen, Vollkommeneren vorziehen kann.«22 Das bedeutet aber, dass die Antwort auf die von Leibniz so genannte »erste Frage« der Metaphysik schöpfungslogisch ein bloßes Implikat der Antwort auf die zweite Frage ist: Dass überhaupt etwas (mit Heidegger: überhaupt Seiendes) erschaffen werden sollte, war notwendige Folge der Entscheidung, das Bestmögliche, d. h. eine nach bestimmten Prinzipien geordnete Welt zu erschaffen. Damit hat sich die der Oberflächenlogik darbietende Rangfolge von ›erster‹ und ›zweiter‹ Frage genau umgekehrt: Die Frage, warum überhaupt etwas ist, erweist sich nicht etwa als das Fundament, sondern vielmehr als eine geistlos unterbestimmte Abstraktionsansicht der Frage, warum gerade diese und keine andere Welt erschaffen wurde. Der entscheidungslogische Vorrang der zweiten Frage vor der sog. »ersten Frage« ist seinerseits wiederum begründet in Leibniz’ Auffassung, dass die Rationalität jenes schöpferischen letzten Grundes, den er ›Gott‹ nennt, bei der Erschaffung der Welt grundsätzlich von keiner anderen Art gewesen sein kann als die Handlungsrationalität des Menschen, seines Ebenbildes. Seit seinem 122 | hubertus busche

berühmten Brief an Magnus Wedderkopf wird Leibniz nicht müde zu betonen, dass die theologischen Versuche, Gottes Freiheit als eine ›absolute‹, d. h. von sog. Regeln der Güte losgelöste aufzufassen, unfreiwillig darauf hinauslaufen, aus Gott einen Tyrannen und Despoten zu machen. Diesem Willkürgott des theologischen Voluntarismus einerseits und dem Nezessitarismus der blind produzierenden göttlichen Substanz Spinozas andererseits setzt Leibniz vielmehr einen – anthropomorph gesprochen – gütigen und weisen Gott entgegen.23 Dessen Wille wird zwar selbstverständlich nicht durch eine ihm fremde Macht gezwungen, sehr wohl aber durch seinen eigenen Verstand logisch und durch seine eigene Güte quasi moralisch genötigt, die ihm physisch mögliche Machtfülle hinsichtlich der Schöpfung einzuschränken.24 Hiernach ist Gott zwar Herr über das, was er physisch wirklich werden lässt, nicht aber über das, was ihm logisch und moralisch möglich ist: »Denn die Essenzen der Dinge sind wie Zahlen und enthalten die Möglichkeit der Wesen selbst; nicht diese macht Gott, sondern die Existenz. Jene Möglichkeiten selbst nämlich, d. h. die Ideen der Dinge, fallen vielmehr mit Gott selbst zusammen. Weil aber Gott der vollkommenste Geist ist, ist es unmöglich, dass er nicht selbst durch die vollkommenste Harmonie beeindruckt wird und dass er nicht auf diese Weise von der Idealität der Dinge selbst zum Besten genötigt wird. Dies tut seiner Freiheit keinen Abbruch. Denn die höchste Freiheit besteht darin, aufgrund der richtigen Einsicht zum Besten gezwungen zu werden. Wer eine andere Freiheit wünscht, ist ein Tor. Hieraus folgt, dass, was auch immer geschehen ist, geschieht oder geschehen wird, das Beste und mithin auch das Notwendige ist, jedoch, wie ich schon sagte, von einer Notwendigkeit, die nichts an Freiheit, weil nichts am Gebrauch des Willens und der Vernunft raubt. Es steht in niemandes Macht, zu wollen, was er will, auch wenn er mitunter kann, was er will. Ganz im Gegenteil, niemand wünscht für sich diese Freiheit, zu wollen, was man will, sondern vielmehr die Freiheit, zu wollen, was das Beste ist. Warum also dichten wir Gott etwas an, was wir selbst nicht wünschen? Hieraus erhellt, dass irgendein absoluter Wille, der nicht von der Güte der Dinge abhängt, etwas Ungeheuerliches ist und dass es im Gegenteil bei einem allwissenden Wesen keinen Willen gibt, der die Zügel Die letzte Warum-Frage | 123

schießen lässt, es sei denn so weit, als Gott sich der Idealität und Optimalität der Dinge selbst anpasst.«25

Mit diesem Platonismus des Besten und Möglichen stellt Leibniz richtig, dass Gott nicht etwa »die Ursache aller Dinge« ist, sondern lediglich »die Ursache aller Dinge, die außer ihm selbst existieren«. Dagegen ist er weder »die Ursache seines Verstandes« noch der in seinem Verstand auffindbaren »Ideen, die die Essenzen der Dinge erkennen lassen«26. Nun werden aber, wie im zweiten Kapitel zu erläutern ist, die beiden höchsten Optimalitätskriterien, nach denen der Leibnizsche Gott die bestmögliche Welt wählt und erschafft, einerseits durch das Ökonomieprinzip festgelegt, dem zufolge ein erstrebter Zweck mit dem kleinstmöglichen Aufwand realisiert werden muss, andererseits durch das Prinzip der Fülle, dem zufolge die größtmögliche Vielfalt an Arten und Individuen zu realisieren ist. Erst von diesem Doppelkriterium her wird überhaupt verständlich, weshalb die von Leibniz aufgeworfene letzte Warum-Frage nicht willkürlich oder aus leerlaufender Spitzfindigkeit gestellt ist, sondern einem nachvollziehbaren Rechtfertigungsbedarf entspringt. Ohne weitere Begründung widerspricht nämlich die Bevorzugung von ›etwas‹ gegenüber ›nichts‹ geradewegs dem Ökonomieprinzip. Denn um ›etwas‹ (und erst recht diese Welt) zu schaffen, muss Aufwand betrieben und Kraft aufgewendet werden, während beides entfällt, solange ›nichts‹ ist. Erst von hier aus erschließt sich der volle Begründungszusammenhang im berühmten § 7 der Principes: Als Grund dafür nämlich, dass man die Frage »Warum ist eher etwas als nichts?« mit Recht stellen dürfe, wird von Leibniz angeführt: »Denn [!] nichts [nichtetwas] ist einfacher und leichter als etwas.«27 Theologisch gesprochen ist also Folgendes gemeint: Warum hat Gott überhaupt ›etwas‹ oder gar eine derart komplexe Welt wie diese geschaffen, wo es doch das Ökonomischste gewesen wäre, es bei ›nichts‹ zu belassen? Umgekehrt ist ein Ding oder ein Ereignis zunächst umso begründungsbedürftiger, je komplexer es ist und je schwieriger (aufwendiger) folglich seine Realisierung ist. Rein vom Ökonomieprinzip aus betrachtet hat also gerade die Nichtexistenz von irgendetwas, d. h. (das) Nichts, das Privileg inne, in keiner Weise begründungsbedürftig zu sein, da es einfacher und leichter ist als jedes beliebige 124 | hubertus busche

Etwas. Hieraus lässt sich geradewegs die Regel ableiten, »dass nichts existiert, sofern sich nicht ein zureichender Grund für seine Existenz finden lässt«28. Das Fundament dieser Überlegungen ist Leibniz’ Lehre von den Bedingungen des Existierens, die zum einen der logischen Lehre von der Supposition, zum anderen der Wahrscheinlichkeitstheorie korrespondiert. »Leichter ist nämlich dasjenige, zu dem geringere oder weniger Dinge erfordert werden als zu seinem Gegenteil«. »Leichter ist das, was von sich aus einsehbarer ist, d. h. weniger Bedingungen erfordert. Wahrscheinlich ist das, was absolut einsehbarer ist oder, was dasselbe ist, in stärkerem Maße möglich ist. Daher wird für die Wahrscheinlichkeit einer Sache nicht nur die Leichtigkeit ihres Existierens, sondern auch die Leichtigkeit ihres Koexistierens mit den übrigen Gegebenheiten erfordert.«29

Für die Naturphilosophie ergibt sich hieraus die Entsprechung von Natürlichkeit und Einfachheit: »Natürlich ist jene Ordnung, die zugleich sowohl leichter als auch in sich differenzierter ist. Gesetzt, dass alle Dinge in gleichem Maße differenziert sind, ist die Ordnung umso natürlicher, je einfacher sie ist.«30

Die probabilistische Einsicht, dass das Einfachere und Leichtere eine größere Realisierungs- und Eintrittswahrscheinlichkeit hat als das Komplexe und Schwierige, erklärt zugleich, weshalb der Gegenbegriff zu »leicht (facile)« einerseits »schwierig (difficile)« ist, andererseits aber »selten (rarum)«31. Unter Voraussetzung des Ökonomieprinzips und seines ideellen Nihilismus der Mittel stellt sich also die letzte Warum-Frage in ihrer zweifachen Gestalt ganz massiv. Theologisch gesprochen fragt sich, warum Gott überhaupt Aufwand für eine Schöpfung betrieben hat, wo er sich rein aus ökonomischen Gründen auch an die Logik Mephistos hätte halten können, der zufolge es »besser« wäre, wenn »nichts entstünde«32. Es leuchtet von selbst ein, dass eine mögliche Antwort, die das Ökonomieprinzip nicht verletzt, nur eine solche sein kann, die von letzten Zwecken oder zumindest zweckanalogen Tendenzen ausgeht. Denn nur in Relation zu erstrebten Zwecken können die zur Schaffung eines Etwas bzw. einer Welt aufgewenDie letzte Warum-Frage | 125

deten Mittel rational begründet werden, indem sie zur Realisierung des gegebenen Zweckes als notwendig bilanziert werden. Nur Zwecke können demnach eine Art Gegen-Grund liefern, der stärker ist als die ontologische Sparsamkeit der Mittel. Muss es doch nach allem Bisherigen als »notwendiger Satz« gelten, dass »nichts existiert, ohne dass es einen größeren Grund für das Existieren als für das Nichtexistieren gibt«33. Wie oben genannt, ist aber das Prinzip der Fülle oder Vielfalt der einzige Zweck, der als Grund für die Existenz von Dingen größeres Gewicht hat als die Sparsamkeit, die den Grund für die Nichtexistenz von Dingen liefert. Während also vom isolierten Ökonomieprinzip des kleinstmöglichen Aufwands und von der Wahrscheinlichkeit her eher ›nichts‹ als ›etwas‹ existiert, gilt genau das Umgekehrte, wenn man das Prinzip der größtmöglichen Vielfalt als Zweck im Willen Gottes hinzuzieht: Dann gilt vielmehr, dass »etwas eher existiert als nichts«. »Weil etwas eher existiert als nichts« – andernfalls wäre diese Welt ja nicht –, »so muss es notwendigerweise eher einen stärkeren Grund für seine Existenz als für seine Nichtexistenz geben«34. (An diesem Punkt zeigt sich übrigens, dass in Leibniz’ letzter Warum-Frage das Adverb »potius« bzw. »plûtot« sowohl wahrscheinlichkeitstheoretisch im Sinne von ›eher‹ als auch begründungstheoretisch im Sinne von ›mehr‹ übersetzt werden muss: Warum ist ›eher‹ etwas als nichts? Aber auch: Warum ist ›mehr‹ – d. h. ›mit mehr Grund‹ oder ›mit stärkeren Gründen‹ – etwas als nichts?) Folgerichtig besteht auch Leibniz’ Antwort auf die letzte WarumFrage darin, den rechtfertigenden, größeren Grund in Gottes Zweck zu setzen. Entsprechend identifiziert er den letzten Grund der Dinge (ultima ratio rerum) nicht etwa mit Gott überhaupt, sondern genauer mit etwas in Gott: Es ist »Gott, in dem [!] der letzte Grund der Dinge liegt«35. Wie noch zu erläutern ist, muss Gott nämlich eine in der Trinität begründete dreifache Ursächlichkeit als Formursache, Wirkursache und Zweckursache zugeschrieben werden: »Gott ist sowohl erhabene Form als auch erstes Bewirkendes als auch Zweck, d. h. letzter Grund der Dinge.«36 Da ein Zweck aber einem Willen inhäriert, muss die Antwort auf die zweifache ›Warum-Frage‹ letztlich bzw. primär im Willen Gottes liegen, wobei dieser freilich – wie der Brief an Wedderkopf erläuterte – von der Idealität oder Harmonie der Dinge bestimmt wird: Es ist Gott als »der höchste Geist, 126 | hubertus busche

dessen Wille [!] der letzte Grund der Dinge ist, die Ursache des Wollens aber die Universalharmonie«37. Diesen Vorgaben entsprechend gestaltet sich nun auch Leibniz’ umfassende Beantwortung der letzten Warum-Frage. Da diese Beantwortung in gewisser Weise mit Leibniz’ ganzem System zusammenfällt, können im Folgenden nur ihre Grundgedanken skizziert werden.

2. Die Grundzüge der Leibnizschen Antwort auf die letzte Warum-Frage In Leibniz’ umfassender Antwort auf die ›ultimative Warum-Frage‹ müssen insgesamt drei Begründungsebenen klar unterschieden werden, auch wenn diese im systematischen Zusammenhang ineinandergreifen und nicht voneinander abgetrennt werden können. Die Dreiheit dieser Gründe erklärt sich daraus, dass Leibniz – in Übereinstimmung mit der christlichen Theologie – ›Gott‹ nicht als eine differenzlose Einheit versteht, sondern – im Sinne von Tertullians Formel »tres personae, una substantia« – als ein lebendiges Wesen, dessen immanente Tätigkeit aus drei verschiedenen, wenngleich unzertrennlichen Instanzen resultiert. Entsprechend der Lehre von den Appropriationen der göttlichen Vollkommenheiten ordnet Leibniz den drei Personen der Trinität die folgenden »drei Hauptvermögen des Geistes«38 zu: das Können (und folglich die Allmacht) insbesondere dem Vater, das Wissen (und folglich die Weisheit oder Allwissenheit) insbesondere dem Sohn, und schließlich das Wollen (und folglich die Liebe oder Allgüte) insbesondere dem Heiligen Geist.39 Die Pointe, die Leibniz aus diesen Appropriationen zieht, ist schon im Brief an Wedderkopf antizipiert: Gott besitzt zwar absolute Macht (potestas absoluta), da er durch keine äußere Macht eingeschränkt wird. Gleichwohl wird seine Machtfülle durch zwei innere Faktoren seines Wesens eingeschränkt: zum einen durch seine innere Güte, der zufolge sich sein Wille an moralische »Regeln der Güte«40 gebunden weiß und somit an spezifisch moralische Möglichkeiten, Unmöglichkeiten und Notwendigkeiten,41 zum anderen durch seine innere Weisheit, der zufolge sich sein Verstand spezifisch logischen Möglichkeiten, Unmöglichkeiten und Notwendigkeiten gegenübersieht. »Der Weise handelt« nicht willkürlich, d. h. Die letzte Warum-Frage | 127

ohne rationalen Grund, sondern »immer nach Prinzipien«, »immer nach Regeln«42. Weil Gott nur das Beste und zugleich das Mögliche wollen kann, steht es ihm nicht frei, zu machen oder gar zu wollen, was ihm beliebt. Aus dieser internen Bindung von Gottes Macht an sein Wollen und Wissen ergeben sich jene drei Letztbegründungsebenen, aus deren systematischer Entfaltung die Leibnizsche Beantwortung der letzten Warum-Frage besteht. a) Das durch seine Güte bestimmte Wollen Gottes richtet sich auf eine Schöpfung, die mit der besten aller möglichen Welten identisch ist.43 In ihr soll seine eigene Vollkommenheit und Harmonie maximal nach außen vervielfacht werden.44 Folglich besteht der ›erste‹ Entschluss Gottes darin, etwas außerhalb seiner zu schaffen, was das höchstmögliche Maß an Vollkommenheit aufweist, d. h. die bestmögliche Welt: »Die wahre Ursache dafür, dass eher diese als jene Dinge existieren, muss von den freien Entschlüssen des göttlichen Willens genommen werden, deren erster [!] darin besteht, alles bestmöglich bewirken zu wollen, wie es sich für das weiseste der Wesen gebührt. Deshalb wird mitunter freilich das Vollkommenere durch das Unvollkommenere ausgeschlossen; insgesamt jedoch wurde eine solche Art, die Welt zu erschaffen, gewählt, welche ein Mehr an Realität und Vollkommenheit einschließt […].«45

Etwas weniger Vollkommenes schaffen zu wollen als das größtmögliche Vollkommene, wäre für Gott zwar logisch wie physisch möglich gewesen, nicht aber moralisch, d. h. mit seiner Güte vereinbar. Diese oberste, volitive Begründungsebene, die über die Güte des göttlichen Willens läuft, betrifft den letzten Zweck der Dinge, rekurriert also auf die ultimative Zweckursache und gibt Antwort auf die Frage: Aus welchem Beweggrund wurde überhaupt ›etwas‹ geschaffen, statt dass es bei ›nichts‹ blieb? b) Die zweite Begründungsebene bringt dagegen die Weisheit Gottes und somit die ultimative Formursache ins Spiel; diese kognitive Begründungsebene antwortet auf die Frage: Welcher inneren Logik verdankt sich die Existenz von ›etwas‹ statt von ›nichts‹? Das durch seine Weisheit bestimmte Wissen Gottes umfasst, sofern es sich auf die Wahl der bestmöglichen Welt bezieht, vor allem die Einsicht, worin diese zu schaffende beste aller möglichen Welten 128 | hubertus busche

überhaupt bestehen kann und muss. Die beiden höchsten Kriterien der Bestheit (Optimalität) sind (wie schon genannt) zum einen das Prinzip der Fülle, dem zufolge die größtmögliche Vielfalt an Arten und Individuen herrschen muss, zum anderen das Ökonomieprinzip, dem zufolge die Welt nach dem kleinstmöglichen Aufwand an Prinzipien und Kräften strukturiert sein muss. Die Welt, die die »größtmögliche Vollkommenheit« besitzt, ist demnach diejenige, die einerseits die »größtmögliche Mannigfaltigkeit« enthält, andererseits die »größtmögliche Ordnung«46, einerseits »Fruchtbarkeit (fécondité)«, andererseits »Einfachheit (simplicité)«47. Diese aus allen möglichen Welten auszuwählende Welt ist »zugleich die einfachste an Prinzipien und die reichhaltigste an Phänomenen«48. Da mit dieser Welt ein Maximum an Wirkung durch ein Minimum an Aufwand erzeugt wird, herrschen in ihr Extremalprinzipien, die der Mini-Max-Logik gehorchen: »Immer nämlich gibt es in den Dingen ein Prinzip ihrer Bestimmung, das aus dem Maximum bzw. Minimum aufzusuchen ist, nämlich dass die größte Wirkung sozusagen mit dem kleinsten Aufwand geleistet wird.«49 Ähnlich wie man unter mehreren Häusern eines als »das beste« auszeichnen kann, »das mit gleichem Kostenaufwand hat hergestellt werden können«50, so lässt sich auch der »bestmögliche Plan« der Welt als derjenige ermitteln, »bei dem es die größte Vielfalt zusammen mit der größten Ordnung gab, bei dem mit Raum, Platz und Zeit am besten gewirtschaftet wurde, so dass die größte Wirkung mit den einfachsten Mitteln erzielt«51 wurde. Die Weisheitsordnung, die durch diese beiden Auswahlprinzipien der Fruchtbarkeit und Sparsamkeit einerseits und durch Gottes allwissende Einsicht in die notwendigen Wahrheiten andererseits generiert wird, nennt Leibniz auch das »metaphysische Gute«52 und beschreibt sie seit seinen Frühschriften als maximale Universalharmonie.53 Zu diesen beiden höchsten Auswahlkriterien für die Erschaffung gerade dieser und keiner anderen Welt verhält sich ein drittes Kriterium eher wie ein Implikat: Da die bestmögliche Welt nicht etwa, wie seit Voltaires Candide oft geglaubt wird, die bestwünschbare Welt sein kann, sondern die bestmachbare sein muss, kann diejenige Welt, in der die größtmögliche Fülle an Existenzmöglichkeiten realisiert ist, dieses Maximum nicht von Anfang an oder auf einen Schlag entfalten, sondern muss selbst in einem Vervollkommnungsfortschritt Die letzte Warum-Frage | 129

begriffen sein.54 Obwohl mit der Unendlichkeit geschaffener Monaden bereits alle substantiellen Wesen von Anbeginn präsent sind, erwachen diese erst nach und nach zu Bewusstsein und entfalten ihre schlummernden Möglichkeiten im Verlaufe der Zeit.55 Aus der Perfektibilität der erwählten Welt folgt aber, dass die »beste aller möglichen Welten« nicht auf den gegenwärtigen Weltzustand reduziert werden darf, sondern auch die gesamte uns unbekannte Serie aller vergangenen und künftigen Ereignisse mit umfasst. Demnach muss man sagen, dass »die ganze Folge der Dinge bis ins Unendliche die bestmögliche sei, obgleich das, was in jedem einzelnen Zeitabschnitt im ganzen Universum besteht, nicht das Beste sei«56. Welche konkrete Welt Gott, gemäß den genannten Kriterien, schließlich als zu erschaffende bestmögliche erwählt, ergibt sich aus einer unendlich komplexen, quasimathematischen Kalkulation im göttlichen Verstand, in der alle möglichen Reihen von Welten, deren Elemente untereinander vereinbar (kompossibel) sind, durchgespielt und durchgerechnet werden.57 Schließlich wählt Gott diejenige aus, in der die Optimalitätskriterien am besten erfüllt sind.58 »Die Weisheit Gottes begnügt sich nicht bloß damit, alle Möglichkeiten zu umfassen; vielmehr durchdringt sie diese auch, vergleicht sie und wägt die eine gegen die andere ab, um den Grad ihrer Vollkommenheit oder Unvollkommenheit, ihrer Stärke und Schwäche, ihrer guten und üblen Seiten einzustufen; sie geht sogar über die endlichen Verbindungen hinaus und bildet eine Unendlichkeit von Unendlichkeiten, d. h. eine Unendlichkeit der möglichen Reihen von Universen, deren jede eine Unendlichkeit von Geschöpfen enthält. Durch dieses Verfahren verteilt die göttliche Weisheit alle Möglichkeiten, von denen sie schon jede einzelne für sich betrachtet hat, in ebenso viele allgemeine Systeme und vergleicht dieselben unter einander. Das Ergebnis aller dieser Vergleiche und Überlegungen ist jene Wahl des Besten unter allen diesen möglichen Systemen, welche die Weisheit trifft, um der Güte vollkommen genüge zu leisten, und dies ist gerade der Plan des tatsächlich existierenden Universums. Obwohl alle diese Tätigkeiten des göttlichen Verstandes unter einander der Natur nach eine Ordnung und Priorität innehaben, erfolgen sie doch stets zusammen, ohne dass es der Zeit nach eine Priorität unter ihnen gibt.«59 130 | hubertus busche

Dass es überhaupt eine einzige solche Welt gibt, die sich unter allen möglichen als die wirklich beste auszeichnen lässt, begründet Leibniz erstens mit der Möglichkeit der Ermittlung des genannten Extremalwertes: Wie die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten als »Gerade« determiniert ist, wie die kürzeste Verbindung zwischen einem Punkt und einer diesen nicht schneidenden Geraden als »rechter Winkel« determiniert ist und wie »die am meisten fähige Figur«, die das optimale Verhältnis von größtmöglichem Volumen bei kleinstmöglicher Oberfläche realisiert, als »Kreis bzw. Kugel« ausgezeichnet ist, so ist auch – in Bezug auf jene zu wählende »Reihe der Dinge […], durch die das meiste existiert, d. h. die größte Reihe aller möglichen Dinge« – nur »allein diese Reihe determiniert«60. Zweitens kommt eine Begründung »ab effectu«61 hinzu: Gott würde, »wenn es keine beste Reihe der Dinge gäbe, überhaupt nichts erschaffen, weil er nicht ohne Vernunftgrund handeln, also etwas weniger Vollkommenes nicht einem anderen, Vollkommeneren vorziehen kann«62. Nun hat Gott aber diese Welt erschaffen. Ergo gibt es nur eine einzige Welt, die das Optimum bildet. c) Im Unterschied zur volitiven und zur kognitiven Letztbegründung des ›Etwas‹ vor dem ›Nichts‹ wird die dritte und abschließende Begründungsebene durch Gottes Können gebildet, und zwar in einer besonderen Hinsicht. Wie gezeigt, war bereits dem göttlichen Willen ein Können (bzw. Nichtkönnen) immanent: Er konnte moralisch nur diejenige Welt erschaffen wollen, die das Optimum an Möglichkeiten realisiert; außerdem war auch dem göttlichen Verstand ein Können (bzw. Nichtkönnen) immanent: Er konnte logisch nur diejenige Welt als zu realisierende wählen, die sich unter den möglichen als die optimale auszeichnet und deren Elemente miteinander kompossibel sind. Diese moralisch wie logisch ideale Welt muss aber aufgrund der göttlichen Allmacht drittens auch tatsächlich realisiert werden können; sie muss nicht nur moralisch und logisch, sondern auch physisch möglich sein. Da Gott keine körperliche Realität ist und folglich nicht durch bestimmte physische Fähigkeiten eingeschränkt ist, kann dieses physische Können nur darin bestehen, dass er von vornherein eine solche Natur einrichtet (präetabliert), in der – aufgrund allgemeiner Gesetze – die maximale Harmonie von Möglichkeiten Wirklichkeit wird. Diese begründungslogisch letzte Ebene der Leibnizschen Antwort, die die AllDie letzte Warum-Frage | 131

macht Gottes betrifft, zielt demnach auf die ultimative Wirkursache und gegebenenfalls auf eine letzte Materialursache. Erst sie gibt Antwort auf die Frage: Welcher realen Ursache, aus der die Geschöpfe (wie aus dem Nichts heraus) erzeugt wurden (creatio originaria) und weiterhin in ihrer Existenz erhalten werden (creatio continua), entspringt die Schöpfung?63 Mit dieser dritten Beantwortungsebene zur letzten Warum-Frage kommt Gott nicht, wie bisher, als letzter Beweggrund oder »ultima ratio rerum«, sondern vielmehr als die »erste Wirkursache (causa prima)«64 oder als »erstes Bewirkendes (efficiens primum)«65 ins Spiel. Diese letzte Begründungsebene, die überwiegend in die Naturphilosophie (und hier v. a. in die Metaphysik der Natur) fällt, soll zum Schluss etwas näher betrachtet werden. Die naturphilosophische Begründung scheint nämlich für Leibniz keineswegs eine nachrangige Bedeutung zu haben. Umgekehrt scheint sie vielmehr jenes Zentrum der Leibnizschen Metaphysik zu bilden, das mit der Lehre von den Monaden und der Präetablierten Harmonie zusammenfällt. Die überragende Bedeutsamkeit der naturphilosophischen Beantwortung der letzten Warum-Frage zeigt sich deutlich, wenn man die wenigen Texte gründlich liest, an denen Leibniz die letzte Warum-Frage nicht bloß kurz aufwirft (wie im eingangs zitierten § 7 der Principes), sondern zugleich skizzenhaft zu beantworten sucht. Die Antwort, die Leibniz in diesen Texten auf die letzte WarumFrage gibt, ist sehr überraschend: Statt der oben in diesem Kapitel rekonstruierten großen, umfassenden Antwort, die aus der volitiven, kognitiven und potestativen Letztbegründung in Gott besteht, rekurriert Leibniz hier ausschließlich auf die letzte Ebene und scheint sich somit auf eine rein naturphilosophische Erklärung zu beschränken. Wie muss man diese Einseitigkeit verstehen? Ist es bloßer Zufall, dass Leibniz sich gerade in diesen Texten auf die naturphilosophische Begründung fokussiert? Oder sprechen die Texte vielmehr dafür, dass es Leibniz mit den ersten beiden Begründungsebenen nicht ganz ernst ist, so dass ihm die theologischen Redeweisen von einem »Willen«, einem »Verstand« und einer »Wahl« Gottes vielleicht nur als anthropomorphe Analogien gelten, deren er sich bedient, um gewisse Verhältnisse einer letztlich rein naturalen Realität zu beschreiben? Diese Frage, die nichts Geringeres betrifft als den Sinn der Leibnizschen Theologie im Ganzen, soll 132 | hubertus busche

zum Schluss anhand der einschlägigen Texte zumindest noch andiskutiert werden.

3. Der letzte Grund in Leibniz’ System – eine natürliche Ursache? Soweit uns Leibniz’ Schriften im Rahmen der bisherigen Editionen zugänglich sind, scheint es nur drei Texte zu geben, in denen Leibniz eine direkte (wenngleich stets nur angedeutete) Antwort auf seine letzte Warum-Frage formuliert. Diese drei Texte bzw. ihre wichtigsten Passagen seien zunächst zweisprachig präsentiert, dann gedanklich ausgewertet. Text 1: Beim ersten Text handelt es sich um eine ohne Titel überlieferte »zusammenhängende Aufzählung der Hauptlehrsätze der Leibnizschen Philosophie«66 in 24 Thesen. Der für unsere Zwecke entscheidende naturmetaphysische Begründungszusammenhang umfasst die Lehrsätze 1 bis 14; die anschließenden 10 Thesen betreffen dagegen bloß die Wohlgeordnetheit der Welt sowie das Reich der intelligenten Wesen (Geister), tragen also nichts mehr zur letzten Warum-Frage bei: »(1.) Es gibt in der Natur einen Grund dafür, dass eher etwas existiert als dass nichts ist. Dies ist eine Folge jenes großen Prinzips, dass nichts ohne Grund geschieht, so wie es auch einen Grund dafür geben muss, dass dieses eher existiert als jenes. (2.) Dieser Grund muss in einem realen Seienden, d. h. in einer Ursache existieren. Eine Ursache ist nämlich nichts anderes als ein realer Grund, und auch die Wahrheiten der möglichen und der notwendigen Dinge (d. h. derjenigen, deren Gegenteil unmöglich ist) würden nichts bewirken, wenn nicht die Möglichkeiten begründet wären in einer tatsächlich existierenden Sache. (3.) Dieses Seiende aber muss ein notwendiges sein; andernfalls müsste erneut eine Ursache außer ihm selbst gesucht werden, warum es eher existiert als nicht existiert, was gegen die Voraussetzung wäre. Jenes Seiende ist selbstverständlich der letzte Grund der Dinge und pflegt mit einem Wort ›Gott‹ genannt zu werden. Die letzte Warum-Frage | 133

(4.) Folglich gibt es einen Grund dafür, dass die Existenz einen Vorrang vor der Nichtexistenz hat, d. h. jenes notwendige Seiende ist das existenzerzeugende Seiende. (5.) Die Ursache aber, die bewirkt, dass etwas existiert, d. h. dass die Möglichkeit die Existenz erstrebt, bewirkt auch, dass alles Mögliche einen Drang (conatus) nach Existenz hat, wohingegen ein Grund für eine im Ganzen stattfindende Beschränkung auf bestimmte Möglichkeiten nicht gefunden werden kann. (6.) Deshalb kann man sagen, dass alles Mögliche ein Nach-ExistenzDrängendes ist, sofern es nämlich begründet ist in dem tatsächlich existierenden notwendigen Seienden, ohne das es keinen Weg gibt, auf dem das Mögliche zur Wirklichkeit gelangt. (7.) Doch hieraus folgt nicht, dass alle möglichen Dinge existieren; dies würde in der Tat folgen, wenn alle möglichen Dinge auch in ihrer Verbindung möglich wären. (8.) Doch weil die einen Dinge unvereinbar mit den anderen sind, folgt daraus, dass einige der möglichen Dinge nicht zum Existieren gelangen; und die einen Dinge sind mit den anderen nicht verträglich, nicht bloß hinsichtlich ihres zeitlichen Auftretens, sondern auch insgesamt, da in den gegenwärtigen Ereignissen die künftigen einbeschlossen sind. (9.) Unterdessen folgt doch aus dem Widerstreit aller möglichen und nach Existenz drängenden Dinge zumindest dies, dass diejenige Reihe der Dinge existiert, durch die das meiste existiert, d. h. die größte Reihe aller möglichen Dinge. (10.) Auch ist allein diese Reihe determiniert, wie unter den Linien die gerade Linie, unter den Winkeln der rechte Winkel und unter den Figuren die am meisten fähige Figur, nämlich der Kreis bzw. die Kugel. Und wie wir beobachten, dass flüssige Stoffe sich kraft ihrer eigenen Natur von selbst in kugelförmige Tropfen sammeln, so existiert in der Natur des Ganzen die am meisten fähige Reihe. (11.) Folglich existiert ein vollkommenes Wesen, da [Vollkommenheit] nichts anderes ist als die Summe der Realität. (12.) Ferner ist die Vollkommenheit nicht in der Materie anzusiedeln, d. h. in demjenigen, was die Zeit und den Raum erfüllt und dessen Größe auf jede Weise immer dieselbe bleibt, sondern in der Form oder Vielfalt. (13.) Hieraus folgt bereits, dass die Materie nicht überall sich selbst 134 | hubertus busche

ähnlich ist, sondern aufgrund der Formen unähnlich gemacht wird; andernfalls würde sich nicht eine so große Vielfalt geltend machen, wie sie möglich ist. Ganz zu schweigen davon, dass ich anderenorts bewiesen habe, dass andernfalls keine unterschiedlichen Phänomene vorhanden wären. (14.) Auch folgt hieraus, dass diejenige Reihe den Vorrang hat, durch die das meiste an deutlicher Denkbarkeit entspringt. […]«67

Text 2: Bei der zweiten Schrift handelt es sich um eine kürzere Auseinandersetzung mit der letzten Warum-Frage. Leibniz hat sie vermutlich 1689 verfasst. Die Herausgeber von A haben ihr den Titel gegeben »Vom Grund dafür, dass eher diese als jene Dinge existieren«68: [1.] »Derjenige Grund, welcher bewirkt, dass diese Dinge eher existieren als andere, bewirkt auch, dass etwas eher existiert als nichts. Denn wenn der Grund dafür angegeben wird, dass diese Dinge existieren, wird auch angegeben, warum irgendwelche Dinge existieren. Dieser Grund besteht in der Übermacht der Gründe zum Existieren vor den Gründen zum Nichtexistieren, d. h. – wenn ich mich so ausdrücken darf – in dem Nach-Existenz-Drängen der Wesenheiten in dem Sinne, dass dasjenige existieren wird, was nicht verhindert wird. Wenn nämlich nichts existierte, gäbe es auch keinen Grund für die Existenz. Außerdem könnte dann kein Grund dafür angegeben werden, warum das eine Mögliche vor dem anderen Möglichen nach Existenz drängen wird. Gesetzt jedoch das NachExistenz-Drängen aller Dinge, so folgt hieraus die Existenz etlicher Dinge; wenn nämlich nicht alle Dinge miteinander existieren können, so folgt die Existenz derjenigen Dinge, kraft deren am meisten existieren kann. […]«69 [Leibniz erläutert diesen Zusammenhang durch ein kombinatorisches Analogon.] [2.] »Hieraus erhellt, dass alles, was möglich ist, von sich aus zur Existenz drängt und lediglich durch die Verkettung der Umstände daran gehindert wird, und dass es keine anderen Gründe für das Nichtexistieren gibt außer denen, die sich aus den miteinander verknüpften Gründen für das Existieren ergeben.«70 [3.] »Außerdem muss es für das Nach-Existenz-Drängen der WesenDie letzte Warum-Frage | 135

heiten von der Sache her eine existierende Wurzel geben. Andernfalls würde in den Wesenheiten ganz und gar nichts sein außer einer Erdichtung des Geistes, und weil aus nichts sich nichts ergibt, gäbe es ein ewiges und notwendiges Nichts. Die besagte Wurzel aber kann keine andere sein als das notwendige Seiende, als der Schatz der Wesenheiten oder als die Quelle der Existenzen, d. h. als Gott, der auf vollkommene Weise wirkt, weil alles in ihm selbst und aus ihm selbst wirkt; und dies auf eine willentliche, aber dennoch zu demjenigen, was das Beste ist, bestimmte Weise. Er wählt folglich gerade dasjenige, was die größere Vollkommenheit im Zusammenwirken [der nach Existenz drängenden Dinge] verlangt; dieses Zusammenwirken selbst ist real und hat Wirkung kraft jenes Prinzips, welches die Weisheit und Macht der ersten Ursache in einer solchen Weise ist, dass es der höchsten Vernunft Platz einräumt und Gewalt verschafft. Denn nur in Gott und durch Gott verschaffen sich die Wesenheiten einen Weg zum Existieren, so dass in Gott sowohl die Realität der Wesenheiten, d. h. der ewigen Wahrheiten, als auch die Erzeugung der existierenden Dinge, d. h. der kontingenten Wahrheiten, liegt.«71

Text 3: Der dritte Text, in dem Leibniz direkt eine Antwort auf die letzte Warum-Frage skizziert, trägt den Titel »Über das ursprüngliche Entspringen der Dinge« und wurde von Leibniz am 23.11.1697 fertiggestellt.72 Von dieser recht umfangreichen Schrift behandelt das letzte Drittel Themen der Theodizee, so dass nur die ersten zwei Drittel relevant sind. Von diesen seien wiederum nur die wichtigsten Passagen zitiert: [1.] »Außer der Welt, d. h. der Ansammlung der endlichen Dinge, gibt es ein herrschendes Eines, nicht nur so wie die Seele in mir oder vielmehr wie das Ich in meinem Körper, sondern noch in einer viel höheren Weise. Denn das Eine, welches das All beherrscht, regiert nicht nur die Welt, sondern baut sie auch auf, bewirkt sie und ist sowohl höher als die Welt als auch sozusagen außerweltlich; und deshalb ist es der letzte Grund der Dinge. Denn es kann weder in einem Einzelnen noch in der ganzen Ansammlung und Serie der Dinge der zureichende Grund ihres Existierens gefunden werden.«73 136 | hubertus busche

[Nachdem Leibniz begründet hat, weshalb man »auch bei Annahme der Ewigkeit der Welt« einem derartigen »letzten außerweltlichen Grunde der Dinge, d. h. Gott nicht entgehen kann«, steuert er argumentativ auf jenes Prinzip zu, das den letzten Grund für den Vorrang der Existenz vor der Nichtexistenz bildet:] [2.] »Die Gründe der Welt liegen also in etwas Außerweltlichem, das von der Kette der Zustände oder der Reihe der Dinge, deren Ansammlung die Welt konstituiert, verschieden ist. Und auf diese Weise muss man von der physischen oder hypothetischen Notwendigkeit, welche die späteren Dinge der Welt durch die früheren bestimmt, zu etwas gelangen, das von absoluter oder metaphysischer Notwendigkeit ist, für das kein weiterer Grund angegeben werden kann. Die gegenwärtige Welt ist nämlich physisch oder hypothetisch, nicht aber absolut oder metaphysisch notwendig. Denn gesetzt, sie sei so und so beschaffen, so folgt, dass ferner auch so und so Beschaffenes daraus entsteht. Weil also die letzte Wurzel in etwas bestehen muss, das von metaphysischer Notwendigkeit ist, und weil der Grund eines Existierenden nur von einem Existierenden herrühren kann, so muss daher ein einziges Seiendes von metaphysischer Notwendigkeit existieren, dessen Wesen mit seinem Dasein identisch ist; also muss etwas existieren, das verschieden ist von der Vielheit der Dinge oder der Welt, die – wie wir erkannt und gezeigt haben – nicht von metaphysischer Notwendigkeit ist.«74 [3.] »Um aber ein wenig deutlicher zu erklären, auf welche Weise aus den ewigen oder wesentlichen bzw. metaphysischen Wahrheiten die zeitlichen, zufälligen oder physischen entstehen, so müssen wir zunächst selbstverständlich anerkennen, wie dadurch, dass etwas eher existiert als nicht existiert, in den möglichen Dingen oder in der Möglichkeit bzw. im Wesen selbst ein Verlangen nach Dasein besteht oder (sozusagen) eine Bevorzugung zu existieren und – mit einem Wort – dass das Wesen von sich aus nach Dasein strebt. Weiter folgt daraus, dass alles Mögliche oder alles, was eine Wesenheit oder eine mögliche Realität ausdrückt, mit gleichem Rechte nach Dasein strebt – je nach der Größe der Wesenheit oder Realität oder nach dem Grade der Vollkommenheit, den es enthält; denn die Vollkommenheit ist nichts anderes als die Größe der Wesenheit.«75 [4.] »Hieraus wird aufs deutlichste einsichtig, dass aus den unendlich vielen Verbindungen des Möglichen und den unendlich vielen mögDie letzte Warum-Frage | 137

lichen Reihen diejenige existiert, durch die das meiste an Wesenheit oder Möglichkeit zum Dasein gebracht wird. Es besteht nämlich in den Dingen immer ein bestimmendes Prinzip, das vom Größten und Kleinsten zu erwarten ist, dass nämlich die größte Wirkung sozusagen mit dem kleinsten Aufwand erreicht werde. In unserem Falle kann die Zeit, der Ort oder – mit einem Worte – die Empfänglichkeit oder Fähigkeit der Welt für den Aufwand genommen werden oder für das Terrain, auf dem sich am bequemsten bauen lässt; die Mannigfaltigkeit der Formen aber entspricht der Zweckmäßigkeit des Gebäudes und der Vielzahl und geschmackvollen Einrichtung der Zimmer. Das verhält sich so wie bei gewissen Spielen, bei denen auf einer Tafel alle Felder nach bestimmten Gesetzen auszufüllen sind. Wenn man nicht gewisse Kunstregeln einhält, wird man am Ende durch ungünstig liegende Felder gehindert und gezwungen, mehr Felder offenzulassen, als man ausfüllen konnte oder wollte. Aber es gibt einen gewissen Grundsatz, nach welchem die weitestgehende Ausfüllung der Felder am leichtesten erreicht wird. Wie also, wenn aufgegeben ist, ein Dreieck zu machen, ohne dass ein weiterer Bestimmungsgrund hinzukommt, folgt, dass ein gleichseitiges entstehe, und wenn als Aufgabe gestellt ist, von einem Punkte zu einem anderen zu gehen (und wenn kein Weg vorgeschrieben ist), der leichteste und kürzeste Weg gewählt wird – so folgt, wenn wir einmal annehmen, das Seiende gelte mehr als das Nichtseiende, oder es gäbe einen Grund, weshalb etwas eher existiert als nicht existiert, oder dass von der Möglichkeit zur Wirklichkeit überzugehen ist, daraus, dass – wenn auch nichts weiteres bestimmt ist – soviel zum Dasein gelangen wird, wie nach der Fassungskraft der Zeit oder des Ortes (oder der möglichen Ordnung des Seins) möglich ist, ganz so, wie Mosaiksteinchen derart zusammengesetzt werden, dass auf die vorgesehene Fläche möglichst viele gehen.«76 [5.] »Hieraus lässt sich schon wunderbar einsehen, in welcher Weise bei der ersten Hervorbringung der Dinge eine gewisse göttliche Mathematik oder ein metaphysischer Mechanismus zur Anwendung kommt und die Bestimmung des Größten ihren Platz hat: so wie von allen Winkeln nur der rechte ein bestimmter Winkel in der Geometrie ist, und wie Flüssigkeiten, in verschiedene Lagen gebracht, sich in die inhaltsreichste Gestalt – die Kugelgestalt nämlich – zusammenziehen, vor allem aber wie in der allgemeinen Mechanik selbst: 138 | hubertus busche

wenn mehrere schwere Körper miteinander ringen, dann entsteht letztlich diejenige Bewegung, wodurch sich das stärkste Herabsinken im ganzen ergibt. Denn so, wie alle möglichen Dinge aus dem Grunde der Realität mit gleichem Rechte zum Dasein drängen, so drängen alle Gewicht habenden Dinge aus dem Grunde der Schwere mit gleichem Rechte zum Absinken; und so, wie hier eine Bewegung entsteht, die das stärkste Absinken dieses schweren Körpers enthält, so entsteht dort eine Welt, durch welche die größte Hervorbringung möglicher Dinge bewirkt wird.«77 [6.] »Und so haben wir denn bereits eine aus der metaphysischen hervorgehende physische Notwendigkeit: Denn auch wenn die Welt nicht metaphysisch notwendig ist, so dass ihr Gegenteil einen Widerspruch oder eine logische Absurdität einschlösse, so ist sie doch physisch notwendig oder derart bestimmt, dass das Gegenteil eine Unvollkommenheit oder moralische Absurdität enthält. Und wie die Möglichkeit das Prinzip der Wesenheit ist, so ist die Vollkommenheit oder der Grad an Wesenheit (durch welchen möglichst vieles zugleich möglich ist) das Prinzip des Daseins. Daraus erhellt zugleich, auf welche Weise Freiheit im Schöpfer der Welt ist, wenngleich er alles in bestimmter Weise macht, denn er wirkt gemäß dem Prinzip der Weisheit oder Vollkommenheit. Es ist klar, dass die Unbestimmtheit aus der Unwissenheit entspringt, und je weiser jemand ist, desto mehr wird er zum Vollkommensten bestimmt.«78 [7.] »Aber man wird entgegnen, dass dieses Vergleichen des Mechanismus eines metaphysisch Bestimmenden mit dem physischen Mechanismus schwerer Körper – obwohl es geistvoll scheine – doch mangelhaft sei, weil die der Schwere unterliegenden Körper wirklich existieren, die Möglichkeiten oder Wesenheiten vor oder außer dem Dasein hingegen nur etwas Erdachtes und Eingebildetes sind und man deshalb in ihnen nicht den Daseinsgrund suchen könne. Darauf antworte ich, dass weder jene Wesenheiten noch die sie betreffenden ewigen Wahrheiten, von denen man spricht, Einbildungen sind, sondern dass sie sozusagen in einer gewissen Region der Ideen existieren, nämlich in Gott selbst, der Quelle der Wesenheit und des Daseins alles übrigen. Dass wir dies nicht grundlos behauptet haben, zeigt das wirkliche Dasein der Reihe der Dinge. Da nämlich – wie wir oben gezeigt haben – in ihr kein Grund zu finden ist, sondern dieser in den metaphysischen Notwendigkeiten oder ewigen Die letzte Warum-Frage | 139

Wahrheiten gesucht werden muss, die existierenden Dinge aber nur durch existierende Dinge sein können – woran wir oben schon erinnert haben –, so ist offenkundig, dass die ewigen Wahrheiten ihr Dasein in einem absoluten oder metaphysisch notwendigen Subjekt haben, d. h. in Gott, durch den das, was (wie man ungebildet, aber bezeichnend sagt) sonst nur vorgestellt würde, realisiert wird.«79 [8.] »Und wirklich erkennen wir, dass in der Welt alles nicht nur nach den geometrischen Gesetzen, sondern auch nach den metaphysischen der ewigen Wahrheiten geschieht, d. h. nicht bloß gemäß den materialen Notwendigkeiten, sondern auch gemäß den formalen Notwendigkeiten. Das ist nicht nur – aus dem soeben erklärten Grunde, dass die Welt eher existiert als nicht existiert und eher so als in anderer Weise existiert (wozu der Grund dem Drängen des Möglichen zum Dasein zu entnehmen ist) – im allgemeinen wahr, sondern wir sehen auch, wenn wir zum Einzelnen herabsteigen, wie in der ganzen Natur auf wunderbare Weise die metaphysischen Gesetze der Ursächlichkeit, der Möglichkeit, der Tätigkeit ihren Platz haben, und dass diese selbst den bloß geometrischen Gesetzen der Materie übergeordnet sind – wie ich beim Erforschen der Gründe für die Bewegungsgesetze zu meiner großen Verwunderung so sehr erkannt habe, dass ich das Gesetz einer versuchten geometrischen Zusammensetzung (das ich in meiner Jugend, als ich noch mehr von den Körpern her dachte, verteidigt hatte) endlich preisgeben musste, wie ich an anderer Stelle ausführlicher erklärt habe.«80 [9.] »So finden wir also den letzten Grund für die Realität sowohl der Wesenheiten als auch der existierenden Dinge in dem Einem, das allerdings größer, höher und früher als die Welt selbst sein muss, da durch dasselbe nicht nur die existierenden Dinge, welche die Welt umfasst, sondern auch die möglichen ihre Realität haben. Dieses kann aber nur in einer einzigen Quelle gesucht werden, wegen des Zusammenhanges aller Dinge. Es leuchtet auch ein, dass aus dieser Quelle die existierenden Dinge stetig hervorquellen, hervorgebracht werden und hervorgebracht worden sind, da man nicht einsieht, weshalb ein Zustand der Welt mehr als ein anderer, der gestrige mehr als der heutige, aus ihr fließen sollte. Auch leuchtet ein, wie Gott nicht nur natürlich, sondern auch frei wirkt, dass in ihm nicht nur die wirkende, sondern auch die Zweckursache ist und dass er nicht nur der Größe oder Macht in der schon erschaffenen 140 | hubertus busche

Maschine des Universums, sondern auch der Güte und Weisheit bei deren Erschaffung Rechnung trägt. […]«81

Liest man diese drei Texte (die alle nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren) gründlich, so zeigt sich ein überraschender Befund. Leibniz’ Argumentation weicht hier in einem ganz entscheidenden Punkt von seiner (oben in Kap. 2 zusammengefassten) umfassenden Standardantwort ab: Obwohl alle drei Texte eine Antwort auf die Frage geben, warum eher ›etwas‹ als ›nichts‹ ist, rekurrieren sie entweder gar nicht auf einen wählenden gütigen Willen und weisen Verstand Gottes (Text 1) oder sie geben Winke, wie man diese Theologumena metaphorisch verstehen kann, indem man sie auf natürliche Größen zurückführt. So erläutert Text 2 dasjenige, was in seinem Absatz [3.] traditionell als willentliches Wählen des Besten durch Gott beschrieben wird, bereits zuvor in den Absätzen [1.] und [2.] durch das Streben des Möglichen (oder der Wesenheiten) nach Existenz82 – und zwar durch ein Streben, das einem realen Wesen immanent ist, welches die »existierende Wurzel« aller Dinge bildet (Absatz [3.]). Text 3 geht sogar noch weiter, denn zum einen lässt er für das »Entspringen der Dinge selbst« einen bloßen »Mechanismus« (wenn auch einen »metaphysischen«) aufkommen (Absatz [5.]), also das krasse Gegenteil einer rationalen Wahl; zum anderen gibt er obendrein eine Anleitung zur Dechiffrierung der theologischen Sprache: Die »Freiheit im Schöpfer der Welt« besagt nichts weiter, als dass das schöpferische Wesen »gemäß dem Prinzip der Weisheit und Vollkommenheit«, d. h. nach dem Grundsatz der ökonomisch organisierten Realitätsmaximierung wirkt (Absatz [6.]); und dass zu seiner Freiheit außer der Wirkursache auch die »Zweckursache« gehört, heißt lediglich, dass dieses Wesen »der Güte und Weisheit« bei Erschaffung der Welt »Rechnung trägt«, d. h. dass es möglichst vielen und vielfältigen Wesen mit geringstem Aufwand die Existenz schenkt (Absatz [9.]). Diese eigentümlich ›mechanische‹ Argumentation aller drei Texte ist schon anderen aufgefallen. Heidegger etwa bemerkt zu Text 1, der »hier als Grund wesende Gott« werde »nicht theologisch, sondern rein ontologisch gedacht, nämlich als das höchste Seiende, in dem alles Seiende und das Sein selbst verursacht ist«83. George M. Ross wertet den Befund so, dass in den Texten 1 und 3 Gott Die letzte Warum-Frage | 141

»depersonalisiert« und seine Vernunft wie sein Wille »marginalisiert«84 werde. Für Arthur O. Lovejoy verschwindet sogar am Ende der Unterschied zwischen der Spinozischen und der Leibnizschen Notwendigkeit fast völlig, da auch Leibniz »das Hervorgehen der wirklichen aus den möglichen Welten als das Ergebnis eines quasimechanischen Prozesses«85 auffasse. In der Tat wird man die in allen drei Texten vollzogene Auflösung der ersten und zweiten Begründungsebene zugunsten der dritten nicht einfach als eine zufällige darstellungsökonomische Einseitigkeit werten können. Vielmehr geben diese Texte, in denen Leibniz ohne Rücksicht auf ein Lesepublikum formuliert, allen Grund, den Status der Leibnizschen Theologie insgesamt zu hinterfragen. Reicht Leibniz’ gelegentliche Kritik des Anthropomorphismus in der Theologie möglicherweise viel weiter, als man zunächst glauben möchte, so dass zu den »Anthropomorphismen«, die Gott »sich gefallen lassen«86 muss, auch schon die Rede von der »Güte« und »Weisheit« der letzten Ursache gehört? Für diese radikale Interpretation spricht immerhin, dass Leibniz in seinem ganzen System – wenn auch meist nur angedeutet und versteckt – um eine höchste, göttliche Realität kreist, die kein personales Subjekt ist und dennoch die ganze Welt ökonomisch-fruchtbar (d. h. »mit Weisheit«) und zugleich segensreich (d. h. »mit Güte«) für die aus ihm resultierenden Geschöpfe regiert: Es ist das Licht in Gestalt des alle Körper durchdringenden Lichtäthers, dessen Zirkulation nach Leibniz die »allgemeine«, »allgegenwärtige Ursache«87 aller Dinge ist, da sie vier Grundeigenschaften beim Systemverhalten der Körper hervorruft: Gravitation, Elastizität, Stoßprozesse (Reflexion und Refraktion) und Lichtausbreitung.88 Da der Lichtäther somit jene »spirituelle Substanz« ist, die den »metaphysischen Quell« und »Ursprung«89 des Weltmechanismus bildet, identifiziert Leibniz ihn auch mit dem im biblischen Schöpfungsbericht (Gen. 1, 2) genannten »Geist des Herrn«, der anfangs »über den Wassern schwebte«90. Von hier aus interpretiert Leibniz auch die »Erschaffung aller Dinge aus Nichts« neu: Die Dyadik von 0 und 1 kann als »Vorbild des Geheimnisses der Schöpfung« gemäß Gen. 1, 2 dienen, weil das körperliche Universum durch die Ausstrahlung der spirituellen »Erstmaterie« des Lichtes (= 1) in die tote, finstere »Zweitmaterie« (= 0) aufgebaut wird: 142 | hubertus busche

»[…] Finsterniß war auf der Tiefe, und der Geist Gottes schwebete auf dem Wasser. Da sprach Gott: Es werde Licht, und es ward Licht. Und kommt solches um so mehr zu Passe, weilen die leere Tiefe und wüste Finsterniß zu Null und Nichts; aber der Geist Gottes mit seinem Lichte zum allmächtigen Eins gehöret.«91

Dass Leibniz’ geheimgehaltene, vermutlich kabbalistisch92 inspirierte Lehre vom göttlichen Lichtäther93 auch das spekulative Zentrum der drei oben präsentierten Texte bildet, ist offensichtlich: Das Licht ist jene »tatsächlich existierende Sache«, in der alle »Möglichkeiten begründet« sind, jenes »notwendige« und »existenzerzeugende Seiende« (Text 1, [2., 4.]). Das Licht ist jene »existierende Wurzel« aller Dinge (Text 2, [3.]), jenes »Eine, welches das All beherrscht« und die Welt nicht nur »regiert«, sondern auch »aufbaut« und »bewirkt«. Dass es »höher als die Welt« und »sozusagen außerweltlich« ist (Text 3, [1.]), erklärt sich daraus, dass seine subtile elastische Materie »nicht mehr zum Körper gerechnet«94 wird, während die Welt die »Ansammlung der endlichen Dinge« oder Körper ist. Da die Monaden nichts anderes sind als die inneren Zentren von Lichtsphären, wird verständlich, inwiefern bei den geistbegabten Monaden jenes allgemeine »Streben des Möglichen zum Dasein« (Text 3, [8.]) mit den rationalen Entscheidungen und handlungsproduktiven Regungen der Geistwesen zusammenfallen, während das Streben der geistlosen (d. h. der entweder noch nicht zum Geist erwachten oder der entschlafenen) Lichtzentren in nichts anderem besteht als im Streben nach Ausdehnung. Besteht doch die Lichtmaterie oder »Erstmaterie«, in der alle Monaden inkarniert sind, »nicht in der Ausdehnung, sondern im Verlangen nach Ausdehnung«95. Denn »die Natur des Lichtes strebt danach, sich auszubreiten (luminis natura se diffundere nititur)«96. Von diesen Zusammenhängen her, die hier nur angedeutet werden können, dürfte am Ende immerhin erahnbar werden, dass Leibniz’ zentrales Theologumenon von der Wahl der bestmöglichen Welt nicht, wie an vielen Stellen suggeriert wird, eine zeitlich ›vor‹ der Welt getroffene Entscheidung eines einsamen höchsten Geistes ist, sondern gleichsam nur das Integral aller auf Optimierung angelegten Strebungen, die in allen aktiven Lichtzentren ›zusammen‹ vorgenommen werden.97 Gottes Verstand schwebt folglich nicht über Die letzte Warum-Frage | 143

den Geschöpfen, sondern existiert in jedem der unendlich vielen monadischen Lichtzentren. Der Mensch ist »ein kleiner Gott« in seinem »Mikrokosmos«98, weil der große Gott nichts anderes ist als die schöpferisch produzierende Einheit aller ihre Möglichkeiten zur Wirklichkeit bringenden Lichter. Leibniz nennt ihn deshalb auch – mit Jak. 1,17 – den »Vater der Lichter«99.

Anmerkungen

Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 1 f.; ähnlich ders.: Was ist Metaphysik?, S. 121. 2 So treffend der Titel von John F. Wippel (Hg.): The Ultimate Why Question. 3 Siehe hierzu insb. den Beitrag von Jens Lemanski in diesem Band. 4 Höchst interessante, aber sehr eigenwillige und an der metaphysischen Tradition völlig vorbeizielende Betrachtungen über die »daunting […] question« fi nden sich bei Robert Nozick : Why is There Something Rather than Nothing?; an Leibniz’ Intentionen gänzlich vorbei räsoniert auch Daniel Goldstick : Why is There Something Rather than Nothing?. 5 So etwa Mario Ruggenini: Pourquoi il y a plustôt quelque chose que rien?. Statt einer Einsicht in Leibniz’ Motive und Argumente gibt er ein Räsonnement über den angeblich »fürchterlichen, nihilistischen Grund seiner OntoTheo-Logie« (ebd., S. 112) bzw. über »das nihilistische Geschick der Theologie der Schöpfung, das auch in Leibniz aktiv ist« (ebd., S. 121). 6 Der Beitrag von Walter Patt : ›Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts?‹, widmet sich nicht der Fragestellung bei Leibniz , sondern gibt einen Überblick über die allgemeinen Lehren vom Grund und von den Gründen bei Aristoteles, Leibniz , Kant und Heidegger. 7 Grundriß eines Bedenkens von Aufrichtung einer Societät in Teutschland, 1671 [?], A IV 1, S. 532,8. 8 Principes de la nature et de la grâce, § 7, GP VI, S. 602. 9 Definitiones, 1688–89 [?], A VI 4 A, S. 937,5 f.: »Aliquid est quod cogitari potest. Nihil est quod nominari potest, cogitari non potest ut Blitiri.« Ähnlich heißt es schon in einer Defi nitionentafel von 1671–72, A VI 2, S. 487,22–24: »Aliquid est quicquid cogitari potest. Nihil est quicquid nominari potest, cogitari non potest, nomen sine re, sine mente sonus.« 10 »Aliquid. Ens vel possibile Existens. Reale Unum Nihil Chimaera impossibile Non-existens apparens Aggregatum« (Definitiones, notiones, characteres, 1687 [?], A VI 4/A, S. 874,10 f.) 11 »Aliquid Ens. Concretum; Positivum Absolutum Nihil Non-Ens Abstractum Privativum Limitatum« (ebd., S. 875,17 f.). 1

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Vergleiche hierzu das Zitat des Siger von Brabant im Beitrag von Jens Lemanski (Abschn. 9) in diesem Band. 13 Numeri infiniti, April 1676, A VI 3, S. 502,19 f.: »Deus est aliquid, nihilum non est aliquid.« 14 Specimen inventorum de admirandis naturae generalis arcanis, 1688 [?], A VI 4/B, S. 1617,13 f.: »Si nullum esset Ens necessarium, nullum foret Ens contingens, ratio enim reddenda est cur contingentia potius existant quam non existant.« 15 De rerum originatione radicali, GP VII, S. 305, 302. 16 Principes de la nature et de la grâce, § 7 f., GP VI, S. 602: »De plus, supposé que des choses doivent exister, il faut qu’on puisse rendre raison, pourquoy elles doivent exister ainsi, et non autrement. […] Or cette Raison suffisante de l’Existence de l’Univers ne se sauroit trouver dans la suite des choses contingentes […].« 17 Elementa verae pietatis, 1677/78, A VI 4/B, S. 1360,10–13: »Axioma Magnum[:] Nihil est sine ratione. Sive quod idem est, nihil existit, quin ratio reddi possit (saltem ab omniscio) cur sit potius quam non sit, et cur sic sit potius quam aliter.« 18 So der erste von 24 Lehrsätzen ohne Überschrift , GP VII, S. 289: »Ratio est in Natura, cur aliquid potius existat quam nihil. Id consequens est magni illius principii, quod nihil fiat sine ratione, quemadmodum etiam cur hoc potius existat quam alius rationem esse oportet.« In der Theodizee taucht die Doppelfrage in einer leicht abweichenden Variante auf, die statt des unbestimmten »quelque chose« vielmehr das bestimmte »cela« verwendet: »pourquoy cela est existant plustost que non existant, et pourquoy cela est ainsi plustost que de toute autre façon« (Essais de Théodicée, I, § 44, GP VI, S. 127). 19 Leibniz’ fehlende Bezugnahme auf diese Zweiteilung, die ihm gleichwohl »vom Studium sicher vertraut« (Dirk Evers: Gottes Wahl der besten aller möglichen Welten, S. 136) war, wurde auch schon bemerkt von Christos Axelos: Die ontologischen Grundlagen der Freiheitstheorie von Leibniz, S. 293–300, sowie von Tilman Ramelow: Gott, Freiheit, Weltenwahl, S. 132, 190. 20 De ratione cur haec existant potius quam alia, 1689, A VI 4/B, S. 1634,24 f.: »Quae ratio facit ut haec existant potius quam alia, facit etiam ut potius aliquid existat quam nihil: Nam si ratio reddatur cur haec existant, reddita etiam erit cur aliqua existant.« 21 S. z. B. GP I, S. 61; GP III, S. 444; GP IV, S. 358, 392; GP VII, S. 298, 302, 327, 310, 342. 22 An des Bosses , 7. September 1711, GP II, S. 424 f.: »Meo judicio, nisi daretur series optima, nihil plane crearet Deus quia non potest agere praeter rationem, aut praeferre minus perfectum alteri perfectiori.« 23 Vgl. hierzu den Discours de métaphysique, §§ 2 u. 3, A VI 4/B, S. 1532–1534. 24 Zum Gedanken von Gottes interner moralischer Nötigung zum Besten sowie seinem historischen Auft reten innerhalb der spanischen Spätscholastik 12

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vergleiche die hervorragende Studie von Sven K. Knebel: Wille, Würfel und Wahrscheinlichkeit. 25 An Magnus Wedderkopf, Mai 1671, A II 21, S. 117,23–118,2: »Essentiae enim rerum sunt sicut numeri, continentqve ipsam Entium possibilitatem qvam Deus non facit, sed existentiam: cum potius illae ipsae possibilitates seu Ideae rerum coincidant cum ipso Deo. Cum autem Deus sit mens perfectissima, impossibile est ipsum non affici harmonia perfectissima, atqve ita ab ipsa rerum idealitate ad optimum necessitari. Qvod nihil detrahit libertati. Summa enim libertas est ad optimum à recta ratione cogi, qvi aliam libertatem desiderat stultus est. Hinc seqvitur, qvicqvid factum est, fit aut fiet, optimum ac proinde necessarium esse, sed ut dixi necessitate nihil libertati adimente, qvia nec voluntati et rationis usui. In nullius potestate est velle qvae velit, etsi interdum posse qvae velit. Imò nemo optat sibi hanc libertatem volendi qvae velit, sed potius volendi optima. Cur ergo qvae nec ipsi optamus, Deo affingimus? Hinc patet absolutam aliqvam voluntatem non à rerum bonitate dependentem esse monstrosam, contra, nullam esse in omniscio voluntatem permissivam, nisi qvatenus Deus ipsi se rerum idealitati seu optimitati conformat.« 26 Elementa verae pietatis, 1677/78, A VI 4/B, S. 1362,17–19: »Si quis porro insistat hinc sequi Deum non esse causam omnium, respondebo Deum esse causam omnium quae existunt extra ipsum, non vero esse causam sui intellectus, nec proinde idearum essentias rerum exhibentium, quae in eo reperiuntur.« 27 Principes de la nature et de la grâce, § 7, GP VI, S. 602: »Car le rien est plus simple et plus facile que quelque chose.« In diesem Zusammenhang interessant ist, dass Leibniz zwischen 1686 und 1699 aus Malebranches De la recherche de la verité die Formulierung exzerpiert, »que nous devons toûjours commencer par les choses les plus simples et les plus faciles« (A VI 4/B, S. 1894,15 f.). 28 Communicata ex literis de Schulleri, GP I, S. 138, N. 23: »[…] nihil existere nisi cujus reddi possit ratio existentiae sufficiens […].« 29 Elementa juris naturalis, 1671, A VI 1, S. 472,8 f.,2–5: »Facilius enim est in qvo minora vel pauciora qvàm in opposito requiruntur […].« – »Facilius est qvod est per se intelligibilius, seu qvod pauciora reqvirit. Probabile est, qvod est absolutè intelligibilius seu, qvod idem est, possibilius. Unde ad probabilitatem reqviruntur non tantùm facilitas existendi, sed et facilitas coexistendi caeteris impraesentiarum.« Ähnlich heißt es in Potest aliqua notio esse alia generalior ut tamen non sit simplicior, 1679, A VI 4/A, S. 303,28: »Facile est cujus pauca sunt requisita aut parva.« Ähnlich auch A VI 4/B, S. 1396,2 f.; ebd., S. 1412,22 f.; ebd., S. 1427,21; A VI 4/C, S. 2771,20. 30 Demonstratio axiomatum Euclidis, 1679, A VI 4/A, S. 176,14 f.: »Ordo naturalis est qui simul et facilior et distinctior est, cum omnia aeque distincta sunt, naturalior est ordo qui simplicior est.« 31 Definitiones. Notiones. Characteres, 1687 [?], A VI 4/A, S. 876,9 und 14. 32 Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie. Erster Teil, Studierzimmer, V.1341: »Drum besser wär’s, dass nichts entstünde […].« Auch die spätere 146 | hubertus busche

Begründung mutet aufwandstheoretisch an: »Was soll uns denn das ewige Schaffen! | Geschaffenes zu nichts hinwegzuraffen! | ›Da ist’s vorbei!‹ Was ist daran zu lesen? | Es ist so gut, als wär’ es nicht gewesen. | Und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre, | Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere.« (Ebd., Zweiter Teil, V. Akt, Grablegung, V.11598–11603) 33 De contingentia [1689], A VI 4/B, S. 1651,2: »propositio necessaria«: »nihil existit sine majore existendi quam non existendi ratione«. 34 Elementa verae pietatis, 1677/78, A VI 4/B, S. 1363,10, und S. 1363 f.: »[…] quoniam aliquid potius existit quam nihil […]«. – »Cum sit aliquid potius quam nihil, necesse est rationem esse majorem existendi potius quam non existendi.« 35 An Bierling , 12. August 1711, GP VII, S. 502: »[…] Deus, in qua est ultima ratio rerum […].« 36 Animadversiones in partem generalem principiorum Cartesianorum, GP IV, S. 392: »[…] Deus et forma eminens et efficiens primum, et fi nis est sive ultima ratio rerum.« 37 Zur Characteristica Universalis, GP VII, S. 327: »[…] summa mente, cujus voluntas sit ultima ratio rerum; causa volendi, harmonia universalis«. 38 Examen religionis christianae [Systema theologicum], 1686 [?], A VI 4/C, S. 2365,12–14: »Solita est autem antiquitas, et ut mihi videtur sapienter atque ad captum nostrum accomodate mysterium hoc [trinitatis] illustrare analogia trium potissimarum Mentis facultatum, sive agendi requisitorum, quae sunt posse, scire, velle«. 39 Vgl. auch Monadologie, § 48. Leibniz entwickelt die hier nur abstrakt referierbare Trinitätskonzeption schon in seinen Jugendschriften. Vgl. Hubertus Busche: Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum, bes. S. 86–91. Die wohl komprimierteste Zusammenfassung seiner Trinitätslehre und ihrer Abbildung auf die drei Fähigkeiten des Geistes gibt Leibniz in einem kurzen Passus von De Deo trino, zwischen 1680 und 1684, A VI 4/C, S. 2292,10–24. 40 »Regeln der Güte und Ordnung« binden Gott, denn er hat »nichts gleichsam durch einen weiß nicht was für einen Einfall, oder wie durchs Loß und ohne Unterschied, als wenn ihm alles gleich gülte sondern mit weisheit erwehlet« (Versuch einer Theodicaea, GP VI, S. 466 f.). Vielmehr gelten »les regles de la bonté, de la justice et de la perfection« (Discours de métaphysique, § 2, A VI 4/B, S. 1533,7). 41 In der Forschung wird die Härte dieser internen moralischen Selbstnötigung Gottes nicht selten zu bagatellisieren versucht; so etwa von Dirk Evers in seiner sonst vorzüglichen Habilitationsschrift: »Aber während das Prinzip des Widerspruchs selbst Gott insofern nezessiert, als auch Gott das Unmögliche nicht möglich machen und das Notwendige nicht aufheben kann, gilt für die Güte als den Grund seines guten Willens, dass sie ihn nicht zum Guten zwingt, sondern ihn nur dazu geneigt macht. Denn das weniger Gute und selbst das Böse sind ja nicht unmöglich, denn sie implizieren keinen Selbstwiderspruch.« (Dirk Evers: Gott und mögliche Welten, S. 42) Diese Die letzte Warum-Frage | 147

Behauptung ist unzutreffend, denn sie übersieht, dass Leibniz in seinem Naturrecht eine systematisch am Modalquadrat entwickelte Deontik der ›modalia juris‹ ausgearbeitet hat, der zufolge das Gerechte oder Erlaubte mit dem juridisch-moralisch Möglichen zusammenfällt, das Ungerechte oder Verbotene mit dem juridisch-moralisch Unmöglichen, die Pfl icht oder das Gebotene mit dem juridisch-moralisch Notwendigen sowie das Unterlassbare oder Freigestellte mit dem juridisch-moralisch Kontingenten. An diese deontische Modallogik ist nach Leibniz jede Person gebunden, die Liebe und Weisheit besitzt, und folglich erst recht Gott selbst. Deshalb enthielte es zwar in der Tat keinen logischen Widerspruch, d. h. keine logische Unmöglichkeit, wenn Gott vorsätzlich Böses täte, wie z. B. Unschuldige ohne Not zu quälen; dergleichen wäre Gott jedoch moralisch unmöglich, da es einen Widerspruch zu seiner Liebe und Gerechtigkeit bildete. Obwohl Gott hinsichtlich dessen, was ihm moralisch möglich (erlaubt) ist, keinerlei interne Einschränkung erfährt und obwohl es auch für Gott moralisch Kontingentes gibt, das lediglich nach dem Prinzip der ›Angemessenheit‹ (convenientia) zu entscheiden ist, wird Gottes Wille dennoch durch dasjenige schlechthin eingeschränkt oder genötigt, was ihm entweder notwendig (verpfl ichtend) oder unmöglich (verboten) zu tun oder zu unterlassen ist. Vgl. Gottfried W. Leibniz: Frühe Schriften zum Naturrecht, bes. S. 245–251, 301 f. 42 Essais de Théodicée, III, § 337, GP VI, S. 315: »Le sage agit tousjours par principes; il agit tousjours par regles […].« 43 Zur Vorgeschichte des Lehrstücks von der besten aller möglichen Welten s. Tilman Ramelow: Gott, Freiheit, Weltenwahl; eine instruktive Skizze zur Leibnizschen Lehre gibt Dirk Evers: Gottes Wahl der besten aller möglichen Welten. 44 Gott hat »zu keinem andern End die Vernünfft igen Creaturen geschaffen, als daß sie zu einem Spiegel dieneten, darinn seine unendtliche Harmoni auff unendtliche weise in etwas vervielfältiget würde« (Grundriß eines Bedenkens von Aufrichtung einer Societät in Teutschland, 1671 [?], A IV 1, S. 532,18–20). – »Wenn Gott keine vernünftigen Geschöpfe in der Welt hätte, so besäße er dieselbe Harmonie, allerdings ohne Widerhall; er besäße dieselbe Schönheit, allerdings ohne Reflexion und Refraktion, d. h. ohne eine Vervielfältigung. Deshalb verlangte die Weisheit Gottes vernünftige Geschöpfe, in denen sich die Dinge vervielfältigten sollten.« (Elementa juris naturalis, A VI 1, S. 438,5–8: »Si Deus non haberet in mundo Creaturas rationales, haberet eandem harmoniam, sed solùm demta Echo, eandem pulchritudinem solùm demta reflexione et refractione seu multiplicatura. Unde Dei sapientia exigebat Creaturas rationales, in qvibus se res multiplicarent.«) 45 Specimen inventorum de admirandis naturae generalis arcanis, A VI 4/B, S. 1616,20–24: »Vera causa cur haec potius quam illa existant sumenda est a liberis divinae voluntatis decretis, quorum primarium est, velle omnia agere quam optime, ut sapientissimum decet. Itaque licet interdum perfectius 148 | hubertus busche

excludatur ab imperfectiore, in summa tamen electus est ille modus creandi mundum, qui plus realitatis sive perfectionis involvit […].« 46 Monadologie, § 58, GP VI, S. 616; Principes de la nature et de la grâce, § 10, GP VI, S. 603. 47 Essais de Théodicée, II § 208, GP VI, S. 241; ebd., II § 211, GP VI, S. 244. Ebd., II § 204, GP IV, S. 238: »Il n’y a point de doute que quand Dieu s’est determiné à agir au dehors de luy, il n’ait fait choix d’une maniere d’agir qui fût digne de l’Etre souverainement parfait, c’est à dire, qui fût infi niment simple et uniforme, et neantmoins d’une fecondité infi nie.« 48 Discours de métaphysique, § 6, A VI 4/B, S. 1538,11 f.: »[…] le plus parfait […] est en même temps le plus simple en hypotheses et le plus riche en phenomenes«. 49 De rerum originatione radicali, GP VII, S. 303 (ähnlich Essais de Théodicée, II, § 208, GP VI, S. 241): »Semper scilicet est in rebus principium determinationis quod a Maximo Minimove petendum est, ut nempe maximus praestetur effectus, minimo ut sic dicam sumtu.« Vgl. hierzu Peter Koslowski: Gottes Zweck der Maximierung von Existenz bei Leibniz. 50 Essais de Théodicée, II § 208, GP VI, S. 241: »C’est comme si l’on disoit qu’une maison a eté la meilleure qu’on ait pu faire avec la même depense.« 51 Principes de la nature et de la grâce, § 10, GP VI, S. 603: »Il suit de la Perfection Supreme de Dieu, qu’en produisant l’Univers il a choisi le meilleur Plan possible, où il y ait la plus grande varieté, avec le plus grand ordre: le terrain, le lieu, le temps, les mieux menagés: le plus d’effect produit par les voyes les plus simples.« 52 Das bonum metaphysicum wird defi niert als »perfectio […] in universum« (Beilage zur Korrespondenz mit Pierre Bayle, GP III, S. 32); es »besteht in der Vollkommenheit der Dinge, auch der nicht einsichtsfähigen (consistit in rerum etiam non intelligentium perfectione)« (Causa Dei, § 30, GP VI, S. 443; ähnlich Essais de Théodicée, II, § 118, GP VI, S. 168 f.). 53 Da »Harmonie« allgemein zu defi nieren ist als »Verschiedenheit, die durch Einheit ausgeglichen ist (Harmonia est diversitas identitate compensata)« (A VI 1, S. 484,33; auch A II 21, S. 280,4 f.), so gilt: »Die Harmonie ist umso größer, je größer eine Verschiedenheit ist, die gleichwohl auf eine Einheit zurückgeführt ist. (Denn nicht in der Einheit, sondern in der Vielfalt sind Gradunterschiede möglich.)« (Elementa juris naturalis, A VI 1, S. 479,30 f.: »Major harmonia est cum diversitas major est, et reducitur tamen ad identitatem. (Nam non in identitate, sed varietate gradus esse possunt.)«) – Nun ist aber Gott in seiner Trinität selbst die ungeschaffene maximale Universalharmonie: »Mir scheint es sich erwiesen zu haben, dass es einen letzten Grund der Dinge (das heißt Gott), eine Universalharmonie, einen weisesten und mächtigsten Geist gibt, und dass diesem gerade das Beste und Harmonischste am meisten gefällt.« (An Hermann Conring, 8. Februar 1671, A II 21, S. 131,6–9: »Ostendisse mihi videor esse qvandam ultimam Rerum rationem [id est Deum], Harmoniam Universalem, Mentem Die letzte Warum-Frage | 149

sapientissimam potentissimamqve; huic optima atqve ἁρμονικώτατα quaeque gratissima […] esse.«) – Folglich wählt Gott auch als das zu erschaffende Optimum die maximale Universalharmonie: »Denn Gott will dasjenige, was er als das Beste und auch als das am meisten Harmonische erkennt, und dies wählt er gleichsam aus der unendlichen Anzahl aller möglichen Dinge aus. (Deus enim vult quae optima item harmonicotaτα intelligit eaque velut seligit ex numero omnium possibilium infinito.)« (an Wedderkopf, Mai 1671, A II 21, S. 186,27 f.) 54 Zur Diskussion der diesbezüglichen Leibnizschen Schriften, zu denen insbesondere das Apokatastasis-Fragment, De progressu in infinitum sowie An mundus perfectione crescat zählen, vgl. Max Ettlinger: Leibniz als Geschichtsphilosoph, und Wolfgang Hübener: Leibniz – ein Geschichtsphilosoph?. 55 »Es muss im Ganzen auch ein gewisser stetiger und ungehinderter Fortschritt des gesamten Universums zur Schönheit und Vollkommenheit aller göttlichen Werke eingeräumt werden. […] Auch wenn viele Substanzen schon zu großer Vollkommenheit gelangt sind, so sind doch aufgrund der unendlichen Teilbarkeit des Kontinuums die im Abgrund der Dinge noch schlafenden Teile zu erwecken und zu etwas Größerem und Besserem, mit einem Worte: zu einer besseren Kultur hinzuführen. Folglich wird der Fortschritt niemals zu einem Ende gelangen.« (De rerum originatione radicali, GP VII, S. 308) 56 Essais de Théodicée, II, § 202, GP VI, S. 237: »Outre qu’on pourroit dire que toute la suite des choses à l’infi ni peut être la meilleure qui soit possible, quoyque ce qui existe par tout l’univers dans chaque partie du temps ne soit pas le meilleur.« 57 Dirk Evers: Gott und mögliche Welten, S. 58, vergleicht die Leibniz vorschwebende »Kalkulation des Optimums der möglichen Welten« sehr treffend mit der »Bestimmung des Maximums einer nicht-linearen Kombination von multi-faktoriellen Gleichungen«, zu der »mathematische Hilfsmittel« wie die von Leibniz entwickelte »Infi nitesimalrechnung« nötig sind. 58 Die genaue Art, nach der Leibniz Gottes Wahl des Optimum modelliert, ist in der Leibnizforschung umstritten. Eine hervorragende Diskussion jüngerer Forschungsmeinungen bietet Markku Roinila: Leibniz on Rational Decision-Making, S. 19–86. 59 Essais de Théodicée, II § 225, GP VI, S. 252: »La sagesse de Dieu, non contente d’embrasser tous les possibles, les penetre, les compare, les pese les uns contre les autres, pour en estimer les degrés de perfection ou d’imperfection, le fort et le faible, le bien et le mal: elle va même au delà des combinaisons fi nies, elle en fait une infi nité d’infi nies, c’est à dire une infi nité de suites possibles de l’univers, dont chacune contient une infi nité de créatures; et par ce moyen la Sagesse Divine distribue tous les possibles qu’elle avoit déjà envisagés à part, en autant de systèmes universels, qu’elle compare encor entre eux: et le résultat de toutes ces comparaisons et reflexions est le choix du meilleur d’entre tous ces systemes possibles, que la sagesse fait pour satisfaire pleinement à la bonté; ce qui est justement le plan de l’univers actuel. Et toutes ces operations de 150 | hubertus busche

l’entendement Divin, quoyqu’elles ayent entre elles un ordre et une priorité de nature, se font tousjours ensemble, sans qu’il y ait entre elles aucune priorité de temps.« 60 Von jener »rerum series, per quam plurimum existit, seu series omnium possibilium maxima« gilt: »Haec etiam series sola est determinata, ut ex lineis recta, ex angulis rectus, ex figuris maxime capax, nempe circulus vel sphaera. Et uti videmus liquida sponte naturae colligi in guttas sphaericas, ita in natura universi series maxime capax existit« (Hauptlehrsätze ohne Überschrift, GP VII, S. 290). 61 Essais de Théodicée, I § 10, GP VI, S. 108. 62 An des Bosses , 7. September 1711, GP II, S. 424 f.: »Meo judicio, nisi daretur series optima, nihil plane crearet Deus quia non potest agere praeter rationem, aut praeferre minus perfectum alteri perfectiori.« 63 Leibniz fasst diese drei in der Trinität wurzelnden Begründungsebenen sehr bündig zusammen in den Essais de Théodicée, I § 7, GP VI, S. 106 f. 64 Animadversiones in partem generalem principiorum Cartesianorum, ad I 13, GP IV, S. 358. 65 Ebd., S. 392. 66 So der Herausgeber C. I. Gerhardt in GP VII, S. 253. Die Schrift , die noch nicht in A kritisch ediert ist, fi ndet sich in GP VII, S. 289–291. 67 »(1) Ratio est in Natura, cur aliquid potius existat quam nihil. Id consequens est magni illius principii, quod nihil fiat sine ratione, quemadmodum etiam cur hoc potius existat quam aliud rationem esse oportet. (2) Ea ratio debet esse in aliquo Ente Reali seu causa. Nihil aliud enim causa est, quam realis ratio, neque veritates possibilitatum et necessitatum (seu negatarum in opposito possibilitatum) aliquid efficerent nisi possibilitates fundarentur in re actu existente. (3) Hoc autem Ens oportet necessarium esse, alioqui causa rursus extra ipsum quaerenda esset cur ipsum existat potius quam non existat, contra Hypothesin. Est scilicet Ens illud ultima ratio Rerum, et uno vocabulo solet appellari Deus. (4) Est ergo causa cur Existentia praevaleat non-Existentiae, seu Ens necessarium est Existentificans. (5) Sed quae causa facit ut aliquid existat, seu ut possibilitas exigat existentiam, facit etiam ut omne possibile habeat conatum ad Existentiam, cum ratio restrictionis ad certa possibilia in universali reperiri non possit. (6) Itaque dici potest Omne possibile Existiturire, prout scilicet fundatur in Ente necessario actu existente, sine quo nulla est via qua possibile perveniret ad actum. (7) Verum hinc non sequitur omnia possibilia existere: sequeretur sane si omnia possibilia essent compossibilia. (8) Sed quia alia aliis incompatibila sunt, sequitur quaedam possibilia non pervenire ad existendum, suntque alia aliis incompatibilia, non tantum Die letzte Warum-Frage | 151

respectu ejusdem temporis, sed et in universum, quia in praesentibus futura involvuntur. (9) Interim ex confl ictu omnium possibilium existentiam exigentium hoc saltem sequitur, ut Existat ea rerum series, per quam plurimum existit, seu series omnium possibilium maxima. (10) Haec etiam series sola est determinata, ut ex lineis recta, ex angulis rectus, ex figuris maxime capax, nempe circulus vel sphaera. Et uti videmus liquida sponte naturae colligi in guttas sphaericas, ita in natura universi series maxime capax existit. (11) Existit ergo perfectissimum, cum nihil aliud [perfectio] sit, quam quantitas realitatis. (12) Porro perfectio non in sola materia collocanda est, seu in replente tempus et spatium, cujus quocunque modo eadem fuisset quantitas, sed in forma seu varietate. (13) Unde jam consequitur materiam non ubique sibi similem esse, sed per formas reddi dissimilarem, alioqui non tantum obtineretur varietatis quantum posset. Ut taceam quod alibi demonstravi, nulla alioque diversa phaenomena esse extitura. (14) Sequitur etiam eam praevaluisse seriem, per quam plurimum oriretur distinctae cogitabilitatis. […]« 68 De ratione cur haec existant potius quam alia, A VI 4/B, S. 1634 f. Die in eckigen Klammern gesetzten Absatzzählungen wurden hinzugefügt. 69 »Quae ratio facit ut haec existant potius quam alia, facit etiam ut potius aliquid existat quam nihil: Nam si ratio reddatur cur haec existant, reddita etiam erit cur aliqua existant. Haec ratio est in praevalentia rationum ad existendum, prae rationibus ad non existendum seu ut verbo dicam in Existiturientia Essentiarum, ita ut existitura sint quae non impediantur. Neque enim si nihil existituriret ratio esset existendi. Jam porro ratio reddi non potest, cur unum possibile pro alio sit existituriens. Posita vero existiturientia omnium, sequitur existentia quorundam, cum enim omnia coexistere non possint, sequitur existentia eorum per quae plurima coexistunt. […]« 70 »Hinc patet omne possibile tendere ad existendum ex se, sed per accidens impediri, nec esse alias rationes non existendi, nisi ex ipsis existendi rationibus conjunctis natas.« 71 »Caeterum existituritionis essentiarum oportet esse radicem existentem, a parte rei; alioqui nihil prorsus erit in Essentiis nisi animi figmentum, et cum ex nihilo nil sequatur erit perpetuum et necessarium Nihil. Haec autem radix non potest alia esse quam Ens necessarium, fundus essentiarum, fons Existentiarum, id est Deus, agens perfectissime, quia omnia in ipso et ex ipso; adeoque voluntarie, sed tamen ad id quod optimum est determinate; eligit ergo id ipsum quod postulat major perfectio in concursu [existiturientium], qui ipse concursus per hoc ipsum, quod talis primae causae sapientia et potentia est, ut locum det vimque praestet summae rationi, realis est et effectum 152 | hubertus busche

habet. Neque enim nisi in Deo et per Deum Essentiae sibi viam faciunt ad existendum, ita ut in Deo sit realitas essentiarum, seu aeternarum veritatum, et productio existentiarum, seu contingentium veritatum.« 72 De rerum originatione radicali, GP VII, S. 302–308. Die in eckigen Klammern gesetzten Absatzzählungen wurden hinzugefügt. Die Übersetzung folgt, von einigen Verbesserungen abgesehen, Herbert Herring in: G. W. Leibniz: Fünf Schriften zur Logik und Metaphysik, S. 39–50. 73 GP VII, S. 302: »Praeter Mundum seu Aggregatum rerum fi nitarum datur Unum aliquod Dominans, non tantum ut in me anima, vel potius ut in meo corpore ipsum ego, sed etiam ratione multo altiore. Unum enim dominans Universi non tantum regit Mundum sed et fabricat seu facit, et mundo est superius et ut ita dicam extramundanum, estque adeo ultima ratio rerum. Nam non tantum in nullo singulorum, sed nec in toto aggregato serieque rerum inveniri potest sufficiens ratio existendi.« 74 GP VII, S. 303: »Rationes igitur Mundi latent in aliquo extramundano, differente a catena statuum seu serie rerum, quarum aggregatum mundum constituit. Atque ita veniendum est a physica necessitate seu Hypothetica, quae res Mundi posteriores a prioribus determinat, ad aliquid quod sit necessitatis absolutae, seu Metaphysicae, cujus ratio reddi non possit. Mundus enim praesens physice seu hypothetice, non vero absolute seu Metaphysice est necessarius. Nempe posito quod semel talis sit, consequens est, talia porro nasci. Quoniam igitur ultima radix debet esse in aliquo, quod sit Metaphysicae necessitatis, et ratio existentis non est nisi ab existente, hinc oportet aliquod existere Ens unum Metaphysicae necessitatis, seu de cujus essentia sit existentia, atque adeo aliquid existere diversum ab Entium pluralitate seu Mundo, quem Metaphysicae necessitatis non esse concessimus ostendimusque.« 75 Ebd.: »Ut autem paulo distinctius explicemus, quomodo ex veritatibus aeternis sive essentialibus vel metaphysicis oriantur veritates temporales, contingentes sive physicae, primum agnoscere debemus eo ipso, quod aliquid potius existit quam nihil, aliquam in rebus possibilibus seu in ipsa possibilitate vel essentia esse exigentiam existentiae, vel (ut sic dicam) praetensionem ad existendum et, ut verbo complectar, essentiam per se tendere ad existentiam. Unde porro sequitur, omnia possibilia, seu essentiam vel realitatem possibilem exprimentia, pari jure ad essentiam tendere pro quantitate essentiae seu realitatis, vel pro gradu perfectionis quem involvunt; est enim perfectio nihil aliud quam essentiae quantitas.« 76 GP VII, S. 303 f.: »Hinc vero manifestissime intelligitur ex infi nitis possibilium combinationibus seriebusque possibilibus existere eam, per quam plurimum essentiae seu possibilitatis perducitur ad existendum. Semper scilicet est in rebus principium determinationis quod a Maxime Minimove petendum est, ut nempe maximus praestetur effectus, minimo ut sic dicam sumtu. Et hoc loco tempus, locus, aut ut verbo dicam, receptivitas vel capacitas mundi haberi potest pro sumtu sive terreno, in quo quam commodissime est Die letzte Warum-Frage | 153

aedificandum, formarum autem varietates respondent commoditati aedificii multitudinique et elegantiae camerarum. Et sese res habet ut in ludis quibusdam, cum loca omnia in Tabula sunt replenda secundum certas leges, ubi nisi artificio quodam utare, postremo spatiis exclusus iniquis, plura cogeris loca relinquere vacua, quam poteras vel volebas. Certa autem ratio est per quam repletio maxima facillime obtinetur. Uti ergo si ponamus decretum esse ut fiat triangulum, nulla licet alia accidenti determinandi ratione, consequens est, aequilaterum prodire; et posito tendendum esse a puncto ad punctum, licet nihil ultra iter determinat, via eligetur maxime facilis seu brevissima; ita posito semel ens praevalere non-enti, seu rationem esse cur aliquid potius extiterit quam nihil, sive a possibilitate transeundum esse ad actum, hinc, etsi nihil ultra determinetur, consequens est, existere quantum plurimum potest pro temporis locique (seu ordinis possibilis existendi) capacitate, prorsus quemadmodum ita componuntur tessellae ut in proposita area quam plurimae capiantur.« 77 GP VII, S. 304: »Ex his jam mirifice intelligitur, quomodo in ipsa originatione rerum Mathesis quaedam Divina seu Mechanismus Metaphysicus exerceatur, et maximi determinatio habeat locum. Uti ex omnibus angulis determinatus est rectus in Geometria, et uti liquores in heterogeneis positi sese in capacissimam figuram nempe sphaericam componunt, sed potissimum uti in ipsa Mechanica communi pluribus corporibus gravibus inter se luctantibus talis demum oritur motus, per quem fit maximus descensus in summa. Sicut enim omnia possibilia pari jure ad existendum tendunt pro ratione realitatis, ita omnia pondera pari jure ad descendendum tendunt pro ratione gravitatis, et ut hic prodit motus, quo continetur quam maximus gravium descensus, ita illic prodit mundus, per quem maxima fit possibilium productio.« 78 Ebd.: »Atque ita jam habemus physicam Necessitatem ex Metaphysica: etsi enim Mundus non sit metaphysice necessarius, ita ut contrarium implicet contradictionem seu absurditatem logicam, est tamen necessarius physice vel determinatus ita ut contrarium implicet imperfectionem seu absurditatem moralem. Et ut possibilitas est principium Essentiae, ita perfectio seu Essentiae gradus (per quem plurima sunt compossibilia) principium existentiae. Unde simul patet quomodo libertas sit in Autore Mundi, licet omnia faciat determinate quia agit ex principio sapientiae seu perfectionis. Scilicet indifferentia ab ignorantia oritur et quanto quisque magis est sapiens, tanto magis ad perfectissimum est determinatus.« 79 GP VII, S. 304 f.: »At (inquies) comparatio haec Mechanismi cujusdam determinantis Metaphysici cum physico gravium corporum, etsi elegans videatur, in eo tamen deficit quod gravia nitentia vere existunt, at possibilitates seu essentiae ante vel praeter existentiam sunt imaginariae seu fictitiae, nulla ergo in ipsis quaeri potest ratio existendi. Respondeo, neque essentias istas, neque aeternas de ipsis veritates quas vocant, esse fictitias, sed existere in quadam ut sic dicam regione idearum, nempe in ipso Deo, essentiae omnis existentiae154 | hubertus busche

que caeterorum fonte. Quod ne gratis dixisse videamur, ipsa indicat existentia seriei rerum actualis. Cum enim in ea ratio non inveniatur ut supra ostendimus, sed in metaphysicis necessitatibus seu aeternis veritatibus sit quaerenda, existentia autem non possint esse nisi ab existentibus, ut jam supra monuimus; oportet aeternas veritates existentiam habere in quodam subjecto absolute vel Metaphysice necessario, id est in Deo, per quem haec, quae alioqui imaginaria forent (ut barbare sed significanter dicamus) realisentur.« 80 GP VII, S. 305: »Et vero reapse in Mundo deprehendimus omnia fieri secundum leges aeternarum veritatum non tantum Geometricas sed et Metaphysicas, id est non tantum secundum necessitates materiales, sed et secundum rationes formales; idque verum est non tantum generaliter in ea quam nunc explicavimus ratione Mundi existentis potius quam non existentis, et sic potius quam aliter existentis (quae utique ex possibilium tendentia ad existendum petenda est), sed etiam ad specialia descendendo videmus mirabili ratione in tota natura habere locum leges metaphysicas causae, potentiae, actionis, easque ipsis legibus pure geometricis materiae praevalere, quemadmodum reddendis legum motus rationibus magna admiratione mea deprehendi usque adeo, ut legem compositionis Geometricae conatuum, olim a juvene, cum materialis magis essem, defensam, denique deserere sim coactus, ut alibi a me fusius est explicatum.« 81 Ebd.: »Ita ergo habemus ultimam rationem realitatis tam essentiarum quam existentiarum in uno, quod utique Mundo ipso majus, superius anteriusque esse necesse est, cum per ipsum non tantum existentia, quae Mundus complectitur, sed et possibilia habeant realitatem. Id autem non nisi in uno fonte quaeri potest ob horum omnium connexionem inter se. Patet autem ab hoc fonte res existentes continue promanare ac produci productasque esse, cum non appareat cur unus status Mundi magis quam alius, hesternus magis quam hodiernus ab ipso fluat. Patet etiam quomodo DEus non tantum physice, sed et libere agat, sitque in ipso rerum non tantum efficiens sed et fi nis, nec tantum ab ipso magnitudinis vel potentiae in machina universi jam constituta, sed et bonitatis vel sapientiae in constituenda, ratio habeatur.« 82 Zur Rekonstruktion dieses Lehrstücks vergleiche die unterschiedlichen Deutungen von David Blumenfeld: Leibniz’s Theory of Striving Possibles, und Christopher John Shields: Leibniz’s Doctrine of the Striving Possibles. 83 Martin Heidegger : Nietzsche, Bd. II, S. 448. 84 George MacDonald Ross: Leibniz and the Origin of Things, S. 245. 85 Arthur O. Lovejoy : Die große Kette der Wesen, S. 215. 86 Discours de métaphysique, § 36, A VI 4/B, S. 1587,8; ähnlich § 2, ebd., S. 1532,6–10. 87 Hypothesis physica nova, A VI 2, S. 238,2: »[…] nisi causa universalis ubique praesens, id est circulatio aetheris accedat«. 88 Zur Erläuterung dieser naturphilosophischen Hypothese vgl. Hubertus Busche: Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum, bes. S. 406–448. Die letzte Warum-Frage | 155

De ipsa natura, GP IV, S. 505. Hypothesis physica nova, A VI 2, S. 225,9 f. (so auch an de Carcavy, 22. Juni [?] 1671, A II 21, S. 211,8): »[…] Aether (is enim fortasse est ille Spiritus Domini, qui super aquis ferebatur)«. 91 An den Herzog Rudolf August von Braunschweig-Wolfenbüttel, 2. Januar 1697. In: Gottfried Wilhelm Leibniz: Deutsche Schriften, Bd. I, S. 401, 403, 404. 92 Kabbalistische Hintergrundvorstellungen werden bei Leibniz seit einiger Zeit vermutet; vgl. Allison P. Coudert: Leibniz and the Kabbalah. Obwohl man hier sehr vorsichtig sein muss, sprechen doch zahlreiche Indizien für Leibniz’ Verwurzelung in der sog. christlichen Kabbala. So verwendet schon der frühe Leibniz z. B. affi rmativ die Vokabel »Aura«, die in der Kabbala für den Lichtglanz Gottes steht. Ein Erklärungsziel seiner Privatnotiz von 1669 für den Plan einer Apologie des Christentums gegen Atheisten und Sektierer lautet: »Der Ursprung des ersten menschlichen Geistes, erklärt durch ein der göttlichen Aura entrissenes Teilchen.« (Demonstrationum catholicarum conspectus, A VI 1, S. 496,7: »Origo mentis humanae primae explicata per decerptam divinae particulam aurae.«) Zur Deutung der creatio ex nihilo in der christlichen Kabbala siehe auch den Beitrag von Stefan Heßbrüggen-Walter in diesem Band. 93 Erste Ansätze zur Rekonstruktion dieser Lehre fi nden sich in Hubertus Busche: Monade und Licht; ders.: Einführung; ders.: Präetablierte Harmonie und Monadenlehre; ders.: Vinculum substantiale. 94 Gegen Descartes, 1702, GP IV, S. 395: »[…] corpora rariora spongiae naturam habent, ita ut alia subtilior materia eorum poros perlabatur quae corpori non computatur […].« 95 An des Bosses , 11. März 1706, GP I, S. 306: »Materiam primam […] quod non in extensione, sed in extensionis exigentia consistit […].« 96 Unicum Opticae, Catoptricae et Dioptricae Principium. In: Acta eruditorum, Juni 1682, S. 185–190, hier S. 189. 97 Siehe oben das Ende des längeren Zitats zu Anm. 59. 98 Essais de Théodicée, II, § 147, GP VI 197; ähnlich schon De conatu et motu, sensu et cogitatione (1671[?]), A VI 2, S. 285,7 f. 99 Essais de Théodicée, I, § 31, GP VI, S. 121: »pere des lumieres«. 89

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Bibliographie

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– Markus Gabriel –

Schellings Antwort auf die Grundfrage der Metaphysik in der Urfassung der Philosophie der Offenbarung 1. Einleitung Gegenwärtig kommt es aus allen Traditionen der Philosophie heraus zu einer Renaissance der Metaphysik. Es verwundert dabei nicht, dass auch die von Leibniz als solche apostrophierte Grundfrage der Metaphysik, warum es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts (im Folgenden kurzerhand = die Grundfrage), auf neue Weise wiederkehrt. Dies gilt sowohl für die Entwürfe des so genannten spekulativen Realismus im Werk Alain Badious, Quentin Meillassoux’ oder neuerdings Tristan Garcias als auch für die analytische Metaphysik, die spätestens seit den Arbeiten David Lewis’ und Peter van Inwagens die Grundfrage wieder aufgegriffen und ihre Begründungslasten intensiv diskutiert hat.1 Der Ausgangspunkt sowohl im spekulativen Realismus als auch in der analytischen Metaphysik orientiert sich dabei im Unterschied zur klassischen Metaphysik von den Eleaten bis Hegel an einem primär physikalischen Modell der Grundfrage. Die Frage wird so verstanden, dass sie gleichsam nach der Initialzündung des Urknalls oder – in einigen Spekulationen im Umkreis der inflationären Kosmologie und der Multiversum-Hypothese – nach den vielen Initialzündungen fragt, die jeweils eine physikalisch beschreibbare Ordnung hervorbringen. Wenn man die Grundfrage vor diesem Hintergrund formuliert, geht es ihr vornehmlich um das Dasein physikalisch messbarer und in diesem Sinne beobachtbarer Strukturen. Sie fragt dann im Wesentlichen, warum es etwas physikalisch Beobachtbares gibt, womit häufig schon irgendeine Spielart des neuzeitlichen, an der Physik ausgerichteten naturalistischen Monismus unterstellt ist, dessen Ontologie implizit oder explizit darauf verpflichtet ist, dass alles, was es gibt, im Gegenstandsbereich unserer besten naturwis| 159

senschaftlichen Theorien, paradigmatisch der Physik, vorkommen muss.2 Dagegen bezieht der Deutsche Idealismus bereits bei Kant explizit Stellung, der immerhin noch weitgehend von einem naturalistischen Monismus für die Welt der Erscheinungen ausgeht, diese allerdings schon erkenntniskritisch restringiert und damit zumindest die Möglichkeit einer auf Freiheit basierenden Ordnung, dem »Reich der Zwecke«3, eröffnet. Fichte, Schelling und Hegel sind sich dagegen darin einig, dass der Ausgangspunkt der Metaphysik nicht darin bestehen kann, dass wir ausschließlich oder auch nur paradigmatisch die Bedingungen untersuchen, unter denen ein an sich erkenntnis- und lebensfeindliches Universum Strukturen ausbildet, die dann irgendwann in seiner Ausdehnungs- und Strukturgeschichte dazu führen, dass mehr oder weniger zufällig menschliche Beobachter zu der Erkenntnis gelangen, dass sie an diesem Ort eigentlich nichts zu suchen haben. Insbesondere Schelling geht sogar so weit, den Menschen als das Ziel der gesamten unorganischen und organischen Evolution anzusehen.4 Er behauptet damit wohlgemerkt nicht, dass es eine Teleologie gibt, die sich notwendigerweise vom Urknall bis hin zur Menschheitsgeschichte entfaltet. Vielmehr geht Schelling davon aus, dass der Mensch sich durchaus einem »Urzufall«5 verdankt, d. h. einem Umstand, der eintreten konnte oder nicht. Nachdem er aber offensichtlich eingetreten ist, ist die Frage legitim, welche ontologischen Bedingungen für genau diesen Urzufall in Anspruch genommen werden müssen. Und dabei zeigt sich, dass diese Bedingungen über die naturalistische Perspektive hinausschießen, die in einer an der Physik orientierten Formulierung der Grundfrage vorausgesetzt ist. Der Mensch geht über die Natur hinaus, wenn er auch als Lebewesen in ihr verankert ist. Schelling stellt die Grundfrage also vor dem Hintergrund der Annahme, dass der Mensch über die Natur hinausgeht. Dies bedeutet in seiner Lesart, dass der Mensch ontologische Bestimmtheit hervorbringt, die durch keine naturalistische Beschreibung abgedeckt ist. Solche Bestimmtheit komme nur durch Freiheit in die Welt, die wir ganz alltäglich an uns selbst und an anderen als einen Überschuss über das Gegebene erfahren. Wenn auch stets Bedingungen unserer Freiheit bestehen, die in den Bereich des Natürlichen hineinragen, ragt die Freiheit über diesen gleichwohl 160 | markus gabriel

hinaus. Dies illustriert Schelling immer wieder anhand der Analyse von Handlungen, deren Realität darin besteht, dass sie einen deutungsoffenen Sinn und damit ontologische Unbestimmtheit in die Welt bringen. Eine Beantwortung der Grundfrage, die den Urzufall außer Betracht lässt, dass es menschliche Bestimmtheit – sinnvolle und deutungsoffene Handlungen – gibt und nicht vielmehr nur unorganische und organische Materie, bleibt in Schellings Optik konstitutiv unvollständig. Deswegen erklärt er an einer berühmten Stelle seiner späten Vorlesungen zur Einleitung in die Philosophie der Offenbarung: »Weit entfernt also, daß der Mensch und sein Thun die Welt begreiflich mache, ist er selbst das Unbegreiflichste, und treibt mich unausbleiblich zu der Meinung von der Unseligkeit alles Seyns, einer Meinung, die in so vielen schmerzlichen Lauten aus alter und neuer Zeit sich kundgegeben. Gerade Er, der Mensch, treibt mich zur letzten verzweifungsvollen Frage: warum ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?«6

Schellings Motiv, die Grundfrage an die Anthropologie zu binden, besteht darin, dass Menschen Strukturen (Artefakte, Handlungen, Texte, philosophische Theorien usw.) hervorbringen, die nicht auf ihre Vorgeschichte reduziert werden können. In diesem Zusammenhang gehört die Grundfrage zum Repertoire einer Theorie der Kreativität. Schelling hat die Grundfrage während verschiedener Schaffensphasen explizit wiederholt formuliert.7 Seine gesamte Philosophie lässt sich als Antwort auf diese Frage rekonstruieren. Schon der frühe Schelling hat Kants Theorie synthetischer Urteile a priori als Antwort auf die Grundfrage gesehen und zeit seines Lebens bringt er die Frage in immer wieder variantenreichen Anläufen mit Kant in Verbindung.8 Auch und v. a. der anthropologische Ausgangspunkt Schellings lässt sich als Radikalisierung Kants verstehen, der die Frage nach dem Menschen bekanntlich ebenfalls als die Hauptfrage der Philosophie angesehen hat.9 Für die folgende Rekonstruktion von Schellings Antwort auf die Grundfrage in der Urfassung der Philosophie der Offenbarung (im Folgenden = Urfassung) gilt es, die Frage stets so zu verstehen, dass sie keine faktisch von uns anerkannte Bestimmtheit a priori – durch die Wahl einer reduktionistisch orientierten ErklärungsstraSchellings Antwort auf die Grundfrage der Metaphysik | 161

tegie – ausschließt. Zu fragen, warum überhaupt etwas ist, schließt für Schelling ein zu fragen, warum überhaupt so etwas wie Vernunft und Freiheit existiert, die wir als Prärogativ des Menschen in Anspruch nehmen. Schlösse man dies aus, abstrahierte man auf unzulässige Weise von Tatsachen, mit denen wir uns beständig konfrontiert sehen. In diesem Sinne akzeptiert Schelling auf eine originelle (und unorthodoxe) Weise Kants These vom »Faktum der Vernunft«10. Es gibt Vernunft und Freiheit, und die Frage lautet, unter welchen Bedingungen die damit in die Welt kommende reflexive Bestimmtheit möglich ist. Wenn wir uns die Grundfrage stellen, thematisiert sich die Welt selbst über einige ihrer Bewohner, womit eine neue Bestimmtheit hinzukommt, die wir nicht ignorieren können.11 Die Grundfrage ohne Reflexion auf die Frage selbst zu stellen, nennt Schelling seit seinen frühen Schriften kurzum ›Dogmatismus‹, dem er den ›Kritizismus‹ entgegenstellt, der nicht nur metaphysische Fragen stellt, sondern sich immer auch fragt, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit solche Fragen gestellt werden können. Anders als Kant oder Fichte versteht Schelling diese Bedingungen selbst als ontologische: Der Fragende existiert, so dass es ontologische Bedingungen der transzendentalen Reflexion geben muss.12 Hinter Schellings Version der Grundfrage und seinen facettenreichen Antwortversuchen steht der folgende Gedankengang, der auch für die Rekonstruktion der bisher zu wenig beachteten so genannten Urfassung der Philosophie der Offenbarung entscheidend ist. Schelling akzeptiert, anders als viele gegenwärtige Denker, die an Kant anschließen, sowohl Kants These der Faktizität als auch seine These der Kontingenz der Vernunft.13 Die Faktizität der Vernunft entdecken wir dadurch, dass wir in der »transzendentalen Reflexion«14 auf unseren wahrheitsfähigen Weltzugang feststellen, dass wir mit einer bestimmten Registratur ausgestattet sind. Diese Registratur, die Vernunft, besteht Kant zufolge bekanntlich aus Kategorien, den zwei Stämmen der Erkenntnis, den Vernunftideen usw. Die Vernunft findet sich mit dieser Ausstattung vor und verteidigt deren Wahrheitsfähigkeit gegen den skeptischen Einspruch, die Ausstattung genüge nicht für unseren Weltzugang, sondern stünde vielmehr wie ein Zerrglas zwischen uns und der Wirklichkeit. Kant versucht auf diese Weise gegen verschiedene Formen des Skeptizis162 | markus gabriel

mus zu zeigen, dass die Vernunft wahrheitsfähig ist.15 Um dies darzulegen, nimmt er an, dass ›Sein‹ letztlich eigentlich bedeutet, dass etwas im »Feld möglicher Erfahrung«16 vorkommt. »Sein« ist Kant zufolge kein »reales Prädicat«, sondern der Umstand, dass das Feld möglicher Erfahrung nicht leer ist, was er als »Position«17 bezeichnet. Das Feld möglicher Erfahrung ist uns de facto aufgeschlossen, und Kant argumentiert dafür, dass unsere Bedingungen des Weltzugangs dafür sorgen, »daß der Mensch in die Welt passe«18, um eine berühmte Formulierung aufzugreifen. Die Vernunft ist dabei eben so, wie wir dies in transzendentaler Reflexion entdecken, sie ist selbst ein Faktum, das in der Welt vorkommt, ein Umstand, dem Kant nicht hinreichend Rechnung getragen hat, da er zumindest die theoretisch erkennbare Welt auf den Bereich möglicher Erfahrung einschränken wollte. Die Faktizität der Vernunft schließt bereits in Kants Analyse ein, dass es eine andere Form des Weltzugangs geben könnte, die insbesondere an Gott, aber auch an Heiligen oder Außerirdischen, den »Bewohnern anderer Gestirne«19, erörtert wird. An einigen Stellen geht Kant sogar so weit, mit einer »unbekannten Wurzel«20 zu rechnen, welche die zwei Stämme, Spontaneität und Rezeptivität, verbinde. Schelling geht von dieser Beobachtung aus dazu über anzunehmen, dass auch die Vernunft anders sein könnte, als sie uns erscheint – eine Annahme, die man durchaus noch als Kantisch einstufen kann. In ihrer Selbstzuwendung entdeckt die Vernunft, dass sie selbst in ihre Erscheinung und in sich selbst als potentielles Ding an sich unterschieden werden kann. Wenn ›Erscheinung‹ im minimalen Sinne nicht mehr bedeutet als ›Gegenstand wahrheitsfähiger Gedanken‹, dann ist auch die Vernunft in ihrer transzendentalen Selbstzuwendung eine Erscheinung. Ist sie aber eine Erscheinung, stellt sich die Frage, was es bedeuten würde, eine Vernunft an sich vorauszusetzen. Die Vernunft und damit die gesamte Welt der Erscheinungen, das Feld möglicher Erfahrung, hat selbst einen Ursprung. Sie findet sich in einer Umgebung vor, die sie möglicherweise prinzipiell nicht durchdringen kann, die sie aber voraussetzen muss, wie Kant in Schellings Augen gezeigt hat. Vor diesem Hintergrund rückt Schelling die Frage der »Phänomenalisierung«21 ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Wie kommt es dazu, dass innerhalb des Bereichs der Schellings Antwort auf die Grundfrage der Metaphysik | 163

Dinge an sich eine der Vernunft zugängliche Welt etabliert wird? »Warum ist denn Vernunft und nicht Unvernunft?«22 Wie stellt es die Natur an, dass sie sich in Erscheinung und Ding an sich verdoppelt – was selbst die Zwei-Aspekte-Theorie erklären muss, die annimmt, dass Erscheinung und Ding an sich zwei Aspekte desselben Gegenstandsbereichs sind? Kant hinterfragt den Dualismus von Erscheinung und Ding an sich nicht noch einmal, da die Faktizität der Vernunft sein Ausgangspunkt ist. Je nach Lesart des transzendentalen Idealismus führt dies aber in eine skeptische oder nolens volens solipsistische Position. Um genau dieser Sackgasse auszuweichen, stellt Schelling die Grundfrage. Diese versteht er entsprechend als eine Theorie der Phänomenalisierung des Dings an sich. Wenn Schelling fragt, warum es überhaupt etwas gibt und nicht nichts, liegt der Akzent auf dem ›Etwas‹. Denn ›Etwas‹ ist etwas Bestimmtes, irgendetwas im Unterschied zu irgendetwas Anderem. Bestimmtheit kommt Kant zufolge dadurch zustande, dass es Urteile gibt, was Schelling antisubjektivistisch wendet und an die Stelle der noch psychologisch klingenden Urteilslehre eine Theorie der Rationalität setzt. Unter welchen Bedingungen ist eine Rationalität wahrheitsfähig, die sich selbst als Erscheinung eines Dings an sich versteht? Da das Thema der Grundfrage bei Schelling so umfassend ist, dass man sein gesamtes Œuvre als Antwort verstehen könnte, beschränke ich mich im Folgenden auf die Vorlesungen 4–11 der Urfassung der Philosophie der Offenbarung, in denen Schelling auf kondensierte Weise eine ausgesprochen originelle Antwort entwickelt, die bisher kaum bekannt, geschweige denn systematisch rekonstruiert ist. Im Zentrum dieser Vorlesungen steht dabei eine Theorie der logischen Zeit. Während viele Urteilstheorien bis heute von der Metaphorik des logischen Raums ausgehen und Urteile über ihren propositionalen bzw. inferenziellen Gehalt verstehen, der sich in einem logischen Raum positioniert, versteht Schelling jedes Urteil als einen Übergang von Unbestimmtheit zu Bestimmtheit. In diesem Übergang befindet sich die vom Urteil zu erfassende Tatsache in einem logischen Sinne vor dem Urteil. Es wird in der Analyse der Wahrheitsfähigkeit des Urteils davon ausgegangen, dass das Urteil eine Tatsache erfasst oder beschreibt, die vor dem Urteil bereits bestand. Dies ist die ›logische Vergangenheit‹ des Urteils. Schelling 164 | markus gabriel

bezeichnet die logische Vergangenheit als »das, was vor dem Sein ist«23. Dabei versteht er ›Sein‹ im Sinne von Bestimmtheit immer als ›logische Gegenwart‹ und bringt dies v. a. in der Urfassung mit dem Eleatismus in Verbindung, der am Anfang der Geschichte der Metaphysik steht und die Wahrheit primär über logische Gegenwart, über das einmal gefällte und damit ewig wahre oder falsche Urteil rekonstruiert. Dem setzt Schelling neben der ›logischen Vergangenheit‹ auch und v. a. die ›logische Zukunft‹ entgegen. Diese kennzeichnet er ausdrücklich als das Zentrum und Thema seiner Spätphilosophie, weshalb er den Gottesnamen in Exodus 3,14 gegen die ontotheologische Tradition auch nicht präsentisch, sondern futurisch übersetzt.24 Man kann sagen, dass Schelling in seiner Spätphilosophie im Wesentlichen eine Theorie der logischen Zukunft vorgelegt hat. »Der Ausgangspunkt der Philosophie ist also das, was sein wird, das absolut Zukünftige: es ist also unsere Aufgabe, in die Wesenheit des absolut Zukünftigen einzudringen. Die Absicht der Philosophie ist, dieses Seins mächtig zu werden, um es zu begreifen, den Zauber desselben zu lösen. Jenseits des Seins kann die Philosophie nur antreffen, was sein wird; daher ist’s Aufgabe, das, was sein wird, und dessen Begriff zu bestimmen.«25

In meinem Beitrag beschränke ich mich weitgehend auf den metaphysischen Aspekt von Schellings später Theorie der logischen Zeit, bei dem Schelling nicht stehen bleibt, da er aus verschiedenen Gründen, die ich hier ausblenden werde, der Meinung ist, dass die Metaphysik in eine Geschichte des menschlichen Selbstbewusstseins übergehe, die sich nur in einer Philosophie der Mythologie und einer Philosophie der Offenbarung rekonstruieren lasse.26

2. Die Grundfrage in den Vorlesungen 4–11 der Urfassung der Philosophie der Offenbarung Wie im Deutschen Idealismus üblich beginnt auch Schelling in mehreren Anläufen mit dem Anfang. In der vierten Vorlesung der Urfassung definiert er ›Philosophie‹ und damit sein eigenes Unternehmen »als die schlechthin von vorne anfangende Wissenschaft«27. Schellings Antwort auf die Grundfrage der Metaphysik | 165

Die Philosophie fängt mit dem Anfang an. Dabei unterscheidet Schelling sogleich zwei Weisen, dies zu verstehen, eine subjektive und eine objektive. Die subjektive Voraussetzungslosigkeit der Philosophie bestehe darin, dass man sich »von Vorurteilen und der Angewöhnung falscher Denkverknüpfungen befreit«28. Dies entspricht in etwa der Cartesischen Maxime, einmal in seinem Leben alle Voraussetzungen aufzuheben und zu versuchen, einen radikalen Zweifel zu vollziehen.29 Die objektive Voraussetzungslosigkeit der Philosophie hingegen bestehe darin, dass wir voraussetzen, dass es eine absolute, und d. h. hier zunächst noch nicht auf bestimmte Urteilsklassen oder Gegenstandsbereiche eingeschränkte, Wahrheit gibt, was dem Aristotelischen Metaphysikbegriff entspricht. Die Einzelwissenschaften werden von Schelling in Anlehnung an die Aristotelische Definition der Philosophie als Betrachtung des Seienden als Seienden im Allgemeinen als Einschränkungen einer absoluten, d. h. hier maximal universalen, Wahrheit verstanden. Empirische oder mathematische Urteile beschreiben zwar, was vernünftig ist, d. h. für Schelling dasjenige, »was aus der eingesetzten Ordnung der Dinge folgt«30. Aber sie beschreiben damit nicht alles, was es gibt. Denn wir erfahren nicht nur, dass es Vernunft, sondern auch, dass es Freiheit gibt, was für Schelling im Unterschied zu Kant immer auch bedeutet, dass wir ein gewisses Maß an Unvernunft unterstellen müssen. Denn Freiheit sei nicht nur ein Vermögen der Vernunftrealisierung, sondern auch dasjenige Vermögen, das sich gegen die Vernunft entscheiden kann.31 Freiheit bestimmt Schelling im Unterschied zu Vernunft im Allgemeinen dadurch, dass sie eine teleologische Bewegung, d. h. ein Prozess ist, in dem eine Absicht realisiert werden soll, die nicht auch notwendigerweise erreicht wird. Eine solche teleologische Bewegung, d. h. eine Handlung, führt nicht notwendigerweise zum Ziel, was man daran erkennt, dass sie dennoch auch dann Sinn hätte, wenn sie unterwegs unterbrochen würde. Eine nicht zu ihrem Ziel führende Handlung ist immer noch eine Handlung.32 Wenn es aber nicht nur empirische Urteile gibt, die beschreiben, was geschehen ist, oder mathematische Urteile, die allgemeine, von unserem Wollen unabhängige Muster oder Strukturen beschreiben, sondern eben auch Urteile über Handlungen, dann können wir nicht schon voraussetzen, dass es nur Vernunft, nur Notwendigkeit, aber keine 166 | markus gabriel

Freiheit gibt. Mit einem Wort: Freiheit erkennt man am Scheitern, am Handlungsabbruch. Die objektive Voraussetzungslosigkeit der Philosophie besteht Schelling zufolge daher in einer grundsätzlich antireduktionistischen Methodologie. Die Philosophie unterstellt, dass es Handlungen gibt, die mit Sinn eine Absicht realisieren und die sich nicht ohne Weiteres ausschließlich als natürliche Prozesse etwa in einem kausal-nomologisch völlig geschlossenen Universum vollziehen. Diese Voraussetzung nennt Schelling »die objektive Weisheit«33. Damit meint er nicht, wie eine theologische Lesart vorschnell schließen könnte, dass wir Gottes Handeln in der Welt unterstellen, sondern vielmehr, dass wir anerkennen, dass es einiges gibt, das wir nur dadurch verstehen können, dass wir es als objektive Weisheit verstehen. Dazu gehören Handlungen. Wenn wir erkennen, dass jemand die Straße überquert, erkennen wir damit objektive Weisheit an, d. h. den Umstand, dass es einiges gibt, das wir nur unter Rekurs auf ein Wollen erklären können. »Die erste Voraussetzung der Philosophie ist, daß in dem Sein – in der Welt – Weisheit sei. Die Philosophie setzt ein Sein voraus, welches gleich anfangs mit Voraussicht, mit Freiheit, entsteht. Ich verlange Weisheit – heißt soviel – als ich verlange ein absichtlich gesetztes Sein. Die erste Erklärung der Philosophie setzt ein Sein voraus, welches gleich anfangs mit Absicht und Freiheit entstanden ist.«34

Schelling sagt hier also keineswegs, dass alles Sein mit Freiheit entsteht, was in der Tat zu einem absurden Anthropozentrismus oder gar Kreationismus führte. Seine Formulierungen sind erheblich raffinierter. Dies erkennt man deutlich am letzten Satz des Zitats. Der Ausdruck »die erste Erklärung der Philosophie« kann man nämlich sowohl als genitivus subiectivus als auch als genitivus obiectivus verstehen. Die Philosophie erklärt sich selbst, da auch die Philosophie »ein absichtlich gesetztes Sein« ist. Sie erklärt also nicht nur alltägliche Handlungen, sondern auch das Verfassen und Verstehen philosophischer Texte. Als Leser oder Hörer von Schellings Vorlesungen unterstellen wir implicite bereits eine objektive Weisheit, und d. h. hier nur, wir unterstellen, dass wir es mit einem intelligiblen, auf Verstehen angelegtem Sein, mit Sprache, zu tun haben. Denn »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache«35. Schelling Schellings Antwort auf die Grundfrage der Metaphysik | 167

treibt die Reflexivität auf die Spitze, indem man seine gesamten Ausführungen auch als Analyse ihrer eigenen Verstehbarkeit begreifen kann. Genau deswegen entwickelt er die philosophische Frage nach dem Anfang auch als eine Frage nach dem Anfang der Philosophie. Unmittelbar im Anschluss an das Zitat macht Schelling dies noch ausdrücklicher, indem er schreibt: »Nachdem dies ausgesprochen ist, ergibt sich gleich die anfängliche Stellung der Philosophie – und etwas anders und Allgemeines.«36 Die anfängliche Stellung der Philosophie ist ihre eigene Erklärung. Doch dabei bleibt sie nicht stehen. Philosophie ist gerade keine inhaltsleere Selbstbezüglichkeit, für die man keine Wahrheitsbedingungen angeben könnte. Denn auch die Philosophie ist fallibel, wie Schelling immer wieder einschärft, und steht damit unter Wahrheitsbedingungen. Nach dem oben angegebenen Kriterium wäre sie nicht frei, wenn sie prinzipiell nicht scheitern könnte und etwa nur selbstevidente Wahrheiten formulieren wollte. Die Freiheit der Philosophie besteht wie die Freiheit jeder Handlung darin, dass sie auch scheitern kann, und dies bedeutet, dass wir Wahrheitsbedingungen anerkennen müssen, die potentiell über die Philosophie hinausgehen. In diesem Sinne geht sie über sich hinaus und bringt »etwas anders und Allgemeines« zum Ausdruck, was Schelling schon durch den Gedankenstrich von einer reinen Selbstbezüglichkeit abgrenzt. Die Philosophie versucht auf diese Weise, ihr eigenes Sein zu begreifen, das eine selbstbezügliche Instanz logischer Gegenwart darstellt. Denn in der Philosophie erkennen wir, dass Sätze Wahrheitsbedingungen haben, die den Sätzen in der Form von Tatsachen vorausgehen. Wir erkennen die logische Vergangenheit unserer eigenen logischen Gegenwart als solche an. Dies bedeutet aber, dass wir nicht »innerhalb des einmal gewordenen Seins«37, der logischen Gegenwart selbstbezüglicher philosophischer Gedanken, stehen bleiben können, sondern »über dieses hinausgehen« müssen, »um es zu begreifen«38. Um zu begreifen, was wir tun, wenn wir wahrheitsfähige Gedanken in der Form von Sätzen ausdrücken, müssen wir über die reine logische Gegenwart dieser Gedanken hinausgehen, sprich: Wahrheitsbedingungen in der Form logischer Vergangenheit unterstellen.

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»Es ist ein vulgärer, aber sehr treffender, Ausdruck in der deutschen Sprache: Er sucht hinter die Sache zu kommen – statt – er sucht sie zu begreifen, er sucht die Wahrheit zu ergründen. Die Philosophie will hinter das Sein kommen; ihr Gegenstand ist also nicht das Sein selbst, sondern das, was vor dem Sein ist, um eben das Sein zu begreifen. Hiermit habe ich Sie in den Anfang der Philosophie gestellt. Mögen Sie ihre Aufmerksamkeit auf das, was vor dem Sein ist, wenden.«39

An genau dieser Stelle bereitet Schelling seine vielleicht originellste Einsicht vor. Denn im nächsten Schritt führt er sofort eine Verschränkung von logischer Vergangenheit und logischer Zukunft herbei. Die Wahrheitsbedingungen eines Satzes, seine logische Vergangenheit, werden zu den Wahrheitsbedingungen eines Satzes, indem dieser ausgesprochen, d. h. hier: behauptet, wird. Der Satz ist damit die logische Zukunft der logischen Vergangenheit, genauso wie die Gegenwart im Allgemeinen die Zukunft der Vergangenheit ist. Schelling geht damit zunächst von einem Satz zu seinen Wahrheitsbedingungen, von der logischen Gegenwart in die Vergangenheit, und bewegt sich sodann von der Vergangenheit sozusagen zurück in die Zukunft, um die logische Gegenwart des Satzes als eine Realisierung seiner Vergangenheit zu verstehen. »Allein obgleich wir über das Sein hinausgegangen sind, betrachten wir doch das vor dem Sein Seiende in bezug auf das Sein selbst; wir betrachten, was das vor dem Sein Seiende hernach sein wird. Sonst gibt es kein anderes Mittel, das Sein zu erkennen. Wir wollen das Sein begreifen – also müssen wir das, was vor dem Sein ist, in bezug auf das künftige Sein begreifen.«40

Die Wahrheitsbedingungen eines Satzes bestimmen zumindest mit, was ein Satz überhaupt bedeutet. Sie werden trivialiter zu den Wahrheitsbedingungen des Satzes nur dadurch, dass der Satz selbst existiert, d. h. gedacht oder ausgesprochen wird. Doch diese Beziehung auf den Satz kann den Wahrheitsbedingungen nicht völlig äußerlich sein. Der Satz und seine Wahrheitsbedingungen können nicht prinzipiell durch eine unüberwindbare Kluft getrennt sein, wie dies für einige Sätze mit maximaler ›kosmologischer Reichweite‹ gelten mag. In Anlehnung an einen Begriff, den Crispin Wright eingeführt Schellings Antwort auf die Grundfrage der Metaphysik | 169

hat, kann man unter der ›kosmologischen Reichweite‹ eines Begriffs den Grad verstehen, in dem eine Erfassung des Begriffs als Begriff notwendig ist, um den Gegenstand zu erfassen, auf den sich der Begriff bezieht.41 Der physikalische Begriff ›Energie‹ hat etwa eine große kosmologische Reichweite, da er sich auf etwas bezieht, das ziemlich unabhängig davon ist, dass wir den Begriff der Energie als Begriff erfassen. Der Begriff des Begriffs hat dieser Auffassung zufolge hingegen eine minimale kosmologische Reichweite, da wir dasjenige, worauf er sich bezieht (und worunter er selbst fällt), nur erfassen, indem wir ihn als Begriff erfassen. Diese Arbeitsteilung ist prinzipiell mit der Formulierung von Sätzen mit maximaler kosmologischer Reichweite kompatibel, deren faktischen Wahrheitswert wir niemals evaluieren können.42 Schelling stellt sich nun die Aufgabe »zu erklären, wie ursprünglich ein Sein entstehen könne«43. Die Frage lautet nicht, wie ursprünglich alles Sein entstehen konnte, sondern wie überhaupt irgendein Sein entstehen kann. Das Sein, das Schelling untersucht, ist ein Sein, das durch Wollen zustande kommt. Denn nur ein solches Sein, sagt er, können wir erkennen. »Es ist unmöglich, ein Sein zu denken, ohne einen wirklichen Willen, ohne ein Wollen.«44 Wir müssen einen Satz denken wollen, damit wir ein Sein erkennen können. Das Wollen ist in diesem Sinn eine Voraussetzung dafür, dass ein Sein entsteht, nämlich das Sein des Satzes, das nachträglich eine Tatsachenstruktur als logische Vergangenheit voraussetzt. Diese logische Vergangenheit ist dabei nicht nur, wie Hegel sich einmal ausgedrückt hat, »zeitlos vergangene[s] Sein«45, sondern zugleich die Vergangenheit einer Zukunft; sie enthält die Wahrheitsbedingungen eines Satzes, der sich selbst vom Standpunkt dieser Vergangenheit aus bereits in der logischen Zukunft befindet. Auf diese Weise vollzieht Schelling nachträglich, oder wie er selbst sagt »post actum«46, nach, wie ein Sein, das Sein eines Satzes entsteht. Dazu gehört ein Wollen. Ein Wollen ist ein Übergang eines Willens zur Tat. Wir sind imstande, viele Überzeugungen zu haben, die wir noch nicht haben. Wir werden viele neue Überzeugungen haben und kommen in jedem Augenblick zu neuen Überzeugungen über noch niemals in dieser Form dagewesene Tatsachen. Die Fähigkeit, diese Überzeugungen zu synthetisieren, nennt Schelling ›Wille‹ und eine bestimmte Verpflichtung auf eine bereits bestehende Überzeugung 170 | markus gabriel

›Wollen‹. Es gibt demnach einiges, das ursprünglich entsteht, z. B. Sätze, von deren Wahrheit wir überzeugt sind. Auf diese Weise wird die Wirklichkeit, die Tatsachenstruktur, in unseren Willen einbezogen – ein Vorgang, den der späte Schelling als »Potentialisierung«47 bezeichnet. In den folgenden Vorlesungen entwickelt er den Begriff des ›rein Seienden‹, das er auch als das ›blind Seiende‹ bezeichnet. Darunter versteht er dasjenige, was Quentin Meillassoux vor einigen Jahren als ›Anzestralität‹ in die Debatte eingeführt hat, d. h. Tatsachen, die der Präsenz von Überzeugungen zeitlich vorausgehen, Tatsachen vor der Existenz irgendwelcher epistemischer Agenten überhaupt.48 Wenn etwas dazugehört, dann Tatsachen, die wir mit einigen physikalischen Aussagen beschreiben, z. B. Tatsachen über den Urknall oder die Inflation des Universums sowie vielleicht Tatsachen über die Entstehung unseres Planeten, sollte es im relevanten Zeitraum noch keine außerirdische Intelligenz gegeben haben. Verstehen wir unter einer ›modal robusten Tatsache‹ eine Tatsache, die auch dann bestanden hätte, wenn es niemals epistemische Agenten, also Wesen gegeben hätte, die überhaupt wahrheitsfähige Gedanken haben, kann man sagen, dass Schelling sich nicht fragt, unter welchen Bedingungen es Tatsachen geben kann, die modal robust sind. Vielmehr geht Schelling davon aus, dass es Wesen gibt, die sich Fragen stellen, zu denen wir als Leser von Texten und Denker von Gedanken gehören, und er stellt von dort aus die Frage, wie es zu einem Übergang von einer gleichsam ›epistemisch dunklen‹ Wirklichkeit, dem von ihm so genannten »rein Seienden«, zum »sein Könnenden« kommt. Schelling deutet insbesondere Parmenides und Spinoza, den er als eine Art Eleaten liest, als Theoretiker des rein Seienden. Die »eleatische Einheit« sei die Voraussetzung einer Wirklichkeit ohne epistemische Agenten, die Einführung reiner Wahrheitsbedingungen ohne entsprechende Aussagesätze. Nun haben aber nicht nur anzestrale Aussagesätze Wahrheitswerte und damit Wahrheitsbedingungen, sondern eben auch Sätze mit einer geringeren kosmologischen Reichweite.49 Genau diesen Umstand übersieht der Eleatismus, der zwar bereits mit der Selbstbezüglichkeit des Denkens und des Textes vertraut zu sein scheint, diese aber nicht als das logische Präsens versteht. Das logische Präsens des Eleatismus ist vielmehr das zeitlos Seiende. Doch selbst Sätze mit einer minimalen kosmoSchellings Antwort auf die Grundfrage der Metaphysik | 171

logischen Reichweite – wozu Sätze über Begriffe oder über Wahrheitsbedingungen zählen – haben Wahrheitsbedingungen. Auch diesen Sätzen geht eine logische Vergangenheit, rein Seiendes, voraus, das in diesem Fall Sätze beinhaltet. Die Wirklichkeit, die ein Aussagesatz über Aussagesätze entwirft, geht dem Aussagesatz voraus, will sagen: Selbst ein Satz über sich selbst, den wir erfassen, hat Wahrheitsbedingungen, die wir vielleicht nicht vollständig erfassen. Gerade dies zeigen die semantischen Paradoxien wie das Lügnerparadoxon oder, wenn man diesem Wahrheitsbedingungen absprechen will, selbstbezügliche Sätze vom Gödeltyp, die innerhalb eines formalen Systems aussagen sollen, dass es in diesem System Sätze gibt, die von sich selbst (als Resultat eines Beweises) aussagen, im besagten formalen System nicht beweisbar zu sein. Wenn aber auch Aussagesätze über Aussagesätze eine logische Vergangenheit (d. h. Wahrheitsbedingungen) haben, kann die Antwort auf die Grundfrage prinzipiell nicht in einer Ontologie bestehen, die genau dies ausschließt, indem sie die logische Vergangenheit auf eine bestimmte kosmologische Reichweite einschränkt, selbst wenn diese maximal ist, wie die kosmologische Reichweite des Urknalls. Man kann die Grundfrage nicht dadurch beantworten, dass man sich nur mit den Wahrheitsbedingungen einer bestimmten, eingeschränkten Menge von Aussagesätzen beschäftigt. Denn erstens existieren diese Aussagesätze selbst, und zweitens existieren immer auch Aussagesätze mit einer anderen kosmologischen Reichweite. Im Ausgang von dieser Beobachtung geht Schelling nun einen Schritt weiter. Er beschränkt sich nicht auf die ontologisch und semantisch gerechtfertigte Rettung der Freiheit des Willens, den er als ein epistemisches Vermögen der Überzeugungskoordinierung versteht. Von dort aus bestimmt er vielmehr »das Seiende selbst«50 schon als »das Überseiende«51. Schelling macht hier darauf aufmerksam, dass Begriffe wie »das Seiende selbst« oder »das rein Seiende« sich nur deswegen auf etwas beziehen, weil sie in Aussagesätzen mit Wahrheitsbedingungen vorkommen. Sie sind schon Elemente einer prädikativ bestimmten Umgebung. Daraus schließt er nicht im Stile Berkeleys, dass wir deswegen entweder keinen Zugang zum Seienden selbst hätten oder dieses mit unserem Zugang identifizieren sollten, sondern begründet vielmehr einen Begriffsrealismus: Der Begriff des Seienden ist selbst etwas Seiendes.52 Daraus folgt, 172 | markus gabriel

dass unsere Ontologie damit kompatibel sein muss, dass es überhaupt Ontologie gibt, d. h., dass epistemische Agenten die Grundfrage stellen – eine Bedingung, die nicht erfüllt ist, wenn man seine Ontologie ausschließlich über die Wahrheitsbedingungen von Aussagesätzen mit maximaler kosmologischer Reichweite konstruiert. Oder kurz gefasst: Die Wirklichkeit ohne Gedanken ist unvollständig, jedenfalls dann, wenn es Gedanken gibt. Sobald es Gedanken gibt, was mit der Grundfrage sichergestellt ist, kann der Begriff des ›rein Seienden‹ nicht mehr nach der logischen Vergangenheit anzestraler Sätze modelliert werden. Ob es uns gefällt oder nicht, wir sind auch da. »Eben dadurch verwandelt sich der tote Begriff dessen, was ist, in den lebendigen, einen Fortschritt möglich machenden, Begriff dessen, was sein wird.«53 Mit Schelling kann man unter ›Eleatismus‹ im Allgemeinen diejenige Antwort auf die Grundfrage verstehen, die das rein Seiende mit den Wahrheitsbedingungen anzestraler Sätze identifiziert. Dies nennt Schelling zu Beginn der neunten Vorlesung der Urfassung »das sinn = und begrifflose Sein«54, das er auch als »blindes« bzw. »totes Prinzip«55 bezeichnet. Der Eleatismus ist nicht imstande, den Übergang vom rein Seienden zu einer Handlung zu verstehen bzw. sein Grundbegriff ist das Resultat einer Abstraktion von der Tatsache, dass es sich um einen Grundbegriff einer metaphysischen Beantwortung der Grundfrage handelt. Schelling behauptet wohlgemerkt nicht, dass es keine anzestralen Sätze mit Wahrheitsbedingungen gibt. Er ist kein Korrelationist im Sinne Meillassoux’, der ›Korrelationismus‹ als die skeptisch-idealistische These definiert, wir hätten immer nur Zugang zur Relation von Sein und Denken, niemals aber zum Sein selbst.56 Gleichwohl behauptet Schelling, dass unsere Ontologie kompatibel mit ihrer eigenen Formulierung als Theorie sein muss. Und eine Ontologie gibt es nur unter der Bedingung, dass es epistemische Agenten gibt. Selbstbezügliche Aussagesätze, die im Allgemeinen über Wahrheitsbedingungen von Aussagesätzen sprechen und damit sich selbst mit betreffen, gehören ebenso zum Seienden selbst wie Mondkrater oder der Urknall. Entsprechend kann der Grundbegriff oder, wie Schelling sagt, ›das Prinzip‹ einer systematisch hinreichend begründeten Ontologie auch nicht so konstruiert werden, dass er bzw. es seine eigene Theoriefähigkeit ausschließt, ohne dass dies zu einer idealistischen oder konstruktiSchellings Antwort auf die Grundfrage der Metaphysik | 173

vistischen Übertreibung führen darf, die das Seiende selbst für eine Projektion unserer Aussagesätze auf das »sinn = und begrifflose Sein« hält. Genau diese doppelte Restriktion, die sich einerseits gegen einen überzogenen Konstruktivismus und andererseits gegen den Eleatismus wendet, bringt Schelling folgendermaßen auf den Punkt: »Wir müssen also am Anfang der Philosophie ein nicht ganz totes Prinzip, wie Parmenides, aber doch ein in der Bewegung beschränktes Prinzip annehmen.«57 Dieses Prinzip nennt Schelling ›das Intransitive‹ und bringt es mit dem Subjekt im Sinne des Urteilssubjekts in Verbindung.58 Das Intransitive ist dasjenige, was nicht übergeht, was sich nicht in seine Bestimmungen verliert. Wenn ich behaupte, dass Schellings Urfassung in meinem Bücherregal steht, ist mein Bücherregal das Intransitive, es geht nicht in die Urfassung über in dem Sinne, dass es auch dann mein Bücherregal bleibt, wenn ich die Urfassung herausnehme, genauso wie man alle epistemischen Agenten durch ein einfaches Gedankenexperiment aus dem Universum herausnehmen kann, wodurch dieses zum rein Seienden wird. In dieser Perspektive ist das Universum in »seiner Einheit […] Doppelheit«59: Es ist einerseits der Bereich, in dem epistemische Agenten vorkommen können (da sie gerade in ihm vorkommen) und andererseits der Bereich, in dem sie auch nicht vorkommen könnten (etwa in der anzestralen Vergangenheit oder der anzestralen Zukunft nach der möglichen Auslöschung aller epistemischen Agenten60). Auf diese Weise haben wir das Universum zwar als das Intransitive bestimmt, womit wir den Übergang, das Transitive, aber nicht mehr ausgeschlossen haben, da wir nun anerkannt haben, dass der Übergang stattgefunden hat. »Seinem Wesen nach ist es intransitiv, d. h., in sich selbst bleibendes sein Können. Aber von diesem Intransitiven ist das Transitive nicht auszuschließen; insofern ist das Transitive in ihm das nicht Gewollte und daher das Zufällige. Von diesem intransitiven seines Wesens wird es durch das Verhältnis zum rein Seienden befreit, und dadurch wahres Wesen. Jetzt erst ist es lauteres sein Können, nicht im Gegensatze vom Sein, sondern das sein Könnende ist jetzt selbst das Sein. Es verlangt nicht ein Sein außer dem sein Können, sondern das sein Könnende ist ins Sein selbst gesetzt.«61 174 | markus gabriel

Auf diese Weise hat Schelling zwei Bestimmungen gewonnen, das sein Könnende und das rein Seiende. Diese bezeichnet er auch ausdrücklich als Subjekt und Prädikat.62 Das Subjekt ist dasjenige, dem Eigenschaften zugesprochen werden können. Durch die Eigenschaften wird es zum »gegenständliche[n] Sein«63, etwas und nicht vielmehr nichts. Damit hat Schelling zugleich den Ausgangspunkt des Eleatismus umgekehrt, was er in der zehnten Vorlesung als »unvermeidlichen Umsturz«64 beschreibt. Das rein Seiende – sozusagen die anzestrale Welt ohne Zuschauer oder die Menge der Wahrheitsbedingungen anzestraler Sätze – wird zum sein Könnenden. Die anzestrale Wirklichkeit muss bereits die Bedingungen ihrer Erscheinung zur Verfügung stellen, da diese ansonsten nicht stattgefunden hätte. Dieser Übergang oder Umsturz vollzieht sich nicht nur einmalig, sondern wiederholt sich in jedem Urteil und in jeder Handlung. Indem wir etwa über die Inflation des Universums urteilen, kann es sein, dass wir uns täuschen, wobei wir uns freilich genauso über die Wahrheitsbedingungen von Aussagesätzen über Wahrheitsbedingungen täuschen können. Die Wahrheitsbedingungen unserer Aussagesätze könnten im Allgemeinen radikal verschieden von unseren Überzeugungen über diese Wahrheitsbedingungen sein. Die ambivalente, konstitutiv fallible Position, die spätestens dadurch in die Welt kommt, dass epistemische Agenten in ihr vorkommen, nennt Schelling ›Geist‹. »Geist ist das, was im beständigen actus ist und nicht aufhört, Quelle des Seins zu sein – was frei ist, sich zu äußern oder nicht – was im sich selbst Äußern sich nicht selbst verliert.«65 Wenn wir uns täuschen, indem wir etwa nicht bestehende Wahrheitsbedingungen projizieren, verlieren wir uns damit nicht. Im falschen Urteil übernehmen wir genauso Verantwortung für das Urteil wie im wahren. Die Ambivalenz, im Urteil zwischen Wahrheit und Falschheit zu schweben, schreibt Schelling dem Geist zu. Auf diese Weise kommt eine doppelte Unbestimmtheit ins Spiel. Auf der einen Seite wird vorausgesetzt, dass etwas so-und-so, aber auch anders sein kann. Wenn ich überzeugt bin, dass es regnet, dann kann es sein, dass es regnet oder dass es nicht regnet. Sobald wir eine epistemische Einstellung zu Wahrheitsbedingungen haben, sind diese zumindest epistemisch kontingent. Damit kommt aber zugleich eine metaphysische Kontingenz in die Welt, da unsere epiSchellings Antwort auf die Grundfrage der Metaphysik | 175

stemische Kontingenz selbst existiert, »das sein Könnende ist ins Sein selbst gesetzt«66. Auf der anderen Seite ermöglicht uns dies, unsere Überzeugungen zu revidieren. Fallibilität ist kein factum brutum, das uns an einmal gefällte Urteile und ihren manchmal zufälligen Wahrheitswert bindet, sondern sie ist an das Vermögen der Überzeugungsrevision gebunden. Diese doppelte Unbestimmtheit, die einerseits in die logische Vergangenheit und andererseits in die logische Zukunft ausgreift, ist eine Voraussetzung der Grundfrage. »Die Philosophie als Wissenschaft, die das Sein von vorneherein erklären will, kann sich ursprünglich keines Ausgangspunkts innerhalb des wirklichen Seins bedienen; denn über dies will sie eben hinausgehen. Nur dadurch, daß sie sich über dieses Sein hinaussetzt, und das Unbestimmte setzt, nur indem sie sich alles Sein als Zukünftiges setzt, setzt sie sich in ein freies Verhältnis zum künftigen Sein. Was sein wird, ist an sich ein Unbestimmtes.«67

Als Resultat der bisherigen Argumentation bestimmt Schelling, dass wir nun die »Freiheit der Seinsentstehung«68 nachvollzogen hätten, die sich anhand des Geistes, d. h. in meiner Rekonstruktion: anhand einer reflexiven Analyse der Wahrheitsfähigkeit von Reflexion, gewinnen lässt. Denn zumindest für die Philosophie gilt, dass sie eine sich selbst thematisierende freie Handlung ist. Der nächste, in der elften Vorlesung vollzogene, Schritt, in dem Schelling dann zur ausdrücklichen Formulierung der Grundfrage übergeht, besteht seiner Auskunft zufolge darin, die »Freiheit zu sein«69 im Unterschied zur »Freiheit, auch nicht zu sein«70 zu erreichen. In diesem Zusammenhang entwickelt Schelling eine erstaunliche antiskeptische Strategie. Denn auf den ersten Blick könnte man meinen, dass die Betonung der Fallibilität – d. h. hier: die Bestimmung des Geistes als Schwanken zwischen mehr oder weniger zufälligen Wahrheitswerten – zum Skeptizismus führe. Alles, was für uns überhaupt so-und-so ist, könnte sich auch anders verhalten. Wenn dies im Allgemeinen gilt, wie können wir dann ausschließen, dass es gar nichts gibt? Denn dass es überhaupt etwas gibt, ist ebenfalls eine Überzeugung mit Wahrheitsbedingungen, die anders sein könnten, als sie uns erscheinen. Folgt daraus nicht umgehend eine radikale Form des Nihilismus, die sogar mit dem Gedanken spielt, dass es selbst jetzt überhaupt nichts gibt? »Nun steht ferner alles 176 | markus gabriel

wirkliche Sein vielem Zweifel bloß – ja man kann sagen: Die Philosophie hat mit dem Zweifel an der Realität des wirklichen Seins angefangen.«71 An dieser Stelle wendet Schelling einen Gedanken an, den er bereits in früheren Schriften in seiner Auseinandersetzung mit dem Cartesischen Cogito gewonnen hat. Dieser Gedanke besagt, dass es notwendigerweise etwas gibt, wobei daraus nicht folgt, was es gibt. Der berühmte Unterschied zwischen quod und quid, zwischen Dass und Was, für den der späte Schelling bekannt ist, steht im Zentrum einer antiskeptischen Strategie. Zwar folge aus dem Cogito nicht, dass es einen Denker gibt, aber es zeige, dass es überhaupt irgendetwas, irgendwelche Wahrheitsbedingungen gibt. Selbst im radikalsten skeptischen Szenario gibt es irgendetwas – und sei dies eine reine subjektlose Illusion, die sich vielleicht sogar niemandem zeigt. Deswegen unterminiert Schelling die Annahme, dass die Ontologie a limine einen Träger von Gedanken an den Anfang des Urknalls oder allgemeiner in die anzestralen Wahrheitsbedingungen projiziert. Die Möglichkeit, dass es niemals epistemische Agenten gegeben hätte und damit den Umstand, dass es Wesen wie uns kontingenterweise gibt, darf man ontologisch nicht ausschließen. »Der erste Gedanke ist sonach der des Seienden selbst. Aber eben jene Voraussetzung ist selbst eine zweifelhafte; denn wenn ich bis zum Träger alles Denkens gehen will, so muß ich auch als möglich annehmen, daß überall Nichts ist. Es kann gefragt werden: Warum ist denn nicht Nichts? Anstatt daß also die Wirklichkeit, wie es scheinen kann, durch das abstrakte Sein begründet ist, ist das abstrakte Sein nur durch die Wirklichkeit begründet. Ich muß immer ein wirkliches Sein zugeben, ehe ich auf das abstrakte Sein kommen kann.«72

Irgendetwas muss der Fall sein und sei dies, dass noch nichts Bestimmtes der Fall ist. Selbst in dem üblichen Gedankenexperiment, in dem von allem abstrahiert wird, um die Grundfrage zu motivieren, wird vorausgesetzt, dass man damit eine ›Welt‹ vorstellt, in der nichts der Fall ist – eine Tatsache, die ihrerseits bestehen muss. »Aber, fragt sich jetzt, wie nach und warum entsteht denn ein Sein? Nur inwiefern es eine erste Wirklichkeit gibt.«73 Man kommt nicht umhin vorauszusetzen, dass irgendetwas der Fall ist. Dieses geht in Schellings Antwort auf die Grundfrage der Metaphysik | 177

der Form von Wahrheitsbedingungen allen möglichen Aussagesätzen voraus. Die Wirklichkeit (die Wahrheitsbedingungen) geht dem abstrakten Sein (den Aussagesätzen) voraus. Diese Voraussetzungsstruktur nennt Schelling mit einem Neologismus »Substruktion«74, sie ist in seiner Analyse eine Voraussetzung für Vernunft und damit für eine Theorie der Rationalität. Diese muss davon ausgehen, dass es grundloses Sein gibt, dass überhaupt irgendetwas ist, was auch immer dieses sei. Wie auch immer wir die Tatsachen bestimmen, diese Bestimmung kommt uns nicht umstandslos oder unvermittelt von den Tatsachen her entgegen, weshalb wir uns immer in einer ambivalenten und kontingenten epistemischen Situation befinden. »Der Geist ist also grundlos, er ist ohne vorausgehende Notwendigkeit. […] In diesem Sinne betrachtet wird die Existenz des Geistes nur a posteriori erwiesen. Denn die Philosophie kann als Wissenschaft a priori und als Wissenschaft a posteriori erkannt werden. Sie ist nämlich in Ansehung der Welt Wissenschaft a priori, in bezug auf den Geist Wissenschaft a posteriori.«75

Diese Passage ist hochgradig ambivalent, was nicht zuletzt daran liegt, dass Schellings Texte nicht nur über den Geist – und damit über ein epistemisch kontingentes und fallibles Vermögen – sprechen, sondern so konstruiert sind, dass damit der Geist des Textes selbst explizit mitbedacht wird. Deswegen oszilliert Schelling immer wieder zwischen einer Bestimmung der Philosophie und einer Bestimmung des Seins selbst. Die Philosophie ist nicht nur »Wissenschaft des Seins«76, also Ontologie im Sinne einer Wissenschaft, die vom Sein handelt. Sie ist auch eine Wissenschaft, die selbst zum Sein gehört und damit eine lokale Selbstthematisierung des Seins. In der zitierten Passage arbeitet Schelling mit der Ambivalenz von Adjektiv und Adverb, wenn er sagt, die Philosophie könne »als Wissenschaft a priori und als Wissenschaft a posteriori erkannt« werden. ›A priori‹ und ›a posteriori‹ können entweder als Adjektive oder als Adverbien verstanden werden. In der ersten Lesart handelt es sich bei der Philosophie um eine Wissenschaft mit der Eigenschaft, a priori zu sein, wenn sie sich auf die Welt bezieht, während sie die Eigenschaft hat, a posteriori zu sein, wenn sie sich auf den Geist bezieht. Dies kann man so verstehen, dass die Philosophie erkennt, dass wir nicht davon abstrahieren können, dass es überhaupt 178 | markus gabriel

etwas gibt, und sei es die Tatsache, dass es nichts gibt. Auch dieses wäre eine Wirklichkeit im Sinne einer Tatsache. Selbst die maximale Leere eines nihil absolutum oder die Paradoxie einer logisch inkonsistenten Form von Leere, wie manche Interpreten sie der buddhistischen Logik zuschreiben, wären Tatsachen.77 Im Unterschied zu dieser Erkenntnis a priori erkennt die Philosophie die Existenz von Geist als a posteriori an, sie nimmt an, dass es nun einmal Geist gibt, wenn dies auch nicht notwendig und mithin jedenfalls nicht a priori im klassischen Verständnis dieses Ausdrucks ist. Andererseits bezieht sich der Satz auf unsere Erkenntnis der Philosophie, wenn wir ›a priori‹ und ›a posteriori‹ als Adverbien lesen. In diesem Fall beschriebe der Satz unsere Erkenntnisarten der Philosophie selbst. Wir erkennen dieser adverbialen Lesart nach a priori, dass die Philosophie eine Wissenschaft ist, und zwar dann, wenn wir sie auf die Welt beziehen. Dies bedeutet, dass die Philosophie selbst Wahrheitsbedingungen hat, die schon bestehen müssen, wenn sie sich als Wissenschaft artikuliert. Entsprechend erkennen wir die Existenz der Philosophie als Geist, d. h. als theoriefähiges und rechenschaftspflichtiges Ausdrucksgebilde, nur a posteriori. Denn es hätte auch keine Philosophie geben können. Die Philosophie schreibt sich damit selbst ins Sein ein, sie versteht sich als einen Fall von Sein, mit der besonderen Eigenschaft, als Fall von Sein eine »Quelle des Seins«78 zu sein. Denn nur die Philosophie ist imstande, sich mit der Grundfrage immer auch vor dem Hintergrund der prinzipiellen Infragestellung ihrer eigenen Wahrheitsfähigkeit zu beschäftigen. Genau diese von Kant skizzierte, aber für ihn erkenntniskritisch auf den Bereich des Menschlichen restringierte, maximal reflexive Einstellung haben die nachkantischen Idealisten radikalisiert und auf verschiedenen Ebenen untersucht. Die Texte des sog. Deutschen Idealismus sind niemals nur Texte, die sich mit bestimmten Sachfragen befassen, sondern immer auch Texte, die sich mit der Frage befassen, unter welchen Bedingungen sie selbst entstehen und was es bedeutet, dass sie für einen Leser verständlich sind. Deswegen sind sich Fichte, Schelling und Hegel darin einig, dass Philosophie eine prinzipiell unüberholbare Reflexionsform ist – was bedeutet, dass es keine eigene Disziplin der ›Metaphilosophie‹ geben kann, die dann neben der Philosophie erster Stufe auch noch über die Philosophie nachdenkt. In ihrer Form als anspruchsvolle Schellings Antwort auf die Grundfrage der Metaphysik | 179

Metaphysik ist die Philosophie eine Auseinandersetzung mit der Grundfrage vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit der Faktizität der Grundfrage selbst.

3. Konklusionen Schelling beantwortet die Grundfrage auf verschiedenen Ebenen, die allgemein durch den Begriff der Ontologie miteinander verschränkt sind. Auf der ersten Ebene lautet die Grundfrage, wie es möglich ist, dass die Wirklichkeit in der Form von Aussagesätzen zur logischen Vergangenheit, zu Wahrheitsbedingungen wird. Dies ist Schellings Version der Frage, wie die Vernunft aus der Wirklichkeit an sich, dem rein Seienden, hervorgehen kann. Schelling ergänzt diese Fragestellung, die dazu neigt, das Anzestrale zu verabsolutieren, durch den Hinweis, dass wir auch das künftige Seinoder Nichtseinkönnen von Aussagesätzen – sei es in der Form der Überzeugungsrevision oder der Auslöschung – in Rechnung stellen müssen. In diese allgemeine Struktur trägt Schelling nun die Einsicht ein, dass sie sich in jeder einzelnen Handlung und damit auch in jedem einzelnen Urteil wiederholt. Denn es ist nicht so, dass nur ein einziges Mal Vernunft entstanden ist, derer wir uns nun erfreuen können, sondern die Vernunft muss immer wieder etabliert werden, indem wir unsere Überzeugungen revidieren und an der Norm der Wahrheit ausrichten. Die Vernunft ist nicht einfach naturgegeben, sondern sie muss aufrechterhalten werden, da sie an die Freiheit und damit an die Möglichkeit des Scheiterns gebunden ist. Folglich gelten die allgemeinen ontologischen Aussagen nicht nur in der Einstellung maximaler kosmologischer Reichweite, sondern auch lokal. Sie gelten nicht zuletzt für unseren verstehenden Nachvollzug der Aussagesätze, die theorieförmig in einem Text über Aussagesätze zusammenhängen. Diesem besonderen Umstand trägt Schelling durch die Konstruktion seines Textes, durch die Form der Darstellung Rechnung. Allgemein sollte man von Schelling mindestens eine Auflage übernehmen, wenn man das durch den Deutschen Idealismus gesetzte Niveau nicht unterbieten will. Diese Auflage besteht darin, 180 | markus gabriel

dass wir in der Formulierung der Grundfrage nicht so von unserer eigenen Existenz abstrahieren, dass wir diese anschließend nicht mehr verstehen können. Dies droht aber dann, wenn man die Grundfrage nur über die Wahrheitsbedingungen anzestraler Sätze mit maximaler kosmologischer Reichweite versteht. Die Pointe der Metaphysik im Deutschen Idealismus kann man allgemein geradezu darin sehen, dass diese Lage vermieden werden soll. Eine Metaphysik, die unsere eigene Existenz als epistemische Agenten aus ihrem Wirklichkeitsverständnis streicht, sabotiert nicht nur ihre Glaubwürdigkeit, sondern unterminiert ihre eigenen Wahrheitsbedingungen. Denn sie nimmt an, dass wahr nur solche Sätze sein können, die über Tatsachen sprechen, die nichts mit uns zu tun haben. Doch diese Sätze sind nur ein Satztyp unter anderen, weshalb sie nicht den geringsten, sei es positiven oder negativen, Aufschluss über unsere eigene Existenz als vernünftige, frei handelnde und an der Norm der Wahrheit orientierte Wesen geben, die aufgrund ihrer Wahrheitsfähigkeit imstande sind, in der Beantwortung der Grundfrage zu scheitern. Vor diesem Hintergrund ist auch Heideggers Hinwendung zu Schelling und der Grundfrage zu verstehen, da gerade Heideggers Hermeneutik darauf aufbaut, die Klassiker der Metaphysik im Hinblick auf ihr Scheitern zu untersuchen. Dies dient nicht der Absicht einer Desavouierung der Tradition, sondern der Aufdeckung ihrer Ambivalenz. Wenn Schelling recht hat, kann dieser Ambivalenz auch kein gegenwärtiger philosophischer Gedanke entgehen, da unsere Wahrheitsfähigkeit insgesamt von der Chance unserer Freiheit abhängt. »Die Möglichkeit des unmittelbar sein Könnenden ist die eigentliche Natur der Angst; denn es wendet und dreht sich unter der Hand herum und wird ein anderes.«79

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Anmerkungen

Vgl. Quentin Meillassoux: Nach der Endlichkeit; Alain Badiou: Das Sein und das Ereignis 2; Tristan Garcia: Forme et Objet; vgl. zur Diskussion des spekulativen Realismus insgesamt Levi Bryant /Nick Srnicek /Graham Harman (Hg.): The Speculative Turn; David Lewis: On the Plurality of Worlds; ders.: Papers in Metaphysics and Epistemology; Peter van Inwagen: Metaphysics; ders.: Material Beings. Vgl. zur allgemeinen Diskussion der Reichweite der analytischen Metaphysik David J. Chalmers/David Manley/Ryan Wasserman (Hg.): Metametaphysics. 2 Vgl. dagegen ausführlich Markus Gabriel: Die Erkenntnis der Welt; ders.: Warum es die Welt nicht gibt. 3 GMS, A/B 74. 4 Da ich mich im Folgenden auf die Urfassung der Philosophie der Offenbarung konzentrieren werde, genüge eine Belegstelle aus der ersten Vorlesung dieses Textes: »Alle Momente der Bewegung, die der Erreichung des Zieles vorausgehen, enthalten nicht das Wahre der Bewegung, sondern können Ursache einer möglichen Täuschung sein, d.i., Irrtum. Die ganze Natur ist eine solche Bewegung. Das Ziel ist der Mensch, das Wahre der Natur; was sonst überall im scheinbaren Verhältnisse steht, das steht im Menschen im wahren Verhältnisse.« (UPO, S. 6) Vgl. zu Schellings anthropologischem Ansatz Michael Theunissen: Schellings anthropologischer Ansatz. Im Ausgang von Überlegungen Wolfram Hogrebes und Hans Blumenbergs habe ich dies für Schellings Spätphilosophie herausgearbeitet in Markus Gabriel: Der Mensch im Mythos, bes. Kap. II. 5 Vgl. etwa Tagebuch 1848, S. 229. Zu einer Auslegung von Schellings Spätphilosophie als Ontologie der Kontingenz vgl. Markus Gabriel: The Mythological Being of Reflection; Nachträgliche Notwendigkeit; Transcendental Ontology. 6 SW, XIII, S. 7. 7 Vgl. etwa Ueber das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur (SW, VI, S. 155); Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie (SW, VII, S. 174); Philosophie der Offenbarung (SW, XIII, S. 163 ff., 242). Vgl. dazu auch Karl Jaspers: Schelling, S. 124–130. 8 SW, I, S. 175. 9 Vgl. Log, AA, IX, S. 25. 10 Vgl. etwa KpV, A 56. 11 Vgl. dazu die Schellingauslegung in Wolfram Hogrebe: Prädikation und Genesis. 12 Diese Begründungsfi gur habe ich an anderer Stelle im Ausgang u. a. von einer Formulierung Wolfgang Cramers als ›transzendentale Ontologie‹ bezeichnet. Sie fi ndet sich keineswegs nur bei Schelling, sondern auch beim späten Fichte sowie bei Hegel. Vgl. Markus Gabriel: Transcendental Ontology. 1

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Vgl. Markus Gabriel: Absolute Identität und Reflexion. KrV, A 263/B 319. 15 Neben der in der angelsächsischen Kantforschung verbreiteten Lesart, der zufolge Kant sich entweder primär mit dem Cartesischen oder primär mit dem Humeschen Skeptizismus befasst, hat Michael Forster gezeigt, dass auch der Pyrrhonische Skeptizismus eine entscheidende Rolle bei Kant spielt. Vgl. Michael Forster: Kant and Skepticism. James Conant hat plausibel dargelegt, dass es sogar eine eigene Form des Kantischen Skeptizismus gibt, der sich Kant selbst stellt. Vgl. James Conant: Spielarten des Skeptizismus. Vgl. dazu ausführlich Markus Gabriel: Die Erkenntnis der Welt, S. 192–210. 16 Vgl. KrV, A 227/B 280; A 248/B 304; A 610/B 638; A 642/B 670; A 697/ B 725; A 702/B 730. 17 KrV, A 598/B 626. 18 Refl 1820a (AA, XVI, S. 127). 19 NTH, AA, I, S. 349. 20 KrV, A 15/B 29. 21 Vgl. dazu Slavoj Žižek : The Indivisible Remainder, S. 14: »as with Hegel, the problem is not how to attain the noumenal In-itself beyond phenomena; the true problem is how and why does this In-itself split itself from itself at all, how does it acquire a distance towards itself and thus clear the space in which it can appear (to itself)?« 22 UPO, S. 69. 23 UPO, S. 23. 24 Vgl. etwa SW, XI, S. 172: »Wir haben den Namen Jehovah früher erklärt als den Namen des Werdenden – vielleicht war dieß seine erste Bedeutung, aber nach jener Erklärung bei Moses ist er der Name des Zukünft igen, des jetzt nur Werdenden, der einst seyn wird, und auch alle seine Zusagen gehen in die Zukunft.« 25 UPO, S. 24. 26 Vgl. dazu wiederum ausführlich Markus Gabriel: Der Mensch im Mythos. 27 UPO, S. 19. 28 UPO, S. 19. 29 Vgl. René Descartes: Meditationes de prima philosophia, S. 17. 30 UPO, S. 20. 31 Vgl. in diesem Sinne die Defi nition der Freiheit als »Vermögen des Guten und des Bösen« in der Freiheitsschrift, SW, VII, S. 352: »Der Idealismus gibt nämlich einerseits nur den allgemeinsten, andererseits den bloß formellen Begriff der Freiheit. Der reale und lebendige Begriff aber ist, daß es ein Vermögen des Guten und des Bösen sei.« 32 Vgl. dazu die Ausführungen in Sebastian Rödl : Kategorien des Zeitlichen, sowie ders.: Selbstbewusstsein. 33 UPO, S. 23. 34 UPO, S. 23. 13 14

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Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 478. UPO, S. 23. 37 UPO, S. 23. 38 UPO, S. 23. 39 UPO, S. 23. 40 UPO, S. 24. 41 Vgl. Crispin Wright : Truth and Objectivity, S. 196: »Let the width of cosmological role of the subject matter of a discourse be measured by the extent to which citing the kinds of states of affairs with which it deals is potentially contributive to the explanation of things other than, or other than via, our being in attitudinal states which take such states of affairs as object. I suggest that the idea which the Best Explanation constraint is really in pursuit of is that some discourses have, in these terms, a subject matter of relatively wider cosmological role.« 42 Crispin Wright verteidigt freilich selbst eine Form von Antirealismus, die den Wahrheitsbegriff an diskursive Praktiken bzw. an den Begriff der Behauptbarkeit zurückbindet, worin ich ihm nicht folge. Vgl. ausführlich Markus Gabriel: An den Grenzen der Erkenntnistheorie. 43 UPO, S. 24. 44 UPO, S. 24 f. 45 Georg W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik II, S. 13. 46 SW, XIV, S. 338. 47 UPO, S. 86; SW, XIII, S. 265, 267, 279. 48 Quentin Meillassoux : Nach der Endlichkeit, S. 24: »Wir nennen anzestral jede Wirklichkeit, die dem Aufkommen der menschlichen Gattung vorausgeht – und die sogar jeder erfassten Form des Lebens auf der Erde vorausgeht.« 49 Genau daran scheitert Meillassoux’ Projekt. Denn Meillassoux versucht, eine Ontologie auf der Grundlage der Wahrheitswerte anzestraler Aussagen zu entwickeln. Nun gibt es aber nicht nur Wahrheitswerte für Aussagen mit maximaler kosmologischer Reichweite. Diese begriffl ich nicht begründete Einschränkung der Ontologie auf eine bestimmte Klasse von Aussagen ist nicht nachvollziehbar. 50 UPO, S. 47. 51 UPO, S. 47: »Man kann die Philosophie auch so unterscheiden: Die andern Wissenschaften bekümmern sich nur um das so oder so Sein der Dinge: Die Philosophie aber nur um das Seiende selbst – sie ist ἡ ἐπιστήμη τοῦ ὄντος. Man kann bemerken: Das, was ist, ist deshalb nicht ein Seiendes; ebenso wie das Weiße selbst – αὐτὸ τὸ λευκόν – nicht ein Weißes ist, weil es das Weiße selbst ist. Das, was ist, als solches betrachtet, ist auch das Überseiende.« 52 Vgl. dazu die Schellingdeutung bei Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis, S. 702–733, bes. S. 723: »Wie aber ist die Realität des Realen beschreibbar? Dadurch, daß es uns sinnlich und geistig widerfährt, nicht dadurch, daß wir es produzieren. Schelling steigert den transzendentalphi35

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losophisch begründeten Idealismus in einen Begriffsrealismus, der den Begriffen selbst geistige Realität zuschreibt. Diese Uminterpretation impliziert eine Veränderung dessen, was Schelling real nennt. Realität ist nicht mehr der Idealität entgegengesetzt, Idealität ist die Realität der Begriffe. Und warum sollte es keine subjektfreie Semantik geben, wenn es eine psychologiefreie Logik gibt?« 53 UPO, S. 48. 54 UPO, S. 50. 55 UPO, S. 50 f. 56 Quentin Meillassoux : Nach der Endlichkeit, S. 18: »Unter ›Korrelation‹ verstehen wir die Idee, derzufolge wir Zugang nur zu einer Korrelation von Denken und Sein haben, und nie gesondert zu einem der beiden Begriffe. Daher nennen wir von jetzt an Korrelationismus jede Denkrichtung, welche den unüberschreitbaren Charakter der so verstandenen Korrelation vertritt.« 57 UPO, S. 51. 58 Vgl. UPO, S. 52 f. 59 UPO, S. 51. 60 Ray Brassier hat deswegen völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit der völligen Auslöschung intelligenten Lebens in der Zukunft dasselbe epistemologische Problem aufwirft wie die Anzestralität. Vgl. Ray Brassier: Nihil Unbound. 61 UPO, S. 54. 62 Vgl. UPO, S. 56. 63 UPO, S. 56. 64 UPO, S. 57. 65 UPO, S. 56. 66 UPO, S. 54. 67 UPO, S. 57. 68 UPO, S. 63. 69 UPO, S. 63. 70 UPO, S. 63. 71 UPO, S. 65. 72 UPO, S. 65. 73 UPO, S. 69. 74 UPO, S. 69. 75 UPO, S. 69. 76 Vgl. UPO, S. 47. 77 Vgl. Volker Beeh: Nicht ist irgendeine Behauptung die meine. 78 UPO, S. 56. 79 UPO, S. 33.

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Bibliographie

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling wird zitiert nach: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Sämmtliche Werke, hg. v. Karl Friedrich August Schelling, Bde. I–XIV (urspr. in zwei Abteilungen erschienen: I. Abt., Bd. 1–10 und II. Abt., Bd. 1–4). Stuttgart 1856–1861. (= SW) Zusätzlich werden die folgenden Texte Schellings mit den folgenden Abkürzungen zitiert: – Tagebuch 1848: Das Tagebuch 1848. Rationale Philosophie und demokratische Revolution, mit Alexander von Pechmann und Martin Schraven aus dem Berliner Nachlaß hg. v. Hans Jörg Sandkühler. Hamburg 1990. – UPO: Urfassung der Philosophie der Offenbarung, hg. v. Walter E. Ehrhardt, 2 Teilbd. Hamburg 1992. Badiou, Alain: Das Sein und das Ereignis 2. Logiken der Welten, übers. v. Heinz Jatho. Berlin/Zürich 2010. Beeh, Volker: Nicht ist irgendeine Behauptung die meine. In: Bromand, Joachim/Kreis, Guido (Hg.): Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion. Berlin 2010, S. 603–621. Brassier, Ray: Nihil Unbound. Enlightenment and Extinction. New York 2007. Bryant, Levi/Srnicek, Nick/Harman, Graham (Hg.): The Speculative Turn. Continental Realism and Materialism. Sidney 2011. Chalmers, David J./Manley, David/Wasserman, Ryan (Hg.): Metametaphysics. New Essays on The Foundations of Ontology. Oxford 2009. Conant, James: Spielarten des Skeptizismus. In: Gabriel, Markus (Hg.): Skeptizismus und Metaphysik. Berlin 2012, S. 21–72. Descartes, René: Meditationes de prima philosophia. In : ders.: Œuvre de Descartes, hg. v. Charles Adam/Paul Tannery. Paris 1904, Bd. VII. Forster, Michael: Kant and Skepticism. Princeton 2008. Gabriel, Markus: Der Mensch im Mythos. Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in Schellings ›Philosophie der Mythologie‹. Berlin/New York 2006. –: An den Grenzen der Erkenntnistheorie – Die notwendige Endlichkeit des Wissens als Lektion des Skeptizismus. Freiburg/München 2008. –: Nachträgliche Notwendigkeit – Gott, Mensch und Urteil beim späten Schelling. In: Philosophisches Jahrbuch, 1 (2009), S. 21–41. –: The Mythological Being of Reflection. In: ders./Žižek, Slavoj: Mythology, Madness, and Laughter: Subjectivity in German Idealism. New York/London 2009, S. 15–94. –: Absolute Identität und Reflexion (Kant, Hegel, McDowell). In: Danz, Christian (Hg.): System und Systemkritik um 1800. Hamburg 2011, S. 211–226. 186 | markus gabriel

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– Matthias Kossler –

Lieber gar Nichts als Etwas Die Frage unter pessimistischen Vorzeichen bei Schopenhauer

Bei Arthur Schopenhauer erhält die Frage, die das Thema des vorliegenden Bandes bestimmt, eine für das 19. Jh. charakteristische Wendung dadurch, dass die Annahme der Welt und des Daseins als »ein schlechthin notwendiges Wesen«1 bezweifelt wird. Leibniz hatte die Frage »pourqoi il y a plus tôt quelque chose que rien«2 unter der Voraussetzung aufgeworfen, »que des choses doivent exister«, und dadurch beantwortet, dass Gott als »Être necessaire«3 Grund der Welt ist. Die Möglichkeit des Nichtseins kommt nicht ernsthaft in Betracht, und die Frage wird sogleich in die nach dem Grund dafür umgebogen, dass die Dinge »doivent exister ainsi, et non autrement«4. Für Schopenhauer dagegen bietet die Möglichkeit des Nichtseins eine echte Alternative, die Philipp Mainländer, ein der Schopenhauer-Schule zugerechneter Philosoph, zugespitzt formulierte, indem er für sich beanspruchte, der Erste zu sein, der beim Gedanken an die Allmacht Gottes auch an »die Möglichkeit« dachte, »daß Gott auch wollen kann, selbst zu Nichts zu werden«5. Die schon im 18. Jh. von Friedrich H. Jacobi als Konsequenz des Rationalismus gesehene Gefahr des Nihilismus und der Aufschwung der Naturwissenschaften, in dessen Folge Sinnzusammenhänge zugunsten von Kausalerklärungen in der Weltsicht zurücktraten, sind als der Hintergrund zu betrachten, vor dem sich der Wandel vollzog. Dass sich die neue Sicht nicht erst in der Beantwortung, sondern schon in der Form der Fragestellung selbst niederschlug, ist an der einzigen Stelle zu bemerken, an der Schopenhauer unmittelbar auf sie Bezug nimmt. In einer nachgelassenen handschriftlichen Aufzeichnung, die fast wörtlich in die zweite Auflage des Hauptwerks aufgenommen wurde, schreibt er 1829: »Und wenn es Einem ein| 189

fiele zu fragen, warum nicht lieber gar Nichts sei, als diese Welt […].«6 Diese Formulierung kehrt in deutlicher Reaktion die Intention der Fragestellung um, indem einerseits das Adverb ›lieber‹ bzw. ›plus tôt‹ nicht dem Dasein, sondern dem Nichts zugeordnet und andererseits die doppelte Negation rhetorisch eingesetzt wird. Die Frage zielt nun nicht mehr darauf, den Grund der Welt aufzudecken, von dem man schon weiß, dass es ihn geben muss, sondern darauf, ob es überhaupt einen Grund gibt: Sie zielt nicht auf die Rechtfertigung des So-seins der Welt (»pourqoi elles [les choses] doivent exister ainsi, et non autrement«7) und damit auf die Güte ihres Schöpfers in der Theodizee, sondern sie zielt auf eine Rechtfertigung der Existenz der Welt überhaupt. Und die Antwort ist, wie Schopenhauer in dem angeführten Zitat fortfährt, negativ; es gibt (was bei Leibniz aufgrund der uneingeschränkten Gültigkeit des Satzes vom Grunde ausgeschlossen ist) keinen Grund für die Existenz der Dinge: »[…] so ließe sich diese Welt nicht aus sich selbst rechtfertigen, kein Grund, keine causa finalis für ihr Daseyn in ihr selbst finden, nicht zeigen, dass sie um ihrer selbst willen da wäre.« Das Argument, das Schopenhauer hier für die Grundlosigkeit der Welt anführt, ist ein formales, indem es auf der Grundlosigkeit des Wesens oder des ›Princips‹ der Welt beruht: »In der That ist das Princip ihres Daseyns grundlos: blinder Wille als Ding an sich dem Satz vom Grunde nicht unterworfen.«8 An diesem Argument lassen sich ein metaphysischer und ein erkenntnistheoretischer Aspekt unterscheiden. Der metaphysische Aspekt besteht darin, dass das Wesen der Welt von einer Art ist, die eine Rechtfertigung des Daseins der Dinge unmöglich macht; bei einem blind Wirkenden lässt sich kein Grund seines Wirkens finden. Der erkenntnistheoretische Aspekt drückt dasselbe allgemein dadurch aus, dass das Prinzip der Welt jenseits der Sphäre liegt, in der überhaupt nach Gründen gefragt werden kann. Schließlich ist zu bemerken, dass in dem Zitat auffällig betont wird, dass die Welt »nicht aus sich selbst« zu rechtfertigen, dass kein Grund »in ihr selbst« zu finden sei und dass sich nicht zeigen ließe, dass sie »um ihrer selbst willen« da sei. Diese Formulierungen lassen vermuten, dass eine Möglichkeit im Hintergrund steht, die Existenz der Welt nicht aus sich selbst, aus ihrem Prinzip und Wesen, sondern aus etwas anderem zu begründen. Im Folgenden werden diese verschie190 | matthias kossler

denen Aspekte, beginnend mit dem erkenntnistheoretischen, näher betrachtet.

1. Der erkenntnistheoretische Gesichtspunkt Unter erkenntnistheoretischem Gesichtspunkt ist die Frage, warum die Welt da ist, sinnlos, denn Gründe kann es nur innerhalb der Welt geben. In seiner Dissertation Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde hatte Schopenhauer im Anschluss an Kant Objekt- und Vorstellungsein gleichgesetzt und mit der Feststellung, »[…] alle unsre Vorstellungen stehn in einer gesetzmäßigen und der Form nach a priori bestimmbaren Verbindung«, vermöge welcher »nichts für sich Bestehendes und Unabhängiges, auch nichts Einzelnes und Abgerissenes, […] Objekt für uns werden«9 kann, die Wurzel des Satzes vom Grunde allgemein formuliert. Die »ganze objektive reale Welt«, als durch diese Verbindungen konstituierter Zusammenhang aller möglichen Objekte, ist »eine Gesammtvorstellung, welche einen, durch die Formen des Satzes vom Grunde zusammengehaltenen Komplex, jedoch mit problematischen Grenzen, bildet […]«10. Mit der Erläuterung, dass die Welt problematische Grenzen habe, nimmt Schopenhauer implizit Bezug auf die dritte Antinomie Kants, deren Thesis, nämlich dass die Welt eine erste (spontane) Ursache habe, er auf die »Schwäche« der Vernunft zurückführt, die »bei einem unendlichen Regressus ermüdet und daher demselben durch willkürliche Voraussetzungen […] ein Ende macht«11, während er die Antithesis, die die Unendlichkeit der Kausalreihen nach Naturgesetzen beinhaltet, für wahr erklärt, allerdings mit dem Zusatz, dass mit der Unendlichkeit keine Totalität behauptet sei, sondern nur die Unabschließbarkeit des Regresses; das Unendliche ist nie als ein Ganzes gegeben, sondern immer nur »potentiâ«12. Wenn somit die Welt mit dem Geltungsbereich des Satzes vom Grunde zusammenfällt, der sich überall dahin erweitert, wo die Suche nach Gründen hinführt, dann gibt es keinen letzten Grund für das Dasein der Dinge und keine Erklärung für die Existenz der Welt. In der empirischen Realität sind alle Ursachen nach Schopenhauer nur Gelegenheitsursachen: »Kein Ding in der Welt hat Lieber gar Nichts als Etwas | 191

eine Ursache seiner Existenz schlechthin und überhaupt; sondern nur eine Ursache, warum es gerade hier und gerade jetzt da ist.«13 Erkenntnistheoretisch ist die Grundlosigkeit der Welt durch die Grundlosigkeit des Satzes vom Grunde ausgedrückt. Innerhalb der Welt hat der Satz vom Grunde unumschränkte Gültigkeit, denn er macht ihre Form aus. Für ihn selbst einen Grund zu fordern ist widersprüchlich, denn diese Forderung setzt seine Gültigkeit schon voraus. Der Satz vom Grunde ist »schlechthin unerklärlich […], weil er das Princip aller Erklärung ist«14. Ebenso unerklärlich ist die Welt, insofern Erklärungen nach dem Satz vom Grunde erfolgen. Der Bereich, in dem die Frage nach Gründen und Ursachen am deutlichsten und planmäßigsten gestellt wird, ist die Wissenschaft. Zwar will der Mensch auch im Alltag wissen, welche Gründe Geschehnisse, Handlungen und Behauptungen haben, aber die Wissenschaften haben ihren ganzen Inhalt in Erklärungen, nämlich im »Verhältniß der Erscheinungen der Welt zueinander, gemäß dem Satz vom Grunde und am Leitfaden des durch ihn allein geltenden und bedeutenden Warum«15. Die Frage, warum Etwas ist und nicht Nichts, gehört also der Form nach der Wissenschaft an. Aber sie darf in einer rein wissenschaftlichen Weltsicht dennoch gar nicht auftreten, weil sie in sich widersprüchlich ist und das Prinzip der Wissenschaft selbst in Frage stellen würde. Wenn Physiker nach dem Ursprung des Universums forschen, so suchen sie nicht den Grund der Welt und des Daseins, sondern die Gelegenheitsursache für den bestimmten Zustand eines Teilchens, für die es wiederum unaufhörlich weitere Ursachen zu finden gilt. Das Dasein und die Geltung des Satzes vom Grunde verstehen sich von selbst. Jede Erklärung in den Wissenschaften ist »immer nur relativ: sie erklärt die Dinge in Beziehung auf einander, läßt aber immer Etwas unerklärt, welches sie eben schon voraussetzt«16. Die Distanz zum Dasein, die die Frage, warum Etwas ist und nicht Nichts, erfordert, ist nur zu erlangen, wenn das Gebiet des Satzes vom Grunde, also alle nach ihm verfahrende Wissenschaft, verlassen wird. Damit wird aber auch die Angabe eines Grundes für die Welt unmöglich und die Frage selbst unter epistemologischem Aspekt in sich widersprüchlich und sinnlos – es sei denn, es gibt eine Wissenschaft, die nicht nach dem Satz vom Grunde verfährt. 192 | matthias kossler

Eine solche sieht Schopenhauer in der Philosophie, die er als ein Zwischending zwischen Kunst und Wissenschaft auch nicht zu den Wissenschaften im engeren Sinne zählt. Die Philosophie »sucht keineswegs, woher und wozu die Welt dasei; sondern bloß, was die Welt ist«17. Insofern sie den Leitfaden des Satzes vom Grunde verlässt, kann sie das Dasein aus einer Distanz betrachten; sie steht dann außerhalb der Welt als Vorstellung und ist in diesem Sinne Metaphysik. Das Ergebnis, zu dem die Philosophie bei Schopenhauer kommt, nämlich dass die Welt in ihrem Wesen ›Wille‹ ist, kann das Dasein der Welt ebenso wenig aus sich selbst rechtfertigen wie die Wissenschaft. Zum einen freilich, weil die Philosophie es nicht mit Gründen zu tun hat und der Wille selbst grundlos ist, zum anderen aber auch aus einer praktischen Erwägung, die im folgenden Abschnitt zur theoretischen Behandlung der Frage hinzutritt. An der Stelle, wo Schopenhauer die eingangs zitierte handschriftliche Aufzeichnung in sein Hauptwerk aufgenommen hat, fährt er nach dem Hinweis auf die Grundlosigkeit des blinden Willens fort: »Dies stimmt aber auch zur Beschaffenheit der Welt: denn nur ein blinder, kein sehender Wille konnte sich selbst in die Lage versetzen, in der wir uns erblicken.«18

2. Der metaphysische Gesichtspunkt Für Schopenhauer steht unsere Frage insofern in engstem Verhältnis zur Metaphysik, als sie eine Distanz zur Welt zum Ausdruck bringt, die die Möglichkeit des Nichtseins derselben in den Blick nimmt. Das »Bewußtseyn, daß das Nichtseyn dieser Welt ebenso möglich sei, wie ihr Daseyn«, bezeichnet er in dem Kapitel »Ueber das metaphysische Bedürfniß des Menschen« als »die Unruhe, welche die nie ablaufende Uhr der Metaphysik in Bewegung erhält«19. Das metaphysische Bedürfnis zeichnet den Menschen vor den Tieren aus, denen »sich die Welt und das Daseyn von selbst zu verstehn« scheinen; »dem Menschen hingegen ist sie ein Problem«20, was sich darin zeigt, dass er sich angesichts der »Endlichkeit alles Daseyns« und der »Vergeblichkeit alles Strebens« über sein eigenes Dasein und das der Welt »wundert«21. Die Wiederaufnahme der seit Platon und Aristoteles klassischen Rückführung des PhiLieber gar Nichts als Etwas | 193

losophierens auf die Verwunderung als dessen Anlass und Auslöser erhält bei Schopenhauer einen neuartigen Charakter dadurch, dass es nicht allein die theoretische Verwunderung ist, die das metaphysische Bedürfnis hervorruft und damit zur Philosophie (oder zur Religion) führt, sondern auch und vor allem das die Verwunderung verstärkende Bewusstsein des Übels und des Bösen in der Welt. »Das philosophische Erstaunen ist demnach im Grunde ein bestürztes und betrübtes«, denn »wir fassen sehr bald die Welt auf als Etwas, dessen Nichtseyn nicht nur denkbar, sondern sogar ihrem Daseyn vorzuziehen wäre«22. Das Bestreben der Metaphysik geht nun dahin, »daß ein Lichtstrahl fiele auf das Dunkel unsers Daseyns und irgend ein Aufschluß uns würde über diese räthselhafte Existenz, an der nichts klar ist, als ihr Elend und ihre Nichtigkeit«23. Die Religionen, die Schopenhauer als verschiedene Formen einer »Volksmetaphysik«24 ansieht, geben Aufschluss und Trost durch den Glauben an eine göttliche Ordnung der Dinge, die den trübseligen Befund der Welt umschließt und ihm einen Sinn gibt, an eine künftige Vergeltung der guten und schlechten Taten und Ähnliches. Derartige »Fabeln«25 beruhen indessen auf einer unzulässigen Anwendung des Satzes vom Grunde auf etwas, das nicht zur Welt gehören soll, innerhalb derer ja, wie im ersten Abschnitt deutlich wurde, allein der Satz Gültigkeit hat. Sie zeugen nicht von der Distanz zur Welt, die die Möglichkeit ihres Nichtseins in den Blick nimmt, sondern sie bauen, auch wenn sie etwa die Nichtigkeit dieser Welt lehren, gleichsam eine weitere, ebenso unter dem Satz vom Grunde stehende Welt um sie herum. Wahre Metaphysik kann daher nach Schopenhauer nur die Philosophie bieten, die nicht nach Gründen, Ursachen und Zwecken der Welt sucht, sondern in der die Welt, so wie sie sich in der Erfahrung darbietet, auf ihr Wesen hin »gedeutet, ausgelegt«26 wird. Das Verhältnis dieses gedeuteten Wesens zur Welt ist weder das des Grundes zur Folge noch das des Zwecks zum Mittel. Die Welt wird vielmehr aufgefasst als die »Sichtbarkeit«27 oder der »Spiegel«28 des Wesens; ihr Sinn liegt lediglich in dem Zusammenhang und der Übereinstimmung der Phänomene, die sie durch die Deutung erst erhalten. Den »Schlüssel« zu einer derartigen »Entzifferung der Welt in Beziehung auf das in ihr Erscheinende«29 sieht Schopenhauer in dem ›Willen‹, wobei er die Bedeutung dieses Begriffs in dem Sinne er194 | matthias kossler

weitert und modifiziert, dass das, was wir gewöhnlich ›Wille‹ nennen, nur eine von vielen Erscheinungsweisen des ursprünglich und wesentlich blinden, ziellosen Willens, dessen Erscheinung die ganze Welt ist, darstellt. Die Annahme eines blinden Dranges als Kern alles Daseins kommt einerseits der unter erkenntnistheoretischem Aspekt erwiesenen Grundlosigkeit der Welt entgegen: Denn wenn der Wille selbst grundlos ist, keine Ursache und kein Ziel hat, dann muss das, was nur seine Sichtbarkeit und Erscheinung ist, die Welt, ebenso grundlos sein. Andererseits gibt sie Aufschluss über die üble Beschaffenheit der Welt, indem die Vergänglichkeit des Daseins, die Vergeblichkeit alles Strebens, das Böse und das Leid einen einheitlichen Ausdruck darin finden, dass alles nur das endlose Wirken blinden Wollens ist. Nun ist die Philosophie aber eine Wissenschaft, wenn auch eine ausnehmend besondere. Die Besonderheit, die sie von allen anderen Wissenschaften trennt, betrifft ihren Inhalt: Sie fragt nach dem ›Was‹ der Welt und nicht nach dem ›Warum‹, ›Woher‹ und ›Wozu‹. Ihre Form dagegen hat sie mit allen Wissenschaften gemein, nämlich den Satz vom Grund. Inhalt und Form stehen daher in der Philosophie im Widerspruch; sie kann das, was jenseits aller Relationalität liegt, nur in einer Weise zum Ausdruck bringen und mitteilen, die auf Beziehungen und Gründe zurückgreift. Das Verhältnis der Sichtbarkeit, das an die Stelle der Kausalität zwischen Wille und Erscheinung treten soll, um den Satz vom Grunde zu transzendieren, fällt als Relation immer noch unter den Satz vom Grunde, wenn dieser als das »ausnahmslose Princip der Abhängigkeit und Bedingtheit«30 betrachtet wird.31 In der willensmetaphysischen Naturphilosophie tauchen daher Formulierungen auf, die den Willen als Ursache erscheinen lassen, etwa wenn er als ein Streben nach immer höheren Objektivationen dargestellt wird, das sich zu diesem Zweck ein »Hülfsmittel«32 schafft bzw. das »zu seinen Zwecken, das Bewußtseyn hervorgebracht«33 hat usw. Was die Philosophie also nicht leisten kann, nämlich die Grundlosigkeit der Welt adäquat auszudrücken, ist der Kunst allein vorbehalten. In der ästhetischen Kontemplation werden die Dinge angeschaut, wie sie sind, nicht erwogen, wie sie in Relation zu anderen Dingen oder zum Betrachter stehen. Diese Betrachtungsart fasst »gerade nur den Inhalt der Erscheinung« auf, »von allen Relationen Lieber gar Nichts als Etwas | 195

absehend«34, weshalb sie kurz »die Betrachtungsart der Dinge unabhängig vom Satze des Grundes«35 genannt wird. Somit wird hier das ›Was‹ der Welt, auf das die Philosophie gerichtet ist, adäquat erfasst. Man kann sogar sagen, dass auf diese Weise überhaupt erst die Welt als ein Ganzes erfasst wird, denn der wissenschaftliche Weltbegriff ist als ›Komplex mit problematischen Grenzen‹ selbst problematisch. Allein die ästhetische Kontemplation vergegenwärtigt »die Vorstellung im Ganzen, die gesammte anschauliche Welt«36. Der Unzulänglichkeit des wissenschaftlichen Weltbegriffs entspricht in der philosophischen Willensmetaphysik, dass der Wille stets weiß, »was er jetzt, was er hier will; nie aber was er überhaupt will: jeder einzelne Akt hat seinen Zweck; das gesammte Wollen keinen«37. Als bloßes Schauen gibt indessen die Kontemplation auch keinen Aufschluss über den Zweck des gesamten Wollens – nicht weil sie das Gesamte des Wollens nicht erfasst, sondern weil ihr das ›Warum‹, ›Woher‹ und ›Wozu‹ völlig fremd ist. Die Frage nach dem Zweck des gesamten Wollens ist es aber, die das Bedürfnis der Metaphysik hervorruft. Und sie wird umso drängender, als in der ästhetischen Schau das Nichts als etwas Positives erfahrbar wird. Denn in der Kontemplation erfährt der Betrachter das Nichts dessen, was die Welt als empirische Realität ausmacht, nämlich der Verbindungen und Relationen, deren Ausdruck der Satz vom Grunde ist. Das Subjekt steht außerhalb von Raum, Zeit und Kausalität, ebenso wie sein Gegenstand, die Idee, die nur die Form »der Vorstellung überhaupt, des Objektseyns für ein Subjekt«38, beibehalten hat. Der Mensch empfindet die Aufhebung der empirischen Realität, mit der zugleich der sich in ihr objektivierende Wille zum Schweigen gebracht wird, als Befreiung von den Leiden und Übeln der Welt. Aber ebenso erfährt er, indem ihm der Zustand der ästhetischen Versenkung ebenso unvermittelt aufhört, wie er einsetzte, dass die vermeintliche Befreiung nur ein »Vergessen«39 der Welt war, und empfindet das mit ihr wiederkehrende Leiden umso stärker, als ihm die Erinnerung an das selige Nichtsein derselben die Existenz der Welt fragwürdig macht. Die positive Erfahrung des Nichts lässt die Frage, warum Etwas ist und nicht Nichts, als eine Frage der Wahl erscheinen, der Wahl zwischen der Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben, d. h. zur Objektivation. 196 | matthias kossler

Der Unterschied zwischen der ästhetischen Kontemplation, in der sich die Welt als empirische Realität auflöst und der Verneinung des Willens zum Leben, die das Wesen der Welt betrifft, liegt im Hinblick auf unsere Fragestellung in dem jeweiligen Begriff des Nichts und seinem Verhältnis zum Etwas. In der Ästhetik ist es eindeutig ein bloß relativer Begriff, insofern die angeschaute Idee und die empirischen Erscheinungen unter gemeinsame Oberbegriffe wie »Objekt«, »Vorstellung«40 und sogar »Erscheinung«41 subsumiert werden. Es ist ja doch immerhin ›Etwas‹, was da angeschaut wird, wenn auch nicht in dem Sinne, in dem es unter dem erkenntnistheoretischen Aspekt vorausgesetzt wurde.42 Hier gilt das, was Schopenhauer in Bezug auf die Verneinung des Willens im Schlussparagraphen des Hauptwerks schreibt: »So wird also jedes nihil negativum, oder absolute Nichts, wenn einem höhern Begriff untergeordnet, als ein bloßes nihil privativum, oder relatives Nichts, erscheinen, welches auch immer mit Dem, was es negirt, die Zeichen vertauschen kann, so daß dann jenes als Negation, es selbst aber als Position gedacht würde.«43

Bereits in einer Aufzeichnung von 1812 hatte Schopenhauer diesen Gedanken im Rahmen seiner frühen Konzeption des »besseren Bewußtseyns«44, das er als eine neben dem empirischen Bewusstsein mögliche Existenzform annahm, formuliert: Mit Recht – so heißt es dort – sagen wir, »›uns, als Lebenden, ist Leben und Seyn Eins, Tod und Nichtseyn auch Eins.‹ – Dagegen, wenn wir uns unserer bewußt werden als nicht in Zeit und Raum, – dann nennen wir eben das was in diesen ist, mit recht Nichts«45. Die Frage, warum Etwas ist und nicht Nichts, hätte unter der Prämisse eines bloß relativen Begriffs vom Nichts die Bedeutung von: Warum ist Etwas/Nichtsa und nicht vielmehr Etwas/Nichtsb? Sie würde uns lediglich mit der Alternative von Seinsformen konfrontieren und hätte mit dem ursprünglich angesprochenen Problem kaum noch etwas zu tun. In der Tat deuten die Bezugnahme auf das nihil privativum bei der Erörterung der Verneinung des Willens zum Leben und der Verweis auf das Nichts, das in mystischen Zuständen der »Ekstase, Entrückung, Erleuchtung, Vereinigung mit Gott u.s.w.«46 als etwas Positives, als Fülle des Seins erfahren würde,47 auf eine derartige Alternative hin. Aber mit der Überwindung der Lehre vom besLieber gar Nichts als Etwas | 197

seren Bewusstsein hatte Schopenhauer die Behauptung einer Existenzform jenseits des empirischen Bewusstseins als philosophisch nicht haltbar aufgegeben. Von dem Standpunkt, von dem aus »das für uns Seiende als das Nichts und jenes Nichts als das Seiende« sich zeigen würde, spricht er im Hauptwerk vorsichtiger: »wenn er für uns möglich wäre«48. Es kann also nur behauptet werden, dass ein solcher Standpunkt nicht ausgeschlossen werden kann, und wenn Schopenhauer es mit der ›negativen Erkenntnis‹ der Folgen der Verneinung des Willens zum Leben bewenden lässt: »Vor uns bleibt allerdings nur das Nichts«49, so bleibt letztlich offen, ob das Nichts hier ein bloß relatives oder ein absolutes ist. Wie jedoch die Erinnerung an den ästhetischen Zustand »mit dem Stämpel innerer Wahrheit verbürgt«, ist die negative Erkenntnis hinreichend, um den Vorzug des Nichtseins vor dem Sein einzusehen: »Dennoch ist diese Betrachtung die einzige, welche uns dauernd trösten kann, wann wir einerseits unheilbares Leiden und endlosen Jammer als der Erscheinung des Willens, der Welt, wesentlich erkannt haben, und andererseits, bei aufgehobenem Willen, die Welt zerfließen sehn und nur das leere Nichts vor uns behalten.«50

Unter metaphysischem Aspekt hat sich die Welt als in ihrem Wesen heillose gezeigt, und die Distanz, die diese objektive Ansicht ermöglicht, hat zugleich deutlich gemacht, dass das Dasein der Welt, der empirischen Realität, nicht nur nicht notwendig (das hat schon der erkenntnistheoretische Gesichtspunkt ergeben), sondern auch nicht alternativlos ist. Die Alternative kann philosophisch nur als Nichts gefasst werden; aber dieses Nichts hat die positive Bewertung, die bessere Alternative zu sein. Die Frage, warum dennoch »nicht lieber gar Nichts sei, als diese Welt«, berührt die Metaphysik jedoch nicht, obwohl sie sich aufgrund der Resultate der Metaphysik aufdrängt. Sie stellt sich unter ethischem Gesichtspunkt.

3. Der ethische Gesichtspunkt Unter der Voraussetzung, dass das Nichts dem Etwas vorzuziehen sei, erhält die Frage ›Warum ist überhaupt Etwas und nicht vielmehr Nichts‹ eine gegenüber der Tradition veränderte Bedeutung. 198 | matthias kossler

Die bisherigen Betrachtungen haben gezeigt, dass die Welt nicht aus sich selbst zu begründen und zu rechtfertigen ist – weder theologisch noch kosmologisch, denn jede metaphysische Begründung widerspricht sich nach Schopenhauer selbst. Dennoch verschwindet die Frage nicht; sie stellt sich aber nicht mehr als theoretische Frage nach den Gründen der Welt und des Daseins der Dinge, sondern als existenzielle Frage nach dem Sinn und Zweck des Lebens.51 Der durch den alles Dasein bestimmenden blinden Willen gepeinigte und doch auch kurzzeitig aus diesem zwischen Leiden und Langeweile hin- und herpendelnden Leben in die befreiende ästhetische Betrachtung herausgerissene Mensch fragt sich, wozu er lebt, wenn doch das Nichtsein besser ist. Diese Frage zielt nicht auf einen Grund der Welt, sondern auf die Haltung gegenüber der Welt, die sich in dem einzigen grundlosen Freiheitsakt der Entscheidung zwischen Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben ausdrückt. In diesem Sinne ist es wohl zu verstehen, dass Schopenhauer in dem eingangs angeführten Zitat aus dem Nachlass so sehr betont, dass die Welt »nicht aus sich selbst« zu rechtfertigen, dass kein Grund »in ihr selbst« zu finden sei, und dass sich nicht zeigen ließe, dass sie »um ihrer selbst willen« da sei: Damit ist die Möglichkeit offen gelassen, dass die Existenz der Welt, die für Schopenhauer, sofern die Welt die Sichtbarkeit des Willens zum Leben ist, mit dem Leben gleichzusetzen ist, einen Grund außerhalb ihrer habe, dass sie um etwas anderen willen da ist, mit anderen Worten, dass sie nur ein Mittel zum Zweck, kein Zweck an sich sei. Freilich gilt nun aber auch hier die erkenntnistheoretische Feststellung, dass der Satz vom Grunde nicht auf die Welt angewandt werden kann, und schon gar nicht in der Form einer Zweckursächlichkeit, wie sie bei Leibniz zum Beweis der besten aller möglichen Welten führt.52 Daher spricht Schopenhauer in Bezug auf den Zweck des Lebens von einem »nur gleichnißweise wahren Ausdruck«53 und sucht zugleich nach anderen metaphorischen Wendungen, um die Rede von Mittel und Zweck zu umgehen. In diesem Sinne hatte er schon in einer sehr frühen Aufzeichnung von 1810 festgehalten: »Das Leben ist eine Sprache, in der uns eine Lehre gegeben wird. Könnte diese Lehre uns auf eine andere Weise beigebracht werden, so lebten wir nicht.«54 Vier Jahre später, in der Zeit, in der sich die reife Gestalt seiner Philosophie herausLieber gar Nichts als Etwas | 199

bildet, werden verschiedene Bilder ausprobiert: »Das Leben ist dem Menschen, d. h. dem Willen, eben das, was die chemischen Reagenzien dem Körper«; oder: »Das Leben ist nur der Spiegel, in welchen man sieht nicht damit er abspiegele, sondern damit man sich daran erkenne, sehe, was er spiegelt«; oder: »Das Leben ist der Korrekturbogen daran die im Setzen begangnen Fehler offenbar werden.«55 Wie wir gesehen haben, setzen sich die Bilder von dem sichtbar machenden Spiegel und von der zu entziffernden Schrift schließlich durch, um an die Stelle der kausalen Erklärung der Welt, auf die die Frage, warum Etwas ist, ursprünglich abzielt, das hermeneutische Verstehen der Bedeutung der Welt und des Sinnes des Lebens zu setzen. Die Frage zielt dann nicht mehr auf einen Grund oder Zweck der Welt, sondern darauf, ob angesichts der Einsicht in die Grundlosigkeit der Welt und der Ziellosigkeit ihres Wesens dem Leben ein Sinn zukommen kann, der das Dasein rechtfertigt, obwohl es aus sich heraus nicht zu rechtfertigen ist. Für Schopenhauer kann der Sinn konsequenterweise nur darin liegen, dass die Welt auf den Willen als das in ihr sich offenbarende Wesen hin ausgelegt wird, denn dann steht mit der Möglichkeit des Nichtwollens diese grund-, sinn- und ziellose Welt zur Disposition. So schreibt Schopenhauer: »Der Zweck des Lebens (ich brauche hier einen nur gleichnißweise wahren Ausdruck) ist die Erkenntniß des Willens. Das Leben ist der Spiegel des Willens, dessen in innrer Entzweiung bestehendes Wesen darin Objekt wird, durch welche Erkenntniß der Wille sich wenden kann und Erlösung möglich ist.«56

Weiter als bis zur negativen Auskunft über die Möglichkeit der Aufhebung der Welt ins Nichts durch die Verneinung des Willens zum Leben kann Schopenhauer nicht gehen; jede Äußerung über einen nach Aufhebung der sinnlosen Welt übrig bleibenden positiven Sinn des Lebens würde zu einem Rückfall in die erörterten Widersprüchlichkeiten führen. Auf die Frage, warum Etwas ist und nicht Nichts, gibt es daher nur die Antwort, dass Etwas ist, damit der Mensch durch es zum Nichts geführt werde, dass »der Werth des Lebens gerade darin besteht, daß es ihn lehrt, es nicht zu wollen«57. In der Dimension der Sinnfrage wird diese für das nach dem Satz vom Grunde verfahrende Denken widersinnige Antwort verständlich: Sobald und solange wir nach dem Sinn des Lebens fragen, ist 200 | matthias kossler

diesem eine Rechtfertigung aus sich selbst schon immer abgesprochen.58 Wenn das Leben nicht schon an sich selbst bedeutend ist, muss es seine Bedeutung in etwas anderem haben. Für die Religionen ist es das Jenseits, in dem das Leben Sinn und Erfüllung findet und für das der Mensch im Leben seine Lehre erhält; aber für eine Philosophie, die wie die Schopenhauers immanent bleiben will, ist das Andere des Lebens nur seine Negation – Nichts.

Anmerkungen

Clement Rosset: Schopenhauer, philosophe de l’absurde, S. 13 ff. Gottfried W. Leibniz: Principes de la Nature et de la Grâce fondés en Raison, S. 12 f. (§ 7). 3 Gottfried W. Leibniz: Monadologie, S. 44 (§ 44). Vgl. auch Rudolf Malter : ›Eine wahrhaft ruchlose Denkungsart‹, der zeigt, dass bei Leibniz der Satz vom Grunde selbst die Funktion hat, zu gewährleisten, dass eher Etwas ist als Nichts: »es ist kraft des Prinzips des Satzes vom zureichenden Grund gewährleistet, daß das dem Seienden einwohnende Nichts dieses nicht zu sich herabzieht« (ebd., S. 170). 4 Ebd. Die Formulierung »car le rien est plus facile, que quelque chose« (Gottfried W. Leibniz: Principes de la Nature et de la Grâce fondés en Raison, S. 12 f. (§ 7)) könnte auch als Reminiszenz an die im christlichen Schöpfungsgedanken enthaltene Voraussetzung gelesen werden, dass das Nichts das Selbstverständliche und das Dasein ein erklärungsbedürft iges sei. Dieser Aspekt, den Schopenhauer für den »einfachen Theismus« geltend macht, indem dieser »vom Daseyn der Welt auf ihr vorheriges Nichtseyn schließt« und sie »mithin vorweg als ein Zufälliges« (W II, S. 189) nimmt, tritt allerdings wie der überhaupt von Schopenhauer reklamierte »pessimistische[n] Geist des Christenthums« (P II, S. 321) in der Aufk lärung stark zurück. 5 Philipp Mainländer : Die Philosophie der Erlösung, Bd. 1, S. 324. 6 HN III, S. 555; vgl. W II, S. 664. 7 Gottfried W. Leibniz: Principes de la Nature et de la Grâce fondés en Raison, S. 14 (§ 7). 8 HN III, S. 555. 9 Diss., S. 18; vgl. G, S. 27. 10 G, S. 30; vgl. Diss., S. 22 f. 11 W I, S. 585. 12 W I, S. 592 f. 13 W II, S. 164. 14 W I, S. 96. 15 W I, S. 95. 1

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W I, S. 97. W I, S. 98. 18 W II, S. 665. 19 W II, S. 189. 20 W II, S. 189. 21 W II, S. 175 f. 22 W II, S. 189 f. 23 W II, S. 180. 24 W II, S. 181. 25 P I, S. 141. 26 W II, S. 203. 27 HN I, S. 91. 28 W I, S. 127. 29 W II, S. 198, 204. 30 P I, S. 247. 31 In der ersten Auflage der Welt als Wille und Vorstellung hatte Schopenhauer in Bezug auf das Verhältnis von Wille und Erscheinung noch geschrieben: »es kann eigentlich nur gleichnißweise ein Verhältniß genannt werden«. Dieser Zusatz wurde später gestrichen, vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Faksimiledruck, S. 692, mit W I, S. 618. 32 W I, S. 179. 33 W II, S. 153. 34 W I, S. 222. 35 W I, S. 218. 36 W I, S. 196. 37 W I, S. 196. 38 W I, S. 206. 39 Vgl. W I, S. 210. 40 W I, S. 206. 41 W II, S. 416. 42 Die Inkonsequenz, mit der Schopenhauer die Begriffe ›Objekt‹, ›Vorstellung‹ und ›Erscheinung‹, die zunächst als durch Raum, Zeit und Kausalität konstituierte eingeführt werden, für die Idee verwendet, bei der von diesen Formen abgesehen werden soll, liegt auf der Hand. Für die folgenden Ausführungen genügt es, wenn zugestanden wird, dass in der ästhetischen Betrachtung im weitesten Sinne ›Etwas‹ erfahren oder erkannt wird, und sei es nur ein Zustand des Subjekts. 43 W I, S. 484. 44 Vgl. z. B. HN I, S. 120: »Das beßre Bewußtseyn gehört ja eben nicht zur Welt, sondern steht ihr entgegen, will sie nicht.« 45 HN I, S. 35. 46 W I, S. 485. 16

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Vgl. dazu und zur Problematik ausführlicher Matthias Koßler: ›Nichts‹ zwischen Mystik und Philosophie bei Schopenhauer, S. 65–80. 48 W I, S. 485. 49 W I, S. 486. 50 W I, S. 486 f. 51 Es ist bezeichnend, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens, nachdem sie Ende des 18. Jhs. aufgetreten war, durch Schopenhauer eine große Verbreitung gefunden hatte. Vgl. Volker Gerhardt: Sinn des Lebens. 52 Zu Schopenhauers Vorwurf des Optimismus an Leibniz in diesem Zusammenhang vgl. Rudolf Malter: ›Eine wahrhaft ruchlose Denkungsart‹. 53 HN I, S. 167. 54 HN I, S. 13. 55 HN I, S. 91. 56 HN I, S. 167. 57 P II, S. 341. Dabei ist noch einmal daran zu erinnern, dass hier von einem Zweck nur in uneigentlichem Sinne zu sprechen ist und dass die Frage nach dem Wert des Lebens auf der Ebene der individuellen Existenz beantwortet wird. Eduard von Hartmann, der sich in seiner Philosophie des Unbewussten direkt auf die von Leibniz aufgeworfene Frage nach dem Vorzug des Seins vor dem Nichts bezieht und sie im Sinne Schopenhauers negativ beantwortet, spricht dagegen von einem »Endzweck des Weltprocesses«, der in der »Vernichtung des Wollens« bestehe (Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewussten, S. 529 ff., 633 f.). Damit ist aber, ähnlich wie auch bei der eingangs erwähnten Rede Philipp Mainländers von dem Willen Gottes, zu Nichts zu werden, der Satz vom Grund auf die Welt selbst angewandt, was Schopenhauer ablehnt. Bei ihm bleibt die individuelle Freiheit bestimmend: »Wem also die Welt, so wie sie ist, gefällt, der fahre fort, das Leben und dessen Güter zu wollen […].« (HN I, S. 398) 58 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Satz 6.521, S. 186: »Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems (Ist nicht dies der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langem Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand.)« Der paradigmatische Fall des unmittelbaren Aufgehens von Sinn ist bei Schopenhauer die ästhetische Kontemplation, bei der er der kantischen Bestimmung als interesseloses Wohlgefallen folgt. Das Schöne ist in sich selbst bedeutend, ohne Beziehung auf etwas anderes als Zweck oder Bedeutung. Daher stellt sich, wie zu sehen war, dem in seine Betrachtung Versunkenen nicht die Frage nach dem Sinn. 47

Lieber gar Nichts als Etwas | 203

Bibliographie

Arthur Schopenhauer wird zitiert nach: Schopenhauer, Arthur: Sämtliche Werke, hg. v. Arthur Hübscher. Wiesbaden 21946–1950. – G: Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (Bd. 1) – W I/II: Die Welt als Wille und Vorstellung (Bd. 2/3) – P I/II: Parerga und Paralipomena (Bd. 5/6) – Diss.: Dissertation, Gestrichenes, Zitate, Register (Bd. 7) Schopenhauer, Arthur: Der Handschriftliche Nachlaß, 5 Bde., hg. v. Arthur Hübscher. München 1985. – HN I: Frühe Manuskripte 1804–1818 (Bd. 1) – HN III: Berliner Manuskripte 1818–1830 (Bd. 3) Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Faksimiledruck der ersten Auflage von 1819 [1818]. Frankfurt a. M. 1987.

Gerhardt, Volker: Sinn des Lebens. In: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 1995, Bd. 9, Sp. 815– 824. Hartmann, Eduard von: Philosophie des Unbewussten. Versuch einer Weltanschauung. Berlin 1869 (Nachdr. Hildesheim 1989). Koßler, Matthias: ›Nichts‹ zwischen Mystik und Philosophie bei Schopenhauer. In: Bonheim, Günther/Regehly, Thomas (Hg.): Philosophien des Willens. Böhme, Schelling, Schopenhauer. Berlin 2008, S. 65–80. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Monadologie. In: ders.: Vernunft prinzipien der Natur und der Gnade/Monadologie, (franz./dt.). Hamburg 21982, S. 26–69. –: Principes de la Nature et de la Grâce fondés en Raison. In: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade/Monadologie, (franz./dt.). Hamburg 21982, S. 2–25. Mainländer, Philipp: Die Philosophie der Erlösung. Berlin 1876 (Nachdr. Hildesheim u. a. 1996). Malter, Rudolf: ›Eine wahrhaft ruchlose Denkungsart‹. Schopenhauers Kritik der Leibnizschen Theodizee. In: Studia Leibnitiana, XVIII (1986), S. 152– 182. Rosset, Clement: Schopenhauer, philosophe de l’absurde. Paris 1967. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. London 51951.

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– Reinhard Schulz –

Karl Jaspers: Sein-Nichts-Spekulation und gegenwärtig leben Einheit oder Widerspruch?

»Leibniz, Kant, vor allem Schelling konnten diese Frage in solchem Sinne stellen und sich von ihr in Bewegung bringen lassen: Warum ist überhaupt etwas, warum ist nicht nichts? Diese Frage bringt in ihrer rationalen Blässe doch die Situation zur Gegenwärtigkeit, in der wir erst eigentlich das Sein des Seins erfahren als das Unbegreifliche, Undurchdringliche, das vor allem Denken schon ist und auf uns zu kommt.«1

Jaspers’ Aufzählung dieser drei Klassiker der Frage nach Sein und Nichts ist beides zugleich: die Würdigung ihrer Verdienste bei der Auseinandersetzung mit dieser Frage wie auch die Distanzierung (»rationale Blässe«) von inzwischen historisch gewordenen philosophischen Denkformen, die mehr als die ontologische Erörterung des Unterschiedes von Sein und Nichts ›umgreifen‹ sollen. Ein Schlüsselbegriff sind dabei jene von Jaspers angesprochenen »Situation[en]«, die uns mit Grundfragen der angesprochenen Sorte überhaupt erst in Berührung kommen lassen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet Hans-Georg Gadamer, dessen Verhältnis zu seinem Amtsvorgänger Karl Jaspers alles andere als unproblematisch gewesen ist,2 diesen Unterschied zwischen theoretischen und existentiellen Fragen besonders prägnant zum Ausdruck gebracht hat: »Wir treffen das mitmenschliche Phänomen der Frage in seiner vollen Konkretion, wenn wir uns von der theoretischen Relation von Frage und Antwort, die die Wissenschaft ausmacht, abwenden und auf die namentlichen Situationen besinnen, in denen Menschen genannt und gefragt werden und sich selber fragen. […] Die moderne Existenzphilosophie hat diese Folgerung mit vollem Be| 205

wußtsein gezogen. Ich erinnere an die Philosophie der Kommunikation bei Jaspers, die darin ihre Pointe hat, daß das Zwingende der Wissenschaft dort ein Ende findet, wo die eigentlichen Fragen des menschlichen Daseins, Endlichkeit, Geschichtlichkeit, Schuld, Tod – kurz, die sogenannten ›Grenzsituationen‹ – erreicht sind.«3

Ohne Zweifel darf auch die ›Grundfrage‹ (im Folgenden die Abkürzung für die Frage ›Warum ist überhaupt etwas, warum ist nicht nichts?‹) zu diesen »eigentlichen Fragen« gezählt werden und beansprucht damit mehr, als eine nur akademische Frage für Philosophie und Wissenschaft zu sein. Wenn man daher Jaspers’ Beitrag zu dieser Frage gerecht zu werden versucht, sollten seine Auseinandersetzungen mit Leibniz, Kant und Schelling bezüglich dieser Frage stets unter Berücksichtigung seiner eigenen von der Tradition unterschiedenen existenzphilosophischen Perspektive zur Kenntnis genommen werden. Von besonderer Bedeutung ist dabei Jaspers’ Verständnis von Wahrheit,4 das sich sowohl von der philosophischen Tradition wie der der Wissenschaften deutlich unterscheidet. Denn ein nur von theoretischen Ansprüchen geprägter Wahrheitsbegriff kann für Jaspers genauso wenig überzeugen wie eine allein metaphysische oder ontologische Besinnung auf die ›Grundfrage‹. Auch wenn andere Vertreter der Existenzphilosophie wie Kierke-gaard, Sartre und Camus, aber auch Heidegger das Nichts besonders als Angst vor dem Nichts thematisiert haben und diese Angst auch bei Jaspers eine zentrale Rolle spielt,5 ist bei ihm die wechselseitige Durchdringung und das aufeinander angewiesen sein von Wahrheit und Nichts für die Konstitution einer »wahren Existenz« besonders hervorzuheben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in unserem konventionell geprägten Alltagsleben Fragen nach der Wahrheit und dem Nichts gewöhnlich keine Rolle spielen. Erst wenn ein als Störung empfundener Zweifel, sozusagen als pragmatische Vari-ante der ›Grundfrage‹, aufkommt, wird nach schnell zu findenden Auswegen und ebenso schnell zu erledigenden ›Reparaturen‹ gesucht, um ja nichts ändern zu müssen. Auf dieser vorwissenschaftlichen Ebene menschlichen Zusammenlebens scheinen daher die Vermeidung von Enttäuschungen und die Bestätigung, dass nichts Dramatisches passiert sei, im Vordergrund zu stehen.6

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1. Nichtsvergessenheit? Im Unterschied zu dieser natürlichen Einstellung bleibt es keinem akademisch Philosophierenden erspart, etwa in Gestalt des Atomismus bei Demokrit oder Epikur, der Einheitslehre Plotins, der christlichen Mystik oder Hegels Logik (auf Leibniz, Kant und Schelling komme ich im Zusammenhang mit Jaspers später noch ausführlich zurück), über kurz oder lang mit der ›Grundfrage‹ Bekanntschaft machen zu müssen. Bei allen Unterschieden zwischen den verschiedenen Denktraditionen gibt es Interpreten, die der Meinung sind, dass wir für die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem ›Nichts‹ die wichtigsten Aufgabenstellungen noch vor uns haben und diese als eine Anforderung erscheinen, die es nach den großen metaphysischen und zuletzt fundamentalontologischen Entwürfen ein weiteres Mal erlauben würden, die gesamte abendländische Philosophietradition in den Blick zu nehmen.7 Im Rahmen des aus den beiden Hauptteilen »Die Hamlet-Frage der neuzeitlichen Philosophie« und »Nichtsvergessenheit« bestehenden umfangreichen Hauptwerkes Nichts hat sich Ludger Lütkehaus für die Bearbeitung dieses Projekts im 16. Kapitel des ersten Teils dieses Buches auch Karl Jaspers vorgenommen. Um es vorwegzunehmen: Jaspers macht in der Perspektive des Schopenhauer-Herausgebers Lütkehaus keine gute Figur. Das überrascht insofern, als Jaspers ähnlich Lütkehaus in seiner Philosophie die politische Dimension der »geistigen Situation der Zeit«8 nie außer Acht gelassen hat und Lütkehaus das Kapitel über Jaspers auch mit der Atomkatastrophe von Hiroshima und Nagasaki beginnen lässt, der Jaspers bekanntlich ein ganzes Buch gewidmet hat.9 Lütkehaus lässt Jaspers aber ziemlich antiquiert erscheinen, wobei er den Anforderungen der Moderne nicht mehr gewachsen zu sein scheint, wenn Lütkehaus Jaspers u. a. ein Denken aus Traditionen unterstellt, »die dem schlechthin Neuen nicht mehr gerecht werden«10, ihm eine »ironische Situation« zuschreibt, in der eine »existentiell brüchige Situation« mit einem »Akt der Selbstvergewisserung balanciert«11 werde, der »›Periechontologe‹ Jaspers […] so erfolgreich ins ›Umgreifende‹ [transzendiere], daß von der Ontologie kaum noch etwas übrig bleibt«12, er »die Selbsterhaltung des Lebens überhaupt der eines bestimmten menschlichen Wesens«13 unterordne und schließlich bei Jaspers alles auf »ein Wagnis, das Karl Jaspers: Sein-Nichts-Spekulation und gegenwärtig leben | 207

alles in Frage stellt, weil es ein bestimmtes Bild des menschlichen Wesens nicht in Frage stellen will«14, hinauslaufe. Pessimismus meets Existenzphilosophie und lässt dabei alle Hoffnung fahren, eine Haltung, vor der Jaspers in der Überlieferung von Rolf Hochhuth am Ende seines Lebens in deutlicher Distanznahme zu Schopenhauer noch einmal eindringlich gewarnt haben soll.15 Lütkehaus kann mit Jaspers wenig anfangen und distanziert sich in zuweilen polemischer Manier von dessen Begrifflichkeit. Will man nun der in der Philosophie äußerst unbefriedigenden Alternative entgehen, sich entweder auf die Seite von Schopenhauers Pessimismus, den die Ausführungen von Lütkehaus atmen, oder Jaspers Existenzphilosophie zu schlagen, bleibt nur der Ausweg eines Vermittlungsversuchs. Dieser scheint an dieser Stelle allein schon deshalb geboten, weil bei Jaspers ebenfalls Denkmotive des Nihilismus aufzufinden sind, wie sie vor allem in Vernunft und Existenz in Auseinandersetzung mit der Nietzsche und Kierkegaard zugeschriebenen »endgültigen Unruhe«16 fruchtbar gemacht worden sind. Gegen die von Lütkehaus in seiner Kritik an Jaspers allzu wörtlich genommenen Beschreibungen von dessen Existenzphilosophie lässt sich von Jaspers anführen: »Weder das Positive der bloßen empirischen Realität noch das des existentiellen Grundes hat ein Recht ohne Vernunft. Jeder Ansatz einer Rechtfertigung tritt in den Kreis des Vernünftigen. Die Wahrheit des Nichtvernünftigen ist nicht möglich ohne die bis an die Grenze verwirklichte Vernunft. So wird die Begrifflichkeit der Existenzphilosophie ein Medium, durch das statt der Erhellung gerade die Verwirrung der Existenz hervorgebracht werden kann. Jede direkte Benutzung dieser Begriffe als Inhalt der Aussage, statt in ihnen unter ihrem Appell faktisch zu leben, ist schon auf diesem Wege […].«17

Diese scheinbar paradoxe »Wahrheit des Nichtvernünftigen« wie auch der appellative Charakter von Jaspers’ Philosophieren bleiben unverständlich, wenn man sie an den traditionellen philosophischen Vorverständnissen eines ontologischen Wahrheitsbegriffs misst oder den Zeitkern von Jaspers Überzeugungen übergeht bzw. diesen, wie Lütkehaus, sogar gegen Jaspers ausspielt. So schreibt Jaspers in Die großen Philosophen: »Vor einer Weltkatastrophe, 208 | reinhard schulz

die das Dasein der Menschheit bedroht, haben wir heute noch die Möglichkeit, uns die großen Denkerfahrungen auf Grund historischen Wissens anzueignen und sie zu übersetzen in gegenwärtige Kräfte.«18 Das ›Nichts‹ manifestiert sich in diesem Zitat in der Gefahr einer möglichen Vernichtung. Demgegenüber ist ein ständiges auf der Hut sein gefordert und für Jaspers kann Wahrheit daher nicht theoretisch, sondern nur im beständigen Unterwegssein erfahren werden: »Wir leben nicht unmittelbar im Sein, daher wird Wahrheit nicht unser fertiger Besitz. Wir leben im Zeitdasein: Wahrheit ist unser Weg.«19 Jaspers ist ein Denker, der nicht in Ordnungen und Systemen oder ontologischen Gegensatzpaaren wie Sein und Nichts denkt, sondern mit der ungeteilten Leidenschaft des Denkens nach neuen Wegen sucht: »Die Leidenschaft des Erkennens ist es, durch seine höchste Steigerung gerade dorthin zu gelangen, wo das Erkennen scheitert.«20 Das Scheitern als zentrales Thema von Jaspers’ Philosophieren kann als existenziell erlebte Variante des Nichts verstanden werden. Im Spannungsfeld der Objektivierungsansprüche von Philosophie und Wissenschaft und den vielgestaltigen subjektiven Erfahrungen des Scheiterns im Denken, Wissen und Handeln vollzieht sich unsere prekäre Existenzweise. »Verwirklichung im Scheitern kann so wirklich sein wie im Erfolg.«21 Denn weder die Leistungen der Wissenschaft noch ein gelingendes Leben können die Erfahrung des ›Nichts‹ in Gestalt des persönlichen Scheiterns aus der Welt schaffen. Um die Momente des Gelingens und des Scheiterns nicht künstlich voneinander trennen zu müssen, spricht Jaspers sogar von einer »nicht rationale[n] Wahrheit«: »Das Scheitern ist das Letzte; so erweist es die unerbittlich wirklichkeitsnahe Weltorientierung. Mehr noch: es ist in allem das Letzte, was überhaupt im Denken zur Gegenwart kommt: Es scheitert im Logischen die Geltung an dem Relativen; das Wissen sieht sich an den Grenzen vor Antinomien gestellt, an denen die widerspruchslose Denkbarkeit zugrunde geht; über das Wissen hinaus taucht als übergreifend die nicht rationale Wahrheit auf.«22

Karl Jaspers: Sein-Nichts-Spekulation und gegenwärtig leben | 209

2. Das Umgreifende Doch was soll man sich aber unter einer ›nicht rationalen Wahrheit‹ vorstellen? Zu einer Philosophiegeschichte, die vor allem als rationale Erkenntnisgewinnung in Gestalt bestimmter Wahrheitstheorien (z. B. Korrespondenz-, Kohärenz- oder Konsensustheorien) verstanden werden möchte,23 tritt Jaspers mit seiner Auffassung von Wahrheit in einen deutlichen Gegensatz. Dabei kann kein anderer Begriff als der des ›Umgreifenden‹ Jaspers’ gegenüber der Tradition andere Auffassung von Wahrheit besser verdeutlichen. Mit diesem Begriff möchte Jaspers jene traditionellen Begriffe wie etwa das Sein, das Leben oder den Geist außer Kraft setzen, die zu den bis heute anhaltenden Konflikten verschiedener philosophischer Denktraditionen immer wieder beitragen. In Opposition zu dem in diesem Streit vorherrschenden Begriffsdenken, bei dem je nach metaphysischem Systementwurf ein und derselbe Begriff sehr verschiedene Bedeutungen haben kann, stellt Jaspers fest: »Das Umgreifende wird nicht selbst zum Gegenstand, aber kommt in der Spaltung von Ich und Gegenstand zur Erscheinung. […] Jedes Gedachtsein bedeutet Herausgefallensein aus dem Umgreifenden.«24 So vollzieht sich die philosophische Spekulation über das Nichts im Leben des diese Spekulation vollziehenden, umgreifenden Denkens, welches sich in gegensätzlichen Weisen des Umgreifenden artikulieren kann: »Dieses Umgreifende ist uns in zwei entgegengesetzten Perspektiven ebenso gegenwärtig wie entschwindend: entweder als das Sein selbst, das alles ist, in dem und durch das wir sind; oder als das Umgreifende, als das wir selbst sind und worin uns jede bestimmte Seinsweise vorkommt; […].«25

Gegenwärtigkeit und Entschwinden, Erfahrung und Unbegreiflichkeit, Wahrheit und Nichts sind bei Jaspers auf eine untrennbare Weise miteinander verschränkt. In nachmetaphysischer Zeit ›nach dem Tode Gottes‹ (Nietzsche) wird deutlich, dass der Mensch selbst sich den Raum der Transzendenz willentlich aktiv – entscheidend – erringen muss, der ihm in früheren Zeiten traditionell vorgegeben war. Für ein rationalistisches Zeitalter wie das unsrige ist weder ein spiritueller Gottesbezug noch ein metaphysischer Wahrheitsanspruch eine selbstverständliche Gegebenheit. Wenn aber ein Gottes210 | reinhard schulz

oder Wahrheitsbezug von dem einzelnen Menschen hergestellt werden soll, dann müssen wir ihn uns mit Hilfe unserer Vernunft erarbeiten, um entweder einen unhinterfragten Fundamentalismus zu vermeiden oder der ›Entzweiung‹ (Ritter) entgegenzuarbeiten: »Subjektivität – das Individuum in sich – erhält da als weltgeschichtliche Gestalt, in welcher Schönheit und Wahrheit in Gefühlen und Gesinnungen sich darstellt, ihre epochale Funktion, wo die aufkommende Gesellschaft den Hain zu Holz, den Tempel zu Stein, das Schöne zum Ding macht und so die Subjektivität hervortreibt, um innerlich im Gefühl und im Herzen das zu bewahren, was die Gesellschaft in ihrer Tendenz zur Verdinglichung fortgibt oder zu ideologischem Schein und Überbau destruiert.«26

Der Mensch muss also in nachmetaphysischer Zeit Existenz und Transzendenz aus sich heraus lernen und wollen. Ähnlich wie bei seinem anfänglichen Freund und späteren Widersacher Martin Heidegger handelt es sich auch bei Jaspers mehr um eine gelebte »Wahrheitsbeziehung«27, als um ein gedankliches Theorem der Wahrheit, denn die Existenz in der Wahrheit, in der wir uns lernend und denkend bewegen, und das Wissen über die Wahrheit werden bei Jaspers und Heidegger nicht voneinander unterschieden. Dabei ist wichtig zu berücksichtigen, dass die im neuzeitlichen Konzept von Subjektivität enthaltene Doppeldeutigkeit, nämlich in eins zugrunde liegend und unterworfen zu sein, nicht vernachlässigt werden darf. Dieser Doppelaspekt neuzeitlicher Subjektivität kann sowohl auf die mathematisierte Naturerkenntnis als auch auf die kommunikative Dimension menschlicher Existenz bezogen werden. Aber ein cartesianisches Subjektverständnis, welches sich rein auf Rationalität (ohne Einbeziehung von Existenz und Transzendenz) stützt, neigt dazu, die für jede Subjektivität konstitutive Rolle von Kommunikation und Gemeinschaft aus dem Blick zu verlieren. Wogegen ein existentielles Subjektverständnis, welches Rationalität und Transzendenz zusammen denkt, Denkfiguren entwickeln kann, in der im Interesse der Freiheit die kommunikative Stärkung des Individuums und die Stärkung der Gemeinschaft als eine Aufgabe begriffen werden können. Frühe metaphysische Modelle einer Gemeinschaft mit Gott können dabei in nachmetaphysische Modelle einer Gemeinschaft unter Menschen transformiert werden und der Karl Jaspers: Sein-Nichts-Spekulation und gegenwärtig leben | 211

›philosophische Glaube‹ bei Jaspers kann ohne Verbindung zur menschlichen Kommunikation gar nicht gedacht werden.28 Wie aber Erkenntnis als ›Entfaltung des Glaubens‹ gedacht werden kann, hat Jaspers am Beispiel von Nikolaus Cusanus untersucht. »Die Lage ist im Cusanischen Denken noch ganz anders als heute. Bei ihm gipfelt nicht nur alle Welterkenntnis in der Gotteserkenntnis, sondern seine Welterkenntnis selber hält sich für angewiesen auf Gotteserkenntnis. Die endlichen Dinge sind für ihn nur begreiflich, wenn ihr Grund im Unbegreiflichen gegenwärtig ist. Die Gedanken, in denen das Unendliche unbegriffen berührt wird, sind ihm der Ausgang für das wahre Erkennen des Begreiflichen in der Endlichkeit.«29

Als Denker in einem nachmetaphysischen Zeitalter30 hat Jaspers dieses cusanische Modell der Vergegenwärtigung der ›Grundfrage‹ im Unbegreiflichen existenzphilosophisch rehabilitiert, denn »es wäre daher möglich, jede Weise des Umgreifenden eine Transzendenz zu nennen, nämlich gegenüber jedem in diesem Umgreifenden faßbar Gegenständlichen. […] Die eigentliche Transzendenz ist nicht erkennend zu erreichen, sondern ist nur existenziell zu erfahren als ein sich Schenkendes«31.

Dieser Vorrang des Existenziellen vor dem Rationalen, des Selbstseins vor dem Selbstbewusstsein unterbindet bei Jaspers jeglichen Rückfall in eine ontologische Auseinandersetzung mit der ›Grundfrage‹. Denn der Mensch habe keinerlei Zugang zu seinem eigenen Grund und könne sich auch nicht selber frei, vernünftig oder glauben machen.32 Mit der Metapher des ›geschenkt seins‹ umreißt Jaspers jenes für unser rationales Denken unzugänglich bleibende Geheimnis, dem wir uns – paradoxerweise – letztendlich selber verdanken. Jaspers’ eigene »philosophische Verfassung«, bei der »[d]ie in den Grund dringende Frage: Warum ist überhaupt etwas, warum ist nicht nichts?«33 in Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung sich allererst stellt, wird von dieser Paradoxie begleitet. Hierbei erscheint Cusanus als Wegbereiter einer »negativen Theologie«34, weil die Unaussprechlichkeit der Gottheit negative Aussagen provoziere, die – wiederum paradox – in ihrer Negativität allein ›Wahrheit‹ für sich beanspruchen könnten. Cusanus gehe 212 | reinhard schulz

aber noch einen Schritt weiter, indem er in unserem auf Gegensätze angewiesenen endlichen Denken ebenfalls eine Form des Transzendierens vorfinde. Denn alles Überschreiten dieser gedanklichen Gegensätze führe zu einem »methodisch vollzogene[n] Scheitern« und zu der »Einsicht in das Wesen des menschlichen Denkens und der Gegenstände menschlicher Denkbarkeit als gespalten in Gegensätze«, die den »denkenden Aufschwung zu Gott in den Gestalten der Undenkbarkeit, der coincidentia oppositorum«35 (Nikolaus Cusanus), den Zusammenfall des Entgegengesetzten, erlaube. Wie schon zuvor bei der »nicht rationalen Wahrheit« finden wir auch hier mit den »Gestalten der Undenkbarkeit« als Jaspers’ Auslegung der coincidentia oppositorum abermals eine Denkfigur vor, die eine bestimmungslose Einheit der Gegensätze postuliert und daher unserem rationalen, auf die Subjekt-Objekt-Spaltung angewiesenen Denken unzugänglich bleibt. Von diesen Überlegungen ist auch die ›Grundfrage‹ nicht ausgenommen, die in der Perspektive von Jaspers ebenfalls als bestimmungslose Einheit erscheint. Denn innerhalb seiner Konzeption des Umgreifenden kann Jaspers nicht – wie noch Hegel in seiner Logik – Sein und Nichts im Werden dialektisch vermitteln,36 sondern bei ihm sind, wie zuvor zitiert, Sein und Selbst als Weisen des Umgreifenden einander entgegengesetzt. Jaspers ist im Gegensatz zu Hegel kein dialektischer, sondern ein dichotomischer Denker, für den Umgreifendes, Transzendenz, Gott oder Nichts nicht kategorial gedacht, aber existentiell und geschichtlich erfahren werden können. Ein Denken des Nichts muss daher notwendigerweise scheitern, es bleibt aber eine ›Sein-Nichts-Spekulation‹ möglich, deren Sinn in ihrer existentiellen Bedeutung für den einzelnen Menschen zu suchen wäre. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Analogie, bei der Jaspers ›Sinneswahrnehmung‹ und ›Seinswahrnehmung‹ miteinander vergleicht und damit ein weiteres Mal den dichotomischen Charakter seines Existenzdenkens fruchtbar macht: »Wie ich ohne Sinneswahrnehmung keine empirische Feststellung machen kann, so kann ich ohne mögliche Existenz keine Seinswahrnehmung gewinnen.«37 »Seinswahrnehmungen« sind aber das Ergebnis von »Seinsspekulationen«38, die sich auf das Umgreifende beziehen und bei der ›Sein-NichtsSpekulation‹ verhält es sich nicht anders. Aber letztere Spekulation kann positiv Karl Jaspers: Sein-Nichts-Spekulation und gegenwärtig leben | 213

»[…] der Aufschwung zum eigentlichen Selbstsein im Spiegel des Denkens werden. Umschlossen von dem Sein, das Nichts ist, und dem Nichts, das Sein ist, befreit von dem bloßen Dingsein, das als solches ohne Grund und Tiefe ist, verwirklichen sich entgegengesetzte Denkbewegungen. Beide sind wahr, wenn sie gegenseitig einander hervortreiben. Beide sind falsch im Verlust ihres Gegenpols. Dann lassen sie versinken entweder in der Verantwortungslosigkeit außer der Welt oder in die blinde Verwirklichung des Daseins in der Welt«39.

3. Sein-Nichts-Spekulationen Mit diesem Zitat sind wir in dem Kapitel von Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung angekommen, in dem sich Jaspers in Auseinandersetzung mit den im Eingangszitat dieses Beitrages erwähnten Leibniz, Kant und Schelling in Verbindung mit unserer thematischen Frage: »Warum ist überhaupt etwas, warum ist nicht nichts?«40 eigens beschäftigt und es erscheint auf der Grundlage der zitierten »entgegengesetzte[n] Denkbewegungen« keineswegs überraschend, wenn Jaspers bei den für ihn maßgebenden Denkern der ›Grundfrage‹ durchgängig diese gegenläufige Denkbewegung nachzuweisen versucht. Bei Leibniz, der davon überzeugt gewesen sei, dass nichts ohne zureichenden Grund geschehen könne, müsse dieser Grund, um einen infiniten Regress zu vermeiden, außerhalb des kontingenten Weltgeschehens aufgesucht werden und Leibniz greife daher bloß auf die »Wiederholung eines der alten Gottesbeweise«41 zurück. Weil sich aber aus der Vorstellung der Vollkommenheit des Schöpfergottes die bestmögliche aller Welten umstandslos ableiten lasse und Leibniz die weitergehende Frage nach dem Dasein dieses Schöpfergottes nicht eigens thematisiert habe, komme die Frage nach dem Nichts außerhalb des dem gegenüber zufälligen Weltgeschehens gar nicht erst auf. Kant hingegen verweigere einerseits die Beantwortung der ›Grundfrage‹, insofern er die Überschreitung der Grenzen der Erfahrung als transzendentalen Schein entlarve,42 hebe andererseits aber den mit dieser spekulativen Frage verbundenen »Schwindel« und das »Schaudern« hervor, dem sich die Vernunft in 214 | reinhard schulz

ihrer Freiheit nicht entziehen könne. Es handele sich um ein »Denken, dem ›es nichts kostet‹, alles durch einen bloßen Gedanken verschwinden zu lassen«43. Dieser Hinweis richtet sich auch kritisch gegen vergebliche Gottesbeweise, die immer dann ins Spiel gebracht werden, wenn die Vernunft sich mit Fragen konfrontiert sieht, die weder beweisbar noch widerlegbar sind bzw. die Vernunft sich Gedanken zu erwehren habe, die sie nicht ertragen könne.44 Einzig Schelling habe sich dieser Frage wirklich gestellt. Denn: »Frage und Antwort sind bei Leibniz, Kant, Schelling trotz ähnlicher Begrifflichkeiten dem philosophischen Sinn nach ganz verschieden. Eine einfache gedankliche Operationstechnik bei Leibniz, die Erzeugung eines Schwindels am Abgrund durch den klaren und tiefen Gedanken bei Kant, Vergewisserung des ewigen Ja bei Schelling.«45

Auch hier ist wiederum bemerkenswert, dass Jaspers die ›SeinNichts-Spekulation‹ bei Schelling zu einer »Vergewisserung des ewigen Ja« getrieben sieht und sich damit einmal mehr als ein dichotomischer Denker, dieses Mal zwischen existentiellem Scheitern in der realen Welt und absoluter Hoffnung im erlösenden Heil des Übersinnlichen (»ewiges Ja«), zu erkennen gibt. Doch was ist unter dem »ewigen Ja« genau zu verstehen und warum wird gerade Schelling für Jaspers zum wichtigsten Gewährsmann dieser Spekulation? Jaspers weist in seinem Spätwerk Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung selber in einer Fußnote auf seine sieben Jahre früher publizierte Schrift Schelling. Größe und Verhängnis hin,46 und es kann daher aufschlussreich sein, zunächst einmal einen Seitenblick in diesen Text zu werfen, bevor dem Gedankengang von Jaspers in der Offenbarung weiter nachgegangen werden soll. Bereits im Vorwort des Schelling-Buches wird deutlich, was Jaspers als einen nachmetaphysischen Denker47 an Schelling besonders fasziniert haben dürfte: »Schelling ist vielleicht der erste moderne Denker im Sinne einer unserer Welt zugehörigen geistigen Brüchigkeit. […] Ihn zu studieren bedeutet, uns selber besser zu verstehen, weil er uns bleibende Möglichkeiten unseres Zeitalters zeigt: den Übergang von Größe in Gebärde, von Wahrheit in Absurdität, von heller Mitteilung in Magie.«48 Karl Jaspers: Sein-Nichts-Spekulation und gegenwärtig leben | 215

Jaspers hebt hervor, dass er Schelling viel verdanke und nach dem Ersten Weltkrieg mehr als dreißig Jahre mit ihm philosophiert habe, um die »Narreteien der Philosophiegeschichte« und den »Scheideweg zwischen Existenzerhellung, die uns erweckt zu uns selbst, und Gnosis, die uns betäubt mit Visionen eines Scheinwissens«49 besser kennenzulernen. Es gibt in diesem Buch ein eigenes Kapitel: »Schellings Frage: Warum ist überhaupt etwas, warum ist nicht nichts?«50, wonach Schelling anders als Parmenides und Leibniz diese ›Grundfrage‹ nicht nur gedacht oder berührt, sondern wirklich gestellt habe. Jaspers distanziert sich in diesem Kapitel von der traditionellen Metaphysik, die mit ihren Kategorien versuche, über Kategorien hinaus zu denken, was jedoch zu einem »logischen Einsturz«51 führen müsse. Von Schelling lägen unterschiedliche Antworten auf die ›Grundfrage‹ vor, wobei seine früheste Antwort die Unbegreiflichkeit und ewige Unmöglichkeit des Nichtseins behaupte. Jedoch tue sich durch diese Antwort für den menschlichen Verstand ein unbegreiflicher, Schwindel erregender Abgrund auf, der zu einer neuen Einsicht führe, bei der das »kontemplative Denken« sich zur »Erfahrung der Unbedingtheit existentiellen Entschlusses im Leben selber«52 wandele. Weil das endliche Denken das Sein nur in Verhältnissen und Bedingungen, aber nicht selber denken könne, liege der unbedingte Entschluss als reine Denkmöglichkeit gewissermaßen außerhalb der Seinswirklichkeit: »Kein Gedanke erreicht die Wirklichkeit.«53 Doch auch bei dieser Antwort drohen in Gestalt eines kategorialen Scheins neue Schwierigkeiten. Denn ist es nicht so, dass der ursprüngliche Gegensatz von Sein und Nichts durch lediglich kategoriale Operationen zunächst in den von Realität und Nichtrealität und dann in den von Möglichkeit und Wirklichkeit transformiert worden ist? Jaspers versucht dieser Schwierigkeit zu entgehen, indem er mit Schelling den Begriff der Wirklichkeit in den der notwendigen Existenz transformiert und damit Schelling in gewisser Weise zum Wegbereiter seiner eigenen Existenzphilosophie stilisiert, ohne ihm jedoch, wie wir noch sehen werden, vollständig folgen zu können. Zukünftige Antwortversuche auf die ›Grundfrage‹, das möchte uns Jaspers verdeutlichen, nehmen mit Schelling eine andere Struktur an und lassen traditionelle Antworten bisheriger Metaphysik als sinnlos erscheinen: 216 | reinhard schulz

»Die Notwendigkeit der Wirklichkeit (der Existenz), vor der die Vernunft verstummt, ist keine Antwort mehr auf die Frage. Die Frage ist vielmehr niedergeschlagen und darin die das Seinsbewußtsein neu begründende Erfahrung des Denkens. Das Denken sieht sich übertroffen im Hinnehmen- und Anerkennenmüssen. […] in dem Augenblick, in dem die Wirklichkeit, das durch keine Vernunft Erreichbare, das nur Anzuerkennende, dem keine Kategorie, kein Denken angemessen ist, vor dem die Vernunft verstummt, mit einem Sprung begriffen wird: es ist die ewige Freiheit.«54

Das denkende Subjekt kann die vorreflexive Dimension des Seinsbewusstseins nicht gedanklich einholen, es erweist sich jedoch sowohl empirisch als auch apriorisch von ihr abhängig. Denn selbst die apriorischen Bedürfnisse, die in der ›Sein-Nichts-Spekulation‹ Befriedigung suchen, entstammen einem existentiellen Seinsgrund, der selbst nicht noch einmal zum Reflexionsgegenstand gemacht werden kann. Das reflektierende Ich ist zugleich von der Existenz, dem Anderen, das es nicht ist, getrennt und mit dieser Existenz als seinem irreflexiven Seinsgrund identisch. Es ist seiner ›Natur‹ nach nicht mehr das erste ›Ich denke‹, das alle meine Vorstellungen soll begleiten können (Kant), sondern stets das zweite eines ihm voraus liegenden Anderen, welches es nicht ist und auch nicht sein kann. Einerseits fasziniert Jaspers Schellings Versuch, die paradox anmutende Identität von Identität und Differenz zu denken, und die in Jaspers’ Existenzphilosophie immer wieder verwendete Metapher des ›Sprungs‹ markiert die Abkehr von und den Wendepunkt in der ›Grundfrage‹, wenn es heißt: »Die Frage, warum überhaupt etwas ist, wird also faktisch zu einer untergeordneten. Sie bezieht sich nicht mehr auf das Sein, das All, Gott, sondern nur noch auf die reale Welt. Sie findet eine Antwort durch Erzählung des Freiheitsaktes, der aus dem Übersein, das weder Sein noch Nichtsein ist, das Sein setzt.«55

Andererseits markiere diese Wende von der ›Sein-Nichts-Spekulation‹ zu einer das Sein setzenden Freiheitserfahrung aber auch eine Abkehr Schellings von Kant, mit der Jaspers gar nicht einverstanden sein kann, weil sie die produktive Spannung (»Schwebe«56) preisgibt, durch die sowohl die kritische Philosophie Kants als auch seine Karl Jaspers: Sein-Nichts-Spekulation und gegenwärtig leben | 217

eigene Existenzphilosophie sich auszeichnen. Das »ewige Ja«, das Jaspers Schelling als Antwort auf die ›Grundfrage‹ attestiert hatte, erweist sich damit als Hybris. Das in Aussicht gestellte Heilsversprechen wird zu einer gefährlichen Täuschung. Über diese Interpretation können wir aber auch besser verstehen, warum Jaspers Schelling zu einem der unsrigen, zum ersten Denker der Moderne erklärt hatte, dem eine spezifische »geistige Brüchigkeit«, wie es im Vorwort des Schelling-Buches heißt, eigen sei. Denn wie kein anderes Zeitalter ist unsere Moderne und Nachmoderne durch vielfältige Ambivalenzen gekennzeichnet, deren Unerträglichkeiten wir mehr oder weniger erfolgreich zu kompensieren versuchen. Gegenwärtig handelt es sich dabei vor allem um die ›Erzählungen‹ naturalistischer Heilsversprechen, deren prominenteste Zulieferer die Lebenswissenschaften und die Hirnforschung sind (»Länger jung bleiben. So wollen die Forscher das Altern ausbremsen«57). Dass die gefürchteten Ambivalenzen durch diese Naturalisierungstendenzen, anstatt abgemildert zu werden, zu einer noch größeren Gefahr werden können, hatte Odo Marquard in seiner Habilitationsschrift in einem groß angelegten Grundlegungsversuch der Psychoanalyse in der romantischen Naturphilosophie als »(potentielle) Negation« des Ichs durch seine eigene »Triebnatur«58 als eine mögliche Gefahr beschrieben. Jaspers steht derartigen Verabsolutierungen, egal ob nach ›oben‹ (»ewiges Ja« in absoluter Freiheit, Schelling) oder nach ›unten‹ (»bloße Triebnatur«, Marquard) gleichermaßen kritisch gegenüber, weil man damit die ›Schwebe‹, jene Offenheit, negieren würde, auf die es Jaspers in Anknüpfung an Kant besonders ankommt. Der Schluss des ›Grundfrage‹-Kapitels im Schelling-Buch gipfelt daher bei aller Anerkennung Schellings in einem Bekenntnis zu Kant: »[…] bei Kant an der Grenze das tiefste Nichtwissen, bei Schelling das Erkennen des Nichtgewußten: […]. Schelling aber hat dieses Kantische Grenzbewußtsein preisgegeben zugunsten eines Wissens und damit zugleich die Denkungsart Kants verworfen. […] Wohin sind wir mit Schellings Frage gelangt? Von der Souveränität großen philosophischen Hindringens und dem Stehen an der Grenze zu den trüben und beschränkenden Bereichen der Gnosis, die ein gegenständliches Erkennen des Übersinnlichen, damit des Seins selbst, in 218 | reinhard schulz

Anschauungen und Geschichten behauptet und dieses Wissen als Heil der Seele erfährt.«59

4. Unbegreifliche Gegenwärtigkeit Mit dieser negativen Bilanz kehren wir zu Jaspers’ Spätwerk Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung zurück und es bleibt zu fragen, ob Jaspers die ›Grundfrage‹ dort noch weiter getrieben hat. Es handelt sich im Wesentlichen um drei mit den Ziffern 7–9 gekennzeichnete Aspekte, die über das bereits Gesagte hinaus noch angesprochen werden sollten, nämlich die Rolle der Sprache, die »innere Verfassung« (Haltung) und das »Denken in Chiffern«60. Sprachlich sei das ›ist‹ der ›Grundfrage‹ von besonderer Bedeutung, das nicht als ein innerweltliches ›Etwas‹, sondern als »Frage in der Chiffernwelt«61 verstanden werden solle. Damit sei ein Spielraum eingeräumt, die Seinsfrage auf je unterschiedliche Weise verstehen zu dürfen. Bezüglich der spezifischen Fragehaltung, die die ›Grundfrage‹ provoziere, wiederholt Jaspers noch einmal die im SchellingBuch vorgenommenen Charakterisierungen über Leibniz, Kant und Schelling und unterstreicht, dass es sich bei dieser Frage um keine Forschungsfrage, sondern um eine Frage mit einem »vorlogischen, vitalen oder existentiellen Charakter«62 handele. Im Hinblick auf die ›Sein-Nichts-Spekulation‹ ist bemerkenswert, dass Jaspers unter Bezugnahme auf seine eigene ärztliche Praxis den »Seinsgewißheiten« »Seinsungewißheiten« gegenüberstellt, denen »mit Argumenten allein nicht beizukommen«63 sei. Allen Versuchen, mit philosophischen Mitteln auf die Lebenspraxis positiven Einfluss nehmen zu wollen, erteilt Jaspers eine eindeutige Absage, hebt aber zugleich den aufrüttelnden Charakter der ›Grundfrage‹ hervor: »Die beschwörende Frage: warum ist nicht nichts? erzeugt im Schwindligwerden das entschiedenste Seinsbewußtsein und in ihm die geschichtliche Gewißheit des Sichübernehmens der Existenz.«64 Ohne das Vorhandensein einer schon bestehenden ›existentiellen Grundverfassung‹ habe diese Frage jedoch keine Chance, den Menschen überhaupt zu erreichen und ohne Bereitschaft, den Bereich des gegenständlichen Denkens zu verlassen, bleibe die »existentielle Erhellung durch Denken in Chiffern und durch Überschreiten Karl Jaspers: Sein-Nichts-Spekulation und gegenwärtig leben | 219

der Chiffern«65 aus. Abschließend bricht Jaspers eine Lanze für das seiner Meinung nach gar nicht so selbstverständliche spekulative Denken, dessen Wert er nicht an den Antworten, sondern an einem »plötzlichen Ruck«66 bemisst, der den ganzen Menschen ergreife. Damit dürfte hinreichend klar geworden sein, dass für Jaspers die vielen Antworten auf die ›Sein-Nichts-Spekulation‹ von untergeordnetem, allein philosophiehistorischem Interesse sein dürften. Wohingegen die »innere Verfassung«67 in der Stellung der Frage für jeden einzelnen Menschen als eine mögliche Bedingung für die »Existenzerhellung«68 von allerhöchstem Rang sein kann. Der spekulative Denkanstoß (»Ruck«) kann dann zu grundsätzlicheren Fragen des Gelingens und Scheiterns in den Lebensvollzügen der eigenen Existenz führen. Jaspers bietet uns eine relationale ›schwebende‹ Form des Philosophierens an, die weder im Kreis reiner Subjektivität verbleibt noch zu einer falsch verstandenen Objektivität trügerischer Gewissheiten führen soll. Die Abgründigkeit der ›SeinNichts-Spekulation‹ kann zu einem Anlass werden, die eigene Existenz zu ergreifen – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ob es dazu kommt oder nicht, darüber ›entscheidet‹ der Augenblick. Wenn daher in der Überschrift dieses Beitrages danach gefragt wird, ob gegenwärtig zu leben mit der Nichtsspekulation vereinbar sei oder nicht, dann meint ›Gegenwärtigkeit‹ alles andere als ›überhaupt leben‹, ›heute leben‹, ›in dieser Gesellschaft leben‹, ›gut oder schlecht leben‹, ›intensiv leben‹, ›gesund oder krank leben‹ usw., sondern nimmt Bezug auf jenen ›Augenblick‹, den Jaspers ganz am Ende seiner letzten Vorlesung unter dem Titel Die Chiffern der Transzendenz an der Universität Basel im Sommersemester 1961 wie folgt charakterisiert: »Der Augenblick ist die einzige Gegenwart des Ewigen, – im Unterschied vom verschwindenden Jetzt, das immer nur dahinfließt. Das, worüber man nicht mehr reden kann, woraufhin zu denken möglich ist, woraus alle Philosophie ihren Gehalt hat, ist als Gegenstand nicht da, als Willensziel nicht zu fordern und nicht zu erreichen. Dieses Gegenwärtige ist das Einfache und Unbegreifliche, […] in erfüllter Gegenwärtigkeit, solange wir da sind, immer noch und immer wieder möglich.«69

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Anmerkungen

Karl Jaspers: Von der Wahrheit, S. 117. Vgl. Reinhard Schulz: Karl Jaspers und Hans-Georg Gadamer. 3 Hans-Georg Gadamer : Was ist Wahrheit?, S. 53 f. 4 Vgl. Reinhard Schulz: Karl Jaspers und die Wahrheit. 5 Vgl. Karl Jaspers: Philosophie II, S. 225 f.: »Die Angst im Schaudern vor dem Nichtsein ist unaufhebbar für den Daseinswillen und bleibt das Letzte, wenn das Dasein schlechthin alles ist […] Gegen die Verdeckung dieser Angst durch Vorstellungen von einer sinnlichen Unsterblichkeit ist radikal das Nichts zu erfassen, das im Tode bleibt, sofern man an sinnliches Dasein denkt. Nur aus diesem Nichts kann mir die Gewißheit der wahren Existenz werden, die in der Zeit erscheint, aber nicht zeitlich ist. Diese Existenz kennt eine andere Verzweiflung des Nichtseins, die sie trotz ihres vitalen Daseins im Kontrast zu seiner gleichzeitigen Frische und Fülle überkommen kann. Die Angst existentiellen Nichtseins ist von so anderer Qualität als die Angst vor dem vitalen Nichtdasein, daß trotz gleicher Worte, Nichtsein und Tod, nur die eine Angst wahrhaft herrschen kann.« 6 Vgl. Ludger Lütkehaus: Nichts, S. 599: »So elementar das Nichts für das menschliche Selbstverständnis ist, so wenig wollen die Menschen in der Regel davon wissen – aus naheliegenden Gründen, die Schopenhauer erhellt hat: Was lebt und leben will, scheut seinen Antipoden, seinen Gegenbegriff und seine Gegenmöglichkeit.« 7 Vgl. ebd., S. 600: »Denn das Nichts ist das ›Andere‹ par excellance; wenn man es steigern könnte: das ›anderste Andere‹, ohne auch nur die Bedeutung haben zu können, die Mystik und negative Theologie dem ›Ganz Anderen‹ geben. Eine Kritik der Nichtsvergessenheit also als Kritik der Projektionsformen der Ontomorphie. Diese Aufgabenstellung gilt vorab für die abendländische Philosophie. Sie ist die seinsbesessenste, nichtsvergessenste und in diesem Sinn, freilich auch nur in diesem, die ›menschlichste‹ Philosophie, aus der am rückhaltlosesten der Wille zum Sein spricht.« 8 Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit. 9 Vgl. Karl Jaspers: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. 10 Ludger Lütkehaus: Nichts, S. 499. 11 Ebd., S. 505. 12 Ebd., S. 507. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 508. 15 Vgl. Rolf Hochhuth: Lebensfreundlichkeit, S. 302 f.: »Jaspers lobte Schopenhauer zunächst mit einem Sarkasmus, daß man sich genierte, so an ihm zu hängen; schließlich sagte er: ›Er bleibt natürlich eine immer noch sozusagen amüsante Lektüre – aber wodurch wirkte er denn? Durch politische Verantwortungslosigkeit, durch seine Verachtung des Menschen, des Lebens, 1 2

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der Geschichte, des Staates, von dem er aber seine lebenslängliche Rente gegen Revolutionäre geschützt haben wollte – sein Bild der Welt verpfl ichtet zu gar nichts, jedes Tier stand ihm näher als jeder Mensch.‹ […] Jaspers […] war erbittert, daß wir Deutschen wieder einen Kanzler hatten, der Nazi gewesen war. So konnte ich einen unzulänglichen Versuch machen, auch die Hoff nungslosigkeit Schopenhauers zu verteidigen: ›Sie selber sind ja ohne Hoff nung!‹ Er sah mich an, dann richtete er, wie er zu antworten begann, sich im Bett auf und sagte mit Leidenschaft, daß ihm Tränen in die Augen kamen: ›Aber das darf man nicht zeigen! Man darf sich doch nicht zurückfallen lassen – man muß doch den Sprung wagen, auch ins Dunkle, auch ohne Sicherheit, auch ohne Hoff nung. Hoff nungslosigkeit hilft doch keinem Menschen.‹« 16 Karl Jaspers: Vernunft und Existenz, S. 105. 17 Ebd., S. 95. 18 Karl Jaspers: Die großen Philosophen, S. 13. 19 Karl Jaspers: Von der Wahrheit, S. 1. 20 Karl Jaspers: Einführung in die Philosophie, S. 60. 21 Karl Jaspers: Von der Weite des Denkens, S. 52. 22 Karl Jaspers: Philosophie III, S. 220. 23 Vgl. Jürgen Mittelstraß (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, S. 582–587, 595–600. 24 Karl Jaspers: Einführung in die Philosophie, S. 25 f. 25 Karl Jaspers: Vernunft und Existenz, S. 36. 26 Joachim Ritter : Subjektivität, S. 9. 27 Martin Heidegger : Sein und Zeit, S. 216. 28 Karl Jaspers: Der philosophische Glaube, S. 38: »Es sind die großen Verführungen: durch den Glauben an Gott sich den Menschen zu entziehen, durch die vermeintliche Erkenntnis der absoluten Wahrheit seine Einsamkeit zu rechtfertigen, durch den geglaubten Besitz des Seins selbst sich eine Zufriedenheit zu verschaffen, die in der Tat Lieblosigkeit ist. […] Dagegen steht der philosophische Glaube, den man auch Glauben an Kommunikation nennen kann. Denn hier gelten die beiden Sätze: Wahrheit ist, was uns verbindet – und: in der Kommunikation hat Wahrheit ihren Ursprung.« 29 Karl Jaspers: Nikolaus Cusanus, S. 146. 30 Wenn ich Jaspers hier als einen ›Denker in einem nachmetaphysischen Zeitalter‹ bezeichne, dann geschieht das im Wissen darum, dass der 3. Band von Jaspers Hauptwerk Philosophie den Titel Metaphysik trägt, in der aber ›Transzendenz‹ und das ›Lesen der Chiff reschrift‹ die Hauptuntersuchungsgegenstände sind. In einer vorläufigen Kennzeichnung nenne ich diese Art von ›Metaphysik‹ im Unterschied zur Metaphysiktradition und in Anspielung auf eine Formulierung des Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty Das Metaphysische im Menschen. Dabei handelt es sich um ein Kapitel aus dem Nachlassband Sinn und Nicht-Sinn, S. 111–132. 31 Karl Jaspers: Von der Wahrheit, S. 109. 222 | reinhard schulz

Anton Hügli: Jaspers’ Vorlesung ›Die Chiffern der Transzendenz‹, S. 117: »[…] – denn ich kann mich nicht selbst glauben machen wollen, wenn ich nicht schon glaube.« 33 Karl Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Off enbarung, S. 406. 34 Ebd., S. 390. 35 Ebd., S. 391. 36 Vgl. Georg W. F. Hegel : Wissenschaft der Logik, S. 72: »Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe. Was die Wahrheit ist, ist weder das Sein noch das Nichts, sondern daß das Sein in Nichts und das Nichts in Sein – nicht übergeht – sondern übergegangen ist. […] Ihre Wahrheit ist also diese Bewegung des unmittelbaren Verschwindens des einen in dem anderen: das Werden, eine Bewegung, worin beide unterschieden sind, aber durch einen Unterschied, der sich ebenso unmittelbar aufgelöst hat.« Gegen Hegel wendet Jaspers ein: »Die Frage: warum ist nicht nichts? beruht auf einer Alternative: entweder es ist Sein oder es ist Nichts. Das Sein ist. Warum? Die Alternative verschwindet in der Sein-Nichts-Spekulation: Das reine Sein ist Nichts (Hegel). Hier handelt es sich nicht mehr um Alternative, sondern um Dialektik.« (Karl Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, S. 411) 37 Karl Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Off enbarung, S. 396 f. 38 Ebd., S. 397. 39 Ebd., S. 412. 40 Ebd., S. 406–416. 41 Ebd., S. 408. 42 Ebd., S. 407: »Das spekulative Denken operiert mit Gegenständen, die keine sind.« 43 Ebd. 44 Vgl. ebd., S. 406. 45 Ebd., S. 409. 46 Vgl. ebd., S. 408. 47 S. Anm. 30. 48 Karl Jaspers: Schelling, S. 7. 49 Ebd., S. 9. 50 Ebd., S. 124–130. 51 Ebd., S. 124. 52 Ebd., S. 126. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 128. 55 Ebd. 56 Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit, S. 149: »Existenzphilosophie ist das alle Sachkunde nutzende, aber überschreitende Denken, durch das 32

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der Mensch er selbst werden möchte. Dieses Denken erkennt nicht Gegenstände, sondern erhellt und erwirkt in einem das Sein dessen, der so denkt. In die Schwebe gebracht durch Überschreiten aller das Sein fi xierenden Welterkenntnis (als philosophische Weltorientierung), appelliert es an seine Freiheit (als Existenzerhellung) und schafft den Raum seines unbedingten Tuns im Beschwören der Transzendenz (als Metaphysik).« 57 Überschrift des Leitartikels von Spektrum der Wissenschaft, Juli 2012. 58 Odo Marquard : Transzendentaler Idealismus, S. 159: »So ist es: die naturphilosophische Ermächtigung der Natur ›begründet‹ nicht nur, sie ›gefährdet‹ auch das Ich und seine Geschichte, setzt sie ihrer (potentiellen) Negation aus; denn die naturphilosophisch ermächtigte Natur könnte als Negation des Ichs, als Zerstörung der Vernunft, als Verderben der Geschichte – sie könnte als bloße ›Triebnatur‹ sich erweisen.« 59 Karl Jaspers: Schelling, S. 130. 60 Karl Jaspers: Kleine Schule des philosophischen Denkens, S. 132 f.: »Wir leben in der Welt der Chiffern, in der sich uns zeigen soll, was eigentlich ist, aber sich nicht zeigt, sondern in unendlich sich abwandelnden Bedeutungen bleibt. Chiffern sind gleichsam eine Sprache der Transzendenz, die als von uns hervorgebrachte Sprache doch von dort zu uns dringt. Die Chiffern sind objektiv: in ihnen wird etwas gehört, was dem Menschen entgegenkommt. Die Chiffern sind subjektiv: Der Mensch schafft sie nach seiner Vorstellungsweise, Denkungsart, Anschauungskraft. Chiffern sind in der Subjekt-ObjektSpaltung objektiv und subjektiv zugleich.« 61 Karl Jaspers: Der philosophische Glaube angesichts der Off enbarung, S. 413. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 414. 64 Ebd. 65 Ebd., S. 415. 66 Ebd., S. 416. 67 Ebd., S. 413. 68 S. Anm. 56. 69 Karl Jaspers: Die Chiffern der Transzendenz, S. 112.

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Bibliographie

Gadamer, Hans-Georg: Was ist Wahrheit?. In: ders.: Hermeneutik II, Wahrheit und Methode, Ergänzungen, Register. Tübingen 1986, S. 44–56. (= Gesammelte Werke, Bd. 2) Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein. Hamburg 1990. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 1972. Hochhuth, Rolf: Lebensfreundlichkeit. In: Piper, Klaus/Saner, Hans (Hg.): Erinnerungen an Karl Jaspers. München/Zürich 1974, S. 297–303. Hügli, Anton: Jaspers’ Vorlesung ›Die Chiffern der Transzendenz‹ im Kontext seines Schaffens während seiner Basler Zeit. In: Jaspers, Karl: Die Chiffern der Transzendenz. Basel 2011, S. 115–134. Jaspers, Karl: Der philosophische Glaube. München 1954. –: Kleine Schule des philosophischen Denkens. München 1965. –: Nikolaus Cusanus. München 1968. –: Philosophie, 3 Bde. Berlin/Göttingen/Heidelberg 41973. –: Vernunft und Existenz. München 1973. –: Die geistige Situation der Zeit. Berlin 1978. –: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewusstsein in unserer Zeit. München 1983. –: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung. München 1984. –: Schelling. Größe und Verhängnis. München 1986. –: Die großen Philosophen. München 1988. –: Von der Wahrheit. München 1991. –: Einführung in die Philosophie. München 2003. –: Von der Weite des Denkens. Eine Auswahl aus seinem Werk, hg. v. Hans Saner. München 2008. –: Die Chiffern der Transzendenz. Basel 2011. Lütkehaus, Ludger: Nichts. Abschied vom Sein. Ende der Angst. Zürich 1999. Marquard, Odo: Transzendentaler Idealismus. Romantische Naturphilosophie. Psychoanalyse. Köln 1987. Merleau-Ponty, Maurice: Sinn und Nicht-Sinn. München 2000. Mittelstraß, Jürgen (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 4. Stuttgart/Weimar 1996. Ritter, Joachim: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt a. M. 1974. Schulz, Reinhard: Karl Jaspers und die Wahrheit. In: Yousefi, Hamid Reza/ Schüßler, Werner/Schulz, Reinhard/Diehl, Ulrich (Hg.): Karl Jaspers. Grundbegriffe seines Denkens. Reinbek 2011, S. 141–154. –: Karl Jaspers und Hans-Georg Gadamer. Ein Traditionsbruch?. In: Meints, Waltraud/Daxner, Michael/Kraiker, Gerhard (Hg.): Raum der Freiheit. Reflexionen über Idee und Wirklichkeit. Festschrift für Antonia Grunenberg. Bielefeld 2009, S. 71–81. Karl Jaspers: Sein-Nichts-Spekulation und gegenwärtig leben | 225

– Ivo De Gennaro · Gino Zaccaria –*

›Um des Seyns willen‹ Heidegger und der Schritt zum Grund »Nihilismus hieße dann: das wesenhafte Nichtdenken an das Wesen des Nichts.« Martin Heidegger 1 »Il primo principio delle cose è il nulla […].« Giacomo Leopardi2

Zu Beginn des 74. Abschnittes der Abhandlung Besinnung, der den Titel »Warum?« trägt und allein den XXI. Teil dieser Abhandlung »Die metaphysische Warumfrage (Übergangsfrage)« bildet, schreibt Heidegger: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts? […] So wurzelhaft diese Frage scheinen mag, sie hängt doch nur im Vordergrund des gegenständlich vorgestellten Seienden. Sie weiß nicht, was sie fragt; denn damit jenes wese, was sie als Gegenmöglichkeit zur Wirklichkeit des Seienden, zum Seienden als dem Wirklichen, noch kennt, nämlich das Nichts, muß ja das Seyn wesen, das einzig stark genug ist, das Nichts nötig zu haben.«3

Auf diese Weise ist eine Bestimmung der metaphysischen Warumfrage angezeigt, die aus dem von der Metaphysik als solcher nicht erfahrenen Grund der Metaphysik spricht. Dieser Grund wird erfragt in der »Grundfrage der Metaphysik«4, die selbst nicht mehr metaphysisch ist und die lautet: »Warum ist überhaupt Seiendes * Der Aufsatz gehört in den Zusammenhang der anhaltenden gemeinsamen Besinnung der beiden Autoren. Im Einzelnen wurde der 4. Abschnitt von Gino Zaccaria verfasst, die Übersetzung dieses Abschnitts sowie die restlichen Abschnitte stammen von Ivo De Gennaro. | 227

und nicht vielmehr Nichts?« In dieser Frage ist, anders als in der metaphysischen, das Wort ›Nichts‹ groß geschrieben. Das Nichts gehört jetzt in den metaphysisch nicht befragbaren Grundbereich der Metaphysik, d. h. ins Sein selbst. Das Nichts west nur, insofern das Sein selbst als Ereignis, d. h. das Seyn, das Nichts nötig hat. Weil es eine eigentliche Erfahrung des Nichts nur gibt aus der Erfahrung des Seyns, deshalb gründet die Frage, die zum Grund der Metaphysik übergeht, ihrerseits in der »eigentlichen Grund-frage«: »Wie west das Seyn?«5 Der Übergang zum Grund der Metaphysik ist in sich Übergang ins Wesen des Seyns. Die Grundfrage der Metaphysik kann deshalb die übergängliche Warumfrage heißen. »Wird im Bereich des Erdenkens des Seyns die Warumfrage noch gestellt, dann kann sie nur als Übergangsfrage vollzogen werden. Die Beantwortung führt nicht mehr auf eine oberste Ursache, die alles zusammenhält und erledigt im Sinne des ersten vor-sehenden Technikers, sondern die Antwort weist in das Seyn derart, dass nun das Antwortende sogleich als das Fragwürdigste sich enthüllt, aber für ein Fragen, in dem jedes Warum zu kurz, ja überhaupt nicht mehr trägt.«6

Für das übergängliche Erfragen des Seyns ist die Warumfrage in ihrer metaphysischen Form unmöglich geworden, d. h. unvermögend in Bezug auf das nunmehr einzig zu denkende Seyn. Die unmögliche Warumfrage steht nur noch insofern im Blick, als sie im Übergang als unmögliche entschleiert werden muss. Die Entschleierung kommt dem Aufweis gleich, dass das Nichts, welches jene Frage »noch kennt« und doch gerade nicht eigentlich kennt, ins Wesen des ungedachten Seyns gehört, so dass erst die Verhüllung dieser Zugehörigkeit – die Enteignung des Nichts – das metaphysische Fragen ermöglicht. Die Entschleierung der metaphysischen Warumfrage ist die Enthüllung des Nichts. Dieses selbst ist aber der »zu sich selbst entschwindende Schleier, als welcher das Sein selbst im Ausbleiben west«7. Die Entschleierung der vordergründlichen Warumfrage enthüllt das Ereignis, als welches das Seyn die eigene Überschleierung – das Nichts – verhüllt, d. h. enteignet. Mit dem Hinweis auf das Nichts als Wesensweise des Seyns im Ausbleiben seiner selbst ist der verhüllte Grund der Metaphysik angesprochen, der als verhüllter die metaphysische Warumfrage aus 228 | ivo de gennaro · gino zaccaria

sich entlässt. Deshalb müssen wir, um vom Seyn her die metaphysische Warumfrage in ihre Grenze zu heben, das Phänomen des Ausbleibens des Seyns näher erläutern. Diese Erläuterung führt in den Bereich, aus dem die Grundfrage der Metaphysik ihre Antwort findet. Das Gefragte dieser Frage – ›Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?‹ – lässt sich wie folgt erläutern: »Aus welchem Grunde hat denn das Seiende den Vorrang, so daß Sein nur ein Nachtrag; aus welchem Grunde ist die Wesung des Nichts übermachtet, das Nichts aber im Sinne der Zugehörigkeit zum Seyn als dessen Abgrund?«8

Die Antwort auf diese Frage lautet: »weil Seinsverlassenheit des Seienden dieses in die Vormacht der Machenschaft losgelassen hat […].«9 Mit der Seinsverlassenheit des Seienden ist dasselbe gemeint wie mit dem Ausbleiben des Seins. Im Folgenden ist der sachliche Bogen von der metaphysischen zur übergänglichen Warumfrage in der Schrittfolge nachzuzeichnen: 1. Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus 2. Die Unnötigkeit der Warumfrage im ersten Anfang des Denkens 3. Die metaphysische Warumfrage und das nichtige Nichts 4. Ein Anklang des nichtenden Nichts in der Metaphysik 5. Das Nichts als Schleier und Erzitterung des Warumlosen

1. Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus Das seinsgeschichtliche Denken ist das Denken der Geschichte des Seins, des Seins als Geschick (Sich-schicken). Wenn das Sein nicht mehr gedacht ist als Seiendheit – d. h. metaphysisch als dem Seienden zugestellter Grund –, sondern als das freie Geschick der Entborgenheit, die Seiendes erst in sein Scheinen birgt, dann heißt das Sein = Geschick: Seyn, und eigentlicher – d. h. in seinem Bestimmungsgefüge gedacht und in dieses verwunden – Ereignis. Die Seinsgeschichte ist die Geschichte des schon ins Ereignis zurückgenommenen Seyns. Das ist für den Gebrauch der Worte ›Sein‹ (›Sein selbst‹) und ›Seyn‹ im Ereignis-Denken, als dem gemäßen Titel für Heideggers Denkweg, festzuhalten. ›Um des Seyns willen‹ | 229

In einer Abhandlung zum Nihilismus gibt Heidegger eine Wesensbestimmung desselben, aus der erhellt, wie in dem von Nietzsche erfahrenen Phänomen der Entwertung der obersten Werte das Wesen des Nihilismus übersehen ist. Der von Nietzsche metaphysisch bestimmte Nihilismus lässt sich vom seinsgeschichtlich aufgewiesenen Wesen des Nihilismus wie folgt abheben: Metaphysischer Nihilismus-Begriff: Nihilismus ist der Zustand, »dass es mit dem Seienden als solchem im Grunde nichts ›ist‹«10. Seinsgeschichtlicher (wesentlicher) Nihilismus-Begriff: »Das Wesen des Nihilismus ist die Geschichte, in der es mit dem Sein selbst nichts ist.«11

Diese beiden Bestimmungen stehen nicht einfach nebeneinander. Sondern die zweite gesteht der ersten so ihr Recht zu, dass sie diese zugleich als selbst nihilistisch, weil im Wesen des Nihilismus beruhend, bestimmt. Mit anderen Worten: Die Erfahrung und Erkenntnis, dass es mit dem Seienden als solchem im Grunde nichts ist, gehört als eine ihrer Gestalten in die Geschichte, in der es mit dem Sein selbst nichts ist. Weil es »in der Metaphysik Nietzsches mit dem Sein selbst nichts ist«, ist »Nietzsches Metaphysik eigentlicher Nihilismus«12 und seine Bestimmung des Nihilismus ihrerseits nihilistisch. Eigentlicher Nihilismus besagt, dass der Nihilismus da sein eigentliches Spiel spielt, wo es aus dem Sein selbst mit dem Sein selbst nichts ist, d. h. mit Jenem, dem das Seiende sich verdankt (nicht aber umgekehrt) und das zugleich, angesichts von Seiendem, nicht nichts sein kann.13 Der Name ›eigentlicher Nihilismus‹ birgt den Hinweis, dass der Nihilismus als Geschick des Seyns, d. h. als Ereignis gedacht ist. Die Kennzeichnung als eigentlicher Nihilismus trifft nicht nur das Denken des Willens zur Macht, sondern die Metaphysik als solche, insofern es in ihr mit dem Sein selbst nichts ist bzw. insofern die Metaphysik ist, was sie ist, indem das Sein selbst sich so schickt, schickend entzieht, dass es mit ihm nichts ist. Die Metaphysik ist das Ereignis des Nihilismus. »Die Metaphysik ist als Metaphysik der eigentliche Nihilismus. Das Wesen des Nihilismus ist geschichtlich als die Metaphysik, die Metaphysik Platons ist nicht weniger nihilistisch als die Metaphysik 230 | ivo de gennaro · gino zaccaria

Nietzsches. In jener bleibt das Wesen des Nihilismus nur verborgen, in dieser kommt es voll zum Erscheinen. Indes gibt es sich aus der Metaphysik her und innerhalb ihrer niemals zu erkennen.«14

Die Metaphysik – und mit ihr die metaphysische Warumfrage – ist eigentlicher Nihilismus, insofern das Wesen des Nihilismus ihr für sie nicht merklicher Grund bleibt. Die Metaphysik ist in ihrem Grunde das Vorbeidenken am Sein selbst. Das Denken der Metaphysik »läßt sich auf das Sein selbst nicht ein, weil es das Sein schon gedacht hat, nämlich als das Seiende, insofern dieses, das Seiende, ist«15. Der Bereich solchen Vorbeidenkens ist der Wesenskern des eigentlichen Nihilismus. Dessen Denken beruht im Nicht-Denken des Wesens der Unverborgenheit. »Indem [die Metaphysik] das Seiende als solches denkt, streift sie denkenderweise das Sein, um es auch schon zugunsten des Seienden zu übergehen, zu dem sie zurück- und bei dem sie einkehrt. Darum denkt die Metaphysik zwar das Seiende als solches, aber das ›als solches‹ selbst bedenkt sie nicht. Im ›als solches‹ wird gesagt: das Seiende ist unverborgen. Das ᾗ im ὂν ᾗ ὄν, das qua im ens qua ens, das ›als‹ im ›Seiendes als Seiendes‹ nennen die in ihrem Wesen ungedachte Unverborgenheit.«16

Diese Bemerkung erhält ihr wesentliches Gewicht aus der Einsicht, dass die Unverborgenheit das Selbe ist wie das Sein, dass das Seyn das Wesen der Unverborgenheit ist. Die Geschichte des Seyns ist das ereignishafte Geschick der Entbergung. So ist der eigentliche Nihilismus als Wesen und Grund der Metaphysik die EntbergungsGeschichte, in der Seiendes in seiner Unverborgenheit bedacht, diese selbst aber ungedacht bleibt. Dieses Ungedachtbleiben ist keine Nachlässigkeit, noch gar eine ausdrückliche Abweisung. Vielmehr gründet es im Ausbleiben des Seins selbst als der Unverborgenheit, in der gleichwohl das Seiende als solches anwest. »Die Unverborgenheit selbst […] bleibt als diese verborgen. An ihr selbst, der Unverborgenheit, bleibt im Bezug auf sie selbst die Unverborgenheit weg. Es bleibt bei der Verborgenheit des Wesens der Unverborgenheit. Es bleibt bei der Verborgenheit des Seins als solchen. Das Sein selbst bleibt aus.«17 ›Um des Seyns willen‹ | 231

Das Wort ›Ausbleiben‹ ist hier, von seiner ontischen Bedeutung losgelöst, zurückgegeben ins seynsgeschichtliche Wort. Ontisch meint ›ausbleiben‹ ein Nicht-Kommen und einen Fehl im Sinn des NichtEintreffens (›Der Sturm blieb aus.‹) oder der Nicht-Gewährung von etwas (›Die Antwort blieb aus.‹). Der Zug des ontischen Verständnisses, der auf das seynsmäßig gedachte Ausbleiben anspricht, ist derjenige des Mit-sich-Ansichhaltens und Sich-Verweigerns des Kommens – als das Ankommen des Ansichhaltens und Sichverweigerns selbst. Das Ausbleiben ist Verweigerung als Ankunft der Verweigerung. Im Ausbleiben als Verweigerung, die, wiewohl verborgen, gleichwohl ankommt, spricht das Seyn als Seyn. »Es bleibt bei der Verborgenheit des Seins, so zwar, daß diese Verborgenheit sich in sich selbst verbirgt. Das Ausbleiben des Seins ist das Sein selbst als dieses Ausbleiben. Das Sein ist nicht irgendwo abgesondert für sich und bleibt überdies noch aus, sondern: Das Ausbleiben des Seins als solchen ist das Sein selbst. Im Ausbleiben verhüllt sich dieses mit sich selbst.«18

Übertragen wir diese Bestimmung mit Blick auf den Nihilismus auf das als Unverborgenheit wesende Sein, so ergibt sich: Das Wesen des Nihilismus ist die in sich selbst sich verbergende Verborgenheit der Unverborgenheit. Auf diese Weise ist das Wesenselement der Metaphysik als eigentlicher Nihilismus aufgewiesen. Es ist gezeigt, inwiefern die Metaphysik, indem sie ständig mit dem Sein und durch das Sein denkt, dabei notwendig und stets am Sein vorbeidenkt, das Sein übergeht. Zugleich ist eine Anzeige gegeben in das seynsgeschichtlich zu denkende Nichts – in jenes also, was die metaphysische Warumfrage »als Gegenmöglichkeit zur Wirklichkeit des Seienden […] noch kennt«, aber doch nie als Wesendes erfahren kann, solange sie im Grund des Ausbleibens fragt, ohne den Grund selbst als das Sein = Ausbleiben (die verhüllt-bleibende Verweigerung) zu denken. Die eben angeführte Stelle fährt fort: »Im Ausbleiben verhüllt sich [das Sein] mit sich selbst. Dieser zu sich selbst entschwindende Schleier, als welcher das Sein selbst im Ausbleiben west, ist das Nichts als das Sein selbst.« Auf diese Bestimmung des Nichts ist noch näher einzugehen. Zunächst gilt es, die Diagnose des eigentlichen Nihilismus um einen 232 | ivo de gennaro · gino zaccaria

Wesenszug zu ergänzen. Dazu ist es nötig aufzuhellen, inwiefern das Wesen des Menschen in das Ausbleiben des Seins gehört. Das Ausbleiben des Seins, das Sein als Ausbleiben, ist ein Entzug. Das Seiende steht in diesem Entzug. Es steht so im Sein, dass das Sein sich ihm als Entzug zuspricht, es in die Seiendheit und endlich in die offen waltende Machenschaft loslässt. Das Seiende ist unverborgen, es west als solches an, doch gerade in solchem Anwesen ist es vom Sein selbst verlassen. Die Metaphysik als Geschichte der Unverborgenheit des Seienden ist das Geschick der Seinsverlassenheit des Seienden. Dass in dieser Geschichte das Sein ungedacht bleibt, liegt am Ausbleiben des Seins, das sich verbirgt, indem es dem Denken Unverborgenes als Anwesendes zu denken gibt. Zugleich kommt das Denken nicht erst von außen her auf das Seiende zu, noch ist es dem Ausbleiben als solchem äußerlich; vielmehr gehört es als das genannte Vorbeidenken und Übergehen immer schon mit in dieses Ausbleiben, d. h. ins Seyn als Ereignis. Wie steht es mit dem Bezug von Ausbleiben und Vorbeidenken? Denken wir zurück an die Weise, wie in der ontischen Bedeutung des Ausbleibens ein Anklang an das Ausbleiben als Seynszug vernehmlich wurde. Es zeigte sich: Das Ausbleiben spricht als das verborgen-verhüllte Ankommen der Verweigerung. Wo aber kommt das Ausbleiben an? In der ontischen Erfahrung des Ausbleibens tritt gerade das Wo, der Ort des Fehls und der Vakanz, hervor, und zwar so, dass er uns angeht, dass wir gleichsam an diesem Ort und seinem Entzugswesen, d. h. am Wesensort des Ausbleibens, mittragen. Entsprechend ist aus dem Seyn auf jenen Ort zu denken, da das Ausbleiben der Unverborgenheit so ankommt, dass seine Ankunft darin eine Unterkunft findet. Die Unterkunft der Ankunft des Ausbleibens ist nicht solches, was für sich irgendwo besteht und zufällig zur Bleibe des Ausbleibens wird. Sondern die Unterkunft ist derart der Ort, da die Ankunft unterkommt, dass die Ankunft als solche, d. h. rein als Kommen, diesen Ort selbst sich eröffnet. Die Unterkunft ist die im Kommen beruhende Offenheit der Ankunft selbst. Deshalb können wir im Hinblick auf die Offenheit als Ort sagen, die Ankunft (das Ausbleiben als das Sein selbst) sei, als die schaffende Beschaffenheit der Offenheit, die Ort-schaft des Ortes: »Die Ortschaft des Ortes des Seins als solchen ist das Sein selber.«19 Auf diese Weise ist aber bereits – das Wesen des Menschen genannt. ›Um des Seyns willen‹ | 233

»Diese Ortschaft aber ist das Wesen des Menschen. […] Der Mensch steht im Bezug des Seins selbst zu ihm, dem Menschen, insofern dieser als Mensch sich zum Seienden als solchem verhält. Das Sein selbst begabt sich, indem es sich in die Unverborgenheit seiner selbst begibt – und nur so ist Es das Sein – mit der Ortschaft seiner Ankunft als der Unterkunft seines Ausbleibens. Dieses Wo als das Da der Bleibe gehört zum Sein selbst, ›ist‹ das Sein selbst und heißt darum das Da-sein.«20

Das ›ist‹ ist allein vom Seyn zu sagen und heißt: er-trägt, ver-hält, lässt dar, wobei das Er-tragen, Ver-halten, Dar-lassen gemäß dem vorher Erläuterten ein Sich-Er-tragen, Sich-Ver-halten, Sich-Darlassen bleibt, nämlich des Seins selbst. Weil aber das Seyn nichts Menschliches ist, ist auch das Wesen des Menschen – ›das Da-sein im Menschen‹ – nichts Menschliches. Der Mensch selbst steht inne in diesem Wesen, »das dem Sein selbst gehört, in welches Wesen jedoch der Mensch gehört, so zwar, daß er dieses Sein zu sein hat«21. Das ›sein‹ des Zu-sein-Habens heißt: ›austragen‹, ›sich verhalten zu‹, ›sich einlassen in‹. Das Sein des Menschen ist das Austragen der Er-tragsamkeit, das aus-haltende Sich-verhalten (das Verhältnis) zur Ver-haltung, das Sich-Einlassen in die Dar-lassung des Seins selbst in seiner und als seine entzughafte Offenheit. Die austragend sich-verhaltende Einlassung in das Sein selbst als Da-sein ist das ekstatische Innestehen im Offenen des Seins als Ortschaft. Solches Innestehen ist das eigenste Wesen des Menschen, das wir das Denken nennen als das Ver-ständnis des Seins: »Das ekstatische Innestehen im Offenen der Ortschaft des Seins ist als das Verhältnis zum Sein, sei es zum Seienden als solchem, sei es zum Sein selbst, das Wesen des Denkens.«22 Auf diese Weise sind im selben Element des Offenen der Ortschaft zwei Grundmöglichkeiten des Denkens angezeigt: die metaphysische (als Verhältnis zum Seienden als solchem) und die seynsgeschichtliche (als Verhältnis zum Sein selbst). Beide Möglichkeiten sind ein aus-stehendes Innestehen im Da-sein, das das Sein selbst als ausbleibendes ist. In beiden Weisen bleibt es beim Entzug des Seins. Doch während das metaphysische Denken, unaufmerksam auf den Entzug, ausschließlich sich an das Seiende als solches hält, merkt das seynsgeschichtliche Denken auf das Geschick des Ent234 | ivo de gennaro · gino zaccaria

zugs, bleibt in dessen Merklichkeit bezogen und entspricht, derart auf Zug, dem Sein selbst. Während die Metaphysik ganz ›im Sinne‹ des Ausbleibens am Sein vorbeidenkt, denkt das seynsgeschichtliche Denken diesem Sinn selbst nach und besinnt sich gemäß dem Entzugs-Sinn auf das Sein als Verweigerung. Das Denken ›im Sinne‹ des Ausbleibens lässt das Ausbleiben selbst aus und verstellt und verdeckt es, indem es immer ausschließlicher »sich des Seienden als solchen versichert und im Seienden und aus ihm sich selbst als die Wahrheit ›des Seins‹ sichert«23. Die Metaphysik als eigentlicher Nihilismus denkt in der Weise der ihr selbst unmerklichen Auslassung des Ausbleibens des Seins, welche Auslassung zwar im Sein selbst beruht, jedoch »in gewisser Weise beim Denken des Menschen«24 steht. Während das Eigene des Nihilismus das Ausbleiben des Seins selber ist, geschieht der Nihilismus »als die Metaphysik im Uneigentlichen seiner selbst. Aber dieses Uneigentliche ist nicht ein Mangel des Eigentlichen, sondern die Vollendung seiner, insofern es das Ausbleiben des Seins selbst ist und diesem daran liegt, daß es, dieses Ausbleiben, völlig es selbst bleibe. Das Eigentliche des Nihilismus ist geschichtlich in der Gestalt des Uneigentlichen, das ein Auslassen des Ausbleibens vollbringt, indem es auch dieses Auslassen noch ausläßt und in all dem vor lauter Bejahung des Seienden als solchen sich auf nichts einläßt und auch nicht einlassen kann, was das Sein selber angehen könnte. Das volle Wesen des Nihilismus ist die ursprüngliche Einheit seines Eigentlichen und seines Uneigentlichen«25.

Die Vollendung des Nihilismus – seine per-fekte, durch-fertigte, mit dem Sein fertig gewordene Gestalt – ist erreicht in der Metaphysik Nietzsches, die das Sein als Wert deutet, d. h. als »vom Seienden als solchem gesetzte Bedingung seiner selbst«, und damit das »Nichts des Seins« – d. h. dessen Nichtigkeit, und so auch die Nichtigkeit des Nichts – »besiegelt«26. Die Metaphysik als solche west im Unwesen des Nihilismus, darin das Wesen des Nihilismus sich vollendet. Es bleibt für sie bei der Nichtigkeit des Seins und des zum Sein gehörenden Nichts. Als Metaphysik vollzieht sie nicht den »entscheidenden Schritt zurück«27 aus dem Auslassen des Ausbleibens in die Ortschaft des Ausbleibens als das Wesen des Menschen – den Schritt zurück ins Da-sein. ›Um des Seyns willen‹ | 235

Für die Erläuterung der metaphysischen und der übergänglichen Warumfrage ist damit die entscheidende Dimension gewonnen. Diese Dimension ist die Entscheidung selbst als der Schritt zurück ins Da-sein – das Ereignis des Rückwegs aus der Auslassung des Ausbleibens in das eigene Entzugswesen des Ausbleibens selbst. Weil die metaphysische Warumfrage selbst die Auslassung noch auslässt, »weiß [sie] nicht, was sie fragt«. Denn das Nichts, das sie als Gegenmöglichkeit zum Seienden »noch kennt«, hat im Seienden als solchem und dessen Vorgestelltheit keine Bleibe und Statt. Es kann als Nötiges nur wesen im Seyn selbst, dessen Zugesprochenheit die Metaphysik in der Gestalt des »in die Vormacht der Machenschaft losgelassen[en]« Seienden verwahrt.

2. Die Unnötigkeit der Warumfrage im ersten Anfang des Denkens Die aus dem Einblick ins Wesen des Nihilismus in ihrem Grund begriffene Metaphysik ist jenes Denken, das »das Sein als das Seiende in seinem Sein« denkt, wobei »Sein als Sein«28 ungedacht bleibt. Das Ausbleiben des Seins ist das in ihm selbst verborgene Verborgenbleiben des Wesens der Unverborgenheit. Das Ereignis dieses Sichverbergens ist der Anfang des Denkens bei den Griechen. Die Seinsverlassenheit, mit der das Denken beginnt, ist nicht nichts, sondern der sich enteignende und als Enteignis anfangende einzige Anfang. Das Sein selbst als Enteignis entlässt und hinter-legt das Gepräge des ersten Anfangs, darin es selbst hinterlegt bleibt. Dieses Gepräge ist genannt im Grundwort des Parmenides: τὸ ἐόν. Wir sagen für τὸ ἐόν: das \ Anwesend /. Die Schreibweise in Schrägstrichen \ … / nennen wir die ›phatische‹. Sie möchte anzeigen, dass und wie das so geschriebene Wort in ausgezeichneter Weise als Spruch der griechischen Sprache als Sprache des Seins spricht. Das \ Anwesend / in seiner Merklichkeit ist hier selbst das Wort, φάσις, das in seiner Wesens-Not das merkende Vernehmen, νοεῖν, sich schon zugesprochen, zugeeignet hat.29 Das ἐόν beruht im Grundzug der φύσις, d. h. des Aufgehens. Als in sich beruhter und ständiger Aufgang des Seienden im Ganzen ist es das nicht-zitternde Herz des schicklich gerundeten Bereichs des 236 | ivo de gennaro · gino zaccaria

Unverborgenen, der ἀλήθεια30. Das besagt: Das \ Anwesend / bringt aufgehend das eigene Offene und Unverborgene mit sich, es ist das Wesende der Unverborgenheit und derart ständiger Ent-stand aus dem Gegenzug des Untergehens und Sinkens des \ Anwesend / selbst.31 \ Anwesend / sagt: ständiger Ent-stand des Aufgehenden als solchen und im Ganzen: Her-stand bzw. Her-stellung (Sich-Herstellen) des Seienden als solchen in Gänze und damit Herstellung und Beständigung der Unverborgenheit selbst im Anwesenden als dem Unverborgenen. Diese Herstellung ist das Ereignis der Verbergung des Wesens der Unverborgenheit, die als solche – d. h. als das Ereignis der Merklichkeit – ungedacht bleibt. Die diesem Wesen eigene Aufmerksamkeit bleibt mit dem Sein selbst aus. Das ἐόν ist das vom Ausbleiben des Seins Hinterlegte, es geht auf aus dem Entzug der Unverborgenheit und als dieser Entzug, der in die Anwesung des ἐόν hinterlegt bleibt. Wenn aber das ἐόν die Hinterlegung der sich verbergenden Verbergung der Unverborgenheit ist, dann muss es gemäß dem Grundzug der Hinterlegung in sich ein Zwiefaches tragen: zum einen, als das Entlassene des Sichverbergens des Verborgenbleibens, das Aufständische des ständigen Ent-standes ins Unverborgene; zum anderen, als das Zugelassene der verborgenen Unverborgenheit, die Entbergung in den Aufgang. In dieser Zwiefalt der entlassenden und zulassenden Hinterlegung ist – der Vermutung nach – angelegt die spätere Bestimmung des Seienden als solchen »in der – nach ihrer Herkunft – dunklen Unterscheidung«32 von Dass-Sein (das Dassüberhaupt bzw. Überhaupt-und-nicht-nicht: das ὅτι) und Was-Sein (die Wesensfülle des Unverborgenen als solchen: das τί). Innerhalb der verborgenen Einheit von Dass-Sein und Was-Sein steht ersteres – als das Entlassene des Äußersten von Entzug und Verweigerung – in der Ordnung der Merklichkeit vor diesem: »Im ›Daß‹ es ist geht auf, was es ist – Seiendes, das Seiende.«33 Das ἐόν vereint ursprünglich die Züge des Dass und des Was, die nicht, wie in der Metaphysik, in ein höchstes, den Seinsgrund zustellendes Seiendes zurückgelegt sind. Das Wort der Wesens-Not des ἐόν ist das ὅπως ἔστιν, »dass es anwest«34. In diesem Sinn heißt es: »χρὴ τὸ λέγειν τε νοεῖν τ᾽ ἐὸν ἔμμεναι· ἔστι γὰρ εἶναι«35 ›Um des Seyns willen‹ | 237

»Not ist sammelnd zu sagen und merkend zu vernehmen: \ Anwesend / west an; es west an nämlich, weil vermögend anzuwesen, \ Anwesen /.«

Diese Not ist nicht etwas anderes als das ἐόν, sondern dieses selbst, insofern es anfänglich das merkende Vernehmen für sich in das Eingeständnis des Selben, das es mit ihm ist, bezogen hat. Das mehrfach ausgesprochene Dass (ὅπως36, ὡς37, ὥστε38) – nennen wir es: die merkende Sage des Dass – erträgt das \ Anwesend / in seiner Offenheit, stellt es in es selbst zurück und lässt es so als es selbst – das selbig in sich stehende Aufgehen – ruhend ragen. Zur merkenden Sage des Dass gehört jedoch die ver-merkende Absage des Dass-nicht und des darin mitverneinten Was im Sinne des Aufgehens der Anwesung. Der Erfragungs- und ErfahrungsWeg der Sage ὅπως ἔστιν schließt deshalb als solcher ein die Einsicht ὡς οὐκ ἔστι μὴ εἶναι, »dass nicht anwest, weil unvermögend anzuwesen, \ Ja-doch-nicht-Anwesen /«. Daraus ergibt sich die Abweisung des anderen Weges bzw. dessen Aufweisung als Un-Weg. Auf diesem heißt es, »dass es nicht anwest und auch nötig ist \ Jadoch-nicht-Anwesen /«39. Der Weg solchen Heißens ist ein Un-Weg, insofern »das \ Ja-doch-nicht-Eins / [das Nichts – μηδέν], weil unvermögend anzuwesen, nicht anwest«40, so dass das \ Ja-doch-nichtAnwesend / (μὴ ἐόν41) weder merkbar noch aufzeigbar ist, sich somit eigentlich weder sagen noch denken lässt. Weshalb aber muss solches, was weder sag- noch denkbar ist, eigens zurückgewiesen, der ins Denken Aufgebrochene von einem Weg, der kein Weg ist, ausdrücklich abgehalten werden? Dass der Weg, der im Merken auf das ὅπως ἔστιν beruht, mit ver-merken muss ὡς οὐκ ἔστι μὴ εἶναι, deutet darauf hin, dass trotz seiner Unmöglichkeit das \ Ja-doch-nicht-Anwesend / irgendwie zum \ Anwesend / gehört, und zwar, entsprechend der Zwiefalt des Seins, auf zweierlei Weise: als das Dass-nicht bzw. Überhaupt-nicht und, in Einheit damit, als das Nicht-Anwesen. Wie steht es mit diesem Zugehören? Zunächst ist festzuhalten: Im οὐκ ἔστι μὴ εἶναι spricht der Zug des Untergehens und Versinkens (s. o.) nicht als solcher, d. h. in seinem Wesen. Wäre dem so, dann bliebe im Aufgehen nicht sein Wesen, die Entbergung, aus, das umöffnete ἐόν zeigte sich nicht als das Herz der in ihrem Eigen238 | ivo de gennaro · gino zaccaria

wesen verweigerten ἀλήθεια. Folgende Stelle aus der Abhandlung Das Ereignis sei hier angeführt als Hinweis auf das Wesen des Aufgehens im ersten Anfang. Das Wesen der ἀλήθεια – das Seyn – ist hier im Wort ›Unterschied‹ genannt. Das Ausbleiben des Unterschieds als Unterschied ist das ἐόν als der ›nur aufgehende Unterschied‹. »Der im Abgrund noch nicht abschiedlich geborgene Unterschied, der, nur aufgehend, im ersten Anfang sich verstrahlt, durchwaltet das Wesen der Metaphysik. Wenn aber der Unterschied als solcher, d. h. zugleich im Abschied, sich lichtet, ereignet sich die Verwindung des Unterschieds in den Abgrund. Aus ihr wird die Überwindung der Metaphysik gestimmt […].«42

Der ›nur aufgehende Unterschied‹ ist das Wesen des Aufgangs (φύσις) im ersten Anfang. Es ist vorerst nicht darauf einzugehen, was hier mit Unterschied, was mit Abschied und Abgrund gemeint ist. Vielmehr ist zu betonen: Das anfängliche Aufgehen steht zwar als Ent-stand überall im Zeichen der Unverborgenheit und damit in gewisser Weise der Verbergung, dies jedoch als und im Vorrang des Unverborgenen vor der Unverborgenheit selbst. Das Unverborgene kennt nicht ein wesentlich Anderes zu ihm: Die Gegenmöglichkeiten zum Dass und zum Was, das Dass-nicht und das NichtAnwesen, sind Wegnahmen, die zwar je anders an die Grenze des Seienden weisen; doch das Seiende hat als solches diese Wegnahmen nicht nötig. Es ist nicht »stark genug« zu einer solchen Not. Im ἐόν des Parmenides ist das Nichts als μηδέν (das ›DassNichts‹, die Zurücknahme des ὅπως im Ganzen) und als μὴ εἶναι (das ›Was-Nichts‹, die Nichtigkeit des Seins als Entmachtung des ἔστιν) gerade als Undenk- und Unsagbares wesender als in der Metaphysik, die das Nichts als Nicht-etwas und als Un-Seiendes kennt. Weil das ἐόν entzugsunmittelbar das Entlassene des ausgelassenen Ausbleibens ist als das Überhaupt des Aufgangs (das Dass des Seienden), deshalb ist es verborgenerweise von einem zwiefach versuchenden Nicht durchnichtet. Das ἐόν ist durch das μὴ ἐόν – das unsagbare und undenkbare \ Ja-doch-nicht-Anwesend / – gezeichnet: es versucht sich mit diesem, d. h. es sucht sich selbst heim mit dem Widerruf des Unwiderruflichen, mit dem Nichts von \ Anwesend /. In dieser Heimsuchung verbirgt sich jenes Sich-Versuchen, als welches das Sein selbst sich in die Auslassung seines Ausbleibens versucht. ›Um des Seyns willen‹ | 239

Weil im ἐόν selbst diese Versuchung liegt, deshalb muss die Sage des ἐόν zugleich Absage des unmöglichen μὴ ἐόν bleiben. Unmöglich heißt hier: unvermögend des Anwesens und also nicht anwesend, somit am Rande der zu merkenden Gemerktheit des ἐόν aus dieser sich ausschließend. Unmöglich heißt auch: unnötig, ledig der beanspruchenden Not (des χρή), die erst das Sagen auf sich stimmt und das Vernehmen in die Acht nimmt. Dennoch muss, an der Grenze des Denkbaren, das μὴ ἐόν als das Unwegsame anerkannt und so das Unvermögen selbst (das οὐκ ἔστι) in der Sage des ἐόν, die sich in die Setzung des ὅπως verwendet, vermerkt werden. Auf diese Weise verwindet das Sagen und Denken die eigene Unmöglichkeit in die einzig wegsame Möglichkeit des Selben. Das heißt aber: Das Entweder-Oder, die κρίσις43 von Sein und Nichtsein, ist bereits aus dem Innestehen in der φύσις erfahren, und darum gerade nicht erfahren als die anfänglich auszustehende Not, die das Seyn selbst als Entscheidung und als Streit von Seyn und Nichtseyn ist. Damit ist aber auch das zum Seyn gehörige Nichts unerfahrbar. In einem Wort: Weil das Seyn nicht erfahren ist, deshalb gibt es (nur) »Seiendes und nicht vielmehr Nichts«. In dem von der griechischen Grundstimmung des Erstaunens eröffneten Bereich kommt indes die metaphysische Warumfrage nicht auf. Das anfängliche Vernehmen steht im Einklang mit dem ὅπως ἔστιν, d. h. mit der unwiderruflichen Gesetztheit des \ Anwesend /, welches kein Außerhalb zulässt und in sich – als der einzigen und in sich stehenden Gegenwart – keinen Abbruch seiner selbst. Allerdings steht das ἐόν in der Not, in einem antwortenden Aufmerken eingestanden und verwahrt zu sein. So liegt alles am einstimmenden Eingeständnis des Wortes des ἐόν. Dieses Eingeständnis, welches das μὴ ἐόν verwindet, ohne es freilich zu beseitigen, merkt auf dem allein verbleibenden Weg auf die Zeichen der Einzigkeit des ἐόν, d. h. des Was der \ Ja-doch-Anwesung /, und behält so, indem es im ungemerkten Grund die Anwesung verantwortet, das erste Dass. Auch im Abklingen des griechischen Anfangs, namentlich im Denken des Aristoteles, finden wir die Warumfrage nicht. Nun kommt die metaphysische Leitfrage τί τὸ ὂν ᾗ ὄν – die Frage nach dem Seienden in dem, was es jeweilig als solches ist – zu ihrer ausdrücklichen Formulierung. Diese Frage hält sich im Bereich der 240 | ivo de gennaro · gino zaccaria

φύσις und der diesem zugehörigen Stimmung des Erstaunens, darin überwaltend ist der anfängliche Stoß des Dass des Anwesens. So entspricht die Was-Frage selbst der Not, das Anwesende ins Dass seines unverborgenen Anwesens zurückzustellen. Zugleich nimmt das Denken noch innerhalb des Griechentums die eigentümliche onto-theologische Prägung an, der gemäß das Seiende aus dem Sein her gedacht und dieses im Seiendsten des Seienden als dessen ursächlichem Grund untergebracht ist. Damit tritt eine entscheidende Wandlung im Wesen des Denkens ein, die erst die Warumfrage – als Frage, die sich des Dass des Seiendseins mittels eines letztursächlichen Seienden versichern muss – in ihren metaphysischen Rang rückt. »Im Bereich des ersten Anfangs hat die Wasfrage anfänglich den Vorrang vor der Warumfrage und zwar in dem Sinne, daß diese überhaupt nicht das eigentlich denkerische Denken des Seienden als solchen zu bestimmen vermag. Aber die Wasfrage: Was ist das Seiende? wird zwar zur Leitfrage der ganzen nachfolgenden Metaphysik, ihre Beantwortung jedoch wird versucht auf dem Wege der Erklärung aus Ursachen oder aus Bedingungen der Vorstellbarkeit des als Gegenstand vorbestimmten Seienden.«44

3. Die metaphysische Warumfrage und das nichtige Nichts Die metaphysische Warumfrage »Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?« erwächst innerhalb der Seinsfrage als der Frage nach dem Seienden als solchem im Ganzen. Sie ist eine uneigentlich nihilistische Frage. Die Metaphysik fragt nach dem Seienden hinsichtlich seines Dass und seines Was und kennt entsprechend zwei Begriffe des Nichts, die wir das Dass-Nichts und das Was-Nichts nennen können. »Das Nichts ist vieldeutig und schwankend wie das Sein in seiner Geschichte. 1. ›Das Nichts‹ kann meinen das gewöhnliche Nichts – völlige Abwesenheit von Seiendem. 2. ›Das Nichts‹ kann bedeuten das Wesen-lose als Wesensfehl des Seins. ›Um des Seyns willen‹ | 241

In (1) ist das Nichts gegen das Seiende unterschieden. In (2) ist das Nichts gegen das Sein (als Entbergung – Aufgang) unterschieden. Noch gehört das Nichts hier nicht zum Sein selbst.«45

Das nicht zum Sein selbst gehörige, im Ausbleiben des Seins dem nur Seienden Abbruch tuende Nichts nennen wir das nichtige. Das nichtige Nichts der metaphysischen Warumfrage ist das an erster Stelle genannte – das Dass-Nichts. Wir finden das Nichts in diesem Sinn in der klassischen Formulierung der Warumfrage bei Leibniz. Im siebten Abschnitt der Principes de la Nature et de la Grace fondés en Raison stellt Leibniz die Frage, »pourquoi il y a plus tôt quelque chose que rien«, »warum es vielmehr [eher] etwas gibt als nichts«46. Der Grundcharakter dieser Frage ist erklärend, das heißt: Die Frage ist in sich aus auf die Zu- und Beistellung des Erklärungsgrundes des Wirklichen in dem, was es ist. Als Frage verdankt sie sich einer Erfahrung des Seienden als solchen, sie »wird wie im Vorbeigang davon gestreift, daß Sein west«47. Dieser Vorbeigang wird untergebracht in der Frage, die hinausfragt »in die oberste Ursache und in den höchsten seienden Grund des Seienden«48 als des Wirklichen. Entsprechend ist im ›nichts‹ das zum Sein selbst gehörige Nichts nur gestreift. Für das in der Frage genannte ›nichts‹ als Gegenmöglichkeit zum Wirklichen ist der seiende Wirklichkeitsgrund – der Aufstand des Seienden im Sichverbergen des Ausbleibens – schon entschieden. »Weshalb gewinnt nun aber die erklärende Warumfrage die Oberhand? Weil nach dem ersten Erstaunen das Seiende mehr und mehr die Befremdlichkeit verliert und sich in den Bezirk des Sichauskennens eindrängt und aus diesem die Formen seiner Bestimmbarkeit (Aussage – λόγος – Kategorien – die ›vier Ursachen‹) entnimmt. Das erste Erstaunen wird von der zunehmenden Bekanntheit des Seienden überwältigt, gibt dieser nach und gibt sich so selbst auf […]. Das erste Erstaunen vermag sich nicht in den eigenen Ursprung seiner selbst zurückzugründen und immer erstaunender zu werden.«49

Die Erfahrung des Seienden als solchen, der sich die erklärende Warumfrage verdankt, spricht sich offen aus im »großmächtigen Prinzip« des zuzustellenden zureichenden, kurz: des zuständigen Grundes.50 Dieses Prinzip lautet: »[…] dass nichts geschieht, ohne 242 | ivo de gennaro · gino zaccaria

dass es für denjenigen, der die Dinge zur Genüge kennte, möglich wäre, einen Grund zuzustellen, der zureichte zu bestimmen, warum es sich so verhält und nicht anders.«51 Erst sofern dieses Prinzip voraus-, d. h. die entsprechende Seinsals Grunderfahrung gesetzt ist, besteht das Recht auf die Frage nach dem letzten ursächlichen Warum. Die Stelle, an der sich die angeführte Formulierung der Warumfrage findet, lautet vollständig: »Ist dieses Prinzip [des zureichenden Grundes] gesetzt, so wird die erste Frage, die man zu stellen das Recht hat, sein, warum es vielmehr [eher] etwas gibt als nichts.«52 Inwiefern beruht die Warumfrage auf der Voraussetzung des »großmächtigen Prinzips«, von dem sie erst ihr Recht empfängt? Was schließt dieses Prinzip ein, um aus sich die Warumfrage als erste rechtmäßige Frage gleichsam herauszusetzen? Das großmächtige Prinzip ist als principium der das Denken erst auslösende und tragende Anlass und als dieser zugleich der Anfang, dessen das Denken sich bedient, um sich in den Bereich des Metaphysischen zu erheben, worin allein der vom Seienden geforderte Grund beizubringen ist. Dieser Anfang, gleichsam der Inhalt des Prinzips, ist, dass das Seiende als solches aufgebrochen ist, nämlich in einem bestimmten Begründungsanspruch im Einzelnen und im Ganzen. Der das Denken für sich beanspruchende und von diesem seinerseits beanspruchte Anfang ist: Das Seiende, wirklich in seinem So-undnicht-anders-Sein, in der Not der letzten ursächlichen Begründung für den Denkenden. Mit dem Seienden als solchem – mit dem, was es ist – ist auf diese Weise, d. h. in dieser Erfahrung des Seienden als solchen im Rückbezug auf das Ich-Subjekt, sein Dass gesetzt. »Die Frage, warum das Seiende sei, muß die Frage, was das Seiende sei, schon hinter sich haben; wie anders sollte ›das Seiende‹ auf das Warum seines ›Daß‹ befragt werden können? Mit dem Was es – das Seiende – sei, ist sein Daß zugestanden […].«53 Der Begründungsanspruch, in dem das Seiende als solches aufbricht, und der die anfängliche Not des Denkens bleibt, ist der Anspruch der Her-stellung des Seienden selbst in die grundsätzliche wissensmäßige Verfügbarkeit des Menschen. Die Verfügbarkeit, in der Seiendes erst als solches gegen das Vorstellen in den Stand kommt, Gegenstand wird, ist die durchgehende Erklärbarkeit anhand einer in sich gesicherten Ursache. Erklären heißt: Herausstel›Um des Seyns willen‹ | 243

len des Gegenständlichen als solchen in die bekannte Klarheit seines wirklichen Wasseins. Die geforderte Klarheit der Erklärung ist die im zuständigen Grund gleichsam gehärtete und also sicherstellende Durchsichtigkeit, das ›feste Licht‹, durch welches das Seiende in seinem wirklichen So-und-nicht-anders-Sein für den machend-beherrschenden Zugriff durch und durch dargestellt und zugänglich gemacht wird. Dieses Licht ist das lumen der subjektiven Vorstellung, die für ihr Vorstellen die im Wesen ausbleibende Gelichtetheit – das stets übergangene Sein selbst – als Medium der Erklärung des Seienden in Anspruch nimmt und also im Vorstellen mit vor- und zustellt. Das dabei ›schon zugestandene‹, vorausgesetzte Dass ist nicht mehr das übermachtende, in sich gegenwendige ὅπως des Parmenides, sondern die ur-gesetzte aufständische Existenz von etwas, d. h. der Wirklichkeit überhaupt. Diese Ur-setzung setzt – unhinterfragbar – früher an (»plus tôt«) als jede Nicht-Wirklichkeit. Weil das principium grande, in eins mit dem Was des Seienden, das Dass voraussetzt, deshalb erwächst für das Denken, das diesen Anfang für sich gesetzt hat, als erste berechtigte, ihr Recht aus dem bestimmten Begründungsanspruch nehmende Frage diejenige nach dem Warum des Dass im Sinne der Erklärung. Diese holt den schon als zuständig zugestandenen Dass-Grund ausdrücklich ein als wirklichen Grund des Was in seiner jeweiligen Einzigkeit. Aus dem Sinn der Warum-Frage verdeutlicht sich der dem Prinzip nachgestellte Zusatz: »denn das Nichts ist einfacher und leichter als etwas«. Dass etwas nicht existiert, nicht wirklich ist, ist in sich einfacher und dem Denken ein Leichteres, insofern das Nicht-Wirkliche keine Erklärung benötigt. Das Nichts ist nicht eigentlich, es ist nichtig: »einfacher« im Sinne des Schlichteren, d. h. des schlechter, weil nicht wirklich Seienden; »leichter« im Sinne des Anspruchslosen, insofern es dem Denken nicht die Zustellung des Erklärungsgrundes abfordert. Das Nichts ist so das Unnötige und im Kreis des metaphysischen Vorstellens selbst nicht fragwürdig. Zwar ist das Seiende in Absetzung gegen das Nichts bestimmt; dieses ist jedoch als das bloß Unwirkliche erfahren, das innerhalb des Anspruchs des notwendig wirklichen Grundes der Wirklichkeit entgegentritt, der wiederum als solcher das kaum berührte Nichts nicht nötig hat. In der Warumfrage bleibt mit dem Sein selbst auch das zu diesem gehörige Nichts aus. 244 | ivo de gennaro · gino zaccaria

Bei dieser Nichtslosigkeit bleibt es, wenn Schelling in der ersten Vorlesung der Einleitung in die Philosophie der Offenbarung aus der Bestimmung des Seins als Wille die »verzweiflungsvolle Frage: warum ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?« als die »letzte und allgemeinste Frage« setzt, deren fehlende Beantwortung »alles andere« »in den Abgrund eines bodenlosen Nichts«54 versinken lässt. Dieselbe Nichtsvergessenheit herrscht, wenn in der zwölften Vorlesung betont wird, im Willen, »an die Grenze alles Denkens« zu gehen, müsse man »auch als möglich anerkennen, daß überall nichts wäre«, während schließlich die Antwort auf jene »letzte und allgemeinste« Frage in einem »letzten Wirklichen«55 gefunden ist. Im »überall nichts«, das dem »überhaupt etwas« den Gegenhalt gibt, spricht das Dass-Nichts, das in sich bereits auf den »Abgrund eines bodenlosen Nichts« im Sinne des Was-Nichts verwiesen ist. Die verborgene Einheit dieser beiden Streifungen des ungedachten Nichts ist aber vorweg schon eingeholt in jenes »letzte Wirkliche« als neuzeitliche Gestalt des θεῖον. Der Ton freilich, in dem Schelling die Warumfrage ausspricht, ist ein anderer als der von Leibniz. Die Stimmung des uneigentlichen Nihilismus hat sich gewandelt. Denn nun muss immerhin als möglich anerkannt werden, dass »überall nichts« wäre. In der Möglichkeit der Rücknahme des wirklichen Willens versucht sich das Sein mit dem zweideutigen nichtigen Nichts in der noch entschiedeneren und ausschließlicheren Auslassung seines Ausbleibens durch die verzweifelte (das heißt: in den aus dem Anspruch der Gewissheit gestimmten Zweifel gebannte) Ur-Setzung des absoluten, alles Seiende mit seinem versichernden Maß durchragenden Wirklichkeitsgrundes. Das Ausbleiben des Seins geht, das nichtige Nichts und also die Nichtslosigkeit vorschiebend, in die äußerste Gestalt der Auslassung und also des Nihilismus ein, wenn Nietzsche den Willen zur Macht in der ewigen Wiederkunft des Gleichen als neue »Antwort auf das ›Warum?‹«56 setzen muss. Gemäß diesem Willen stellt sich das Vorstellen im schaffenden Augenblick jeweils das ewig Wirkliche in vollendeter Machtfülle zu. Das als Wille zur Macht verfasste vorstellende Subjekt kann nicht nicht wollen. »Die Grundthatsache des menschlichen Willens« ist deshalb sein »horror vacui: er braucht ein Ziel, – und eher will er noch das Nichts [d. i. die Vernichtung von allem] wollen als nicht wollen«57. An die Stelle der Verzweiflung ist ›Um des Seyns willen‹ | 245

nun die erstarrende Ab-Scheu vor der Leere getreten. Die Warumfrage als Frage nach dem, was gegen die »völlige Abwesenheit von Seiendem« steht, ist nicht mehr ausgesprochen. Die fraglose Vergessenheit des Seins ist perfekt. Das Fehlen der Antwort auf das – als Ziel verstandene – ›Warum?‹ ist Nietzsches Bestimmung des Nihilismus als Zustand und Werdensgesetz des europäischen Menschentums. Nietzsches Denken bezeugt die notwendige und unabwendbare Heraufkunft des so verstandenen Nihilismus als das Schicksal Europas, dies aber aus einer Grundstellung heraus, die sich selbst als schon vollzogene Überwindung des Nihilismus weiß. In einer nachgelassenen Aufzeichnung, die mit dem Titel Der europäische Nihilismus überschrieben und auch als »Fragment von Lenzerheide« bekannt ist, schreibt Nietzsche: »Denken wir diesen Gedanken [d. i. die Dauer des warumlosen Zustandes] in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: ›die ewige Wiederkehr‹. Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das ›Sinnlose‹) ewig!«58

Wir finden erneut und in unmittelbarer Nachbarschaft die beiden Begriffe des Nichts genannt: das Was-Nichts als das sinn- und ziel- und derart warumlose »Dasein«; das Dass-Nichts als das Aufhören von Anwesenheit überhaupt (»ohne ein Finale ins Nichts«). Dem Was-Nichts entspricht als Was-Sein der verklärende Wille zur Macht. Dem Dass-Nichts steht abwehrend-sichernd das Dass-Sein als ewige Wiederkehr entgegen. Definierend für den Nihilismus, d. h. dafür, »daß die obersten Werte sich entwerthen«59 und alles ins Warumlose sinkt, ist unmittelbar das Was-Nichts, insofern die Sinnlosigkeit darin beruht, dass nicht je ein Vollendetes im Sinne der Macht-Ermächtigung erreicht wird. Doch im Macht-Begriff selbst liegt bereits der notwendige Bezug zur zuzustellenden Abbruchlosigkeit des Dass-überhaupt, die Not der restlosen Sicherung der Ausschließlichkeit des Wirklichen als Verewigung der Notlosigkeit des Ausbleibens des Seins.

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4. Ein Anklang des nichtenden Nichts in der Metaphysik In der Geschichte der Metaphysik ereignet sich ein augenblickliches Aufblitzen des Ausbleibens des Seins. Dieses Aufblitzen, als Unterlassung der Auslassung des Ausbleibens und Einlassung in dieses, ist das Denken Giacomo Leopardis. Weil dieses Denken die Erfahrung des Ausbleibens als einzigen Quell hat, nimmt es in der Überlieferung der Warumfrage eine einzigartige Stellung ein. Zwar kommt im Werk Leopardis ein ausdrückliches Fragen im Sinne der Grundfrage der Metaphysik nicht vor, das Fragwürdige dieser Frage ist jedoch das Ungesagte und verborgen Bestimmende seines Gesangs. Dieser eignet sich in jedem seiner Schritte jenem Ungesagten zu – und kann darum denkender Gesang heißen. Die Zueignung beginnt als unversehenes Aufmerken auf das Phänomen, welches das italienische Wort nulla60 nennt, in seinem Bezug zum Menschen: »Ich war erschrocken, mich mitten im nulla, im Keinigen zu finden, ich selbst – ein Keiniges. Mir war als müsste ich ersticken, so ich erwog und sann, dass alles Keiniges ist, gediegenes Keinig.«61 »[…] uns an der Wiege unbeweglich sitzt, und auf dem Grab, das Keinige.«62

Die Zueignung (das Sich-zueignen) des Gesangs an sein Ungesagtes entfaltet sich sodann in ein Denken des Keinigen als »erstes Prinzip« und zugleich als »Ort«, d. h. als Gabe der Geräumigkeit und als Lichtung (im Sinne des nihil obstat) des Seins. Im Zibaldone heißt es: »Das Prinzip aller Dinge, sogar von Gott selbst, ist das nulla, das Keinige. Denn kein Ding ist absolut notwendig, d. h. es besteht kein absoluter Grund, weshalb es nicht nicht, oder nicht in jener bestimmten Weise sein sollte usf. Und alle Dinge sind möglich […].«63 »Das erste Prinzip der Dinge ist das Keinige […].«64 »Das Keinige hindert nicht, dass etwas, was ist [d. h. ein Selbes, ein Selbwesen65], sei, währe, weile. Wo Keiniges ist, daselbst ist kein Hindernis, dass da etwas währe oder ankomme. Deshalb ist das Keinige notwendig Ort […]. Wo Keiniges ist, daselbst ist Raum, und das ›Um des Seyns willen‹ | 247

Keinige ohne Raum [d. h. ohne den einräumend-eignenden Grundzug] kann es nicht geben […].«66

Das denkerische Aufmerken auf das Keinige erreicht seinen dichterischen Höhepunkt in den Idyllien Alla luna und L’infinito, sowie in der Mittelstrophe des Canto notturno di un pastore errante dell’Asia, deren tragende Verse lauten: »[…] und wenn ich am Himmel glänzen seh die Sterngesichter, sinn ich für mich und sage: wozu all diese Lichter? was tut die unendliche Luft und jene tiefe unendliche Heitere? was bedeutet diese unermessliche Einsamkeit? und was bin ich?«

Auf diese Weise singt der Dichter, was er andernorts »das wunderbare und schreckliche Geheimnis des All-Daseins«67 nennt, welchem Geheimnis das »ewige Mysterium unseres Seins«68 entspricht. Das Geheimnis (ital. ›arcano‹) ist hier nicht als ›verstecktes Wesen‹ der Welt oder als ›Geheimnis der Natur‹ zu verstehen, d. h. als unbestimmte Bezeichnung unsichtbarer Tatsachen, die der Enthüllung oder Entdeckung durch den menschlichen Verstand harren (und an denen, aus geschichtlicher Notwendigkeit, den heutigen kybernetischen Wissenschaften so sehr gelegen ist). Ebenso ist das Mysterium (ital. ›misterio‹) nicht der im Geist des Menschen verborgene, mittels einer Innenschau aufweisbare und erklärbare ›unbekannte Mechanismus‹. Denn: das Geheimnis ist »wunderbar« und »schrecklich«, d. h. anziehend und abstoßend zumal – während das Mysterium »ewig« ist, d. h. immerwährend und unlösbar. Dass die Worte ›arcano‹ und ›misterio‹ in diesem Sinn sprechen, bezeugt deren Etymon. ›Arcano‹ kommt von ›arcere‹, was nicht ›verhehlen‹ oder ›verdecken‹ meint, sondern ›verbergen‹ im Sinne des Verwahrens ins Verborgene. Was das Wort ›arcano‹ sagt, beruht im Anziehen, Zusich-Ziehen, Sich-Zuführen im Vollzug des Zusammenziehens und Verschließens, und zugleich im Abstoßen, d. h. im eröffnenden Entwerfen. Im Wort ›misterio‹ wiederum spricht das griechische Verb μύειν, welches das Schließen der Lippen und somit das Schweigen meint. 248 | ivo de gennaro · gino zaccaria

Das Geheimnis im Sinne des arcano ist somit die entzogene Offenheit des »All-Daseins«, die lichtende Verbergung des Seienden im Ganzen. Sein Wesen beruht darin, dass es »unser Sein«, das Sein des Menschen, dahin verfügt, sich auf es als Geheimnis zu stimmen und so sich als »ewiges Mysterium« zu bestimmen, d. h. sich einzustimmen auf die Stille (die Not des Sprachwesens), die – die Möglichkeit des Gesangs verwahrend und schließlich aufbrechend als Gesang – das Wohnen der Sterblichen auf der Erde inmitten der »Unermesslichkeit« lichtet. Die Idylle L’infinito dichtet: »Immer war mir dieser einsame Hügel lieb Und diese Hecke, die von so großem Teil Des letzten Horizonts den Blick ausschließt. Doch sitzend und schauend, bild grenzenlose Räume, jenseits, und ungeheures Schweigen Und tiefste Ruhe ich in Gedanken mir – Dass beinah das Herz von Furcht überkommen wird.«

Das Geheimnis, welches in der Gestimmtheit des Schreckens ins »ewige Mysterium« ruft, das Geheimnis als unerrechenbare Dimension, die das mysterienhafte (mystische) Wesen des Menschen hervorbringt, gehört somit ins nulla, ins Keinige, und zwar so, dass es dessen un-negative, alles Negative entmachtende Anmut lichtet (das Geheimnis erglänzt im Zauber der Mondnacht und im »Glühen der Sterne« und in der »tiefen / unendlichen Heiteren«), das Keinige selbst als den Abgrund des Seienden im Ganzen stimmt und es so – in der Not des Wortes – mit dem Quell des Gesangs, der vaghezza, (sagen wir:) der Schwebendheit oder Schwebung, zusammenklingen lässt: »[…] das Poetische beruht in irgendeiner Weise immer im Fernen, im Unendlichen, Unbeendeten, im Schwebenden. (Recanati. 14. Dez. Sonntag. 1828)«69

Wir können mithin vom Einklang von nulla und vaghezza (von Keinigem und Schwebung) sprechen, und d. h. – insofern dieser Einklang wesensmäßig entzogen und als Einklang ein Einanderüber-ein-Tragen bleibt – von deren unsäglicher Eintracht. Die unsägliche Eintracht ist das Tragende der Zueignung des denkenden Gesangs an die Grundfrage der Metaphysik, welche Zu›Um des Seyns willen‹ | 249

eignung notwendig schon eine Entsprechung (zum Sein selbst als Wort) ist, d. h. eine Ant-wort, darin die Metaphysik verwunden ist. Warum also Seiendes und nicht vielmehr (das) Nichts? Weil das Denken sich geschichtlich an die Annahme gewöhnt hat, dass das Nichts nicht sei, d. h. an die ›selbstverständliche Evidenz‹, dass dem niente und dem nulla, dem Nichts und dem Keinigen, kein Sein zukommt. Die Ant-wort (als Zueignung) bleibt somit der Quell »[…] jener universalen und großmächtigen Wahrheiten, auf die wir merken und die wir darlegen, und die vielleicht niemand je in rechter Weise bemerkt, oder gänzlich und klar verstanden und begriffen hat usf.«70. In der Lichtung der unsäglichen Eintracht von nulla und vaghezza, von Keinigem und Schwebung, eignet das ›ist‹ nicht mehr dem Seienden, sondern allem zuvor dem Keinigen und dem Nichts. Die erste »universale und großmächtige Wahrheit« lautet: Das niente im nulla, das Nichts im Keinigen, ›ist‹ das wahrhaft seiende Selbwesen. Was bisher »vielleicht niemand je in rechter Weise bemerkt« hat, ist: dass das Seiende nicht ist. Das Keinige ist, das Seiende ist nicht – so lautet demnach die vollendete Ant-wort, die, als von der unsäglichen Eintracht getragene Zueignung, Leopardis Weg, seine Pfade und Versuche, seine Worte, Töne und Gedichte, be-wegt und bestimmt, und das heißt: seine unnachahmliche Sprache, die anders spricht als in der Weise, in der das metaphysische Fragen sie hört und darstellt. Das Keinige ist, das Seiende ist nicht. Für das metaphysische Fragen ist diese Antwort ein Widersinn, ja der Wider-sinn schlechthin, da sie dem einzigen Grundsinn zuwiderläuft, der besagt: etwas ist und nicht vielmehr nicht – das Seiende ist, während das Nichts nicht ist. Die Ermöglichung dieses ›ist‹ des Seienden ist der anfänglich-griechische Seinssinn, d. h. die οὐσία als der gemeinsame Herkunftsgrund (das γένος und κοινόν) des Seienden – die Anwesenheit des Anwesenden. So bedeutet die unsägliche Eintracht die Absetzung der An-wesenheit von ihrem Vorrang: Das Seiende ist nicht mehr das Maß und die Stütze des Seins. Heißt das aber, die Ant-wort dichte auf ihre Weise das Wesen des Seins? Wäre dem so, dann lautete sie auch wie folgt: Das Sein ist – das Seiende ist nicht. Dieses dem Seienden zugefügte ›Nein‹ ist das Nein des Nichts. Das Nichts – gelichtet in 250 | ivo de gennaro · gino zaccaria

der Offenheit der unsäglichen Eintracht – übereignet das ›ist‹, das Ja, dem Sein, indem es dem Seienden das Nein zu-eignet und -fügt und ihm so die Nichtigkeit schenkt: Das Seiende ist das Nichtige, nicht das Nichts. Im folgenden Zitat ist die Erfahrung der Nichtigkeit des Seienden angezeigt. Die Begriffe und Worte sind noch diejenigen der Metaphysik, doch deren Gesagtes (das dictum) und deren Stimme sind geprägt von jener Absetzung der An-wesenheit von ihrem Vorrang. So ist im Wort ›Materie‹ der Seinssinn der von der An-wesenheit bedingten Vorhandenheit71 zu vernehmen, während die Wendungen »mit den Sinnen gemessene Dinge« und »sinnliche und materielle Dinge« das Vorhandene bezeichnen. Leopardi schreibt: »Wie könnte die Materie je ihre eigene Nichtigkeit fühlen und daran leiden und verzweifeln? Und muss nicht dieses gewisse und tiefe Gefühl (am meisten in den großen Seelen), dass alle mit den Sinnen gemessenen Dinge [d. h. das Vorhandene] umsonst und unzureichend sind, muss nicht dieses nicht bloß räsonierend [rechnend] gewonnene, sondern wahre und sozusagen fühlendste und schmerzvollste Gefühl ein [nachgerade] materieller Nachweis dessen sein, dass das Seiende, das es begreift und erfährt, von anderer Natur ist? Denn das Gefühl der Nichtigkeit aller sinnlichen und materiellen Dinge setzt wesentlich ein Vermögen voraus, Gegenstände unterschiedlicher und entgegengesetzter Natur zu fühlen und zu verstehen. Wie aber könnte dieses Vermögen in der Materie sein? Man merke, ich rede hier nicht von solchem, was durch die Ratio begriffen wird, sofern ja die Ratio das materiellste Vermögen ist, das es in uns gibt, und ihre ganz und gar materiellen, mathematischen Operationen gewissermaßen auch der Materie zugeschrieben werden könnten; sondern ich spreche von einem unserem Geist innewohnenden und eigenen Gefühl, das uns die Nichtigkeit der Dinge unabhängig von der Ratio fühlen lässt, und so vermute ich, dass dieser Nachweis zwingender ist, insofern er allererst die Natur des Geistes zum Teil offenbart. Die Natur ist nicht materiell wie die Ratio.«72

Das »Gefühl« der »Nichtigkeit der Dinge« ist ein Fühlen, das »unserem Geist innewohnt«, nämlich jenem Zug des Menschenwesens, der ursprünglicher ist als die Ratio (d. h. das bloß räsonierende, rechnende Denken, das auch hinter der eigentlichen Vernunft zu›Um des Seyns willen‹ | 251

rückbleibt), die nur »mathematisch« vorgehen, d. h. Vorhandenes verrechnen kann. Demnach hat dieses Fühlen nichts gemein mit der Sinnlichkeit oder der bloßen Emotion; sondern es ist das Denken und Sinnen, dem am Wesentlichen gelegen ist – jenes Denken, das nicht mehr die »Materie« zur Quelle hat und das wir das besinnliche Denken (das sinnende Einvernehmen mit dem Sein als Unterschied) nennen. Die »Nichtigkeit der Dinge« ist, was die »großen Seelen« fühlen. Die große Seele ist nicht eine moralische Eigenschaft des menschlichen Subjekts, sondern die ursprüngliche Großherzigkeit des Menschseins, die geschichtliche Großzügigkeit des Da-seins – jene Haltung, darin der Denkende sich im Wort zum Seinshaft-Keinigen erhebt und dessen Zuruf vernimmt. Obwohl Leopardi aus metaphysischer Gewöhnung Seiendes und Sein nicht auseinanderhalten kann, dürfen wir vermuten, dass im Gefühl der unsäglichen Eintracht (aus der heraus allein für den Dichter die »Nichtigkeit der Dinge« möglich wird) in Wahrheit nicht die unbestimmte Leere oder der Fehl des Seins »begriffen« und »erfahren« sei, sondern gerade das Sein als Unterschied. Dieses »Begreifen« muss freilich den verstellendsten – und dabei mit aufreibender Pünktlichkeit eintreffenden – Missverständnissen ausgesetzt bleiben. In der Herrschaft des Unwesens des Nihilismus, d. h. im Währen des Gestells, wird Leopardis ›Denken‹ stets im Lichte überlieferter und noch geltender Erkenntnisse ›erhellt‹ und ›erklärt‹ werden – genau jener Erkenntnisse also, die der Einsicht entstammen, dass »das Nichts in seinem Wesen nicht nur nicht verstanden werden kann, sondern nicht mehr begriffen sein will«73. Das Nichts muss der Name der bloßen Nichtigkeit bleiben. Im Bereich des uneigentlichen Wesens des Nihilismus – nämlich in der Metaphysik Nietzsches – muss Leopardi schließlich erscheinen als einer, der von der nihilistischen ›Krankheit‹ ›befallen‹ ist, d. h. vom Pessimismus der Schwäche, der, wie es im »Fragment von Lenzerheide« heißt, den Zustand der »Schlechtweggekommenen«74 bestimmt.

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5. Das nichtende Nichts als Schleier und Erzitterung des Warumlosen In der Auslassung des Ausbleibens des Seins, welche die metaphysische Warumfrage bestimmt, ist das Denken aus seinem Eigenen ausgeschlossen. Die Übergangsfrage »Warum Seiendes und nicht vielmehr Nichts?« entspringt der anfänglichen Stimmung, durch die das Denken aus der Auslassung ins Ausstehen des Ausbleibens und damit ins Nichts versetzt wird. Nur aus dem ausgestandenen Ausbleiben des Seyns – aus der Erfahrung des Seyns als Verweigerung –, mit einem Wort: nur aus der Inständigkeit im Da-sein ist das Nichts als zum Seyn selbst gehörige Ereignung erfahrbar. Die Versetzung ins einstehende Ausstehen ist die Einkehr des Denkens ins Menschenwesen, d. h. des Menschen selbst in die Ortschaft als Unterkunft der Ankunft des Seins. Diese Einkehr ist die Heraussetzung, das Ent-setzen des Menschen von der »Belagerung«75 durch das in die Vormacht der Machenschaft losgelassene Seiende, welches von seinem Vorrang vor dem Seyn abgesetzt wird. »Diese Ent-setzung aber ereignet sich nur aus dem Seyn selbst, ja dieses ist nichts anderes als das Ent-setzende und Ent-setzliche. / Die Ent-setzung besteht in der Er-eignung des Daseins, so zwar, daß im so sich lichtenden Da (dem Ab-grund des Ungestützten und Ungeschützten) die Er-eignung sich entzieht. Ent-setzung und Entzug sind des Seyns als des Ereignisses.«76

Der das Seyn ereignishaft durchziehende Zug der Absetzung des Seienden als Ent-setzung des Menschen vom Seienden in den Ent-zug des Seyns selbst ist der Zug der Nichtung – das zum Seyn selbst gehörige Nichts. Die ent-setzliche Absetzung des Seienden ist aber das Sich-Absetzen, d. h. das Sich-Unterscheiden des Seyns zum Seienden, worin das Seyn selbst als Unter-schied beruht, welcher Unter-schied sich als Entzug abschiedlich im Abgrund birgt. Ab-schied sagt: verwahrender Ab-bruch, Sichverbergen der Verbergung in die Verbergung – und so erst Anfang und Grund, weil hier erst Ende und Endlichkeit des Seyns. Die Ent-setzung als Ereignung des Da-seins ist Versetzung von der Auslassung des Seyns (als Gewöhnung im Seienden) in die Inständigkeit im Ab-grund des Seyns als einstehende Ausstehung sei›Um des Seyns willen‹ | 253

ner Unverborgenheit – und das heißt: (diese Ereignung ist) Einkehr in die Entscheidung. Das Nichts als Ent-setzung und als Entzug gehört so ins Ereignis des Ab-grundes (d. h. dessen, was oben das Keinige hieß), nämlich in sein zwiefach-einiges ›Ab-‹ als Wegnahme jedes seienden Grundes oder Ab-setzung und als in die Verbergung verwahrender Entzug oder Ab-schied. Auf diese Weise ist das nichtende Nichts selbst der Ab-grund und doch nicht der Ab-grund, sondern die im Ab-grund wesende, diesen er-wesende Verwahrung des ab-gründig wesenden Seyns. »Als Ab-grund ›ist‹ das Sein das Nichts und der Grund zumal. / Das Nichts ist das ab-gründig Verschiedene vom Seyn, die Nichtung alles Grundes (aller Stütze, alles Schutzes, alles Maßes, aller Ziele) und so Er-eignung in das Offene der Verweigerung und deshalb vom Wesen des Seyns, aber niemals ›dasselbe‹, weil nie die Wesensfülle, d. h. vor allem nicht, weil so nicht Grund.«77

Der Verwahrungscharakter des Nichts ist gemäß seinem Nichtungssinn ein zwiefacher: zum einen als das Sich-Verwahren des Seyns in ihm selbst in der Weise der ab-schiedlichen Bergung des Unter-schieds in den Ab-grund; zum anderen, und darin als dasselbe gründend, als das Sich-Verwahren des Seyns gegen das Seiende in der Weise der das Seiende ab-setzenden »wesentlichen Erzitterung«78 des Unter-schieds, als welche das Seyn das Seiende in die Nichtigkeit entgleiten lässt. Von der Absetzung des Seienden in die Nichtigkeit (Seinsverlassenheit) als Erzitterung des nichthaften Seyns handelt die Vorlesung Was ist Metaphysik?. Von der Ent-setzung vom Grund als Versetzung ins Offene des eigentlich grundhaften Seyns-Geschicks handelt die Vorlesung Der Satz vom Grund. Weil in der Auslassung des Ausbleibens der Verwahrungscharakter der Nichtung nicht als solcher erfahrbar wird, deshalb versteigt sich das anfänglich aus dem Seyn ausgeschlossene Denken in die Frage, die im Seienden als solchem die sicherstellende Erklärung desselben in seiner schon entschiedenen Vormacht vor dem negativen, d. h. das Seiende zwar negierenden, jedoch niemals absetzenden Nichts sucht. Das Negative des Nichts erweist sich so als begründet in der Positivität des Seienden – seiner Ausgesetztheit in die Seinsverlassenheit –, in deren Grenze die Metaphysik denkt. 254 | ivo de gennaro · gino zaccaria

Dass das Nichts als »das Nichtende im Seyn selbst, das uns erst eigentlich ins Seyn und seine Wahrheit ent-setzt«, »seiender als jegliches Seiende« ist und so das »verborgenste Geschenk«79, kann die Metaphysik nicht erfahren. Das nichtige Nichts ist die im Ganzen unmögliche Zurücknahme des losgelassenen, seinsverlassenen Seienden. Das nichtende Nichts ist die abschiedliche Verwahrung der Endlichkeit des Seyns gegen das Seiende. Als diese Verwahrung übereignet das Nichts »das ›ist‹, das Ja, dem Sein, indem es dem Seienden das Nein zu-eignet und -fügt und ihm so die Nichtigkeit schenkt«. Die Nichtigkeit der Erzitterung ist das Geschenk, darin erst der Entscheidungsbereich sich öffnet für die Rückkehr des Seienden in der gelichteten Ringheit des Dings. Das nichtende Nichts hat, indem es »die scheinbare ›Leere‹ des Inzwischen des Ab-grundes erwest«80, nichts Negatives. Die Leere ist nicht eine Entleertheit von Seiendem und so ein vacuum des Nichtseienden. Leere heißt eigentlich: das zu Sammelnde. An ihr selbst erfahren, d. h. im ent-setzten Absprung vom nur Seienden, ist die Leere die gestimmt-stimmende Entrückung in die Not der Versammlung als inständig zu gründender Zeit-Raum der Ankunft. Das Nichts als Erwesung der Leere des Abgrundes ist so selber das Inzwischen. »Das Nichts im anfänglichen Sinne ist das Inzwischen, dessen Lichtung in der Unterscheidung beschieden wird als wesende Stätte der Ankunft.«81

Der Schein aber, darin das Nichts, als bloße Leere erscheinend, sein Nichtungswesen verhüllt – dieser Schein ist selbst eine Wesungsweise des Seyns im Entzug. Als dieser Schein ist das Seyn die sich verhüllende Überschleierung seiner selbst. Die im Schein verhüllte Überschleierung ist aber das anfängliche Nichts. Das Nichts ist Schleier. Was ist ein Schleier? Ein Verhüllend-Zeigendes, nämlich zeigend ein Sichverbergen, und somit (ist der Schleier) solches, wodurch und als welches Sichverbergendes als Sichverbergendes – d. h. in einer Unverborgenheit seiner selbst – sich in sein Merklichwerden verwahrt. Schleier ist der Ort der Lichtung eines Entzugs in die Merklichkeit. So ist dem Schleier selbst das »zu sich selbst Entschwinden« schon eingezeichnet – das Nichthafte bis hinein in die Verwahrung im Abschied. Die Entschleierung der metaphysischen ›Um des Seyns willen‹ | 255

Warumfrage enthüllt das scheinbar leere Nichts als verwahrende Überschleierung des Seyns. Als Schleier verwahrt sich das Seyn dagegen, dass seine Unverborgenheit anders als seyend, d. h. wesungshaft sei. Indem es das Seiende mit der Nichtigkeit beschenkt, verschenkt es sich selbst in die Gründungsnot des Offenen seines Sichverbergens, welcher Gründungsnot als Verweigerung das Menschenwesen zugewiesen ist. Durch die Inständigkeit des Menschenwesens eignet sich das Seyn die Leere des Inzwischen an als Lichtungs-Grund und Ort seiner Ankunft. »Die Ereignung des Menschenwesens in die Zugewiesenheit zum Ereignis [d. i. die Ereignung des Da-seins] […] ist die Verschenkung des Nichts des Abgrundes, in der Weise der höchsten Verweigerung, daß niemals ein Seiendes wagen könnte, das Seyn in seinem Wesen zu treffen und zu erfüllen, so daß das Seyn dann doch als ein Seiendes gemeint sein dürfte.«82

Die ent-setzende Ereignung in die Zugewiesenheit zum Ereignis ist er-schreckend. Sie ereignet in das Abweisende des Nichts, welches abweisend zugleich auf das entgleitende Seiende im Ganzen als das andere zu ihm verweist.83 Im Ent-setzen ist aufgerissen das Schreckliche des Ab-sprungs vom entgleitenden Seienden in die Hineingehaltenheit ins Nichts (Da-sein) und damit schon (ist aufgerissen und an-gestimmt) die Verhaltenheit für die Scheu zum Ab-grund.84 Das Er-schrecken aber erschließt zuerst die vom Nichts bestimmte Grundstimmung der Angst als »gebannte Ruhe«85 des Da-seins im anfänglich-abweisenden Zug der Nichtung. Die Angst gehört zum Entsetzen wie das Nichts zum Seyn.86 »Wenn aber das Nichts die zum Seyn gehörige Überschleierung des Seyns bleibt, die er-eignet die Bescheidung in den Unterschied zum jeglichen Seienden, wenn so das Nichts ›über‹ das Seiende hinaushebt in das Seyn, dann ist gerade die Grundstimmung, die vom Nichts be-stimmt wird, die ›Angst‹ (wesentlich genommen, nicht als Ängstlichkeit) zwar keine ›gehobene‹ und auch keine ›gedrückte‹, aber die in das Seyn erhebende Stimmung. Sie hebt die Gedankenlosigkeit [d. i. die Auslassung des Ausbleibens des Seins] der Metaphysik und Anthropologie und aller Weltanschauung hinaus ins – Nichts, wo alles sich entscheidet.«87 256 | ivo de gennaro · gino zaccaria

Was im Nichts sich entscheidet, ist zuerst das Seyn selbst, und zwar im Streit mit ihm selbst als dem Nichtseyn, dieses als das Unwesen der Herrschaft des bloß Seienden, d. h. des Nichtslosen und also Unseienden.88 Die Entscheidung (entweder Seyn oder Nichtseyn) gibt es nur im Seyn und als Seyn. Aus diesem Entscheidungscharakter – daraus, dass es selbst die Entscheidung seiner selbst ist und die Not der Entscheidung – ist das Seyn wesentlich vom Nicht bestimmt, nichthaft. Aus diesem Nichthaften bestimmt – ereignet und enteignet – sich das dem Seyn zugehörige Nichts. »Durch und durch durchstrahlt vom Nichts«89 trägt sich das Seyn als Ereignis aus in die Stätte seiner Ankunft, indem es das Menschenwesen ent-setzt in die Zugehörigkeit zu der in der erschrockenen Angst ausgehaltenen Not der Verweigerung, um es für es (das Seyn) selbst in die verhaltene Scheu zum Ab-grund zu stimmen. »Die Stimmung ist die Versprühung der Erzitterung des Seyns als Ereignis im Da-sein.«90 Als Nichts ist das Seyn mit dem in es ent-setzten, in die Mitwesung genötigten Menschen unterwegs zu ihm selbst im Sinne der Reifung91 als dem Letzten der entscheidungsoffenen Endlichkeit des Seyns, die nichts vom Seienden weiß und deshalb jegliches entscheidungshaft zum Austrag bringt. In dieser Entscheidung entscheidet sich, ineins mit dem Wesen des Menschen, das metaphysisch die erklärende Warumfrage beanspruchende Seiende: seine Absetzung als solches, was noch nicht ein Seiendes (Nichtig-Ringes) zu nennen ist, und seine Rückkehr als solches, dessen Anwesenheit nicht mehr die eines Seienden (Nichtslosen) sein kann. Erst in der Schwebe der ausgehaltenen Ent-setzung, darin das Seiende aus seinem machenschaftlichen Vorrang abgesetzt ist, kann das ins Da-sein versetzte Fragen die andere übergängliche Warumfrage nach dem Seienden stellen, welche lautet: »Warum Seiendes?«, und darauf antworten: »um des Seyns willen«92. Dieses Um-willen hat den Sinn der Verwahrung: »[In Entsetzung und Entzug] geschieht nichts innerhalb des Seienden, das Seyn bleibt unscheinbar, aber mit dem Seienden als solchem kann geschehen, daß es, in die Lichtung des Un-gewöhnlichen gerückt, seine Gewöhnlichkeit abwirft und sich zur Ent-scheidung darüber stellen muß, wie es dem Seyn genüge. Dies meint jedoch nicht, wie es ihm sich angleiche und entspreche, sondern wie es, das ›Um des Seyns willen‹ | 257

Seiende, die Wahrheit der Wesung des Seyns verwahre und verliere und darin zu seinem eigenen Wesen komme, das in solcher Verwahrung besteht.«93

In der Frage »Warum Seiendes?« ist nicht nach dem Grund des Seienden gefragt, vollends nicht nach einem Erklärungsgrund. Sondern »[d]ieses Fragewort nennt die Lichtung, im Schritt zu der je der Mensch die Würde der Wächterschaft der Wahrheit des Seyns erschreitet«94. Aus dem Schritt zur Lichtung des Ab-grundes hat das Seiende seine Rückkehr als Verwahrung des Wesens des Grundes, der das Seyn selbst ist: »Grundhaft ist nur das Seyn selbst«, doch: »[d]as Grundhafte als solches stößt jedes Warum zurück«95. Grund heißt jetzt einzig das Warumlose: die auszustehende Lichtung des Unterschieds, dessen stimmend ins Da-sein sich versprühende Erzitterung das Nichts ist. Aus dem schon vollzogenen Schritt zum eigentlich Grundhaften, inständig im Offenen seiner Lichtung, stellt das fragende Erdenken des Grundes die Übergangsfrage »Warum Seiendes und nicht vielmehr Nichts?«. Als Frage nach dem Seienden ist sie aus dem einzigen Grund gefragt, »um unversehens vor einen wesentlichen Schritt zu stellen – die Schwebung des Seyns«96.

Anmerkungen

Martin Heidegger: Nietzsche II, S. 54. Giacomo Leopardi: Zibaldone, S. 1341. 3 Martin Heidegger : Besinnung, S. 267. 4 Martin Heidegger : Was ist Metaphysik?, S. 22 u. ö.; ders.: Einführung in die Metaphysik, S. 1 ff. 5 Martin Heidegger : Besinnung, S. 274. 6 Ebd., S. 274 f. 7 Martin Heidegger : Nietzsche II, S. 353 f. 8 Martin Heidegger : Besinnung, S. 377. 9 Ebd. 10 Martin Heidegger : Nietzsche II, S. 336. 11 Ebd., S. 338. 12 Ebd., S. 339. 13 Vgl. ebd., S. 338. 14 Ebd., S. 343. 15 Ebd., S. 350. 1 2

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Ebd., S. 351. Ebd., S. 353. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 357. 20 Ebd., S. 357 f. 21 Ebd., S. 358. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 359. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 360 f. 26 Ebd., S. 360. 27 Ebd., S. 368. 28 Ebd., S. 346. 29 Vgl. DK 28 B 8,35 f. Der griechische Text der Fragmente von Parmenides und Heraklit ist zitiert nach Hermann Diels/Walther Kranz (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker (= DK); die Übersetzungen stammen vom Verfasser. 30 DK 28 B 1,30. 31 Das Gesagte erhellt aus dem Verständnis der φύσις als μὴ δῦνόν ποτε bei Heraklit (DK 22 B 16). 32 Martin Heidegger : Nietzsche II, S. 350. 33 Martin Heidegger : Besinnung, S. 71. 34 DK 28 B 2,3. 35 DK 28 B 6,1. 36 DK 28 B 2,3. 37 DK 28 B 8,2. 38 DK 28 B 8,18. 39 DK 28 B 2,5. 40 DK 28 B 6,2. 41 DK 28 B 2,7. 42 Martin Heidegger : Das Ereignis, S. 148 f. 43 DK 28 B 8,15. 44 Martin Heidegger : Besinnung, S. 272 f. 45 Martin Heidegger : Über den Anfang, S. 48. 46 Gottfried W. Leibniz: Vernunft prinzipien der Natur und der Gnade, S. 12. Im Original gesperrte Wörter sind kursiv gesetzt, die Übersetzungen stammen vom Verfasser. 47 Martin Heidegger : Nietzsche II, S. 347. 48 Ebd. 49 Martin Heidegger : Besinnung, S. 272 f. 50 Den Zug des Zustellens und den daraus sich ergebenden Charakter der Zuständigkeit des Grundes arbeitet Heidegger in der Vorlesung Der Satz vom Grund heraus. 51 Gottfried W. Leibniz: Vernunft prinzipien der Natur und der Gnade, S. 12. 16

17

›Um des Seyns willen‹ | 259

Ebd. Martin Heidegger: Besinnung, S. 271. 54 Friedrich W. J. Schelling: Filosofia della rivelazione, S. 10–12. 55 Ebd., S. 404–406. 56 Friedrich Nietzsche: Nachlaß, S. 350. 57 Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 339. 58 Friedrich Nietzsche: Nachlaß, S. 213. 59 Ebd., S. 350. 60 Im Zusammenhang der seynsgeschichtlichen Auslegung von Leopardis Denken wird es nötig, die italienischen Worte ›niente‹ (ne-ens) und ›nulla‹ (ne-ullus), die gemeinhin gleich mit ›nichts‹ übersetzt werden, zu unterscheiden. Sofern ›nichts‹ weiter als Übersetzung für ›niente‹ dienen soll (was wegen des Anklingens des Seienden in beiden Worten naheliegt), stellt sich die Frage nach der Übersetzung von ›nulla‹. Nun ist nicht nur dieses Wort – das Grundwort Leopardis – schlechthin unübersetzbar; sondern das Wort, das hier als Anzeige von ›nulla‹ dienen soll, bleibt im Rang der Unübersetzbarkeit weit hinter diesem zurück. Dieses anzeigende Wort ist ›das Keinige‹ (keinig zu einig wie kein zu ein). Über das Wort Keinigkeit heißt es im Grimmschen Wörterbuch: »aber brauchbar wäre das wort schon, für dichter und philosophen, zumal keinheit o. ä. nicht gebildet worden ist«. Allerdings ist das Keinige nicht von der Keinigkeit als nullitas und negatio rerum her zu verstehen. Das Keinige ist überhaupt in keiner Weise negativ, sondern das Seyn selbst als das in sich gefasste Eine und Einige in der Verweigerung (auch: das DurchweigertEinige, das ›K(luft-)Einige‹), das so dem Seienden im Ganzen der entzogenwährende Grund – in einem Wort: der Ab-grund – bleibt. Das Keinige trägt in sich das Nichts als Ent-setzung von allem Grund und als Verwahrung seiner selbst (als Keiniges) gegen das nur Seiende. In der Abhandlung Besinnung schreibt Heidegger (S. 99): »Das Seyn ist der Ab-grund, die Kluft des gelichteten Inzwischen«. Diese Kluft ist das Keinige – das Keinig. (I. D. G.) 61 Giacomo Leopardi: Zibaldone, S. 85. Die Seitenangaben beziehen sich auf Leopardis Manuskript und sind in jeder Ausgabe mit angeführt. Alle sonst zitierten Titel sind Gedichtüberschriften. Die Gedichte sind zitiert nach Giacomo Leopardi: Canti; die Übersetzungen stammen vom Verfasser. (I. D. G.) 62 Giacomo Leopardi: Ad Angelo Maj, V.74–75. 63 Giacomo Leopardi: Zibaldone, S. 1341. 64 Ebd., S. 1464. 65 Selbwesen ist ein altes deutsches Wort für ›substantia‹. Es übersetzt hier das gemeinhin mit ›Natur‹, ›Wesensart‹ wiedergegebene italienische Wort ›indole‹ (indu-olesco), worin das seynsgeschichtlich Wesende gesagt ist. (I. D. G.) 66 Ebd., S. 4233. 67 Schlusswort des Cantico del gallo silvestre. 68 Giacomo Leopardi: Sopra il ritratto di una bella donna, V.22 f. 52

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Giacomo Leopardi: Zibaldone, S. 4426. Ebd., S. 3878. 71 ›Vorhandenheit‹ übersetzt ›contingenza‹, welches Wort als eine italienische Entsprechung zum Wort ›Vorhandenheit‹ spricht, wie es im Denken Heideggers geprägt ist. (I. D. G.) 72 Giacomo Leopardi: Zibaldone, S. 106–107. 73 Martin Heidegger : Nietzsche II, S. 54. 74 Friedrich Nietzsche: Nachlaß, S. 215 f. 75 Martin Heidegger : Beiträge, S. 481. 76 Ebd., S. 482. 77 Martin Heidegger : Besinnung, S. 99. 78 Martin Heidegger : Beiträge, S. 266. 79 Ebd., S. 266 f. 80 Martin Heidegger : Über den Anfang, S. 49. 81 Ebd. 82 Martin Heidegger : Besinnung, S. 295. 83 Vgl. Martin Heidegger : Was ist Metaphysik?, S. 34. 84 Vgl. Martin Heidegger : Beiträge, S. 14 ff. 85 Ebd. 86 Vgl. ebd., S. 483. 87 Martin Heidegger : Über den Anfang, S. 49–50, vgl. auch S. 135. 88 Zu Nichts und Entscheidung vgl. Martin Heidegger : Beiträge, Abschnitt 47, 144–146. 89 Ebd., S. 483. 90 Ebd., S. 21. 91 Vgl. ebd., S. 267, 410. 92 Martin Heidegger : Besinnung, S. 269. 93 Martin Heidegger : Beiträge, S. 482. 94 Martin Heidegger : Besinnung, S. 269. 95 Ebd., S. 270. 96 Martin Heidegger : Beiträge, S. 509. 69 70

›Um des Seyns willen‹ | 261

Bibliographie

Diels, Hermann/Kranz, Walther (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 1. Hildesheim 61951. Heidegger, Martin: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Frankfurt a. M. 1989. –: Besinnung. Frankfurt a. M. 1997. –: Das Ereignis. Frankfurt a. M. 2009. –: Der Satz vom Grund. Pfullingen 71992. –: Einführung in die Metaphysik. Tübingen 51987. –: Nietzsche II. Pfullingen 51989. –: Über den Anfang. Frankfurt a. M. 2005. –: Was ist Metaphysik?. Frankfurt a. M. 131986. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Vernunft prinzipien der Natur und der Gnade. Monadologie. Hamburg 21982. Leopardi, Giacomo: Canti. Torino 1993. –: Zibaldone. Mailand 32003. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München 1999. (= Kritische Studienausgabe, Bd. 5) –: Nachlaß 1885–1887, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München 1999. (= Kritische Studienausgabe, Bd. 12) Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Filosofia della Rivelazione (Secondo l’edizione postuma del 1858 curata da Karl Friedrich August Schelling), hg. v. Adriano Bausola. Milano 2002. (Zweisprachige Ausgabe)

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– Waltraud Meints –

Hannah Arendts politische Übersetzung der Frage ›Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?‹*

In ihrem Denktagebuch notiert Hannah Arendt im März 1955 die Frage: »Warum ist überhaupt Jemand und nicht vielmehr Niemand?«1 Sie fügt zugleich hinzu, in welchen Kontext diese Frage gehört: »Das ist die Frage der Politik« und dies – so kann man sagen – ist ihre politische Übersetzung der Grundfrage der Metaphysik, die u. a. von Leibniz in der Form ›Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?‹ gestellt, und die von Martin Heidegger radikalisiert und übersetzt wird in der Frage nach dem Sinn von Sein: ›Warum also ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?‹2 Man mag auf diese Fragen mit Ludwig Wittgenstein antworten, und es darauf beruhen lassen, indem man sagt: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.«3 Aber Arendt wusste, wie auch Theodor W. Adorno, um »Das ontologische Bedürfnis«4, das alle Menschen umtreibt. Arendt hat an der genannten Stelle im Denktagebuch einen kleinen Zusatz hinzufügt, um gleichsam die Richtung anzugeben, in der die Frage ›Warum ist überhaupt Jemand und nicht vielmehr Niemand?‹ verstanden werden soll: »Das meinte Augustin, wenn er sagte: ›ante quem nemo (recte: nullus) fuit‹, wie das Nihil nämlich vor der Schöpfung. Der Jemand ist da, die Schöpfung zu hüten; der Niemand kann sie zerstören. Wenn wir sie zerstört haben und uns einer fragt, werden wir antworten:

* Bei dem Mitherausgeber Daniel Schubbe möchte ich mich herzlich bedanken. Er hat diesen Essay in verschiedenen Fassungen kritisch kommentiert und mit seinen konstruktiven Vorschlägen wesentlich zu dessen Gelingen beigetragen. | 263

Niemand hat es getan. Die Wüste des Nichts, bevölkert vom Volk der Niemand.«5

Was aber ist der ›Niemand‹ und was ist der ›Jemand‹ bei Arendt? Diese Frage ist eng an den Begriff der Freiheit geknüpft: Freiheit, so Arendts Anlehnung an Augustinus und Kant, ist die Möglichkeit einen Anfang zu setzen, der man selbst als Mensch qua Geburt ist. Der Mensch als Anfang hat die Möglichkeit Anfänge zu initiieren. Es ist genau diese doppelte Bestimmung, die Arendt betont: »Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d. h. zu handeln. […] Und da Handeln ferner die politische Tätigkeit par excellence ist, könnte es wohl sein, daß Natalität für politisches Denken ein so entscheidendes, Kategorien-bildendes Faktum darstellt, wie Sterblichkeit […] der Tatbestand war, an dem metaphysisch-philosophisches Denken sich entzündete.«6

Wurde der Mensch geschaffen, damit überhaupt etwas begann, so ist das Handeln – die zweite Geburt des Menschen – »die Geburt des Jemand«7. Diese Geburt des Jemand bedürfe der Stabilität im menschlichen Zusammenleben, die nicht deshalb schwierig sei, weil die menschliche Natur nicht dazu geeignet sei, sondern weil durch das Faktum der Natalität selbst »immer neue Menschen in diesen Bereich fluten und in ihm ihren Neuanfang durch Tat und Wort zur Geltung bringen müssen«8. Als ein ebenso »entscheidendes, Kategorie-bildendes Faktum« wie der »Tatbestand« der Sterblichkeit seit Platon, an dem sich »metaphysisches Denken entzündete«9, ist für Arendt Natalität ein ontologisches Faktum. Das Handeln der Menschen antwortet auf das »Geborenwerden als eine der Grundbedingungen seiner Existenz«10. Durch die Geburt erhalten die »Neuankömmlinge« die Möglichkeit »Neu-Anfänge«11 zu beginnen, aber »[d]ieser Anfang, der der Mensch ist, insofern er Jemand ist, fällt keinesfalls mit der Erschaffung der Welt zusammen; das, was vor dem Menschen war, ist nicht Nichts, sondern Niemand; seine Erschaffung ist nicht der Beginn von etwas, das, ist es erst einmal er264 | waltraud meints

schaffen, in seinem Wesen da ist, sich entwickelt, andauert oder auch vergeht, sondern das Anfangen eines Wesens, das selbst im Besitz der Fähigkeit ist anzufangen: es ist der Anfang des Anfangs oder des Anfangens selbst. Mit der Erschaffung des Menschen erschien das Prinzip des Anfangs, das bei der Schöpfung der Welt noch gleichsam in der Hand Gottes und damit außerhalb der Welt verblieb, in der Welt selbst und wird ihr immanent bleiben, solange es Menschen gibt; was natürlich letztlich nichts anderes sagen will, als daß die Erschaffung des Menschen als eines Jemands mit der Erschaffung der Freiheit zusammenfällt.«12

Das Handeln konstituiert den ›Jemand‹; nur der ›Jemand‹ offenbart sich den gleichberechtigten Anderen, gibt Aufschluss darüber, ›wer‹ er ist durch das Miteinandersprechen. Eignen sich die Menschen durch das Miteinandersprechen die Welt an, so vollzieht sich dadurch »die menschliche Art der Aneignung der Welt« und die »Aufhebung der Entfremdung von der Welt«, in die man als Neuankömmling, als Fremder »hineingeboren wird«13. Fremdheit ist hier ursprünglich. Fremdheit steht hier einerseits als Anfang, die zu ihrer Überwindung der Aneignung als einer aktiven Auseinandersetzung mit Anderen bedarf, so auch die »Entfremdung von der Welt«, als Folge gesellschaftlicher Bedingungen. Beides, die ursprüngliche Fremdheit als auch die Entfremdung von der Welt bedarf der aktiven Auseinandersetzung mit gleichberechtigten Anderen. Diese kurze Skizze zeigt bereits, dass Arendts Übersetzung der metaphysischen ›Grundfrage‹ direkt mit den Grundgedanken ihres politischen Denkens verknüpft ist. Dieser Zusammenhang soll im Folgenden anhand von drei Schritten skizzenhaft erarbeitet werden: Ihrer kritischen Beschäftigung mit Martin Heideggers Begriff des Selbst, ihrem Zugang zu den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft und den Konstitutionsbedingungen eines politischen Welt- und Selbstverhältnisses.

Hannah Arendts politische Übersetzung der Frage | 265

1. Arendts politisch-philosophische Auseinandersetzung mit Heidegger Arendt war ihren eigenen Aussagen zufolge denen beigetreten, »die jetzt schon einige Zeit versuchen, die Metaphysik und die Philosophie mit all ihren Kategorien, wie wir sie seit ihren Anfängen in Griechenland bis auf den heutigen Tag kennen, zu demontieren«14. Zugleich betont sie, dass die Fragen, »die so alt sind wie die Menschen selbst« nicht sinnlos geworden sind, wohl aber die Art und Weise »wie sie gefaßt und beantwortet wurden«15. Zwei traditionelle Grundannahmen haben nach Arendt ihre Überzeugungskraft eingebüßt: (1) Die Unterscheidung zwischen Sinnlichem und Übersinnlichen, die mit der Annahme verknüpft ist, dass alles nicht sinnlich Wahrnehmbare wirklicher, wahrheitshaltiger und sinnvoller sei, als das Erscheinende und (2) die traditionelle Unterscheidung zwischen den ›Vielen‹ und den ›Denkern von Gewerbe‹, die mit der zuerst genannten Grundannahme korrespondiert. Für Arendt steht also nicht die Denkfähigkeit, sondern die Denkweise zur Disposition.16 Die »uralte Suche der Ontologien«, die »in dem Seienden gewissermaßen nach dem Sein Ausschau hielten wie nach einer magischen alles durchwaltenden Substanz« erübrige sich, denn mit »der Befreiung der hiesigen Welt von diesem Spuk des Sein und diesem Wahn, es erkennen zu können, entfiel die Notwendigkeit, monistisch aus einem Prinzip –nämlich eigentlich aus dieser alles durchwaltenden Substanz – alles erklären zu müssen«17. Das Gefühl der Unheimlichkeit der Welt habe sich immer an den individuellen, aus ihrem Funktionszusammenhang gerissenen Dingen entzündet. Der philosophische Grund dafür liege darin, dass der Funktionszusammenhang der Welt zwar rechtfertigen und erklären könne, »dass es z. B. Tische oder Stühle überhaupt gibt, niemals aber mir wird begreiflich machen können, warum dieser Tisch ist«18. Wenn die moderne Philosophie mit »der Erkenntnis, daß das Was niemals das Daß zu erklären imstande ist«19 anfange, dann zeige sich das Scheitern der modernen Philosophie nach Arendt daran, dass »der Mensch zu einem Sein, das er nicht geschaffen hat und das ihm wesensmäßig fremd ist, doch gezwungen wird, Ja zu sagen«20. Der moderne Humanismus scheitere an seiner zugrundeliegenden Hybris, das zu werden, was der Mensch nicht sein kann: »Schöpfer der 266 | waltraud meints

Welt und seiner selbst«21. Menschen bewegen sich innerhalb eines »umgreifenden Seins« miteinander, »sie jagen weder dem Phantom des Selbst nach, noch leben sie in dem hybriden Wahn, das Sein überhaupt zu sein«22. Auch Martin Heideggers Bestimmung des Seins als Nichts sei der Versuch, aus der Definition des Seins »als des Vorgegebenen herauszukommen«, weil er zunächst »die Handlungen des Menschen aus gottähnlichen zu göttlichen« macht, dann setze er das ›Nichts‹ aktiv als ›nichten‹, um es an die Stelle des »Vorgegebensein des Seins« zu stellen und erkläre damit das ›Nichts‹ zur freien »Domäne des Menschen«23. Mit dem Sein, »mit dem Gegebenen, auch mit mir selbst, sofern ich auch mir gegeben worden und nicht von mir selbst gemacht worden bin«, muss man sich »ein für allemal abfinden«24. Das ›Sich-Abfinden‹ mit dem Gegebenen könne in zwei Modi erfolgen: durch »Dankbarkeit – dass es überhaupt für mich so etwas wie Sein gibt – oder im Modus des grundsätzlichen Ressentiments – dass Sein überhaupt so etwas ist, was ich nicht selbst machen kann und nicht gemacht habe«25. Hatte Heidegger mit der Bestimmung, dass der Mensch schon immer »in der Welt ist«, zugleich betont, dass das Wer »sich aus dem Ich selbst« beantwortet und sich »im Wechsel der Verhaltungen und Erlebnisse als Identisches durchhält«26, so kritisiert Arendt Heideggers Verständnis vom Selbst in seiner ›Selbstischkeit‹, dass nur dann ein ›eigentliches‹ ist, wenn es sich von anderen gleichberechtigten Anderen absondert. »Der größte Irrtum der Denker«, so formuliert Arendt es im Denktagebuch, sei »zu meinen, dass ich, wenn ich denke, erst wahrhaft ich selbst bin. Gerade wenn ich allein bin, bin ich nie ein ›Selbst‹, nie identisch mit mir. Meine Identität ist an meine Erscheinung und damit an die Anderen, denen ich erscheine, gebunden. Mein ›Selbst‹ qua Identität gerade empfange ich von Andern«27.

Dieser Irrtum zeige sich bei Heidegger darin, dass er »das Man in der Spanne Man – Selbst gesehen ist. Dem Man aber, der das ›Niemand‹ ist […], steht der Jedermann (und nicht das Selbst) gegenüber, der wir alle immer auch sind, insofern wir gleich jedermann an die ἀναγϰαῖα gebunden sind. Dem Man tritt nie das Selbst entgegen, sondern der Jedermann.«28 Hannah Arendts politische Übersetzung der Frage | 267

Im Unterschied zu Heidegger bindet Arendt die Konstituierung des Selbst an ein aktives intersubjektives Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten, indem sich das ›Wer‹ durch Handeln und Sprechen den Anderen offenbart. Im Miteinander des Sprechens offenbaren und zeigen sie, wer sie sind. Im Unterschied zu Heidegger gilt für Arendt, dass der Mensch sich selbst mit und durch gleichberechtigte Andere die Welt aktiv aneignen muss, um frei zu sein. Arendt wendet sich – wie Günther Stern (Anders) oder auch der von ihr zwar als nicht ›unbegabt‹ bezeichnete, aber wenig geschätzte Theodor W. Adorno – gegen eine »als Sparte betriebene Philosophie«, die »mit den Menschen nichts mehr zu tun hat«29. So formuliert Adorno: »Die Ontologien in Deutschland, zumal die Heideggersche, wirken stets noch weiter, ohne daß die Spuren der politischen Vergangenheit schreckten.«30 »Denken dagegen, das nicht als Ursprung sich behauptet, sollte nicht verbergen, daß es nicht erzeugt sondern wiedergibt, was es, als Erfahrung, bereits hat.«31 Arendt setzt bei den Bedingungen menschlichen Lebens an, die zum Ausgangspunkt des Staunens und damit des Denkens gemacht werden. Während das griechische Staunen sich nach Arendt von der Welt abwandte, fordert sie die Konzentration auf das menschliche Miteinander, das in Wort und Tat im öffentlichen Raum erscheint. Das Denken entspringt einem weltlichen Grund. Es erwächst »aus Geschehnissen der lebendigen Erfahrung« und muss »an sie als die einzigen Wegweiser, mit deren Hilfe man sich orientiert, gebunden bleiben«32. Wie Arendt diesen Zugang zur Welt verstanden hat und wie sie in einer kritischen Neuaneignung der modernen nachhegelschen Philosophie ein neues Welt- und Selbstverhältnis entfaltet, deutet sich in ihrem Aufsatz »Was ist Existenzphilosophie?« (1946) und in ihrem Vortragsmanuskript »Concern with Politics within Recent European Philosophical Thought« (1954) an. In beiden Schriften diskutiert sie die Philosophie nach Hegel unter dem Gesichtspunkt von Philosophie und Politik, Denken und Handeln und hebt die Bedeutung der Philosophie Heideggers – trotz aller Kritik – für ihr Projekt hervor, insofern seine Philosophie als erste wirklich ›weltliche‹ Philosophie verstanden werden könne. Andererseits bleibe Heidegger der Tradition verhaftet, weil bei ihm der öffentliche Raum als ein Ort gedacht werde, der die Realität und das Erscheinen der Wahrheit verhindert. Und genau 268 | waltraud meints

an diesem Punkt – dem Weltbegriff – greift Arendt ihre oben skizzierte Kritik an der Heideggerschen Philosophie wieder auf. Nicht deshalb ist Heidegger zu kritisieren, weil er die Bestimmung des ›Man‹, das ›Gerede‹ als Öffentlichkeit bestimmt, sondern weil er das, was ist, als Wesen der Öffentlichkeit ausgibt. Arendt stimmt diesen Analysen lediglich als »unterschwelligen Zeiterfahrungen«, als »begriffliche[n] Beschreibungen« und als »prägnanteste Zusammenfassung bestehender Bedingungen« zu. Bei Heidegger sind die Mitmenschen lediglich ein »strukturell notwendiges, aber das Selbstsein notwendig störendes Element der Existenz«. Gegen Heidegger und mit Kant und Jaspers stimmt sie darin überein, dass die Existenz »wesensmäßig nie isoliert« ist, »sie ist nur in Kommunikation und im Wissen um andere Existenzen«. Nur »in dem Zusammen der Menschen in der gemeinsam gegebenen Welt kann sich die Existenz überhaupt entwickeln«33. Für Arendt ist die Kommunikation (Jaspers) beziehungsweise die Mitteilung (Kant) die Bedingung der Möglichkeit für die Existenz des Menschen. Der Begriff der Kommunikation enthält im Ansatz einen neuen Begriff der Menschheit. Die Existenz ist weder für Jaspers noch für Arendt eine ›Form des Seins‹, sondern eine ›Form menschlicher Freiheit‹. Arendt teilt mit Heidegger die Auffassung, dass der Mensch schon immer in der Welt ist. Doch wie dieses In-der-Welt-sein zu verstehen ist, fällt bei Heidegger und Arendt gänzlich unterschiedlich aus. Der Unterschied liegt darin, dass Arendt die Konstituierung des Selbst an eine mit Anderen geteilte Welt knüpft. Während bei Heidegger die Welt gegeben ist, ist sie für Arendt eine von Menschen zu erschaffende Welt.

2. Die Welt als Ausgangspunkt des thaumadzein: Arendts Analyse totaler Herrschaft Vor dem Hintergrund der katastrophalen Ereignisse des 20. Jhs. fordert Arendt ein Eingedenken der Philosophen auf diese Ereignisse. Sie kritisiert, dass »not one of the philosophers has mentioned or analysed in philosophical terms this background of experience«34. Die Weigerung, diese Erfahrungen und Ereignisse zum philosophischen Ausgangspunkt der Analysen zu machen, bestätige das alte Hannah Arendts politische Übersetzung der Frage | 269

Misstrauen und Erbe der traditionellen Philosophie gegenüber dem Politischen, der Welt als dem Raum der menschlichen Angelegenheiten. Arendt knüpft kritisch an den Begriff des thaumadzein, dem Staunen, über das, was ist, an, wenn sie formuliert, dass eine neue politische Philosophie »cannot ultimately arise out of analyses of trends, partial compromises, and reinterpretations; nor can it arise out of rebellion against philosophy itself. […] It can spring only from an original act of thaumadzein, whose wondering and hence questioning impulse must now (i. e., contrary to the teaching of the ancients) directly grasp the realm of human affairs and human deeds«35.

Das Staunen, über das, was ist, kann in Arendts Verständnis sowohl positiv als auch negativ sein; der Bezug auf die Welt ist das Entscheidende. Optimismus als auch Pessimismus liegen ihr fern, insofern diese Erscheinungsformen sich nicht der Welt stellen. Was das heißt, formuliert Arendt explizit im Vorwort zur ersten Ausgabe von The Origins of Totalitarianism. Sie wendet sich »against a background of both reckless optimism and reckless despair. It holds that Progress and Doom are two sides of the same medal; that both are articles of superstition, not of faith«36. Es gelte sich der Realität zu stellen, was immer sie auch sein mag: »Comprehension does not mean denying the outrageous, deducing the unprecedented from precedents, or explaining phenomena by such analogies and generalities that the impact of reality and the shock of experience are no longer felt. It means, rather, examining and bearing consciously the burden which our century has placed on us – neither denying its existence nor submitting meekly to its weight. Comprehension, in short, means the unpremeditated, attentive facing up to, and resisting of, reality – whatever it may be.«37

Die Erfahrungen des 20. Jhs. zeigen zugleich, dass das Staunen auch ›Verweilen beim Grauen‹ sein kann: »For the speechless horror at what man may do and what the world may become is in many ways related to the speechless wonder of gratitude from which the questions of philosophy spring.«38 Eine Philosophie des Politischen hätte ihren Grund im Staunen, das sich der Welt zuwendet.

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»Philosophy, political philosophy like all its other branches, will never be able to deny its origin in thaumadzein, in the wonder at that which is as it is. If philosophers, despite their necessary estrangement from the everyday life of human affairs, were ever to arrive at a true political philosophy they would have to make the plurality of man, out of which arises the whole realm of human affairs – in its grandeur and misery – the object of their thaumadzein. Biblically speaking, they would have to accept – as they accept in speechless wonder the miracle of the universe, of man and of being – the miracle that God did not create Man, but ›male and female created He them‹. They would have to accept in something more than the resignation of human weakness the fact that ›it is not good for man to be alone‹.«39

Arendts Verständnis des Staunens entspricht dem Verständnis von Walter Benjamin, der formuliert: »Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ›noch‹ möglich sind, ist kein philosophisches.«40 Das Staunen, über die »Dinge, die wir erleben« in einer Welt, deren Faktum es ist, »that men, not Man, live on the earth and inhabit the world«41, zeigt sich im öffentlichen Raum, der zum philosophischen Ausgangspunkt und damit zur Erkenntnisquelle des Denkens wird. Deshalb hat der öffentliche Raum für sie eine erkenntnis- und weltkonstituierende Funktion und wird zum epistemologischen Ausgangpunkt ihrer Analyse.

3. ›Jemand‹ und ›Niemand‹: Zur Konstitution des Politischen bei Arendt Die Frage, welche Konstitutionsbedingungen für das gleichberechtigte Miteinander der Menschen bestimmend sind, ist für Arendts Untersuchungen zentral. Dabei unterscheidet sie den Begriff der Welt von dem der Erde.42 Während die ›Erde‹ als faktische Begebenheit verstanden wird, unter der das Leben der Menschen gegeben ist, so reserviert sie den Begriff der ›Welt‹ für das, was die Menschen selbst hervorbringen und sie zugleich bedingt.

Hannah Arendts politische Übersetzung der Frage | 271

»Was immer menschliches Leben berührt, was immer in es eingeht, verwandelt sich sofort in eine Bedingung menschlicher Existenz. […] Die Wirklichkeit der Welt macht sich innerhalb menschlicher Existenz als die diese Existenz bedingende Kraft geltend und wird von ihr als solche empfunden.«43

Dieser Weltbegriff hat verschiedene Dimensionen. Er bezieht sich auf die von Menschen geschaffene Dingwelt und auf die Beziehung der Menschen zueinander. Der Doppelcharakter des Weltbegriffs bezieht sich auf die Bedingtheiten menschlicher Existenz und korrespondiert mit den Grundtätigkeiten von Herstellen und Handeln. Zwei wesentliche Dimensionen des Weltbegriffs lassen sich unterscheiden. ›Die Weltlichkeit der Welt als Bedingtheit‹, die Menschen selbst schaffen, ist Ergebnis des Herstellens und Handelns. Die Weltlichkeit der Welt verdankt wesentlich »dem Menschen ihre Existenz, seinem Herstellen von Dingen, […] seinem handelnden Organisieren der politischen Bezüge in menschlichen Gemeinschaften«44. Die ›Dingwelt‹ umfasst die Produkte des Herstellens und die Erzeugnisse des Handelns. Die Institutionen und Verfassungen gehören ebenfalls zur Dingwelt. Sie sind Erzeugnisse von Handeln und Herstellen, die als Grenzen und Zäune des politischen Raums verstanden werden können und den Erscheinungsraum einhegen. Sie sind Materialisierungen von lebendiger Macht. Diese Vergegenständlichungen menschlicher Fähigkeiten bieten den Menschen einen Erscheinungsraum: Er ist ein Artefakt, ein von den Menschen selbst Geschaffenes, und garantiert Beständigkeit. Der öffentliche Raum schafft einen Erscheinungs- und Erinnerungsraum. Dieser Erscheinungs- und Erinnerungsraum ist das Resultat gemeinsamen Handelns und damit die Vergegenständlichung von Macht in Institutionen, die das Zusammenleben der Menschen regeln, Stabilität und Orientierung bieten. Sie setzen dem Handeln Grenzen, hegen es ein und ermöglichen Beständigkeit. Diese Form der Vergegenständlichung des Handelns nennt Arendt die Materialisierung von Macht. Sie ist im Unterschied zu der Dingwelt des homo faber auf die beständige Bestätigung der Handelnden angewiesen. Sobald sie der Unterstützung der Handelnden ermangelt, erstarren die Institutionen und treten den Menschen als ›fremde Macht‹, als Herrschaft entgegen. Der Umschlagspunkt von Macht zu Herrschaft lässt po272 | waltraud meints

litische Institutionen »erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt«45. Die ›Welt als weltliche Wirklichkeit‹ bezieht sich auf den gemeinsamen Realitätsbezug. Indem Menschen einander erscheinen und sich im Sprechen und Handeln austauschen, konstituieren sie das Zwischen als gemeinsame Welt, die sie miteinander verbindet und trennt. Das, was die Menschen miteinander verbindet, ist diese Welt, die sie selbst durch die Vielfalt der Perspektiven auf die Dinge hervorbringen. Dadurch entsteht eine weltliche Wirklichkeit, die Realität, in dessen Mittelpunkt die Sorge um die Welt, aber nicht um den Menschen steht. Der Begriff der Wirklichkeit wird durch die generelle Welthaftigkeit der Lebewesen begründet, weil Subjekte zugleich Objekte der Wahrnehmung sind. Sie sind sowohl Wahrnehmende als auch Wahrgenommene.46 Das »Vorhandensein von Anderen«47 ist die Bedingung der Möglichkeit der Welt und der Pluralität der Menschen, da sie nicht nur in der Welt, sondern von dieser Welt sind, da das Prinzip der Gleichheit von Ungleichen realisiert wird. Diese Welt entsteht durch Mitteilung, durch Handeln und Sprechen, sie konstituiert ein Zwischen. »Nur wo Dinge […] von Vielen in einer Vielfalt von Perspektiven«48 gesehen wird, entsteht die gemeinsame Welt. Die Konstituierung der Person ist bei Arendt an die Pluralität, also ans Miteinander gebunden. Sie kann sich nur im Miteinander entfalten. Ist der Tätigkeit des Handelns der Bezug zu anderen Menschen – im Unterschied zu den Tätigkeiten des Arbeitens und Herstellens – eigentümlich, so ist der wesentliche Unterschied zwischen Handeln und Herstellen der der Unvorhersehbarkeit und Irreversibilität. Ein hergestelltes Ding kann wieder zerstört und wieder aufgebaut werden. Das Handeln aber ist, selbst wenn man Resultate oder Ergebnisse des Handelns antizipieren kann, unvorhersehbar, weil es in ein Netz von Bezügen mit anderen Handelnden fällt. Arendts Interesse in Vita activa gilt aber nicht bloß den Tätigkeiten ›Arbeiten‹, ›Herstellen‹ und ›Handeln‹ als solchen, sondern auch der Anordnung, in der sie zueinander stehen. Liegt die Bedingtheit des Menschen in der Spannung zwischen einer vorgängigen Welt im Sinne der Natur und einer von Menschen geschaffenen Welt, so sind die Bedingungen, die die Menschen selbst schaffen und die sie gleichzeitig bedingen, in unterschiedlichen Zeiten Hannah Arendts politische Übersetzung der Frage | 273

verschieden. Durch die jeweilige Konstellation dieser Grundtätigkeiten unterscheiden sich die Selbstverständnisse verschiedener Gesellschaften und historischer Epochen. Genau diese unterschiedlichen geschichtlichen Bedingtheiten der Menschen nimmt Arendt zum Ausgangspunkt ihrer Erörterungen, wenn sie in der Vita activa, ausgehend von der Antike bis zur modernen Welt, die Neuzeit in den Fokus ihrer Untersuchungen stellt.49 Die ›Vita activa‹ umfasst drei Grundtätigkeiten: Arbeiten, Herstellen und Handeln. Diese drei Grundtätigkeiten korrespondieren mit drei Grundbedingungen: dem Leben, der Weltlichkeit und der Pluralität. So entspricht das Arbeiten dem »biologischen Prozeß des menschlichen Körpers, der in seinem spontanen Wachstum, Stoffwechsel und Verfall sich von Naturdingen nährt, welche die Arbeit erzeugt und zubereitet, um sie als die Lebensnotwendigkeiten dem lebendigen Organismus zuzuführen. Die Grundbedingung, unter der die Tätigkeit des Arbeitens steht, ist das Leben selbst.«50

Durch Herstellen produziert der Mensch Dinge, Gegenstände, die künftige Generationen überdauern, und damit eine Welt, die das einzelne menschliche Leben überdauert und ihm Stabilität gibt. Die Welt bietet eine künstliche Welt von Dingen. Sie »bietet Menschen eine Heimat in dem Maße, in dem sie menschliches Leben überdauert, ihr widersteht und als objektiv-gegenständlich gegenübertritt. Die Grundbedingung, unter der die Tätigkeit des Herstellens steht, ist Weltlichkeit, nämlich die Angewiesenheit menschlicher Existenz auf Gegenständlichkeit und Objektivität«51.

Die Tätigkeit des Handelns umfasst Handeln und Sprechen, weil erst das gesprochene Wort die Tat in einen Bedeutungszusammenhang, in eine Mitwelt fügt. Hier entsteht das Gewebe menschlicher Bezüge und Angelegenheiten, sie werden durch Handeln und Sprechen konstituiert. Im Vergleich zu den Verbrauchs- und Gebrauchsgütern des Arbeitens und Herstellens hat das Resultat des Handelns weder eine handgreifliche Dinghaftigkeit noch die flüchtig vergängliche Festigkeit von Verbrauchsgütern. Arendt spricht von Erzeugnissen des Handelns, Sprechens und Denkens. Die Wirklichkeit der Handelnden hängt von der Pluralität ab, die ihrer 274 | waltraud meints

Gegenwart bedarf, da nur »das Gesehenwerden, das Gehörtwerden und schließlich das Erinnertwerden ihnen überhaupt die schiere Existenz bezeugen können«52. Handeln und Sprechen sind Manifestationen menschlicher Existenz, die sich der Tätigkeit des Denkens verdanken, die zwar in der Welt selbst nicht erscheint, nicht hörbar, nicht verbraucht oder gebraucht wird, aber dennoch mit der Welt der Erscheinung in Verbindung steht. Was die Tätigkeiten des Handelns, Sprechens und Denkens im Unterschied zu den Tätigkeiten des Arbeitens und Herstellens verbindet, ist, negativ formuliert, dass sie unproduktiv sind. Sie bringen selbst nichts hervor und sind auf Verdinglichung angewiesen: »Tat, Wort und Gedanken bedürfen, um sich in der Welt anzusiedeln, immer einer ganz anderen Tätigkeit, als die war, die sie hervorgebracht hat. Die Dinghaftigkeit, die innerhalb der Welt allein Wirklichkeit und Dauer garantiert, kann ihnen nur dieselbe ›Werktätigkeit‹ verleihen, welcher auch die anderen Dinge ihre weltliche Existenz verdanken.«53

Im Handeln und Sprechen der Person enthüllt sich nicht nur, was potentiell schon da ist; es entfaltet sich erst durch das Handeln und Sprechen. Innerhalb dieses actus entfaltet und zeigt sich das ›Wer einer ist‹ als Individualität des Menschen. Arendt grenzt zudem den Begriff der Person sowohl von dem des Subjekts als auch von dem des Selbst ab, eben weil das Personenhafte sich der Verfügungsgewalt des Subjekts entzieht und daher das genaue Gegenteil des Nur-Subjektiven ist. Die Person unterscheidet sich auch vom Selbst, weil das Selbst sich auf sich ›selbst‹ zurückzieht, während die Person aus sich herausgehen muss, um Person zu werden.54 Das Personsein, so haben Leo Penta und Christa Schnabl überzeugend herausgearbeitet, entfaltet sich nur im Kontext eines ›Wir‹, d. h. nicht ohne einen öffentlichen Raum und ohne Macht. Die Bildung der Person ist somit an die Anderen gebunden. Zugleich betont Arendt, dass das, was im Handeln und Sprechen erscheint, »dem, der es zeigt, selbst unbekannt« ist, »er kann darüber nicht verfügen«55. Arendt entwickelt, so Schnabl im Anschluss an Penta, einen qualitativen Pluralitätsbegriff. Nach Arendt kennzeichnen zwei Momente das Faktum der Pluralität: Gleichheit und Verschiedenheit. Ohne Gleichheit gäbe es Hannah Arendts politische Übersetzung der Frage | 275

keine Verständigung unter Lebenden, ohne Verschiedenheit, die sie als absolute Unterschiedenheit jeder Person bestimmt, bedürfte es weder der Sprache noch des Handelns für Verständigung. Denn durch Handeln und Sprechen offenbart sich die Pluralität, die Individualität der Menschen: Sie zeigen aktiv ihre Einzigartigkeit, erscheinen auf der »Bühne der Welt, auf der sie vorher so nicht sichtbar waren, solange nämlich, als ohne ihr eigenes Zutun nur die einmalige Gestalt ihres Körpers und der nicht weniger einmalige Klang der Stimme in Erscheinung traten«56. Das Politische, das Handeln und Sprechen, hat es mit diesem Personenhaften zu tun, mit dem ›Wer einer ist‹, aber nicht mit dem ›Was‹. Welche Bedeutung hat nun das ›Wer‹ im Unterschied zum ›Was‹ bei Arendt? Die Fragen ›Wer bin ich?‹ und ›Was bin ich?‹, die Arendt unter Berufung auf Augustinus formuliert, stehen im Kontext der Natur des Menschen. Die erste Frage »richtete der Mensch an sich selbst […]. Die zweite Frage aber richtet der Mensch an Gott […]«57. Zunächst ist eine Erörterung notwendig, die die Unbeantwortbarkeit der Frage nach dem Wesen des Menschen betrifft: »Was die Antworten anlangt, so kann man in Kürze sagen, daß das ›Wer bin ich?‹ mit dem: Ein Mensch, was immer das sein mag, zu beantworten ist, während die Frage ›Was bin ich?‹ überhaupt nur von Gott zu beantworten ist, der den Menschen geschaffen hat. Mit anderen Worten, die Frage nach dem Wesen des Menschen ist genau so eine theologische Frage wie die Frage nach dem Wesen Gottes […].«58

Es gibt keine Natur oder ein Wesen des Menschen. Falls es das gäbe, könne nur Gott die Frage beantworten. Das ›Wer jemand ist‹ zeigt sich hingegen nur im gemeinsamen Handeln der Vielen, in der Pluralität. Die Bildung der Person verschränkt sich bei Arendt mit ihrem Begriff der Macht. Die Macht entsteht nur durch das Handeln der Vielen, die nur in diesem Zusammensein ihr ›Wer‹ und damit die Person enthüllen. Die Person ist ein Effekt der Begegnung mit Anderen. Arendt gewinnt diese Konstellation nicht aufgrund von normativen Grundlagen, von denen sie die misslungenen und gescheiterten Momente des Personseins kritisiert, sondern ex negativo. In der Enthüllung der Person durch Sprechen und Handeln bildet sich das ›Wer‹ in Bezug auf Andere. Denn ›Wer‹ sie sind, zeigt 276 | waltraud meints

sich im Handeln und dabei entfaltet sich die Möglichkeit des Wir. Arendt bezieht sich hier auf die lateinische Bedeutung des Wortes ›persona‹: »Das Wort meint ursprünglich die Maske, in der die Schauspieler des Altertums gemeinhin auftraten. […] Diese Maske hatte offenbar eine doppelte Funktion: sie sollte das natürliche Gesicht des Schauspielers verbergen oder besser ersetzen, und sie mußte gleichzeitig so konstruiert sein, daß die natürliche Stimme noch durchklingen konnte.«59

Die Enthüllung der Person zeigt sich nur der Mitwelt, weil Selbstdarstellung und Selbstpräsentation nicht mit der Enthüllung der Person identisch sind, so »[d]aß dies Wer, das für die Mitwelt so unmißverständlich und eindeutig sich zeigt, dem Zeigenden selbst gerade und immer verborgen bleibt, als sei es jener δαίμων der Griechen, der den Menschen zwar sein Leben lang begleitet, ihm aber immer nur von hinten über die Schulter blickt und daher nur denen sichtbar wird, denen der Betreffende begegnet, niemals ihm selbst«60.

Es gibt folglich keine Person ohne den öffentlichen Raum, in der sich die Person enthüllt. Nur im Sprechen und Handeln unterscheiden sich die Menschen aktiv voneinander. Es sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart. Im Handeln als Neuanfang wird die Geburt bestätigt. Es entspricht der Geburt des Jemand. Das Sprechen realisiert die spezifisch menschliche Pluralität, die einzigartige Verschiedenheit der Menschen. »Das Wesen einer Person – nicht die Natur des Menschen überhaupt (die es für uns jedenfalls nicht gibt) und auch nicht die Endsumme individueller Vorzüge und Nachteile, sondern das Wesen dessen, wer einer ist – kann überhaupt erst entstehen und zu dauern beginnen, wenn das Leben geschwunden ist und nichts hinterlassen hat als eine Geschichte.«61

Entscheidend ist, dass Arendt die Enthüllung der Person nicht nur an das Miteinander bindet, sondern dass die Person als Handelnde und Sprechende aus der Position der Zuschauenden betrachtet wird. Der Mitwelt als Zuschauende offenbart sich die Person in ihrem Hannah Arendts politische Übersetzung der Frage | 277

Handeln und Sprechen, insofern der Begriff der Erscheinung den Zuschauer erfordert. Enthüllt sich im ›Wer‹ die Individualität eines Menschen, so wird durch das Sprechen dieser Person gleichzeitig enthüllt, wie er/sie die Welt sieht. Die Weltlichkeit der Welt, die sich durch die Vielfalt der Perspektiven konstituiert, enthüllt zugleich die Individualität des Menschen. Beides aber kann sich nur entfalten, wo es die Bedingung der Möglichkeit für einen öffentlichen Raum gibt. Nicht das Gegen- oder Füreinander, sondern nur das Miteinander lässt die Person in seiner Einzigartigkeit erscheinen und bietet der Mitwelt, den gleichberechtigten Anderen, die Möglichkeit, die unterschiedlichen Perspektiven auf ein Gemeinsames zu berücksichtigen, um sie für das eigene Urteil zu reflektieren. Die Entfaltung des ›Wer‹ wird von Arendt mit Kants Verständnis des sensus communis aus der Kritik der Urteilskraft verbunden, weil die Operationsweise des sensus communis die Meinungen und Urteile über das Gemeinsame von Anderen für die eigene Urteilsbildung berücksichtigt. Der sensus communis ermöglicht eine Aneignung der Welt über die aktive Auseinandersetzung mit Anderen. Entscheidend für diese Form des Denkens ist dabei nicht, dass man Argumente umdrehen oder Behauptungen auf den Kopf stellen kann, sondern dass man die Fähigkeit entwickelt, »die Sachen wirklich von verschiedenen Seiten zu sehen, und das heißt politisch, daß man sich darauf verstand, die vielen möglichen, in der wirklichen Welt vorgegebenen Standorte einzunehmen, von denen aus die gleiche Sache betrachtet werden kann und in der sie, ihrer Selbigkeit ungeachtet, die verschiedensten Aspekte zeigt«62.

Die Urteilskraft zeigt sich darin, dass die Person, indem sie über die Welt urteilt, zugleich enthüllt, wer sie ist. Welt- und Selbstverhältnis fallen im Urteilen zusammen.63

4. Schluss In der politischen Übersetzung der Grundfrage der Metaphysik in die Frage ›Warum ist überhaupt Jemand und nicht vielmehr Niemand?‹ zeigt sich Arendts philosophische Grundlegung des Politischen und zugleich, wie sie sich in einer Art ›rettenden Kritik‹ (Ha278 | waltraud meints

bermas) die Tradition abendländischen politischen Denkens neu aneignet. Die Praxis des sensus communis als einer Bewegung des Denkens, die es ermöglicht, sich sowohl auf als auch gegen die Tradition zu beziehen,64 zeigte sich in ihren kritischen Reflexionen der nachhegelianischen Philosophie – insbesondere bei Heidegger und Jaspers –, in ihrer kritischen Anknüpfung an den Begriff des thaumadzein als Hinwendung zur Welt, wie in ihren Begriffen ›Jemand‹ und ›Niemand‹ als Formen menschlichen Daseins: Der ›Jemand‹ verweist auf das Faktum der Natalität und Pluralität, das nur im Beziehungsgeflecht mit Anderen sich entfalten kann, während der ›Niemand‹ auf die ständige Gefahr der »Wüste« als das »Anwachsen von Weltlosigkeit, das Verdorren des Zwischen«65 verweist.

Anmerkungen

Hannah Arendt: Denktagebuch, Bd. 1, S. 520. 2 Vgl. Daniel Schubbe: Politische Windungen des Verstehens, S. 158; vgl. auch Ludger Lüktehaus: Natalität; ders.: Nichts. 3 Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-philosophicus, Satz 7. 4 So eine Kapitelüberschrift in Theodor W. Adornos Negative Dialektik. 5 Hannah Arendt : Denktagebuch, Bd. 1, S. 520. 6 Hannah Arendt : Vita activa, S. 15 f. 7 Ebd., S. 217. 8 Ebd., S. 183. 9 Ebd., S. 16. 10 Hannah Arendt : Macht und Gewalt, S. 81. 11 Ebd. 12 Hannah Arendt : Vita activa, S. 166. 13 Hannah Arendt : Vom Leben des Geistes, S. 105. 14 Ebd., S. 207. 15 Ebd., S. 20. 16 Vgl. ebd. 17 Hannah Arendt : Was ist Existenzphilosophie?, S. 46. 18 Ebd., S. 8. 19 Ebd., S. 12. 20 Ebd., S. 11. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 47. 23 Ebd., S. 30. 24 Hannah Arendt : Denktagebuch, Bd. 1, S. 4. 1

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Ebd., S. 4. Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 114. 27 Hannah Arendt : Denktagebuch, Bd. 2, S. 734. 28 Ebd., Bd. 1, S. 218. 29 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, S. 70. 30 Ebd., S. 69. 31 Ebd., S. 71. 32 Hannah Arendt : Vorwort, S. 18. 33 Hannah Arendt : Was ist Existenzphilosophie?, S. 47. 34 Hannah Arendt : Essays in Understanding, S. 445. 35 Ebd. 36 Hannah Arendt : The Origins of Totalitarianism, S. VII. 37 Ebd., S. VIII. 38 Hannah Arendt : Essays in Understanding, S. 445. 39 Hannah Arendt : Philosophy and Politics (1954). 40 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, S. 697. 41 Hannah Arendt: The Human Condition, S. 7. 42 Vgl. zum Weltbegriff bei Arendt : Rahel Jaeggi: Welt und Person. 43 Hannah Arendt : Vita activa, S. 14 f. 44 Ebd., S. 27. 45 Hannah Arendt : Macht und Gewalt, S. 42. 46 Vgl. Hannah Arendt : Vom Leben des Geistes, S. 30. 47 Hannah Arendt: Vita activa, S. 254. 48 Ebd., S. 57. 49 Vgl. Hans-Peter Krüger : Philosophische Anthropologie als Lebenspolitik, S. 183–207. 50 Hannah Arendt : Vita Activa, S. 16. 51 Ebd. 52 Ebd., S. 87. 53 Ebd. 54 Vgl. Leo Penta : Macht und Kommunikation, S. 156 f.; Christa Schnabl : Das Moralische im Politischen. 55 Hannah Arendt : Laudatio auf Karl Jaspers, S. 90. 56 Hannah Arendt : Vita activa, S. 213. 57 Ebd., S. 318, Anm. 2. 58 Ebd. 59 Hannah Arendt : Über die Revolution, S. 135 f. 60 Hannah Arendt : Vita activa, S. 219. 61 Ebd., S. 186. 62 Hannah Arendt : Was ist Politik?, S. 96 f. 63 Ich kann an dieser Stelle nicht angemessen auf die Bedeutung des ›Urteilens‹ im Werk Arendts eingehen, vgl. diesbezüglich Waltraud Meints: Partei ergreifen im Interesse der Welt. 25

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Vgl. Rudolf A. Makkreel: Orientierung und Tradition in der Hermeneutik, S. 414. 65 Hannah Arendt : Was ist Politik?, S. 181. 64

Bibliographie

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– Christian Weidemann –

Warum existiert überhaupt etwas und nicht nichts? Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie

1. Einleitung Das – bei allen individuellen Unterschieden – gemeinsame Hauptanliegen der frühen analytischen Philosophen lässt sich mit den Worten Gottlob Freges als der Versuch beschreiben, »die Herrschaft des Wortes über den menschlichen Geist zu brechen«. Vornehmste »Aufgabe der Philosophie« sei es, »Täuschungen [aufzudecken], die durch den Sprachgebrauch über die Beziehungen der Begriffe oft fast unvermeidlich entstehen«1. Obwohl die Stammväter der analytischen Philosophie (Frege, Moore, Russell, Wittgenstein) sich mit ihrer Sprachkritik auch gegen bestimmte Formen idealistischer oder psychologistischer Ontologie wandten, waren sie alles andere als grundsätzliche Verächter der Metaphysik: G. E. Moore verteidigte eine nicht-naturalistische Form des moralischen Realismus, Bertrand Russell eine Variante des Universalienrealismus und Frege gar ein (platonisches) »drittes Reich der Gedanken«2. Erst die Vertreter des Logischen Empirismus, die zwischen Ende der 20er und Anfang der 50er Jahre die analytische Philosophie dominierten, begannen damit, die »Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache« zu fordern, und versuchten in großem Stil, klassische Probleme der Metaphysik als bloße »Scheinprobleme« zu entlarven.3 Frege und Russell hatten zwar ontologische und kosmologische Argumente, die die titelgebende Frage dieses Bandes – ›Warum gibt es überhaupt etwas und nicht nichts?‹ – zu beantworten suchen, kritisiert,4 aber doch nicht die grundsätzliche Berechtigung der Frage selbst geleugnet.5 Logische Empiristen wie Rudolf Carnap oder Alfred J. Ayer gingen einen Schritt weiter: Ein Satz, so ihre Behauptung, sei nur dann kognitiv sinnvoll, wenn er entweder ana| 283

lytisch oder seine Wahrheit oder Falschheit empirisch überprüfbar ist. Unter Berufung auf ein solches empiristisches Sinnkriterium glaubten sie zeigen zu können, dass die Metaphysikkritik sich nicht länger mit dem Nachweis der Falschheit oder Irrationalität metaphysischer Hypothesen aufhalten müsse, da es sich bei letzteren eben nur um Scheinaussagen handle, um nichts, bei dem Wahrheit oder Falschheit überhaupt in Betracht komme: Der Streit um Atheismus und Theismus, einen möglichen ›Urgrund der Welt‹ oder die Geltung des Prinzips vom zureichenden Grunde erzeuge zwar Geräusche, aber keinerlei Sinn, vergleichbar den Nonsensgedichten Lewis Carrolls oder Christian Morgensterns. Spätestens Anfang der 1950er Jahre begann sich allerdings die Einsicht allgemein durchzusetzen, dass die Formulierung eines empiristischen Sinnkriteriums mit unlösbaren Problemen konfrontiert ist. Dies führte in den folgenden Jahren zu einer Renaissance ontologischer Fragestellungen innerhalb der analytischen Philosophie. Im Zuge dieser Renaissance erfuhr auch die mit dem Namen Leibniz’ verbundene, der Sache nach aber ältere6 Frage ›Warum existiert überhaupt etwas und nicht nichts?‹ (im Folgenden kurz: ›L-Frage‹) neue Beachtung. Einige Autoren versuchten zu zeigen, dass es metaphysisch notwendig sei, dass konkrete Entitäten in Raum und Zeit existieren, andere behaupteten – vor allem unter Berufung auf das sog. Subtraktionsargument – das Gegenteil. Auch neuartige Argumente für die Existenz Gottes (einer ersten Ursache, eines notwendig existierenden Wesens, eines Designers, …) wurden entwickelt, die eine Antwort oder zumindest Teilantwort auf die ›L-Frage‹ zu geben beanspruchen. Ich werde im Folgenden zunächst knapp die Gründe für das Scheitern der empiristischen Metaphysikkritik skizzieren. Danach diskutiere ich drei weitere (erfolglose) Versuche, die ›L-Frage‹ als Scheinproblem zu entlarven und beschäftige mich mit einigen Argumenten für und wider die metaphysische Möglichkeit des ›Nichts‹, d. h. einer Welt ohne konkrete Entitäten. Abschließend stelle ich eine Auswahl verschiedener besonders interessanter Argumente für die Existenz Gottes (einer ersten Ursache, …) vor sowie die wichtigsten Einwände gegen sie. Einige dieser Argumente (Kalam-Argument, induktives kosmologisches Argument, Feinabstimmungsargument) geben bloße Teilantworten auf die ›L-Frage‹, da 284 | christian weidemann

die Existenz Gottes (der ersten Ursache, …) selbst unerklärt bleibt. Andere Argumente wie Plantingas modallogische Version des ontologischen Gottesbeweises oder neuere kosmologische Argumente, die auf dem Satz vom zureichenden Grunde beruhen, beanspruchen, eine vollständige Antwort zu liefern.

2. Ein bloßes Scheinproblem? 2.1 Die Metaphysikkritik der Logischen Empiristen In einer groben Annäherung lässt sich das empiristische Sinnkriterium (ESK) wie folgt formulieren: (ESK) Mit einem Satz kann dann und nur dann eine kognitiv sinnvolle Aussage getroffen werden, wenn er (a) analytisch wahr oder selbstwidersprüchlich oder (b) prinzipiell durch Beobachtung überprüfbar ist.

Antworten auf die ›L-Frage‹ wie ›Es ist metaphysisch notwendig, dass kontingente konkrete Entitäten existieren‹ oder ›Es gibt ein notwendig existierendes Wesen, das unser kontingentes Universum erschaffen hat‹, aber auch bestimmte Formen der Zurückweisung der Frage wie ›Es gibt mindestens eine kontingente Entität, deren Existenz nicht erklärt werden kann‹ scheinen weder analytisch wahr oder selbstwidersprüchlich noch durch Beobachtungen entscheidbar und daher ebenso wie ihre jeweiligen Negationen kognitiv sinnlos zu sein. (ESK) stellen sich vor allem die folgenden Probleme: (1) Kann die analytisch/synthetisch-Unterscheidung erfolgreich verteidigt werden?7 Frege hatte gezeigt, dass eine empiristische Grundlegung der Arithmetik, wie sie noch John Stuart Mill vorschwebte, vor unüberwindlichen Schwierigkeiten steht.8 Gleichwohl sind Aussagen der Arithmetik aber offenbar kognitiv sinnvoll. Wenn nun jedoch kein prinzipieller Unterschied zwischen (vermeintlich analytischen) Sätzen der Logik und Mathematik und anderen (vermeintlich synthetischen) Sätzen begründet werden kann, so muss die Forderung nach empirischer Überprüfbarkeit offenbar entweder auf die Sätze der Logik und Mathematik ausgedehnt Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 285

werden, was inakzeptabel anmutet,9 oder aber ganz aufgegeben werden. (2) Wie soll eine basale Klasse von Beobachtungssätzen ausgezeichnet werden? Lässt sich eine beobachtbar/unbeobachtbarUnterscheidung überhaupt plausibel ausbuchstabieren?10 (3) Handelt es sich bei dem Sinnkriterium selbst um eine sinnvolle Aussage? Zumindest prima facie ist es weder ein plausibler Kandidat für eine analytische Bedeutungswahrheit noch für eine empirisch überprüfbare Aussage. Der logische Empirist droht sich folglich in einen pragmatischen Selbstwiderspruch zu verwickeln. (4) Lässt sich der Terminus ›durch Beobachtung überprüfbar‹ so präzisieren, dass einerseits unbestritten sinnvolle Sätze der Naturwissenschaften das Sinnkriterium passieren, während vermeintlich sinnlose Sätze der Metaphysik an ihm scheitern? (5) Selbst gesetzt den Fall, dass die vorangegangenen Probleme sich lösen ließen: Aus welchem Grund sollte ein Metaphysiker das empiristische Sinnkriterium akzeptieren? Welche Rechtfertigung könnte man für es anführen?11 Als ganz besonders hoffnungslos erwies sich die Verteidigung des empiristischen Sinnkriteriums gegen Einwände des vierten Typs. Versteht man die Forderung nach empirischer Überprüfbarkeit im Sinne einer strikten Verifikation oder Falsifikation,12 wird schnell deutlich, dass sie zu viel ausschließt. Man sehe: (G) Für alle Massen m1 und m2: Die Anziehungskraft zwischen m1 und m2 ist proportional zum Produkt der Massen und umgekehrt proportional zu ihrem Abstand. (E) Es gibt evolutionäre Verbindungsglieder zwischen dem Archäopteryx und heute lebenden Vögeln.

Nicht-analytische Allaussagen wie Newtons Gravitationsgesetz (G), die über einen unendlichen Gegenstandsbereich quantifizieren, sind nicht strikt verifizierbar. So viele Beobachtungen man auch macht, die solche Aussagen zu bestätigen scheinen, es kann nicht logisch ausgeschlossen werden, dass sie falsch sind. Gesetzesaussagen sind zwar falsifizierbar – (G) wurde sogar tatsächlich falsifiziert –, falsifikationistische Sinnkriterien13 haben dafür aber Schwierigkeiten mit Existenzaussagen wie (E). Um Aussage (E) zu falsifizieren, müsste ihre Negation verifiziert werden. Bei die286 | christian weidemann

ser Negation handelt es jedoch wiederum um eine Allaussage (›Für alles, was es gibt, gilt: Es ist keine Zwischenstufe von Archäopteryx und heute lebenden Vögeln‹), welche, wie gesehen, nicht aus einer endlichen Klasse von Beobachtungsaussagen ableitbar ist.14 Auch ein kombiniertes Kriterium, gemäß dem eine Aussage genau dann empirisch überprüfbar ist, wenn sie entweder strikt verifizierbar oder falsifizierbar ist, hilft nicht weiter. Sätze wie der folgende sind nämlich weder strikt verifizierbar noch falsifizierbar: (S) Für alle Lebewesen gibt es einen Zeitpunkt, zu dem sie sterben.

Aussagen wie (G), (E) und (S) sind – zumindest spricht alles dafür – unverzichtbarer Bestandteil naturwissenschaftlicher Theorien. Ein antimetaphysisches Sinnkriterium, das sie als sinnlos ausschließt, schüttet daher das Kind mit dem Bade aus und ist unannehmbar. Ich kann hier nicht auf die vielfältigen Anläufe der Logischen Empiristen eingehen, den geschilderten Einwand auszuräumen. Die Versuche konzentrierten sich meist entweder auf eine Neudeutung des Naturgesetzbegriffs (z. B. bei Moritz Schlick) oder auf eine Abschwächung des strikten Kriteriums empirischer Überprüfbarkeit im Sinne einer bloß teilweisen oder indirekten Verifikation (z. B. bei Alfred J. Ayer).15 Nach heute nahezu einhelliger Meinung sind all diese Versuche gescheitert.16

2.2 Ursache/Erklärung des Universums – ein Kategorienfehler? Einen ganz anderen Einwand gegen die Beschäftigung mit der ›L-Frage‹ hat Bertrand Russell in einer Radiodiskussion mit Pater Frederick C. Copleston im Jahr 1948 erhoben. Russell behauptet, dass der Begriff der ›Ursache‹ (und damit auch der der ›Erklärung‹) nicht auf das Ganze der Wirklichkeit angewendet werden könne. Die Ansicht, das Universum müsse eine Ursache haben, beruhe auf einem Trugschluss: Die Anhänger einer solchen Position argumentierten wie jemand, der aus der Tatsache, dass jeder Mensch eine Mutter habe, schließe, dass auch die Menschheit eine Mutter haben müsse, »aber offenbar hat die Menschheit keine Mutter – das ist ein anderer logischer Bereich«17. Die ›L-Frage‹ beruht laut Russell also Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 287

auf einem Kategorienfehler und gleicht damit Fragen wie ›Welche Farbe hat die Spezielle Relativitätstheorie?‹ oder ›Wie tugendhaft sind Steine?‹.18 Russells Analogie steht allerdings auf wackligen Füssen: Bei der Menschheit als Menge oder Klasse aller existierenden Menschen handelt es sich um eine abstrakte Entität, und abstrakte Entitäten können in der Tat keine Mutter haben. Beim Universum scheint es sich hingegen, ganz genauso wie bei seinen Teilen, um ein konkretes raumzeitliches Objekt zu handeln (für das freilich die Besonderheit gilt, dass es die gesamte Raumzeit einnimmt). Und die Existenz von Gegenständen in Raum und Zeit hat für gewöhnlich (oder gar immer) Ursachen. Russells Vergleich ist daher ungeeignet zu zeigen, dass es sich bei der Frage nach der Ursache des Universums um einen Kategorienfehler handelt:19 Selbst, falls das Universum keine Ursache haben sollte, hätte es doch, so scheint es wenigstens, eine haben können. Andererseits gibt es durchaus respektable Gründe dafür, den Ausdruck ›Universum‹ nicht so zu behandeln, als beziehe er sich auf einen eigenständigen Gegenstand oder auf ein Aggregat von Gegenständen.20 Nehmen wir daher mit Russell an, die Suche nach einer Erklärung oder Ursache für die Existenz unseres ›Universums‹ sei so aufzufassen, als frage man danach, warum eine bestimmte Menge, mithin abstrakte Entität, existiert. Sei M also die Menge, die alle konkreten, kontingenten Objekte, die in unserer aktualen Welt faktisch existieren (und nur diese), als Elemente enthält. Warum existiert M? Ist diese Frage sinnlos? Ich sehe keinen guten Grund dafür, das anzunehmen – in jedem Fall nennt uns Russell keinen. Es mag ein Kategorienfehler sein, nach ›Ursachen‹ abstrakter Entitäten zu fragen, aber es ist nicht sinnlos zu fragen, warum eine bestimmte Menge (Extension) existiert oder warum die Menge kontingenter, konkreter Objekte gerade die Objekte enthält, die sie enthält, oder warum sie überhaupt etwas enthält.21

2.3 Das Problem der ›Dummy-Sortale‹ Achtzig Jahre nach Erscheinen von Carnaps berühmtem Aufsatz zur Überwindung der Metaphysik wurde 2012 in der Zeitschrift Erkenntnis ein neuer Versuch unternommen, die ›L-Frage‹ der Sinn288 | christian weidemann

losigkeit zu überführen: Stephen Maitzen vergleicht in seinem Beitrag22 die ›L-Frage‹ mit Fragen der Form ›Wie viele Dinge befinden sich auf dem Schreibtisch?‹. Letztere ließen sich nicht beantworten, solange der Frager nicht spezifiziert habe, was genau gezählt werden soll: Bücher, Buchseiten, Stifte, Atome, Quarks, ›echte‹ Teile usw.? Auch wenn aus dem Kontext für gewöhnlich ersichtlich ist, dass es dem Sprecher nicht um Mereologie oder Teilchenphysik geht, wird, so Maitzen, seine Frage genau genommen erst sinnvoll, wenn er in ihr einen Sortalbegriff anführt: z. B. ›Wie viele Briefe liegen noch auf dem Schreibtisch?‹. Verwirrung entsteht nun dadurch, dass Termini wie ›Ding‹, ›Gegenstand‹, ›(konkretes) Objekt‹, ›Entität‹, ›Individuum‹ usw. grammatisch als Substantive (count nouns) fungieren, denen eine Zahlangabe beigeordnet werden kann, nicht aber logisch. Es handelt sich bei ihnen um bloße ›Dummy Sortale‹, denn sie ermangeln exakter Identitätskriterien, die bestimmen, was unter sie fällt und was nicht. Daher gibt es auch keine korrekte Antwort auf die Frage ›Wie viele Dinge sind das?‹. Und aus demselben Grund kann es auch keine korrekte Antwort auf die Frage ›Warum gibt es überhaupt etwas, und nicht nichts?‹ geben, sondern nur auf Fragen wie ›Warum gibt es Stifte?‹, ›Warum gibt es Pinguine?‹ usw. Solche Fragen sind aber offenbar wenig geheimnisvoll und selbstverständlicher Gegenstand alltäglicher und wissenschaftlicher Erklärungen. Das Erstaunen darüber, ›dass überhaupt etwas existiert‹, sei dagegen irregeleitet und beruhe auf einer tiefgreifenden philosophischen Konfusion. Auch dieser Versuch, die ›L-Frage‹ als ungereimt zu erweisen, ist nicht überzeugend. Erstens wirkt es von vornherein wenig plausibel, dass nicht nur viele große Denker der Vergangenheit, sondern auch eine beeindruckende Riege sprachkritisch geschulter analytischer Philosophen der Gegenwart der von Maitzen behaupteten – und im Übrigen ja keineswegs besonders subtilen – Verwirrung zum Opfer gefallen sein sollten. Zweitens mag die Frage ›Wie viele Gegenstände befinden sich auf dem Schreibtisch?‹ ungereimt sein, aber gilt das auch für die Frage, ob sich im Weltraum zwischen zwei Himmelskörpern oder in einem Laborbehälter nach Einsatz einer Vakuumpumpe ›etwas‹ oder vielmehr nichts befindet, welcher Art dieses ›Etwas‹ auch immer sein mag?23 Drittens – und am wichtigsten – verschwände das Leibnizsche Problem keineswegs, wenn Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 289

man nur mehr Fragen wie ›Warum gibt es Pinguine?‹ zuließe. Denn jede Antwort auf solche Fragen wird, um befriedigend sein zu können, Sortalbegriffe enthalten müssen. Und dann lässt sich natürlich weiterfragen ›Warum gibt es etwas von der genannten Art oder Sorte?‹ usw., mit dem Ergebnis, dass man entweder 1) an einen Punkt kommt, wo die Erklärungen aufhören – sei es, weil man bei einem unerklärbaren ›brute fact‹ angelangt ist, sei es, weil man auf einen Sachverhalt stößt, der selbsterklärend ist; oder 2) in einen explanatorischen Zirkel gerät; oder 3) sich ein unendlicher explanatorischer Regress ergibt. Maitzen scheint die Möglichkeit eines unendlichen Regresses zulassen zu wollen,24 doch damit wäre er nolens volens auf die Meinung festgelegt, dass, wenn jedes Glied einer (unendlichen) Reihe erklärt sei, nichts mehr zu erklären übrig bleibe. Ansonsten könnte nämlich die ›L-Frage‹ ihr (vermeintlich hässliches) Haupt erneut erheben, insofern sich nämlich fragen ließe, warum die unendliche Reihe als Ganzes existiert und nicht vielmehr nichts. Um auch diese Frage für illegitim zu erklären, müsste Maitzen auf einen alten Einwand David Humes zurückgreifen,25 von dem er zu Beginn seines Aufsatzes26 noch behauptet hatte, er bedürfe seiner nicht, um die ›L-Frage‹ als ungereimt zurückzuweisen.

2.4 Der Hume-Edwards-Einwand Die moderne Fassung besagten Einwands geht auf Paul Edwards zurück.27 Edwards veranschaulicht seine Position an einem Beispiel, das in der Debatte um kosmologische Argumente Berühmtheit erlangt hat: Wenn fünf Inuit an einer Kreuzung in New York stehen und wir erklären, warum jeder einzelne von ihnen sich in New York befindet, so haben wir erklärt, warum sie alle dort sind. Im vollen Wissen um die Einzelerklärungen weiterhin auf der Frage zu beharren, warum die Gruppe als Ganze ist, wo sie ist, hält Edwards für absurd. Das von ihm zugrunde gelegte Prinzip lässt sich wie folgt verallgemeinern: (HEP) Wenn jedes Konjunkt einer Proposition (oder die Existenz jedes Elements einer Menge) erklärt ist, so ist die Proposition (die Existenz der Menge) als Ganze erklärt. 290 | christian weidemann

Falls (HEP) wahr wäre und zugleich ein unendlicher Regress an Erklärungen (Ursachen) angenommen werden könnte, ließe sich die ›L-Frage‹ in der Tat als bloßes Scheinproblem zurückweisen. Die Existenz kontingenter konkreter Gegenstände könnte dann nämlich wie folgt erklärt werden: Gegenstand A existiert, weil er durch B verursacht wurde, B existiert, weil er durch C verursacht wurde, und so fort ad infinitum. Wegen (HEP) wäre damit zugleich auch die unendliche Ursachenkette selbst erklärt. Die ›L-Frage‹ würde sich auf diese Weise zwar nicht als buchstäblich sinnlos erweisen, aber es hätte sich immerhin herausgestellt, dass es sich bei ihr gar nicht um eine eigenständige Frage handelt. Sie würde keine Antwort verlangen, die über die unendliche Konjunktion der genannten Einzelerklärungen hinausgeht. Nun ist das Prinzip (HEP) allerdings bereits im Hinblick auf endliche Mengen zweifelhaft, angewendet auf Propositionen mit unendlich vielen (logisch nicht äquivalenten) Konjunkten ist es klarerweise unhaltbar. Es mag sein, dass für die Anwesenheit jedes der fünf Inuit eine nicht-zufällige Erklärung vorhanden ist, ohne dass es darüber hinaus für die konjunktive Tatsache ›Fünf Inuit befinden sich derzeit an der Kreuzung X in New York‹ eine solche Erklärung gibt. Doch es könnte sie geben.28 Dies wird klarer, wenn wir unterstellen, dass sich nicht fünf, sondern 100 Inuit in Nähe besagter New Yorker Kreuzung aufhalten: Nr. 1 verabscheut die polare Kälte, ist gerade in die Stadt gekommen und auf der Suche nach einer Wohnung, Nr. 2 arbeitet schon lange in New York und hat in ihrem Stammlokal in der Nähe zu Mittag gegessen, …, Nr. 99 ist auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch, Nr. 100 besichtigt als Tourist die Stadt. Jede dieser Auskünfte scheint für sich genommen den Aufenthaltsort der jeweiligen Person befriedigend zu erklären. Doch ist nicht die Tatsache, dass 100 Inuit sich in unmittelbarer Nähe derselben New Yorker Kreuzung befinden, selbst etwas, das nach einer weiteren Erklärung geradezu schreit? Vielleicht findet am nächsten Tag ein großes Inuit-Familientreffen oder eine Inuit-Konferenz statt, und die 100 haben ihre individuellen Pläne auf dieses Ereignis abgestimmt? Vielleicht ist eine Inuit-Verschwörung im Gange? Oder im von Ölunternehmen gekauften Lokalfernsehen am Polarkreis werden seit geraumer Zeit unterschwellige Suggestivbotschaften gesendet, die Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 291

den Bewohnern ihre Heimat verleiden und New York als besonders attraktiv erscheinen lassen. Die Erwiderung, in solchen Fällen seien die Einzelerklärungen eben unzureichend oder unvollständig gewesen, wirkt ad hoc, denn die Erklärungen, die Menschen geben, sind natürlich in gewissem Sinne (fast) immer unvollständig (›Warum existieren die 100 Inuit und New York überhaupt?‹). Unter Absehung der je 99 anderen Inuit würden wir uns sicherlich mit jeder der Einzelerklärungen zufrieden geben. Es sind die Gründe für den Aufenthalt der Gruppe, die uns weitere Aufklärung nötig erscheinen lassen. Noch klarer wird die Unhaltbarkeit von (HEP), sobald es um unendliche Ursachenketten geht.29 Ein besonders einfaches Beispiel hierfür liefert das alte Henne-Ei-Problem. Wäre (HEP) korrekt, ließe sich jede Henne durch Existenz und Geschichte eines Hühnereis und jedes Hühnerei durch Existenz und Geschichte einer Henne erklären und so fort ad infinitum, ohne dass auf diese Weise etwas zu erklären übrig bliebe. Aber natürlich ist intuitiv klar, dass die Existenz von Hennen und Eiern überhaupt immer noch einer Erklärung harrte.30 Alexander R. Pruss führt ein weiteres instruktives Beispiel ins Feld.31 Betrachten wir eine Kanone, die genau zum Zeitpunkt t0 abgeschossen wird und deren Kanonenkugel zu t1 landet. Sei nun Bt eine Proposition, die den Zustand der Kugel zu einem Zeitpunkt t ausdrückt. Dann liefert Bt* (zusammen mit den geltenden Naturgesetzen) genau dann eine Kausalerklärung von Bt, wenn gilt t* < t. Sei ferner P die unendliche Konjunktion sämtlicher Bt-Propositionen, für die gilt: t0 < t ≤ t1. Nun lässt sich für jede solche Bt-Proposition eine sie erklärende Proposition Bt* finden, so dass gilt t0 < t* < t.32 Mit anderen Worten: Für jeden Zustand der Kanonenkugel während ihres Fluges gibt es einen anderen, zeitlich vorangehenden Zustand während des Fluges, der ihn kausal erklärt. Wäre (HEP) korrekt, bedürfte demnach der Flug insgesamt, welcher durch die Proposition P beschrieben wird, keinerlei weiterer Erklärung oder anders gesagt: P wäre selbsterklärend. Doch das ist absurd: Ein Kanonenflug kann bestenfalls unerklärt, niemals aber selbsterklärend sein (für gewöhnlich wird eine Erklärung natürlich in Handlungen oder Vorgängen zu t0 oder unmittelbar vor t0 zu finden sein).

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3. Ist es notwendig, dass etwas existiert? 3.1 Vorbemerkung: Die Beschränkung auf konkrete Gegenstände Die ›L-Frage‹ wurde selten so verstanden, als ließe sie sich einfach unter Verweis auf die notwendige Existenz abstrakter Entitäten beantworten. Ansonsten könnte ein Platoniker die Diskussion schnell beenden: ›Die Zahl 510 existiert notwendigerweise; also kann es nicht nichts geben.‹ Aber die ›L-Frage‹ ist klarerweise nicht nur ein Problem für Nominalisten. Ich verstehe sie daher im Folgenden als Frage danach, warum es konkrete Entitäten, d. h. Dinge in Raum und/oder Zeit, gibt.33 Bei Quarks, Atomen, Steinen, Tischen, Pflanzen, Tieren, Menschen, cartesischen Egos und Gott34 handelt es sich um solche Entitäten. Es gibt nun zwei grundsätzliche Strategien zur Beantwortung der ›L-Frage‹: Entweder man versucht zu zeigen, dass es notwendig (oder sehr wahrscheinlich) ist, dass irgendwelche konkreten Entitäten existieren, oder man liefert ein Argument dafür, dass eine ganz bestimmte konkrete Entität notwendigerweise existiert. Ich beginne mit der Diskussion der ersten Strategie.

3.2 Es kann nicht nichts geben: Die Angewiesenheit abstrakter Entitäten auf konkrete Gegenstände E. J. Lowe35 hat ein interessantes Argument für die notwendige Existenz konkreter Objekte vorgeschlagen. Es hat folgende sehr einfache Form: (1) Einige abstrakte Objekte, die natürlichen Zahlen, existieren notwendigerweise. (2) Abstrakte Objekte können nicht ohne konkrete Objekte existieren. (3) Also ist es auch notwendig, dass konkrete Objekte existieren.

Zu (1): Es erscheint ungereimt anzunehmen, mathematische Propositionen seien bloß kontingenterweise wahr. Das hieße, dass z. B. ›2 + 2 = 4‹ zwar in manchen, nicht aber in allen möglichen Welten gilt. Es ist schwer zu sehen, wie einer solchen Behauptung vernünftiger Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 293

Sinn abgewonnen werden könnte.36 Wenn die Aussage ›2 + 2 = 4‹ wahr ist, dann ist sie notwendigerweise wahr und dann muss es auch, so wenigstens Lowe, in allen möglichen Welten etwas geben, das sie wahr macht. Und was sie nach Meinung der meisten (realistischen) Philosophen der Mathematik wahr macht, sind eben bestimmte abstrakte Objekte: Zahlen. Nominalisten, die die Existenz abstrakter Entitäten leugnen, werden dieser Argumentation natürlich widersprechen,37 ob mit guten Gründen kann ich hier leider nicht diskutieren.38 Zu (2): Laut Lowe gibt es nur zwei Typen abstrakter Objekte: Universalien und Mengen. Während Universalien Instanzen haben, handelt es sich bei Mengen um abstrakte Einzeldinge (particulars).39 Eine mögliche Welt mit ausschließlich abstrakten Objekten kann also nur Universalien und/oder Mengen enthalten. Lowe setzt ferner einen ›aristotelischen‹ oder ›immanenten‹ Universalienrealismus (im Unterschied zum platonischen) voraus: Um zu existieren, müssen Universalien instanziiert sein.40 Das Universale ›Rot‹ existiert nur in möglichen Welten, in denen es exemplifiziert ist, d. h., in denen es rote Dinge gibt. In einer Welt ohne konkrete Objekte kommen als Instanzen von Universalien nur Mengen in Frage. Mengen existieren jedoch ihrerseits nicht unabhängig davon, dass ihre jeweiligen Elemente existieren. Die einzige Ausnahme scheint die leere Menge zu sein, doch bei ihr handelt es sich nach Lowe um eine bloß fiktive Entität. Könnten sämtliche Mengen einer möglichen Welt ausschließlich Mengen als ihre Elemente haben? Nein, denn da es keine leere Menge geben kann und Existenz und Identität einer Menge von der Existenz und Identität ihrer Elemente abhängen, braucht es offenbar Nicht-Mengen als Elemente, damit Mengen zuallererst existieren können.41 In einer Welt ohne konkrete Objekte kann es sich bei besagten Nicht-Mengen nur um Universalien handeln, die ihrerseits aber, wie gesehen, in einer solchen Welt nicht ohne Mengen existieren könnten usw. Nach Lowe haben wir es hier mit einem vitiösen Zirkel zu tun. Eine Welt mit ausschließlich abstrakten Objekten sei daher unmöglich. Da nun aber einige abstrakte Objekte, nämlich die Zahlen, notwendigerweise existieren, ist es auch notwendig, dass konkrete Objekte existieren: Es kann nicht nichts geben. Lowes Argument steht und fällt mit der Plausibilität der in ihm vorausgesetzten metaphysischen Thesen: dem aristotelischen Rea294 | christian weidemann

lismus, der Unmöglichkeit der Existenz einer leeren Menge und der Behauptung, dass man mit der Annahme der wechselseitigen Abhängigkeit42 von Universalien und Mengen in einer Welt ohne konkrete Objekte in einen inakzeptablen vitiösen Zirkel gerate. Letztere Feststellung ist keineswegs selbstverständlich.43 Warum sollte aus der Tatsache, dass sich die Identitätsbedingungen von Universalien und Mengen in einer Welt ohne konkrete Objekte nicht in nichtzirkulärer Weise angeben lassen, oder daraus, dass die Existenz von Universalien und Mengen in ihr nicht in nicht-zirkulärer Weise erklärt werden kann, folgen, dass solche Universalien und Mengen unmöglich sind? David Lewis diskutiert den Fall eines Zeitreisenden, der in die Vergangenheit aufbricht und dort seinem jüngeren Ich den Bauplan der Zeitmaschine, mit der er gekommen ist, überlässt.44 Später erinnert sich dann das gealterte jüngere Ich an den Plan, baut eine Zeitmaschine, fährt zurück in die Vergangenheit und überlässt sich selbst den Bauplan der Apparatur. Der Bau der Zeitmaschine scheint also eine kausale Folge der Mitteilung des Zeitreisenden, die Mitteilung des Zeitreisenden eine kausale Folge des Baus der Zeitmaschine zu sein. Jetzt kann man natürlich fragen, woher die Information zum Bau der Zeitmaschine zuallererst kam oder warum die gesamte Ereignisfolge überhaupt existiert. Und auf diese Fragen mag es, so Lewis, in der Tat keine befriedigende Antwort geben. Aber daraus folge nicht, dass solche kausalen Schleifen (causal loops) unmöglich sind,45 sondern eben nur, dass sie nicht erklärt werden können. Auch wenn es sich bei der uns interessierenden wechselseitigen Abhängigkeit von Mengen und Universalien nicht um eine Kausalrelation handelt, scheint hier Ähnliches eingewendet werden zu können. Warum sollte eine Welt, die ausschließlich (voneinander wechselseitig abhängige) Mengen und Universalien enthält, nicht einfach als ein brute fact existieren können? Ein metaphysischer Realist wie Lowe, der annimmt, dass zumindest Teile der Realität, einschließlich vieler Mengen und Universalien,46 unabhängig von unserem Denken existieren, kann das offenbar nur bestreiten, wenn er ein Prinzip ähnlich des Satzes vom zureichenden Grunde annimmt. Dadurch verlöre Lowes Argument aber einerseits an selbständiger Bedeutung und wäre andererseits konfrontiert mit den gängigen Einwänden gegen die Geltung besagten Prinzips (vgl. unten Abschnitt 5.2). Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 295

3.3 Es hätte auch nichts geben können: Das Subtraktionsargument Thomas Baldwin und Gonzalo Rodriguez-Pereyra haben in Reaktion auf Lowe ein Argument vorgeschlagen, das zeigen soll, dass eine Welt ohne konkrete Objekte metaphysisch möglich ist:47 (1) Es gibt eine mögliche Welt w1 mit einer endlichen Anzahl konkreter Objekte {x1 … xn}. (2) Jedes dieser Objekte könnte auch nicht existieren. (3) Die Nicht-Existenz irgendeines dieser Objekte macht nicht die Existenz irgendeines anderen dieser Objekte notwendig. (4) Denken wir uns Welt w1 ohne Objekt x1 und ohne all das, dessen Nicht-Existenz durch die Nichtexistenz von x1 logisch impliziert wird (›Subtrahieren wir x1‹), so landen wir bei einer anderen möglichen Welt w2. (5) Wir können das Verfahren wiederholen, bis wir bei einer Welt wnil angelangen, in der keine konkreten Objekte mehr existieren. (6) Eine Welt, in der keine konkreten Objekte existieren, ist möglich.48

Mit diesem Argument sind zwei Probleme verbunden. Erstens: Es ist logisch nicht gültig.49 Prämisse (3) schließt nicht aus, dass die Nicht-Existenz eines der Objekte aus w1 die Existenz eines Objekts notwendig macht, das nicht Teil von w1 ist. Diese Schwäche lässt sich allerdings relativ leicht mittels entsprechender Modifikation von (3) beheben.50 Viel gravierender ist aber zweitens, dass offen bleibt, welche Rechtfertigung für (eine modifizierte) Prämisse (3) gegeben werden sollte. Natürlich können wir uns (in gewissem Sinne) vorstellen, dass wir aus einer Welt mit endlich vielen Gegenständen nach und nach alle konkreten Gegenstände entfernen, bis nichts übrigbleibt. Aber der Schluss von der Vorstellbarkeit einer Sache auf ihre metaphysische Möglichkeit ist notorisch problematisch.51 Einige neuere Autoren verfechten gar einen modalen Skeptizismus und bestreiten, dass wir in Angelegenheiten, die nichts mit Alltagssituationen zu tun haben, überhaupt jemals verlässliches Wissen bezüglich der Möglichkeit nicht-aktualer oder der Kontingenz/Notwendigkeit aktualer Sachverhalte beanspruchen können. Peter van Inwagen, der wohl wichtigste Verteidiger eines solchen Skeptizismus,52 führt 296 | christian weidemann

u. a. Humes Geschichte von einem indischen Prinzen53 ins Feld, der sich weigerte, Berichten zu glauben, dass Wasser unter bestimmten Umständen in einen festen Aggregatzustand übergeht. Nehmen wir nun an, dass ein Philosoph am Hofe des Prinzen lebt, der von den Erzählungen über ›hart werdendes‹ Wasser hört. Er bezweifelt wie der Prinz die Wahrheit dieser Geschichten, fragt sich jedoch als guter Philosoph, ob sie zumindest möglich sind. Was kann er tun? Er könnte natürlich einfach in kältere Gefilde reisen und die Geschichten vor Ort überprüfen, doch dies wäre gegen sein philosophisches Selbstverständnis. Stattdessen prüft er, ob er sich vorstellen kann, dass Wasser zu einem festen Stoff wird. Er wird also z. B. vor seinem inneren Auge einen mit Wasser gefüllten Kelch heraufbeschwören und dann versuchen, die Vorstellung des Wassers nach und nach in die Vorstellung einer durchschimmernden festen Masse übergehen zu lassen. Wenn er einigermaßen phantasiebegabt ist, wird ihm dies gelingen. Doch, so van Inwagen, was bewiese das? Was könnte der indische Philosoph einem Kritiker erwidern, der ihm vorhält: ›Du hast Dir nicht den Übergang von Wasser aus einem flüssigen in einen festen Zustand vorgestellt, Du hast Dir vorgestellt, wie Wasser verschwindet und ersetzt wird durch einen von ihm verschiedenen festen Stoff.‹? Van Inwagen sieht hier eine Analogie zu unseren Fähigkeiten in der Abschätzung von Entfernungen. Solange die Objekte, um die es geht, sich in Sichtweite auf der Erdoberfläche befinden, werden unsere intuitiven Entfernungsangaben erstaunlich gute Ergebnisse liefern – auch wenn sie bei zunehmender Entfernung und/oder unbekannten Objekten an Zuverlässigkeit einbüßen mögen. Handelt es sich bei den zu taxierenden Gegenständen jedoch um astronomische Objekte wie Sterne oder Planeten, ist unsere sonst so verlässliche Fähigkeit zur Entfernungsabschätzung praktisch nutzlos. Genau so verhalte es sich auch mit unserem modalen Urteilsvermögen, sobald es um Fragen gehe, die in keinerlei Zusammenhang mehr mit Alltagssituationen stehen. Auch wenn van Inwagens genereller modaler Skeptizismus m. E. übertrieben ist,54 so haben wir doch zweifellos Anlass, nicht allzu großes Vertrauen in unsere modalen Intuitionen zu setzen, sobald es um die Beurteilung von Fragen geht wie ›Es ist möglich/unmöglich, dass nichts existiert.‹ oder auch ›Es ist möglich/unmöglich, Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 297

dass ein Wesen, über dem Größeres nicht gedacht werden kann, existiert.‹ usw. Dem Subtraktionsargument sollte also nur begrenztes Gewicht zugemessen werden, zumal ja aus (prima facie) nicht gänzlich unplausiblen metaphysischen Konzeptionen wie derjenigen Lowes55 umgekehrt folgt, dass es nicht nichts geben kann.

3.4 Es ist (intrinsisch) unwahrscheinlich, dass es nichts gibt: Das Egalitätsargument Robert Nozick und Peter van Inwagen haben unabhängig voneinander ein Argument entwickelt, das zeigen soll, dass die NichtExis-tenz konkreter Gegenstände zwar nicht unmöglich, wohl aber äußerst unwahrscheinlich ist:56 (1) Es gibt einige konkrete Entitäten. (2) Falls es mehr als eine mögliche Welt gibt, gibt es unendlich viele. (3) Es gibt höchstens eine mögliche Welt, in der keine konkreten Entitäten existieren. (4) Die Aktualität jeder möglichen Welt ist intrinsisch gleichermaßen wahrscheinlich. (5) Falls es nur eine mögliche Welt gibt (Spinozismus),57 handelt es sich bei unserer Welt um eben diese Welt und (1) ist eine notwendige Wahrheit. (6) Falls der Spinozismus jedoch falsch ist, gibt es unendlich viele mögliche Welten (wg. Prämisse (2)). Da aber (wegen Prämisse (4)) die intrinsische Wahrscheinlichkeit jeder möglichen Welt gleich hoch ist, beträgt die Wahrscheinlichkeit jeder Welt dann 0.58 Falls eine bestimmte Proposition in höchstens einer möglichen Welt wahr ist und die Wahrscheinlichkeit jeder möglichen Welt 0 beträgt, ist die Wahrscheinlichkeit besagter Proposition ebenfalls 0. (7) Die intrinsische Wahrscheinlichkeit dafür, dass keine konkreten Objekte existieren, beträgt 0.

Das Argument ist vor allem mit den folgenden drei Schwierigkeiten konfrontiert: 298 | christian weidemann

Erstens ist strittig, ob sich Prämisse (3) in befriedigender Weise rechtfertigen lässt. Van Inwagen schließt nicht aus, dass eine Welt, in der nur abstrakte, aber keine konkreten Gegenstände existieren, möglich ist. Warum sollte dann aber nicht mehr als eine solche Welt möglich sein? Eine naheliegende Antwort besteht darin zu behaupten, dass abstrakte Objekte, falls sie überhaupt existieren, notwendigerweise existieren. Außerdem gilt, dass zwei mögliche Welten dann und nur dann verschieden voneinander sind, wenn mindestens eine Proposition in der einen wahr und in der anderen falsch ist. Solange nun jedoch zwei Welten ausschließlich abstrakte Objekte enthalten, ist schwer zu sehen, worin ein Kandidat für eine solche Proposition bestehen sollte und daher ist man gerechtfertigt anzunehmen, dass es sich bei den beiden besagten Welten um ein und dieselbe handelt.59 Lowe hat hiergegen eingewendet, dass keineswegs alle abstrakten Objekte notwendigerweise existieren. Mengen etwa sind abstrakte Entitäten und gleichwohl genau dann kontingent, wenn ihre Elemente es sind, da sie nicht unabhängig von ihren Elementen existieren können.60 Selbst dies zugestanden, scheint ein Verteidiger von van Inwagens Argument allerdings noch nicht in ernsten Schwierigkeiten zu sein. Er kann vielmehr darauf beharren, dass kontingente abstrakte Entitäten eben nur in Welten existieren, in denen es auch kontingente konkrete Entitäten gibt. Obwohl die Beweislast in dieser Frage, wie ich meine, bei Lowe liegt, bleibt er ein Beispiel schuldig, das zeigt, dass kontingente abstrakte Entitäten auch in möglichen Welten existieren können, die keine konkreten Entitäten enthalten.61 Zweitens haben viele Autoren bezweifelt, dass sich dem in dem Argument benutzten Wahrscheinlichkeitsbegriff klarer Sinn verleihen lässt. Nozick und van Inwagen unterstellen, dass jede Proposition nicht nur einen modalen Status (möglich, notwendig, unmöglich) besitzt, sondern ihr auch eine intrinsische (logische; apriorische62) Wahrscheinlichkeit zukommt, die weder von den subjektiven Einstellungen rationaler Wesen noch vom Vorliegen kontingenter Sachverhalte abhängig ist. Obwohl diese Auffassung mit John Maynard Keynes, Rudolf Carnap und Richard Swinburne prominente Fürsprecher hat,63 lehnen wohl die meisten gegenwärtigen analytischen Philosophen sie ab. Laut Autoren wie D. H. Mellor64 ergibt die Zuschreibung objektiver Wahrscheinlichkeiten nur Sinn relativ zu Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 299

bestimmten Häufigkeiten oder Naturgesetzen. Danach zu fragen, wie wahrscheinlich eine bestimmte Proposition ›vor‹ Beginn der Welt – unabhängig von der Aktualität oder Nicht-Aktualität irgendeines kontingenten Sachverhalts – sei, halten sie für unsinnig. Drittens – und dies ist aus meiner Sicht der gewichtigste Einwand – gibt es starke Gründe, die Egalitätsprämisse (4) für falsch zu halten. Van Inwagen wendet zur Ermittlung der intrinsischen Wahrscheinlichkeit möglicher Welten das sogenannte Indifferenzprinzip an, welches grob besagt: Wenn n sich logisch ausschließende, das Spektrum an Möglichkeiten erschöpfende Hypothesen vorliegen und einem keine Gründe dafür bekannt sind, eine bestimmte Hypothese zu bevorzugen, sollte man jeder Hypothese eine Wahrscheinlichkeit von 1/n zusprechen. Doch (a) führt die Befolgung dieses Prinzips zumindest in manchen Fällen zu paradoxen Konsequenzen und (b) ist nicht klar, ob es nicht doch gute apriorische Gründe gibt, die Aktualität bestimmter möglicher Welten – und insbesondere einer Welt ohne konkrete Objekte – für wahrscheinlicher zu halten als die Aktualität anderer. a) Betrachten wir einen Würfel und nehmen an, dass wir über ihn nichts anderes wissen, als dass seine Kantenlänge K einen Wert zwischen 1 und 4 aufweist. Gemäß dem Indifferenzprinzip sollten wir nun den drei Hypothesen, dass die Kantenlänge zwischen 1 und 2, zwischen 2 und 3, zwischen 3 und 4 liegt, jeweils die gleiche Wahrscheinlichkeit zusprechen, nämlich ⅓. Aufgrund unseres Wissens um die in Frage kommenden Werte der Kantenlänge K wissen wir nun aber auch, dass das Volumen des Würfels (K3) zwischen 1 und 64 liegen muss. Das Indifferenzprinzip scheint uns nun dazu anzuhalten, der Hypothese, dass K3 zwischen 1 und 8 beträgt, dieselbe Wahrscheinlichkeit zusprechen wie den Hypothesen, dass K3 zwischen 8 und 16, 16 und 24, …, 56 und 64 liegt, nämlich ⅛. Da K3 nur dann zwischen 1 und 8 beträgt, wenn K einen Wert zwischen 1 und 2 aufweist, führt uns die Anwendung des Indifferenzprinzips zu einem Widerspruch: Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Kantenlänge zwischen 1 und 2 liegt, beträgt sowohl ⅓ als auch ⅛.65 Das Problem besteht hier offenbar darin, dass es verschiedene, jedoch anscheinend66 gleichermaßen plausible Weisen gibt, die Menge möglicher, vermeintlich gleich wahrscheinlicher Alternativen zu beschreiben. Verhält es sich bei der Frage ›Was ist wirklich?‹ am 300 | christian weidemann

Ende vielleicht genauso? Bestehen die Alternativen, die zu betrachten sind und auf die das Indifferenzprinzip anzuwenden ist, tatsächlich in van Inwagens möglichen Welten oder in etwas anderem – im schlimmsten Fall gar nur in den zwei Aussagen ›Es gibt etwas.‹ und ›Es gibt nichts.‹? Letzteres vorausgesetzt betrüge die intrinsische Wahrscheinlichkeit dafür, dass keine konkreten Objekte existieren, nicht 0, sondern immerhin ½ und die ›L-Frage‹ könnte kaum als beantwortet gelten.67 b) »Der natürlichste Zustand ist einfach, dass es nichts gibt: kein Universum, keinen Gott, nichts«68, behauptet Richard Swinburne in einer viel zitierten und kritisierten Passage seines Buches Is there a God?. Swinburnes These beruht auf zwei Annahmen: 1. Eine mögliche Welt, in der es keine konkreten Objekte gibt, ist einfacher als jede andere Welt. 2. Einfachheit ist ein Indiz für Wahrheit (Simplex sigillum veri): Ceteris paribus sind einfachere Hypothesen wahrscheinlicher als weniger einfache gleicher Reichweite. Intrinsisch ist es z. B. immer wahrscheinlicher, dass es von einer bestimmten Art von Gegenstand kein Exemplar gibt, als dass es eine bestimmte Anzahl von ihm gibt. Zwar wissen wir natürlich, dass es etwas gibt, aber wenn wir bei Beantwortung der ›L-Frage‹ von diesem Wissen abstrahieren und überlegen, wie wahrscheinlich die Aktualisierung einer möglichen Welt im Vergleich zur Aktualisierung anderer möglicher Welten war, verfügen wir über keinen anderen Anhaltspunkt als die Einfachheit der zu betrachtenden Welten. Zwar ist nicht gänzlich unumstritten, welche Merkmale für Einfachheit charakteristisch sind69 und folglich auch nicht, ob eine Welt ohne konkrete Objekte tatsächlich besonders einfach wäre,70 aber der ohne Zweifel problematischere Teil der Swinburneschen Argumentation besteht in der Annahme, bei Einfachheit handle es sich um ein apriorisches Wahrscheinlichkeitskriterium. Dass Einfachheit bei der Theorienwahl in den Wissenschaften eine Rolle spielt, lässt sich kaum leugnen, aber es ist sehr viel weniger klar, dass einfachere Theorien deshalb bevorzugt werden, weil Forscher sie für intrinsisch wahrscheinlicher halten als die entsprechenden Alternativen. Ihre Wahl könnte pragmatische Gründe haben71 (z. B. weniger aufwendige Berechnungen/anschaulichere Modelle usw.) oder es könnte sich empirisch bestätigt haben, dass einfachere Hypothesen (zumindest in manchen, wenn auch nicht notwendigerZur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 301

weise in allen Bereichen) ceteris paribus wahrscheinlicher sind als komplexe.72 Swinburne hält dagegen seit Jahrzehnten unbeirrt daran fest, dass die naturwissenschaftliche wie die philosophische Praxis zu ihrem Erfolg die Orientierung an einem apriorischen Einfachheitskriterium implizit voraussetze.73 Auch wenn man zögert, Swinburne hierin vorbehaltlos zu folgen, erscheint van Inwagens Prämisse (4) äußerst kontraintuitiv. Ist eine Welt, die als einzige Objekte rosa Elefanten enthält, die in Vanillesauce schwimmen,74 oder eine Welt, in der ich mich im nächsten Moment (entgegen meiner sonstigen Gewohnheit!) aus freien Stücken entschließe, nackt über das Universitätsgelände zu laufen, wirklich intrinsisch genauso wahrscheinlich wie die tatsächliche Welt? Hoffentlich nicht. Ferner: Wir leben nach gängiger Deutung der Quantenphysik in einem indeterministisch beschaffenen Universum. Spricht nicht alles dafür, dass Welten mit physikalisch höchst unwahrscheinlichen Weltverläufen auch intrinsisch weniger wahrscheinlich sind als Welten mit physikalisch wahrscheinlichen Verläufen?75

4. Erklärungen der Existenz des Universums Bevor ich zu Argumenten komme, die die notwendige Existenz eines bestimmten Wesens (Gott) zeigen sollen, werde ich – in gebotener Kürze – drei recht populäre Argumente mit erheblich schwächerem Anspruch vorstellen. Sie sollen ›nur‹ die Existenz (oder grundlegende Eigenschaften) unseres Universums erklären.

4.1 Das Kalam-Argument Mit dem Triumph des Urknallmodells über die keinen zeitlichen Ursprung vorsehende Steady-State-Theorie in den späten 60er und 70er Jahren (Entdeckung der Hintergrundstrahlung usw.) schien vielen Autoren indirekt auch die klassische theistische Vorstellung einer creatio ex nihilo bestätigt. Argumente, die beanspruchten, auf eine erste göttliche Ursache des Universums zu schließen, erhielten daher neuen Auftrieb. Besonders intensiv diskutiert wurde 302 | christian weidemann

das sog. Kalam-Argument76, für das vor allem William L. Craig seit mehr als drei Jahrzehnten in zahlreichen Aufsätzen und Büchern wirbt:77 (1) (2) (3) (4)

Alles, was zu existieren beginnt, hat eine Ursache. Das Universum hat zu existieren begonnen. Folglich hat das Universum eine Ursache. Falls das Universum eine Ursache hat, ist diese Ursache – abgesehen vom Universum (»sans the universe«)78 – unverursacht, unwandelbar, anfangslos, immateriell, raum- und zeitlos. (5) Nur abstrakte Objekte oder körperlose Geister können diese Kriterien erfüllen. (6) Abstrakte Objekte sind aber (notwendigerweise) kausal inert. (7) Also ist ein79 körperloser Geist die Ursache des Universums.

Sämtliche Prämissen des Arguments sind umstritten. Die besonders kontroverse Prämisse (2) berührt schwierige Probleme der Philosophie und Mathematik der Unendlichkeit (Cantorsche Mengenlehre) – Gibt es (bzw. kann es überhaupt) ein aktual Unendliches (geben)? – sowie der modernen Kosmologie, die ich hier natürlich nicht einmal bruchstückhaft darstellen kann.80 Craig verweist erstens auf die kontraintuitiven Konsequenzen, die sich aus der Annahme eines aktual Unendlichen ergäben (Hilberts Hotel, Tristram Shandys Memoiren usw.).81 Doch aus der Kontraintui-tivität eines Sachverhalts folgt selbstverständlich noch nicht seine Unmöglichkeit. Auch Quantenmechanik und Relativitätstheorie haben ausgesprochen kontraintuitive Implikationen, ohne dass dieser Umstand in entscheidender Weise gegen sie spräche. Der Verteidiger des aktual Unendlichen kann schlicht darauf bestehen, dass die Natur der Unendlichkeit nun einmal so beschaffen sei, dass sie Vorgänge wie in Hilberts Hotel ermöglicht.82 Zur Stützung der Prämisse (2) beruft sich Craig zweitens auf die moderne Physik, insbesondere auf das Standard-Big-Bang-Modell, das unabhängig von der metaphysischen Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines aktual Unendlichen zu zeigen scheint, dass unser Universum de facto einen zeitlichen Anfang hat. Einmal abgesehen von der gegenwärtig wieder zunehmenden Kritik an diesem Modell, haben Autoren wie John Earman, Graham Oppy oder Bernulf Kanitscheider zu Recht darauf hingewiesen, dass in ihm gar kein Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 303

›absoluter Anfangspunkt‹ vorausgesetzt werde. Vielmehr sei in dem Modell für jede Zeit t eine frühere Zeit t‘ vorgesehen, wobei der Zustand des Universums zu t‘ den Zustand zu t kausal festlege. Der sog. Anfangssingularität (t = 0) müsse dabei gar keine Realität zuerkannt werden, sie sei lediglich als Grenze eines offenen Intervalls zu verstehen.83 Wenn nun aber ein Ding dann und nur dann zu existieren beginnt, wenn es einen frühesten Zeitpunkt gibt, zu dem es existiert, dann hat das Universum offenbar (selbst gemäß dem Standard-Big-Bang-Modell) keinen Anfang. Zwar lässt sich ohne Frage auch ein anderer Sinn von ›zu existieren beginnen‹ finden, in dem unser 13,7 Milliarden Jahre altes anfangsloses Universum tatsächlich zu existieren begann, doch verlöre Prämisse (1) für diesen Sinn von ›beginnen‹ erheblich an Plausibilität.84 Auch die Prämissen (4) und vor allem (5) sind ernsten Zweifeln ausgesetzt. So ist nicht klar, dass es sich bei der Idee eines unwandelbaren, zeitlosen Geistes überhaupt um eine kohärente Vorstellung handelt. Außerdem folgt daraus, dass »einem keine anderen Kandidaten einfallen, die treffenderweise als immaterielle, anfangslose, nichtverursachte, zeit- und raumlose Wesenheiten beschrieben werden könnten«85 nicht, dass es keine gibt;86 zumal viel dafür spricht, dass hier dem Verstehen und dem Einfallsreichtum endlicher, verursachter und raumzeitlicher Wesen wie uns enge Grenzen gesetzt sind.

4.2 Ein induktiver kosmologischer Beweis Richard Swinburne, der wohl bekannteste natürliche Theologe der Gegenwart, hält kosmologische Argumente, die auf einen Schöpfer (erste Ursache) schließen, für deduktiv ungültig. Er schlägt stattdessen folgende probabilistische Variante vor: (1) Die Existenz eines komplexen physikalischen Universums87 ist naturwissenschaftlich nicht erklärbar ((HEP) ist unhaltbar). (2) Es gibt (genau) zwei Arten von Erklärungen: naturwissenschaftliche und personale. (3) Die Existenz unseres Universums ist also entweder ein (unerklärbarer) brute fact oder hat eine personale Erklärung. 304 | christian weidemann

(4) Es ist intrinsisch sehr viel wahrscheinlicher, dass ein (unverursachtes) vollkommenes Wesen existiert, das ein komplexes Universum hervorbringt, als dass ein komplexes Universum unverursacht existiert. (5) Es ist intrinsisch sehr viel wahrscheinlicher, dass ein (unverursachtes) vollkommenes Wesen existiert, das ein komplexes Universum hervorbringt, als dass ein oder mehrere unvollkommene Wesen unverursacht existieren, die ein komplexes Universum hervorbringen. (6) Die Tatsache, dass ein komplexes physikalisches Universum existiert, macht die Existenz eines vollkommenen Wesens wahrscheinlich.88

Von der oben bereits angesprochenen Schwierigkeit einmal abgesehen, ob der Redeweise von ›intrinsischer Wahrscheinlichkeit‹ überhaupt vernünftiger Sinn gegeben werden kann, liefert vor allem Prämisse (4) Ansatzpunkte für Kritik. Sie besteht aus zwei Teilaussagen: a) Die Existenz eines physikalischen Universums ist – gegeben die Existenz eines vollkommenen Wesens – (ziemlich) wahrscheinlich; b) Die unverursachte Existenz eines vollkommenen Wesens ist intrinsisch sehr viel wahrscheinlicher als die unverursachte Existenz eines (komplexen) physikalischen Universums. Zu a): Swinburne verwendet viel Mühe darauf zu zeigen, dass ein vollkommenes Wesen (Gott) gute – wenn auch keineswegs zwingende – Gründe habe, Wesen wie uns zu erschaffen, die über zwar begrenzte, gleichwohl gewichtige Wahlfreiheit verfügen. Eine solche Freiheit sei ein besonders hohes Gut, das von Gott allerdings gegen das Übel der Folgen des möglichen Missbrauchs dieser Freiheit abgewogen werden müsse. Damit Personen über Wahlfreiheit verfügen können, bedürfen sie eines Körpers, der sie befähigt, in sich selbst und in anderen angenehme oder unangenehme Empfindungen hervorzurufen, nach empirischem Wissen zu streben usw. Und sie bedürfen natürlich auch eines Raums, in dem sie mit ihren Körpern interagieren können. Die Erschaffung wahlfreier Wesen (anders als die Erschaffung moralisch vollkommener Engel) erfordert mit anderen Worten ein physisches Universum.89 Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Gott, falls er existiert, sich entschließt, wahlfreie Wesen zu erschaffen, beziffert Swinburne auf Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 305

½.90 Die Wahrscheinlichkeit, dass ein physisches Universum exisstiert, beträgt also – gegeben die Existenz Gottes – ebenfalls mindestens ½. Gegen diesen Gedankengang ist bisweilen eingewendet worden, dass fraglich sei, ob es sich bei (Wahl-)Freiheit tatsächlich um ein hohes Gut handle.91 Häufiger aber noch wird bestritten, dass den Schöpfungsalternativen eines uns in unermesslicher Weise überlegenen Wesens überhaupt nicht-willkürliche Wahrscheinlichkeiten zugeordnet werden können.92 Zu b): Die Güte einer Erklärung hängt nicht nur davon ab, wie wahrscheinlich sie das Explanandum macht, sondern auch davon, wie hoch ihre Ausgangswahrscheinlichkeit ist. Die Hypothese, dass Kobolde in meinem Haus wohnen, macht das ständige Verschwinden meiner Socken zwar weniger unwahrscheinlich, dennoch ist es keine akzeptable Erklärung dieses Verschwindens. Nach Swinburne ist zwar die Existenz jedes beliebigen kontingenten Dings a priori unwahrscheinlich: »Der natürlichste Zustand ist einfach, dass es nichts gibt.« Aber die Existenz eines vollkommenen Wesens ist intrinsisch zumindest weitaus wahrscheinlicher als die (unverursachte) Existenz eines komplexen physischen Universums. Der Grund hierfür liegt darin, dass Gott ein besonders einfaches Wesen und Einfachheit ein Indikator für Wahrheit ist.93 Warum ist Gott besonders einfach? Weil seine wesentlichen Eigenschaften unbegrenzter – ›unendlicher‹ – Natur sind. Die Begrenzung einer bestimmten Eigenschaft schreie, so Swinburne, immer nach einer Erklärung, außerdem sei das Verständnis endlicher Eigenschaften voraussetzungsreicher, da hier im Unterschied zu unendlichen Eigenschaften immer auch noch die zusätzliche Kenntnis einer Vergleichsgröße (Maßeinheit) erforderlich sei. Dass unendliche Werte einer bestimmten Eigenschaft auch in den Wissenschaften intuitiv bevorzugt würden, zeige ein Blick in die Geschichte. So habe man lange postuliert, dass Licht eine unendliche Geschwindigkeit habe, obwohl die Daten auch mit einer sehr hohen endlichen Geschwindigkeit verträglich gewesen wären.94 Swinburnes Auffassung, dass die Gotteshypothese besonders einfach sei, ist heftig widersprochen worden.95 Außerdem, so ein weiterer Einwand, werde mit Gottes Existenz ein ganz neuer Typ von körperlosem Wesen eingeführt, das seine Absichten ohne jede 306 | christian weidemann

physische Vermittlung umsetzen könne. Hierin scheint nun aber ein Verstoß gegen das Prinzip ontologischer Sparsamkeit zu bestehen, auf das Swinburne selbst so großen Wert legt. Außerdem sind zur Ermittlung der Ausgangswahrscheinlichkeit der Existenz Gottes offenbar nicht nur apriorische Überlegungen relevant, sondern auch unser sonstiges Hintergrundwissen. In unserer Erfahrung ist uns bisher aber offenbar noch kein körperloses Wesen, geschweige denn eine Art der unmittelbaren Verursachung, wie sie dem göttlichen Geist zugeschrieben wird, begegnet.96

4.3 Das Argument der Feinabstimmung Unser Universum musste mit genau abgestimmter Dichte, Homogenitätsgrad und Ausdehnungsgeschwindigkeit beginnen, um Leben zu ermöglichen.97 Kleinste Abweichungen hätten entweder dazu geführt, dass das Universum viel zu schnell kollabiert wäre, um die Evolution von Leben zuzulassen, oder dazu, dass niemals Galaxien, Sterne oder Planeten entstanden wären. Auch das Verhältnis der vier Grundkräfte und das der Massen der Elementarpartikel zueinander scheinen genau aufeinander abgestimmt zu sein. Würden starke Kernkraft oder elektromagnetische Kraft nur um wenige Prozent von ihrer tatsächlichen relativen Stärke abweichen oder wäre die Masse des Neutrons nur um 1/700 größer, als sie es ist, könnten in Sternen keine für die Entstehung von Leben essentiellen Elemente wie Kohlenstoff oder Sauerstoff gebildet werden.98 Unterstellt man, dass es sich bei den Werten, die die besagten Naturkonstanten annehmen, um nicht weiter erklärungsfähige Tatsachen (brute facts) handelt, so erscheint der Umstand, dass sie alle in einen Bereich fallen, der Leben im Universum möglich macht, außerordentlich frappierend.99 Auf diesen Befund gründen einige Autoren ein neues teleologisches Argument zugunsten der Existenz eines (all)mächtigen Wesens, das ein reges Interesse an der Entwicklung von intelligentem Leben hat und für das daher Anlass bestand, die Naturkonstanten (und Naturgesetze) unseres Universums in entsprechender Weise festzulegen.100 Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 307

Gegen dieses (hier natürlich nur äußerst grob skizzierte) Argument gibt es zahlreiche Bedenken.101 Die zwei wichtigsten sind: 1) Selbst falls die gegenwärtige Physik insofern Bestand haben sollte, als die Werte der Naturkonstanten auch aus einer ›finalen Theorie‹ unableitbar bleiben, verfügen wir, so die Behauptung vieler Autoren, über eine andere, bei Weitem überlegene Erklärung des Feinabstimmungsphänomens: Das sichtbare Universum sei, so meinen sie, nur eines unter unzähligen (unendlich vielen?) weiteren Universen102 mit je variierenden Ausgangsbedingungen. Dass unter diesen unzähligen Universen auch einige wenige sind, die Leben ermöglichen, ist (beinahe) unvermeidlich. Da wir nun einmal existieren, müssen wir uns in einem der statistisch seltenen lebensfreundlichen Universen befinden. Eine absichtsvolle Feinabstimmung braucht nicht angenommen zu werden.103 Allerdings hat auch diese sog. Multiversumshypothese mit speziellen Problemen zu kämpfen: Zum einen scheint sie ontologisch nicht eben sparsam zu sein,104 zum anderen mag sie zwar erklären, warum es überhaupt lebensfreundliche Universen gibt, aber erklärt sie auch, warum dieses Universum lebensfreundlich ist?105 2) Der Verteidiger des Feinabstimmungsarguments begeht, so meinen nicht wenige Kritiker, einen bekannten Fehlschluss: Er missachtet einen sog. ›Observational Selection Effect‹. Nehmen wir an, ein Fischer wirft in einem Teich sein Netz aus und zieht im Laufe eines Tages über 100 Fische an Bord seines Bootes. Jeder dieser Fische weist eine Länge von mindestens 50 cm auf. Lässt sich aus diesem Tagesfang ein Anhaltspunkt bezüglich der minimalen Größe von Fischen in dem Teich gewinnen? Nicht, wenn die Maschen des Netzes so groß sind, dass Fische, die kleiner als 50 cm sind, beim Einholen ›hindurchflutschen‹ würden! Wer mit einem grobmaschigen Netz fischt, kann keine kleinen Fische fangen, unabhängig davon, ob es solche Fische in dem Teich gibt oder nicht.106 Analog verhalte es sich mit uns und der Messung von Naturkonstanten. Sowenig wie der Fischer des obigen Beispiels kleine Fische fangen kann, so wenig können wir wesentlich andere Naturkonstanten beobachten, als wir es tun. Der Grund hierfür ist denkbar einfach: Würden die Naturkonstanten andere Werte aufweisen, gäbe es kein Leben im Universum, niemand könnte sie messen. Da es nun aber einmal Beobachter wie uns gibt, ist es nicht nur nicht überraschend 308 | christian weidemann

bzw. erklärungsbedürftig, dass die Naturkonstanten Leben ermöglichen, es ist eine tautologische Wahrheit.107 Dieser (hier stark vereinfachte) Einwand ist von zweifelhafter Güte: Dass wir nichts beobachten können, das mit der Existenz intelligenter Beobachter unverträglich ist, ist natürlich in der Tat unbestreitbar (schwaches anthropisches Prinzip108). Aber daraus folgt nicht, dass die Tatsache, dass im Universum Bedingungen herrschen, die es möglich machen, dass es Beobachter wie uns überhaupt gibt, nicht nach einer Erklärung verlangt. Vor allem John Leslie hat dies mit einer Reihe von Gedankenexperimenten plausibel zu machen versucht. Das bekannteste lautet wie folgt: Ein Gefangener steht vor einem Erschießungskommando. 50 Scharfschützen legen aus kurzer Distanz auf ihn an. Das Kommando erklingt. Die Schüsse knallen. Der Gefangene bleibt unverletzt. Sämtliche Kugeln haben ihn verfehlt. Im ersten Moment ist der Gefangene erstaunt. Aber dann überlegt er sich, dass dazu eigentlich kein Anlass besteht. Denn: Hätten die Scharfschützen ihn nicht verfehlt, wäre er gar nicht mehr da, um festzustellen, dass sie ihn nicht verfehlt haben!109 Doch eine solche Reaktion ist absurd. Natürlich hat unser Gefangener allen Grund, überrascht zu sein. Und natürlich gibt es hier etwas zu erklären. Die Wahrscheinlichkeit der Hypothese, dass die Scharfschützen – z. B. weil sie bestochen waren – beabsichtigten danebenzuschießen, steigt durch das Überleben des Gefangenen enorm. Dass er nicht über die Absichten der Scharfschützen nachdenken könnte, wenn er getroffen worden wäre, tut schlicht nichts zur Sache. Ebenso haben wir allen Grund, darüber überrascht zu sein, dass intelligente Beobachter wie wir existieren. Dass niemand nach einer Erklärung verlangen könnte, würden die Eigenschaften des Universums Leben ausschließen, ist irrelevant.

4.4 Warum diese Argumente die ›L-Frage‹ nicht beantworten Ganz unabhängig von den Meriten und Schwächen der skizzierten drei Argumente ist festzuhalten, dass sie bestenfalls eine Teilantwort auf die ›L-Frage‹ liefern. Sie beanspruchen zu erklären, warum ein (lebensfreundliches) Universum existiert, aber nicht, warum es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts gibt. Die Frage, warum Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 309

es Gott gibt, bleibt ungeklärt.110 Um die ›L-Frage‹ zu beantworten, müsste zusätzlich dargelegt werden, dass Gott (oder eine andere erste Ursache) nicht nicht existieren kann. Genau das zu zeigen, beanspruchen die folgenden Argumente.

5. Ein notwendig existierendes Wesen? 5.1 Plantingas modallogischer Gottesbeweis Die analytische Philosophie hat eine Reihe neuer ontologischer und modallogischer Argumente für die Existenz Gottes (einer ersten Ursache,…)111 hervorgebracht, die die tatsächlichen oder vermeintlichen Fehlschlüsse Anselms vermeiden sollen. Diese Versuche112 sind m. E. zwar von beträchtlicher Bedeutung für die Modallogik, aber nur von sehr geringem Interesse für die Metaphysik, denn sie enthalten sämtlich und ausnahmslos mindestens eine Prämisse, die (bei richtigem Verständnis) keineswegs plausibler ist als die Konklusion des Arguments.113 Ich kann das im Folgenden nur stellvertretend am Beispiel von Alvin Plantingas ›siegreicher modaler Version‹ des Anselmschen Beweises demonstrieren. Plantinga unterscheidet im Zuge seines Arguments zunächst die Eigenschaften ›maximale Vortrefflichkeit‹ und ›maximale Größe‹. Die Vortrefflichkeit eines Wesens in einer gegebenen Welt w hängt nur von den Eigenschaften des Wesens in w ab. Bei den vortrefflich machenden Eigenschaften handelt es sich dabei im Wesentlichen um die Vollkommenheiten der Tradition (Macht, Wissen, Güte usw.). Existenz ist jedoch keine vortrefflich machende Eigenschaft, wohl aber eine notwendige Bedingung für Vortrefflichkeit:114 Ein Wesen, das nicht existiert, hat auch keinerlei (vortreffliche) Eigenschaften. Maximal vortrefflich in w ist ein Wesen genau dann, wenn es in keiner möglichen Welt ein Wesen gibt, das es an Vortrefflichkeit übertrifft. Die Größe eines Wesens in einer gegebenen Welt w hängt in Plantingas Terminologie hingegen nicht nur von den Eigenschaften des Wesens in w ab, sondern auch von den Eigenschafen, die ihm in anderen möglichen Welten zukommen oder nicht zukommen. Maximal groß ist ein Wesen genau dann, wenn es in jeder mög310 | christian weidemann

lichen Welt maximal vortrefflich ist. Nun sind wir bereit für den Beweis: (1) Es ist möglich, dass ein maximal großes Wesen existiert. (2) Es gilt notwendigerweise, dass ein Wesen genau dann maximal groß ist, wenn es maximal vortrefflich in allen möglichen Welten ist. (3) Es ist also möglich, dass ein maximal vortreffliches Wesen in allen möglichen Welten existiert, oder: Es ist möglich, dass es notwendig ist, dass ein maximal vortreffliches Wesen existiert. (4) Also existiert notwendigerweise ein Wesen, das maximal vortrefflich (und maximal groß) ist.

Der Schluss von (3) auf (4) folgt im modallogischen System S5, für das charakteristisch ist, dass iterierte Modalitäten (hier: möglicherweise notwendig) sich auf einfache Modalitäten (hier: notwendig) reduzieren lassen.115 Es gibt eine Reihe von Schwierigkeiten mit Plantingas Argument,116 aber die augenfälligste und wichtigste besteht in Folgendem: Niemand, der nicht schon von der Konklusion (4) überzeugt ist und der die vorausgesetzten Modalbegriffe versteht, wird Prämisse (1) zustimmen. Zwar werden selbst die meisten Atheisten einräumen, dass die Existenz Gottes zumindest denkbar oder möglich ist, aber sie werden dabei unter ›Gott‹ nur ein maximal vortreffliches Wesen, nicht jedoch ein maximal großes Wesen verstehen. Darüber hinaus werden manche Atheisten vielleicht auch zugeben, dass a priori nichts gegen die Widerspruchsfreiheit der Definition eines maximal großen Wesens eingewendet werden kann, aber dasselbe lässt sich leider auch für die Definition einer Eigenschaft sagen, die einem Wesen nur dann zukommt, wenn es in einer Welt lebt, in der kein maximal vortreffliches oder großes Wesen existiert.117 Mit einer entsprechenden Prämisse ließe sich dann in analoger Weise ›beweisen‹, dass ein maximal großes Wesen unmöglich ist.118 Plantingas Argument liefert daher geradezu ein Paradebeispiel für eine petitio principii,119 was er sinngemäß an verschiedenen Stellen selbst eingeräumt hat.120

Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 311

5.2 Ein neues kosmologisches Argument à la Leibniz Ontologische oder modallogische Argumente, die ja schon auf den ersten Blick wie sprachliche Taschenspielertricks anmuten, fallen also aus, wenn dem Schluss auf die Existenz eines notwendig existierenden Wesens einige Überzeugungskraft verliehen werden soll. Sehr viel chancenreicher sind Versuche, mit Hilfe des Satzes vom zureichenden Grund auf die notwendige Existenz einer Person zu schließen. William Rowe, Richard Gale und vor allem Alexander R. Pruss haben in den letzten Jahren zumindest gezeigt, dass vielen Standardeinwänden gegen diesen Argumenttyp erfolgreich begegnet werden kann. (1) Für jede kontingente Proposition gibt es eine Erklärung. (Satz vom zureichenden Grund) (2) Es gibt eine kontingente Proposition, die die Konjunktion aller wahren kontingenten Propositionen ist. (Big Conjunctive Contingent Fact = BCCF) (3) Also hat der BCCF eine Erklärung. (4) Kontingente Tatsachen lassen nur zwei Arten von Erklärungen zu: naturwissenschaftliche und personale (in Form freier Handlungen von Akteuren). (5) Die Ausgangsbedingungen und Naturgesetze, von denen in wissenschaftlichen Erklärungen die Rede ist, sind kontingent, d. h. selbst Teil des BCCF. (6) Eine Proposition kann zur Erklärung einer Proposition, deren Konjunkt sie ist, nur dann herangezogen werden, wenn sie selbsterklärend ist. (7) Die Ausgangsbedingungen und Naturgesetze, von denen in wissenschaftlichen Erklärungen die Rede ist, sind nicht selbsterklärend. (8) Also kann der BCCF nicht naturwissenschaftlich erklärt werden. (9) Der BCCF hat also eine personale Erklärung in Form der freien Handlung einer Person (oder freier Handlungen mehrerer Personen). (10) Falls diese Person kontingenterweise existiert, wäre die Proposition, dass sie existiert, Teil des BCCF und die freie Handlung einer Person würde ihre eigene Existenz erklären, was absurd ist. 312 | christian weidemann

(11) Folglich existiert (mindestens) eine Person notwendigerweise.121

Ich kann hier nur auf drei Schwierigkeiten des Arguments ein kurzes Streiflicht werfen: a) Ist die Vorstellung eines notwendig existierenden (konkreten) Wesens überhaupt kohärent? b) Ergibt sich aus der Annahme des Satzes vom zureichenden Grunde (im Folgenden kurz: SZG) nicht zwingend ein modaler Fatalismus, d. h. die inakzeptable Konsequenz, dass es nichts Kontingentes gibt? Ist der SZG vereinbar mit libertarianischer Willensfreiheit und einer indeterministischen Interpretation der Quantenmechanik? c) Selbst angenommen, die genannten und weitere Schwierigkeiten ließen sich lösen, warum sollte man den SZG akzeptieren? Zu a): Die Aussage ›Es gibt Personen.‹ ist keine logische oder analytische Wahrheit. Wie kann sie dann aber notwendigerweise wahr sein, da doch ihre Bestreitung keinerlei Widerspruch enthält? Diesem verbreiteten Einwand122 kann Folgendes entgegengehalten werden: Es gibt notwendige Wahrheiten, die weder a priori noch analytisch sind. Dabei, dass der Abendstern identisch mit dem Morgenstern ist, (destilliertes) Wasser H2O ist oder Menschen Säugetiere sind, handelt es sich nach gängiger Auffassung um metaphysisch notwendige Wahrheiten.123 Doch solchen Wahrheiten kann man nicht dadurch auf die Spur zu kommen hoffen, dass man ›im Lehnstuhl‹ die (intensionale) Bedeutung von Ausdrücken wie ›Abendstern‹, ›Wasser‹ oder ›Mensch‹ analysiert, man muss empirische Forschung betreiben. Dass Wasser CH4 ist, ist nicht selbstwidersprüchlich, so wie von ›verheirateten Junggesellen‹ zu reden selbstwidersprüchlich wäre, aber es ist gleichwohl metaphysisch notwendigerweise falsch. Nun handelt es sich zwar bei den genannten Beispielen um Identitäts-, nicht um Existenzaussagen, aber sie liefern doch immerhin ein Modell dafür, wie letztere notwendig sein könnten, ohne analytisch zu sein.124 Zu b): Wenn es für alles eine zureichende Erklärung gäbe, folgte dann nicht, dass alles genau so sein musste, wie es ist? Van Inwagen versucht einen solchen Zusammenhang in seinem Essay on Free Will nachzuweisen:125 (1) Wenn der SZG zutrifft, gibt es für jede kontingente Proposition eine Erklärung. Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 313

(2) Keine notwendige Proposition kann eine kontingente Proposition erklären. (3) Keine kontingente Proposition erklärt sich selbst. (4) Wenn eine Proposition eine Konjunktion erklärt, erklärt sie jedes einzelne Konjunkt. (5) Eine Proposition q erklärt eine Proposition p nur, wenn q wahr ist. (6) Es gibt eine kontingente Proposition, die die Konjunktion aller wahren kontingenten Propositionen ist. (Big Conjunctive Contingent Fact = BCCF) (7) Der SZG trifft zu. (8) Also hat der BCCF eine Erklärung, q. (wg. 1, 6, 7) (9) Diese Proposition q ist nicht notwendig. (wg. 2, 6, 8) (10) Also ist q eine wahre kontingente Proposition. (wg. 5, 8, 9) (11) Folglich ist q ein Konjunkt von BCCF. (wg. 6, 10) (12) Daher muss q selbsterklärend sein. (wg. 4, 8, 11) (13) Aber q ist nicht selbsterklärend. (wg. 3, 10) (14) Also ist q sowohl selbsterklärend als auch nicht-selbsterklärend, was absurd ist. Daher muss eine der Prämissen (1)-(7) falsch sein.

Da es sich bei den Prämissen (1) bis (5) um evidente Wahrheiten zu handeln scheint, ist der Verfechter von SZG offenbar gezwungen, (6) zu leugnen. Und das scheint ihn darauf festzulegen, die Existenz (wahrer) kontingenter Propositionen überhaupt zu bestreiten. Ein (inakzeptabler) modaler Fatalismus oder Spinozismus wäre die Folge. Aber sind die Prämissen, und vor allem (2) und (3), tatsächlich über jeden Zweifel erhaben? (2) scheint aus folgendem Grund unbestreitbar zu sein: Wenn eine Proposition a eine Proposition b vollständig oder ›zureichend‹ erklärt, dann impliziert sie b. Nun implizieren notwendige Propositionen aber ausschließlich andere notwendige Propositionen. Daher kann eine notwendige Proposition keine kontingente Proposition erklären. Es ist allerdings fraglich, ob Erklärungen, um zureichend zu sein, das Explanandum immer implizieren müssen. Statistische Erklärungen sind in den Wissenschaften allgegenwärtig. Warum eine bestimmte Erbsenpflanze der Enkelgeneration weiß blüht, obwohl 314 | christian weidemann

in der Generation zuvor nur rot blühende Pflanzen auftraten, kann statistisch durch die Mendelschen Vererbungsgesetze erklärt werden; dass ein Atom eines bestimmten Uranisotops zerfällt, wird mittels dessen statistischer Halbwertszeit erklärt. Auch Handlungserklärungen implizieren offenbar die zu erklärende Handlung nicht immer: Ich habe mich entschieden, ein Eis zu essen, weil ich Lust auf Eis hatte und aus keinem anderen Grund. Aber dass ich Lust auf Eis hatte, implizierte meine Entscheidung, ein Eis zu essen, nicht. Ich hätte mich stattdessen z. B. für ein Stück Kuchen entscheiden können, auf das ich ebenfalls Appetit verspürte. Folgender Einwand liegt nun freilich nahe: Es mag sein, dass die weiße Blüte, der Zerfall des Atoms oder die Entscheidung für das Eis erklärt werden kann, aber kann auch erklärt werden, warum diese Blüte und nicht eine andere weiß ist, warum dieses Atom und nicht ein anderes zerfiel oder warum ich das Eis und nicht etwa den Kuchen gewählt habe? Die Forderung nach solchen kontrastiven Erklärungen scheint das eigentliche Problem zu sein, wenn SZG und Kontingenz miteinander versöhnt werden sollen. Der Verteidiger des kosmologischen Arguments kann diesem Einwand auf zwei Weisen zu begegnen versuchen: Entweder er unternimmt es nachzuweisen, dass immer, wenn eine Proposition p non-kontrastiv erklärt ist, kein Sachverhalt der Form p anstatt q zu erklären übrig bleibt126 oder er schränkt SZG auf nicht-kontrastive Sachverhalte ein.127 Auch nach einer solchen Einschränkung bliebe SZG stark genug, um auf die notwendige Existenz einer das kontingente Universum verursachenden Person schließen zu können. Nun ein kurzer Blick auf Prämisse (3) des Arguments für den modalen Fatalismus. Nehmen wir an, dass eine (wahre und verständliche) Proposition genau dann selbsterklärend ist, wenn man dadurch, dass man sie versteht und für wahr hält, zugleich begriffen hat, warum sie wahr ist. Eine notwendige Proposition wie ›2 + 2 = 4‹ erfüllt diese Bedingung. Manche Autoren meinen nun, dass auch kontingente Propositionen, die libertarianisch freie Handlungen wiedergeben,128 selbsterklärend sein können. Pruss schlägt folgendes Prinzip vor: Dass ein Akteur einen Grund R als Grund dafür betrachtete, A zu tun, und er sich (libertarianisch) frei entschied, ob er A tun soll, ist, wenn er sich tatsächlich aus Grund R frei für A entschied, eine zureichende Erklärung dafür, dass er sich für Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 315

A entschied.129 Das sei verträglich damit, dass der Akteur zugleich einen Grund Q als Grund dafür betrachtete, eine mit A inkompatible Handlung B auszuführen, und dies, wenn er sich aus Grund Q frei für B entschieden hätte, eine ebenso zureichende Erklärung für diese Entscheidung gewesen wäre. Hier muss also eine Asymmetrie zwischen Erklärungen und Voraussagen konstatiert werden. Eine freie Handlung kann im Nachhinein vollständig erklärt werden, ohne dass sie deshalb im Vorhinein voraussehbar wäre. Es gibt zureichende Erklärungen freier Handlungen, die diese gleichwohl nicht determinieren.130 Wer nun trotzdem insistiert: ›Aber warum hat sich der Handelnde denn nun aus Grund R frei entschieden, A zu tun?‹, der begreift, so jedenfalls der Libertarianer, nicht, was eine freie Entscheidung ausmacht. Es gibt hier nichts mehr zu erklären, weil bereits alles erklärt ist. (Das Problem sind auch hier natürlich wieder die kontrastiven Fragen. Es mag ja sein, dass die kontingente Proposition, dass der Akteur Handlung A aus Grund R getan hat, selbsterklärend ist, aber gilt das auch dafür, dass der Akteur A aus Grund R getan hat, anstatt B aus Grund Q?) Nun muss freilich auch der Libertarianer zugeben, dass eine Proposition wie ›Akteur X führt aus Grund R Handlung A aus.‹ insofern nicht selbsterklärend ist, als immer noch gefragt werden kann, warum X überhaupt existiert und warum X Grund R überhaupt als einen Grund identifiziert hat. Falls es sich bei X nun jedoch um ein notwendig existierendes und essentiell allwissendes Wesen handelt, bedarf auch das keiner Erklärung mehr! Die freien Entscheidungen einer notwendig existierenden, essentiell allwissenden Person könnten die Existenz unseres Universums daher vollständig erklären, ohne dass die Existenz dieses Universums deshalb notwendig sein muss.131 Die Plausibilität einer solchen Position steht und fällt natürlich mit der Plausibilität einer libertarianischen Theorie der Freiheit. Der Streit um das Freiheitsproblem ist aber leider mindestens ebenso verwickelt wie die ›L-Frage‹ selbst. Ich kann ihn hier daher nicht weiterverfolgen.132 Zu c): Selbst vorausgesetzt der SZG (oder zumindest eine auf nicht-kontrastive Sachverhalte eingeschränkte Version des SZG) ließe sich gegen Einwände – sei es gegen vermeintliche Gegen316 | christian weidemann

beispiele oder Versuche einer reductio ad absurdum – verteidigen, welches positive Argument könnte für ihn ins Feld geführt werden? Das ist eine oft zu Unrecht vernachlässigte Frage. Manche Autoren haben sich mit der Feststellung der vermeintlichen Selbstevidenz des SZG begnügt, andere den SZG als ein unverzichtbares, fundamentales Prinzip unseres Vernunftgebrauchs bezeichnet.133 Nun gibt es jedoch sehr vernünftige Leute (Bertrand Russell, Graham Oppy, Peter van Inwagen, Adolf Grünbaum u. a.), die den SZG nicht nur für nicht selbstevident, sondern sogar für offenkundig falsch halten und die sich keineswegs ›unbehaglich‹ dabei fühlen, brute facts in der Quantenmechanik oder in der (sehr) frühen Geschichte unseres Universums zu akzeptieren. Das Bestreben, überall nach Erklärungen zu suchen, mag ein unauslöschlicher Bestandteil der menschlichen Natur sein und sogar ein Schlüssel zum evolutionären Erfolg unserer Spezies, aber folgt daraus, dass sich auch tatsächlich überall (gute oder gar zureichende) Erklärungen finden lassen oder dass es vernünftig ist, anzunehmen, es gebe überall solche Erklärungen? Die menschliche Neigung zum Aberglauben und zu Verschwörungstheorien scheint zumindest zu zeigen, dass das Streben nach Erklärungen – die fortgesetzte Weigerung, ›Zufälle‹ zu akzeptieren – manchmal in die Irre gehen kann.134 Der Verteidiger des SZG wird allerdings mit einigem Recht darauf hinweisen, dass besagte Beispiele nur veranschaulichen, dass das Streben nach Erklärungen eines bestimmten Typs fehlgeleitet sein kann: Der Verschwörungstheoretiker sucht nach intentionalen, personalen Erklärungen auch dort, wo es keine gibt. Umgekehrt suchen vielleicht manche Hirnforscher oder Evolutionsbiologen nach naturwissenschaftlichen Erklärungen menschlichen Verhaltens, wo es keine gibt. Doch warum sollte hieraus folgen, dass es verfehlt ist, für jeden Sachverhalt irgendeine Erklärung zu verlangen? Andererseits ist es aber auch ungerechtfertigt zu behaupten, die Annahme des SZG habe sich »in allen bisherigen Fällen bewährt«135: Viele wissenschaftliche Probleme, z. B. das Verhältnis von Quantenmechanik und Relativitätstheorie, sind nämlich nach wie vor ungeklärt: Weshalb sollte es eine Garantie dafür geben, dass sie prinzipiell gelöst werden können? Der Streit zwischen Verteidigern und Gegnern des SZG droht auf diese Weise offenbar in eine dialektische Sackgasse zu geraten,136 Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 317

aus der ein argumentativer Ausgang nur schwer zu finden ist. Pruss geht in seinem Buch über den Satz vom zureichenden Grund einen anderen Weg, der mir verheißungsvoll zu sein scheint. Er versucht im Rückgriff auf Ideen von Thomas, Kant oder Aristoteles ein kumulatives Argument zu liefern und dabei zu zeigen, welch ›mächtiges Werkzeug‹ der SZG in der Philosophie selbst ist. So muss der Anhänger des SZG z. B. sein Unbehagen an Theorien wie dem Epiphänomenalismus nicht mehr länger umständlich dadurch ausdrücken, dass er ihnen eine exzessive Ontologie o. Ä. vorhält, es reicht zu sagen, dass im Epiphänomenalismus die Korrelation zwischen Mentalem und Physischem unerklärt bleibt.137

6. Schluss Zwei Ergebnisse können am Ende unseres Rundgangs festgehalten werden. Erstens handelt es sich bei der Frage ›Warum gibt es überhaupt etwas und nicht nichts?‹ um kein Scheinproblem. Das Staunen oder gar die existentielle Erschütterung darüber, dass es etwas gibt, beruht mitnichten auf einer Konfusion. Und solange Menschen sich Fragen stellen, die über ihre Alltagsnöte hinausgehen, wird ein solches Staunen wohl auch niemals vergehen.138 Zweitens gibt es innerhalb der analytischen Philosophie eine Reihe neuer, nicht offenkundig hoffnungsloser Versuche, die ›L-Frage‹ (oder die etwas weniger anspruchsvolle Frage: ›Warum gibt es ein physisches Universum?‹) zu beantworten. Gewiss, keines der vorgestellten Argumente erreicht sein Beweisziel jenseits eines vernünftigen Zweifels. Aber bei welcher interessanten philosophischen Frage verhält es sich anders?

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Anmerkungen

Gottlob Frege: Begriffsschrift, Vorwort, S. VI. Bekannter ist die viel spätere Bemerkung Wittgensteins, Philosophie sei »ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache« (Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 109). 2 Vgl. G. E. Moore: Principia Ethica; Bertrand Russell : The Problems of Philosophy, Kap. 9; Gottlob Frege: Der Gedanke. Eine Sonderstellung nimmt Wittgenstein ein, der in seinem Tractatus zunächst eine anspruchsvolle Tatsachenontologie zu verteidigen scheint, am Ende dann aber die berühmtberüchtigte Feststellung trifft: »Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt […] (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.« (Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Satz 6.54) 3 Der Text zitiert die Titel zweier früher Arbeiten Rudolf Carnaps: Die Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, und Scheinprobleme in der Philosophie. 4 Freges Kritik am ontologischen Gottesbeweis fi ndet sich in den Grundlagen der Arithmetik, § 53. Frege versucht dort, Kants klassischen Einwand (»Sein ist offenbar kein reales Prädikat« (KrV A 598/B 626)) mit Hilfe der im selben Paragraphen eingeführten Unterscheidung von Merkmalen und Eigenschaften eines Begriffs zu präzisieren. Bei den Merkmalen eines Begriffs handelt es sich um diejenigen Eigenschaften, die ein Gegenstand erfüllen muss, um unter den jeweiligen Begriff zu fallen; ein Gegenstand muss z. B. rechtwinklig sein, um unter den Begriff ›rechtwinkliges Dreieck‹ fallen zu können. Aber Rechtwinkligkeit ist deshalb natürlich noch keine Eigenschaft von Begriffen (Begriffe sind schließlich keine geometrischen Objekte). Dass ein bestimmter Begriff nicht leer ist, ist dagegen tatsächlich eine Eigenschaft dieses Begriffes, nicht jedoch eine Eigenschaft unter ihn fallender Gegenstände. Wer behauptet, dass Gott existiert, drückt daher auf sprachlich unvollkommene Weise aus, dass der Begriff ›Gott‹ nicht leer ist. Verfechter klassischer ontologischer Gottesbeweise machen nun jedoch den Fehler, sich von der Oberflächengrammatik von Existenzaussagen in die Irre führen zu lassen und Existenz als ein Merkmal des Begriffs ›Gott‹ bzw. als Eigenschaft des mit dem Eigennamen ›Gott‹ bezeichneten Wesens zu behandeln. Eine genaue Analyse ergibt hingegen, dass Existenz allenfalls eine Eigenschaft des Begriffs ›Gott‹ ist. Inwieweit Freges Einwand tatsächlich als Präzisierung der kantischen Kritik verstanden werden kann und ob er Descartes’ ontologischen Beweis überhaupt in ernste Schwierigkeiten bringt, ist umstritten; vgl. Joachim Bromand: Kant und Frege über Existenz. Russells ausführlichste Auseinandersetzung mit ontologischen und kosmologischen Argumenten fi ndet sich in: Bertrand Russell: A Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz, Kap. 15. 1

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Zu Russell vgl. allerdings Abschn. 2.2. Siehe den Beitrag von Jens Lemanski in diesem Band. 7 Der locus classicus einer abschlägigen Antwort auf diese Frage ist Willard Van Orman Quine: Two Dogmas of Empiricism. 8 Vgl. Gottlob Frege: Die Grundlagen der Arithmetik, bes. § 9–17. 9 Denn wie sollten Aussagen über unendliche Mengen oder komplexe Zahlen, ja selbst über die Addition oder Multiplikation sehr großer endlicher natürlicher Zahlen (106000 x 1095555) empirisch getestet werden? 10 Die Frage, wie die Klasse der Beobachtungssätze und ihr Verhältnis zum ›Gegebenen‹ zu charakterisieren seien, wurde bereits im Wiener Kreis intensiv diskutiert (›Protokollsatzstreit‹). Ob eine nicht-willkürliche Grenzziehung zwischen Beobachtbarem und Unbeobachtbarem möglich ist, ist bis heute umstritten, vgl. die Diskussion bei Christian Suhm: Wissenschaftlicher Realismus, Kap. 4 und 5. Schwierigkeiten ergeben sich vor allem aus der Theoriegeladenheit aller Beobachtung sowie aus dem Umstand, dass die Grenze des Beobachtbaren sich im Zuge des wissenschaft lich-technischen Fortschritts (Ultraschallmessung, Elektronenmikroskope usw.) stetig zu verschieben scheint. 11 Vgl. etwa Alvin Plantinga : God and Other Minds, S. 167 f. Da der Hauptvorzug des empiristischen Sinnkriteriums in seinen (antimetaphysischen) Konsequenzen gesehen wurde, blieben die bedeutungstheoretischen Rechtfertigungsversuche oft oberflächlich, wenn man nicht gar völlig auf sie verzichtete, vgl. aber Moritz Schlick : Meaning and Verification. In diesem Aufsatz versucht Schlick zu zeigen, dass alles Verstehen letztlich auf ostensive Definitionen (Zeigen o. Ä.) zurückgehen müsse, was eben nichts anderes heiße, als dass alles Verstehen sprachlicher Bedeutung in der Möglichkeit der Verifi kation wurzle, ähnlich schon Bertrand Russell: The Problems of Philosophy, S. 91: »Every proposition which we can understand must be composed wholly of constituents with which we are acquainted.« Zur Kritik an dieser Art von Argument zugunsten des Verifi kationismus vgl. z. B. Edward Craig: Meaning, Use and Privacy. 12 Ein Satz S ist im strikten Sinne empirisch verifi zierbar/falsifi zierbar genau dann, wenn es eine endliche, logisch konsistente Klasse von Beobachtungssätzen gibt, aus der S/die Negation von S logisch folgt. 13 Für Popper, an den man beim Stichwort ›Falsifi kationismus‹ zuerst denken mag, war Falsifizierbarkeit übrigens kein Sinnkriterium, sondern ›nur‹ ein Abgrenzungskriterium zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft, vgl. Karl R. Popper: Logik der Forschung, § 6. Das wohl bekannteste Beispiel falsifikationistischer Metaphysikkritik ist Antony Flews Diskussion der berühmten Gärtnerparabel in: Theology and Falsification. 14 Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass sich sowohl aus verifi kationistischem wie falsikationistischem Sinnkriterium die paradoxe Konsequenz ergäbe, dass bestimmten Aussagen Sinn zukommt, obwohl ihre jewei5 6

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ligen Negationen sinnlos sind. (E) etwa ist strikt verifi zierbar, non-(E) jedoch nicht; (G) ist strikt falsifi zierbar, non-(G) jedoch nicht. Es ist nun aber überaus plausibel anzunehmen, dass immer wenn eine Aussage sinnvoll ist, dies auch für ihre Bestreitung gilt. 15 Vgl. Moritz Schlick : Die Kausalität in der gegenwärtigen Physik; Alfred J. Ayer: Language, Truth and Logic, Kap. 1 und die Einleitung zur zweiten Auflage. 16 Vgl. dazu ausführlich Carl G. Hempel: Problems and Changes in the Empiricist Criterion of Meaning; Alvin Plantinga: God and Other Minds, Kap. 7; Christian Weidemann: Die Unverzichtbarkeit natürlicher Theologie, S. 13–39. 17 Bertrand Russell /Frederick C. Copleston: Die Existenz Gottes – eine Diskussion, S. 188; vgl. auch Bernulf Kanitscheider: Kosmologie, S. 459 f. 18 Sind unbeantwortbare Fragen, wie etwa Wittgenstein meinte (Tractatus logico-philosophicus, Satz 6.51), deshalb immer auch sinnlos? Offenbar nicht. Vgl. William Rowe: The Cosmological Argument, S. 139–143. Die Frage ›Wo fanden 1940 Olympische Spiele statt?‹ lässt sich zwar nicht beantworten, ist gleichwohl aber nicht sinnlos, denn im Jahre 1940 hätten Olympische Spiele stattfi nden können. Fragen, die auf einem Kategorienfehler beruhen, sind hingegen nicht nur faktisch unbeantwortbar, sie sind auch prinzipiell keiner Antwort fähig: Es gibt keine mögliche Welt, in der es eine Antwort auf sie gäbe. Aber selbst solche Fragen sind – wenn überhaupt – offenbar nicht in derselben Weise sinnlos wie die (ernst gemeinte) Frage ›Warum gaustert der Flügelflagel durchs Wiruwaruwolz?‹. Während man hier nur erwidern kann ›Ich verstehe die Frage nicht.‹, zeugen Reaktionen wie ›Theorien haben keine Farbe.‹, ›Steine besitzen keine moralischen Qualitäten.‹ oder ›Universen haben keine Ursache.‹ davon, dass die entsprechenden Fragen in gewisser Weise selbst von denen verstanden werden, die glauben, dass sie auf einem Kategorienfehler beruhen. Vgl. auch Derek Parfit: Why Anything?, 20.2, S. 24. 19 Vgl. Richard Gale: On the Nature and Existence of God, S. 250; Friedrich Hermanni: Warum ist überhaupt etwas?, S. 34. 20 Nach Russell ist der Begriff ›Universum‹ zwar bisweilen ›praktisch‹ (handy), bezeichnet genau genommen aber nichts (doesn’t stand for anything that has a meaning), vgl. Bertrand Russell/Frederick C. Copleston: Die Existenz Gottes – eine Diskussion, S. 186, zur Verteidigung dieser Ansicht siehe William Rowe: The Cosmological Argument, S. 134 f. 21 Vgl. dazu sehr ausführlich William Rowe: The Cosmological Argument, S. 135–141. 22 Vgl. Stephen Maitzen: Stop Asking Why There’s Anything. 23 Maitzen erwidert auf den ähnlichen Einwand eines anonymen Reviewers, dass die bloße Tatsache, dass man über Sortale quantifi zieren könne, noch nicht zeige, dass jede Frage, die über Sortale quantifi ziere, sinnvoll sei (vgl. ebd., S. 59). Doch eine solche Auskunft ist völlig unzureichend, denn die Beweislast, dass eine in obiger Weise modifi zierte ›L-Frage‹ (›Warum ist zuminZur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 321

dest ein Sortalbegriff exemplifi ziert?‹) sinnlos ist, liegt bei Maitzen, und der gebetsmühlenartig wiederholte Verweis auf vermeintliche Dummy-Sortale oder unsinnige Zählfragen hilft ihm an dieser Stelle nicht mehr weiter. 24 Vgl. ebd., S. 62. 25 David Hume: Dialogues Concerning Natural Religion, Kap. 9. 26 Vgl. Stephen Maitzen: Stop Asking Why There’s Anything, S. 53. 27 Paul Edwards: The Cosmological Argument; vgl. außerdem Joseph K. Campbell: Hume’s Refutation of the Cosmological Argument. 28 Vgl. z. B. Richard Gale: On the Nature and Existence of God, S. 254–256. 29 Vgl. hierzu etwa William Rowe: The Cosmological Argument, S. 154–159. 30 Alexander R. Pruss: The Principle of Sufficient Reason, S. 43 f.; Friedrich Hermanni: Warum ist überhaupt etwas?, S. 32, gibt ein ähnliches Beispiel. 31 Alexander R. Pruss: The Principle of Sufficient Reason, S. 44–46. 32 Man beachte, dass t0 nicht zur Flugbahn der Kanonenkugel gehört und dass besagte Flugbahn keinen Anfangszeitpunkt hat. Pruss setzt voraus, dass Zeit nicht diskret, sondern kontinuierlich ist, d. h., dass in einem beliebigen Zeitintervall unendlich viele Zeitpunkte liegen. Die Quantenmechanik mag (anders als Relativitätstheorie und Standardmodell der Teilchenphysik) ein diskretes, ›quantisiertes‹ Zeitverständnis nahelegen (Planck-Zeit), doch das wäre für die Aussagekraft obigen Beispiels nur relevant, falls es nicht nur physikalisch, sondern auch logisch oder metaphysisch unmöglich wäre, dass Zeit kontinuierlich verläuft. Für Letzteres spricht aber, soweit ich sehe, wenig. Vgl. aber oben Abschn. 4.1 (bes. Anm. 81). 33 Vgl. Peter van Inwagen: Why is There Anything at All, S. 95 f. 34 Falls Gott ein raum- und zeitloses Wesen sein sollte, ließe sich die Definition ›konkreter Entitäten‹ ggf. so erweitern, dass auch Wesen, die kausal auf Vorgänge in Raum und Zeit wirken, unter sie fallen. 35 Vgl. E. J. Lowe: Why is There Anything at All; ders.: Metaphysical Nihilism and the Subtraction Argument. 36 Vgl. schon Gottlob Frege: Die Grundlagen der Arithmetik, Einleitung. Auch wenn es natürlich in manchen möglichen Welten ausgeschlossen, unwahr oder falsch wäre zu sagen, dass ›2 + 2 = 4‹, entweder weil es gar keine Personen in diesen Welten gibt oder die verwendeten Ausdrücke in ihnen gar nichts oder etwas anderes bedeuten. 37 Vgl. z. B. Bede Rundle: Why There is Something Rather than Nothing, S. 131–147, bes. S. 143. 38 Wegweisend für den modernen mathematischen Nominalismus war ein programmatischer Aufsatz Nelson Goodmans und W. V. O. Quines (Steps Towards a Constructive Nominalism (1947)), besondere Wirkung hatte auch die Kritik am Platonismus durch Paul Benacerraf in den 60er und 70er Jahren. Vgl. die historische und systematische Übersicht in Leon Horsten: Philosophy of Mathematics, und die kritische Diskussion nominalistischer Strategien in: John P. Burgess/Gideon Rosen: A Subject with No Object. Vertreter einer jün322 | christian weidemann

geren, besonders radikalen Form des Nominalismus, die sog. Fiktionalisten, pfl ichten Lowe zwar bei, dass es abstrakter Objekte bedürfe, um Aussagen wie ›2 + 2 = 4‹ wahr zu machen, leugnen jedoch, dass es solche Objekte gibt. Nichts in der Mathematik sei buchstäblich wahr, es handle sich bei ihr vielmehr um eine nützliche Fiktion. Vgl. z. B. Hartry Field: Realism, Mathematics, and Modality. 39 Lowe hält sowohl Zahlen als auch Propositionen für eine bestimmte Art Universale – im Gegensatz zu vielen Philosophen, die in ihnen Mengen sehen. Dieser Streit ist jedoch für den Fortgang obigen Arguments irrelevant. Einige Autoren nehmen ferner an, dass Propositionen abstrakte Einzelgegenstände sui generis sind. Da gemäß solcher Konzeptionen Propositionen jedoch wiederum Universalien als notwendige Bestandteile enthalten, ließe sich Lowes Argument wohl ggf. modifi zieren, um dieser Komplikation Rechnung zu tragen. 40 Dies legt einen nach Lowe weder darauf fest, dass Universalien zu jedem Zeitpunkt instanziiert sein müssen, noch darauf, dass Universalien vollständig in ihren Instanzen ›gegenwärtig‹ sind. Falls Letzteres der Fall wäre, könnten jene Universalien, die konkrete Instanzen in Raum und Zeit haben, nicht länger als abstrakte Entitäten gelten. 41 Das heißt nicht, dass es keine Mengen geben kann, die ausschließlich Mengen als Elemente enthalten, sondern nur, dass nicht alle Mengen ausschließlich Mengen enthalten können. 42 Universalien und Mengen sind nicht im selben Sinne voneinander abhängig. Während ein bestimmtes Universale nur existieren kann, wenn es irgendwelche Instanzen hat, ist die Existenz einer bestimmten Menge abhängig von der Existenz ganz bestimmter Elemente. Die Identität einer Menge wird bestimmt durch die Identität ihrer Elemente, während die Identität eines Universale nicht bestimmt wird durch die Identität der Instanzen. 43 Vgl. die Debatte zwischen Gonzalo Rodriguez-Pereyra (Lowe’s Argument against Nihilism; Metapysical Nihilism Defended) und E. J. Lowe (Metaphysical Nihilism and the Subtraction Argument). 44 David Lewis: The Paradoxes of Time Travel. 45 Ein interessantes Argument für die Unmöglichkeit von Kausalschleifen fi ndet sich bei D. H. Mellor: Causation and the Direction of Time. Kritisch dazu Jan Faye: Backward Causation, § 3.1. 46 Nicht alle Universalien und Mengen sind unabhängig vom (menschlichen) Denken. Das Universale ›intelligent‹ z. B. ist (für den aristotelischen Realisten) abhängig von seiner Instanziierung in vernunftbegabten Wesen. 47 Thomas Baldwin: There might be Nothing; Gonzalo Rodriguez-Pereyra : There might be Nothing. 48 Dies folgt nur in hinreichend starken modallogischen Systemen: Vorausgesetzt ist das für System S4 charakteristische Axiom der Transitivität der Zugänglichkeitsrelation zwischen möglichen Welten (wenn es möglich ist, dass p möglich ist, dann ist p möglich). Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 323

Vgl. Alexander Paseau: Why the Substraction Argument Does Not Add Up. Es ist außerdem zweideutig. Nach einer Lesart besagt (3), dass durch die Nicht-Existenz irgendeines dieser Objekte nicht die Existenz irgendeines bestimmten Objekts aus w1 notwendig gemacht wird, nach einer anderen, dass die Nicht-Existenz irgendeines dieser Objekte es nicht notwendig macht, dass irgendetwas aus w1 existiert. 50 Vgl. Gonzalo Rodriguez-Pereyra : Metaphysical Nihilism Defended. 51 Siehe z. B. Timothy O’Connor : Th eism and Ultimate Explanation, S. 32–61. Vgl. aber auch Stephen Yablo: Is Conceivability a Guide to Possibility?. Yablo unterscheidet u. a. in instruktiver Weise verschiedene Arten von Vorstellbarkeit, wobei er die Ansicht verteidigt, dass die Vorstellbarkeit einer Proposition p im relevanten ›philosophischen‹ Sinne (»p is conceivable for me if I can imagine a world that I take to verify p«) zumindest immer auch eine prima facie-Rechtfertigung für die Möglichkeit von p liefert. 52 Vgl. Peter van Inwagen: Ontological Arguments; ders.: Modal Epistemology. 53 David Hume: An Enquiry concerning Human Understanding, Kap. 10, Teil 1. 54 Vgl. Christian Weidemann: Die Unverzichtbarkeit natürlicher Theologie, S. 277–297. Zum Gebiet der modalen Erkenntnistheorie (Modal Epistemology), das in den letzten zwei Jahrzehnten eine rasante Entwicklung genommen hat, vgl. z. B. den Übersichtartikel von Anand Vaidya: The Epistemology of Modality. 55 Auch aus den (sehr unterschiedlichen) Konzeptionen möglicher Welten bei zwei der wichtigsten Vertreter analytischer Ontologie, David Lewis und David Armstrong, ergibt sich, dass eine Welt ohne konkrete Objekte unmöglich ist. Vgl. David Lewis: On the Plurality of Worlds, S. 73; David Armstrong: A Combinatorial Theory of Possibility, S. 93; Thomas Baldwin: There might be Nothing, S. 231. (Lowes aristotelischer Realismus ist nach meinem Eindruck gegenwärtig allerdings ungleich populärer – und plausibler – als die kombinatorische Theorie möglicher Welten Armstrongs oder gar der Mögliche-Welten-Realismus Lewis’.) Die Auffassung, dass jede wahre Proposition ›wahr gemacht wird‹ durch eine bestimmte korrespondierende positive Realität, scheint ebenfalls unverträglich mit der Möglichkeit einer Welt zu sein, in der nichts Konkretes existiert. Denn in einer solchen Welt wäre die Proposition ›Es existieren keine konkreten Gegenstände.‹ wahr, aber es gäbe sicherlich keine positive Realität, die diese Proposition wahr machte. Allerdings ist sehr fraglich, ob die Forderung nach Wahrmachern sinnvoll auch für negative Aussagen erhoben werden kann. Was etwa macht die (wahre) Aussage ›Es gibt keine siebenbeinigen Hunde.‹ wahr? Vgl. jedoch die Diskussion bei Alexander R. Pruss: The Principle of Sufficient Reason, S. 23–25, 33–35. 56 Vgl. Robert Nozick : Philosophical Explanations, S. 127 f.; Peter van In49

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wagen: Why is There Anything at All?, S. 99 f. Meine Darstellung folgt van Inwagen. 57 Vgl. Spinoza : Die Ethik, I, prop. 33 und Appendix. Spinozas Auffassung, dass alles, was ist, notwendigerweise so ist, wie es ist, und daher die Rede von Möglichkeiten nichts weiter als ein Gradmesser unserer Unwissenheit sei, wird heute von so gut wie niemandem mehr verteidigt. Vgl. die erhellende Diskussion bei Jonathan Bennett: A Study of Spinoza’s ›Ethics‹, S. 111–124. 58 Hier wird vorausgesetzt, dass Wahrscheinlichkeiten ausschließlich die Werte reeller Zahlen annehmen können. Manche Autoren haben im Anschluss an Abraham Robinsons Non-Standard Analysis infi nitesimale Wahrscheinlichkeiten verteidigt, d. h. Wahrscheinlichkeiten, die zwar größer sind als 0, aber kleiner als jede reelle Zahl größer 0; vgl. z. B. Richard Swinburne: Epistemic Justification, Additional Note G. Ob das Argument nun aber für die Nichtexistenz konkreter Entitäten eine Wahrscheinlichkeit von 0 oder eine unendlich kleine Wahrscheinlichkeit größer 0 ergibt, erscheint ziemlich unerheblich. 59 Vgl. Peter van Inwagen: Why is There Anything at All?, S. 101. 60 Vgl. E. J. Lowe: Why is There Anything at All?, S. 114 f. 61 Immer unter der Voraussetzung, dass überhaupt eine Welt ohne konkrete Entitäten möglich ist, was Lowe ja, wie wir gesehen haben, bestreitet. Selbst falls gezeigt werden könnte, dass eine mögliche Welt mit ausschließlich abstrakten Entitäten auch kontingente abstrakte Entitäten enthält, wäre damit übrigens immer noch nicht gezeigt, dass es mehr als eine mögliche Welt mit ausschließlich abstrakten Entitäten gibt. Dafür müsste man zeigen, dass es kontingente abstrakte Objekte gibt, die nicht jeder Welt mit ausschließlich abstrakten Entitäten angehören. Falls dies nämlich der Fall wäre, fehlte erneut ein Unterscheidungsmerkmal zwischen solchen Welten. 62 Der Begriff ›apriorische Wahrscheinlichkeit‹ kann in die Irre führen, da ich z. B. a priori – vor aller Erfahrung – weiß, dass es mindestens ein denkendes Wesen gibt (nämlich mich) und also nicht nichts. Doch damit allein ist natürlich noch nicht ausgeschlossen, dass es nicht auch keine denkenden Wesen hätte geben können. Während der Begriff ›apriorische Wahrscheinlichkeit‹ also ungewollt nahelegt, der Proposition, dass etwas existiert, eine Wahrscheinlichkeit von 1 zuzusprechen, gibt die intrinsische oder apriorische Wahrscheinlichkeit tatsächlich die Wahrscheinlichkeit einer Proposition ausschließlich relativ zu logisch oder metaphysisch notwendigen Wahrheiten an. Und bei meiner Existenz handelt es sich wohl kaum um eine solche Wahrheit. 63 Vgl. John Maynard Keynes: A Treatise on Probability; Rudolf Carnap: Logical Foundations of Probability; Richard Swinburne: Epistemic Justification. 64 Vgl. D. H. Mellor : Too many Universes. 65 Zu ähnlichen Beispielen (vor allem: Bertrands Paradox) vgl. John Maynard Keynes: A Treatise on Probability, Kap. 4. Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 325

Vgl. allerdings die Diskussion bei Richard Swinburne: Epistemic Justification, S. 115–119. 67 Robert Nozick : Philosophical Explanations, S. 127 f., glaubt, anders als van Inwagen, offenbar nicht, dass es gute Gründe gibt, eine ganz bestimmte Einteilung der Alternativen anderen Einteilungen vorzuziehen. Er schlägt vor, den unendlich vielen verschiedenen Möglichkeiten der Einteilung der Alternativen selbst wiederum gleiche Wahrscheinlichkeiten zuzusprechen, womit (7) unangefochten bliebe. Doch es ist unklar, warum die Anwendung des Indifferenzprinzips hier unproblematischer sein sollte als zuvor. 68 Richard Swinburne: Is There a God?, S. 48. 69 Einen Überblick bietet Alan Baker : Simplicity. 70 Swinburne unterscheidet sechs ›Facetten‹ der Einfachheit von Hypothesen: 1) die Anzahl der postulierten Entitäten; 2) die Anzahl der postulierten Typen von Entitäten; 3) (stark vereinfacht ausgedrückt:) die Verständlichkeit der Hypothese; 4) die Anzahl an postulierten Gesetzen; 5) die Anzahl an in diesen Gesetzen vorkommenden Variablen und 6) mathematische Einfachheit, vgl. Richard Swinburne: Epistemic Justification, S. 87–90. Bei den Merkmalen 1 und 2 handelt es sich im Wesentlichen um das, was man gemeinhin als ›Ockhams Rasiermesser‹ bezeichnet. 71 So z. B. Bas van Fraassen: The Scientific Image, bes. S. 90. 72 So etwa Adolf Grünbaum: The Poverty of Theistic Cosmology, S. 586– 590, der gegen Swinburne einwendet, dass die Frage nach der ›Natürlichkeit‹ oder ›Wahrscheinlichkeit‹ bestimmter Eigenschaften unseres Universums sich sinnvoll nur relativ zu empirisch bestätigten Theorien stellen lasse. 73 Vgl. Richard Swinburne: Epistemic Justification, bes. Kap. 3 und 4, sowie Richard Swinburne: The Existence of God, bes. Kap. 3. 74 Vgl. E. J. Lowe: Why is There Anything at All, S. 113. Man sollte vielleicht besser von elefantenähnlichen Wesen sprechen, denn es ist nicht klar, ob für Elefanten nicht wesentlich ist, dass sie z. B. Pflanzen fressen, eine bestimmte evolutionäre Entwicklung hinter sich haben usw. 75 Ich kann hier leider den subtilen Versuchen van Inwagens , den Einwänden (a) und (b) zu begegnen, keine hinreichende Gerechtigkeit widerfahren lassen, vgl. aber Peter van Inwagen: Why is There Anything at All, S. 101– 109. 76 Eine Form des Arguments wurde bereits vor mehr als 1000 Jahren von islamischen Philosophen entwickelt, der bekannteste Vertreter ist al-Ghazali. Der Ausdruck ›kalam‹, der im Arabischen ursprünglich nur ›Rede‹ bedeutete, stand später auch synonym für ›Natürliche Theologie‹. 77 Vgl. zuletzt William L. Craig /James Sinclair : The Kalam Cosmological Argument; William L. Craig: Der kosmologische Kalam-Gottesbeweis. 78 Laut Craig kommt die »abgesehen vom Universum« unveränderliche und zeitlose Ursache des Universums selbst in die Zeit, sobald das Univer66

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sum zu existieren beginnt, vgl. William L. Craig: Der kosmologische KalamGottesbeweis, S. 597 (Anm. 56), und ausführlich William L. Craig: God, Time, and Eternity, Kap. 6. 79 Craig äußerst sich, soweit ich sehe, nicht dazu, warum nicht auch mehrere körperlose Geister für die Existenz des Universums verantwortlich sein könnten, sondern wendet offenbar implizit ein ontologisches Sparsamkeitsprinzip an. 80 Vgl. aber die besonders gründliche und ausführliche Kritik des Arguments bei Graham Oppy: Arguing about Gods, S. 137–154. 81 Hilberts Hotel: Ein Hotel hat unendlich viele Zimmer, die alle belegt sind. Trotzdem können beliebig viele (sogar unendlich viele) neue Gäste untergebracht werden, indem z. B. jeder Gast in ein Zimmer mit doppelt so großer Zimmernummer verlegt wird. Kein Gast muss ausquartiert werden und doch sind unendlich viele Zimmer mit ungerader Nummer frei geworden. Tristram Shandys Memoiren: Tristram Shandy benötigt bei Abfassung seiner Autobiographie zur Beschreibung jedes Tags seines Lebens ein Jahr. Tristram gerät also unweigerlich in immer größeren Rückstand. Lebt er jedoch unendlich lange (und lässt ihn sein Gedächtnis nicht im Stich), wird trotzdem kein Teil seines Lebens unbeschrieben bleiben. Eine übersichtliche Zusammenstellung von vermeintlichen Paradoxien rund um den Unendlichkeitsbegriff fi ndet sich in Graham Oppy: Philosophical Perspectives on Infinity, S. 7–19. Auf das für die Anhänger aktualer Unendlichkeit vielleicht kniffl igste ›Puzzle‹ macht Alexander R. Pruss: From the Grim Reaper Paradox to the Kalam Argument, aufmerksam: Grim Reaper: Nehmen wir an, es gibt unendlich viele Schnitter (Sensenmänner). Jeder der Schnitter tritt zwischen 11.00 und 11.01 Uhr auf den Plan und zwar jeweils so, dass der nte Schnitter um 11.00 Uhr + 1/n Minute erscheint. Alle Schnitter haben die Eigenschaft , dass, falls Fred noch am Leben ist, sie ihn unverzüglich umbringen, ansonsten tun sie nichts. Fred ist also um 11.01 Uhr mit Sicherheit tot, denn es ist unmöglich, das Auft reten eines Schnitters zu überleben. Doch wann genau ist Fred gestorben? Es scheint, dass keiner der Schnitter Fred umbringen konnte, denn vor jedem von ihnen gab es bereits einen anderen, der ihm zuvorgekommen wäre! Ist Fred nun tot oder lebendig? Eine mögliche Lösung des Rätsels findet sich bei Stephen Yablo: A Reply to new Zeno. (Hinweis von Martin Pleitz) 82 Vgl. z. B. Joachim Bromand : Gottesbeweise vor dem Hintergrund der modernen Wissenschaft , S. 505–508. 83 Vgl. John Earman: Bangs, Crunches, Whimpers and Shrieks, S. 207–209; Bernulf Kanitscheider: Kosmologie, S. 261 f.; Graham Oppy : Arguing about Gods, S. 146 f., 149, 156; J. Howard Sobel: Logic and Theism, S. 198 f. Erstaunlicherweise verteidigt Craig selbst einen ähnlichen Einwand gegen ein atheistisches kosmologisches Argument Quentin Smiths, vgl. William L. Craig: Theism and Big Bang Cosmology, S. 496–499. 84 Zumindest solange nicht der Satz vom zureichenden Grunde angenomZur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 327

men wird, der eine Erklärung der unendlich langen anfangslosen Reihe selbst erforderte (vgl. oben Pruss’ Kanonenbeispiel). Die Attraktivität des KalamArguments beruht aber in erheblichem Maße gerade darauf, dass es ohne den Satz vom zureichenden Grunde auskommt und nur auf die sehr viel schwächere Prämisse (1) angewiesen ist. 85 William L. Craig: Der kosmologische Kalam-Gottesbeweis, S. 595. 86 Vgl. Joachim Bromand: Gottesbeweise vor dem Hintergrund der modernen Wissenschaft, S. 509 f. 87 Unter einem ›Universum‹ verstehe ich hier die Gesamtheit der physischen Realität. 88 Rekonstruiert nach Richard Swinburne: The Existence of God, Kap. 7. Swinburne selbst beansprucht mit dem kosmologischen Argument nur ein sog. C-induktives Argument zu liefern, das die Hypothese der Existenz Gottes wahrscheinlicher macht, nicht jedoch ein P-induktives Argument, das sie wahrscheinlich (> 50 %) macht. Doch aus Swinburnes Argument ergibt sich mehr, nämlich dass, zumindest solange man von möglichen Anhaltspunkten wider die Existenz Gottes (Theodizeeproblem u. a.) absieht, die Existenz eines physikalischen Universums das Dasein Gottes wahrscheinlicher macht als sein Nicht-Dasein. 89 Ich kann hier nicht mehr als eine Karikatur des Swinburneschen Arguments liefern, ausführlicher dazu vgl. ebd., S. 112–131. 90 Zu den Gründen hierfür vgl. ebd., S. 119–123. 91 Vgl. Gerhard Streminger : Gottes Güte und die Übel der Welt, S. 158–173; siehe auch William Styrons Roman Sophie’s Choice, in dem eine Auschwitzgefangene wählen muss, welches ihrer beiden Kinder in die Gaskammer geschickt werden soll. 92 Vgl. z. B. Jan Narveson: God by Design? 93 Vgl. oben Abschn. 3.4. 94 Vgl. Richard Swinburne: The Existence of God, S. 55; ders.: Simplicity as Evidence of Truth, S. 27 f. 95 Vgl. z. B. Richard Dawkins: The God Delusion, S. 176–179. Dawkins missversteht freilich Swinburnes Konzeption von Einfachheit. 96 Vgl. Graham Oppy : Arguing about Gods, S. 208; John L. Mackie: Das Wunder des Theismus, S. 161. 97 Siehe den Beitrag von Josef M. Gaßner, Harald Lesch und Jörn Müller in diesem Band. 98 Vgl. zu diesen und weiteren Feinabstimmungsphänomenen: John Barrow/Frank Tipler: The Anthropic Cosmological Principle; John Leslie: Universes, Kap. 2 und 3; Martin Rees: Just Six Numbers; Robin Collins: The Teleological Argument, S. 211–226. 99 Für all diese Naturkonstanten gilt, dass sie nicht aus unseren besten gegenwärtigen physikalischen Theorien – Standard-Big-Bang-Modell, Relativitätstheorie, Quantenmechanik, Vereinheitlichte Theorie der schwachen und 328 | christian weidemann

starken Kernkraft sowie der elektromagnetischen Kraft – ableitbar sind, sie mussten empirisch bestimmt bzw. gemessen werden. 100 Vgl. z. B. John Leslie: Universes; Richard Swinburne: The Existence of God, Kap. 8; Robin Collins: The Teleological Argument. 101 Die meisten von ihnen diskutiere ich überblicksartig in: Christian Weidemann: Zufall, Gott oder Multiversum?; vgl. außerdem Robin Collins: The Teleological Argument; Neil Manson (Hg.): God and Design. 102 Der Begriff des ›Universums‹, der hier natürlich nicht mehr das All der Realität bezeichnet, bedarf genauerer Klärung. Kann es z. B. eine raumzeitliche Verbindung zwischen zwei ›Universen‹ geben oder soll das begriffl ich ausgeschlossen sein? 103 Vgl. Martin Rees: Just Six Numbers; Alex Vilenkin: Many Worlds in One; Brian Greene: The Hidden Reality. 104 Worauf besonders Swinburne, z. B. The Existence of God, S. 185 f., immer wieder insistiert hat. Es ist aber fraglich, ob es wirklich sparsamer ist, eine ganz neue Art von Entität, nämlich Gott, zu postulieren. 105 Vgl. vor allem Roger White: Fine-Tuning and Multiple Universes, aber auch die Kritik bei Nick Bostrom: Anthropic Bias, S. 18–23. 106 Das Beispiel geht auf Arthur Eddington: The Philosophy of Physical Science, S. 16–19, zurück. 107 Ein solcher Einwand ist in verschiedenen Varianten vor allem von Elliot Sober vorgetragen worden, vgl. zuletzt Elliott Sober: Absence of Evidence and Evidence of Absence. 108 Die erste Formulierung dieses Prinzips geht auf Brandon Carter : Large Number Coincidences and the Anthropic Principle in Cosmology, zurück. Vgl. die Diskussion anthropischer Prinzipien bei John Barrow/Frank Tipler: The Anthropic Cosmological Principle, bes. S. 15–23 [einflussreich, aber hochgradig irreführend!]; John Leslie: Universes, Kap. 6; Nick Bostrom: Anthropic Bias, Kap. 3. 109 John Leslie: Universes, S. 13 f. 110 Swinburne bezeichnet Gott zwar als ein »notwendig existierendes Wesen«, aber dies geschieht um den Preis einer Umdeutung des Notwendigkeitsbegriffs (oder freundlicher formuliert: der Unterscheidung verschiedener Notwendigkeitsbegriffe). Die Proposition ›Gott existiert.‹ ist für Swinburne insofern notwendig, als ihre Wahrheit unabhängig ist von allem, was nicht durch sie selbst logisch impliziert wird, vgl. Richard Swinburne: The Coherence of Theism, Kap. 13 und 14, bes. S. 258 f., 277 f. Das ist aber verträglich damit, dass Gottes Existenz metaphysisch kontingent ist oder, wie Swinburne selbst sagt, der ultimative ›brute fact‹ (Richard Swinburne: The Existence of God, S. 96). 111 Der Metaphysiker, der die ›L-Frage‹ durch ein ontologisches oder kosmologisches Argument zu beantworten sucht, braucht sich – anders als der natürliche Theologe – nicht durch den Standardeinwand beunruhigen zu lassen, warum wir das notwendige Wesen, auf das in solchen Beweisen geschlosZur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 329

sen wird, ›Gott‹ nennen sollten (»et hoc dicimus Deum«, Thomas). Erst recht nicht muss er sich mit der Frage beschäft igen, was ein solches Wesen mit dem ›Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs‹ zu tun hat. Vgl. hierzu aber Alexander R. Pruss: The Leibnizian Cosmological Argument, S. 90–98 (»The Gap Problem«); Timothy O’Connor: Theism and Ultimate Explanation, Kap. 6. 112 Die bekanntesten Versionen stammen von Charles Hartshorne: Th e Logic of Perfection, S. 50 f.; Norman Malcolm: Anselm’s Ontological Arguments; Alvin Plantinga: The Nature of Necessity, Kap. 10, und Kurt Gödel: Ontological Proof. 113 Vgl. hierzu eindrücklich David Lewis: Anselm on Actuality. 114 Daher läuft Kants klassischer Einwand (›Sein ist kein reales Prädikat.‹) hier ins Leere. 115 Joachim Bromand: Gödels ontologischer Beweis und andere modallogische Gottesbeweise, S. 389, 398 f., weist unter Berufung auf Robert M. Adams darauf hin, dass Plantingas und Gödels Beweise auch unter Zugrundelegung des geringfügig schwächeren Systems B gültig sind. Zur Kritik an S5 vgl. etwa Winfried Löffler: Einführung in die Religionsphilosophie, S. 58 f. 116 Vgl. John L. Mackie: Das Wunder des Theismus, Kap. 3 (c); Graham Oppy: Ontological Arguments and Belief in God; J. Howard Sobel: Logic and Theism, S. 86–98; Joachim Bromand: Gödels ontologischer Beweis und andere modallogische Gottesbeweise, S. 387–392. 117 Auf solche mit maximaler Größe unverträgliche, gleichwohl jedoch prima facie mögliche Eigenschaften weist Plantinga selbst hin: The Nature of Necessity, Kap. 10, Abschn. 8. 118 Vgl. hierzu John L. Mackie: Das Wunder des Theismus; Graham Oppy : Ontological Arguments and Belief in God. 119 Ähnliches gilt m. E. für alle bekannten, logisch gültigen Versionen des ontologischen/modallogischen Gottesbeweises, auch wenn dies zugegebenermaßen zumindest im Falle des Gödelschen Beweises sehr viel schwerer nachzuweisen ist als im Falle Plantingas. 120 Am deutlichsten in Alvin Plantinga : God, Freedom, and Evil, S. 112. Nicht die Wahrheit, wohl aber die rationale Akzeptierbarkeit des Theismus soll nach Plantinga durch das modallogische Argument erwiesen werden: Die Annahme der Prämisse (1) sei nämlich zumindest nicht ›wider die Vernunft‹ oder ›irrational‹. Kritisch hierzu etwa J. Howard Sobel: Logic and Theism, S. 96 f. 121 Rekonstruiert nach Alexander R. Pruss: The Principle of Sufficient Reason, S. 82 f. 122 Vgl. schon Bertrand Russell /Frederick C. Copleston: Die Existenz Gottes – eine Diskussion, S. 182. 123 Vgl. insb. Saul Kripke: Naming and Necessity. 124 Vgl. Alexander R. Pruss: The Principle of Sufficient Reason, S. 92 f. Eine andere Möglichkeit, dem genannten Einwand zu begegnen, besteht darin, 330 | christian weidemann

die letzte Erklärung alles Seienden nicht in einem notwendig existierenden Wesen, sondern in einem axiologischen Prinzip, vergleichbar der (neu-)platonischen Idee des Guten, zu suchen: Alles, was existiert, existiert, weil es besser ist, dass es existiert, als dass es nicht existiert. Ein solches Prinzip des Besten ist selbsterklärend, da es fraglos besser ist, dass es existiert, als dass es nicht existiert. Leider kann ich dieser faszinierenden und oft zu Unrecht vernachlässigten Position hier keine größere Aufmerksamkeit widmen. Vgl. aber John Leslie: Universes, Kap. 8; ders.: Infinite Minds; Nicholas Rescher: Nature and Understanding, Kap. 8. Auch Friedrich Hermanni: Warum ist überhaupt etwas?, und Derek Parfit: Why Anything?, tendieren stark zu einer solchen Position. Zu den Schwierigkeiten (potenziertes Problem des Übels; modaler Fatalismus; Was für eine Art von Entität ist ein axiologisches Prinzip? usw.) vgl. John L. Mackie: Das Wunder des Theismus, Kap. 13, und Alexander R. Pruss: The Principle of Sufficient Reason, S. 86–90. 125 Vgl. Peter van Inwagen: An Essay on Free Will, S. 202–204, die Rekonstruktion folgt Alexander R. Pruss: The Principle of Sufficient Reason, S. 97 f. Ein ähnliches Argument fi ndet sich auch bei William Rowe: The Cosmological Argument, S. 99 f. 126 Vgl. (nicht allzu plausibel) Alexander R. Pruss: The Principle of Sufficient Reason, S. 148–159. 127 Vgl. Timothy O’Connor : Theism and Ultimate Explanation, S. 79–86, 153 (Endnote 13). 128 Für einen Libertarianer ist (grob gesprochen) die Entscheidung eines Akteurs X zu einem Zeitpunkt t nur dann frei, wenn zu t für den Handelnden ›echte Alternativen‹ bestehen, also zu keinem Zeitpunkt vor t determiniert war, wie X sich zu t entscheiden würde. Die sog. Kompatibilisten bestreiten hingegen, dass es sich hierbei um eine notwendige Bedingung für Freiheit handelt. Ihnen zufolge sind Freiheit und Determinismus miteinander verträglich, manche Kompatibilisten meinen sogar umgekehrt, dass Freiheit eine Form des Determinismus voraussetzt. 129 Alexander R. Pruss: The Principle of Sufficient Reason, S. 135. 130 Vgl. Peter Rohs: Libertarianische Freiheit. 131 Das würde höchstens dann folgen, wenn das notwendig existierende Wesen auch essentiell moralisch vollkommen wäre und es genau eine beste mögliche Welt gäbe. (Vgl. allerdings Robert M. Adams: Must God Create the Best?.) Dass es genau eine beste mögliche Welt gibt, ist jedoch, contra Leibniz , wenig plausibel. Vgl. z. B. Richard Swinburne: The Existence of God, S. 114 f. 132 Z. T. sehr unterschiedlich ausfallende Verteidigungen des Libertarianismus fi nden sich bei Peter Rohs: Libertarianische Freiheit; Geert Keil: Willensfreiheit; Peter van Inwagen: An Essay on Free Will; Robert Kane: The Significance of Free Will. Kompatibilistische Freiheitstheorien werden z. B. von Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit, und John M. Fischer: The Metaphysics Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 331

of Free Will, verteidigt. Keil liefert auch eine gute Einführung in die verschiedenen Probleme und Positionen. 133 Vgl. Richard Taylor : Metaphysics, S. 105, zustimmend Friedrich Hermanni: Warum ist überhaupt etwas?, S. 32 f. 134 Vgl. Brian Keeley : Of Conspiracy Theories, bes. S. 119–123. 135 Friedrich Hermanni: Warum ist überhaupt etwas?, S. 33. 136 Vgl. Alexander R. Pruss: The Principle of Sufficient Reason, S. 14 f. 137 Vgl. ebd., S. 16. Pruss diskutiert im zweiten Teil seines Buches (S. 189– 320) zahlreiche interessante Argumente zugunsten des SZG, die ich hier leider nicht darstellen, geschweige denn diskutieren kann. 138 Dafür spricht auch, dass Jim Holt mit seinem populärwissenschaftlichen Buch Why Does the World Exist? An Existential Detective Story im angelsächsischen Raum erst jüngst (2012) ein veritabler Bestseller gelungen ist. Das Buch besteht im Wesentlichen aus der Wiedergabe von Gesprächen, die Holt mit Autoren wie Adolf Grünbaum, Richard Swinburne, John Leslie oder Derek Parfit geführt hat.

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Zur Diskussion in der Analytischen Philosophie | 337

– Josef M. Gassner · Harald Lesch · Jörn Müller –*

Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Ansätze und Perspektiven der Physik und Kosmologie

1. Einleitung Die Frage ›Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?‹ gehört zu den zentralen Problemen der Philosophie und kann als metaphysische Grundfrage bezeichnet werden. Ein metaphysischer Systementwurf untersucht in seiner klassischen Form die zentralen Probleme der theoretischen Philosophie: die Beschreibung der Fundamente, Voraussetzungen, Ursachen oder ›ersten Gründe‹, die Gesetzlichkeiten und Prinzipien sowie den Sinn und Zweck der gesamten Wirklichkeit bzw. allen Seins. Kurt Gödel, der sich mit den Grenzen mächtiger formaler Systeme beschäftigte, konnte 1931 zeigen, dass es unmöglich ist, ein System von Aussagen aus sich selbst heraus zu begründen. Entsprechend diesem wichtigen nach ihm benannten Unvollständigkeitssatz gibt es in hinreichend mächtigen Systemen, wie sie beispielsweise die Metaphysik darstellt, Aussagen, die weder formal zu beweisen noch zu widerlegen sind. Das heißt: Jedes hinreichend mächtige formale System ist entweder widersprüchlich oder unvollständig beziehungsweise kann nicht zum Beweis seiner eigenen Widerspruchsfreiheit verwendet werden. Damit ist klar, dass die Frage nach den Gründen des Seins nicht zu lösen ist. Aber sie hat ihre Faszination nicht verloren und kann gerade und vor allem in der Physik als Leitfaden dienen und das aus mehreren Gründen. Pointiert formuliert: Es gibt keine Physik ohne Metaphysik. Das Scheitern dieser ontologischen Kernfrage macht klar, dass auch die Physik als Wissenschaft von der Natur * Die Abschnitte 1 bis 5 sowie 8 und 9 wurden von Harald Lesch verfasst, der Abschnitt 6 von Josef M. Gaßner und der Abschnitt 7 von Jörn Müller. | 339

nur unter Voraussetzungen durchgeführt werden kann, die sie selbst nicht begründen kann. Das soll an drei Stichpunkten erklärt werden.

2. Die drei metaphysischen Säulen der Physik 2.1 Die Ordnung in der Natur Die physikalische Erforschung der Vorgänge in der Natur ist eine quantitative Tätigkeit, d. h. es wird gemessen und gerechnet. Es wird vorausgesetzt, dass sich Mess- und Rechengrößen aus der unendlichen Vielfalt der natürlichen Möglichkeiten so definieren und isolieren lassen, dass man sie einzeln behandeln und darstellen kann. Das setzt voraus, dass es in der Natur, zumindest in Teilen, eine Ordnung gibt, die sich in quantitativer Form wiedergeben lässt. Physik setzt Ordnung voraus, kann sie aber nicht begründen. Das Modell einer geordneten Natur, in der sich Elemente ineinander verwandeln, in der Kräfte am Werk sind, die unserer Erkenntnisfähigkeit grundsätzlich zugänglich sind, ist der Beginn der griechischen Philosophie, also der vorsokratischen Naturphilosophen. Dieses Modell steht am Anfang der Philosophie und ist bis heute der harte Kern der Physik. Dies gilt insbesondere auch für die Astrophysik, die physikalische Untersuchungsmethode der Strukturelemente des Universums und für die Kosmologie, die Lehre vom ganzen Universum als Untersuchungsobjekt.

2.2 Die Naturgesetze Die Physik geht nicht von einer beliebigen Ordnung in der Natur aus, sondern von einer durch mathematische Gesetzmäßigkeiten strukturierten Ordnung. Die Physik sucht explizit nach diesen Naturgesetzen. Nach Gerhard Vollmers Definition sind Naturgesetze zunächst einmal Beschreibungen von Regelmäßigkeiten im Verhalten realer Systeme.1 In einem ersten Schritt wird niemand ein Naturgesetz formulieren. Es wird schrittweise mit immer höherer Präzision auf ein Phänomen angewandt und dabei immer genauer 340 | josef m. gassner · harald lesch · jörn müller

bestätigt. Zumeist zeichnen sich die Naturgesetze dadurch aus, dass sich ihre Anwendung auf Bereiche der Wirklichkeit ausdehnen lässt, an die man anfänglich nie gedacht hätte. Aber auch hier gilt, die Forderung nach solchen universellen, bedingten, synthetischen, relationalen Aussagen, die als wahr akzeptierbar sind, irreale Konditionalsätze stützen können und Notwendigkeitscharakter tragen, lässt sich aus der Physik selbst nicht begründen.2 Die Physik setzt diese Gesetze voraus und hofft, dass sie sich bestätigen lassen. Die Naturgesetze, die wir auf der Erde entdecken, sollen überall im Universum gültig und auf die Entwicklung des gesamten Kosmos anwendbar sein. Wobei als Einschränkung zu beachten ist, dass es noch weitere Gesetzmäßigkeiten geben kann, die wir noch nicht kennen, die wir aber durch die Erforschung des Universums, mit seinen teilweise extremen Materie- und Energiestrukturen, vielleicht noch entdecken werden. Diese neuen Naturgesetze dürfen denen, die wir bereits kennen und mit Hilfe hoch präziser Experimente bestätigen konnten, nicht widersprechen. Unser Bestand an Naturgesetzen ist die ›Minimalausrüstung‹; es mag noch andere geben, aber prinzipielle Grenzen wie die Lichtgeschwindigkeit oder das Plancksche Wirkungsquantum müssen auch von neuen Naturgesetzen als Grenzen wiedergegeben werden. Damit ist auch die Anwendung und Erweiterung der Naturgesetze auf den gesamten Kosmos gemeint.

2.3 Der ontologische Realismus Der ontologische Realismus geht von der Grundannahme aus, dass es eine Welt ›da draußen‹ gibt, die in ihrer Existenz und in ihren Eigenschaften unabhängig von unserem Bewusstsein ist. Das Mobiliar dieser Welt ist äußerst sparsam: Raum-Zeit, Materie (Teilchen und Felder) und Energie. Die reale Welt ist evolutionär, vergänglich, zusammenhängend, separabel und quasi-kontinuierlich, d. h., absoluter Zufall ist möglich. Einige Wechselwirkungen sind schwächer als andere, so dass man Dinge zerlegen und voneinander trennen kann oder wenigstens der Fehler nicht gar zu groß ist, wenn man sie als getrennt betrachtet und behandelt, obwohl sie – wie die Quarks – ›eigentlich‹ gar nicht trennbar sind. Ansätze und Perspektiven der Physik und Kosmologie | 341

Für den ontologischen Realismus spricht vor allem das Scheitern von Theorien. Denn woran sollte eine Theorie scheitern, wenn nicht daran, dass es tatsächlich eine Welt gibt, die anders ist, als die Theorie behauptet? Zudem gibt es eine bemerkenswerte Konvergenz physikalischer Forschung, dass nämlich Personen aus völlig unterschiedlichen Kulturen bei ihren Experimenten zu den gleichen Ergebnissen kommen. Die elektrische Elementarladung eines Elektrons hat in indischen Laboratorien exakt den gleichen Wert wie in brasilianischen Forschungseinrichtungen oder im Large Hadron Collider am europäischen Forschungszentrum CERN in der Schweiz. Dies gilt selbstverständlich auch für andere Planeten und andere Sterne in anderen Galaxien. Es gibt keine ›Harry-PotterInseln‹ im Universum, in der andere Realitäten existieren, mit anderen Ordnungsparametern und Naturgesetzen als bei uns. Damit haben wir die wesentlichen metaphysischen Grundlegungen für die Untersuchung der Natur mit physikalischen Mitteln zusammengefasst: Natur – Ordnung – Gesetz. In einer ersten kurzen Zwischenbilanz kann man also bereits den Wert metaphysischer Spekulationen, obschon grundsätzlich unentscheidbarer Natur, erkennen. Sie liefern nämlich das Fundament, auf dem sich das Unternehmen ›Physik als Grundlagenwissenschaft‹ abspielt. Für die Physik als angewandte Forschung, die zur Entwicklung von Technologien führt, sind metaphysische Aussagensysteme zunächst weniger relevant, weil es sich bei der Technik um ein vom Menschen gemachtes Design handelt. Die Frage nach dem Urgrund technischen Seins lässt sich deshalb auf triviale Weise beantworten.

3. Die Bedingung der Möglichkeit, Fragen zu stellen Die Frage nach dem Urgrund des Seins selbst liefert aber noch weitere Perspektiven, die zu einer ausführlichen Diskussion einladen. Sie führt zu einer interessanten Variante der Kantschen Fragetechnik, nämlich nach den Bedingungen dafür, dass überhaupt etwas möglich ist. Hier ist es die unabdingbare Voraussetzung, dass jemand die Frage nach dem Urgrund des Seins stellen kann. Wer fragt und wonach? Die Frage setzt den Fragesteller voraus und dass diese 342 | josef m. gassner · harald lesch · jörn müller

Frage sinnvoll nach etwas fragt, was vor ihm schon da war. Wir fragen also nach den Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit die Person existieren, damit sie die metaphysische Grundfrage stellen kann. Die Antwort lautet: Die Materie, aus der die Person aufgebaut ist, muss stabil sein, d. h., sie darf nicht zerfallen. Außerdem muss die Person mit sich selbst und der Materie um sie herum in dauerhafte und für sie selbst nachvollziehbare Wechselwirkungen treten können. Dies bedeutet, die Person muss sich selbst als Individuum wahrnehmen und ihre Erfahrungen mit sich und der Welt in einem logischen Rahmen einordnen können. Hierzu sind Sinneswahrnehmungen und deren mentale Verarbeitung unerlässlich. Den entsprechenden Verarbeitungsapparat stellt das menschliche Gehirn dar. Es sorgt für die Korrespondenz des Äußeren mit den individuellen Konstruktionen, indem es das Äußere rekonstruiert. Wir wollen hier keine evolutionäre Erkenntnistheorie betreiben, sondern den Bedingungen der Möglichkeit der Existenz einer wahrnehmenden Person nachgehen. Stabilität und Wechselwirkungen der Materie stehen dann auf dem Programm. Eine der wichtigsten Erkenntnisse in der gesamten Menschheitsgeschichte ist die Entdeckung, dass unsere Welt aus Atomen besteht. Auf dem Planeten Erde hat sich im Rahmen der planetaren Evolution tote Materie in lebendige Materie verwandelt. Die genauen Umstände sind bis heute immer noch Gegenstand der Forschung, es gibt eine ganze Reihe verschiedener Theorien dazu. Unbestritten aber ist: Lebewesen bestehen aus Molekülen, sehr großen Molekülen, deren Grundbestandteile Atome sind. Die Frage nach den materiellen Grundlagen der Person, die die metaphysische Grundfrage nach dem Grund des Seins stellt, lässt sich also übersetzen in das Problem der Stabilität der atomaren Bausteine, die die Person aufbauen. Und mit dieser veränderten Perspektive landen wir bei der wichtigsten Theorie der Physik, der Quantenmechanik. Sie klärt eines der mysteriösesten Geheimnisse der Natur: Warum sind Atome stabil? Dieser Tatsache verdanken wir unser aller Existenz. Sterne, Planeten und Lebewesen bestehen ausschließlich aus den 92 stabilen chemischen Elementen. Zu Beginn des 20. Jhs. entdeckte man den inneren Aufbau der Atome: Sie bestehen aus negativ geladenen, sehr leichten Elektronen und positiv geladenen, schweren Protonen, die zusammen Ansätze und Perspektiven der Physik und Kosmologie | 343

mit elektrisch neutralen Neutronen den vergleichsweise winzigen Atomkern aufbauen. Niemand konnte erklären, warum die Atome stabil bleiben und nicht sofort zusammenbrechen, denn schließlich werden die negativ geladenen Elektronen ja von den positiv geladenen Protonen elektrisch angezogen. Eigentlich müssten die Elektronen in den Atomkern stürzen, denn diese elektromagnetische Kraft, die sie in Richtung des positiv geladenen Kerns zieht, würde sie zwangsläufig beschleunigen. Beschleunigte Ladungen aber geben elektromagnetische Strahlung ab. Die Elektronen müssten demnach fortwährend Energie in Form von Strahlung verlieren und langsam aber sicher auf immer tiefere Bahnen um den Kern fallen. Der Sturz in den Kern wäre unvermeidbar. Die klassische Physik widerspricht damit völlig unserer Erfahrung, dass sich ein Großteil unserer makroskopischen Welt aus stabilen Atomen zusammensetzt. Die Lösung bietet die Quantenmechanik. Sie stellt eine mathematische Struktur dar, die die Wechselwirkung von Materie und Licht im Rahmen grundlegender Bedingungen beschreibt. Zu diesen Bedingungen gehört die Forderung, dass Teilchen Eigenschaften besitzen, die man sonst nur Wellen zuordnet. Mit anderen Worten, Elektronen verhalten sich unter gewissen Umständen so, als entspräche ihnen eine Welle mit einer bestimmten Wellenlänge. Sie weisen also keine definitive Lokalisierbarkeit auf. Die Quantenmechanik beschreibt die Dynamik der Wellenfunktion von Elektronen, vergleichbar mit der Ausbreitung und Entwicklung von Wellen, die sich auf einer schwingenden Membran ausbilden können. Die Form und Größe dieser schwingenden Fläche grenzt die möglichen Wellenlängen ein. Die Wellen müssen auf der Membran Platz finden. Analog lässt sich das Verhalten der Elektronen im elektrischen Feld eines Atoms verstehen. Dieses Feld hat eine bestimmte Form, die die Dynamik der Elektronen im Atom sehr stark einschränkt, weil sie eben wellenartige Eigenschaften besitzen. Eine Welle ist charakterisiert durch die Frequenz ihrer Schwingung bzw. durch ihre Wellenlänge und ihre Amplitude, d. h. durch die Auslenkung der Welle aus der Nulllage. Die Aufenthaltswahrscheinlichkeit für das Elektron ist dort am größten, wo die Amplitude der Welle am größten ist. Die Stellen, an denen die Auslenkung bzw. die Wellenamplitude gleich null ist, bezeichnet man als ›Knoten‹. Dort ist die Aufenthaltswahrscheinlichkeit null. Für das Elektron als Teilchen 344 | josef m. gassner · harald lesch · jörn müller

bedeutet das, wir werden es mal hier und mal dort messen, mit entsprechenden Wahrscheinlichkeiten. Nur an den Knoten kann es sich nicht befinden. Der positiv geladene Kern des Atoms stellt eine solche Verbotszone dar. Elektronen können sich gar nicht im Bereich des Atomkerns aufhalten! Deshalb sind Atome stabil! Zusätzlich ergeben sich noch weitere Verbotszonen um den Kern herum, auch dort darf das Elektron nicht sein. Sofort erkennt man das Modell der Energieniveaus der Elektronenhülle. Wird einem Elektron Energie durch elektromagnetische Strahlung zugeführt, dann wird das Atom angeregt, das Elektron kann dann eine höhere Energiestufe annehmen und die Energie später wieder in genau definierten Portionen abgeben. Der quantenmechanische Charakter der Materie erklärt also nicht nur die Stabilität, sondern auch die Emission und Absorption von Strahlung durch die Atome. Alle Vorhersagen der Quantenmechanik haben sich mit einem Höchstmaß an Präzision bestätigt. Materie, wie wir sie um uns und in uns haben, verhält sich grundsätzlich quantenmechanisch, d. h., die Welt ist in ihrem physikalischen Grund geprägt von nicht genau zu lokalisierenden, energetischen Strukturen unterschiedlicher elektrischer Ladung und Masse. Ort und Impuls der materiellen Konstituenten sind ebenso grundsätzlich unbestimmt wie Energie und Drehimpuls. Alles schwankt mit einem winzigen, aber endlichen Betrag, geprägt durch das Plancksche Wirkungsquantum. Dieser fluktuierende Charakter der physikalischen Welt ist die fundamentale Bedingung für die Stabilität und Dynamik der Materie und damit auch der Person, die die Grundfrage der Metaphysik stellt. Bereits die Existenz eines Fragestellers, der aus stabilen Atomen besteht, setzt die Regeln und Prinzipien der Quantenmechanik voraus. Damit sind die notwendigen Vorbedingungen für die Existenz von Etwas, als materiell-energetischem Etwas, definiert. Denn nach Etwas kann nur gefragt werden, wenn etwas ist, und sein kann es nur, wenn seine Wechselwirkung mit sich und der es umgebenden Welt beschrieben und erklärt werden kann. Die Quantenmechanik bietet uns hierfür ein Instrumentarium. Es gibt also zumindest eine empirische Teilantwort auf die metaphysische Frage nach dem Urgrund des Seins: Das physikalische Sein ist fundamental quantenmechanisch.

Ansätze und Perspektiven der Physik und Kosmologie | 345

4. Von der besten aller möglichen Welten zur Quantenmechanik Kehren wir nochmals zurück zur Ausgangsfrage: ›Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?‹. Gottfried Wilhelm Leibniz leitete daraus ab, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben. Das ›Beste‹ ist ein extremer Begriff, er bedeutet ›äußerst‹ oder ›unübertrefflich‹. Für die Entwicklung der Mechanik hatte die Äußerung Leibniz’ die Konsequenz, dass man eine höchst ergiebige Forschungsrichtung in der theoretischen Untersuchung physikalischer Phänomene und Experimente einschlug. Man stellte in verschiedenen Varianten Extremalprinzipien auf, d. h. Prinzipien, die einen Extremwert zum Erwartungswert eines physikalischen Ablaufs machen. Beispielsweise das Prinzip, dass Licht in einem Medium zwischen zwei Punkten Wege nimmt, auf denen seine Laufzeit bei kleinen Veränderungen, mathematisch korrekt: ›infinitesimalen Variationen‹, des Weges stationär ist. Mit anderen Worten, Licht nimmt zwischen zwei Punkten immer den Weg mit der kürzesten Laufzeit. Die Lichtgeschwindigkeit ist dabei abhängig vom Medium, das durchflogen wird. Stellt man den Photonen unterschiedliche Materialien in den Weg, so wählen sie durchaus einen Umweg, falls damit eine höhere ›Reisegeschwindigkeit‹ und somit eine kürzere Laufzeit ermöglicht wird. Dieses Prinzip wurde experimentell hervorragend durch das Brechungs- und Reflexionsgesetz bestätigt. Dieses grundlegende Verständnis zur Ausbreitung des Lichts war sehr hilfreich bei der Überprüfung der Allgemeinen Relativitätstheorie (ART). Diese postuliert, dass Lichtwege durch die Anwesenheit von Massen verändert, soll heißen, verbogen werden. Mit anderen Worten, eine der wichtigsten Vorhersagen der ART, dass die Lichtwege um große Massen verbogen werden, fußt auf einem Extremalprinzip der Physik, das sich mit Hilfe der metaphysischen Frage von Leibniz ableiten ließ. Wieder einmal wurde die Metaphysik zum Motor für die theoretische Physik. Noch wirkungsvoller ist dieses Verhältnis von Metaphysik und Physik bei dem berühmten Prinzip von der kleinsten Wirkung. Pierre-Louis Maupertuis formulierte dieses in einer ersten Form 1744 (also 30 Jahre nach Leibniz’ Tod).3 Physikalische Felder und Teilchen nehmen danach für eine bestimmte Größe den kleinsten der möglichen Werte an. Knapp 90 Jahre später brachte William 346 | josef m. gassner · harald lesch · jörn müller

R. Hamilton das Prinzip der kleinsten Wirkung auf seine moderne Form.4 Aus dem Hamiltonschen Prinzip folgen bei geeignet gewählter Wirkung die Newtonschen Bewegungsgleichungen, aber auch die Gleichungen der relativistischen Mechanik, die Maxwellgleichungen der Elektrodynamik, die Einsteingleichungen der Allgemeinen Relativitätsheorie und die Gleichungen, mit denen man die anderen elementaren Wechselwirkungen beschreibt. Vor allem ergibt sich mit Hilfe der auf dem Prinzip der kleinsten Wirkung fußenden Hamiltonschen Dynamik die Grundgleichung der Quantenmechanik, die sogenannte ›Schrödinger-Gleichung‹. Die Frage nach dem Urgrund des Seins lässt sich bis zur Entwicklung der Theorie über die Struktur der Materie und ihre Wechselwirkung mit Licht zurückverfolgen. Beide haben wir bereits als Grundvoraussetzungen dafür identifiziert, dass diese Frage überhaupt gestellt werden kann. Ein naturphilosophischer Hochseilakt! Nachdem wir damit also den Rahmen der physikalischen Seinsformen (entweder durch Felder und Teilchen oder in Form von Energie, Materie und Strahlung) vor allem mit Hilfe der Quantenmechanik erklärt haben, kommen wir zur größten Seinsstruktur, die noch von der Physik untersucht werden kann, dem Kosmos. Auch hier wird die Quantenmechanik eine herausragende Rolle spielen. Doch bevor wir beginnen noch eine Abschlussbemerkung.

5. Abschlussbemerkung vor dem Anfang Man könnte uns vorwerfen, wir hätten uns mit einem philosophischen Kunstgriff aus der Affäre gezogen. Denn schließlich haben wir die Ausgangsfrage nach dem Urgrund allen Seins für prinzipiell unbeantwortbar erklärt und zugleich seine Bedeutung für die Erlangung empirischen Wissens mittels der Physik betont. Wir haben damit die Metaphysik im Wesentlichen als Erkenntnistheorie identifiziert und uns der Interpretation Immanuel Kants angeschlossen, der in der Kritik der reinen Vernunft mit der transzendentalen Methodenlehre die didaktischen und argumentativen Verfahren, die an die Stelle der älteren und dogmatischen Metaphysik treten, ausführlich untersucht hat. Kant macht Raum und Zeit zu Formen des sinnlichen Anteils der Erkenntnis und damit zu Grundlagen der Ansätze und Perspektiven der Physik und Kosmologie | 347

Mathematik als apriorische Wissenschaft, aber auch der Naturwissenschaft und der Alltagserkenntnis. Er unterscheidet nicht zwischen einem idealen Raum der Mathematik und einem realen Raum der physischen Wechselwirkung oder zwischen einem realen Raum der Physik und einem phänomenalen Raum des Erlebens. Alle Anschauungen sind nach Kant Empfindungen in einer räumlichen und zeitlichen Ordnung, die den objektiven Beziehungen zwischen den Gegenständen, so wie wir sie erfahren, zu Grunde liegt. Kant führt aus, dass zur Erkenntnis aber auch bestimmte reine Begriffe, die Kategorien, notwendig sind. Nur durch sie können aus dem sinnlich Gegebenen Gegenstände der Erfahrung werden. Diese Begriffe findet Kant am Leitfaden der möglichen logischen Verknüpfung von Vorstellungen. Durch Anwendung der Kategorien auf Raum und Zeit ergibt sich ein System von Grundsätzen, die a priori gewiss sind und allgemeine Bedingungen für erfahrbare Objekte darstellen, wie z. B. die kausale Verknüpfung aller Erscheinungen. Damit ist die Möglichkeit von Mathematik und Naturwissenschaften gegeben. Der Preis, den wir nach Kant hierfür bezahlen müssen, liegt darin, dass unsere Begriffe nicht auf die Dinge, wie sie ›an sich‹ sind, anwendbar sind, sondern nur, sofern sie die Sinnlichkeit betreffen und somit Vorstellungen in der Ordnung von Raum und Zeit im individuellen Bewusstsein erzeugen. Zugleich haben Kants Erkenntnisse aber auch Folgen für die Möglichkeit metaphysischer Spekulationen, wie sie die Frage nach dem Grund für das Etwas und dem Nichts darstellt. Denn in dem Versuch der menschlichen Vernunft, dieses Unbedingte des Seins zu erkennen und damit die sinnliche Erkenntnis zu übersteigen, verwickelt sie sich in Widersprüche, da jenseits der Erfahrung keine Kriterien für Wahrheit mehr zugänglich sind. Und dennoch hat die Vernunft ganz offenbar ein notwendiges Bedürfnis, diese Versuche immer wieder aufs Neue zu unternehmen. Kant spricht expressis verbis von der ›Naturanlage zur Metaphysik‹, da nur ein solcher Versuch zwischen Erfahrungswelt und dem Subjekt eine sinnvolle Verbindung stiftet. Wir kommen also nicht umhin, immer wieder metaphysische Spekulationen anzustellen, wohlwissend, dass wir keine klaren Antworten auf unsere Fragen an die Welt erhalten können. Warum? Weil wir das Wesen sind, das nach dem Sinn sucht.

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6. Aus dem Blickwinkel der Wissenschaft Nachdem wir das naturwissenschaftliche Gebäude mit seinen metaphysischen Säulen betrachtet haben, wird es Zeit einzutreten und unsere Ausgangsfrage an die Physik weiterzureichen. Warum ist also für den Physiker etwas und nicht vielmehr nichts? Wiederum haben wir es mit einem menschlichen Fragesteller zu tun. Damit wird auch für den Physiker das, was wir als Etwas bezeichnen, zu einem sehr speziellen Etwas: Ein Universum bestehend aus 92 stabilen Elementen, die sich zu den unterschiedlichsten Strukturen organisiert haben, bis hin zum Fragesteller selbst. Damit stehen auch Physiker erst einmal staunend vor einer Welt, die perfekt eingerichtet erscheint, um ›etwas‹ hervorzubringen und es über Jahrmilliarden stabil zu erhalten. Die Naturwissenschaft erforscht die Eigenschaften dieses Etwas und formuliert Gesetzmäßigkeiten und Modelle. Genau hierin liegt der Schlüssel zum Erfolg. Dieser Werkzeugkasten der Physik lässt sich auch auf die zweite Alternative in unserer Fragestellung anwenden: das Nichts. Das Ergebnis ist verblüffend. Es gelingt, dem ›Nichts‹ konkrete Eigenschaften zuzuordnen. Die zeitliche Entwicklung dieser Eigenschaften führt zwangsläufig zur Entstehung eines Etwas aus dem Nichts. Die Naturgesetze leisten ein Übriges und verleihen diesem Etwas ausreichend Stabilität und gestatten Strukturbildung, bis hin zu intelligentem Leben, das auf einem Planeten stehend im Licht seiner Sonne grundlegende Fragen stellt. Soweit die naturwissenschaftliche Argumentation im Zeitraffer. Werfen wir einen detaillierten Blick auf die entscheidenden Schritte. Würden wir einen Raumbereich abgrenzen und daraus den gesamten Inhalt entfernen, also ein ideales Vakuum erzeugen, wäre dann wirklich nichts mehr in diesem Raum? Hätten wir an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit exakt ein Nichts mit der exakten Energie null? Die eigenwillige Formulierung dieser Frage legt es bereits nahe: Die Heisenbergsche Unschärferelation verbietet einen derartigen Zustand. So sehr wir uns auch mühen, ein bestmögliches Nichts zu erzeugen, die fundamentalen Naturgesetze können wir nicht entfernen. Dies gilt insbesondere für die Quantenmechanik, wonach sich bestimmte Wertepaare nicht gleichzeitig beliebig genau ermitteln lassen.Üblicherweise handelt es sich bei Ansätze und Perspektiven der Physik und Kosmologie | 349

-diesen Paaren um einen Wert und dessen zeitliche Änderungsrate. Namhafte Vertreter sind Ort und Geschwindigkeit eines Teilchens. Ebenso betroffen sind Stärke und Änderungsrate eines Feldes. Auch Energie und Zeit bilden ein Paar, das der Unschärfe unterliegt, wodurch für sehr kurze Zeiträume die Energie allgemein und speziell auch die des Nichts unbestimmt ist. Mit anderen Worten: Auch das Nichts schwankt. Teilchen-Antiteilchen-Paare materialisieren sich und zerstrahlen wieder zu Energie. Die Lebensdauer dieser virtuellen Teilchen ist dabei umso kürzer, je größer ihre Masse bzw. der Energiebedarf für ihre Entstehung ist. Zugegeben, das wirkt wie ein Taschenspielertrick der theoretischen Physik, aber diese Schwankungen des Nichts – sogenannte ›Quantenfluktuationen‹ – konnten experimentell nachgewiesen werden, weil sie niedrigste Atomniveaus beeinflussen. Willis Eugene Lamb erhielt hierfür 1955 den Nobelpreis. Dass zu jedem Teilchen gleichzeitig sein Anti-Teilchen entstehen muss, liegt daran, dass im Vakuum neben der Unschärferelation auch noch weitere physikalische Gesetze gelten, z. B. die Ladungserhaltung. Bei der Erzeugung eines Teilchens mit beliebiger Ladung gleicht die Entstehung des Anti-Teilchens mit umgekehrter Ladung die Bilanz wieder aus. Wenn das physikalische Nichts also nicht nichts ist, welche Eigenschaften können wir ihm zuordnen? Quantenmechanische Fluktuationen lassen sich nicht verdünnen. Lokal betrachtet ändert sich ihr Verhalten nicht, wenn der Raum expandiert. Neue Teilchen-Antiteilchen-Paare füllen den zusätzlichen Raum aus. Ein Gas würde sich durch die Expansion abkühlen, der Druck bzw. die Energie pro Volumen würde abnehmen. In unserem quantenmechanischen Vakuum bleiben diese Werte jedoch konstant. Ein doppeltes Volumen Nichts enthält somit die doppelte Energie. Dies ist nicht weiter tragisch, solange diese Energie um den Nullpunkt schwankt: Zweimal null gibt wieder null. Sollte sich das quantenmechanische Nichts jedoch – warum auch immer – in einem falschen Zustand mit positiver Energie befinden, so würde die Expansion des Raumes diese Energie anwachsen lassen. Selbstverständlich kann Energie nicht einfach entstehen. Für den Vorgang der Expansion muss man exakt die Energie aufwenden, die im Inneren hinzugewonnen wird. Mit anderen Worten: Das quantenmechanische Vakuum setzt der Expansion eine Kraft entgegen, es übt einen ›Sog‹, einen negativen 350 | josef m. gassner · harald lesch · jörn müller

Druck aus. Dieser negative Druck bleibt konstant, unbeeindruckt von der Expansion. Ein positiver Druck entspricht einer positiven Energie pro Volumen. Seit Albert Einstein wissen wir, dass positive Energie gemäß E = mc2 gravitativ anziehend wirkt. Ebenso entspricht ein negativer Druck einer negativen Energie pro Volumen und wirkt gravitativ abstoßend. Damit sind wir bei einer antigravitativen Energiefreisetzung aus dem Vakuum angelangt, die selbst unter extremster Expansion des Raumes nicht abgeschwächt wird. Für diese theoretische Konstruktion eines negativen Drucks des Vakuums gibt es experimentelle Bestätigung. Hendrik Casimir hat bereits 1948 einen Versuchsaufbau beschrieben, in dem sich zwei parallele, leitende Platten im Vakuum stärker anziehen, als es die Gravitation alleine erklären könnte.5 Dieser negative Druck zwischen den Platten entsteht, weil elektromagnetische Wellen nicht in leitende Medien eindringen können. Die möglichen Quantenfluktuationen zwischen den Platten sind somit in Form und Anzahl beschränkt. Außerhalb unterliegen die Fluktuationen diesen Einschränkungen nicht. Die zahlenmäßige Überlegenheit übt einen Druck auf die Platten aus. Dank stark verbesserter Messgeräte konnte dieser ›Möglichkeitsdruck‹ mittlerweile mit hoher Präzision bestätigt werden. Bei Platten in der Größe einer Handfläche entspricht der negative Druck bei einem Abstand von einem zehntausendstel Zentimeter etwa dem Gewicht eines Wassertropfens. Einen Mechanismus für die antigravitative Energiefreisetzung aus dem Vakuum hätten wir damit gefunden, nur woher nehmen wir die Energie? Was auch immer in Quantenfluktuationen entsteht – Teilchen, Felder und Dinge, von denen wir noch gar nicht wissen, dass es sie gibt –, im nächsten Augenblick wird es wieder vergehen. Wie also locken wir das Nichts aus seinen virtuellen Fantastereien hinein in die Realität, in einen Urknall? In ein Etwas, das uns zur Frage nötigen wird, warum es ist und nicht vielmehr nichts? Vor dem Urknall befindet sich das Universum in einem reversiblen Zustand. Es ändert sich zwar laufend, kehrt jedoch stets wieder zum Ausgangszustand zurück: dem Nichts. Für einen reversiblen Prozess findet der Begriff ›Zeit‹ keine Anwendung. Die Gretchenfrage lautet: Wie kommen wir aus dieser Endlosschleife heraus? Es bedarf einer sehr speziellen Quantenfluktuation, bestehend aus etwas, das vor seiner Vernichtung einen Phasenübergang Ansätze und Perspektiven der Physik und Kosmologie | 351

vollzieht. Der Begriff des Phasenübergangs ist uns am Beispiel des Übergangs von Dampf zu Wasser bestens vertraut. Die Abkühlung des Dampfes verringert die Bewegungsenergie der H2O-Moleküle immer weiter, bis es gelingt, kleinere Verbände zu bilden. Werden nun immer mehr ursprünglich freie Moleküle in diesen Strukturen gefangen, bilden sich Kondensationströpfchen. Unterhalb der kritischen Temperatur von 100 Grad Celsius – abhängig von den Druckverhältnissen – ist der Phasenübergang zu flüssigem Wasser vollzogen. Daran erkennt man, dass Phasenübergänge mit sog. ›Symmetriebrechungen‹ einhergehen. Im dampfförmigen Zustand war es den Molekülen freigestellt, sich um jede beliebige Symmetrieachse zu drehen. Gefangen in einem Verbund, sind die verbliebenen freien Drehachsen eingeschränkt auf die Drehungen des gesamten Verbundes. Beim Übergang von Wasser zu Eis gehen diese freien Drehungen der einzelnen Molekülverbände in einer Gitterstruktur wiederum verloren: ein weiterer Symmetriebruch. Bei jedem dieser Phasenübergänge wird Energie freigesetzt. Im Falle des Wassers sind es Verdampfungs- und Kristallisationswärme. Das entspricht der verringerten Bewegungsenergie, die das jeweils stärker gebundene System freisetzen muss. Symmetriebrechungen erfordern eine Entscheidung darüber, welche neue Konfiguration unter einer Vielzahl von Möglichkeiten nun tatsächlich angenommen werden soll. Man denke an die Geschichte vom so genannten ›buridanischen Esel‹, der sich möglichst wenig bewegen will und deshalb fast zwischen zwei Heuballen verhungert, die exakt im gleichen Abstand links und rechts von seinem Kopf entfernt liegen. Er möchte unbedingt den kürzesten Weg wählen – welchem Heuballen soll er sich also bei perfekter Symmetrie zuwenden? Die H2O-Moleküle stecken in einem ähnlichen Dilemma: Welchem Molekülverband sollen sie sich anschließen? – Wer macht überhaupt den Anfang? Je höher die Symmetrie des Ausgangszustandes und je geringer die Veränderung der äußeren Bedingungen, umso schwieriger gestaltet sich die ›Entscheidungsfindung‹. Auf makroskopischer Ebene ist dies tatsächlich von Relevanz. Kühlt man beispielsweise hochreines Wasser so vorsichtig und langsam wie nur möglich ab, bleibt es unterhalb des ›Gefrierpunktes‹ flüssig. Der Rekord für dieses Kunststück liegt derzeit bei -17 °C. Zur besseren Unterscheidung spricht man von ›unterkühltem‹ Wasser, weil es sich in einem ›falschen‹ 352 | josef m. gassner · harald lesch · jörn müller

Zustand befindet. Erst ab einem bestimmten ›Leidensdruck‹ entscheiden sich sowohl der Esel als auch die H2O-Moleküle, die Symmetrie zu brechen. So wird der Esel satt und das Wasser gefriert schlagartig, wobei es die Kristallisationswärme mit zeitlicher Verzögerung am Ende doch freisetzt. Lässt nun eine Quantenfluktuation etwas aus dem Nichts entstehen, beispielsweise ein Feld, so kann es vor seiner Vernichtung einen Phasenübergang vollziehen. Der notwendige Symmetriebruch kann eine kurzfristige Verzögerung verursachen, wodurch das Vakuum in einem falschen Zustand verharrt, dem sog. ›falschen Vakuum‹. Dieses falsche Vakuum schwankt um einen höheren, positiven Energiewert. Was das bedeutet, wissen wir bereits: Dieses quantenmechanische Vakuum expandiert antigravitativ. Modellrechnungen ergeben, dass diese Expansion in unserem Universum etwa 10–30 Sekunden andauerte, bis der Symmetriebruch vollzogen war und das Vakuum wieder auf seinen richtigen Zustand zurückgefallen war, d. h. wieder um den ›richtigen‹ Energienullpunkt schwankte. Das Universum hatte sich in der Zwischenzeit um den Faktor 1050 ausgedehnt. Diese Phase trägt den bezeichnenden Namen ›exponentielle Inflation‹. Zugegebenermaßen ist das eine sehr exotische Quantenfluktuation, auf die wir es abgesehen haben. Entsprechend lange werden wir darauf warten müssen. Neben dem Phasenübergang muss sie auch die Grundkräfte erzeugen, zumindest die Gravitation und eine vereinheitlichte Kraft, die sogenannte ›X-Kraft‹, aus der sich unsere wohlvertrauten Kräfte im späteren Verlauf entwickeln können. Aber was heißt schon ›lange warten‹ angesichts einer Ewigkeit, die uns zur Verfügung steht. Der Umgang mit Ewigkeiten und Unendlichkeiten ist unserem Vorstellungsvermögen fremd. Wir sind es nicht gewöhnt, lange genug zuzuschauen, um auch höchst unwahrscheinliche Ereignisse beobachten zu können. Setzen wir beispielsweise einen Gorilla an eine Schreibmaschine und warten, bis er eine Taste drückt. Mit welcher Wahrscheinlichkeit würde er dann ein ›u‹ wählen? Lassen wir der Einfachheit halber Groß- und Kleinschreibung außer Acht und nehmen wir an, unsere Tastatur hätte 50 Tasten. Die Wahrscheinlichkeit für ein ›u‹ wäre demnach 1/50. Das ist nicht null, d. h., irgendwann wird es passieren. Nach dem ›u‹ hätten wir gerne ein ›r‹ (wiederum mit der Wahrscheinlichkeit 1/50). Für die Zeichenfolge ›ur‹ wäre somit Ansätze und Perspektiven der Physik und Kosmologie | 353

die Wahrscheinlichkeit 1/50 mal 1/50 bzw. (1/50)2. Die sieben Buchstaben ›urknall‹ wird der Gorilla mit einer Wahrscheinlichkeit von (1/50)7 schreiben. Auch diese geringe Wahrscheinlichkeit ist nicht null. Natürlich wird der Gorilla zwischendurch stundenlang nur Unsinn schreiben, aber wenn wir lange genug warten… Eine beliebig lange Zeitspanne verleiht uns eine faszinierende Mächtigkeit. Gleichgültig wie unwahrscheinlich ein Effekt auch ist, solange er eine Wahrscheinlichkeit größer null aufweist und wir eine Ewigkeit darauf warten können, wird er geschehen. So ist es auch mit einer beliebig komplizierten Quantenfluktuation. Damit gelingt es der Physik, die Entstehung von Etwas aus dem Nichts zu erklären. Ein ansehnliches Universum, um das Etwas darin auszubreiten, liefert der Prozess gratis obendrein. Darin wirkt die Gravitation auf Materie und Antimaterie gleichermaßen anziehend. Diese negative Energie gleicht die positive Energie des entstandenen Etwas in der Gesamtbilanz wieder zu null aus. Modellrechnungen liefern für den besagten Zeitraum 10–30 Sekunden nach dem Urknall die stolze Anzahl von 1080 Elementarteilchen. Bei genauer Betrachtung handelt es sich aber um ebenso viele Teilchen wie Antiteilchen. Nach ihrer gegenseitigen Zerstrahlung wäre dem Universum ein äußerst langweiliges Schicksal beschieden: ein ständig abkühlendes Photonenmeer, in dem sich niemand unsere Ausgangsfrage gestellt hätte. Mit der puren Entstehung von Etwas ist es nicht getan – es gilt, weitere Hürden zu nehmen.

7. Die Materie gewinnt Struktur – Naturgesetz oder Zufall? Die Frühphase des Universums, etwa 10–43 bis 10–35 Sekunden nach dem Urknall, bezeichnen die Kosmologen als ›GUT-Ära‹ (Grand Unified Theorie). In dieser Epoche wirkten nur zwei Kräfte: die Gravitation und eine vereinheitlichte Kraft, die sogenannte ›X-Kraft‹. Erst im Laufe der späteren Entwicklung werden sich aus ihr die elektromagnetische, die starke und die schwache Kernkraft ausbilden. Als Überträger der X-Kraft fungierten extrem massereiche Austauschteilchen, sogenannte ›X-‹ und ›Y-Bosonen‹. Entsprechend den Erhaltungssätzen der Physik gab es neben den ›normalen‹ X- und Y-Bosonen die gleiche Anzahl Anti-X- und Anti-Y-Boso354 | josef m. gassner · harald lesch · jörn müller

nen. Aufgrund der hohen Temperatur und Energiedichte in der GUT-Ära konnten sich die Bosonen anfänglich ineinander umwandeln. Zerfiel ein Boson, so entstand es aus der Energie des Umfeldes wieder neu. Erst als die Temperatur des Kosmos soweit gesunken war, dass diese Prozesse zum Erliegen kamen, zerfielen die Bosonen endgültig in Quarks und eine Unmenge anderer sehr massearmer Teilchen, sogenannte ›Leptonen‹. Zeitlich deckt sich die Auflösung der Bosonen mit dem Ausklingen der inflationären Expansion. Mit dem Zerfall der Bosonen entschied sich die zukünftige Natur des Universums. In diesem Augenblick wurden die Weichen gestellt, entweder in Richtung eines auf ewig strukturlosen oder hin zu einem von Materie geprägten Kosmos. Was war geschehen? Zunächst zerfielen die ›normalen‹ X- und Y-Bosonen in ›normale‹ Quarks und die Anti-X- und Anti-Y-Bosonen in Antiquarks. Einige der Anti-X- und Anti-Y-Bosonen gehorchten jedoch nicht den allgemeinen Symmetrien! Sie zerfielen nicht wie erwartet in Antiquarks, sondern brachten unerlaubter Weise ebenfalls normale Quarks hervor. Am Ende dieser Zerfallsphase gab es anstelle von gleich vielen Quarks und Antiquarks pro eine Milliarde Quarks beziehungsweise Antiquarks ein zusätzliches normales Quark. Diese auf den ersten Blick unbedeutend erscheinende Quark/Antiquark-Asymmetrie im frühen Universum ist der eigentliche Grund, warum es überhaupt Materie gibt und nicht nur Strahlung! Schuld daran ist die Unverträglichkeit von Materie mit Antimaterie. Denn wenn fortan ein Quark auf ein Antiquark traf, zerstrahlten die beiden zu zwei Photonen. Lediglich das überschüssige Quark, das keinen Antipartner fand, fiel nicht der Vernichtung anheim und blieb ›am Leben‹. Aus diesem ›spärlichen‹ Rest an Quarks entstand alles ›Greifbare‹: Sterne, Galaxien, Planeten und letztlich der Mensch, den die Frage umtreibt, warum etwas ist und nicht nichts. Es mag verwundern, dass die Natur das ›falsche Spiel‹ beim Zerfall der Bosonen erlaubt hat. Kann es sein, dass sie gelegentlich gegen ihre eigenen Gesetze handelt? Will man das nicht akzeptieren, dann müsste die Teilchen/Antiteilchen-Asymmetrie bereits im Urknall programmiert gewesen sein, das kleine Ungleichgewicht also schon von Anfang an bestanden haben. Wenn wir jedoch die exponentielle Expansion als unverzichtbaren Entwicklungsschritt in der Geschichte des Universums ansehen, so muss sich die AsymmeAnsätze und Perspektiven der Physik und Kosmologie | 355

trie erst später herausgebildet haben. Denn die nahezu unfassbare Ausdehnung des Raumes hätte eine schon bestehende Asymmetrie bis zur Unkenntlichkeit verdünnt. Nur wenn das Ungleichgewicht anfänglich exorbitant größer gewesen wäre, hätte sich nach der Expansion ein Verhältnis von 1 zu einer Milliarde einstellen können. Doch diese anfänglich nötige Asymmetrie ist so groß (1069), dass sie, selbst in einer Zeit, in der so riesige Zahlen wie eine Milliarde oder Billion kaum mehr schrecken, absolut unrealistisch erscheint und kein Kosmologe bereit ist, sie zu akzeptieren. Der russische Physiker Andrei Dmitrijewitsch Sacharov hat 1967 drei Bedingungen für eine spätere dynamische Entwicklung der Teilchen/Antiteilchen-Asymmetrie formuliert.6 Eine davon – und nur auf die wollen wir kurz eingehen – verlangt, dass die schwache Kernkraft den Zerfall der Materie hin und wieder unterschiedlich regelt. Es gibt Hinweise, dass diese Forderung tatsächlich erfüllt ist. Bei einer speziellen Sorte von Teilchen, den sog. ›Kaonen‹, hat man beobachtet, dass ein bestimmtes Kaon in 0,2 Prozent aller Zerfallsreaktionen nicht wie erwartet zu drei, sondern zu zwei Pionen zerfällt. Damit es zu diesem Ergebnis kommt, muss die Zerfallssymmetrie leicht – weil selten – verletzt werden. Bezogen auf den Zerfall der normalen X- und Y-Bosonen im Vergleich zu dem der Anti-X- und Anti-Y-Bosonen heißt das, der Zerfall der Anti-Bosonen in AntiTeilchen wurde hin und wieder unterdrückt. Die Symmetrie einer Gleichbehandlung von Materie und Antimaterie war demnach im frühen Universum verletzt. Obwohl die Theorien, die den Überschuss an normaler Materie erklären, schlüssig scheinen, zählen die verantwortlichen Prozesse nach wie vor zu den großen Rätseln der Teilchenphysik und sind im Grunde unverstanden. Eine experimentelle Überprüfung im Labor scheitert an den unerreichbar hohen Temperaturen und Energiedichten. Letztlich zählt eben nur der Blick auf das, was ist. Heute spiegelt sich diese winzige Asymmetrie in der überwältigenden Übermacht der Photonen: Auf ein Proton kommen rund zwei Milliarden Photonen! Hätten sich damals alle Anti-Bosonen ›korrekt‹ verhalten, so wäre die Materie bereits kurz nach dem Urknall gänzlich zu Strahlung zerstoben und das Universum auf ewig strukturlos geblieben. Glücklicherweise ist es so nicht gekommen! Stattdessen war das Universum angefüllt mit einer heißen Ursuppe, einem Gemenge aus Quarks, Photonen und Gluonen, 356 | josef m. gassner · harald lesch · jörn müller

den Vermittlern der starken Kernkraft. Im Laufe der weiteren Entwicklung und mit stetig fallender Temperatur spalteten sich dann die vereinheitlichten Kräfte in die uns mittlerweile vertrauten vier Grundkräfte auf. Etwa eine millionstel Sekunde nach dem Urknall konnten sich auch die freien Quarks nicht mehr dem Zugriff der starken Kernkraft entziehen. Je zwei down- und ein up-Quark wurden zu einem Neutron zusammengebunden und aus je zwei up- und einem down-Quark entstand ein Proton. Beide Teilchen bezeichnet man auch als ›Baryonen‹. Doch wichtiger: Mit den Protonen betraten die ersten Atomkerne die Bühne. Das leichteste Element, der Wasserstoff, war geboren. Für kurze Zeit lebten Protonen und Neutronen im thermodynamischen Gleichgewicht einträchtig nebeneinander. Die hohe Temperatur ermöglichte in gleichem Maße die Umwandlung von Neutronen in Protonen wie von Protonen in Neutronen. Doch das Universum dehnte sich unablässig aus, wobei Temperatur und Energiedichte sanken. Als erste mussten die Neutronen der Abkühlung im Kosmos Tribut zollen. Da sie etwas mehr Masse besitzen als die Protonen, wurde es immer schwieriger, Protonen in Neutronen umzuwandeln, wogegen der umgekehrte Vorgang leicht vonstatten ging. Folglich verschob sich das Reaktionsgleichgewicht zunehmend in Richtung der Protonen, so dass deren Anzahl auf Kosten der Neutronenmenge stetig zunahm. Schließlich kam bei einer Temperatur von rund 10 Milliarden Grad der Prozess ›Proton zu Neutron‹ völlig zum Erliegen. Das Teilchenzahlverhältnis Neutronen zu Protonen war da bereits auf 1 zu 5 gefallen. Doch dabei blieb es nicht, denn freie Neutronen zerfallen in Protonen. Nach 885,7 Sekunden war von einer anfänglichen Menge an Neutronen nur noch die Hälfte übrig. Wenige Minuten nach dem Urknall gab es daher bereits siebenmal soviele Protonen wie Neutronen. Ausgebremst hat das Neutronensterben schließlich die fortschreitende Ausdehnung und die damit einhergehende Abkühlung des Kosmos. Wann immer sich bislang ein Proton mit einem Neutron zu einem neuen Atomkern vereinigte, dem sog. ›Deuteron‹, fuhren die bei der gegenseitigen Vernichtung von Quarks und Antiquarks entstandenen energiereichen Photonen – sie bilden die sogenannte ›kosmische Hintergrundstrahlung‹ – dazwischen und trennten die Verbindung wieder. Doch mit der Abkühlung des Universums verloren die Photonen an Energie, so dass immer mehr Ansätze und Perspektiven der Physik und Kosmologie | 357

Deuteronen überlebten. Als schließlich die Mehrzahl der gebildeten Deuteronen Bestand hatte, kam die Fusion der ersten Elemente, die sogenannte ›primordiale Nukleosynthese‹, in Schwung. Zunächst vereinigten sich zwei Deuteronen zu Tritium oder zu Helium-3, und die wiederum mit einem weiteren Deuteron zu Helium-4, kurz ›Helium‹ genannt. Dieser Fusionsreigen währte rund 20 Minuten und kam erst zu einem Ende, als alle freien Neutronen für die Fusionsreaktionen aufgebraucht waren. Damit bestand der Materiekuchen des Universums, bezogen auf die Masse, zu rund 75 Prozent aus Atomkernen des Elements Wasserstoff und zu 25 Prozent aus Atomkernen des Elements Helium. Atomkerne sind noch keine ›vollwertigen‹ Atome. Ihnen fehlen noch die negativ geladenen Elektronen, die die elektrisch positive Ladung der Kernprotonen nach außen neutralisieren. Der Verweis auf die entgegengesetzte Ladung von Elektronen und Protonen führt uns auf die Spur, wie die Atomkerne zu ihren Elektronen kamen: Ladungen entgegengesetzter Polarität ziehen sich gegenseitig an. Unmittelbar nachdem die primordiale Nukleosynthese beendet war, hatten diese ›Bindungen‹ jedoch noch keinen Bestand. Es war die ›aggressive‹ Hintergrundstrahlung, die jede Verbindung sofort wieder zerstörte. Das Universum musste erst weiter abkühlen und die Energie der Photonen soweit sinken, dass sie die Abtrennarbeit nicht mehr leisten konnten. Das dauerte rund 380.000 Jahre! Während dieser Zeit geschah im Wesentlichen – nichts. Es wurde lediglich immer kälter und die Wellenlänge der Photonen stetig größer. Bei einer Temperatur von etwa drei- bis viertausend Grad war es schließlich soweit. Jetzt kam es zur dauerhaften Bindung der Elektronen an die Atomkerne. Atomarer Wasserstoff und atomares Helium füllten fortan das Universum. Kosmologen bezeichnen diesen Vorgang als ›Rekombination‹. Bei genauer Betrachtung erweist sich dieser Begriff jedoch als falsch. Von Rekombination kann man nur sprechen, wenn ursprünglich miteinander verbundene Teile getrennt und dann wieder zusammengefügt wurden. Atomkerne und Elektronen waren jedoch vorab nie vereinigt. Die Elemente Wasserstoff und Helium reichen natürlich nicht hin, um einem Wesen, das die Frage stellt ›Warum ist etwas?‹, zur Existenz zu verhelfen. Dieser Baukasten ist zu dürftig. Neben Wasserstoff bilden insbesondere Kohlenstoff, Sauerstoff, Stickstoff sowie 358 | josef m. gassner · harald lesch · jörn müller

etwas Kalzium und Phosphor mit einem Anteil von 98,6 Prozent das Rückgrat der belebten Materie. Die restlichen 1,4 Prozent entfallen auf Chlor, Schwefel, Kalium, Magnesium, Jod und Eisen sowie auf winzige Mengen an Spurenelementen wie Mangan, Kupfer, Zink, Vanadium und Fluor. Wie auch die übrigen Elemente des 92 Bausteine umfassenden Periodensystems sind sie alle in den Sternen entstanden, deren erste Vertreter rund 200 Millionen Jahre nach dem Urknall im Universum auftauchten. Bei den enormen Temperaturen und Drücken in ihren Zentren konnten, ausgehend von Wasserstoff, die Kernfusionen zu immer schwereren Elementen ablaufen. Schließlich, am Ende des Sternenlebens, verteilten Sternwinde und Supernovae diese lebenswichtige Fracht weiträumig im Universum. In den heutigen Sternen findet diese als ›stellare Nukleosynthese‹ bezeichnete Elementproduktion nach wie vor statt. Da eine detaillierte Diskussion der stellaren Nukleosynthese im Rahmen dieses Beitrages nicht möglich ist, konzentrieren wir uns nur auf das Element Kohlenstoff. Zwei Gründe sprechen dafür: Zum einen verdankt das Leben der Fähigkeit des Kohlenstoffs, sich mit anderen Elementen auf vielfältige Weise zu verbinden, die enorme Variabilität seiner Moleküle. Andererseits ist seine Entstehung keine Selbstverständlichkeit, denn so, wie es des asymmetrischen Zerfalls der Bosonen im frühen Universum bedurfte, damit es überhaupt Materie gibt, so bedarf es auch einiger glücklicher Umstände, damit Kohlenstoff gebildet und nicht sogleich wieder vernichtet wird. Sterne beginnen die Elementproduktion mit der Verschmelzung von je vier Wasserstoffkernen, den Protonen, zu einem Heliumkern. Ist der Wasserstoff vorrat erschöpft, startet der nächste Fusionsschritt, der sogenannte ›Triple-Alpha-Prozess‹. Dabei entsteht aus je drei Heliumkernen (auch ›Alphateilchen‹ genannt) ein Kohlenstoffkern. Zunächst fusionieren zwei Heliumkerne zu einem Berylliumkern, der anschließend mit einem weiteren Heliumkern kollidiert und zu Kohlenstoff verschmilzt. Dieser zweite Schritt ist problematisch. Da der Berylliumkern bereits nach 10–16 Sekunden wieder in seine Bestandteile zerfällt, bleibt dem dritten Heliumkern nur ein extrem enges Zeitfenster, um sich mit dem Zwischenkern zu vereinigen. Erschwerend kommt hinzu, dass große Mengen an Kohlenstoff nur entstehen können, wenn die Massenenergie der vereinigten Beryllium- und Heliumkerne mit der Massenenergie Ansätze und Perspektiven der Physik und Kosmologie | 359

des Kohlenstoffkerns in engen Grenzen übereinstimmt, wenn also, wie sich Physiker ausdrücken, Resonanz besteht. Doch bei einem Kohlenstoffkern im energetisch niedrigsten Zustand, dem Grundzustand, ist das nicht der Fall. Wie befreit sich die Natur aus dieser Sackgasse? Sie versucht es mit einem angeregten Kohlenstoffkern, dessen Energie oberhalb des Grundzustandes liegt, höher als die Massenenergie des Beryllium-Heliumpaares. So kann die Fusion funktionieren – vorausgesetzt, es gibt eine Quelle, die dem Beryllium-Heliumpaar ausreichend Energie zur Verfügung stellt, um die Differenz zum höher gelegenen Energieniveau des angeregten Kohlenstoffkerns auszugleichen, das heißt: um Resonanz herzustellen. Diese Quelle findet sich in dem etwa 100 Millionen Grad heißen Umfeld des Sterns. Die Bewegungsenergie, die die Teilchen dort gewinnen, wird beim Zusammenstoß frei und ist gerade so groß, dass sie die Lücke zum höher gelegenen Energieniveau des Kohlenstoffkerns schließen kann. Unmittelbar nach seiner Entstehung geht der angeregte Kern durch die Emission von zwei Gamma-Quanten in den stabilen Grundzustand über, aus dem es kein Zurück zu den anfänglichen Einzelteilen gibt. Doch von 2500 Kernen – andere Quellen7 sprechen von 25.000 – schafft diesen Sprung nur ein Kern! Die überwiegende Mehrzahl zerfällt, noch bevor die Gamma-Quanten den Kern verlassen können. Die Ausbeute an Kohlenstoff ist also äußerst dürftig. Dass dennoch ausreichend davon entsteht, verdankt sich der ungeheuren Anzahl von Kohlenstoffkernen, die unablässig in den Sternen fusioniert wird. Fazit: Die Kohlenstoffproduktion in den Sternen hängt am seidenen Faden. Wäre das Umfeld, in dem die Reaktionen ablaufen, etwas kühler, so könnten die Reaktionspartner nicht ausreichend kinetische Energie gewinnen, um die Lücke zu dem höher gelegenen Energieniveau des Kohlenstoffs zu schließen. Wäre das Umfeld heißer, so wäre die gewonnene kinetische Energie zu groß. In beiden Fällen könnte keine Resonanz zwischen dem Beryllium-Heliumpaar und dem Kohlenstoff erreicht werden. Diese Feinabstimmung ist in der Tat sehr erstaunlich. Ist damit der Kohlenstoff für immer gerettet? Keineswegs! Das Fusionskarussell dreht sich immer weiter und Folgereaktionen bedrohen den mühsam erzeugten Kohlenstoff. Beispielsweise reagiert Kohlenstoff mit Helium zu Sauerstoff. 360 | josef m. gassner · harald lesch · jörn müller

Glücklicherweise verfügt diese Reaktion nicht über ein geeignetes Resonanzniveau. Zwar besitzt der Sauerstoff ein Resonanzniveau nahe der Massenenergie des Kohlenstoff-Heliumpaares, aber es liegt energetisch tiefer. Beim Zusammenstoß der beiden Reaktionspartner kommt die unvermeidliche Bewegungsenergie hinzu. Dadurch vergrößert sich die Differenz zum Resonanzniveau des Sauerstoffs zusätzlich. Resonanz kann so nicht erreicht werden und die Fusion zu Sauerstoff wird weitgehend unterdrückt. Weitgehend bedeutet jedoch nicht vollständig. Trotz fehlender Resonanz erlauben die Gesetze der Quantenmechanik in etwa der Hälfte aller Fälle dennoch die Fusion zu Sauerstoff. Das schmälert die Ausbeute an Kohlenstoff, sichert aber die Produktion des für die belebte Materie unverzichtbaren Elements Sauerstoff. Theoretisch ist auch der Sauerstoff gefährdet, denn mit einem Heliumkern könnte er zu Neon fusionieren. Physikalische Auswahlregeln, die gewisse Quantenzahlen betreffen, machen diesen Schritt jedoch extrem unwahrscheinlich. Wer weiß, ob ohne diese glücklichen Umstände jemals ein Wesen aufgetaucht wäre, das die Frage nach dem ›Warum‹ hätte stellen können. Mit der uns vertrauten Chemie, Biochemie und Biologie hätte die Erde, falls sie überhaupt so entstanden wäre, wie wir sie kennen, sicher nichts gemein. Doch ›ganz anders‹ muss ja nicht ›viel schlechter‹ bedeuten – auch das Gegenteil wäre möglich.

8. Eine philosophische Nachbetrachtung Das letzte Wort des vorherigen Abschnitts lautet ›möglich‹ – es kann geschehen. Möglichkeiten sind die zur Wahl stehenden Varianten, sie bezeichnen die Potentiale dessen, was eintreten könnte. In der Philosophie wird der Ausdruck ›Kontingenz‹ mit dem Adjektiv ›kontingent‹ verwendet und bezeichnet den Status von Tatsachen, deren Bestehen gegeben und weder notwendig noch unmöglich ist. Insofern steht unsere Ausgangsfrage ›Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?‹ in engstem Zusammenhang mit der Kontingenz des Seins. Ist das Sein notwendig oder ist es kontingent? Wenn wir hier nicht in der reinen Konjunktivfassung bleiben wollen, dann müssen wir uns auch in einer philosophischen Nachbetrachtung positionieren und Annahmen machen, deren TragAnsätze und Perspektiven der Physik und Kosmologie | 361

fähigkeit sich erweisen muss. Dabei müssen wir auch weiterhin den schon anfangs zitierten Gödelschen Beweis der Unvollständigkeit von Aussagensystemen als Zensor akzeptieren. Um was ging es uns denn in unserem Beitrag? Es ging uns um eine saubere Darstellung der Transformation des physikalischen Seins von der Möglichkeit in die Wirklichkeit. Das Sein der Wirklichkeit, so zeigt sich mittels eines ausgeklügelten Erkenntnisprozesses, der durch den Wettbewerb von empirischen Hypothesen charakterisiert ist, dessen Ausgang durch die schärfste Waffe der Kritik, das Experiment bzw. die Beobachtung, entschieden wird, stellt sich in seiner Urform als reine Energie dar, deren Schwankungen sich in Feldern und Teilchen manifestieren. Bedingung der Möglichkeit dieser Manifestation ist die Stabilität dessen, was entstand. Unser Universum ist das Ergebnis einer Abfolge ineinandergreifender Prozesse, die so abliefen, weil die Teilchen und Kräfte exakt die Eigenschaften haben, die sie haben. Gedankenexperimente mit den fundamentalen Wechselwirkungen und ihren Parametern zeigen, dass das Universum genau so sein muss, wie es ist, ansonsten wären die Seinsstrukturen so sicher nicht entstanden. Aus diesen physikalischen Spekulationen lassen sich bemerkenswerte metaphysische Spekulationen entwickeln.

9. Die Solidarität des Universums – der Kosmos als Prozess Kommen wir zurück an den Anfang. Wir fragten nach den Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Wesen die metaphysische Grundfrage stellen kann. Wenn es nur eine Wirklichkeit gibt, an der Wahrnehmender und Wahrgenommenes teilhaben, dann müssen die unterschiedlichen Sichtweisen in irgendeiner Form aufeinander bezogen sein. Der Mensch ist samt seinem Erkenntnisvermögen das Resultat der Evolution. Er partizipiert an der Natur und beeinflusst sie durch seine Handlungen, Ängste, Visionen und Hoffnungen. Die Position eines außerweltlichen Beobachters ist ihm deshalb verwehrt. Aber die Naturwissenschaften beschreiben nur die kausalen Zusammenhänge empirischer Daten, sie sind nach Thomas Nagel ein »Blick von nirgendwo«8. Als vollständiger Teil dieses Universums machen Menschen ihre Erfah362 | josef m. gassner · harald lesch · jörn müller

rungen zum Fundament ihrer Modelle über das Universum. Dieses Weltganze, das Universum, zeigt sich aber nur unter der durch die Sinneswahrnehmungen dargestellten leiblichen Konstitution und unter der durch die besondere Form des erkennenden Bewusstseins vermittelten Perspektive. Und was erkennt der Mensch, der das Universum erforscht, es nach Alternativen durchsucht? Ganz einfach: Das Universum hat, zumindest auf unserem Planeten, eine materielle Transformation durchgemacht. Aus unbelebter Materie ist Leben entstanden. Leben ist eine Form des Seins, die sich vor allem durch das Bestreben auszeichnet, sich vor den natürlichen Gegebenheiten und Widrigkeiten zu schützen und wenn möglich soweit zu befreien. Eingebettet in einen kosmischen Energiestrom, der, ausgehend von der Sonne, die Erde erwärmt und erhellt, entwickelte sich in sehr langen Zeiträumen eine immer komplexere Flora und Fauna. Physikalisch definiert ist ein Lebewesen ein sich selbst organisierendes, dissipatives Nichtgleichgewichtssystem. Es verteilt und verarbeitet die bereits aufgenommene und in molekularer Form verwandelte Sonnenenergie immer wieder aufs Neue. In vernetzten Kreisläufen und in engster Wechselwirkung mit den äußeren Umweltbedingungen hat das Phänomen Leben Bedingungen geschaffen, die seine Weiterentwicklung in immer komplexere Individuen überhaupt erst ermöglichten. Nach der fast neun Milliarden Jahre langen, allein durch die kosmische Entwicklung bedingten Transformation der Materie in schwere Elemente bildeten sich das Sonnensystem und die Planeten. In dieser Kulisse vollzieht sich auf der Erde, vermutlich in den Urmeeren, die allmähliche Verwandlung von einfachsten Molekülen zu immer komplexeren molekularen Strukturen, die sich als Selbstorganisationsphänomen in zahllosen ›Testreihen‹ zu allerersten Vorformen einfachster Zellen entwickeln. Die Zelle ist das Atom des Lebens. Die biologische Evolution geht ans Werk und erschafft immer neue Möglichkeiten der Befreiung von der Lebensumwelt. In immer verfeinerten Verfahren schaffen es die Lebewesen, sich in kooperativen Strukturen gegenseitig zu erhalten und zu unterstützen. Alfred North Whitehead schreibt hierzu: »Nature is a theatre for interrelations of activities. All things change, the activities and their interrelations.«9 Das Zauberwort der Evolution ist ›Koevolution‹, sie verbindet die unterschiedlichen Organismen Ansätze und Perspektiven der Physik und Kosmologie | 363

und ihre Umwelt. Umgebung und Spezies sind nicht voneinander zu trennen, beide entwickeln sich. Die erfolgreichsten Organismen sind die, die ihre Umwelt so verändern, dass sie einander gegenseitig unterstützen. Man könnte von einer Gemeinschaft aller Prozesse und Teile der Welt sprechen, weit ausgeholt, von der ›Solidarität des Universums‹. Wäre es so, dann wäre der Kosmos ein einziger Selbstorganisationsprozess, dessen Inhalt und Zweck die ständige und kontinuierliche Schaffung neuer Möglichkeiten darstellt: zunächst die Materie als Substrat, aus dem sich überhaupt etwas ›machen lässt‹, dann durch zunehmende Strukturierung in Galaxien, Sterne und Planeten. Je kleiner die Strukturen, umso höher wird ihr Organisationsgrad. Das Organisationsphänomen Leben ist dann nur ein notwendiger Schritt unter den besonders günstigen Bedingungen eines Planeten im richtigen Abstand um einen nicht zu heißen und nicht zu kalten Stern. Nach viereinhalb Milliarden Jahren Werden und Vergehen auf der Erde taucht dann eine ganz neue Organisationsform auf: das menschliche Gehirn mit der besonderen Eigenschaft des Selbstbewusstseins und der Selbstreflexion. Diese neue Lebensform erhöht das Tempo der Selbstorganisation durch die Entwicklung von Technik und Wissenschaft im Rahmen sich ständig verändernder kultureller Organisationsstrukturen. Immer geht es um mehr Freiheit von der Umwelt durch immer neue Systemvernetzungen und Kooperativen. Das lebendige Sein kann sich wehren, kann sich neue Chancen und neue Möglichkeiten für die Zukunft verschaffen. Das Sein, mit seiner Ausformung ›Universum‹, hat sich für die Chance der vielen Möglichkeiten entschieden und nicht für die einzige Möglichkeit des Nichtseins. Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen! Das Ew’ge regt sich fort in allen, Am Sein erhalte dich beglückt! Das Sein ist ewig: denn Gesetze Bewahren die lebend’gen Schätze, Aus welchen sich das All geschmückt. J. W. von Goethe: Das Vermächtnis

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Anmerkungen

Vgl. Gerhard Vollmer: Wieso können wir die Welt verstehen?, S. 144 ff. 2 Vgl. ebd., S. 164 ff. 3 Vgl. Pierre-Louis Maupertuis: Der Einklang verschiedener Naturgesetze. 4 Vgl. William R. Hamilton: Second Essay On a General Method in Dynamics, S. 95–144. 5 Hendrik Casimir : On the Attraction between two Perfectly Conducting Plates, S. 793. 6 Andrei Dmitrijewitsch Sacharow : Violation of CP Invariance, S. 24. 7 Nigel Matthew Clarke : Life, Bent Chains; Joachim Hubmann : Wie Kohlenstoff erbrütet wird. 8 Thomas Nagel: Der Blick von nirgendwo. 9 Alfred North Whitehead : Nature and Life, S. 35 f. 1

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Auswahlbibliographie | 375

Zu den Autorinnen und Autoren Busche, Hubertus, Prof. Dr. phil.: Professor der Philosophie an der FernUniversität in Hagen; Arbeitsschwerpunkte: Erkenntnistheorie, Ontologie und Metaphysik, Geschichte der Philosophie (insb. der Antike und der Neuzeit), Theorie der Vernunft und Rationalität; ausgewählte Publikationen: Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum. Eine Harmonie im Zeitalter der Berechnung. Hamburg 1997; Die Seele als System. Aristoteles’ Wissenschaft von der Psyche. Hamburg 2001; (Hg.): Departure for Modern Europe. A Handbook of Early Modern Philosophy (1400–1700). Hamburg 2011. De Gennaro, Ivo, Dr. phil.: Assistenzprofessor für Moralphilosophie an der Freien Universität Bozen und Vertragsprofessor für Ästhetik an der Bocconi-Universität Mailand; Arbeitsschwerpunkte: Seinsgeschichtliches Denken, Heidegger, antike Philosophie, ökonomische Ethik; ausge-wählte Publikationen: Logos – Heidegger liest Heraklit. Berlin 2001; Dasein: Dasein (zus. mit Gino Zaccaria). Milano 2007; La dittatura del valore – The Dictatorshiop of Value (zus. mit Gino Zaccaria). Milano 2011; (Hg.): Value. Sources and Readings on a Key Concept of the Globalized World. LeidenBoston 2012; The Weirdness of Being. Heidegger’s Unheard Answer to the Seinsfrage. Durham 2013. Gassner, Josef M., Dr. rer. nat.: Mathematiker, theoretischer Physiker, Kosmologe und Grundlagenforscher an der Universitätssternwarte der LMU München; ausgewählte Publikationen: Primordial He-4 Abundance Constrains the Possible Time Variation of the Higgs Vacuum Expectation Value (zus. mit Harald Lesch). In: International Journal of Theoretical Physics, 47.2 (2008), S. 438–445; From primordial He-4 abundance to the Higgs field (zus. mit Harald Lesch/Hartmuth Arenhövel). In: The Astrophysical Journal, 685.2 (2008), S. 681; Urknall, Weltall und das Leben: Vom Nichts bis heute morgen (zus. mit Harald Lesch). Grünwald 2012 [Tonträger]. Gabriel, Markus, Prof. Dr. phil.: Lehrstuhl für Erkenntnistheorie, Philosophie der Neuzeit und der Gegenwart, Vorsitzender des ›Internationalen Zentrums für Philosophie‹, Stellvertretender Direktor des Käte Hamburger Kollegs ›Recht als Kultur‹; Arbeitsschwerpunkte: Erkenntnistheorie, Meta| 377

physik, Antike Philosophie und Philosophie der Neuzeit und der Gegenwart; ausgewählte Publikationen: An den Grenzen der Erkenntnistheorie. Die notwendige Endlichkeit des objektiven Wissens als Lektion des Skeptizismus. Freiburg/München 2008; Transcendental Ontology: Essays in German Idealism. New York/London 2011; Warum es die Welt nicht gibt. Berlin 2013. Hauswald, Rico, m.a.: wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin; Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftstheorie, Metaphysik/Ontologie, Sprachphilosophie; ausgewählte Publikationen: Umfangslogik und analytisches Urteil bei Kant. In: Kant-Studien, 101 (2010), S. 283-308; Interpretationen von Interpretationen: Doppelte Hermeneutik und interaktive Grammatik in den Humanwissenschaften. In: Groh, Thomas/Lorenz, Jörn (Hg.): Interpretatio mundi: Wie deuten Wissenschaften ihre Welt? Dresden 2010, S. 9-32; Ian Hacking über die Sprachabhängigkeit von Handlungen und das ›Erfinden‹ von Leuten. In: Munz, Volker A./Puhl, Klaus/Wang, Joseph (Hg.): Language and World. Kirchberg am Wechsel 2009, S. 172–175. Hessbrüggen-Walter, Stefan, Dr. phil.: freier Autor; Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der frühen Neuzeit, digital humanities; ausgewählte Publikationen: Die Begriffsbestimmung der Philosophie im spanischen Aristotelismus der frühen Neuzeit. In: Archiv für Begriffsgeschichte (erscheint 2013); Scientific Knowledge and the Metaphysics of Experience: The Debate in Early Modern Aristotelianism. In: Lexicon Philosophicum: International Journal for the History of Texts and Ideas (erscheint 2013); Tatsachen im semantischen Web: Nanopublikationen in den digitalen Geisteswissenschaften?. In: Peter Haber, Peter/Pfanzelter, Eva (Hg.): historyblogosphere: Bloggen in den Geschichtswissenschaften. München (erscheint 2013). Kossler, Matthias, apl. Prof. Dr. phil.: Leiter der SchopenhauerForschungsstelle an der Universität Mainz, Präsident der SchopenhauerGesellschaft; Arbeitsschwerpunkte: Mittelalterliche und Klassische Deutsche Philosophie; ausgewählte Publikationen: Substantielles Wissen und subjektives Handeln, dargestellt an einem Vergleich von Hegel und Schopenhauer. Frankfurt a. M. u. a. 1990; Empirische Ethik und christliche Moral. Würzburg 1999; (Hg.): Musik als Wille und Welt. Würzburg 2011. Lemanski, Jens, Dr. phil.: wissenschaftliche Hilfskraft und Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der FernUniversität in Hagen und der Dilthey-Forschungsstelle der Ruhr-Universität Bochum; ausgewählte Publi378 | Autorinnen und Autoren

kationen: Christentum im Atheismus. Spuren der mystischen Imitatio ChristiLehre in der Ethik Schopenhauers, 2 Bde. London 2009 ff.; Von Brucker zu Augustinus. Probleme mit der Geschichte des Begriffs ›Neuplatonismus‹. In: Archiv für Begriffsgeschichte, 53 (2011), S. 33–53; Summa und System. Historie und Systematik vollendeter bottom-up und top-down-Theorien. Münster 2013. Lesch, Harald, Prof. Dr. rer. nat.: Professor für theoretische Astrophysik an der Universitätsternwarte der LMU München und Professor für Naturphilosophie an der Hochschule für Philosophie (SJ) München, Moderator der ZDF-Sendungen ›Abenteuer Forschung‹ und ›Leschs Kosmos‹; ausgewählte Publikationen: Kosmologie für helle Köpfe. Die dunklen Seiten des Universums (zus. mit Jörn Müller). München 2008; Sternstunden des Universums (zus. mit Jörn Müller). München 2011; Die großen Denker: Philosophie im Dialog (zus. mit Wilhelm Vossenkuhl). Grünwald 2011. Meints, Waltraud, Dr. phil.: Verwaltungsprofessorin für Politikdidaktik am Institut für Politikwissenschaften der Leuphana Universität Lüneburg; Arbeitsschwerpunkte: Theorien des Politischen, Machttheorien, Politische Bildung; ausgewählte Publikationen: Politische Freiheit. Über die Konstituierung des Welt- und Selbstverhältnisses im Politischen. In: Meints, Waltraud/Daxner, Michael/Kraiker, Gerhard (Hg.): Raum der Freiheit. Reflexionen über Idee und Wirklichkeit. Bielefeld 2009, S. 205–211; Partei ergreifen im Interesse der Welt. Eine Studie zur politischen Urteilskraft im Denken Hannah Arendts. Bielefeld 2011; Reflektierende Urteilskraft als Ethos der Macht – eine Annäherung an einen emanzipatorischen Begriff von Macht. In: Breier, Karl-Heinz/Gantschow, Alexander (Hg.): Politische Existenz und republikanische Ordnung im Denken von Hannah Arendt. Baden-Baden 2012, S. 119–134. Müller, Jörn, Dr. rer. nat.: Physiker, Autor, Wissenschaftsjournalist und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universitätssternwarte der LMU München; ausgewählte Publikationen: Woher kommt das Wasser der Erde? Urgaswolke oder Meteoriten (zus. mit Harald Lesch). In: Chemie in unserer Zeit, 37.4 (2003), S. 242–246; Die Entstehung der chemischen Elemente: Vom Urknall zum roten Riesen (zus. mit Harald Lesch). In: Chemie in unserer Zeit, 39.2 (2005), S. 100–105; Sterne, Wie das Licht in die Welt kommt (zus. mit Harald Lesch). München 2011. Schubbe, Daniel, Dr. phil.: wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der FernUniversität in Hagen, Vorstandsmitglied der SchopenAutorinnen und Autoren 379

hauer-Gesellschaft; Arbeitsschwerpunkte: Philosophische Hermeneutik, Wissenschaftstheorie, Technik- und Medienphilosophie, Schopenhauer; ausgewählte Publikationen: Philosophie des Zwischen. Hermeneutik und Aporetik bei Schopenhauer. Würzburg 2010; Schopenhauers verdeckende Entdeckung des Leibes – Anknüpfungspunkte an phänomenologische Beschreibungen der Leib-Körper-Differenz. In: Koßler, Matthias/Jeske, Michael (Hg.): Philosophie des Leibes. Die Anfänge bei Schopenhauer und Feuerbach. Würzburg 2012, S. 83–105; Formen der (Er-)Kenntnis: Ein morphologischer Blick auf Schopenhauer. In: Gödde, Günter/Buchholz, Michael B. (Hg.): Der Besen, mit dem die Hexe fliegt. Wissenschaft und Therapeutik des Unbewussten. Bd. 1: Psychologie als Wissenschaft der Komplementarität. Gießen 2012, S. 359–385. Schulz, Reinhard, apl. Prof. Dr. rer. nat.: Professor für die Fachdidaktik der Philosophie und Werte und Normen am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Mitherausgeber einer Jaspers Gesamtausgabe (Schwabe Verlag), Geschäftsführer der Oldenburger ›Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit‹ und des Studium fundamentale; Arbeitsschwerpunkte: Naturphilosophie, Anthropologie, Hermeneutik und die Jaspers Forschung; ausgewählte Publikationen: Naturwissenschaftshermeneutik. Eine Philosophie der Endlichkeit in historischer, systematischer und angewandter Hinsicht. Würzburg 2004; (Hg.): Zukunft ermöglichen. Denkanstösse aus fünfzehn Jahren Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit. Würzbug 2008; (Hg. zus. mit G. Bonanni und M. Bormuth): »Wahrheit ist, was uns verbindet«. Karl Jaspers’ Kunst zu philosophieren. Göttingen 2009. Weidemann, Christian, Dr. phil.: wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Philosophisch-Theologische Grenzfragen der Ruhr-Universität Bochum; Arbeitsschwerpunkte: natürliche Theologie, Wissenschaftstheorie, Philosophie der Aufklärung; ausgewählte Publikationen: Die Unverzichtbarkeit natürlicher Theologie. Freiburg i. Br. 2007 (Karl Alber Preis 2007); Zufall, Gott oder Multiversum? Die Feinabstimmung der Naturkonstanten und die Erklärungsbedürftigkeit des Lebens in der modernen Kosmologie. In: Nissing, Hanns-Gregor (Hg.): Natur. Ein philosophischer Grundbegriff. Darmstadt 2010, S. 181–196; Did Jesus Die for Klingons, too? (Christian Soteriology and Extraterrestrial Intelligent Life) [im Erscheinen]. Zaccaria, Gino: unterrichtet Ästhetik und Philosophie an der BocconiUniversität Mailand; Arbeitsschwerpunkte: Heidegger, antike Philosophie, Philosophie der Kunst, Philosophie der Wissenschaft; ausgewählte Publikationen: L’etica originaria. Hölderlin, Heidegger e il linguaggio. Milano 1992; 380 | Autorinnen und Autoren

L’inizio greco del pensiero. Heidegger e l’essenza futura della filosofia. Milano 1999; Hölderlin e il tempo di povertà. Un seminario sull’enigma della poesia. Como 2000; (Hg.): Giacomo Leopardi. L’arte dello scrivere. Milano 2004; L’inizio e il nulla. Colloquio di un logico, di un aiutante e di un pittore. Milano 2009; Pensare il nulla. Leopardi, Heidegger. Como 32011; La dittatura del valore – The Dictatorship of Value (zus. mit Ivo De Gennaro). Milano/ New York 2011.

Autorinnen und Autoren 381

Personenregister

A Abaelard, Peter 44, 45, 54 Adamson, Peter 57 Adams, Robert Merrihew 330, 331 aš-Šahrastānī, Muḥammad Ibn ‘Abd al-Karīm 42 Adorno, Theodor W. 263, 268, 279, 280 Aelred von Rievaulx 45 Aëtios 56 al-Ġazālī, Abū Ḥāmed Muḥammad ibn Muḥammad 43 Alexander von Hales 46, 58 al-Fārābī, Abū Naṣr Muḥammad ibn Muḥammad 42 al-Ḥimṣī, Ibn Nāʿima 57 al-Kindī, Abu Yūsuf Ya‘qūb ibn ’Isḥāq aṣ-Ṣabbāḥ 42, 57 Alkinoos 37 Anonymus Briefe über die göttliche Wissenschaft 57 Causa causarum 43 Dicta eines griechischen Weisen 57 Enzyklopädie der Lauteren Brüder 42 Liber de causis 58 Pistis Sophia 55 Theologie des Aristoteles 42, 57 Translator Aristotelis (Saec. XII v. XIII) 55 Anselm von Canterbury 44 Arendt, Hannah 17, 263–282 Aristophanes 52

Aristoteles 24, 32, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 41, 42, 43, 46, 47, 49, 50, 53, 54, 55, 56, 58, 144, 193, 240, 294, 318, 323 Armstrong, David 324 a Sancto Thoma, Johannes 103 Assmann, Jan 51, 52 Augustinus 37, 40, 41, 43, 44, 45, 46, 50, 55, 56, 263, 264, 276 Axelos, Christos 145 Ayer, Alfred J. 283, 287, 321 B Badiou, Alain 159, 182 Baeumker, Clemens 47 Bakchylides von Keos 52 Baker, Alan 326 Baldwin, Thomas 296, 323, 324 Baltes, Matthias 56 Barrow, John 328, 329 Bayle, Pierre 149 Beeh, Volker 185 Beierwaltes, Werner 24, 38, 40, 55 Benacerraf, Paul 322 Benjamin, Walter 271, 280 Bennett, Jonathan 325 Berkeley, George 172 Bertrand, Joseph Louis François 325 Bessarion, Basilius 55 Beyerlin, Walter 51 Bieri, Peter 20, 331 Bierling, Friedrich Wilhelm 147 Biesenthal, Heinrich 79 Blank, Andreas 104, 109 Bloch, Ernst 20 Blumenberg, Hans 52, 182 | 383

Blumenfeld, David 155 Bostrom, Nick 329 Brandom, Robert 49, 59 Brassier, Ray 185 Bredlow, Luis Andrés 52 Bromand, Joachim 319, 327, 328, 330 Brunner-Traut, Emma 51 Bryant, Levi 182 Buchenau, Artur 65, 66 Burgess, John P. 322 Burkert, Walter 54 Busche, Hubertus 14, 147, 155, 156 C Campbell, Joseph K. 322 Camus, Albert 16, 206 Carnap, Rudolf 8, 283, 288, 299, 319, 325 Carter, Brandon 329 Carvallo, Hector 54 Casimir, Hendrik 351, 365 Chalmers, David J. 182 Chomsky, Noam 49 Cicero, Marcus Tullius 37, 55, 56 Clarke, Nigel Matthew 365 Clarke, Samuel 51 Clay, Jenny Strauss 53 Collins, Robin 328, 329 Conant, James 183 Conring, Hermann 149 Copleston, Frederick C. 287, 321, 330 Coudert, Allison P. 156 Craig, Edward 320 Craig, William L. 54, 303, 326, 327, 328 Cramer, Wolfgang 182 D Damaskios 40 D’Ancona, Cristina 58 Davidson, Herbert A. 58 Dawkins, Richard 20, 328 de Buck, Adriaan 52 384 | Personenregister

de Carcavy, Pierre 156 De Gennaro, Ivo 16, 17 de Herrera, Francisco 103 Demokrit 207 Denzinger, Heinrich 57 des Bosses, Bartholomäus 145, 151, 156 Descartes, René 166, 177, 183, 319 Diels, Hermann 53, 259 Dieterici, Friedrich Heinrich 57 Dietrich, Manfried 51 Dionysius (Ps.-)Areopagita 47, 57 Dörrie, Heinrich 55 E Earman, John 303, 327 Ebeling, Erich 51 Eddington, Arthur 329 Edel, Susanne 109 Edwards, Paul 290, 322 Effe, Bernd 56 Einstein, Albert 347 Empedokles 53 Epicharmos 30, 31, 32, 36, 37, 53, 54 Epikur 37, 55, 207 Eriugena, Johannes 41 Ettlinger, Max 150 Evers, Dirk 145, 147, 148, 150 F Faye, Jan 323 Fichte, Johann Gottlieb 160, 162, 183 Field, Hartry 323 Fischer, John M. 331 Forster, Michael 183 Francotte, Auguste 53 Freedman, Joseph S. 104 Frege, Gottlob 17, 283, 285, 319, 320, 322 G Gabriel, Markus 15, 182, 183, 184 Gadamer, Hans-Georg 184, 205, 221

Gale, Richard 312, 321, 322 Garcia, Tristan 159, 182 Gardiner, Alan Henderson 51 Gaßner, Josef M. 18 Gerhardt, Carl Immanuel 151 Gerhardt, Volker 203 Gerson, Lloyd P. 24, 32, 38, 39, 53, 55 Goclenius, Rudolph 89, 95, 108 Gödel, Kurt 172, 330, 334 Goethe, Johann Wolfgang 146 Goldschmidt, Tyron 20 Goldstick, Daniel 8, 20, 144 Goodman, Nelson 322 Gottsched, Johann Gottfried 65, 101 Grabmann, Martin 47, 59 Grant, Edward 108 Greene, Brian 329 Grünbaum, Adolf 317, 326, 332 Guillén, Lucia Rodríguez-Noriega 53 H Haarbrücker, Theodor 57 Haas, Volkert 51, 52 Habermas, Jürgen 279 Hamilton, William R. 347, 365 Haring, Nicholas M. 58 Harman, Graham 182 Hartmann, Eduard von 203 Hartshorne, Charles 330 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 159, 160, 170, 179, 183, 184, 207, 213, 223, 268 Heidegger, Martin 8, 10, 11, 16, 17, 20, 24, 52, 115, 119, 122, 141, 144, 155, 181, 206, 211, 222, 227–262, 263, 265, 266, 267, 268, 269, 279, 280 Heinrich von Gent 46 Hempel, Carl G. 321 Heraklit 259 Hermanni, Friedrich 321, 322, 331, 332

Hermann von Carinthia 45, 58 Herring, Herbert 65, 153 Hesiod 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 36, 37, 41, 50, 52, 53 Heßbrüggen-Walter, Stefan 14 Hierokles von Alexandrien 40, 56 Hirai, Hiro 108 Hochhuth, Rolf 208, 221 Hogrebe, Wolfram 182 Holt, Jim 332 Holz, Hans Heinz 65, 66, 101 Homer 26, 27, 28, 31 Honorius Augustodunensis 44 Horsten, Leon 322 Horten, Max 58 Hübener, Wolfgang 66, 102, 106, 108, 150 Hubmann, Joachim 365 Hügli, Anton 223 Hume, David 183, 290, 297, 322, 324 Ḫusrau, Nāṣir-i 42, 57 Hyman, Arthur 58 I Ibn Rušd, ʾAbū l-Walīd Muḥammad ibnʾAḥmad 43, 55 ibn Sīnā, Abū ʿAlī al-Ḥusayn ibn ʿAbd Allāḥ 42, 47 Irenaeus von Lyon 57 J Jacobi, Friedrich Heinrich 189 Jaeggi, Rahel 280 Jaspers, Karl 16, 17, 182, 205–225, 269, 279 Jeck, Udo Reinhold 57 K Kahn, Charles 24, 52, 54 Kaiser, Otto 52 Kambylis, Athanasios 52 Kane, Robert 331 Kanitscheider, Bernulf 303, 321, 327 Personenregister | 385

Kant, Immanuel 16, 160, 161, 162, 163, 144, 163, 205, 206, 207, 191, 164, 166, 214, 215, 179, 183, 215, 217, 218, 264, 269, 218, 219, 278, 318, 319, 330 Kayser, Carl 58 Keckermann, Bartholomäus 73, 82, 83, 84, 87, 99, 101, 102, 107 Keeley, Brian 332 Keil, Geert 331, 332 Kerkhof, Rainer 53 Keynes, John Maynard 299, 325 Kierkegaard, Søren 16, 206, 208 Kingsley, Peter 54 Kircher, Athanasius 84, 85, 86, 87, 88, 89, 93, 99, 100, 101, 107, 108 Klowski, Joachim 52, 53 Knebel, Sven K. 146 Knorr von Rosenroth, Christian 55, 90, 92, 93, 96, 100, 109, 112 Koch, Heidemarie 51 Köhler, Johannes 56 Koslowski, Peter 149 Koßler, Matthias 15, 57, 203 Krämer, Hans Joachim 54 Kranz, Walther 259 Kripke, Saul 330 Krüger, Hans-Peter 280 L Laertius, Diogenes 30, 55 Lamb, Willis Eugene 350 Leibniz, Gottfried Wilhelm 8, 9, 10, 11, 13, 14, 15, 16, 20, 23, 24, 34, 38, 46, 47, 65, 66, 67, 84, 49, 50, 51, 97, 101, 102, 115–158, 189, 159, 190, 199, 203, 156, 158, 205, 206, 207, 214, 201, 214, 215, 216, 219, 242, 259, 260, 263, 284, 289, 312, 331 Leinkauf, Thomas 106, 107, 108 Lemanski, Jens 13, 57 Leopardi, Giacomo 17, 227, 247, 250, 251, 252, 258, 260, 261 Lesch, Harald 18 386 | Personenregister

Leslie, John 309, 328, 329, 331, 332 Leukipp 31, 53 Lewis, David 159, 182, 295, 323, 324, 330 Löffler, Winfried 330 Lombardus, Petrus 45 Lovejoy, Arthur O. 7, 20, 142, 155 Lowe, E. J. 8, 18, 20, 293, 294, 295, 296, 298, 299, 322, 323, 324, 325, 326 Lubinus, Eilhard 73, 79, 80, 81, 83, 85, 88, 98, 99, 101, 105, 106 Luiselli, Maria Michela 51 Lukrez 37, 55, 56 Lütkehaus, Ludger 207, 208, 221, 279 M Mackie, John L. 328, 330, 331 Mährle, Wolfgang 103 Maimonides, Moses 43 Mainländer, Philipp 189, 201, 203 Maitzen, Stephen 289, 290, 321, 322 Makkreel, Rudolf A. 281 Malcolm, Normann 330 Malebranche, Nicolas 146 Malter, Rudolf 201, 203 Manley, David 182 Manson, Neil 329 Marciano, M. Laura Gemelli 53, 54 Marquard, Odo 218, 224 Maupertuis, Pierre-Louis 346, 365 Maxwell, James Clerk 347 Maystre, Charles 51 McGinn, Bernard 58 McGinnis, Jon 24, 42, 57 Meillassoux, Quentin 159, 171, 173, 182, 184, 185 Meints, Waltraud 17, 280 Melissos 32, 53, 54 Mellor, D. H. 299, 323, 325 Merleau-Ponty, Maurice 222 Mill, John Stuart 285 Mondi, Robert 52 Moore, G. E. 17, 283, 319

More, Henry 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 100, 101, 102, 109, 110 Müller, Jörn 18 N Nagel, Thomas 362, 365 Narveson, Jan 328 Newton, Isaac 347 Nietzsche, Friedrich 208, 210, 230, 231, 235, 245, 246, 252, 260, 261 Nikolaus von Kues 212, 213 Norden, Eduard 54 Nozick, Robert 18, 144, 298, 299, 324, 326 O OConnor, Timothy 324, 330, 331 Ohly, Friedrich 58 Oppy, Graham 303, 317, 327, 328, 330 Origenes (Adamantius) 37, 55 Ovid (Publius Ovidius Naso) 52 P Parfit, Derek 321, 331, 332 Parmenides 24, 29, 30, 31, 32, 52, 53, 54, 171, 174, 216, 236, 239, 244 Paseau, Alexander 324 Patt, Walter 20, 24, 53, 144 Penta, Leo 275, 280 Périon, Joachim 55 Philon von Alexandria 55, 56 Philoponos, Johannes 41 Photios I. 40, 41 Pietsch, Christian 54 Plantinga, Alvin 18, 285, 310, 311, 320, 321, 330 Platon 24, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 44, 45, 50, 53, 54, 55, 193, 230, 264, 294 Plotin 24, 38, 39, 40, 42, 43, 45, 50, 55, 56, 57, 58, 207 Plutarch (Ps.-) 56 Popper, Karl R. 320

Porphyrius 39, 40, 56, 57 Press, Gerald A. 53 Proklos (Diadochos) 40, 54, 56 Pruss, Alexander R. 292, 312, 315, 318, 322, 324, 327, 328, 330, 331, 332 Ps.-Alexander von Aphrodisias 55 Ps.-Aristoteles 27, 53 Ps.-Augustinus 44 Q Quine, Willard Van Orman 320, 322 R Ramelow, Tilman 111, 145, 148 Rees, Martin 328, 329 Reinink, Gerrit J. 58 Rescher, Nicholas 331 Ritter, Joachim 211, 222 Robbiano, Chiara 53 Robinson, Abraham 325 Rödl, Sebastian 183 Rodriguez-Pereyra, Gonzalo 296, 323, 324 Rohs, Peter 331 Roinila, Markku 150 Rosen, Gideon 322 Rosset, Clement 201 Ross, George MacDonald 141, 155 Rowe, William 312, 321, 322, 331 Ruggenini, Mario 144 Rundle, Bede 322 Russell, Bertrand 17, 283, 287, 288, 317, 319, 320, 321, 330 S Sakharov, Andrei Dimitrijewitsch 356, 365 Sakkas, Ammonios 40 Sartre, Jean-Paul 16, 206 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 8, 9, 14, 15, 16, 20, 115, 119, 159–187, 205, 206, 207, 214, 215, 216, 217, 218, 219, 245, 260 Schlick, Moritz 287, 320, 321 Personenregister | 387

Schmidt-Biggemann, Wilhelm 108, 184 Schnabl, Christa 275, 280 Schnepf, Robert 54 Schopenhauer, Arthur 14, 15, 16, 189–204, 208, 221, 222 Schöpsdau, Klaus 54 Schrödinger, Erwin 347 Schubbe, Daniel 279 Schulz, Reinhard 16, 221 Sellars, Wilfrid 15 Seneca, Lucius Annaeus 34, 38, 39, 44, 50 Sextus Empiricus 55 Shields, Christopher John 155 Siger von Brabant 47, 48, 49, 50, 59, 115, 145 Sinclair, James 326 Snell, Bruno 24, 28, 52 Sobel, Jordan Howard 327, 330 Sober, Elliott 329 Sorabij, Richard 51, 53, 55 Sorensen, Roy 52 Spinoza, Baruch de 171, 325 Srnicek, Nick 182 Stern (Anders), Günther 268 Stollenwerk, Anneliese 58 Streminger, Gerhard 328 Styron, William 328 Suhm, Christian 320 Swinburne, Richard 299, 301, 302, 304, 305, 306, 307, 325, 326, 328, 329, 331, 332 T Taurellus, Nicolaus 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 81, 82, 83, 84, 85, 93, 97, 98, 99, 100, 103, 104 Taylor, Richard 332 Theophilus (Antiochia) 40, 55 Theophrastos von Eresos 55 Theunissen, Michael 182 Th ierry von Chartres 45 388 | Personenregister

Thomas von Aquin 47, 49, 318 Thukydides 53 Timpler, Clemens 73, 81, 82, 83, 84, 93, 99, 106 Tipler, Frank 328, 329 Tornau, Christian 38 V Vaidya, Anand 324 van Dijk, Jan 51, 52 van Fraassen, Bas C. 326 van Helmont, Franciscus 90, 93, 94, 95, 96, 100, 102, 110 van Inwagen, Peter 8, 10, 18, 20, 159, 182, 296, 297, 298, 299, 300, 301, 302, 313, 317, 322, 324, 325, 326, 331 Vázquez, Gabriel 102 Vilenkin, Alex 329 Vital, Chaim 90, 93, 109 Vollmer, Gerhard 340, 365 Voltaire 129 von Braunschweig-Wolfenbüttel, Rudolf August 156 von Perger, Mischa 54 W Wasserman, Ryan 182 Wedderkopf, Magnus 123, 126, 127, 146, 150 Weidemann, Christian 17, 18, 321, 324, 329 West, Martin Litchfield 52 Whitehead, Alfred North 363, 365 White, Roger 329 Wilhelm von Conches 46 Wilhelm von Moerbeke 55 Wilhelm von Ockham 326 Wilhelm von Saint-Th ierry 45 Wilson, John A. 51 Wippel, John F. 8, 20, 47, 48, 49, 51, 58, 59, 144 Wittgenstein, Ludwig 10, 17, 20, 203, 263, 279, 283, 319, 321

Wright, Crispin 170, 184 X Xenophanes 29, 53

Z Zaccaria, Gino 16, 17 Zimmermann, Albert 20, 24, 46, 47, 48, 49, 58, 59 Žižek, Slavoj 183, 186

Y Yablo, Stephen 324, 327

Personenregister | 389