Wirtschaftsordnung durch Zivilgerichte: Evolution und Legitimation der Rechtsprechung in deregulierten Branchen 9783161524325, 3161524322

Der Gesetzgeber hat in zahlreichen Branchen eine Wende zum Privatrecht vollzogen: Materien wie die Energiepreiskontrolle

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Wirtschaftsordnung durch Zivilgerichte: Evolution und Legitimation der Rechtsprechung in deregulierten Branchen
 9783161524325, 3161524322

Table of contents :
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Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Gang der Darstellung
Kapitel 1. Die Wende zum Privatrecht
A. Ausgangspunkte der Wirtschaftsordnung
I. Wirtschaftliches Handeln von Individuen im Gemeinwesen
II. Indikatoren des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft
III. Historischer Überblick
IV. Rechtfertigung staatlicher Intervention
V. Normative Prägung der Wirtschaftsordnung
1. Das europäische Modell der Wirtschaftsordnung
2. Die Vorgaben des Grundgesetzes
a) Wirtschaftspolitische Neutralität?
b) Wirtschaftliche Betätigung des Staates
3. Wirtschaftsordnung durch Wirtschaftsverwaltungsrecht
B. Der Gewährleistungsstaat
I. Diskussion über die Aufgaben des Staates
II. Gewährleistungsverantwortung
1. Begriff und praktische Anwendung
2. Beispiel: Postsektor
3. Kritik
III. Neue Verwaltungsrechtswissenschaft
C. Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung
I. Definitionen
1. Deregulierung
2. Privatisierung
3. Liberalisierung
II. Die politische Dimension der Deregulierung
1. Wirtschaftliche Argumente
2. Politische Argumente
3. Hinweise aus normativer Perspektive
III. Rechtliche Umsetzung von Deregulierungsmaßnahmen
1. Unionsrechtlicher Rahmen
2. Verfassungsrechtlicher und einfachgesetzlicher Rahmen
3. Umsetzungsinstrumente
IV. Regulierungsrecht als Bindeglied
1. Konzept des Regulierungsrechts
2. Instrumente und Institutionen des Regulierungsrechts
3. Finalität der Regulierung
D. Flexibilisierung des Verwaltungshandelns
I. Handeln der Verwaltung in Privatrechtsform
II. Insbesondere: Public Private Partnerships
1. Definition
2. Grundkonflikt
3. Institutionalisierte PPP
4. PPP auf Vertragsbasis
III. Beispiel Autobahnmaut
1. Rechtsgrundlagen der Autobahnmaut
a) Das Modell
b) Umsetzungsschwierigkeiten
c) Schlüsse für eine Wende zum Privatrecht
2. Zivilrechtliche Streitigkeiten im Entstehungsprozess
a) Schadensersatzansprüche gegen Toll Collect
b) Konfligierende Wettbewerbsinteressen
aa) Service-Partner-Verträge
bb) Fusionskontrollverfahren
cc) Transaktionsmanager
c) AGB von Toll Collect
3. Rechtswegfragen
IV. Legislatorischer Reformbedarf?
E. Publifizierung des Privatrechts
I. Mechanismen der Publifizierung
II. Das Beispiel AGG
III. Dogmatische Einordnung der Publifizierungs-Kritik
F. Zusammenfassung
Kapitel 2. Methodik der evolutionären Rechtsprechungsanalyse
A. Grundriss der evolutionsökonomischen Methodik
I. Ausgangspunkte
1. Evolution
2. Eingeschränkte Rationalität
3. Dynamik
4. Wissen
5. Institutionenökonomik
II. Bausteine der evolutionsökonomischen Wirtschaftsanalyse
1. Erkenntnisinteresse der Evolutionsökonomik
2. Akteure, Elemente, Prozesse
3. Strukturen und Ordnung
III. Wissen und Wettbewerb als Fokalpunkte evolutorischen Denkens
1. Wissen und Unwissen
2. Wissen im wirtschaftlichen Prozess
3. Wettbewerb als Verfahren
IV. Von Variation-Selektion zu Struktur und Ordnung
1. Variations-Selektions-Paradigma
2. Pfad- und Häufigkeitsabhängigkeit
3. Entscheidungstheorie
V. Anwendungsbeispiele evolutionsökonomischer Forschung
1. Dynamik der Telekommunikationsindustrie
2. Mobilfunk-Kooperationen
3. Zusammenfassung
B. Rechtsprechung als Entdeckungsverfahren
I. Zivilgerichte als Akteure der Wirtschaftsordnung
1. Das institutionelle Design nach der Wende zum Privatrecht
2. Institutionenökonomische Einordnung
3. Ökonomische Impact-Analyse
II. Rechtsprechung als Wissensproblem
III. Rechtsprechung als regelgebundenes Verfahren
IV. Skizze einer evolutionären Rechtsprechungsanalyse
1. Methodisches Vorgehen
a) Vergleich und Kontextualisierung
b) Zeitliche und inhaltliche Beschränkung
c) Doppeltes Proxy-Problem
2. Zentrale Fragestellung
3. Schwerpunkte der Untersuchung
a) Sachverhalt
b) Argument
c) Ergebnis
V. „New Cases“
C. Methodische Anknüpfungspunkte
I. Präzedenzfall-Diskussion
II. Evolutionstheoretische Ansätze
1. Evolutionäre Rechtsökonomik
2. Ansätze zu evolutionären Rechtstheorien
3. Theorien richterlicher Normbildung
III. Methodische Konsequenzen evolutionären Rechtsdenkens
1. Charakteristika der evolutionären Rechtstheorie
2. Evolutionäre Rechtstheorie auf dem Prüfstand
3. Selbstverständnis der Justiz – die Hirsch-Rüthers-Debatte
Kapitel 3. Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung
A. Kriterien guter Rechtsprechung
I. Ansätze zur Urteilskritik
1. Das Urteil im Zivilprozess
a) Das Urteil zwischen Hoheitsgewalt und Parteibindung
b) Alternativen der Streitschlichtung
c) Rechtsdogmatische Legitimation der Urteilsanalyse
d) Rechtspolitische Legitimation der Urteilsanalyse
e) Individualpartizipation als demokratiepolitischer Trend
2. Richtige Urteile?
a) Mangelnde Kanonisierung der Urteilskritik
b) Rechtmäßigkeit als alleiniger Maßstab?
c) Harts Positivismus und Dworkins Herkules
3. Ausbildungsmaßstäbe
4. Reflexionen der Richterschaft
5. Rechtstheoretische Anknüpfungspunkte
a) Pragmatische Ansätze und Methodenlehre
b) Theorie des richterlichen Entscheidens
c) Diskurstheorie
d) Rawls’ Vertragstheorie
e) Luhmanns Verfahrenstheorie
f) Ökonomische Analyse
g) Zusammenfassung
II. Ausgangspunkte einer legitimatorischen Urteilsanalyse
1. Funktionaler Ansatz
2. Klassische Prozesszwecktheorien
3. Materieller Geltungsgrund
4. Multiperspektivität
III. Die vierfache Legitimation des Zivilurteils
1. Verfassungs- und europarechtliche Vorgaben
2. Matrix der Legitimation
3. Prinzip der Regulierungsbegrenzung durch dezentrale Einzelfallentscheidung
B. Funktionale Legitimation der Zivilrechtsprechung
I. Methodische Vorbemerkung
II. Konfliktlösung als individueller Legitimationsgrund
III. Befriedung als institutioneller Legitimationsgrund
C. Materielle Legitimation der Zivilrechtsprechung
I. Leitbildbindung als individueller Legitimationsgrund
1. Interessen im Konflikt
2. Leitbilder des Privatrechts
a) Die Idee des Privatrechts
b) Kerngedanken der Privatrechtsdogmatik
c) Historische Einordnung
II. Systemrelevanz als institutioneller Legitimationsgrund
1. Die Idee der Systemrelevanz
2. Grundlagen der Privatrechtsordnung
3. Abgrenzung vom Öffentlichen Recht
a) Ausgangspunkt
b) Relevanz der Unterscheidung
c) Dogmatische Unterscheidung
d) Neuere Überlegungen
aa) „Europäisches Gesellschaftsmodell“
bb) Wechselseitige Auffangordnungen
cc) „Polykontexturalität“
e) Der Eigenwert beider Teilrechtsgebiete
III. System und Leitbild: Freiheit durch Bindung
1. Privatautonomie und Gleichordnung
2. Ordnende Bindungen des Zivilrechts
3. Auf dem Weg in eine moderne Privatrechtsgesellschaft?
4. Zusammenfassung
D. Legitimationsverschiebungen?
I. Europäisierung
1. Einfluss des europäischen Rechts
2. Dogmatische Konsequenzen
II. Publifizierung
1. Elemente der Gemeinwohlberücksichtigung im Zivilprozess
2. Dogmatische Konsequenzen
III. Ökonomisierung
1. Normatives Programm der Rechtsprechung
2. Raum für ökonomische Folgenorientierung
3. Praktikabilität der ökonomischen Analyse im Einzelfall
E. Zusammenfassung
Kapitel 4. Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten
A. Methodische Vorbemerkungen
B. Marktzutritt und Lauterkeit: Das Geschäftsmodell „Billigvorwahl“
I. Sachliche Problematik
1. Die Öffnung der Telekommunikationsmärkte
2. Call-by-Call und Preselection
3. Gerichtliche Durchsetzung der Betreiber(vor)auswahl
II. Dogmatische Herausforderungen
1. Das Unlauterkeitsmoment
2. Belästigung und modernes Verbraucherleitbild
3. Absicherung des Marktzutritts durch UWG
III. Rechtsprechungsentwicklung
1. Sachverhalt
2. Anträge und Entscheidungen
3. Unlauterkeitsauslösendes Element
a) Darstellung
b) Interpretation
4. Feststellung der Belästigung
a) Darstellung
b) Interpretation
5. Berücksichtigung von Marktzutrittsschranken
6. Rezeption als Fortsetzung des Entdeckungsverfahrens
IV. Hypothesen zum gerichtlichen Vorgehen
V. Bewertung
1. Konfliktschlichtung
2. Befriedung
3. Durchsetzung subjektiver Rechte
4. Wertordnung und Systemgrundlagen
5. Zusammenfassung
C. Rechtezuordnung und Verfahren: Die Marke „Post“
I. Sachliche Problematik
1. Öffnung der Post-Märkte
2. Gerichtliche Auseinandersetzungen im Postsektor
3. Marken als Wettbewerbsparameter im Postsektor
II. Dogmatische Herausforderungen
1. Güterzuordnung durch Markenrecht
a) Markenfunktionen
b) Einordnung des Markenrechts
c) Legitimation des Markenrechts
d) Kritik aus wettbewerblicher Sicht
e) Verhältnis zu kartell- und lauterkeitsrechtlichen Regeln
2. Wettbewerbliche Durchdringung markenrechtlicher Tatbestandsmerkmale
a) Verkehrsdurchsetzung
b) Beschreibende Angaben
c) Gleichheitsgrundsatz und Markeneintragung
3. Verfahrensrechtliche Aspekte
a) Verfahrensvielfalt als Problem
b) Abschreckungswirkung
III. Rechtsprechungsentwicklung
1. Sachverhalte und Verfahren
2. Anträge und Entscheidungen
a) Entscheidungen in den Verletzungsverfahren
b) Entscheidungen im Eintragungsverfahren „Post“
c) Entscheidungen in anderen Eintragungsverfahren
d) Zusammenfassung
3. Güterzuordnung durch Markenrecht
4. Wettbewerbliche Durchdringung markenrechtlicher Tatbestandsmerkmale
5. Verfahrensrechtliche Aspekte
6. Rezeption als Fortsetzung des Entdeckungsverfahrens
IV. Hypothesen zum gerichtlichen Vorgehen
V. Bewertung
1. Konfliktschlichtung
2. Befriedung
3. Durchsetzung subjektiver Rechte
4. Wertordnung und Systemgrundlagen
5. Zusammenfassung
D. Vertragsfreiheit und Ungleichgewichtslagen: Richterliche Gaspreiskontrolle
I. Sachliche Problematik
1. Öffnung der Energiemärkte
2. Preisbildung und Preiskontrolle
3. Konflikte mit Energieverbrauchern
a) Die Stellung des Verbrauchers
b) Konzepte des Verbraucherschutzes
c) Der Energieverbraucher im Besonderen
II. Dogmatische Herausforderungen
1. Einordnung des § 315 BGB
2. Schwierigkeiten der Preisbestimmung
3. „Gegriffene Größen“
III. Rechtsprechungsentwicklung
1. Sachverhalt
2. Anträge und Entscheidungen
3. Anwendung von § 315 BGB in Gaspreisfällen
a) Darstellung der Rechtsprechungsentwicklung
b) Interpretation
4. Aspekte von „Billigkeit“
a) Darstellung der Rechtsprechungsentwicklung
b) Interpretation
IV. Hypothesen zum gerichtlichen Vorgehen
V. Bewertung
1. Konfliktschlichtung
2. Befriedung
3. Durchsetzung subjektiver Rechte
4. Wertordnung und Systemgrundlagen
5. Zusammenfassung
E. Quervergleich
I. Vorgehen der Zivilgerichte
II. Bewertung der zivilgerichtlichen Tätigkeit
III. Methodische Nachbetrachtung
Kapitel 5. Der Weg zur Freiheitsordnung des Privatrechts
A. Reformbedarf auf dem Weg zur Privatrechtsordnung
I. Wettbewerb der Konfliktlösungsmechanismen
II. Reformbedarf
1. Gravierende Schwächen der zivilgerichtlichen Rechtsdurchsetzung
2. Übertragbarkeit der Ergebnisse
3. Insbesondere: Verfahrensdauer
III. Materiellrechtliche Vorschläge
B. Verfahrensrechtliche Agenda
I. Fast-Track-Modell
1. Prinzipien
2. Anknüpfungspunkte im geltenden Verfahrensrecht
3. Existierende „Fast-Track-Modelle“
II. Muster-Modell
1. Prinzipien
2. Anknüpfungspunkte im geltenden Verfahrensrecht
3. Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz und kollektive Rechtsdurchsetzung
a) Kapitalanlegerschutz
b) Bündelung von Verbraucherinteressen
III. Parameter zivilprozessualer Reformen
1. Verfahrensrecht und Evolution
2. Verfahrensrecht und ökonomische Analyse
3. Ressourcen der Justiz und alternative Streitbeilegung
4. Missbrauch von Recht
5. Private Rechtsdurchsetzung und materielles Recht
C. Privatrechtsordnung, Steuerung und Selbstbestimmung
I. Privatrechtsordnung und Steuerung
1. Steuerungsverlust
2. Steuerungsglaube
3. Zur Paradoxie von Steuerungsverlust und Steuerungsglaube
II. Privatrechtsordnung und Selbstbestimmung
Literaturverzeichnis
Stichwortverzeichnis

Citation preview

JUS PRIVATUM Beiträge zum Privatrecht Band 181

Rupprecht Podszun

Wirtschaftsordnung durch Zivilgerichte Evolution und Legitimation der Rechtsprechung in deregulierten Branchen

Mohr Siebeck

Rupprecht Podszun, geboren 1976, Jura-Studium und Referendariat in Heidelberg, London, München und Genf. Promotion 2003 durch die Ludwig-Maximilians-Universität München. 2005-2007 Referent im Bundeskartellamt, Bonn. 2007-2012 Wissenschaftlicher Referent am Max-Planck-Institut für Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht, München. 2012 Habilitation an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2013 Professor an der Universität Bayreuth als Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Immaterialgüter- und Wirtschaftsrecht.

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT. ISBN 978-3-16-152432-5 ISSN 0940-9610 (Jus Privatum) Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2014 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Textservice Zink in Schwarzach aus der Garamond Antiqua gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Vorwort Den Anstoß zu dieser Arbeit gab ein befreundeter Syndikusanwalt, als ich noch beim Bundeskartellamt arbeitete. In seinem Unternehmen, einem in Bonn ansässigen Ex-Monopolisten, freue man sich stets, wenn ein Konflikt vor den Zivilgerichten ausgetragen werde statt im Verwaltungsweg – private Kläger ließen sich leichter in die Schranken weisen als Regulierungs- oder Kartellbehörden. Diese Feststellung empfand ich angesichts zunehmender Verlagerung von Konfliktlösungen in den Bereich des Zivilrechts als problematisch, und ich beschloss, den damit verknüpften Fragen auf den Grund zu gehen. Die Antworten sind in diesem Buch versammelt. Sie ergeben ein Plädoyer für eine private Rechtsdurchsetzung, die aber bestimmter Voraussetzungen bedarf. In methodischer Hinsicht ist die Arbeit ein Plädoyer für ein evolutorisches Verständnis von Recht. Mit ihrem rechtspolitischen Anspruch steht die Schrift in der Traditionslinie meines akademischen Lehrers Josef Drexl, der mich vom Bundeskartellamt zurück in die Wissenschaft lockte. Sein juristischer Scharfsinn, seine Gründlichkeit und seine inspirierende Kreativität waren – und sind – mir wegweisend, ebenso wie sein freier Geist und sein Vertrauen in den Nachwuchs. Ihm danke ich vor allen anderen von Herzen für seine Unterstützung. Die Arbeit wurde von der Ludwig-Maximilians-Universität München im Sommersemester 2012 als Habilitationsschrift angenommen. Als Fachmentoren im Habilitationsverfahren wirkten neben Josef Drexl die Professoren Horst Eidenmüller und Thomas Ackermann, der auch das Zweitgutachten verfasst und mir mit Rat und Tat stets zur Seite gestanden hat. Das von Josef Drexl und Reto Hilty geleitete Max-Planck-Institut für Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht in München bot mir ein hervorragendes wissenschaftliches Umfeld. Der Leitung des Instituts und den Kolleginnen und Kollegen gebührt großer Dank. Genannt seien Mark-Oliver Mackenrodt sowie Stefan Alich, Stefan Enchelmaier, Alfred Früh, Alexander Hellgardt, Nadine Klass, Kaya Köklü, Ines Saler und Peter Weber. Auf dem Weg zur Habilitation haben mich drei erfahrene Wissenschaftler des Instituts in besonderer Weise begleitet und geprägt: Frauke Henning-Bodewig, Michael Lehmann und der sehr verehrte Wolfgang Fikentscher. Ihre Ideen und ihre Ermunterungen haben mich beflügelt. Wichtige Impulse erhielt ich auch durch das von Jürgen Basedow, Holger Fleischer und Reinhard Zimmermann geleitete Habilitandenkolloquium am Hamburger Max-PlanckInstitut für Privatrecht sowie aus der Zusammenarbeit mit dem Marburger Ökonom Wolfgang Kerber. Als unschlagbare Sparringpartner und Korrektur-

VI

Vorwort

leser haben sich Melanie Amann und Marius Leber bewährt. Die von mir so bewunderte Hildegard Hamm-Brücher hat mich immer wieder daran erinnert, dass es in der Gesellschaft nicht genügt, ein tüchtiger Jurist zu sein. Ihre fürsorgliche Anteilnahme und ihre demokratische Leidenschaft stecken auch in dieser Arbeit. Dem Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort danke ich für die Unterstützung des Drucks dieses Buches, meinem Bayreuther Lehrstuhl-Team für die Hilfe bei den letzten Korrekturen. Ein solches Projekt ist die sichtbare Summe eines Lebensabschnitts. Den Freundinnen und Freunden danke ich für diese Zeit, vor allem aber meiner Familie: meinen Eltern, meinen Schwestern und ihren Gatten, meinen fabelhaften Neffen Konstantin und Julius – und Christian. Bayreuth, im Januar 2014

Rupprecht Podszun

Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . Inhaltsverzeichnis . . Einleitung . . . . . . Gang der Darstellung

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Kapitel 1. Die Wende zum Privatrecht

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V XI 1 9

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A. Ausgangspunkte der Wirtschaftsordnung . . . . . . . . . . . . . I. Wirtschaftliches Handeln von Individuen im Gemeinwesen II. Indikatoren des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft . . III. Historischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rechtfertigung staatlicher Intervention . . . . . . . . . . . . V. Normative Prägung der Wirtschaftsordnung . . . . . . . .

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11 12 15 17 19 22

B. Der Gewährleistungsstaat . . . . . . . . . . . . I. Diskussion über die Aufgaben des Staates II. Gewährleistungsverantwortung . . . . . . III. Neue Verwaltungsrechtswissenschaft . . .

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28 28 31 36

C. Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung . . . . . . . . I. Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die politische Dimension der Deregulierung . . . . . . III. Rechtliche Umsetzung von Deregulierungsmaßnahmen IV. Regulierungsrecht als Bindeglied . . . . . . . . . . . . .

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39 40 45 50 55

D. Flexibilisierung des Verwaltungshandelns . . . . . I. Handeln der Verwaltung in Privatrechtsform II. Insbesondere: Public Private Partnerships . . III. Beispiel Autobahnmaut . . . . . . . . . . . . IV. Legislatorischer Reformbedarf? . . . . . . . .

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63 63 65 74 93

E. Publifizierung des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . I. Mechanismen der Publifizierung . . . . . . . . . . . II. Das Beispiel AGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Dogmatische Einordnung der Publifizierungs-Kritik

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96 96 98 101

F. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

VIII

Inhaltsübersicht

Kapitel 2. Methodik der evolutionären Rechtsprechungsanalyse . . .

107

A. Grundriss der evolutionsökonomischen Methodik . . . . . . . I. Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bausteine der evolutionsökonomischen Wirtschaftsanalyse III. Wissen und Wettbewerb als Fokalpunkte evolutorischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Von Variation-Selektion zu Struktur und Ordnung . . . . V. Anwendungsbeispiele evolutionsökonomischer Forschung

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107 107 112

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117 122 127

B. Rechtsprechung als Entdeckungsverfahren . . . . . . . I. Zivilgerichte als Akteure der Wirtschaftsordnung . II. Rechtsprechung als Wissensproblem . . . . . . . . III. Rechtsprechung als regelgebundenes Verfahren . . IV. Skizze einer evolutionären Rechtsprechungsanalyse V. „New Cases“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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132 133 139 144 147 156

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsdenkens

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159 159 161 167

Kapitel 3. Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung . . . .

173

A. Kriterien guter Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ansätze zur Urteilskritik . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ausgangspunkte einer legitimatorischen Urteilsanalyse III. Die vierfache Legitimation des Zivilurteils . . . . . . .

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173 174 211 219

B. Funktionale Legitimation der Zivilrechtsprechung . . . . I. Methodische Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . II. Konfliktlösung als individueller Legitimationsgrund III. Befriedung als institutioneller Legitimationsgrund .

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225 225 226 230

C. Materielle Legitimation der Zivilrechtsprechung . . . . . . I. Leitbildbindung als individueller Legitimationsgrund II. Systemrelevanz als institutioneller Legitimationsgrund III. System und Leitbild: Freiheit durch Bindung . . . . .

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232 232 240 257

D. Legitimationsverschiebungen? . . I. Europäisierung . . . . . . . . II. Publifizierung . . . . . . . . . III. Ökonomisierung . . . . . . .

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275 275 280 286

E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

291

C. Methodische Anknüpfungspunkte . . . . . . . I. Präzedenzfall-Diskussion . . . . . . . . . II. Evolutionstheoretische Ansätze . . . . . . III. Methodische Konsequenzen evolutionären

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IX

Inhaltsübersicht

Kapitel 4. Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten . . . . .

295

A. Methodische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

295

B. Marktzutritt und Lauterkeit: Das Geschäftsmodell „Billigvorwahl“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Sachliche Problematik . . . . . . . . . . . . . II. Dogmatische Herausforderungen . . . . . . . III. Rechtsprechungsentwicklung . . . . . . . . . IV. Hypothesen zum gerichtlichen Vorgehen . . V. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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298 298 307 319 340 344

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352 352 362 383 415 420

D. Vertragsfreiheit und Ungleichgewichtslagen: Richterliche Gaspreiskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Sachliche Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Dogmatische Herausforderungen . . . . . . . . . . . III. Rechtsprechungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . IV. Hypothesen zum gerichtlichen Vorgehen . . . . . . V. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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428 428 447 463 496 500

E. Quervergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorgehen der Zivilgerichte . . . . . . . . II. Bewertung der zivilgerichtlichen Tätigkeit III. Methodische Nachbetrachtung . . . . . .

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510 511 514 517

Kapitel 5. Der Weg zur Freiheitsordnung des Privatrechts . . . . . .

521

A. Reformbedarf auf dem Weg zur Privatrechtsordnung I. Wettbewerb der Konfliktlösungsmechanismen . II. Reformbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Materiellrechtliche Vorschläge . . . . . . . . . .

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521 522 524 529

B. Verfahrensrechtliche Agenda . . . . . . . . I. Fast-Track-Modell . . . . . . . . . . . II. Muster-Modell . . . . . . . . . . . . . III. Parameter zivilprozessualer Reformen

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531 532 543 553

C. Rechtezuordnung und Verfahren: Die Marke „Post“ I. Sachliche Problematik . . . . . . . . . . . . . . II. Dogmatische Herausforderungen . . . . . . . . III. Rechtsprechungsentwicklung . . . . . . . . . . IV. Hypothesen zum gerichtlichen Vorgehen . . . V. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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X

Inhaltsübersicht

C. Privatrechtsordnung, Steuerung und Selbstbestimmung . . . . . . I. Privatrechtsordnung und Steuerung . . . . . . . . . . . . . . II. Privatrechtsordnung und Selbstbestimmung . . . . . . . . . .

556 557 561

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

565 597

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . Inhaltsübersicht . . . Einleitung . . . . . . Gang der Darstellung

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Kapitel 1. Die Wende zum Privatrecht

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V VII 1 9

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11

A. Ausgangspunkte der Wirtschaftsordnung

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11

I. Wirtschaftliches Handeln von Individuen im Gemeinwesen .

12

II. Indikatoren des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft . . .

15

III. Historischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

IV. Rechtfertigung staatlicher Intervention . . . . . . . . . . . . .

20

V. Normative Prägung der Wirtschaftsordnung . . . . . . . . 1. Das europäische Modell der Wirtschaftsordnung . . . . 2. Die Vorgaben des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . a) Wirtschaftspolitische Neutralität? . . . . . . . . . . . b) Wirtschaftliche Betätigung des Staates . . . . . . . . . 3. Wirtschaftsordnung durch Wirtschaftsverwaltungsrecht

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22 22 24 24 26 27

B. Der Gewährleistungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

I. Diskussion über die Aufgaben des Staates . . . . . . . . . . .

28

II. Gewährleistungsverantwortung . . . . 1. Begriff und praktische Anwendung 2. Beispiel: Postsektor . . . . . . . . . 3. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . .

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31 32 33 34

III. Neue Verwaltungsrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . .

36

C. Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung . . . . . . . . . . .

39

I. Definitionen . . . . . . . 1. Deregulierung . . . . 2. Privatisierung . . . . 3. Liberalisierung . . .

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40 40 42 44

II. Die politische Dimension der Deregulierung 1. Wirtschaftliche Argumente . . . . . . . . . 2. Politische Argumente . . . . . . . . . . . . 3. Hinweise aus normativer Perspektive . . .

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45 45 47 48

XII

Inhaltsverzeichnis

III. Rechtliche Umsetzung von Deregulierungsmaßnahmen . . . 1. Unionsrechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungsrechtlicher und einfachgesetzlicher Rahmen . 3. Umsetzungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50 50 51 54

IV. Regulierungsrecht als Bindeglied . . 1. Konzept des Regulierungsrechts . 2. Instrumente und Institutionen des 3. Finalität der Regulierung . . . . .

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55 56 60 61

D. Flexibilisierung des Verwaltungshandelns . . . . . . . . . . . . . .

63

I. Handeln der Verwaltung in Privatrechtsform . . . . . . . . .

63

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regulierungsrechts . . . . . . . . . . . .

II. Insbesondere: Public Private Partnerships 1. Definition . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundkonflikt . . . . . . . . . . . . . . 3. Institutionalisierte PPP . . . . . . . . . 4. PPP auf Vertragsbasis . . . . . . . . . .

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65 65 68 69 71

III. Beispiel Autobahnmaut . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsgrundlagen der Autobahnmaut . . . . . . . . a) Das Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Umsetzungsschwierigkeiten . . . . . . . . . . . . c) Schlüsse für eine Wende zum Privatrecht . . . . 2. Zivilrechtliche Streitigkeiten im Entstehungsprozess a) Schadensersatzansprüche gegen Toll Collect . . b) Konfligierende Wettbewerbsinteressen . . . . . . aa) Service-Partner-Verträge . . . . . . . . . . . bb) Fusionskontrollverfahren . . . . . . . . . . . cc) Transaktionsmanager . . . . . . . . . . . . . c) AGB von Toll Collect . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtswegfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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74 74 74 76 77 78 78 80 81 83 85 88 91

IV. Legislatorischer Reformbedarf? . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

E. Publifizierung des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

I. Mechanismen der Publifizierung II. Das Beispiel AGG

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96

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98

III. Dogmatische Einordnung der Publifizierungs-Kritik . . . . .

101

F. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

Kapitel 2. Methodik der evolutionären Rechtsprechungsanalyse . . .

107

A. Grundriss der evolutionsökonomischen Methodik

. . . . . . . . .

107

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

107

I. Ausgangspunkte

XIII

Inhaltsverzeichnis

II.

III.

IV.

V.

1. Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eingeschränkte Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Institutionenökonomik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bausteine der evolutionsökonomischen Wirtschaftsanalyse 1. Erkenntnisinteresse der Evolutionsökonomik . . . . . 2. Akteure, Elemente, Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . 3. Strukturen und Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissen und Wettbewerb als Fokalpunkte evolutorischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wissen und Unwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wissen im wirtschaftlichen Prozess . . . . . . . . . . . 3. Wettbewerb als Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . Von Variation-Selektion zu Struktur und Ordnung . . . 1. Variations-Selektions-Paradigma . . . . . . . . . . . . 2. Pfad- und Häufigkeitsabhängigkeit . . . . . . . . . . . 3. Entscheidungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendungsbeispiele evolutionsökonomischer Forschung 1. Dynamik der Telekommunikationsindustrie . . . . . . 2. Mobilfunk-Kooperationen . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

B. Rechtsprechung als Entdeckungsverfahren

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108 109 110 110 111 112 113 113 115

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117 117 119 120 122 122 123 125 127 127 129 131

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132

I. Zivilgerichte als Akteure der Wirtschaftsordnung . 1. Das institutionelle Design nach der Wende zum Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Institutionenökonomische Einordnung . . . . . 3. Ökonomische Impact-Analyse . . . . . . . . . II. Rechtsprechung als Wissensproblem . . . . . . . . III. Rechtsprechung als regelgebundenes Verfahren . . IV. Skizze einer evolutionären Rechtsprechungsanalyse 1. Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . a) Vergleich und Kontextualisierung . . . . . . b) Zeitliche und inhaltliche Beschränkung . . . c) Doppeltes Proxy-Problem . . . . . . . . . . 2. Zentrale Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . 3. Schwerpunkte der Untersuchung . . . . . . . . a) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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133

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133 135 136 139 144 147 147 147 148 149 150 151 151 153 155

V. „New Cases“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

156

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XIV

Inhaltsverzeichnis

C. Methodische Anknüpfungspunkte I. Präzedenzfall-Diskussion

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II. Evolutionstheoretische Ansätze . . . . . . . . . . . 1. Evolutionäre Rechtsökonomik . . . . . . . . . . 2. Ansätze zu evolutionären Rechtstheorien . . . 3. Theorien richterlicher Normbildung . . . . . .

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161 161 163 166

III. Methodische Konsequenzen evolutionären Rechtsdenkens . . 1. Charakteristika der evolutionären Rechtstheorie . . . . . . 2. Evolutionäre Rechtstheorie auf dem Prüfstand . . . . . . 3. Selbstverständnis der Justiz – die Hirsch-Rüthers-Debatte

167 167 168 169

Kapitel 3. Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung . . . .

173

A. Kriterien guter Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

173

I. Ansätze zur Urteilskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Urteil im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Urteil zwischen Hoheitsgewalt und Parteibindung b) Alternativen der Streitschlichtung . . . . . . . . . . . . c) Rechtsdogmatische Legitimation der Urteilsanalyse . . d) Rechtspolitische Legitimation der Urteilsanalyse . . . . e) Individualpartizipation als demokratiepolitischer Trend 2. Richtige Urteile? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Mangelnde Kanonisierung der Urteilskritik . . . . . . . b) Rechtmäßigkeit als alleiniger Maßstab? . . . . . . . . . c) Harts Positivismus und Dworkins Herkules . . . . . . 3. Ausbildungsmaßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Reflexionen der Richterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rechtstheoretische Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . a) Pragmatische Ansätze und Methodenlehre . . . . . . . b) Theorie des richterlichen Entscheidens . . . . . . . . . c) Diskurstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Rawls’ Vertragstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Luhmanns Verfahrenstheorie . . . . . . . . . . . . . . . f) Ökonomische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

174 174 175 178 183 184 186 187 188 189 191 192 193 195 195 197 200 202 204 205 209

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159

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II. Ausgangspunkte einer legitimatorischen Urteilsanalyse 1. Funktionaler Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Klassische Prozesszwecktheorien . . . . . . . . . . 3. Materieller Geltungsgrund . . . . . . . . . . . . . . 4. Multiperspektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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159

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211 211 212 215 217

III. Die vierfache Legitimation des Zivilurteils . . . . . . . . . . .

219

Inhaltsverzeichnis

XV

1. Verfassungs- und europarechtliche Vorgaben . . . . . . . 2. Matrix der Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Prinzip der Regulierungsbegrenzung durch dezentrale Einzelfallentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

219 221

B. Funktionale Legitimation der Zivilrechtsprechung . . . . . . . . .

225

I. Methodische Vorbemerkung

222

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

225

II. Konfliktlösung als individueller Legitimationsgrund . . . . .

226

III. Befriedung als institutioneller Legitimationsgrund . . . . . .

230

C. Materielle Legitimation der Zivilrechtsprechung . . . . . . . . . .

232

I. Leitbildbindung als individueller Legitimationsgrund 1. Interessen im Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . 2. Leitbilder des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . a) Die Idee des Privatrechts . . . . . . . . . . . . b) Kerngedanken der Privatrechtsdogmatik . . . c) Historische Einordnung . . . . . . . . . . . . .

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232 233 233 235 236 237

II. Systemrelevanz als institutioneller Legitimationsgrund 1. Die Idee der Systemrelevanz . . . . . . . . . . . . . 2. Grundlagen der Privatrechtsordnung . . . . . . . . 3. Abgrenzung vom Öffentlichen Recht . . . . . . . . a) Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Relevanz der Unterscheidung . . . . . . . . . . . c) Dogmatische Unterscheidung . . . . . . . . . . . d) Neuere Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . aa) „Europäisches Gesellschaftsmodell“ . . . . . bb) Wechselseitige Auffangordnungen . . . . . . cc) „Polykontexturalität“ . . . . . . . . . . . . . e) Der Eigenwert beider Teilrechtsgebiete . . . . .

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240 240 241 242 242 243 244 249 251 252 253 254

III. System und Leitbild: Freiheit durch Bindung . . . . . . . . 1. Privatautonomie und Gleichordnung . . . . . . . . . . . 2. Ordnende Bindungen des Zivilrechts . . . . . . . . . . . 3. Auf dem Weg in eine moderne Privatrechtsgesellschaft? 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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257 257 263 272 273

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275

I. Europäisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einfluss des europäischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . 2. Dogmatische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . .

275 275 277

II. Publifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Elemente der Gemeinwohlberücksichtigung im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Dogmatische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . .

280

D. Legitimationsverschiebungen?

280 283

XVI

Inhaltsverzeichnis

III. Ökonomisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Normatives Programm der Rechtsprechung . . . . . . . . 2. Raum für ökonomische Folgenorientierung . . . . . . . . 3. Praktikabilität der ökonomischen Analyse im Einzelfall .

286 287 288 290

E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

291

Kapitel 4. Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten . . . . .

295

A. Methodische Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

295

B. Marktzutritt und Lauterkeit: Das Geschäftsmodell „Billigvorwahl“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

298

I. Sachliche Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Öffnung der Telekommunikationsmärkte . . . . . . . 2. Call-by-Call und Preselection . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gerichtliche Durchsetzung der Betreiber(vor)auswahl . .

298 298 301 302

II. Dogmatische Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . 1. Das Unlauterkeitsmoment . . . . . . . . . . . . . . . 2. Belästigung und modernes Verbraucherleitbild . . . 3. Absicherung des Marktzutritts durch UWG . . . . .

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307 307 312 314

III. Rechtsprechungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anträge und Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . 3. Unlauterkeitsauslösendes Element . . . . . . . . . . . . a) Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Feststellung der Belästigung . . . . . . . . . . . . . . . a) Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Berücksichtigung von Marktzutrittsschranken . . . . . 6. Rezeption als Fortsetzung des Entdeckungsverfahrens

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319 321 322 323 323 327 330 330 331 336 337

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340

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344 345 347 348 350 350

C. Rechtezuordnung und Verfahren: Die Marke „Post“ . . . . . . . .

352

IV. Hypothesen zum gerichtlichen Vorgehen V. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konfliktschlichtung . . . . . . . . . . 2. Befriedung . . . . . . . . . . . . . . . 3. Durchsetzung subjektiver Rechte . . 4. Wertordnung und Systemgrundlagen 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . I. Sachliche Problematik

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352

XVII

Inhaltsverzeichnis

1. Öffnung der Post-Märkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gerichtliche Auseinandersetzungen im Postsektor . . . . 3. Marken als Wettbewerbsparameter im Postsektor . . . . . II. Dogmatische Herausforderungen . . . . . . . . . . . . 1. Güterzuordnung durch Markenrecht . . . . . . . . a) Markenfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einordnung des Markenrechts . . . . . . . . . . c) Legitimation des Markenrechts . . . . . . . . . . d) Kritik aus wettbewerblicher Sicht . . . . . . . . e) Verhältnis zu kartell- und lauterkeitsrechtlichen Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wettbewerbliche Durchdringung markenrechtlicher Tatbestandsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verkehrsdurchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschreibende Angaben . . . . . . . . . . . . . . c) Gleichheitsgrundsatz und Markeneintragung . . 3. Verfahrensrechtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . a) Verfahrensvielfalt als Problem . . . . . . . . . . b) Abschreckungswirkung . . . . . . . . . . . . . .

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352 356 360

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362 362 363 364 365 367

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369

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372 372 376 379 381 381 382

III. Rechtsprechungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalte und Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anträge und Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . a) Entscheidungen in den Verletzungsverfahren . . . . b) Entscheidungen im Eintragungsverfahren „Post“ . . c) Entscheidungen in anderen Eintragungsverfahren . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Güterzuordnung durch Markenrecht . . . . . . . . . . 4. Wettbewerbliche Durchdringung markenrechtlicher Tatbestandsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Verfahrensrechtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . 6. Rezeption als Fortsetzung des Entdeckungsverfahrens

. . . . . . . .

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383 383 384 385 392 396 399 399

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402 410 413

IV. Hypothesen zum gerichtlichen Vorgehen . . . . . . . . . . .

415

V. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konfliktschlichtung . . . . . . . . . . 2. Befriedung . . . . . . . . . . . . . . . 3. Durchsetzung subjektiver Rechte . . 4. Wertordnung und Systemgrundlagen 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . .

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420 422 424 425 426 428

D. Vertragsfreiheit und Ungleichgewichtslagen: Richterliche Gaspreiskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

428

I. Sachliche Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

428

XVIII

Inhaltsverzeichnis

1. Öffnung der Energiemärkte . . . . . . . . 2. Preisbildung und Preiskontrolle . . . . . . 3. Konflikte mit Energieverbrauchern . . . . a) Die Stellung des Verbrauchers . . . . . b) Konzepte des Verbraucherschutzes . . c) Der Energieverbraucher im Besonderen

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430 437 439 440 443 445

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447 448 453 457

III. Rechtsprechungsentwicklung . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anträge und Entscheidungen . . . . . . . . . . 3. Anwendung von § 315 BGB in Gaspreisfällen . a) Darstellung der Rechtsprechungsentwicklung b) Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Aspekte von „Billigkeit“ . . . . . . . . . . . . . a) Darstellung der Rechtsprechungsentwicklung b) Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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463 464 464 476 477 484 488 488 492

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496

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500 501 504 504 508 510

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510

I. Vorgehen der Zivilgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

511

II. Bewertung der zivilgerichtlichen Tätigkeit . . . . . . . . . . .

514

II. Dogmatische Herausforderungen . . . . 1. Einordnung des § 315 BGB . . . . . 2. Schwierigkeiten der Preisbestimmung 3. „Gegriffene Größen“ . . . . . . . . .

. . . .

IV. Hypothesen zum gerichtlichen Vorgehen V. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konfliktschlichtung . . . . . . . . . . 2. Befriedung . . . . . . . . . . . . . . . 3. Durchsetzung subjektiver Rechte . . 4. Wertordnung und Systemgrundlagen 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . E. Quervergleich

III. Methodische Nachbetrachtung

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517

Kapitel 5. Der Weg zur Freiheitsordnung des Privatrechts . . . . . .

521

A. Reformbedarf auf dem Weg zur Privatrechtsordnung . . . . . . .

521

I. Wettbewerb der Konfliktlösungsmechanismen

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522

II. Reformbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gravierende Schwächen der zivilgerichtlichen Rechtsdurchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Übertragbarkeit der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . .

524 524 525

XIX

Inhaltsverzeichnis

3. Insbesondere: Verfahrensdauer

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526

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529

B. Verfahrensrechtliche Agenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

531

III. Materiellrechtliche Vorschläge

I. Fast-Track-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anknüpfungspunkte im geltenden Verfahrensrecht 3. Existierende „Fast-Track-Modelle“ . . . . . . . . .

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532 532 536 540

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543 543 545

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549 549 551

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553 554 554 554 555 555

C. Privatrechtsordnung, Steuerung und Selbstbestimmung . . . . . .

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II. Muster-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anknüpfungspunkte im geltenden Verfahrensrecht . . 3. Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz und kollektive Rechtsdurchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kapitalanlegerschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bündelung von Verbraucherinteressen . . . . . . . . III. Parameter zivilprozessualer Reformen . . . . . . . . . . 1. Verfahrensrecht und Evolution . . . . . . . . . . . . 2. Verfahrensrecht und ökonomische Analyse . . . . . 3. Ressourcen der Justiz und alternative Streitbeilegung 4. Missbrauch von Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Private Rechtsdurchsetzung und materielles Recht . I. Privatrechtsordnung und Steuerung . . . . . 1. Steuerungsverlust . . . . . . . . . . . . . . 2. Steuerungsglaube . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Paradoxie von Steuerungsverlust und Steuerungsglaube . . . . . . . . . . . . . .

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II. Privatrechtsordnung und Selbstbestimmung . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

565 597

„Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft. Da nur in der Gesellschaft und zwar derjenigen, die die größte Freiheit, mithin einen durchgängigen Antagonism ihrer Glieder und doch die genauste Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit hat, damit sie mit der Freiheit anderer bestehen könne, – da nur in ihr die höchste Absicht der Natur, nämlich die Entwickelung aller ihrer Anlagen, in der Menschheit erreicht werden kann, die Natur auch will, daß sie diesen so wie alle Zwecke ihrer Bestimmung sich selbst verschaffen solle: so muß eine Gesellschaft, in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen im größtmöglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird, d.i. eine vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung, die höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung sein.“ Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784)

Einleitung In dieser Schrift wird die These vertreten, dass Zivilgerichte zu einer zentralen Ordnungsinstanz der Wirtschaft geworden sind, diese Rolle aber aus verfahrensrechtlichen Gründen nur mangelhaft ausfüllen. In materiellrechtlicher Hinsicht ist das Privatrecht grundsätzlich geeignet, die wesentlichen Ordnungsparameter für wirtschaftliches Handeln zu setzen. Es ist dazu aber erforderlich, das Leitbild der privatrechtlichen Dogmatik zu erweitern: Die Zivilgerichte müssen in der Anwendung des Privatrechts auch die Grundlagen der privatrechtlichen Ordnung schützen. Nur wenn das Zivilverfahren reformiert wird und die Gerichte sich ihrer Ordnungsaufgabe bewusst sind, ist das gestiegene Vertrauen in privatrechtliche Ordnungen gerechtfertigt. Die Argumentation zugunsten einer privatrechtlich verfassten Wirtschaftsordnung mit den Zivilgerichten als dezentralen Regelungsinstanzen wird durch eine Analyse der Rechtsprechung des BGH in post-deregulativen Streitigkeiten gestützt. Dabei geht es um Konflikte, die nach Deregulierungsmaßnahmen erstmals privatrechtlich zu lösen waren. Zwei Forschungsfragen leiten die Analyse: 1. Wie gehen die Zivilgerichte bei der Lösung post-deregulativer Konflikte vor? 2. Wie ist die Rechtsprechung der Zivilgerichte in post-deregulativen Konflikten zu bewerten? Für die Rechtsprechungsanalyse wird eine Methodik angewendet, die von der Evolutionstheorie geprägt ist (sog. evolutionäre Rechtsprechungsanalyse). Die Bewertung erfolgt anhand eines hier entwickelten Maßstabs, der von einer doppelten Legitimation der zivilgerichtlichen Rechtsprechungstätigkeit durch die Interessen der Rechtssuchenden sowie jener des Gemeinwesens ausgeht.

*** Die erste Forschungsfrage (Wie gehen die Zivilgerichte bei der Lösung von post-deregulativen Konflikten vor?) rückt in den Fokus, was privatrechtliche Konfliktentscheidung in der Praxis der Rechtsprechung bedeutet. So wird eine funktionale Analyse der Rechtsprechungstätigkeit angestrebt. Welche Orientierungspunkte wählen Richterinnen und Richter? Was prägt ihr Vorgehen? Welche Muster der Fall-Entscheidung lassen sich erkennen? Was bedeutet dies für die Beteiligten? Diese Fragen werden durch die Analyse konturiert und

2

Einleitung

beantwortet. Streitigkeiten, die nach Deregulierungsmaßnahmen der Domäne des Privatrechts zugeordnet werden, und die zuvor öffentlich-rechtlich gelöst wurden oder gar nicht erst entstehen konnten, bieten besonders geeignetes Anschauungsmaterial, da sie erst noch von der Rechtsprechung privatrechtlich durchdrungen werden müssen. Der rechtstatsächliche Hintergrund dieser Forschungsfrage ist die steigende Bedeutung privatrechtlicher Regelungen. Zwischen 2003 und 2012 hat sich der Bundesgerichtshof in über 30 Entscheidungen mit Fragen der vertragsrechtlichen Energiepreiskontrolle befasst.1 Im gleichen Zeitraum lag dem Gericht zehn Mal die Frage vor, wie der Begriff „Post“ markenmäßig geschützt ist.2 Immer mehr Projekte der öffentlichen Hand werden in Zusammenarbeit mit Unternehmen als Public Private Partnerships durchgeführt; die Autobahn-Maut ist das bekannteste Beispiel dafür. Von Energiewirtschaft über Post bis Autobahnbau – Deregulierungsmaßnahmen und die Flexibilisierung staatlichen Handelns haben drastisch zugenommen. Diese Wende zum Privatrecht führt nicht etwa zu einem institutionellen Vakuum, in dem keine ordnenden Instanzen mehr tätig werden. Für Grenzziehungen anhand von Gesetzen sind in zunehmendem Maße die Zivilgerichte zuständig, die an die Stelle von regelnden Behörden treten und Konflikte befrieden müssen, die aus der freien Interessenkoordination der Marktteilnehmer erwachsen. Ein Anliegen dieser Arbeit ist es, den Fokus auf diese Tätigkeit der Zivilgerichte zu lenken. Ihre Macht als Ordnungsinstanzen der Wirtschaft wird bislang unterschätzt. Diese Macht wird vom deutschen und europäischen Gesetzgeber zudem durch die Förderung privater Rechtsdurchsetzungsmechanismen gestärkt. Statt hoheitliche Ge- und Verbote zu erlassen, werden Bürgern und Unternehmen immer häufiger Ansprüche zugewiesen und Verfahrenserleichterungen gewährt, die einen Anreiz bieten sollen, diese Ansprüche privatrechtlich durchzusetzen. Die Gesetzgeber versprechen sich davon, eine Durchsetzung öffentlicher Interessen im Eigeninteresse der nicht-staatlichen Kläger. Beispiele für eine Aufladung des Privatrechts mit öffentlichen Interessen (Publifizierung) sind in der Anti-Diskriminierungsgesetzgebung ebenso zu finden wie im Lauterkeits- oder im Kartellrecht. Diese Entwicklung trifft auf ein ausgeprägtes Bedürfnis nach individueller Partizipation in der Gesellschaft: Der Rechtsweg wird als Mittel in der demokratischen Auseinandersetzung, etwa um Großprojekte, wahrgenommen, der gleichberechtigt neben politischen Demonstrationen oder Formen der Bürgerbeteiligung steht. Die Wende zum Privatrecht und damit die gestiegene Bedeutung der Zivilgerichte sind die Ausgangspunkte dieser Schrift. Anders als in zahlreichen verfassungsrechtlich geprägten Publikationen der vergangenen Jahre wird aber 1 2

Infra, Kapitel 4, Teil D. Infra, Kapitel 4, Teil C.

Einleitung

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hier nicht der Wandel des Staatsverständnisses in den Mittelpunkt der Untersuchung gerückt. Vielmehr geht es um einen genuin zivilrechtlichen und zivilverfahrensrechtlichen Ansatz: Welche Chancen und Probleme bringt ein privatrechtliches Ordnungsmodell mit Zivilgerichten als dezentralen Regelungsinstanzen mit sich?

*** Die zweite Forschungsfrage dieser Arbeit schließt an die Erkenntnisse zum Vorgehen der Zivilgerichte an. Sie lautet: Wie ist die Rechtsprechung der Zivilgerichte in post-deregulativen Konflikten zu bewerten? Damit wird die Problemlösungsfähigkeit der Zivilgerichte in deregulierten Branchen thematisiert. Die Antwort auf diese Frage ist von großem Interesse. Von der Qualität der Rechtsprechung hängt ab, ob die Wende zum Privatrecht zu einem normativen Programm erhoben werden sollte. Die faktische Tendenz, das Privatrecht und damit die Zivilgerichte immer stärker zu fördern, sagt nichts über die Sinnhaftigkeit der Wende zum Privatrecht. Sollte die Wirtschaftsordnung durch Zivilgerichte erfolgen? Ist die private Rechtsdurchsetzung gegenüber einer öffentlich-rechtlichen Regelung vorzugswürdig? Die rechtspolitische Diskussion über „private enforcement“ und die Ordnung der Wirtschaft kann nur dann aufrichtig geführt werden, wenn sie durch die Erfahrungen, die bisher mit privater Rechtsdurchsetzung gesammelt wurden, unterfüttert wird. Wenn Bürger in Deutschland danach gefragt werden, wie sehr sie Institutionen vertrauen, schneiden Gerichte stabil mit vergleichsweise guten Werten ab.3 Die Reputation der Gerichte ist demnach hoch. Das überrascht angesichts des Vertrauensverlusts, den andere staatliche Instanzen im Laufe der letzten Jahrzehnte erlitten haben. Ein genauerer Blick erschüttert jedoch den positiven Gesamteindruck: In einer 2011 durchgeführten repräsentativen Umfrage stimmten nur 19 Prozent der Befragten der Aussage zu: „Die Gerichte arbeiten gründlich und gewissenhaft.“4 Nur 22 Prozent meinten: „Bei deutschen Gerichten kann man sich darauf verlassen, dass alles mit rechten Dingen zugeht.“5 76 Prozent teilten die Ansicht, dass Verfahren zu lange dauern, 65 Prozent stimmten der Aussage zu, der Ausgang des Prozesses hänge 3 Im Roland Rechtsreport, dem eine repräsentative Umfrage des Allensbach-Instituts für Demoskopie zugrunde liegt, gaben 60 Prozent der Befragten an, sie hätten sehr viel oder ziemlich viel Vertrauen in die Gerichte, vgl. Roland Rechtsreport 2011, 2011, S. 13. Vergleichswerte: Bundesregierung 28 Prozent, große Wirtschaftsunternehmen 32 Prozent, Verwaltung 38 Prozent, Gewerkschaften 43 Prozent, Polizei 73 Prozent, kleine und mittlere Unternehmen 77 Prozent, siehe ebd., S. 12 ff. 4 Ebd. 5 Ebd.

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Einleitung

davon ab, ob man sich einen bekannten Anwalt leisten könne.6 Diese Detailaufnahmen, die in sichtbarem Kontrast zur allgemeinen Einschätzung der Gerichte stehen, belegen, wie dringend das Wirken der Zivilgerichte qualitativ zu hinterfragen ist. Einen aktuellen Reibungspunkt zum Trend, private Rechtsdurchsetzung als ordnungsbildenden Faktor zu fördern, bildet die Renaissance des Vertrauens in die Macht des Nationalstaats, die seit der Finanzkrise 2007/2008 zu beobachten ist. Der Finanzsektor, der immer als ein von Regulierung besonders freier Bereich gegolten hatte, war teilweise kollabiert. Ein Zusammenhang zwischen der Deregulierung und dem Zusammenbruch der Finanzmärkte drängte sich auf; Privatisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen werden seither wieder kritischer betrachtet.7 Zur Lösung der Krise wurde weder auf die zuvor so populäre Selbstregulierung der Wirtschaft gesetzt noch auf private Schadensabwicklung. Selbst internationale Institutionen spielten – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – eine untergeordnete Rolle. Stattdessen wirkt es so, als könnten nationale Politik und hoheitliche Regulierung die Krisen lösen. So wurden insbesondere Re-Regulierungen vorgenommen und Überwachungs- und Sanktionsinstrumente verschärft. Die Finanzkrise reaktivierte geradezu interventionistische und paternalistische Ordnungsmuster. Dies ist erstaunlich, immerhin waren solche Mechanismen aus der Mode gekommen, ihre Effizienz war zuvor immer wieder in Frage gestellt worden. Dass mit diesen die Krisen zu bewältigen sind, ist zwar nicht ersichtlich; der Glaube an eine privatrechtliche Ordnung wurde aber gleichermaßen erschüttert. Wer in der Marktwirtschaft auf privatrechtliche Ordnungsmodelle setzen will, muss sich daher neu legitimieren. Hierzu vermag die Antwort auf die zweite Forschungsfrage nach der Qualität der wichtigsten Ordnungsinstanzen in einem privatrechtlichen Modell, der Zivilgerichte, Material liefern.

*** Die Forschungsfragen werden anhand praktischer Beispiele erörtert. Drei post-deregulative Fall-Konstellationen werden in dieser Schrift vorgestellt. Zunächst werden Hypothesen zum Vorgehen der Rechtsprechung anhand von Streitigkeiten entwickelt, die zwischen Wettbewerbern in der Telekommunikationsbranche entbrannt waren. Nach der Deregulierung der Telekom6

Ebd. Laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach sah 2012 erstmals eine Mehrheit der Westdeutschen die Marktwirtschaft kritisch, berichtet in Wirtschaftswoche Nr. 46 vom 12.11.2012, S. 8 („Im Westen was Neues“). 7

Einleitung

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munikation versuchte die Deutsche Telekom AG, der etablierte Betreiber (Incumbent), Wettbewerber vom Markt der Festnetztelefonie fernzuhalten. Einer der Schauplätze dieser Auseinandersetzung war der Bereich der rechtlichen Beurteilung von Werbemaßnahmen. Nach der Deregulierung kam als neuartige Werbeform die Direktansprache von Passanten auf öffentlichen Plätzen auf. Im persönlichen Gespräch sollten Kunden davon überzeugt werden, auf „Preselection“-Einwahlverfahren umzustellen, eine Form von Billigvorwahl bei der Festnetztelefonie. Die Gerichte mussten über die Zulässigkeit des Direktmarketings nach den Maßstäben des Lauterkeitsrechts urteilen. Dogmatisch werfen die Fälle Fragen nach dem Interessenausgleich zwischen verschiedenen Teilnehmern im Wirtschaftsverkehr und den Grenzen der Freiheitsausübung auf. Verfahrensrechtlich ist der für das Lauterkeitsrecht typische einstweilige Rechtsschutz Ausgangspunkt dieser Fälle. Der zweite Fall-Komplex betrifft Markenrechte von Briefzustell-Unternehmen. Die Deutsche Post AG, Nachfolgeunternehmen der früher monopolistisch agierenden Bundespost, wehrte sich gegen neue Briefzustelldienste, die Kennzeichen verwendeten, in denen der Begriff „Post“ vorkam, etwa „TNT Post“. Das Zeichen „Post“ versuchte der etablierte Betreiber dagegen für sich zu sichern. In der markenrechtlichen Beurteilung dieser Fälle musste die privatrechtliche Güterzuordnung thematisiert werden. Eine besondere Komponente dieser Fälle sind die Parallelität zahlreicher Verfahren sowie das Zusammenspiel von registerrechtlichen Entscheidungen und markenrechtlichen Verletzungsverfahren. Im dritten Fall-Komplex stehen sich nicht Unternehmen gegenüber sondern Unternehmen und Verbraucher. Analysiert wird die Rechtsprechung zur vertragsrechtlichen Energiepreiskontrolle, die sich in unzähligen Verfahren niedergeschlagen hat. Die Gerichte lösten diese Fälle weitgehend über § 315 BGB, eine selten angewendete, aber dogmatisch bemerkenswerte Norm des BGB. Auch in dieser Konstellation ist die Vielzahl der Entscheidungen, aber auch die kollektive Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche ein Thema. Die erste Forschungsfrage zum Vorgehen der Gerichte setzt eine Methodik voraus, die von hergebrachten Mustern der Rechtsprechungsanalyse abweicht. Die Auswertung von Entscheidungen wird bislang häufig auf das materiellrechtliche Ergebnis zu einem statisch festgelegten Zeitpunkt ausgerichtet. Regelmäßig ist ein Urteil Gegenstand der Rechtsprechungsanalyse, und es wird implizit behauptet, mit diesem Urteil sei die zugrundeliegende Rechtsfrage geklärt worden. Diese Vorstellung von Rechtsprechung geht fehl. Der hier entwickelte methodische Ansatz der Rechtsprechungsanalyse weicht von der Methodik klassischer Urteilsbesprechungen erheblich ab. Vorgestellt wird eine evolutionäre Rechtsprechungsanalyse, die methodische Anleihen bei der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsrichtung der Evolutionsökonomik nimmt. Die wesentliche Prämisse dieser Methodik ist, dass Rechtsprechung ein andauern-

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Einleitung

des „Entdeckungsverfahren“8 ist: Gerichte stehen bei der Fall-Lösung vor Wissensproblemen, die sie durch einen Suchprozess zu lösen versuchen. Innerhalb dieses Suchprozesses werden Tatsachen und rechtliche Innovationen entdeckt. Selbst wenn eine Rechtsfrage mehrfach in kurzen Abständen Gegenstand von BGH-Entscheidungen ist und sich die Gesetzeslage nicht verändert hat, kommt der BGH zu unterschiedlichen Einsichten. Der Gerichtshof lernt dauernd dazu und entdeckt immer neue Aspekte, sodass sich Rechtsprechung fortentwickelt und damit auch die Wirtschaftsordnung neu konfiguriert wird. Ist Rechtsprechung aber ein solches Entdeckungsverfahren, verschiebt sich für die Rechtswissenschaft das Erkenntnisinteresse: Nicht mehr nur das (für die Parteien weiterhin sehr relevante) Ergebnis verlangt Aufmerksamkeit, sondern auch der Weg zu diesem Ergebnis und die Prinzipien der Entscheidungsfindung. Wenn sich Marktteilnehmer auf die Wirtschaftsordnung einstellen wollen, hilft es ihnen eher, die strukturellen Parameter des rechtlichen Wandels zu analysieren als eine konkrete Fallentscheidung. Diese Wahrnehmung führt notwendig zu einer evolutionären Methodik, mit der sich Suchprozesse abbilden und analysieren lassen. Die evolutionäre Ökonomik, die dieses Vorgehen für die Wirtschaft entwickelt hat, greift dazu auf Erkenntnisse wie das aus der Evolutionsforschung bekannte Variations-Selektions-Paradigma zurück. So wird das Augenmerk auf Entwicklungen im Recht, also Innovationen, und auf die Funktionsmechanismen einer komplexen Ordnung gelenkt. Mit dieser Schrift wird so auch belegt, dass eine evolutionäre Perspektive der Rechtswissenschaft zu neuen Erkenntnissen verhelfen kann.

*** Wer die Rechtsprechung jenseits von Rechtmäßigkeitsmaßstäben analysieren will, muss sich zu einem qualitativen Maßstab bekennen. Wie kann über Gerichte gerichtet werden? Für die Maßstabsproblematik liefert die vorliegende Arbeit einen neuen Ansatz. Entwickelt wird ein Modell der Legitimation von Rechtsprechung, das von vier Säulen getragen wird: Die Zivilgerichte sind für ihre Tätigkeit legitimiert durch den Verfassungsgeber, welcher die Rechtsprechung mit besonderen Aufgaben im Gemeinwesen betraut hat. Zugleich sind Zivilgerichte aber legitimiert durch die Anrufung durch die individuelle Prozesspartei im Einzelfall – wo kein Kläger, da keine Richter. Sowohl der Verfassungsgeber als auch die privaten Parteien richten bestimmte Erwartungen an die Zivilgerichte, von deren Erfüllung die Legitimation der Rechtsprechung abhängt. Zivilgerichte haben zum einen eine formale Funktion auszufüllen, 8 Nach Hayek, Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, 1968, S. 3. Schmidt schreibt die Idee von Rechtsfortbildung als Entdeckungsverfahren bereits Jhering zu, vgl. Schmidt in: Behrends, Privatrecht heute und Jherings evolutionäres Rechtsdenken, 1993, S. 77, 87.

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nämlich aus Sicht der Parteien, den Konflikt zu entscheiden, und aus Sicht des Verfassungsgebers, die Gesellschaft zu befrieden. Zum anderen ist an die Gerichte aber auch eine materielle Erwartung gerichtet, denn die Maßstäbe, nach denen die Gerichte vorgehen, folgen bestimmten Werten. Der Verfassungsgeber erwartet von den Gerichten die Durchsetzung seiner Wertordnung. Die private Klagepartei erwartet die Entscheidung anhand eines bestimmten Leitbilds. Aus dieser funktionalen wie materiellen, individuellen wie institutionellen Legitimation heraus lassen sich Kriterien für gute Rechtsprechung entwickeln. Wenn die Erwartungen des Verfassungsgebers und der privaten Prozessparteien erfüllt werden, ist die Rechtsprechung auch qualitativ, nicht nur formal legitimiert. Die Erarbeitung des Legitimationsmodells bringt es mit sich, dass die Erwartungen des Verfassungsgebers und der privaten Parteien an die zivilgerichtliche Konfliktlösung ausformuliert werden müssen. Diese Aufgabe ist eine notwendige Überforderung in zweierlei Hinsicht: Zum einen sind die Ansätze im Schrifttum so vielfältig, dass jede Auswahl willkürlich erscheinen muss. Zum anderen handelt es sich um eine Aufgabe, die nicht ohne normative Wertungen vorgenommen werden kann. Ein Anspruch auf Letztbegründbarkeit kann demnach nicht erhoben werden. Das hier vorgestellte Legitimationsmodell bietet aber einen Rahmen, um den gesellschaftlichen Diskurs über Leistungen und Defizite der zivilgerichtlichen Konfliktlösung zu führen. Das Modell wird durch vier Besonderheiten akzentuiert: Erstens wird der Stellenwert der individuellen Legitimation eines Urteils durch den Rechtssuchenden, der das Verfahren angestrengt hat, betont. Zweitens wird das privatrechtliche Leitbild von Freiheit und Bindung ins Zentrum der Überlegungen gestellt. Drittens wird dieses Leitbild erweitert durch den Gedanken, dass Gerichte die systemrelevanten Grundlagen ihrer Tätigkeit und der freien Interessenkoordination in der Privatrechtsordnung sichern müssen. Anhand der Systemrelevanz von Interessen kann eine Grenze zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht gezogen werden. Viertens wird aufgezeigt, wie sich ökonomische Erwägungen in die Rechtsprechung integrieren lassen, ohne dass es zu einem Systembruch kommt.

*** Damit ist das Forschungsprogramm dieser Schrift skizziert: Es geht darum, die Wende zum Privatrecht in ihrer institutionell-praktischen Bedeutung zu erfassen. Das bedeutet, dass die Funktionsweise zivilgerichtlicher Konfliktlösung analysiert und mit Blick auf ihre Legitimation hin bewertet wird. Dazu werden konsequent eine evolutionäre Methodik und ein Legitimationsmodell zur Bewertung von Rechtsprechung angewendet, die sich in dieser Anwendung bewähren müssen.

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Einleitung

In einem letzten Schritt sind die Folgerungen aus den Erkenntnissen zum Vorgehen der Zivilgerichte und der Bewertung dieses Vorgehens zu ziehen. Die Defizite zivilgerichtlicher Konfliktlösung lösen Reformbedarf aus. Dieser liegt in erster Linie im Verfahrensrecht, nicht im materiellen Recht. Es werden daher Ansätze zur Verbesserung der zivilgerichtlichen Problemlösungsfähigkeit aufgezeigt. Die Maximen, die dazu entwickelt werden, können an vorhandene Reformansätze anknüpfen, beispielsweise an Überlegungen zu vereinfachten Gerichtsverfahren oder zu Muster-Prozessen. Gelingt es, die Rechtsprechung auf ihre Rolle als Ordnungsinstanz der Wirtschaft besser einzustellen, kann eine Wirtschaftsordnung durch Privatrecht angestrebt werden. Das verweist auf die Motivation dieses Forschungsprogramms: die Vision einer bürgerlichen Gesellschaft, in der sich der Einzelne dank des Rechts in größter Freiheit entwickeln kann, ohne dass die Freiheit des Anderen daneben keinen Bestand hätte.

Gang der Darstellung Die Arbeit ist in fünf Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel („Die Wende zum Privatrecht“) werden die rechtlichen Entwicklungen geschildert, die den Ausgangspunkt dieser Arbeit markieren. Das Generalthema ist die Wirtschaftsordnung. Deren Parameter haben sich durch die Wende zum Privatrecht verschoben, was in der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht durch die Hinwendung zum „Gewährleistungsstaat“ rezipiert wurde. Die drei großen Tendenzen zugunsten des Privatrechts werden dargestellt und mit Beispielen belegt: Die Deregulierung von Sektoren einschließlich der Privatisierung und Liberalisierung, die Flexibilisierung des Verwaltungshandelns sowie die Publifizierung des Privatrechts. Am Beispiel der Autobahnmaut wird aufgefächert, welche zivilrechtlichen Konflikte im Zuge einer immer stärkeren Hinwendung zum Privatrecht entstehen können. Im zweiten Kapitel („Methodik der evolutionären Rechtsprechungsanalyse“) wird die Methodik für die erste Forschungsfrage dargelegt. Dazu wird zunächst ein Überblick über die Erkenntnisse der Evolutionsökonomik als wirtschaftswissenschaftlicher Methodik gegeben, da in diesem Bereich Erkenntnisse gewonnen wurden, die auch für die Rechtswissenschaften fruchtbar gemacht werden können. Sodann wird Rechtsprechung als Entdeckungsverfahren eingeordnet und die Methodik skizziert. Schließlich wird die Methodik mit bisherigen Ansätzen in der Rechtswissenschaft abgeglichen, in der es bereits Impulse für derartige Betrachtungen gibt. Das Kapitel schließt mit Bemerkungen zum Selbstverständnis des Rechtswissenschaftlers, der sich einer evolutionären Sichtweise annähert. Im dritten Kapitel („Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung“) wird das Legitimationsmodell entwickelt, das Kriterien guter Rechtsprechung liefern soll. Dazu werden zunächst vorhandene Ansätze zur systematischen Urteilskritik vorgestellt und Ausgangspunkte in den zivilverfahrensrechtlichen Prozesszwecktheorien aufgeführt. Sodann werden die funktionale Legitimation der Zivilrechtsprechung, jeweils aus individueller Sicht der Parteien und institutioneller Sicht des Gemeinwesens, und die materielle Legitimation der Zivilrechtsprechung erörtert. Hierzu wird unter anderem das privatrechtliche Leitbild skizziert. Das Kapitel schließt mit Überlegungen zu Legitimationsverschiebungen durch neuere Entwicklungen wie der Europäisierung des Privatrechts, seiner Aufladung mit öffentlichen Interessen („Publifizierung“) und der Ökonomisierung. Das vierte Kapitel („Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten“) enthält die Untersuchung der drei konkret benannten Fall-Konstellationen.

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Gang der Darstellung

Nach einer kurzen Begründung der Fallauswahl werden die drei Themen-Blöcke (Direktansprache von Passanten, „Post“ als Marke und vertragsrechtliche Energiepreiskontrolle) behandelt. Dazu wird jeweils zunächst die sachliche Problematik dargestellt. Sodann werden die dogmatischen Herausforderungen an die Rechtsprechung dargelegt. Schließlich folgt die Analyse der Urteile in ihrem Verlauf, wobei die evolutionäre Methodik zur Interpretation angewendet wird. Jeder Block endet mit Hypothesen zum richterlichen Vorgehen und einer Bewertung anhand des Legitimationsmodells. Im Schlussteils dieses Kapitels werden in einem kurzen Querschnittsvergleich die Ergebnisse der drei Blöcke abgeglichen und zusammengefasst. Damit sind die ersten beiden Forschungsfragen beantwortet. Das fünfte Kapitel („Der Weg zur Freiheitsordnung des Privatrechts“) zieht die Folgerungen aus den Ergebnissen. Zunächst wird der Reformbedarf im Verfahrensrecht wie im materiellen Recht dargestellt. Auch wenn es einzelne interessante Vorschläge in materiellrechtlicher Hinsicht gibt, sind wesentliche Fortschritte eher von einer verfahrensrechtlichen Reform zu erwarten. Hier lassen sich zwei grundlegende Konfliktschlichtungsmodelle differenzieren (Fast-Track-Modell und Muster-Modell). Dafür werden Anregungen gegeben und Anknüpfungspunkte zum geltenden Recht sowie zu aktuellen rechtspolitischen Entwicklungen aufgezeigt. Abschließend lässt sich das Modell einer Privatrechtsordnung skizzieren, in der Zivilgerichte Steuerungsfunktionen übernehmen und die selbstbestimmte Freiheitsausübung des Einzelnen absichern – und so Kants Vorstellung einer „bürgerlichen Gesellschaft“ fördern.

Kapitel 1

Die Wende zum Privatrecht Vor der Deregulierung der Energiewirtschaft wurden die Preise für Strom und Gas von Behörden festgelegt oder wenigstens kontrolliert – heute ist es grundsätzlich Sache privater Marktteilnehmer, sich auf die Energiepreise zu einigen. Was früher Bestandteil des öffentlichen Rechts war, ist in die Domäne des Zivilrechts übergegangen. Neue Parteien, neue Interessen, neue Konflikte – in den vergangenen zwanzig Jahren wurden zahlreiche Branchen neu strukturiert. Hinter der Verlagerung von Kompetenzen auf private Marktteilnehmer steht ein ganzes Steuerungsmodell: Die zunehmenden Schwierigkeiten hoheitlicher Steuerung in Form des öffentlichen Rechts haben zu einer Verlagerung von Materien aus dem hoheitlichen Zugriff in den Bereich des Zivilrechts geführt. Immer häufiger wird auf privatrechtliche Gestaltungen statt auf die Instrumente des Verwaltungsrechts gesetzt. Diese Entwicklung kann als Wende zum Privatrecht bezeichnet werden. Mit dieser Wende ist – wenn sie konsequent weitergeführt wird – eine fundamentale rechtliche Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft verknüpft. Im Folgenden werden zunächst Ausgangspunkte der Wirtschaftsordnung skizziert (A) und neuere Entwicklungen zur Rolle des Staates als „Gewährleistungsstaat“ dargestellt (B). Sodann werden die Hebel konkretisiert, welche die Wende zum Privatrecht auslösen: Die Deregulierung in zahlreichen Branchen (C), die Flexibilisierung des Verwaltungshandelns, etwa in Form von Public Private Partnerships (D), und die Publifizierung des Privatrechts, also seine Aufladung mit öffentlichen Interessen (E). Eine Zusammenfassung (F) beschließt das Kapitel.

A. Ausgangspunkte der Wirtschaftsordnung Wie die wirtschaftlichen Aktivitäten zu ordnen sind, ist für jedes Gemeinwesen eine zentrale Frage. Es geht dabei um die Verteilung knapper Ressourcen und die Bedürfnisbefriedigung. Die Antwort ist historisch gesehen einem steten Wandel unterworfen. Während für einen kurzen Zeitraum nach dem Zusammenbruch der sozialistisch orientierten Wirtschaftssysteme das Verhältnis von Staat und Wirtschaft als im marktwirtschaftlich-liberalen Sinn gefestigt gelten durfte, haben die Krisen zu Beginn des 21. Jahrhunderts Zweifel ge-

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

nährt. Welche Zügel sind den Märkten anzulegen, damit diese funktionieren? Und wer soll diese Zügel in den Händen halten?

I. Wirtschaftliches Handeln von Individuen im Gemeinwesen Ausgangspunkt der Überlegungen zur Ordnung der Wirtschaft muss der Begriff des wirtschaftlichen Handelns sein. Als wirtschaftliche Tätigkeit wird heute, etwa in der Rechtsprechung des EuGH, das Anbieten oder Nachfragen von Waren oder Dienstleistungen am Markt definiert.1 Damit wird bereits Bezug genommen auf eine bestimmte Form der Organisation wirtschaftlichen Handelns, das Marktprinzip. Frühere Auslegungen des Begriffs hatten eine solche Festlegung noch nicht enthalten, sondern stärker auf den Zweck des Wirtschaftens abgestellt. So wurde eine wirtschaftliche Tätigkeit neutraler charakterisiert als eine Tätigkeit, durch welche die „Teilnahme am Erwerbsleben“ zum Ausdruck komme.2 Ob Angebot am Markt oder Teilnahme am Erwerbsleben – beiden Definitionen ist gemein, dass das wirtschaftliche Handeln eine soziale Kommunikationsform ist: Menschen treten miteinander in Kontakt, um Waren oder Dienstleistungen auszutauschen. Bei globaler Betrachtung entsteht aus dieser Kommunikation3 und aus der Vielzahl individueller Austauschgeschäfte „die Wirtschaft“. Der Beweggrund für die Kontakte ist in erster Linie das elementare Bedürfnis, Hunger und Durst zu befriedigen. Bei dieser Art der Überlebenssicherung bleibt Wirtschaft jedoch nicht stehen, und die anthropologische Forschung hat weitere Erklärungen aufgezeigt, warum Menschen sich wirtschaftlich betätigen.4 Wirtschaft wird häufig definiert als „Gesamtheit der Einrichtungen und Maßnahmen zur planvollen Deckung des menschlichen Bedarfs an Gütern“5, eine Definition, die in mehrfacher Hinsicht zu kurz greift. Weder ist wirt1

EuGH, 18.6.1998, Rs. C-35/96, Slg. 1998, I-3851 Rn. 36 – Kommission/Italien (Nationaler Rat der Zollspediteure – CNSD); in Fenin hat der EuGH den Begriff insofern präzisiert, als die reine Nachfragetätigkeit der öffentlichen Hand nicht mehr als wirtschaftliche Tätigkeit qualifiziert wird, vgl. EuGH, 11.7.2006, Rs. C-205/03 P, Slg. 2006, I-6295. 2 BayObLG, 18.9.1973, RReg. 4 St 112/73, GRUR 1974, 400 – Handwerker für den Außendienst: „Nur das, was privat oder amtlich ist, hat keinen geschäftlichen Charakter“, heißt es dort (a.a.O., S. 400). 3 Daher besteht ein enger Zusammenhang zwischen Meinungsfreiheit und freier Marktorganisation, vgl. Fikentscher, Wirtschaftsrecht I, 1983, S. 10. 4 Der Kulturanthropologe Conrad Phillip Kottak hat im Zuge seiner Studien die Beweggründe wirtschaftlichen Handelns mit anderen Zielen erklärt: Der Mensch, so Kottak, habe fünf Antriebe, sich wirtschaftlich zu betätigen und damit seine Energie und Ressourcen im Austausch mit anderen einzubringen: die Sicherung des Überlebens, die Aufrechterhaltung lebensnotwendiger Technologien, die Etablierung und Sicherung sozialer Bindungen, die Erfüllung ritueller Pflichten und die Erfüllung sonstiger Pflichten, die von übergeordneten Instanzen aufgegeben wird, vgl. Kottak, American Anthropologist 92/3 (1990) 723 ff. 5 Vgl. Fikentscher, Wirtschaftsrecht I, 1983, S. 1 m.w.N. (selbst a.A.).

A. Ausgangspunkte der Wirtschaftsordnung

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schaftliche Aktivität allein auf die Bedarfsdeckung mit Gütern ausgerichtet, noch muss die Deckung planvoll erfolgen. Auch das Herzstück der Wirtschaft, die Transaktion, das Geschäft, verschwindet hinter der umständlichen Formulierung „Einrichtungen und Maßnahmen“. Entscheidend freilich ist das Verständnis der Wirtschaft als Institution, in deren Zentrum die jeweiligen Austauschgeschäfte der Menschen mit ihren Bedürfnissen und Präferenzen stehen. Charakteristikum des Austauschs ist die Knappheit von Gütern und Ressourcen, andernfalls wäre ein Austausch kaum erforderlich. Die Volkswirtschaftslehre befasst sich mit der bestmöglichen Verteilung knapper Ressourcen im Prozess der Bedarfsdeckung.6 Trotz der optimierenden Maßnahmen, die aus volkswirtschaftlichen Erkenntnissen abgeleitet werden können, führt Knappheit aber immer auch zu Konflikten. Das wiederum stellt eine Regelungsaufgabe für das Gemeinwesen dar, das an Konfliktfreiheit und möglichst reibungsloser sozialer Kommunikation interessiert ist. In den Maßnahmen zur Vermeidung und Lösung von Konflikten, die aufgrund der fehlenden Allverfügbarkeit von Ressourcen entstehen, verwirklicht sich die wirtschaftsrechtliche Ordnung des Gemeinwesens.7 Dieses Gemeinwesen ist heute der Staat, der die Ordnung der Wirtschaft mit einem besonderen Legitimitätsanspruch versieht und den entsprechenden Regeln Durchsetzungskraft gibt. So lässt sich in aller Kürze das Verhältnis von Wirtschaft, Recht und Staat charakterisieren und die Wirtschaftsordnung definieren: Die Ordnung der Wirtschaft entsteht aus den vom Staat legitimierten Regeln, die den Austausch knapper Güter im Gemeinwesen ermöglichen und die Lösung von Konflikten zwischen Marktteilnehmern bestimmen. Diese Definition nimmt die wirtschaftliche Aktivität des Einzelnen zum Ausgangspunkt. Impliziert wird damit ein Primat individueller Freiheitsentfaltung in wirtschaftlichen Fragen. Dieser Ausgangspunkt wird freilich von Staatsrechtlern nicht zwingend geteilt. Peter Badura, Staatsrechtler und vehementer Verteidiger einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsverfassung, beginnt seine Ausführungen zu der Überschrift „Staat und Wirtschaft – Privatautonomie, Markt und Intervention“ mit einer anderen Akzentuierung: „Die Versorgung der staatlich organisierten Gesellschaft mit Gütern und Dienstleistungen ist eine Funktion der Entwicklung der Produktivkräfte (Ausbildungsstand der arbeitenden Bevölkerung, technologischer Fortschritt, Arbeitsteilung) und der Gestaltung der Produktionsverhältnisse (gesellschaftliche und rechtliche Organisation des wirtschaftlichen Prozesses).“8 6

Mankiw/Taylor, Volkswirtschaftslehre, 2008, S. 3. Vgl. Ackermann in: Neuhaus, Die Rolle des Unternehmers in Staat und Gesellschaft, 2007, S. 79, 84 ff. 8 Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 2008, Rn. 1. 7

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

Der Staatsrechtler wählt also als Ausgangspunkt für die Charakterisierung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft die Versorgung der Gesellschaft. Wirtschaft wird damit in erster Linie funktional für das Gemeinwesen verstanden. Diese Funktionalität weicht von dem soeben skizzierten Verständnis von Wirtschaft ab: Hier wurden die Entfaltung des Einzelnen im Wirtschaftsleben und seine Bedürfnisbefriedigung als Ausgangspunkte gewählt. Damit ist die Reflexion wirtschaftlicher Regelsetzung stärker auf individuelle Aspekte und die dezentrale Koordination wirtschaftlicher Aktivitäten ausgerichtet als bei einer auf die Gesamtheit der Individuen abstellenden Betrachtungsweise. Die Versorgung des Gemeinwesens und die Entfaltung des Einzelnen sind jedenfalls Zentralbegriffe der Wirtschaftsordnung,9 die je nach Regelungsansatz stärker in den Vordergrund gerückt werden. Es scheint zunächst, als würde derjenige, der die individuelle Entfaltung zum Ausgangspunkt seiner wirtschaftsrechtlichen Überlegungen macht, Freiheitsrechte betonen müssen, während derjenige, der die Versorgung ins Zentrum rückt, eher zu wirtschaftslenkenden Eingriffen bereit sein müsste. Eine solche Dichotomie würde jedoch die Nähe der Positionen verkennen. Badura fährt fort: „Quelle der Versorgung und vor allem der bereitzustellenden knappen Güter und des gesellschaftlichen Reichtums ist die durch Arbeit, Urproduktion und unternehmerisches Handeln tätige Leistung. Das Zusammenwirken bei der Erzeugung der Güter und dem Erbringen von Dienstleistungen, weiter die Funktionsweise des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs und schließlich die gerechte Verteilung des erwirtschafteten Erfolgs sind auf Bedingungen angewiesen, die von der öffentlichen Gewalt des Staates und seiner Rechtsordnung geschaffen und garantiert werden müssen.“10

Auch in der Staatsrechtslehre wird somit die Rolle der unternehmerischen Leistung nicht unterschätzt. Die Rolle des Staates wird für die Rahmensetzung der Wirtschaft betont, der Staat als Garant muss bereit sein, die Versorgung zu organisieren. Damit werden die vermeintlichen Dichotomien von Entfaltung und Versorgung, Markt und Staat auf graduelle Unterschiede reduziert. Staatliches Eingreifen ist nicht immer und nicht einmal in erster Linie interventionistisch gedacht, sondern dient auch der Sicherung der freien Betätigung und dem Schutz der unternehmerischen Entfaltungsmöglichkeit. Als Agent der Wirtschaftsordnung wird in diesen Ausführungen pauschal „der Staat“ benannt, obwohl dieser Begriff schon für sich genommen komplex ist, und der Staat unter den Vorzeichen der Globalisierung erheblich an Ordnungskraft eingebüßt hat. Zudem ist in der Europäischen Union der Staat immer als eingebunden in die Union zu denken. Dass hier dennoch verkürzend der Begriff „Staat“ für den Träger ursprünglicher hoheitlicher Macht verwendet wird, ist den Erfahrungen in der Finanzkrise 2007/2008 geschuldet. Sie hat 9 10

Fikentscher, Wirtschaftsrecht I, 1983, S. 15. Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 2008, Rn. 1.

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augenscheinlich zu einer Renaissance des Nationalstaates geführt: Zwar wurde deutlich, dass die Staaten nicht adäquat auf globale Krisen reagieren können. Zugleich zeigte sich aber, dass es an einer anderen, ähnlich legitimierten Zentralinstanz der Wirtschaftsordnung weiterhin fehlt. Selbst die Gremien der Europäischen Union schienen im Zuge der Krise wieder stärker durch die Regierungen der Mitgliedsstaaten als von der Kommission oder anderen originär europäischen Organen dominiert. Auf die Problematik des Steuerungsverlusts von Hoheitsträgern wird im Laufe dieser Arbeit zurückzukommen sein.

II. Indikatoren des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft Die wirtschaftlichen Aktivitäten können sich unabhängig von staatlicher Einflussnahme herausbilden, sie können aber auch unter massiver staatlicher Beeinflussung stehen. Traditionell wird zwischen Plan- und Marktwirtschaft unterschieden.11 In der idealtypischen Planwirtschaft setzen zentrale Instanzen normativ einen Gesamtplan fest, in den sich die Einzelpläne der wirtschaftlichen Akteure einfügen müssen, wobei auch diese in ihren Einzelplan-Entscheidungen nicht frei sind, sondern normative Vorgaben für Produktion, Investition, Distribution und Konsum erhalten.12 In der idealtypischen Marktwirtschaft hingegen entscheidet jedes Individuum für sich über seine Teilnahme am Wirtschaftsleben, seine Präferenzen und seinen Ressourceneinsatz. Die Koordination der frei gewählten Einzelpläne findet am Markt statt, also dezentral und privat, ohne hoheitliche Lenkung. In dieser Gegenüberstellung wird das Kriterium deutlich, das für das Verhältnis von Staat und Wirtschaft besonders aussagekräftig ist: die Entscheidungskompetenz. Je autonomer der Einzelne seine wirtschaftlichen Entscheidungen treffen kann, desto freier, desto marktwirtschaftlicher ist die Wirtschaftsordnung; desto stärker ist die Entfaltungs-Komponente. Trifft hingegen der Staat wesentliche Entscheidungen, ist die Lenkung größer und das Konzept näher an einer Planwirtschaft. Das Kriterium der Entscheidungskompetenz ist ein wesentlicher Schlüssel für die Interpretation der Wirtschaftsordnung.13 Primär geht es um die Frage, wer eine Entscheidung trifft. Hier können Staat und Individuum miteinander in Konkurrenz treten. Denkbar sind aber auch Zwischenstufen: Das Individuum kann seine Autonomie an andere Individuen, an Organisationen oder Körperschaften delegieren bzw. verlieren. Zudem kann innerhalb des groben Rasters der Entscheidung weiter differenziert werden: Trifft eine zentrale Behörde die Entscheidung? Oder wird auf untergeordneter, dezentraler, sachnä11 Donges/Freytag, Allgemeine Wirtschaftspolitik, 2009, S. 66; Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 2008, Rn. 2 f.; Fikentscher, Wirtschaftsrecht I, 1983, S. 4. 12 Dichtl/Issing, Vahlens Wirtschaftslexikon, 1993, S. 2441. 13 So Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, 2008, Rn. 649.

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herer Ebene entschieden? Wird im Vorhinein eine Vorgabe gemacht oder nur im Nachhinein korrigiert? Welche Anhörungs- und Mitwirkungsrechte haben die Betroffenen? Hierzu ist das institutionelle Design der Wirtschaftsordnung zu prüfen. Wenn das Individuum die Entscheidungskompetenz hat, ist noch offen, ob es auch inhaltlich frei entscheiden kann. Wie weit reicht der Entscheidungsspielraum des Einzelnen? Welche Grenzen sind ihm gesetzt? Für die inhaltliche Entscheidungsfreiheit ist neben einer freiheitsrechtlichen Betrachtung von Belang, ob das Individuum wirtschaftlich frei ist, also die tatsächlichen Möglichkeiten hat, zwischen verschiedenen Entscheidungsvarianten zu wählen. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass es Bereiche gibt, in welchen der Staat überhaupt keine Entscheidungsspielräume eröffnet. Staatliche Leistungserbringung und öffentliches Eigentum engen den wirtschaftlichen Entfaltungsraum der Bürger ein. Behält sich etwa der Staat ein Monopol auf die Erbringung von Postdienstleistungen vor, sei es durch gesetzliche Regelungen oder durch Eigentum an den entsprechenden Unternehmen, ist dieser Bereich der privaten Wirtschaftsaktivität entzogen. Staatliche unternehmerische Aktivitäten sind dadurch eine Begrenzung privater Entscheidungskompetenzen. In der Volkswirtschaftslehre wird dieser Aspekt durch die Kennziffer der Staatsquote gemessen. Die Staatsquote gibt den Anteil an, den staatliche und staatlich bedingte wirtschaftliche Aktivität an der wirtschaftlichen Gesamtleistung einer Volkswirtschaft haben. Gemessen wird dies meist als das Verhältnis der Summe aller Haushaltsausgaben des Staates und seiner Körperschaften zum Bruttoinlandsprodukt. So wird für 2009 die Staatsquote für Deutschland mit 47,5 Prozent angegeben.14 In den Wohlfahrtsstaaten Skandinaviens liegt sie regelmäßig höher (über 50 Prozent), in den USA, Japan und der Schweiz regelmäßig niedriger (unter 40 Prozent). Diese Zahlen liefern Hinweise auf die jeweiligen Entscheidungsspielräume, die von der Wirtschaftsordnung in den genannten Staaten den privaten Akteuren überantwortet werden. Als Schlüsselkriterium zur Deutung einer wirtschaftlichen Ordnung in ihrer Spannung zwischen privater Entfaltung einerseits und staatlicher Lenkung andererseits kann die Entscheidungskompetenz angesehen werden. Diese lässt sich anhand institutioneller Aspekte, der Interventionsintensität und der Staatsquote ansatzweise ermessen.

14 Statistik des Bundesfinanzministeriums, veröffentlicht unter http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_53848/DE/BMF__Startseite/Service/Downloads/Abt__I/Entwicklung__ der__Staatsquote__10062010,property=publicationFile.pdf [20.11.2010], zuletzt abgerufen 10. April 2012. Im Jahr 2007, vor der Finanzkrise, lag die Staatsquote bei 43,6 Prozent.

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III. Historischer Überblick Die Geschichte der modernen Wirtschaftsordnung in Europa seit 1800 lässt sich als stetes Ringen des Einzelnen mit dem Staat um wirtschaftliche Entscheidungskompetenz lesen.15 Im Zuge des 18. Jahrhunderts erlebten sowohl der Nationalstaat, als auch die bürgerlichen Freiheitsrechte einen Aufschwung. Dieser Aufschwung verlief eine Zeitlang parallel, zumal die staatliche Verfasstheit die Herausbildung rechtlicher und wirtschaftlicher Freiheiten bedingte und umgekehrt die freie wirtschaftliche Entfaltung die notwendigen Fortschritte brachte, um den auf seine Souveränitätssicherung bedachten Nationalstaat finanziell zu stabilisieren. Erst in dieser Zeit wurde die wirtschaftliche Tätigkeit als eigener gesellschaftlicher Bereich ausgebildet, sodass sich ein Wirtschaftsordnungsrecht erst ab dieser Zeit überhaupt entwickeln konnte.16 Um 1850 erreichte diese Art der Freiheitsausübung in Deutschland eine Blüte (wie im früher industrialisierten England bereits zu Zeiten des Manchester-Kapitalismus). Mit der industriellen Revolution wurden aber aus staatlicher Perspektive auch soziale Aspekte wichtiger, sodass der Versorgungsaspekt der Wirtschaftsordnung größere Bedeutung erlangte. Es folgte eine Phase des Interventionismus.17 Spätestens seit der Reichsgründung 1871 wurde die relativ freie Entscheidungsfindung der Bürger zunehmend von staatlicher Lenkung beeinflusst („organisierter Kapitalismus“18). In diese Zeit fallen die großen Kodifikationen, die einen staatlichen Entscheidungsanspruch in wirtschaftlichen Belangen ausdrückten und die bis dahin vorherrschende bloße „Sicherung der Wirtschaftsautonomie“19 überwanden. Zu nennen sind neben dem BGB und dem HGB die Sozialgesetzgebung Bismarcks sowie Gesetze zum Schutz von Immaterialgüterrechten oder der Lauterkeit im geschäftlichen Verkehr. Die ursprünglich beim Individuum belassenen Entscheidungskompetenzen verlagerten sich in dieser Zeit zwar nicht in gravierendem Maße auf den Staat, wohl aber auf Organisationen wie Kassen, Genossenschaften, Syndikate, Verbände und Kartelle. Indem der Staat wirtschaftslenkende Gesetzgebung erließ, eröffnete er Möglichkeiten, wirtschaftliche Ansprüche gerichtlich geltend zu machen. Am deutlichsten wird diese wirtschaftsordnende Kraft durch den Erlass des Gesetzes gegen unlauteren Wettbewerb im Jahr 1896, das die Marktteilnehmer in die Lage versetzte, Gerichte zur Ordnung des Wettbewerbs anzurufen. Mit der Konstruktion des UWG als eines privatrechtlich durchzusetzenden wirtschaftsordnenden Ge15

So Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, 2008, Rn. 641 ff. Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, 2008, Rn. 17. Vgl. Schmidt in: Isensee/ Kirchhof, HStR IV, 2006, § 92 Rn. 1. 17 Ronellenfitsch in: Isensee/Kirchhof, HStR IV, 2006, § 98 Rn. 10. 18 Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, 2008, Rn. 648. 19 Vgl. Schmidt in: Isensee/Kirchhof, HStR IV, 2006, § 92 Rn. 1 f. 16

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

setzes ermächtigte der Gesetzgeber in einem wesentlichen Bereich die Marktteilnehmer selbst, für die Aufrechterhaltung der Wirtschaftsordnung zu sorgen. Ab 1914 wurde die Wirtschaft als Kriegswirtschaft neu ausgerichtet, wodurch in beträchtlichem Ausmaß Entscheidungskompetenzen auf den Staat übergingen und ein Dirigismus einsetzte, der an die Stelle der Entfaltung des Individuums die Versorgung des Gemeinwesens setzte.20 Dieser Dirigismus wurde in der Weimarer Republik zwar zurückgenommen, es erhielt sich jedoch ein starker Versorgungsakzent, der etwa Verstaatlichungen und stark lenkende Sozialeingriffe vorsah. Modell dieser Wirtschaftsgestaltung war das Konzept der „Wirtschaftsdemokratie“21. Dieses Konzept knüpfte direkt an die Entscheidungskompetenzen an und machte deren Demokratisierung zum Programm, allerdings nicht verstanden im Sinne einer Individualisierung und Dezentralisierung mit dem freien Markt als Koordinationsinstrument, sondern als kollektive Partizipation der Arbeiter über ihre Verbände, mit dem Staat als Koordinator.22 Im Zuge der Wirtschaftskrise kam es zu zahlreichen Übernahmen von Unternehmen durch den Staat, sodass dessen Wirtschaftstätigkeit weiter ausgedehnt wurde.23 Der Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus blieb für die Wirtschaftsordnung nicht folgenlos.24 Die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik garantierte einerseits Kontinuität und versuchte, die Kräfte eines freien Kapitalismus zu nutzen. Andererseits wurde diese Ordnung mit extremen Einbrüchen in die Privatautonomie konterkariert, wie der Zwangsenteignung jüdischer Unternehmer. Schmoeckel hebt hervor, dass – soweit der Einzelne nicht seiner Entscheidungsautonomie völlig beraubt war – im NS-Regime der Bürger seine Entscheidungen häufig bereits im vorauseilenden Gehorsam am Gesamtplan ausrichtete, auch wenn dazu formal keine Notwendigkeit bestand.25 Mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg wurden die Entfaltungsmöglichkeiten in der Wirtschaft dann abermals in den Dienst des Krieges gestellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg durchlief die deutsche Wirtschaft zunächst eine Phase des starken Dirigismus, insbesondere durch die Besatzungsmächte, bevor sich mit der Währungsreform und der Einführung der sozialen Marktwirtschaft eine stärkere Verlagerung der Entscheidungskompetenzen auf einzelne Akteure entwickelte, zumindest im Westen Deutschlands. In der DDR hingegen wurde eine Zentralverwaltungswirtschaft organisiert, die dem Ein20

Ronellenfitsch in: Isensee/Kirchhof, HStR IV, 2006, § 98 Rn. 11. Nach Naphtali, Wirtschaftsdemokratie, 1928, zum Begriff: S. 7 ff.; zu seiner Übertragung auf die Wirtschaftsordnung S. 21 ff. (insb. S. 27 ff.); zum Durchgriff des Staats auf Privatunternehmen S. 53 ff. 22 Naphtali, Wirtschaftsdemokratie, 1928, S. 21 ff., 33 ff. 23 Ronellenfitsch in: Isensee/Kirchhof, HStR IV, 2006, § 98 Rn. 13. 24 Vgl. Schmidt in: Isensee/Kirchhof, HStR IV, 2006, § 92 Rn. 5. 25 Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, 2008, Rn. 677 ff. 21

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zelnen nur in engsten Grenzen Möglichkeiten der freien wirtschaftlichen Entscheidung ließ. In der bundesrepublikanischen Geschichte setzte sich das Ringen um Entscheidungskompetenzen fort. Nach einer intensiv gelenkten Ordnungsphase setzte sich eine freiere Marktwirtschaft durch. Auf einer informellen Ebene allerdings bildete sich der „Rheinische Kapitalismus“ aus, der auf einer engen Verflechtung von Politik und Wirtschaft basierte, repräsentiert durch das Kooperieren von Parteien, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften. Formal war damit dem Einzelnen Entscheidungsautonomie gewährt, die praktisch aber häufig eine delegierte Autonomie war und die nicht in einen konfrontativen Wettbewerb der Marktteilnehmer untereinander mündete. Direkte staatliche Eingriffe wurden in der sozialliberalen Koalition in den siebziger Jahren stärker, auch unter dem Eindruck der damaligen Wirtschaftskrise. Im Anschluss wandelte sich der Zugriff des Staates auf wirtschaftliche Entscheidungen, nicht zuletzt unter dem Druck der Europäischen Gemeinschaft sowie wegen des zunehmenden internationalen Wettbewerbs. Direkte staatliche Eingriffe wurden seltener, wichtige Staatsbetriebe wurden privatisiert, die Verflechtungen der großen Unternehmen untereinander (sog. „Deutschland AG“) wurden aufgelöst. Die Wende in der DDR führte zu einem weiteren Privatisierungsschub.26 Für die Zeit der Bundesrepublik lässt sich anhand der Staatsquote nachvollziehen, inwieweit staatliches Engagement in der Wirtschaft vorhanden war: Dem Bundesfinanzministerium zufolge betrug die Staatsquote im Jahr 1960 noch 32,9 Prozent. Zu einem sprunghaften Anstieg kam es zwischen 1970 und 1975 (nämlich von 38,5 Prozent auf 48,5 Prozent). Dieses Niveau sank zwischenzeitlich auf bis zu 43,1 Prozent ab (1989), blieb ansonsten aber weitgehend stabil. 1991 lag die Staatsquote bei 46,3 Prozent, sie stieg 1996 auf 49,3 Prozent. Die Quote sank schließlich 2007 auf 43,6 Prozent, erhöhte sich in Folge der Finanzkrise und entsprechender staatlicher Maßnahmen aber 2009 wieder auf 47,5 Prozent. Demnach ist heute fast die Hälfte der wirtschaftlichen Aktivität in Deutschland noch wesentlich beeinflusst von der Entscheidungskompetenz des Staates. Auch in dieser Hinsicht kann also von einem „Ende der Geschichte“27 im Sinne eines endgültigen Durchbruchs marktwirtschaftlicher Prinzipien keine Rede sein. Die private Entscheidungsautonomie in wirtschaftlichen Fragen muss immer wieder neu erkämpft und verteidigt werden.

26 27

Vgl. Ronellenfitsch in: Isensee/Kirchhof, HStR IV, 2006, § 98 Rn. 19. Vgl. Fukuyama, Das Ende der Geschichte, 1992, S. 89.

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IV. Rechtfertigung staatlicher Intervention Das Verhältnis von Markt und Staat ist seit dem Erscheinen des die moderne Ökonomik begründenden Werks „Wealth of Nations“ (1776) des Moralphilosophen Adam Smith Gegenstand philosophischer, ökonomischer und auch juristischer Forschung. Die Kernfrage der Debatte um ein Modell der Wirtschaftsordnung ist die Frage, in welchen Fällen der Staat lenkend in das Wirtschaftsleben eingreifen darf bzw. soll. Schon in der Frage selbst liegt eine bedeutende Weichenstellung: Sie geht nicht von einem Primat staatlicher Lenkungsgewalt, sondern von der grundsätzlichen Staatsfreiheit des Wirtschaftslebens aus. Die private Entfaltung hat Vorrang vor staatlicher Intervention, sodass die Suche nach den Konturen unbedingt notwendiger Interventionen im Vordergrund steht. Eine zentrale Planung oder Lenkung kommt konzeptionell nicht in Frage. Vielmehr bedarf staatliche Regelung der Rechtfertigung. Diese Anschauung ist verfassungsrechtlich geboten, da die freie wirtschaftliche Entfaltung als Grundrecht des Einzelnen geschützt ist (Art. 2 I, 12 I, 14 GG)28 – der Eingriff bedarf der Rechtfertigung. Grundlegend akzeptiert wird mit dieser Fragestellung auch, dass die freie Entfaltung einer gewissen Grundordnung bedarf, die durch den Staat legitimiert wird.29 Walter Eucken nennt als „konstituierende Prinzipien“ der Wirtschaftsordnung die Institutionen Privateigentum, Vertrags- und Gewerbefreiheit, freie Preisbildung, Geldwertstabilität, Kompetenz und Haftung.30 Dem Staat fällt die Aufgabe zu, den Markt grundsätzlich zu organisieren; ein wesentlicher Bestandteil dieser Organisation ist die Bereitstellung eines funktionierenden Rechtssystems zur Durchsetzung von Ansprüchen. Nach wirtschaftswissenschaftlichen Maßstäben liegt die Rechtfertigung für staatliche Interventionen im Marktversagen: Wenn Marktmechanismen nicht funktionieren, entsteht Ineffizienz und damit eine Schmälerung des Wohlstands, sodass eine Intervention gerechtfertigt ist.31 Traditionelles Analyseinstrument zur Ermittlung der Möglichkeiten der Wohlstandssteigerung ist die Allokationstheorie, die eine effiziente Faktorallokation nach dem Pareto-Kriterium anstrebt.32 In den wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsrichtungen, die sich seit der Neoklassik etabliert haben, stehen die Abweichungen vom allgemeinen Gleichgewichtsmodell im Vordergrund, anhand derer korrekturbedürftiges Marktversagen ermittelt wird. Eine Folgefrage der Ökonomik ist, 28 Murswiek in: Sachs, Grundgesetz, 2006, Art. 12 Rn. 21 ff.; Wieland in: Dreier, GG, 2004, Art. 12 Rn. 145 ff. 29 BVerfG 7, 11.6.1958, Az. 1 BvR 596/56, BVerfGE 7, 377 = NJW 1958, 641 – Apothekenurteil. 30 Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 2004, S. 254 ff.; vgl. auch Donges/Freytag, Allgemeine Wirtschaftspolitik, 2009, S. 67. 31 Vgl. Donges/Freytag, Allgemeine Wirtschaftspolitik, 2009, S. 4. 32 Vgl. Donges/Freytag, Allgemeine Wirtschaftspolitik, 2009, S. 82 ff. m.w.N. auch zur Kritik etwa aus konstitutionenökonomischer Perspektive.

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welche Interventionen zur Lösung der Probleme angemessen sind. Hier ist der Begriff des „Staatsversagens“ einzuordnen. Als Staatsversagen wird es bezeichnet, wenn der Staat bei seinen Interventionen Fehler macht und dadurch Ineffizienzen begünstigt oder nicht beseitigt, etwa indem er statische Effizienzen hoch gewichtet, während dynamische Effizienzen vernachlässigt werden.33 Die wirtschaftswissenschaftlichen Schulen des 20. Jahrhunderts haben unterschiedliche Antworten auf die Frage gegeben, wie Marktversagen und Interventionen zu strukturieren sind: Die ordoliberale Freiburger Schule (u.a. Walter Eucken, Alfred Müller-Armack) betonte die Entscheidungsautonomie der Akteure für das Funktionieren des Marktes, setzte aber auf eine starke staatliche Rahmenordnung, innerhalb derer die Akteure frei entscheiden können sollten. Die Harvard School (u.a. John M. Clarke, Joe Bain) folgerte Effizienz aus der Marktstruktur und befürwortete daher Interventionen auf dieser Ebene. Die Vertreter der Neuklassik (Friedrich A. von Hayek, Erich Hoppmann) betonten die Dynamik der Wirtschaft und die Wissensprobleme bei Interventionen. Statt auf die Verwirklichung von Plänen vertrauten sie auf spontane Ordnungen. Interventionen seien darauf zu beschränken, die „Entdeckungsverfahren“ zu ermöglichen, die zu solchen Ordnungen führen. Die Chicago-School (Milton Friedman, Richard A. Posner) lehnte staatliche Interventionen in die Wirtschaft noch weitergehend ab und vertraute auf die Selbstheilungskräfte des Marktes. Die Nachfolger dieser Forschungsrichtung lehnen Interventionen nicht mehr grundsätzlich ab, haben sich aber einer stärkeren Detailanalyse zur Steuerung der Wirtschaft zugewendet und warnen vor Eingriffen mit Hinweis auf potentielle „type-1-errors“, also negative Folgen durch fehlerhafte Regulierung. So muss jede Zeit die ihr adäquat erscheinende Antwort auf die Frage finden, wie das Gemeinwesen den Markt organisieren will. Die Rechtfertigung für staatliche Eingriffe in die freie unternehmerische Entfaltung der Individuen bleibt eine politische Aufgabe. In eben diesem Sinne ist beispielsweise der Schlachtruf der 2011 konstituierten sog. Occupy-Bewegung zu lesen, die nach Finanz- und Schuldenkrise ihr Unbehagen mit dem Zustand der Wirtschaftsordnung in dem Slogan ausdrückte: „We are the 99 percent!“ Damit sollte die als ungerecht empfundene Einkommensverteilung gegeißelt werden.34 In die hier verwendete Lesart übersetzt konstatieren die Anhänger dieser Bewegung ein Marktversagen in der ungerechten Einkommensverteilung und beklagen einen Mangel an demokratischer Teilhabe am Wirtschaftsordnungsprozess, der von der reichsten Schicht gesteuert sei. Nach demokratischen Vorstellungen ist im gesellschaftlichen Diskurs eine Mehrheitsmeinung zu der Frage zu bilden, ob der Tatbestand ein Marktversagen darstellt und inwieweit durch staatliche Maßnahmen (etwa höhere Besteuerung der einkommensstärkeren Personen) gegenzusteuern ist. 33 34

Donges/Freytag, Allgemeine Wirtschaftspolitik, 2009, S. 165 f. Vgl. Engel, Das schwindende Vertrauen in die Marktwirtschaft, 2009, S. 11.

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

V. Normative Prägung der Wirtschaftsordnung Politische Diskurse wie die soeben skizzierten verlaufen nicht ungeregelt, sie fügen sich in zwei Kontexte ein: Zum einen stellt die ökonomische Forschung Erkenntnisse bereit, welche (staatlichen oder gesellschaftlichen) Interventionen möglich sind und welche Wirkungen diese zeitigen. Damit wird fachliche Expertise in den Diskurs eingebracht, ohne die politische Maßnahmen Gefahr laufen, keine oder gar gegenteilige Wirkungen zu erzielen. Modellrechnungen von Ökonomen ersetzen aber nicht die normative Grundentscheidung der Frage, worauf eine Wirtschaftsordnung überhaupt abzielt.35 Zum anderen sind die normativen Vorgaben des Gesetzes bzw. der Verfassungen zu achten, wenn politische Maßnahmen diskutiert werden. Würden in der politischen Diskussion etwa großflächige Enteignungen gefordert, wäre dies nicht ohne weiteres umsetzbar, da möglicherweise rechtliche Grundprinzipien verletzt würden. Zum Teil setzen auch die Vertreter der verschiedenen ökonomischen Schulen bereits normative Annahmen, etwa wenn die Post-Chicago-School eine Maximierung der Verbraucherwohlfahrt anstrebt.36 Hier ist es Aufgabe des Rechtswissenschaftlers, solche Wertungen offenzulegen. Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft wird letztlich normativ, d.h. von übergeordneten Rechtsnormen geprägt und ist auch entsprechend auszurichten.37 Die ökonomischen Erkenntnisse sind sodann das Mittel der Wahl, um die Zielerreichung möglichst effizient zu gestalten. In diesem Beitrag liegt der große Wert der ökonomischen Forschung für das Recht. Die Souveränität der Entscheidung liegt im politischen Bereich. Möglichkeiten und Grenzen der Wirtschaftsordnung ergeben sich aus übergeordnetem internationalen Recht sowie der Verfassung. Aus diesen Vorgaben hat sich in Deutschland das klassische Wirtschaftsrecht gebildet.

1. Das europäische Modell der Wirtschaftsordnung Das europäische Recht enthält eine Festlegung auf ein bestimmtes Modell der Wirtschaftsordnung. Im bis zum 1.12.2009 geltenden EG-Vertrag war eine Grundentscheidung für eine „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (Art. 4 Abs. 1 EG, vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. c und g EG) getroffen worden.38 Im neuen Vertragswerk wird der Binnenmarkt gemäß Art. 3 Abs. 3 EUV aus35

So auch Donges/Freytag, Allgemeine Wirtschaftspolitik, 2009, S. 67. Vgl. Drexl in: Drexl/Kerber/Podszun, Competition Policy and the Economic Approach, 2011, S. 336 ff. 37 Vgl. Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 214: „Die Ausführungen (…) beruhen auf der Überzeugung, dass es keine wertfreie Ökonomie geben kann.“. 38 Zum EGV als Wirtschaftsverfassung: Petersmann, EuZW 1993, 593, 594 f.; Hatje in: Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, 2009, S. 801 ff.; Drexl in: Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, 2009, S. 905 ff. 36

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drücklich geschützt, der Wettbewerbsschutz wird als Ziel in Protokoll Nr. 27 zu dem Vertrag festgeschrieben und ist damit, wie vom EuGH bestätigt, integraler Bestandteil des Vertrags (Art. 51 EUV).39 In Art. 119 Abs. 1 AEUV wird festgelegt, dass die Wirtschaftspolitik „dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist.“ Die Europäische Union ist historisch als Wirtschaftsgemeinschaft gewachsen. Dadurch ist der jetzt konstitutionalisierte Rechtsbestand in einer Weise wirtschaftlich ausgerichtet, die im nationalen Verfassungsrecht keine Entsprechung findet. Europäisches Recht war über Jahrzehnte hinweg eben in erster Linie Wirtschaftsrecht, und mit steigender Bedeutung der Gemeinschaft bzw. der Union wirkte die wirtschaftsrechtliche Ordnungsvorstellung immer intensiver auf das nationale Recht ein. Das europäische Recht konturiert die Wirtschaftsordnung durch verschiedene Maßnahmen:40 die Außenhandelspolitik wird von der EU gesteuert (Art. 3 (1) lit. e AEUV, Art. 206 ff. AEUV); innerhalb der Grenzen der EU wird ein Binnenmarkt verwirklicht. Die Grundfreiheiten (Art. 28 ff. AEUV) sichern diesen ab, private Wettbewerbsbeschränkungen, die den Binnenmarkt torpedieren könnten, werden über das europäische Kartellrecht (Art. 101 ff. AEUV) erfasst. Weitere Regelungen bestehen zur Finanzverfassung (Währungsunion) sowie zur Eigentumsordnung (Art. 345 AEUV). Neben diesen primärrechtlichen Bestimmungen kommt es durch Sekundärrecht zu einer Angleichung vieler wirtschaftsrechtlicher Regelungen in den Mitgliedsstaaten. Schließlich enthält die Grundrechte-Charta, vorrangig in Art. 15–17, einen einheitlichen Standard für die freie Entfaltung in wirtschaftlicher Hinsicht. Das europäische Recht wirkt so „machtvoll disziplinierend“41 auf die Wirtschaftsgesetzgebung und die wirtschaftlichen Aktivitäten der Mitgliedsstaaten ein. Jahrzehntelang enthielt diese Disziplinierung für das deutsche Wirtschaftsrecht einen liberalisierenden Charakter, d.h. die Europäische Kommission erzog die deutschen Gesetzgeber und Behörden zu einer marktfreundlichen Ausgestaltung der Wirtschaftspolitik. Diese Tendenz zur Orientierung an wettbewerblich-marktwirtschaftlichen Prinzipien durch die Vorgaben des europäischen Rechts hat Stefan Grundmann als „großen Schritt in Richtung Primat der Privatrechtsgesellschaft“ bezeichnet.42 Als besonders wirksame Hebel wirkten die Grundfreiheiten, die einen Rechtfertigungszwang für nationale Sonderregeln auslösten und damit das Regel-Ausnahme-Prinzip für nationale Wirtschaftsgesetzgebung determinierten.43 Ohne Rechtfertigung waren Freiheitseinschränkungen für wirtschaftli39

Vgl. EuGH, 17.11.2011, Rs. C-496/09, noch nicht in Slg., EuZW 2012, 112, 116, Rz. 60. Überblick: Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 2008, Rn. 75 ff. 41 Grundmann in: Riesenhuber, Privatrechtsgesellschaft, 2007, S. 105, 109. 42 Grundmann in: Riesenhuber, Privatrechtsgesellschaft, 2007, S. 105, 111. 43 Vgl. Heinemann, Grenzen staatlicher Monopole im EG-Vertrag, 1996, S. 202; Ruffert in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 3 Rn. 28 ff. 40

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

che Aktivitäten in den Mitgliedsstaaten nicht mehr durchsetzbar, da sie als europarechtswidrig eingestuft werden konnten. Dabei spielte die strenge Rechtsprechung des EuGH bei der Prüfung der Erforderlichkeit von Interventionen eine wichtige Rolle. Der EuGH wirkte maßgeblich daran mit, den Verbraucher in Wirtschaftsfragen als „mündig“ anzuerkennen und der Information des Verbrauchers als milderem Mittel gegenüber einer direkten Sachregelung den Vorzug zu geben.44 Abgesichert wurden die liberalisierenden Tendenzen der Grundfreiheiten durch die Anwendung von Art. 106 AEUV, der die wirtschaftliche Betätigung der Mitgliedsstaaten selbst, etwa durch öffentliche Unternehmen, Bindungen unterwirft. Zudem wurden die Förderung von Unternehmen durch Beihilfen (Art. 107 ff. AEUV) und die staatliche Förderung von privaten Wettbewerbsbeschränkungen (über Art. 101, 102 AEUV) eingeschränkt. Dieser vom europäischen Recht veranlasste Vorrang des europäischen Marktprinzips vor der nationalen Intervention wurde ergänzt durch die Liberalisierungsbestrebungen in der Welthandelsorganisation (insbesondere GATT und GATS)45 sowie durch den Standortwettbewerb im Zuge der Globalisierung. Institutionelle Träger des europäischen Wirtschaftsrechts sind vor allen anderen die Europäische Kommission als Hüterin der Verträge und der Gerichtshof der Europäischen Union als das letztentscheidende Gremium in Fragen des europäischen Rechts. Die Kommission nimmt ihre Rolle sowohl als Stelle wahr, die selbst Gesetzgebung initiiert, als auch als exekutive Kontrollbehörde, die ex post die Einhaltung der europarechtlichen Pflichten durch die Mitgliedsstaaten und – im Kartellrecht – durch die Unternehmen überwacht. Ihr zur Seite gestellt ist der Gerichtshof mit seiner umfassenden Kontrollfunktion. Er wird in Einzelfällen tätig, insbesondere durch Vorlageverfahren oder auf Basis von Beschwerden gegen Entscheidungen der Kommission. Diese Tätigkeit, die formal lediglich die Auslegung des Rechts umfasst, wirkte in der Praxis häufig wie ein „Motor“ der Integration.

2. Die Vorgaben des Grundgesetzes Neben dem europäischen Recht stehen die Vorgaben des Grundgesetzes. a) Wirtschaftspolitische Neutralität? Regelmäßig wird die „wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes“ betont, die durch die Grundrechte in Richtung einer freien Entfaltung der 44 Vgl. Grundmann in: Riesenhuber, Privatrechtsgesellschaft, 2007, S. 105, 115. Zum Informationsmodell auch Grundmann, JZ 2000, 1133, 1135 ff. 45 Aber nur punktuell, siehe Ruffert in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 3 Rn. 1, 15 ff.

A. Ausgangspunkte der Wirtschaftsordnung

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Staatsbürger konturiert werde.46 Welchen Wert eine Aussage über das Wirtschaftsmodell des Grundgesetzes in Zeiten des Primats europäischen Rechts für die Wirtschaftsordnung hat, sei dahingestellt. Schon aus den Grundrechten sowie der objektiven Wertordnung des Grundgesetzes ergibt sich jedenfalls eine derart starke marktwirtschaftliche Prägung, dass Neutralität nur mehr als Referenz an die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes in wirtschaftspolitisch stark ideologisierten Zeiten anzusehen ist. Die Zusammenschau der relevanten Bestimmungen des Grundgesetzes lässt erkennen, dass der Verfassungsgeber für diesen eminent wichtigen gesellschaftlichen Bereich durchaus eine Vorstellung entwickelt. Es ist nicht verfehlt, von einer deutschen „Wirtschaftsverfassung“ zu sprechen und diese als der sozialen Marktwirtschaft verpflichtet anzusehen. Wolfgang Fikentscher sieht im Grundgesetz ein „Primat der freiheitlichen Lösung“ angelegt.47 Die bedeutsamsten Regelungen sind dazu die Grundrechte und der Schutz der Menschenwürde. Art. 12 Abs. 1 (Berufsfreiheit), Art. 14 (Schutz des Privateigentums), Art. 2 Abs. 1 (Vertragsfreiheit und unternehmerische Freiheit) sowie das Diskriminierungsverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) und die rechtsstaatlichen Grundsätze (insbesondere Verhältnismäßigkeit) setzen der staatlichen Einflussnahme auf die Wirtschaft erhebliche Grenzen und stellen die freie wirtschaftliche Entfaltung der Individuen in den Mittelpunkt der Wirtschaftsordnung.48 Das Grundgesetz benennt auch die Grundpfeiler dieser Ordnung, nämlich die Eigentumsgarantie und die Garantie der Vertragsfreiheit sowie ergänzend den garantierten Rechtsschutz gegen staatliche Maßnahmen (Art. 19 Abs. 4 GG). Mit solchen Rechten und Garantien ist eine Planwirtschaft nicht zu gestalten. Im Ergebnis führt dies systematisch zu einem Rechtfertigungszwang des Gesetzgebers, wenn dieser in die freie Entfaltung des Wirtschaftslebens eingreifen will,49 aber auch zu einer Verantwortung des Gesetzgebers, diese Grundpfeiler zu sichern. Der Abwehr-Mechanismus der Grundrechte wirkt ähnlich wie der der Grundfreiheiten im europäischen Recht. Damit kommt es auch nach deutschem Recht auf die Konturierung des Rechtfertigungszwangs durch die Rechtsprechung an. Das Bundesverfassungsgericht hat sich allerdings, anders als der ohnehin überwiegend wirtschaftsrechtlich tätige EuGH, in wirtschaftlichen Fragen weitgehend zurückgehalten: Sowohl im ersten einschlägigen 46 Vgl. statt aller Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 2008, Rn. 14 ff.; Lepsius in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 4 Rn. 13 ff. 47 Fikentscher, Wirtschaftsrecht II, 1983, S. 62; ähnlich Kluth in: Schmidt-Aßmann/Dolde, Beiträge zum öffentlichen Wirtschaftsrecht, 2005, S. 11, 29. Instruktiv Maultzsch, JZ 2012, 1040, 1041 f., der für die deutsche Rechtsentwicklung eine Entwicklung vom „Privatrecht als Verfassung“ zur „Verfasstheit des Privatrechts“ konstatiert. 48 Vgl. Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 2008, Rn. 27 ff. 49 Kluth in: Schmidt-Aßmann/Dolde, Beiträge zum öffentlichen Wirtschaftsrecht, 2005, S. 11, 16.

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

Urteil, dem Investitionshilfe-Urteil von 195450, als auch in der wegweisenden Mitbestimmungsentscheidung von 197951 hat das Gericht dem Gesetzgeber einen weiten Spielraum gelassen, die These von der wirtschaftspolitischen Neutralität der Verfassung vertreten und einen systematisch-ordnenden Gesamtzugriff der Verfassung auf das Gebiet der Wirtschaft verneint.52 Interventionen stützen Gesetzgeber und Behörden regelmäßig auf die Sozialstaatsverpflichtung, die das Grundgesetz neben die liberalen Abwehrrechte stellt.53 Die freie Entfaltung des Individuums im Bereich der Wirtschaft wird also schon verfassungsmäßig durch den Aspekt der Versorgung relativiert. Dem Staat wird so eine Verantwortung zugewiesen, Eingriffe ins Wirtschaftsleben nicht nur auf Freiheitssicherung auszurichten, sondern auch auf eine gerechte Verteilung des Wohlstands und eine allgemeine Förderung des Wirtschaftswachstums.54 Im Einzelfall jedoch müssen sich Maßnahmen, die der Staatszielverwirklichung dienen, immer wieder an den Abwehrrechten des Einzelnen messen lassen, zumal Freiheit und Rechtsstaatlichkeit neben der Sozialstaatlichkeit als Staatsziele verankert sind. So sind als Grundpfeiler der Wirtschaftsordnung die Grundpfeiler der Verfassung mitzulesen, Menschenwürde, Freiheitspostulat, Gleichbehandlung sowie die Bestimmungen in Art. 20, 28 und 79 GG.55 Wer bestreitet, dass das Grundgesetz eine Wirtschaftsverfassung enthält, verkennt den konstitutiven Anspruch dieser Normen für alle Bereiche des Gemeinwesens. Einer Explizierung wie im europäischen Recht bedarf es nicht. b) Wirtschaftliche Betätigung des Staates Im Brennpunkt der Überlegungen zu einer staatlichen Wirtschaftsordnung steht die eigene wirtschaftliche Betätigung des Staates, die ein wichtiger Indikator für die Entfaltungsfreiheit in einer Wirtschaftsordnung ist.56 Sie ist zudem Ausgangspunkt für die im Rahmen dieser Schrift untersuchte Übertragung von Rechtsmacht auf Private. Die Verfassung selbst enthält ebenso wenig ausdrückliche Verpflichtungen des Staates zu einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit wie Verpflichtungen des Staates, Wirtschaftstätigkeiten nach Möglichkeit zu unterlassen:57 Die Regelungen in Art. 87d (für Luftverkehr), 87e (für das Eisenbahnwesen) und 50

BVerfG, 20.7.1954, Az. 1 BvR 459/52 u.a., BVerfGE 4, 7–27. BVerfG, 1.3.1979, Az. 1 BvR 532/77 u.a., BVerfGE 50, 290. 52 Vgl. Ziff. 139, 141 des Mitbestimmungsurteils. 53 Vgl. Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 2008, Rn. 113 ff. 54 Vgl. Badura, Staatsrecht, 2003, D33 ff.; ders., Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 2008, Rn. 113 ff. 55 Vgl. Fikentscher, Wirtschaftsrecht II, 1983, S. 59. 56 Vgl. Heinemann, Grenzen staatlicher Monopole im EG-Vertrag, 1996, S. 5. 57 Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999, S. 225 ff. Vgl. Gramm, Privatisierung, 2001, S. 43 ff.; Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 156. 51

A. Ausgangspunkte der Wirtschaftsordnung

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Art. 87f GG (für Post und Telekommunikation) bestimmen lediglich Leitlinien der staatlichen Einflussnahme auf die darin genannten, als besonders wichtig angesehenen Sektoren.58

3. Wirtschaftsordnung durch Wirtschaftsverwaltungsrecht Die Vorgaben des Europarechts und des Grundgesetzes setzen sich auf nachgelagerter Ebene im klassischen Wirtschaftsverwaltungsrecht fort. Dieses ist als solches ein relatives junges Rechtsgebiet. Erst als die starken staatlichen Eingriffe ins Wirtschaftsleben in Folge des Ersten Weltkriegs sich in der Weimarer Zeit in abgemilderter Weise fortsetzten, entstand ein eigenes Rechtsgebiet der Eingriffsbefugnisse des Staates in die freie Wirtschaft.59 Die Auffassung, das Wirtschaftsleben sei allein dem Privatrecht überantwortet, wurde damit abgelöst. Festzuhalten bleibt aber auch an dieser Stelle, dass in der Moderne das liberale Privatrecht einen prinzipiellen Vorrang im Wirtschaftsleben beanspruchte.60 Klassisches Wirtschaftsverwaltungsrecht ist ausgeprägt in Form von Globalsteuerung, Einzelsteuerung und Aufsichtsmaßnahmen.61 Als Globalsteuerung gilt die Setzung des allgemeinen Rahmens, in dem sich die Wirtschaft bewegt, während die Einzelsteuerung konkrete Eingriffe in den wirtschaftlichen Geschehensablauf meint. Aufsichtsmaßnahmen sind gegeben, wenn die Verwaltung öffentliche Aufgaben durch andere Träger wahrnehmen lässt. Kennzeichnend für die Wirtschaftsverwaltung der vergangenen Jahrzehnte war der Erlass von Ge- und Verboten einer mit Hoheitsanspruch auftretenden Verwaltung gegenüber Unternehmen und Bürgern. Die entsprechenden Maßnahmen waren einerseits Ausdruck des Subordinationsprinzips, andererseits konnten sich die Adressaten gegen Anordnungen auf ihre liberalen Abwehrrechte berufen.62 Beispiel für diese Art von Wirtschaftsrecht ist das Gewerberecht mit seinen zahlreichen Vorschriften, die als Ge- und Verbote auf den Gewerbetreibenden wirken und gegen deren Durchsetzung durch die Behörden der Betroffene mit Rechtsbehelfen vorgehen kann.63 Der Ordnungscharakter des Wirtschaftsrechts wird durch die klare Verteilung von Entscheidungshoheiten betont.

58 Vgl. Schoch, NVwZ 2008, 241, 244; Gersdorf, JZ 2008, 831, 832 ff.; Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 174 ff.; Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 2008, Rn. 180. 59 Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 2008, Rn. 9 f. 60 Vgl. Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, 2008, Rn. 6. 61 Vgl. Kluth in: Schmidt-Aßmann/Dolde, Beiträge zum öffentlichen Wirtschaftsrecht, 2005, S. 11, 14; Fikentscher, Wirtschaftsrecht I, 1983, S. 2. 62 Vgl. Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 2008, Rn. 206. 63 Vgl. Dreier, NVwZ 1988, 1073 f.

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

Dieses Ordnungsmuster ist jedoch in den vergangen Jahren erheblich verändert worden. In der Praxis von Europäischer Union, Bund, Ländern und Gemeinden wird immer häufiger das Privatrecht für die Ordnung der Wirtschaft instrumentalisiert, das heißt: öffentliche Interessen werden nicht mehr mit Befugnissen des öffentlichen Rechts von der Verwaltung in den Wirtschaftsprozess eingebracht; es erfolgt keine hoheitlich-wirtschaftsverwaltungsrechtliche Ordnung der Materie mehr. Es wird vielmehr mit Hilfe von privatrechtlichen Instrumenten versucht, Einfluss auf das wirtschaftliche Geschehen auszuüben. Selbstverständlich hat es privatrechtliches Handeln des Staates im Wirtschaftsverkehr schon früher gegeben. Neu ist aber die Intensität, mit der eine Wende zum Privatrecht vollzogen wird. Das Privatrecht wird auf drei Arten zur Verwirklichung des öffentlichen Interesses in Dienst genommen: Deregulierung von Aufgaben und Privatisierung von Unternehmen; Flexibilisierung der verwaltungsbehördlichen Befugnisausübung; Publifizierung des Zivilrechts durch den Gesetzgeber. Bevor diese Mechanismen definiert werden können, ist ein Blick auf die aktuelle Anpassung der Staatsrechtslehre und der Verwaltungsrechtswissenschaften an neuere Entwicklungen zu werfen.

B. Der Gewährleistungsstaat Der kompensatorische Zugriff der wirtschaftsordnenden öffentlichen Hand auf das Privatrecht wurde in der staats- und verwaltungsrechtswissenschaftlichen Forschung vorbereitet und rezipiert. Staatsrechtlicher Ansatzpunkt ist die Lehre von den Aufgaben des Staates. Das neue wirtschaftsverwaltungsrechtliche Ordnungsmodell geht vom „Gewährleistungsstaat“ aus. Die Vertreter der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ gestalten dieses Modell konsequent aus.

I. Diskussion über die Aufgaben des Staates Unter Staatsrechtlern war in den vergangenen Jahren die sog. StaatsaufgabenDiskussion ein dominantes Thema. Welche Aufgaben sind dem Staat zugewiesen? Der Begriff der Staatsaufgabe ist zentral für die Diskussion der Wirtschaftsordnung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht, da sich an seiner Definition entscheidet, welchem Rechtsgebiet die Ordnung zugewiesen wird.64 Der Staat hat in einer modernen, auf dem Freiheitsprinzip basierenden Demokratie keine Allzuständigkeit für die Regelung des öffentlichen Lebens. 64

Zum Begriff der Staatsaufgabe siehe Lämmerzahl, Beteiligung Privater, 2007, S. 29 ff. m.w.N.

B. Der Gewährleistungsstaat

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Grundsätzlich ordnet sich die Gesellschaft selbst. Gesellschaft wird hier als Gegenbegriff zum Staat verstanden, ein Dualismus, der das deutsche Staatsrecht prägt. Die Gesellschaft ist dabei der Verband der Individuen in ihrer Freiheitsentfaltung. Der Staat hingegen ist die (letztlich auf Gewalt gegründete) politische Formung einer Herrschafts- oder Regelungsstruktur. Zwingende Folge ist, dass ein Staatswesen, das die Gesellschaft in ihrer Freiheit respektiert, den Kern der staatlichen Tätigkeit auf bestimmte Aufgaben beschränken muss. Die jüngere staatsrechtliche Forschung hat durchschlagend herausgearbeitet, dass nur bei Vorliegen einer notwendigen Staatsaufgabe der Staat auf Basis von Befugnisnormen tätig werden darf.65 Darin liegt eine grundsätzliche Limitierung der staatlichen Aktivitäten. Zudem muss bei Einzelmaßnahmen eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgen. Andernfalls wird in den dem Privaten zugewiesenen Bereich ohne Rechtfertigung eingegriffen. Die Betätigung des Staates unterliegt damit strengen Anforderungen.66 Am deutlichsten formuliert dies Wolfgang Weiß, der eine wirtschaftliche Betätigung des Staates nur dann akzeptieren will, wenn anders der Staatszweck, nämlich die Gewährleistung grundrechtlicher Freiheit, nicht zu erreichen ist.67 Martin Burgi sieht als notwendige Staatsaufgaben nur solche an, die aus der materiellen Verfassung abzuleiten sind und für die in der formellen Verfassung ein Anknüpfungspunkt besteht.68 Allerdings ist festzustellen, dass die öffentlich-rechtliche Forschung zu dieser Thematik im Ansatzpunkt häufig die Frage stellt, welche Aufgaben der Staat abgeben darf, anstatt richtigerweise zu fragen, welche Aufgaben der Staat überhaupt übernehmen durfte.69 Weiß, Burgi und andere haben die Staatsaufgaben-Diskussion mit besonderem Bezug zur Wirtschaft vorangetrieben und die Begrenzung staatlichen Eingreifens betont. Gleichwohl bleibt die Frage, welche Aufgaben der Staat übernehmen darf und welcher Prüfungsmaßstab dafür anzulegen ist, rechtspolitisch im Fluss.70 Häufig wird das Tätigwerden für eine öffentliche Aufgabe als ausreichender Rechtfertigungsgrund angesehen, ohne streng zwischen notwendiger Staatsaufgabe und öffentlicher Auf-

65

Vgl. Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, 2002, S. 223 ff., Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – DJT-Gutachten 2008, S. D18; zweifelnd: Herzog in: Isensee/Kirchhof, HStR IV, 2006, § 72 Rn. 32. 66 Kluth in: Schmidt-Aßmann/Dolde, Beiträge zum öffentlichen Wirtschaftsrecht, 2005, S. 11, 16; Badura, Staatsrecht, 2003, I 110; aus europarechtlicher Sicht umfassend Heinemann, Grenzen staatlicher Monopole im EG-Vertrag, 1996. 67 Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, 2002, S. 223 ff.; vgl. Burgi, Funktionale Privatisierung, 1999, S. 31 ff.; Richli, Aufgaben, 2009, S. 10. 68 Burgi, Funktionale Privatisierung, 1999, S. 31 ff. 69 So etwa Gramm, Privatisierung, 2001, S. 23. 70 Vgl. Badura, Staatsrecht, 2003, D33; Lämmerzahl, Beteiligung Privater, 2007, S. 126. Aus rechtsphilosophischer Perspektive vgl. Richli, Aufgaben, 2009, passim.

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

gabe zu differenzieren.71 Diese Vermengung muss aber mit der neueren Forschung als überwunden gelten. Umso dringender wird die Frage der Abgrenzung. Abweichend von dem strengen materiellen Ansatz von Weiß formuliert Oliver Lepsius einen institutionellen Maßstab: Lepsius folgert aus der vermeintlichen Offenheit des Grundgesetzes und der starken institutionellen Verflechtung staatlicher Stellen in wirtschaftlichen Angelegenheiten eine „institutionelle Konturierung des Verfassungsrechts“.72 Verfassungsrechtlich geboten sei nicht die materielle Kontrolle, da sich die komplexe Wirtschaftswelt ohnehin den Abwägungsprozessen des materiellen Verfassungsrechts entziehe und auch keine schützenswerten Minderheitenbelange vorlägen.73 Vielmehr müsse der Gesetzgeber eine starke Einschätzungsprärogative behalten und die richterliche Kontrolle staatlichen Eingreifens auf Kompetenz-, Verfahrens- und Organisationsfragen beschränkt bleiben. Diese Sichtweise, die einen erheblichen Ordnungsspielraum für staatliche Stellen in wirtschaftlichen Fragen eröffnet, trifft beim Bundesverfassungsgericht offenbar auf Zustimmung, jedenfalls im Ergebnis. Beispielhaft lässt sich eine Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2010 zitieren, die eine Regelung für Notrettungsdienste in Sachsen zum Gegenstand hatte.74 In diesem Fall lag dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, ob ein privater RettungsdienstAnbieter in Sachsen in den öffentlich-rechtlich organisierten Rettungsdienst des Freistaats zwangsweise eingegliedert werden darf. Damit verbunden war die Umstellung von einem dualen System für Rettungsdienste (private und öffentliche Anbieter im Wettbewerb) zu einem von der Verwaltung monopolisierten Einheitssystem (einheitliches Tätigwerden unter öffentlichem Dach). Trotz des offensichtlichen und schwerwiegenden Eingriffs in die unternehmerische Freiheit gab das Bundesverfassungsgericht der Beschwerde der privaten Unternehmen nicht statt und billigte dem Gesetzgeber zu, legitime Gemeinwohlziele verfolgt zu haben. An der Argumentation des Gerichts fällt insbesondere auf, wie weit es die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers zieht, und in welchem Maße die marktkonform-wettbewerbliche, also duale Organisation des Rettungswesens als problematisch angesehen wird. Es wäre, so das BVerfG, ein „Konkurrenzkampf unter den Leistungserbringern zu befürchten, der die Funktionsfähigkeit des Rettungsdienstes in empfindlicher Weise stören würde.“75 Die staatlich monopolisierte Neuordnung des Ret-

71

Vgl. Di Fabio, JZ 1999, 585, 586 ff.; Gramm, Privatisierung, 2001, S. 56. Lepsius in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 4 Rn. 105. 73 Lepsius in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 4 Rn. 85. 74 BVerfG, 8.6.2010, Az. 1 BvR 2011/07 und 1 BvR 2959/07, BVerfGE 126, 112 = NVwZ 2010, 1212. 75 BVerfG, ebd., Ziff. 96. 72

B. Der Gewährleistungsstaat

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tungswesens würde demgegenüber eine „effizientere Nutzung und Vernetzung der personellen und materiellen Ressourcen“76 sicherstellen. Zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der Planwirtschaft in der DDR aufgrund von Ineffizienzen überrascht diese marktkritische Argumentation. Das BVerfG verkennt hier das Primat der Grundrechte für den wirtschaftlichen Bereich und die Prägung durch das europäische Modell der Wirtschaftsordnung. Auch wenn formal dem Postulat Rechnung getragen wird, nur notwendige Aufgaben im Gemeinwesen dem Staat zuzuweisen, wird materiell doch eine erhebliche Freiheitseinschränkung vorgenommen. So wird durch die Offenheit der Abwägung die strikte Aufgabenteilung zwischen Staat und Gesellschaft entwertet. Der vielleicht bedeutsamste und eingriffsanfällige Bereich des gemeinsamen Zusammenlebens, der Bereich der Wirtschaft, wird hier systematisch einer verfassungsrechtlich gebotenen Prägung durch Private entzogen und dem Zugriff staatlicher Behörden ausgeliefert. Erklärbar ist diese wieder stärker wirtschaftslenkungsfreundliche Sicht durch das Zusammenspiel einer alten mit einer jungen Tradition: Die überkommene Darstellung der Wirtschaftsordnung des Grundgesetzes als neutral bildet das dogmatische Fundament für Konsequenzen, die aus einem neuen Glauben an gezielte Steuerungsmöglichkeiten gezogen werden. Statt die Komplexität des Wirtschaftsleben dem Entdeckungsverfahren durch private Marktteilnehmer zu überlassen, wird angenommen, der Staat könne mit zielgerichteten, planvollen Maßnahmen sachgerechte Einzelfall-Lösungen produzieren. Dieser Glaube speist sich aus der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung, die mit Hilfe ökonometrischer Modelle scheinbar eindeutige Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge darzustellen vermag. Während dies zu einer institutionellen Aufwertung von Behörden und Gesetzgebung führt, wird die gerichtliche Kontrolle gegenüber diesem Vorgehen mit Hilfe des Topos „Einschätzungsprärogative“ eingeschränkt.77 Diese neuartige Regelungsintensität begegnet nicht nur wirtschaftswissenschaftlich erheblichen Bedenken. Sie bedeutet auch eine Abkehr vom normativen Verständnis einer freien Wirtschaftsordnung und steht insofern in Widerspruch zu den neueren Erkenntnissen derjenigen staatsrechtswissenschaftlichen Forschung, die Staatsaufgaben nur in Ausnahmefällen annimmt.

II. Gewährleistungsverantwortung Als neuer Schlüsselbegriff des Wirtschaftsverwaltungsrechts hat sich der Begriff „Gewährleistungsverantwortung“ etabliert.

76

BVerfG, ebd., Ziff. 98. Kritisch auch Kluth in: Schmidt-Aßmann/Dolde, Beiträge zum öffentlichen Wirtschaftsrecht, 2005, S. 11, 38. 77

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

1. Begriff und praktische Anwendung Die Überprüfung des staatlichen Aufgabenbestands hat in vielen Bereichen zu Privatisierungen und Deregulierungen geführt, mit denen eine Wende zum Privatrecht konsequent vollzogen wurde. Die Staatsrechtslehre hat aus der dogmatischen Verschiebung und dem faktischen Abbau von Staatsaufgaben Konsequenzen ziehen müssen. Insbesondere stellt sich für sie die Frage, wie öffentliche Interessen gesichert werden können, wenn die Bindung an die Vorgaben des öffentlichen Rechts durch die privatrechtliche Organisation der Wirtschaft gelockert wird. Hierzu wurde ein neues Modell der staatlichen (Wirtschafts-)Ordnung entwickelt, das dem Staat eine „Gewährleistungsverantwortung“ zuschreibt. Der „Gewährleistungsstaat“ ist abzugrenzen vom „Erfüllungsstaat“. Letzterer erbringt die Leistungen, die im öffentlichen Interesse stehen, selbst und steuert unmittelbar durch die komplette Kontrolle des Prozesses und Ergebnisses öffentlicher Aufgabenwahrnehmung. Er trägt eine Erfüllungs- oder Leistungsverantwortung. Im Gewährleistungsstaat hingegen überträgt der Staat weite Teile der Aufgabenwahrnehmung Privaten und sichert lediglich das Ergebnis ab, „gewährleistet“ also, dass die Leistungserbringung durch Private nicht zu einer Verletzung öffentlicher Interessen führt.78 An die Stelle kompletter staatlicher Erfüllung, die faktisch nicht mehr erreicht wird (Steuerungsverlust), tritt nicht die private Freiheit, sondern eine regulierte Freiheit, deren Ergebnis durch den Staat, den „Ordnungsgarant“79 kontrolliert wird. Die Kontrolle geht allerdings über die bloße Ergebnissicherung hinaus: „Gefordert ist“, so schreibt Friedrich Schoch, „ein das jeweilige Sachgebiet übergreifender staatlicher Zugriff“.80 Der Begriff der Gewährleistungsverantwortung des Staates hat sich insbesondere in regulierten Wirtschaftssektoren herausgebildet, in denen den Unternehmen eine begrenzte wirtschaftliche Entfaltungsfreiheit zugestanden wird, die unter der Aufsicht und unter Beachtung der Vorgaben einer Regulierungsbehörde ausgeübt werden muss. Alternativ wird in der Staatsrechtslehre (jeweils mit unterschiedlichen Akzentuierungen) auch von Rahmen-, Regulierungs-, Kontroll- oder Auffangverantwortung des Staates gesprochen.81

78 Vgl. Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – DJT-Gutachten 2008, S. D94 ff.; Burgi in: Isensee/Kirchhof, HStR IV, 2006, § 75 Rn. 28 ff.; Berringer, Regulierung, 2004, S. 65 ff.; Badura, Staatsrecht, 2003, D33; Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, 2002, S. 33; Gersdorf, JZ 2008, 831, 834; Schoch, NVwZ 2008, 241; Ruffert in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 7 Rn. 34 ff.; Schuppert in: König/Benz, Privatisierung und staatliche Regulierung, 1997, S. 539 ff. 79 Schorkopf, JZ 2008, 20, 25. 80 Schoch, NVwZ 2008, 241, 245. 81 Vgl. Berringer, Regulierung, 2004, S. 65 ff.; Schoch, NVwZ 2008, 241, 244; Schuppert in: König/Benz, Privatisierung und staatliche Regulierung, 1997, S. 539, 569.

B. Der Gewährleistungsstaat

33

Als materielle Inhalte der Gewährleistungsverantwortung benennt Burgi in einem Gutachten für den Deutschen Juristentag folgende Aspekte:82 Der Staat hat das im öffentlichen Interesse liegende Ziel zu schützen; die Aufgabenbetroffenen sind zu schützen, insbesondere durch Kontrolle der Einhaltung bestimmter Standards durch die die Aufgabe Ausführenden; die Verfahren zur Vergabe, Leitung und Kontrolle sind neutral und objektiv auszugestalten, insbesondere wenn die Verwaltung anschließend nicht mehr in der Lage ist, jedes Detail der Aufgabenausführung zu prüfen. Zudem hält Burgi Transparenz und die Sicherung des Wettbewerbs für wesentliche Aspekte staatlicher Gewährleistungsverantwortung. Dabei muss der Staat respektieren, dass private Leistungserbringer, also Unternehmen, gewinnorientiert arbeiten und den Marktgesetzen in anderer Weise ausgesetzt sind als die öffentliche Verwaltung.83

2. Beispiel: Postsektor Am Beispiel des Postsektors lässt sich das Modell des Gewährleistungsstaats illustrieren. Das Postwesen, also die Beförderung von Brief- und Paketsendungen, war über Jahrhunderte hinweg privat organisiert. Post- und Kurierdienste wurden seit dem 15. Jahrhundert in weiten Teilen Deutschlands von den Fürsten Thurn und Taxis betrieben, bis 1867 der preußische Staat das Postwesen an sich zog und staatlich monopolisierte. Mehr als ein Jahrhundert danach wurde das Postwesen wieder aus dem staatlichen Hoheitsbereich entlassen. Hintergrund der Monopolisierung war das gewandelte Aufgabenverständnis des Staates: Die Nachrichtenübermittlung wurde als wesentliche staatliche Aufgabe angesehen, die von diesem in eigener Leistung zu erbringen sei. Die Überprüfung der Notwendigkeit dieser Aufgabe führte zu schrittweisen Liberalisierungen. Als Aufgabe des Staates wurde sodann bis in die neunziger Jahre hin angesehen, eine im gesamten deutschen Bundesgebiet ähnliche Postversorgung anzubieten. Dies wurde so interpretiert, dass der Staat die Postverteilung von einem Werktag auf den anderen in allen, auch entlegenen Regionen, selbst übernimmt. Heute wird als notwendig nur noch angesehen, dass in allen Orten Deutschlands die Zustellung von Standardbriefen von einem auf den anderen Tag funktioniert. Statt diese Leistung selbst anzubieten und somit die Aufgabe zu erfüllen, hat der Gewährleistungsstaat eine neue Lösung gefunden: Der Staat hat erstens weitgehend das Staatseigentum am früheren Monopolunternehmen aufgegeben und die Bundespost privatisiert. Am für die Postzustellung zuständigen Nachfolgeunternehmen Deutsche Post AG hält die staatseigene Kreditanstalt für Wiederaufbau noch 30,5 Prozent der Anteile. Zweitens gibt es keine exklusive Lizenz mehr für die Deutsche 82 83

Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – DJT-Gutachten, 2008, S. D94 ff. Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 2008, Rn. 183.

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

Post AG, Standardbriefe zuzustellen. Dies kann nunmehr jedes im Postwesen tätige Unternehmen mit Lizenz der Bundesnetzagentur erledigen. Drittens wird die flächendeckende Universaldienstleistung, also die Zustellung über Nacht auch in entlegenen Orten, heute nicht mehr gesetzlich vorgeschrieben. Vielmehr setzt der Staat einen Anreiz durch eine Umsatzsteuerprivilegierung, die seit Juli 2010 jedem Unternehmen gewährt wird, das seine Dienste flächendeckend anbietet (bis 30. Juni 2010 hatte das Umsatzsteuerprivileg ausschließlich für die Deutsche Post AG gegolten, die Regelung wurde jedoch auf Druck der Europäischen Kommission geändert).84 Der staatliche Eingriff erschöpft sich also in einer betriebswirtschaftlichen Anreizsetzung, durch welche die Erfüllung der als notwendig erkannten Staatsaufgabe gewährleistet werden soll. Über die Bundesnetzagentur, die den Postsektor reguliert, behält sich der Staat weitergehende Eingriffe vor, falls die Staatsaufgabe nicht erfüllt wird. Hier hat also ein ganz erheblicher Wandel der staatlichen Ordnung des Postwesens stattgefunden, die nun durch die Gewährleistungsverantwortung charakterisiert wird: Der Staat erledigt die Aufgabe nicht selbst, gewährleistet aber eine gemeinwohlverträgliche Erledigung durch Dritte. Dazu setzt der Staat Anreize, macht Vorgaben und führt die Aufsicht, kurz: er reguliert.85 Schoch erkennt darin die Überwindung der Dichotomie von hoheitlich agierendem Staat und Markt.86

3. Kritik Das Konzept der Gewährleistungsverantwortung stößt auf Kritik von verschiedenen Seiten. Zum Teil wird behauptet, dass der Staat zu weitgehend Aufgaben abgebe, sodass die Erreichung öffentlicher Ziele nicht mehr gesichert sei.87 Als Beispiel wird häufig die misslungene Privatisierung des Eisenbahnsektors in Großbritannien herangezogen. Die schlechten Erfahrungen dort mit privat betriebenem Zugverkehr sollen belegen, dass sich der Staat aus bestimmten Wirtschaftsbereichen nicht zurückziehen kann. Diese Kritik, die häufig ein grundsätzliches Unbehagen gegen Privatisierungsmaßnahmen zum Ausdruck bringt, ist im politischen Diskurs weit verbreitet.88 Ver84

Vgl. EU-Dokumente; siehe auch den Versuch, das Umsatzsteuerprivileg über UWG zu kippen, LG Hamburg, 16.9.2010, Az. 327 O 507/10, GRUR-Prax 2010, 494 m. Anm. Podszun. 85 Vgl. Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, 2002, S. 291 ff.; Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 2008, Rn. 183; Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 474 ff. 86 Schoch, NVwZ 2008, 241, 242. 87 Selbst Schoch, NVwZ 2008, 241, 247, hält Auffanglösungen des Staates für nachbesserungsbedürftig. 88 Vgl. etwa Edition Le Monde diplomatique, No. 6/2009, die eine gesamte Ausgabe der Privatisierung unter dem Titel: „Ausverkauft. Wie das Gemeinwohl zur Privatsache wird“ widmet; Zeit-Magazin, 14.1.2010, S. 8: „Stadtliche Geschäfte“ (Stolz); Süddeutsche Zeitung, 19.1.2012, S. 4: „Die Karlsruhe-GmbH“ (Prantl): „Ein Staat darf aber seine Aufgaben nicht einfach abwerfen wie der Baum seine Blätter im Herbst“; Süddeutsche Zeitung, 15./16.1.2011, S. 23:

B. Der Gewährleistungsstaat

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bunden damit sind Bedenken, dass rechtsstaatliche Gefahren entstehen, da die grundrechtlichen Bindungen des Staates für Private nicht im gleichen Maß gelten. Udo Di Fabio, der dem Markt-Denken offen gegenübersteht, sieht Schwachstellen bei der rechtsstaatlichen Prägung der Maßnahmen. Er fordert bei Privatisierungsmaßnahmen mit Gewährleistungsvorbehalt, dass der Staat die tatsächliche Sachherrschaft über den Geschehensablauf behält, um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Eingriffsverwaltung zu sichern.89 Ein anderer Strang der Kritik knüpft an materiellen Ordnungsvorstellungen an, die mit einem aktiveren, wenngleich „privateren“ Staat verknüpft sind. So meint Frank Schorkopf, die Gewährleistung beziehe sich in erster Linie auf eine Ergebnissicherung, nicht auf die Gewährleistung eines Prozesses mit offenem Ausgang. Diese Ergebnisorientierung weise dem Staat aber eine Garantenstellung für eine bestimmte „Glückseligkeitsvorstellung“ zu, Schorkopf verweist hier auf den Begriff der eudaimonía.90 Dieser Anspruch des Staates sei überzogen. Die Gesellschaft müsse selbst ihre Ergebnisse frei hervorbringen können und auch abweichende „Glückseligkeitsvorstellungen“ akzeptieren. Der Wettbewerb innerhalb der Gesellschaft um die beste Lösung würde sonst verfälscht.91 Auch andere öffentlich-rechtlich geprägte Autoren warnen davor, die Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft zu verwischen: Der mit hoheitlichen Befugnissen ausgestattete Staat könne immer eine Vorrangstellung beanspruchen und bedrohe mit seinen Möglichkeiten die individuelle Freiheitsausübung.92 Mit dieser Kritik wird zutreffend erkannt, dass Unternehmen üblicherweise keinen Ordnungsanspruch mit ihren Aktivitäten verfolgen. Unternehmen verfolgen ihre eigenen Ziele. Dies tun sie im Rahmen von Gesetzen, die den Handlungsrahmen in negativer Abgrenzung abstecken, also bestimmte Verhaltensweisen verbieten. Im „Gewährleistungsstaat“ ändert sich diese Rolle der Unternehmen. Ihnen wird die Erfüllung einer eigentlich öffentlichen Aufgabe im Rahmen ihrer privaten Tätigkeit aufgebürdet. Neben Verbotsnormen treten positive Erwartungen des Gesetzgebers. In dieser In-Dienst-Nahme des Privaten liegt der wesentliche Paradigmenwechsel des Wandels vom Erfüllungs- zum Gewähr89 „Irrtum Börse“ (Büschemann): „Nach anderthalb Jahrzehnten ambitionierter Planung stößt das Denken, wonach möglichst viele Bereiche des öffentlichen Lebens dem Staat wegzunehmen und zu privatisieren seien, an eine Grenze.“. 89 Di Fabio, JZ 1999, 585, 592. Vgl. auch Schorkopf, JZ 2008, 20, 21 ff. 90 Schorkopf, JZ 2008, 20, 26 f. Vgl. Shapiro zur einseitigen Ausrichtung auf wissenschaftliche Erkenntnisse, die die Ergebnissicherung leiten: Shapiro in: Landy/Levin/Shapiro, Creating Competitive Markets, 2007, S. 320. 91 Schorkopf, JZ 2008, 20. 92 Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 525 ff.; Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, 2002, S. 13 ff.

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

leistungsstaat. Schon an dieser Stelle lässt sich erahnen, dass eine solche Verquickung von öffentlichen Interessen und privater Durchsetzung zu Friktionen führen muss.

III. Neue Verwaltungsrechtswissenschaft So wie die Staatsrechtslehre die Lehre von den Staatsaufgaben radikal hinterfragt hat, hat auch die Verwaltungsrechtslehre die Herausforderungen erkannt, mit denen Verwaltungsbehörden heute zu kämpfen haben. Die Verwaltungsbehörden sind von der klassischen Befugnisausübung abgerückt, bei welcher der Rechtsunterworfene in einem hierarchischen Unterordnungsverhältnis der Exekutive gegenüber gesehen wurde. Plakativ wird der „Servicecharakter“ öffentlicher Stellen in den Vordergrund gerückt. Dazu wurde das Handlungsinstrumentarium der Behörden ausdifferenziert.93 Die Behörden bemühen sich um eine Kooperation mit den Marktteilnehmern und um eine frühzeitige Steuerung von Abläufen,94 statt mit einseitig befehlenden Maßnahmen, harten Sanktionen oder einer überraschenden ex-post-Kontrolle einzugreifen. Immer häufiger bedient sich die Verwaltung dabei der Mittel des Privatrechts, etwa indem Verträge geschlossen werden statt Verwaltungsakte zu erlassen, oder indem Haftungs- und Versicherungsmodelle für Vorhaben eingeführt werden.95 Hinzu treten informelle Instrumente, etwa die Sondierung im Vorfeld von Entscheidungen oder die Öffentlichkeitsarbeit. Zunächst im Umweltrecht entwickelt, einem Feld, in dem Legislative und Exekutive harte Entscheidungen scheuten, wird nun in der Wirtschaftsverwaltung das neue Spektrum an behördlichen Aktivitäten eingesetzt, vielfach bezeichnet als „regulatory mix“. Neben die neuen Instrumente tritt ein neuer Maßstab für den Ablauf von Verwaltungsverfahren, deren erstes Ziel, den Auftrag des Grundgesetzes im Rahmen der gesetzlichen Bindungen zu verwirklichen, nicht mehr unangefochten ist. Geachtet wird nun auch auf die Effizienz des Vorgehens und der Zielerreichung, dazu wird der Fortschritt behördlicher „Projekte“ mit Evaluationen und Benchmarking gemessen. Beispielhaft für den modernen Anspruch der Verwaltung lässt sich die Verwaltungskonzeption der Bundesregierung (2011) zitieren. Ganz in der Diktion einer neuen Vorstellung von innovativer Verwaltung heißt es:

93 Gramm, Privatisierung, 2001, S. 99 ff.; vgl. Kluth in: Schmidt-Aßmann/Dolde, Beiträge zum öffentlichen Wirtschaftsrecht, 2005, S. 11, 18; Berringer, Regulierung, 2004, S. 65 ff. 94 Vgl. Schuppert in: König/Benz, Privatisierung und staatliche Regulierung, 1997, S. 539, 575. 95 Vgl. Schuppert in: König/Benz, Privatisierung und staatliche Regulierung, 1997, S. 539, 571.

B. Der Gewährleistungsstaat

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„Staatliche Aufgaben sollen serviceorientiert und in hoher Qualität erfüllt werden. In dieser Legislaturperiode werden Staat und Verwaltung ebenso daran gemessen, wie Effizienz, Effektivität und damit die Stabilisierung/Entspannung der Haushaltslage gelingen. (…) Die Verwaltung benötigt passgenaue Steuerungsmodelle für verschiedene Prozess- und Aufgabentypen in den Behörden. Ziele und Ressourcen müssen entsprechend ihrer Steuerungsrelevanz transparent gemacht werden. Auf allen Verwaltungsebenen strebt die Bundesregierung eine ziel- und ergebnisorientierte Steuerung an.“96

In der Wissenschaft wird dieses neue verwaltungsrechtliche Vorgehen durch die sog. Neue Verwaltungsrechtswissenschaft abgesichert,97 unter deren Dach sich zahlreiche neuere verwaltungsrechtliche Reformansätze zusammenfassen lassen, von „New Public Management“ über „Aktivierender Staat“ bis „Governance“. Als Wegbereiter der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft kann eine Gruppe von Rechtslehrern um Wolfgang Hoffmann-Riem, Eberhard Schmidt-Aßmann und Andreas Voßkuhle angesehen werden.98 Voßkuhle erläutert, dass es darum geht, die „Dominanz der überkommenen juristischen Methode“ zurückzudrängen, und die juristische Methode im Verwaltungshandeln „um verschiedene zentrale Reflexionsebenen“ zu ergänzen.99 Damit ist gemeint, von einer streng rechtlichen und gerichtlichen Perspektive des Verwaltungsrechts zu einer zielorientierteren Sicht zu kommen: „[Die Verwaltungsrechtswissenschaft] hat immer auch danach zu fragen, wie erwünschte Wirkungen erreicht und unerwünschte vermieden werden. Gesetzesbindung im Sinne von Subsumtionsrichtigkeit bleibt ein zentraler Maßstab; dieser ist aber angesichts der Einschätzungs- und Gestaltungsoffenheit vieler Rechtsvorschriften zu ergänzen durch Zielwerte wie Effizienz, Akzeptabilität, Kooperationsbereitschaft, Flexibilität oder Implementierbarkeit.“100

Dieses Zitat belegt, dass es der Verwaltungsrechtslehre um eine Ausdifferenzierung des Handlungsinstrumentariums der Behörden und neue inhaltliche Maßstäbe geht. Der Formen- und Instrumentenmix101 stellt eine Lösung von „überkommenen“ Typisierungen öffentlichen Handelns dar. Die klassische Funktion der Verwaltungsrechtslehre, Formen des Verwaltungshandelns zu bestimmen, um dieses damit auch einzuhegen, wird überwunden.102 Auf Kooperation oder Flexibilität – Werte, die in die Richtung des Privatrechts deuten

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www.verwaltungs-innovativ.de [abgerufen am 8.2.2011]. Grundlegend: Voßkuhle in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Assmann/Voßkuhle, Verwaltungsrecht, 2008, § 1. 98 Sie geben gemeinsam die drei Bände „Grundlagen des Verwaltungsrechts“ heraus. 99 Rn. 71. Vgl. Ruffert in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 7 Rn. 34 ff. 100 Vorwort, S. VII. 101 Ausführlich Michael in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Assmann/Voßkuhle, Verwaltungsrecht, 2008, § 41. 102 Vgl. Hoffmann-Riem in: Hoffmann/Riem/Schmidt-Assmann/Voßkuhle, Verwaltungsrecht, 2008, § 33 Rn. 85 ff. 97

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

– wird besonders abgestellt.103 Das Privatrecht wird, soweit hilfreich, in den Dienst des öffentlichen Rechts gestellt, woraus Hoffmann-Riem folgert, dass „die vielen im Privatrecht entwickelten Rechts-, Handlungs- und Bewirkungsformen (…) mittel- und langfristig auch in systematische Darstellungen des Verwaltungsrechts integriert werden müssen.“104 Das Privatrecht wird nach dieser Auffassung Teil des öffentlich-rechtlichen Handlungskanons. Parallel findet eine inhaltliche Weichenstellung statt: Es werden Zielwerte formuliert, die über den rechtlich vorgegebenen Telos (die Verwirklichung der verfassungsmäßigen Ordnung oder des spezifischen Gesetzeszwecks) hinausgehen. Effizienz und andere Ziele erhalten einen Eigenwert zugeschrieben. Die ökonomische Akzentuierung des Verwaltungshandelns kann nach dieser Auffassung gelegentlich wohl auch zu einer Modifikation oder Einschränkung bisher für selbstverständlich gehaltener rechtlicher Garantien führen. Im Verwaltungsrecht steht nunmehr, wie es Burgi formuliert, die „Effektuierung staatlichen Gestaltungswillens“ neben der „klassischen Funktion der Disziplinierung staatlicher Gewalt“.105 Dass staatliches Eingreifen in die wirtschaftliche Ordnung ein Ausnahmefall ist, und dass es für das Recht um die Begrenzung solcher Eingriffe geht, ist nach der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft nicht mehr der springende Punkt. Damit wird zwar einerseits der konfrontative Charakter früherer Autoritätsausübung abgemildert, aber gleichzeitig die Möglichkeit eingeschränkt, auf liberalen Abwehrrechten zu bestehen. Besonders deutlich sind in dieser Hinsicht Beispiele, in denen Behörden Unternehmen oder Bürger zum Abschluss von Vereinbarungen (auch „Deals“) drängen. Dieser moderne Ansatz der Wirtschaftsverwaltung ist die paradox wirkende Konsequenz des gewandelten Verständnisses von den Staatsaufgaben: Einerseits wird staatliches Eingreifen staatsaufgabenrechtlich limitiert, andererseits aber verwaltungsrechtlich effektuiert und damit intensiviert. Die wissenschaftliche Fundierung dieses Vorgehens findet sich im Begriff der Gewährleistungsverantwortung, der von der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft geprägt wird. Das klassische Modell des Wirtschaftsverwaltungsrechts ist aus dieser Warte überholt, und seitens der Vertreter des öffentlichen Rechts wird ein Schulterschluss mit dem Privatrecht gesucht. Dadurch wird nicht nur das öffentliche Recht modernisiert; es kann auch zu Rückwirkungen auf die privatrechtliche Dogmatik kommen. 103 Hill deutet an, dass sich dieses privatrechtliche Element als konsequente Fortentwicklung des Rechtsverhältnisses zwischen Staat und Bürger darstellt, das durch den Leistungsstaat entstanden ist, vgl. Hill, NJW 1986, 2602 ff. Diesen Gedanken aufnehmend wäre zu folgern, dass der Bürger heute nicht mehr Empfänger staatlicher Leistungen ist, sondern diese quasi selbst organisieren muss, während der Staat nur noch eine Gewährleistungsfunktion hat. 104 Hoffmann-Riem in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Assmann/Voßkuhle, Verwaltungsrecht, § 33 Rn. 70. 105 Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – DJT-Gutachten, 2008, S. D12.

C. Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung

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C. Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung Verschiebungen wirtschaftlicher Kompetenzen zwischen Staat und Bürgern sind geschichtlich in Wellenbewegungen erkennbar:106 Den Start der modernen Deregulierung machten die Umbrüche um 1800, als die Marktwirtschaft sich gegen das überkommene und stark reglementierte Zunft- und Privilegienwesen durchsetzte.107 Es kam zur verstärkten Einbindung freier Privater in die Wirtschaftsordnung. Doch die Blüte freien Unternehmertums in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde gebremst durch eine vorsichtigere, gemeinwohlorientiertere Wirtschaftsordnung, was sich etwa an der Verstaatlichung der bis dahin großteils privaten Eisenbahnen nach der Reichsgründung ablesen lässt.108 Auch die stark staatliche Prägung der Kriegswirtschaft in der Weimarer Republik und in der NS-Zeit bedeutete eine Einschränkung, die im Zuge der deutschen Geschichte sodann wieder relativiert wurde durch Wellen von Privatisierungen. Vor allem seit den 1990er Jahren wurden zahlreiche traditionelle Tätigkeitsfelder der Verwaltung für Private geöffnet. Damit folgte die Praxis der theoretischen „Aufgabenkritik“109, der Diskussion um Staatsaufgaben. Mit der Aufgabenübertragung auf Private ging häufig die Übertragung von Staatsvermögen einher, also der Verkauf von Beteiligungen der öffentlichen Hand an Unternehmen. Die wichtigsten Privatisierungsmaßnahmen betrafen den Energiesektor sowie die Bundespost, die in mehrere private Unternehmen, u.a. die Deutsche Post AG und die Deutsche Telekom AG, aufgespalten wurde. Mit diesen Privatisierungsmaßnahmen wurden ganze Branchen aus dem Zugriff des öffentlichen Rechts in die Freiheit des Privatrechts entlassen. Aber nicht nur die soeben genannten Bereiche, die in dieser Schrift genauer beleuchtet werden, wurden von dieser Entwicklung erfasst. Der öffentliche Personennahverkehr110, die Wasserversorgung111, die Abfallentsorgung112, der Schienenverkehr113, der Strafvollzug114, der Kulturbetrieb – in kaum einem Tätigkeitsfeld hat der Staat in den vergangenen Jahren seine Position gehalten, vielmehr kam es in fast allen staatlich gesteuerten Branchen zur Beteiligung Privater. Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung wurden zu „Megatrends“115, die bis zum Beginn der Finanzkrise ab 2007 andauerten. 106

Vgl. Steindl in: FS Coing, 1982, S. 365 ff.; Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 61 ff. Vgl. Steindl in: FS Coing, 1982, S. 365 ff. 108 Vgl. Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 61 ff. 109 Dazu Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 2008, Rn. 162. 110 Dazu Christmann, Liberalisierung von Monopolmärkten, 2004, S. 171 ff. 111 Dazu Christmann, Liberalisierung von Monopolmärkten, 2004, S. 263 ff. 112 Dazu Christmann, Liberalisierung von Monopolmärkten, 2004, S. 87 ff. 113 Dazu Soldner, Liberalisierung des Eisenbahnwesens, 2008. 114 Dazu Bonk, JZ 2000, 435. 115 Schuppert in: König/Benz, Privatisierung und staatliche Regulierung, 1997, S. 539, 540 ff.; vgl. Schoch, NVwZ 2008, 241, 242. 107

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

I. Definitionen Wenige Fachtermini aus dem wirtschaftsorganisatorischen Diskurs sind ähnlich stark aufgeladen wie die Begriffe „Privatisierung“, „Liberalisierung“ und „Deregulierung“. Sind schon diese Termini Projektionsflächen negativer wie positiver Konnotationen, so gilt dies erst recht für die konkreten Maßnahmen, die damit erfasst werden. Die Wende zum Privatrecht, die durch Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung vollzogen wird, findet keineswegs uneingeschränkte Zustimmung in der Bevölkerung, sie ist vielmehr immer wieder Gegenstand heftiger Kontroversen auf allen politischen Ebenen. Zur Analyse des Paradigmenwechsels in der Wirtschaftsordnung wird der Begriff der „Deregulierung“ als einheitlicher Oberbegriff verwendet. Dieses Vorgehen hat seine Tücken: Rolf Stober sah den Begriff „Deregulierung“ schon im Jahr 1990 verkommen zum „Sammelbegriff für Liberalisierung, Privatisierung, Subsidiarität, Entstaatlichung, Aufgabenkritik, Dezentralisierung, Eigenverantwortung, Subventionsabbau, Rechts- und Verwaltungsvereinfachung oder, um eine ausländische Version zu nennen, ‚Thatcherismus‘ und ‚Reagonomics‘.“116 Diese überspitzte Darstellung mit ihrer Bezugnahme auf die von der Chicago-School inspirierten Wirtschaftspolitiken in Großbritannien und den USA in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts weist zum einen auf die Konturlosigkeit des Begriffs, zum anderen aber auch auf die politische Dimension des Themas hin. Hier stehen sich zwei Grundauffassungen diametral gegenüber: Während für die einen Privatisierung und Deregulierung wesentliche Bedingungen wirtschaftlichen Aufschwungs sind, werten andere diese kritisch als „Ausverkauf des Staates“.

1. Deregulierung In der Praxis sind die Phänomene, die als Deregulierung, oder – terminologisch zum Teil sich überlappend – als Privatisierung oder Liberalisierung bezeichnet werden, vieldeutig und in zahlreichen abweichenden Typologien erfasst worden:117 Die Öffnung des Telekommunikationssektors für Wettbewerb, die Abschaffung des Meisterzwangs für Parkettleger, die Abschaffung von Einfuhrzöllen für Waren aus anderen Staaten, die Abgabe von Serviceleistungen im Strafvollzug an private Unternehmen oder die Zertifizierung von Kreisveterinärämtern nach ISO 9000 sind allesamt Beispiele für „Deregulierung“. Angesichts der Vielfalt drängt sich die Frage auf, ob es überhaupt einen einheitlichen Begriffskern für Deregulierung gibt. Dies ist zu bejahen. In allen genannten Fällen zieht sich der Staat aus der Wirtschaftssteuerung zurück und eröffnet Freiräume für privates, unternehmerisches Handeln. Dies zeigt sich 116 117

Stober in: Stober, Deregulierung, 1990, S. 1. Vgl. die Übersicht bei Stober, NJW 2008, 2301, 2302 f.

C. Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung

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in den Legaldefinitionen, die sich insbesondere in Landesgesetzen finden. So trägt § 3 Verwaltungsmodernisierungsgrundsätzegesetz Sachsen-Anhalt die amtliche Überschrift „Deregulierung“. In der Norm heißt es: „(1) Die nach der Aufgabenkritik verbleibenden öffentlichen Aufgaben einschließlich der Fördermittelbewirtschaftung sind einer Rechts- und Verfahrensvereinfachung mit dem Ziel der Begrenzung auf unverzichtbare Regelungen zu unterziehen. (2) Aufsichtsrechtliche, organisatorische und haushaltsrechtliche Regelungen sowie Mitzeichnungs- und Berichtspflichten sind auf das unbedingt erforderliche Maß zu reduzieren.“

Nach dieser Definition sind Elemente der Deregulierung die Rechts- und Verfahrensvereinfachung sowie die Begrenzung öffentlicher Regelungen auf das unverzichtbare, erforderliche Maß. Ähnliche Eckpunkte einer Definition finden sich in § 5 Abs. 5 S. 2 Landesorganisationsgesetz Brandenburg unter dem Titel „Aufgabenkritik, Deregulierung“: „Bestehende Normen und Standards sind auf ihre Erforderlichkeit zu überprüfen und, soweit möglich, abzubauen, zu vereinfachen oder anzupassen.“

Mit solchen Gesetzen bringen die Landesgesetzgeber zum Ausdruck, dass sie einerseits den Bestand des öffentlichen Eingriffsrechts begrenzen wollen, sei es durch die Reduzierung von Rechtsnormen, von öffentlichem Eigentum oder von Verwaltungsvorschriften, und andererseits eine auf privater Initiative basierende Wettbewerbswirtschaft118 stärken wollen. Hier zeigt sich Deregulierung als Gegenbegriff zur Regulierung: Als Regulierung wird eine Regelsetzung, also Rechtsetzung, im wirtschaftlichen Bereich angesehen.119 Deregulierung bedeutet demnach die Aufhebung von Regeln, und im hier interessierenden Zusammenhang die Aufhebung öffentlich-rechtlicher Vorschriften, die dazu führt, dass Wirtschaftszweige aus dem Zugriff des öffentlichen Rechts in den Bereich des Privatrechts überführt werden.120 Der Begriff entstammt der Ordnungspolitik und kann einen Prozess, eine Entwicklung oder eine konkrete Maßnahme kennzeichnen. Doch die Beschränkung der Definition allein auf die Antagonismen Regelsetzung und Regelbeseitigung greift noch zu kurz. Jörn Axel Kämmerer, der sich grundlegend aus öffentlich-rechtlicher Perspektive mit dem Phänomen der Privatisierung im Sinne einer Aufgabenprivatisierung befasst hat, sieht in der Deregulierung in erster Linie eine „Beschränkung staatlicher Einflussnahme“.121 Deregulierung betont die individuellen Handlungsmöglichkeiten 118 Zum Begriff der Wettbewerbswirtschaft vgl. Dichtl/Issing, Vahlens Wirtschaftslexikon, 1993; Helm, Rechtspflicht zur Privatisierung, 1999, S. 33 f.; Wulfhorst, ZRP 2004, 81, 82 f. 119 Vgl. Köbler, Juristisches Wörterbuch, 2005, Stichwort „Deregulierung“. 120 Vgl. Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 590. 121 Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 55; ebenso Böhmann, Privatisierungsdruck des Europarechts, 2001, S. 37; Di Fabio, JZ 1999, 585, 588 f.

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

unternehmerisch tätiger Personen. Ihre Handlungsrechte werden zu Lasten staatlicher Interventionsmöglichkeiten ausgedehnt. Im wirtschaftlichen Kontext bedeutet eine Verschiebung zugunsten des Privaten immer auch eine Stärkung des Marktes. Josef Drexl definiert Deregulierung folglich als Abschaffung wettbewerbswidriger Eingriffe des Gesetzgebers ins Marktgeschehen.122 Im Zentrum des Marktgeschehens und seines Ordnungsprinzips Wettbewerb wiederum steht als zentrales Element die individuelle Entscheidung des Marktteilnehmers. Wesentliches Element von Deregulierungsmaßnahmen ist folglich, diesen Handlungsspielraum zu erweitern. Damit ist erstens für die Definition gewonnen, dass es sich um einen wirtschaftlichen Begriff handelt. Zweitens ist allen Definitionsansätzen zur Deregulierung gemein, dass es um die Abschaffung öffentlich-rechtlicher Regeln zugunsten des Eintretens Privater in die entstehenden Freiräume geht. Dementsprechend verortet Kämmerer die entsprechenden Maßnahmen als solche zur „Differenzierung von Staat und Gesellschaft“.123 Dies führt zum Kern einer juristischen Definition der Deregulierung: Deregulierung meint die Überführung von Sachmaterien aus dem Zugriffsbereich des öffentlichen Rechts in ein privatrechtliches Regime. An die Stelle von öffentlich-rechtlichen Normen treten die allgemeinen zivil- und wirtschaftsrechtlichen Regeln. Da es in der modernen Wirtschaftsordnung keine als rechtsfrei definierten Räume gibt, kann also die Deregulierung nicht einseitig mit einer Abschaffung von Regeln oder einem Rückzug des Staates gleichgesetzt werden. Vielmehr ändert sich das Regelungsregime. Der Staat behält eine Rolle, die aber deutlich zurückgenommen ist, er tritt jetzt als Garant der privatrechtlichen Ordnung auf, während er früher eine eigene, von öffentlichen Interessen geleitete Ordnung durchsetzte. Damit ändert sich der inhaltliche Schwerpunkt: an die Stelle öffentlicher Interessen treten im jeweiligen Wirtschaftsbereich die Interessen der beteiligten Akteure bzw. allein das öffentliche Interesse an einer freien wirtschaftlichen Betätigung der Individuen. Im Folgenden wird Deregulierung daher verstanden als Obergriff für Maßnahmen, welche die Überführung wirtschaftlicher Sachverhalte aus einem öffentlich-rechtlichen Regelungsregime in ein privatrechtliches bewirken.

2. Privatisierung Deregulierung wird als Begriff häufig mit Liberalisierung und Privatisierung in einem Atemzug genannt. Wenn Deregulierung – wie hier – als Oberbegriff für die Übertragung von Sachmaterien aus dem öffentlich-rechtlichen Regime 122 Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 590; ähnlich Heinemann, Grenzen staatlicher Monopole im EG-Vertrag, 1996, S. 7. 123 Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 526; vgl. Di Fabio, JZ 1999, 585, 588 f.

C. Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung

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ins privatrechtliche Regime verwendet wird, dann passen Privatisierung und Liberalisierung weitgehend unter diese rechtliche Bestimmung.124 Eine Charakterisierung des wesentlichen Begriffsschwerpunkts muss für die vorliegende Darstellung genügen. Die Deregulierung bezeichnet in der Trias von Deregulierung – Privatisierung – Liberalisierung in erster Linie die Rücknahme staatlichen Einflusses durch Reduzierung von Vorschriften. Privatisierung meint dagegen allgemein die Übertragung von Rechtsmacht des Staates auf Private.125 Auch bei Privatisierungen geht es freilich normativ um die Ersetzung öffentlich-rechtlicher Herrschaftsverhältnisse durch einen zivilrechtlichen Freiraum. Dies belegt ausdrücklich etwa § 6 Landesorganisationsgesetz Brandenburg: „Aufgaben, deren Wahrnehmung im Ergebnis der Aufgabenkritik nicht eingestellt werden kann, sollen natürlichen oder juristischen Personen des Privatrechts zur Erfüllung in Handlungsformen des Privatrechts überlassen oder erforderlichenfalls übertragen werden, wenn […].“

In dieser gesetzgeberischen Definition wird die Verschiebung des Normbestands ausdrücklich am Übergang zum Privatrecht festgemacht. In der Verwaltungsrechtswissenschaft werden verschiedene Grundtypen der Privatisierung differenziert. Ein klassischer Fall ist die Vermögensprivatisierung, also die Überführung staatlichen Eigentums in private Hand.126 Zu denken ist etwa an den Verkauf von Anteilen an Unternehmen, die bislang staatlich geführt waren (z.B. Privatisierung einer staatlichen Telefongesellschaft). Das Private, das als Kern des Rechtsbegriffs angeführt wird, betont in dieser Konstellation das Eigentum. Vermögensprivatisierungen sind grundrechtlich als Eröffnung des Eigentumserwerbs gemäß Art. 14 GG einzuordnen. Neben die Privatisierung staatlichen Eigentums tritt die sogenannte Aufgabenprivatisierung, die dem Phänomen der Deregulierung eng verwandt ist. Hier geht es, in Anknüpfung an eine „Aufgabenkritik“, um die Verlagerung von Aufgaben aus dem Kompetenzbereich der öffentlichen Verwaltung auf Private. Grundlegend unterschieden wird zwischen formeller und materieller Privatisierung. Formelle Privatisierung meint die Erbringung von öffentlichen Aufgaben, die weiterhin im staatlichen Verantwortungsbereich stehen, mit Hilfe

124

Vgl. Helm, Rechtspflicht zur Privatisierung, 1999, S. 35; Möschel, JZ 1988, 885, 888, 892. Böhmann, Privatisierungsdruck des Europarechts, 2001, S. 25, verwendet den Begriff Privatisierung als Oberbegriff. Ähnlich Di Fabio, JZ 1999, 585 ff. 125 Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 37 (m.w.N.). 126 Vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2006, Rn. 64; Schmitz in: Stelkens/Bonk/ Sachs, VwVfG, 2008, § 1 Rn. 133; Böhmann, Privatisierungsdruck des Europarechts, 2001, S. 30.

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

privatrechtlicher Organisationsformen.127 Hier gibt es drei markante Unterfälle: Organisationsprivatisierung meint den Fall, dass der Staat private Gesellschaften zur Aufgabenerfüllung gründet.128 Hier ist der Staat weiterhin an das öffentliche Interesse gebunden. Funktionale Privatisierung bedeutet, dass sich der Staat privater Vertragspartner zur Aufgabenerfüllung bedient – vergleichbar einem Erfüllungsgehilfen im Zivilrecht.129 Hier bleiben die öffentlichrechtlichen Bindungen erhalten. Ein Beispiel bietet § 16 KrW-/AbfG, der vorsieht, dass private Dritte mit der Beseitigung und Verwertung von Abfällen beauftragt werden können. Verfahrensprivatisierung bezeichnet ganz ähnlich die Nutzung privat durchgeführter Verfahren oder flexibler Rechtsinstrumente (etwa Beleihung oder Beauftragung) an der Stelle öffentlicher Verfahren.130 Eine materielle Privatisierung liegt vor, wenn der Staat die Verantwortung gänzlich an Private übergibt.131 Bei dieser Form der Aufgabenprivatisierung verzichtet der Staat auf die Steuerung bestimmter Wirtschaftsbereiche und unterstellt sie einem rein privaten Regelungsregime (wenn auch gelegentlich Kontroll- oder Einwirkungsrechte verbleiben). Dies kann entweder durch eine ersatzlose Streichung von Aufgaben geschehen oder durch die Übertragung auf Private.132 In jedem Fall tritt das Interesse der beteiligten Vertragsparteien an die Stelle des öffentlichen Interesses.133

3. Liberalisierung Liberalisierung bezeichnet im Kern die Öffnung von Märkten, die sich bislang unter staatlicher Verwaltung befanden oder durch staatliche Maßnahmen abgeschottet waren, zugunsten privater Betätigung in wettbewerblicher Form.134 127 Vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2006, Rn. 61; Schmitz in: Stelkens/Bonk/ Sachs, VwVfG, 2008, § 1 Rn. 124 ff.; Böhmann, Privatisierungsdruck des Europarechts, 2001, S. 26; Gersdorf, JZ 2008, 831, 832; Helm, Rechtspflicht zur Privatisierung, 1999, S. 31; Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999, S. 71 ff. 128 Vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2006, Rn. 61; Böhmann, Privatisierungungsdruck des Europarechts, 2001, S. 26 f.; Di Fabio, JZ 1999, 585, 588. 129 Vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2006, Rn. 62; Schmitz in: Stelkens/Bonk/ Sachs, VwVfG, 2008, § 1 Rn. 134 ff.; Böhmann, Privatisierungsdruck des Europarechts, 2001, S. 28; Di Fabio, JZ 1999, 585, 588 f.; Helm, Rechtspflicht zur Privatisierung, 1999, S. 32. 130 Vgl. Di Fabio, JZ 1999, 585, 589 f. 131 Vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2006, Rn. 63; Schmitz in: Stelkens/Bonk/ Sachs, VwVfG, 2008, §1 Rn. 129 ff.; Böhmann, Privatisierungsdruck des Europarechts, 2001, S. 29; Gersdorf, JZ 2008, 831; Helm, Rechtspflicht zur Privatisierung, 1999, S. 29; Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, 2002, S. 29. 132 Vgl. Kodolitsch in: Libbe/Tomerius/Trapp, Liberalisierung und Privatisierung, 2002, S. 39, 44 f. 133 Vgl. Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – DJT-Gutachten, 2008, S. D9. 134 Vgl. Kodolitsch in: Libbe/Tomerius/Trapp, Liberalisierung und Privatisierung, 2002, S. 39, Fn. 1.

C. Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung

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Bei der Liberalisierung findet also eine Befreiung vom staatlichen Einfluss statt, wie die Bezeichnung suggeriert. Insofern passen auch klassische Liberalisierungsmaßnahmen unter den hier verwendeten Oberbegriff der Deregulierung. Typischerweise waren Märkte der Daseinsvorsorge Gegenstand staatlicher Monopolisierung (etwa Post oder Energieversorgung). Diese werden von staatlichen Beschränkungen befreit und einer privatrechtlich-wettbewerblichen Ordnung unterworfen. Dazu wird ein ganzes Bündel von Maßnahmen ergriffen, die häufig Privatisierungen und Deregulierungen einschließen. Im Vordergrund steht nicht die Eröffnung privatunternehmerischer Handlungsspielräume, sondern die wirtschaftspolitische Umformung einer Branche. Gleichwohl geht mit einer Liberalisierung stets die Ausweitung des privatrechtlichen Freiraums einher, da sich der Staat zurückzieht. Rechtlich wird die Liberalisierung in der Praxis stark durch europarechtliche Vorgaben geprägt. Liberalisierung ist überdies ein Topos des Außenwirtschaftsrechts. So wird im Kontext internationaler Handelsvereinbarungen, etwa im Rahmen der Welthandelsorganisation, von Liberalisierungen gesprochen, wenn Märkte für den Waren- und Dienstleistungsaustausch geöffnet werden und mengen- oder wertmäßige Einfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen abgeschafft werden.135 Hier schließt sich der Kreis zur europäisch veranlassten Liberalisierung von bestimmten Sektoren, da die Europäische Kommission damit gerade den grenzüberschreitenden Handelsverkehr zwischen den Mitgliedsstaaten eröffnen wollte.136

II. Die politische Dimension der Deregulierung Wenige wirtschaftspolitische Themen heizen derart die politische Auseinandersetzung an, wie der Meinungskampf um Deregulierungsmaßnahmen. Gegner und Befürworter stehen sich in der Leidenschaft für ihre jeweilige Position in wenig nach. Die Sachargumente lassen sich in wirtschaftliche und politische Argumente trennen.

1. Wirtschaftliche Argumente Der wirtschaftliche Erfolg von Deregulierungsmaßnahmen kann nach verschiedenen Parametern gemessen werden. Schon die Auswahl der Parameter enthält eine Wertentscheidung.

135

Vgl. Creifelds, Rechtswörterbuch, 2007, Eintrag „Liberalisierung“. Vgl. Helm, Rechtspflicht zur Privatisierung, 1999, S. 34 f. Siehe auch die EG-Liberalisierungs-Richtlinie (70/32/EWG) vom 17.12.1969, die die Warenverkehrsfreiheit auf den Bereich staatlicher Beschaffung ausdehnte. 136

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

Das denkbar einfachste Messverfahren ist die Prüfung der Effizienz der Leistungsbereitstellung im Vergleich vor und nach der Deregulierung.137 Sinkende Preise sprächen für eine steigende Effizienz. Fehlt ein Vergleichspreis mangels bisheriger Marktgängigkeit des Produkts könnte ein Kostenvergleich den Erfolg der Deregulierung belegen.138 Ein solch reduzierter Maßstab verkennt jedoch das Ziel-Bündel, das häufig mit Deregulierungen verfolgt wird. Eine rein wohlfahrtsorientierte Betrachtung greift zu kurz. Die Europäische Kommission stellte in ihrem Evaluationsbericht für deregulierte Netzindustrien auf ein Bündel verschiedener Kriterien ab.139 Sie prüfte in der folgenden Reihenfolge: – Marktergebnisse, gemessen an den Faktoren Marktstruktur und Wettbewerbsentwicklung sowie Preise, Output, Arbeitsmarkteffekte und Produktivität; – Integration des europäischen Binnenmarkts; – distributive Effekte; – Grad der Erfüllung der öffentlichen Aufgaben; – Wahrnehmung durch Verbraucher. Nach diesem Kriterium sind die Ergebnisse von Deregulierungs- und auch Regulierungs-Prozessen keineswegs einhellig positiv zu beurteilen.140 In ihrem Bericht 2006 stellte die Kommission etwa fest, dass im Energiesektor die erhofften Marktergebnisse ausgeblieben sind, während im Telekommunikationssektor die Entwicklungen im Markt als „Erfolgsgeschichte“ gelesen werden könnten.141 Auch die Monopolkommission kommt in ihren Sondergutachten zu einzelnen Branchen zu differenzierten Beurteilungen. Sie prüft gemäß ihrem gesetzlichen Auftrag regelmäßig die Wettbewerbssituation. Im Sondergutachten 2009 zum Postsektor beurteilt die Monopolkommission die Wettbewerbssituation auf den Briefmärkten als „kritisch“.142 Im Telekommunikationssektor sieht sie hingegen in einigen Bereichen bereits eine nachhaltige Wettbewerbsorientierung (v.a. im Endkundengeschäft bei Festnetztelefonie).143 Die Energiemärkte weisen nach Auffassung der Monopolkommission noch zahlreiche 137

Vgl. etwa Heilemann/Hillebrand in: Berg, Deregulierung und Privatisierung, 2002, S. 29,

39 ff. 138

Vgl. Bardach in: Landy/Levin/Shapiro, Creating Competitive Markets, 2007, S. 333. Europäische Kommission, Evaluation of the performance of network industries providing services of general economic interest, European Economy 1/2007, abrufbar unter: http:// ec.europa.eu/economy_finance/publications/publication9603_en.pdf; vgl. zur Methodik die Mitteilung der Kommission, „Methodik der horizontalen Bewertung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“, 18.6.2002, KOM(2002), 331 endg. 140 Vgl. Landy/Levin in: Landy/Levin/Shapiro, Creating Competitive Markets, 2007, S. 1. 141 Vgl. Europäische Kommission, 18.6.2002, KOM(2002), 331 endg., S. 21. 142 Monopolkommission, Post 2009, 2010. 143 Monopolkommission, Telekommunikation 2009, 2009. 139

C. Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung

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Wettbewerbsdefizite auf.144 In allen Feldern empfiehlt die Monopolkommission ein Festhalten an der Regulierung, da die Deregulierung noch nicht das Stadium der Finalität erreicht habe. In einer Analyse zu den Energiemärkten stellen zwei Ökonomen auf Preiswirkungen, Wettbewerbsstruktur, sektorale und makroökonomische Wirkungen sowie ökologische Folgen der Deregulierung ab. Auch sie ziehen ein Fazit zwischen „Ernüchterung“ und „unverkennbaren Erfolgen“.145 Die zumindest nicht eindeutigen Ergebnisse belegen, dass die ökonomischen Hoffnungen, die mit der Deregulierung verknüpft sind, nicht ohne langwierige und schmerzhafte Prozesse erfüllbar sind. Marktdesign gerät an seine Grenzen. Umso wichtiger werden die sonstigen Ziele der Deregulierung und die Absicherung dieser Ziele.

2. Politische Argumente Neben die wirtschaftlichen Argumente treten politische Fragen. Diese werden zum einen festgemacht an dem Kriterium der Erfüllung öffentlicher Aufgaben, was etwa die Kommission bereits in ihren Evaluationsbericht integriert hat. Zum anderen stehen sich aber noch grundsätzlichere Auffassungen gegenüber, die ein unterschiedliches Staatsverständnis spiegeln.146 In der Deregulierung wird häufig ein negativ zu beurteilender „Ausverkauf des Staates“, eine Entstaatlichung, gesehen.147 Dem Schwinden staatlicher Einflussmöglichkeiten wird dann häufig die Gewinnmaximierungsstrategie sogenannter Privatisierungsprofiteure gegenüber gestellt. Zudem werden Deregulierungsmaßnahmen häufig mit einer unangemessenen Nähe politischer Entscheidungsträger zur Wirtschaft assoziiert.148 Der politische Widerstand gegen Deregulierungsmaßnahmen hat sich dadurch zu einer politisch relevanten Größe entwickelt. Befürworter verweisen hingegen auf die steigende Flexibilität des Staates, der sich von autoritären Positionen zurückziehe. Sie betonen, neben den vermeintlich positiven wirtschaftlichen Folgen, das emanzipatorisch-freiheitliche Moment von Deregulierungsmaßnahmen.149 Auch hier gilt, wie so oft, dass sich schematische Wertungen verbieten. Wie im ökonomischen Bereich sind die politischen Aspekte und Wirkungen von 144

Monopolkommission, Strom und Gas 2009, 2009. Heilemann/Hillebrand in: Berg, Deregulierung und Privatisierung, 2002, S. 29 ff., 55. 146 Vgl. die Zusammenfassung der Argumente bei Stober, NJW 2008, 2301; Schmitz in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 2008, § 1 Rn. 121. 147 Vgl. etwa Le Monde Diplomatique, „Ausverkauft. Wie das Gemeinwohl zur Privatsache wird“, Edition No. 6, 2009, oder die Beiträge in der Zeitung Freitag, Nr. 34, 22.8.2013, S. 6 f. 148 Vgl. Schmitz in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 2008, § 1 Rn. 121; zu den Auswirkungen solcher politischer Nähe auf die Ergebnisse des Deregulierungsprozesses Bardach in: Landy/ Levin/Shapiro, Creating Competitive Markets, 2007, S. 334 f. 149 Vgl. Wulfhorst, ZRP 2004, 82 ff.; Kruse, MMR 2002, XXVIII f. 145

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

Deregulierungsmaßnahmen komplex.150 Sie sind zugleich Ursache und Symptom des Bedeutungswandels, dem der Staat ausgesetzt ist: Der staatliche Steuerungsverlust ist nicht zuletzt auf Deregulierungsmaßnahmen zurückzuführen, zu diesen kommt es aber auch, weil der Staat sich auf eine neue Form des Regierens verlegen muss, um überhaupt noch zukunftsfähig zu bleiben. Zu sprechen ist daher eher vom „Funktionswandel“ des Staates als von seinem Rückzug.151 Insgesamt scheint die Haltung gegenüber Privatisierungen erheblich kritischer geworden zu sein. Diese Feststellung wurde etwa beim 67. Deutschen Juristentag 2008 getroffen.152 Die Finanzkrise hat das Vertrauen in die Kräfte des freien Marktes weiter erschüttert,153 wenn auch gerade staatliche Einflussnahme und öffentliche Unternehmen besonders problematische Rollen bei der Entstehung der Krise spielten, weshalb umstritten ist, ob nicht eher ein Staats-, als ein Marktversagen vorliegt. Die Deregulierungseuphorie ist abgeebbt, entsprechende Maßnahmen werden nicht mehr in gleicher Intensität fortgesetzt.154 Sichtbarer Ausdruck einer kritischeren Würdigung der Deregulierung auch seitens der Politik ist die Neufassung der Zielbestimmungen in der Europäischen Verfassung. Hier wurden soziale und wirtschaftslenkende Elemente gegenüber marktwirtschaftlich-wettbewerblichen betont. Nichtsdestotrotz sind auf politischer Ebene zwei Entwicklungen sicher: die Deregulierung wird tendenziell fortgesetzt werden, nicht zuletzt da dem Staat finanziell keine Alternative zu Privatisierungen bleibt und das Deregulierungsversprechen – Freisetzung von Marktkräften, Dynamik, Innovation – immer verlockend bleiben wird. Genauso sicher ist, dass der Protest gegen Deregulierungen weiter verbreitet sein wird.

3. Hinweise aus normativer Perspektive Die Spannungen zwischen Deregulierungsbefürwortern und -kritikern können durch eine rechtlich geprägte Analyse möglicherweise entschärft werden. Deregulierungsmaßnahmen sind stärker normativ zu fundieren, das Augenmerk ist auf Deregulierungsfolgen zu richten, institutionelle Probleme müssen gelöst werden. Deregulierungsmaßnahmen gewinnen an politischer Legitimation, wenn sie stärker auf Rechtsprinzipien gegründet werden und in das Modell der 150

Benz/König in: König/Benz, Privatisierung und staatliche Regulierung, 1997, S. 639 ff. Vgl. Schmitz in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 2008, § 1 Rn. 121; Grande in König/ Benz, Privatisierung und staatliche Regulierung, 1997, S. 576, 586 m.w.N. 152 Stamm, JZ 2009, 784, 785. 153 Vgl. Engel, Das schwindende Vertrauen in die Marktwirtschaft, 2009, S. 3; sowie die Umfrageergebnisse, die in Wirtschaftswoche, Nr. 46, 12.11.2012, S. 8 berichtet werden. 154 Vgl. Ruffert in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 3 Rn. 34 f. 151

C. Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung

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Wirtschaftsordnung eingepasst werden.155 Werden erkennbare normative Maßstäbe an die Entscheidung angelegt, ob und wie dereguliert werden soll, lässt sich der Vorwurf politischer Kumpanei und naiver Privatisierungseuphorie entkräften.156 Dies setzt beispielsweise voraus, die hier skizzierten verfassungsrechtlichen Parameter stärker in den Vordergrund zu rücken und ein kohärentes wirtschaftsordnendes Leitbild zu verfolgen. Dazu wären die dargestellten Beiträge der neueren Staatsrechtslehre politisch besser zu rezipieren. Während das Ob der Deregulierung häufig noch unumstritten ist, treten die kritischen Fragen in der Folge der Deregulierung auf. Gäbe es ein Deregulierungsfolgerecht, würde dieses zahlreiche praktische und politische Probleme auffangen. Tatsächlich wird ein Deregulierungs- oder Privatisierungsfolgerecht auch immer wieder angemahnt.157 Verkannt wird allerdings, in welchem Rechtsbereich ein solches Auffangrecht anzusiedeln ist: Deregulierungsfolgerecht ist Zivilrecht. Die Sachmaterien sind gemäß der Definition in das Regelungsregime des Zivilrechts überführt worden. Will man die Deregulierungsrendite erwirtschaften, muss das Deregulierungsfolgerecht auch vom Primat der Freiheit, wie es im Zivilrecht verwirklicht wird, geleitet sein. Hier klafft die Lücke in der Forschung, die mit dieser Arbeit ansatzweise geschlossen wird: Es geht darum, Fehlentwicklungen zu korrigieren, die dadurch entstehen, dass die Wende zum Privatrecht nicht konsequent weiter gedacht wird. Hier gilt es, wie später zu zeigen sein wird, vor allem verfahrensrechtliche Sicherungsmaßnahmen vorzusehen, damit die Überführung ins Privatrecht gelingen kann. Vernachlässigt werden bislang institutionelle Aspekte in der Diskussion. In der Folge von Deregulierungen tritt nämlich nicht einfach die unsichtbare Hand an die Stelle des Staates als wirtschaftsordnende Institution. Es kommt zunächst häufig zum Zwischenschritt der Regulierung mit einer besonders problematischen institutionellen Konstellation, nämlich der Einschaltung einer Behörde, die den Markt in noch stärkerer Weise zu steuern versucht als der Staat nach klassischer wirtschaftsverwaltungsrechtlicher Vorstellung.158 Selbst ohne Regulierung ist der Markt kein institutionenfreies Konstrukt. Der Markt ist das Ergebnis der Entscheidungen der Marktteilnehmer und der allgemeinen wirtschaftsordnenden Institutionen (die der Regulierung im wei155

Vgl. Möschel in: FS Immenga, 2004, S. 277, 282, 290. In diesem Sinne meint auch Grande in: König/Benz, Privatisierung und staatliche Regulierung, 1997, S. 576, 581 seinen Zwischenruf „Institutions matter!“. Ähnlich auch Stober, NJW 2008, 2301 f.; Schmitz in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 2008, § 1 Rn. 121. Vgl. auch Masing in: Lüdemann, Telekommunikation, Energie, Eisenbahn, 2008, S. 155, 172 ff. 157 Vgl. Stober, NJW 2008, 2301, 2308. 158 Vgl. Schebstadt, WuW 2005, 6, 11; Schwintowski in: Immenga/Lübben/Schwintowski, Telekommunikation, 1998, S. 39 f.; Shapiro in: Landy/Levin/Shapiro, Creating Competitive Markets, 2007, S. 319. 156

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

teren Sinne zuzuordnen sind), nämlich der Kartellbehörden und der Zivilgerichte. Wenn diese Institutionen in ihrer Fähigkeit, Deregulierungsfolgen zu bewältigen, gestärkt werden, besteht die Hoffnung, Deregulierungen wirtschaftlich erfolgreicher und politisch akzeptabler zu gestalten.

III. Rechtliche Umsetzung von Deregulierungsmaßnahmen Eine Deregulierungsmaßnahme, also die Übertragung einer Sachmaterie vom Öffentlichen Recht ins Privatrecht, kann ein komplizierter Prozess sein, der mehrere rechtliche Stationen durchlaufen muss. Dies wird insbesondere von Autoren betont, welche die Gewährleistungsverantwortung des Staates im Blick haben und also die Deregulierung absichern wollen, um Gemeinwohlinteressen zu schützen. Wegen rechtlicher, aber auch faktischer Umstellungsschwierigkeiten wird ein erfolgreicher Privatisierungsprozess beispielsweise von Paul Kirchhof auf eine Dauer von zwanzig Jahren veranschlagt.159 Kämmerer schichtet eine typische Privatisierung in vier Phasen ab: Planungsphase (einschließlich einer Privatisierungsfolgenanalyse), Durchführungsphase (insbesondere Gesetzgebung), Vollzugsphase (mit Umwandlung und Erlass begleitender Regelungen) sowie Folgephase (mit der Vollendung der Rechtsmachtübertragung und der Regulierung bis zur Etablierung eines regulierungsfreien Marktes).160

1. Unionsrechtlicher Rahmen Am Anfang der Überlegungen stehen die Vorgaben aus Unions- und Verfassungsrecht. Unmittelbare Pflichten zur Deregulierung oder Privatisierung sind im europäischen Recht selten und im deutschen Verfassungsrecht nicht ausdrücklich statuiert. Es wäre freilich konsequent, aus den neueren Erkenntnissen der Staatsaufgabendiskussion eine Pflicht zur Deregulierung zu folgern. Immerhin werden aus dem europäischen Recht starke Impulse zur Deregulierung gegeben.161 Dies betrifft zum einen wirtschaftsordnende Einzelregelungen, etwa zur Liberalisierung des Energiemarktes. Zum anderen ist aber auch das wirtschaftsordnende Verfassungsgefüge des europäischen Rechts auf eine weitgehende Öffnung ausgerichtet, insbesondere mit Blick auf Art. 106 AEUV.162 Nach dieser Norm haben die Mitgliedsstaaten zwar die Möglichkeit, durch öffentliche Unternehmen in die Wirtschaft einzugreifen. 159 67. Deutscher Juristentag, Abteilung Öffentliches Recht, Bericht über die Diskussion, Teil 6. Vgl. Wulfhorst, ZRP 2004, 82, 83. 160 Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 85 ff. 161 Vgl. Weiß, AöR 128 (2003), 91, 95 ff. 162 Vgl. Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 93 ff.; Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, 2002, S. 348 ff. Vgl. Stamm, JZ 2009, 784, 785.

C. Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung

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Diese werden aber, soweit möglich, dem Wettbewerbsdruck des freien Marktes ausgesetzt. Art. 106 Abs. 3 AEUV gibt der Kommission die Kompetenz, mit Richtlinien Liberalisierungen anzustoßen. Auch das Regime der Grundfreiheiten und das Beihilferecht lassen ein eindeutiges Bekenntnis zum Vorrang des Marktes, zur Deregulierung und damit zur privatrechtlichen Verfassung der Wirtschaft erkennen.163 In gleicher Weise wirkt das WTO-Recht mit seiner marktliberalen Grundvorstellung auf eine Deregulierung der Wirtschaft hin.164

2. Verfassungsrechtlicher und einfachgesetzlicher Rahmen Ein weiterer Impuls zur Deregulierung folgt aus Grundgedanken des Staatsorganisationsrechts, insbesondere dem Subsidiaritätsgedanken und der Pflicht zur wirtschaftlichen Haushaltsführung.165 Wenn auch das Grundgesetz die Pflicht zur Deregulierung dem Gesetzgeber nicht ausdrücklich ins Programm schreibt, so sind ihm in dieser Hinsicht nur wenige Grenzen gesetzt, was die Deregulierungsdiskussion zu einer politischen Frage macht. Gibt es Grenzen der Übertragung auf Private? Gibt es also Aufgaben, die nur der Staat wahrnehmen kann? Das Bundesverfassungsgericht entschied 1961 über die Verfassungsmäßigkeit des „Gesetzes über die Überführung der Anteilsrechte an der Volkswagenwerk Gesellschaft mit beschränkter Haftung in private Hand“.166 Darin wurden die Umwandlung der Volkswagen GmbH in eine AG und der Verkauf von 60 Prozent der Bundes-Anteile an Aktionäre vorgesehen. Die Zeichnungsrechte für diese Anteile sollten sozial gestaffelt sein. VW-Mitarbeiter zum Beispiel erhielten bevorzugte Konditionen. Die Beschwerdeführer hatten sowohl die Privatisierung als solche gerügt, als auch ihre konkrete Ausgestaltung für verfassungsrechtlich bedenklich gehalten. Das Bundesverfassungsgericht stellte klar, dass die Verfassung der Vermögensprivatisierung keine Grenzen setzt, und dass es nicht Aufgabe der Gerichte sei, die Gemeinwohl-Effekte einer solchen wirtschaftspolitischen Maßnahme zu prognostizieren. In der Begründung tritt die Zurückhaltung des höchsten Gerichts im Bereich der Wirtschaftsordnung erneut deutlich zutage. Die Ausgestaltung und Abwicklung der Privatisierung allerdings unterwirft das BVerfG bestimmten Vorgaben, die es im konkreten Fall gewahrt sah. So müsse der Bund bestrebt sein, einen möglichst hohen Preis zu erzielen. Zugleich ist eine Prüfung an den Grundrechten der Betroffenen erforderlich. Allerdings könnten besondere 163 164 165 166

I 110.

Vgl. Weiß, AöR 128, 2003, 91, 131 f.; Jaeger, EuZW 2007, 499 ff. Vgl. Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 150 ff. Vgl. Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 145. BVerfG, 17.5.1961, Az. 1 BvR 561/60, BVerfGE 12, 354; dazu Badura, Staatsrecht, 2003,

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

wirtschafts- und sozialpolitische Ziele „in gewissen Grenzen und bei Wahrung der rechtsstaatlichen Prinzipien“167 berücksichtigt werden. Die Vermögensprivatisierung grenzt das Gericht überdies von der Verfolgung „anerkannter öffentlicher Aufgaben“ durch Private ab.168 Das VW-Privatisierungs-Urteil des BVerfG ist ein früher Meilenstein der Rechtsprechung zu Privatisierungen, die insgesamt überschaubar geblieben ist.169 Bis heute wird grundsätzlich mit dem Topos der obligatorischen Staatsaufgaben bejaht, dass es für das „Ob“ der Deregulierung oder Privatisierung Grenzen gebe.170 Diese sollen aus den Staatszielbestimmungen und den Grundrechten als Schutzpflichten des Staates abgeleitet sein. Wie in der Staatsaufgabendiskussion bereits gesehen, ist aber umstritten, welche Aufgaben hierzu zählen. Ob das Justizwesen beispielsweise als klassische staatliche Aufgabe noch dauerhaft staatlich geregelt sein muss, lässt sich angesichts zunehmender privater Streitschlichtung in Frage stellen – möglicherweise ist, was heute noch als unprivatisierbar gilt, in wenigen Jahren so privat wie das Postwesen. Zwischenschritte, etwa eine teilweise funktionale Privatisierung, sind in vielen vermeintlich hoheitlichen Bereichen erkennbar.171 Eine weitere Grenze wird im deutschen Verfassungsrecht in Art. 33 Abs. 4 GG gesehen: „Die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse ist als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen.“ Dieser Verweis auf hoheitsrechtliche Befugnisse und ihre Ausübung im öffentlich-rechtlichen Verhältnis ist aber insoweit wenig hilfreich, als der Begriff des Hoheitlichen gerade dem ständigen Wandel unterliegt. Eine Klärung hat das Bundesverfassungsgericht nicht herbeigeführt, das in seinen Entscheidungen zu beamtenrechtlichen oder beamtenrechtsähnlichen Arbeitsverhältnissen den Spielraum des Gesetzgebers bei der Erledigung hoheitlicher Aufgaben hervorgehoben hat.172 Das BVerfG hat dabei der Einschränkung „in der Regel“ in Art. 33 Abs. 4 Bedeutung beigemessen und somit bestenfalls einen Kernbereich hoheitlicher Tätigkeit von der Möglichkeit der Übertragung in den Bereich des Privatrechts ausgenommen.173 167

BVerfG, 17.5.1961, Az. 1 BvR 561/60, BVerfGE 12, 354, Leitsatz 5. BVerfG, 17.5.1961, Az. 1 BvR 561/60, BVerfGE 12, 354, Rz. 2. 169 Vgl. Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – DJT-Gutachten, 2008, S. D10. 170 Vgl. Stober, NJW 2008, 2301, 2305; Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – DJTGutachten, 2008, S. D52 ff. 171 Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999, S. 179 ff. 172 BVerfG, 2.3.1993, Az. 1 BvR 1213/85, BVerfGE 88, 103, 116 zum Erfordernis einer gesetzlichen Regelung für Arbeitskämpfe von Postbeamten sowie BVerfG, 5.5.1964, Az. 1 BvL 8/ 62, BVerfGE 17, 371, 379 ff., zur Zulässigkeit der Begrenzung von Notarstellen als „vom Staat geschaffene Ämterorganisation“ jenseits der freien Berufswahl; ebenso BremStGH, NVwZ 2003, 81, 86. 173 Vgl. Stober, NJW 2008, 2301, 2305 f.; Di Fabio, JZ 1999, 585, 590 ff.; Bonk, JZ 2000, 435, 438 f. Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1986, § 12 Rn. 16. 168

C. Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung

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Organisationsrechtliche Schranken ergeben sich für die Bundesverwaltung aus Art. 83 ff. GG. Im Übrigen gilt der allgemeine Auftrag der Verfassung, die objektive Wertordnung des Grundgesetzes möglichst weitgehend zu verwirklichen.174 Das bedeutet angesichts der starken Prägung des Grundgesetzes durch die Grundrechte als Abwehrrechte und in Einklang mit der Wirtschaftsordnung des europäischen Rechts ein deregulierungsfreundliches verfassungsrechtliches Umfeld. Unstreitig gibt es für das Wie der Deregulierung und Privatisierung bestimmte einfachgesetzliche Vorgaben, etwa aus dem Vergaberecht, dem Arbeitsrecht oder dem Umwandlungs- und Gesellschaftsrecht.175 2012 hat das BVerfG die Einschätzung bestätigt, dass die 1961 mit dem VWUrteil begonnene Linie sich bis heute fortsetzt. Zu urteilen hatte der Zweite Senat über einen typischen Fall moderner Privatisierung: Gerügt worden war die Privatisierung des Maßregelvollzugs in Hessen.176 Das Bundesland hatte seine psychiatrischen Anstalten, in denen Straftäter betreut werden, privatisiert. Ein Betroffener hatte geltend gemacht, durch die Privatisierung würden seine Grundrechte, das Demokratieprinzip sowie Art. 33 Abs. 4 GG verletzt. Das BVerfG hielt diese Beschwerde für unbegründet. Zwar sei bei derart massiven Grundrechtseinschränkungen wie der strafrechtlichen Freiheitsentziehung grundsätzlich von einem hoheitlichen Verhältnis auszugehen.177 Der Senat sieht aber die vom Land Hessen vorgetragenen pragmatischen Gründe (v.a. effizientere Organisation) als Rechtfertigung.178 Einiges Gewicht maßen die Richter dabei den Sicherungsmechanismen vor, durch die eine Letztentscheidungskompetenz staatlicher Stellen garantiert werde. Der Grundrechtsschutz werde durch die Vorgaben im Beleihungsvertrag, den das Land mit dem privaten Träger geschlossen hat, gewährleistet.179 Das Urteil, das ersichtlich von großem Vertrauen in die Steuerungsmöglichkeiten des Gewährleistungsstaats getragen ist, setzt die grundsätzlich privatisierungsoffene Linie des BVerfG in die Gegenwart fort. Mit dem Urteil liegt die verfassungsgerichtliche Bestätigung vor, dass auch in vermeintlichen Kernbereichen hoheitlicher Tätigkeit erhebliche Deregulierungen möglich sind. Nicht einmal mehr die staatliche Freiheitsentziehung im Maßregelvollzug ist privatisierungsfest. Die notwendigen grundrechtlichen Gewährleistungen lassen sich nach Auffassung des BVerfG vertraglich mit einem Privatunternehmen auffangen. 174 Vgl. Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – DJT-Gutachten, 2008, S. D52 ff.; Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 174 ff.; Di Fabio, JZ 1999, 585, 590 f.; Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 2008, 7 ff. 175 Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – DJT-Gutachten, 2008, S. D93, D101 ff.; Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 274 ff. 176 BVerfG, 18.1.2012, Az. 2 BvR 133/10, Lexetius.com/2012,19. 177 BVerfG, 18.1.2012, Az. 2 BvR 133/10, Lexetius.com/2012,19, Rz. 100. 178 BVerfG, 18.1.2012, Az. 2 BvR 133/10, Lexetius.com/2012,19, Rz. 103 ff. 179 BVerfG, 18.1.2012, Az. 2 BvR 133/10, Lexetius.com/2012,19, Rz. 108.

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

3. Umsetzungsinstrumente Die rechtlichen Formen der Deregulierung- und Privatisierungsmaßnahmen können unterschiedlich sein.180 Es kann ein Gesetz verabschiedet werden (wie bei der VW-Anteilsveräußerung). Manche Maßnahmen erfolgen aber auch über die unternehmerische Betätigung der öffentlichen Hand oder durch den Abschluss von öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Verträgen. Dritte, denen Rechtsmacht übertragen wird, können in Form von Verwaltungshelfern, als Beliehene, Konzessionäre oder in sonstiger Art eingebunden werden, denkbar ist auch die schlichte Kooperation einer öffentlichen Stelle mit einem privaten Unternehmen oder die komplette Verlagerung auf das private Unternehmen. Der Gesetzgeber hat zum Teil in eigenen „Privatisierungsgesetzen“ Verfahren und Bedingungen normiert. Ein Beispiel bietet § 45c Wassergesetz BadenWürttemberg zur „Privatisierung der Abwasserbeseitigung“: „(1) Eine abwasserbeseitigungspflichtige Körperschaft kann ihre Abwasserbeseitigungspflicht nach § 45b Abs. 1 Satz 1 auf Dritte ganz oder teilweise übertragen. Eine Übertragung darf nur erfolgen, wenn 1. 2. 3. 4.

der Dritte fachkundig, zuverlässig und leistungsfähig ist, die Erfüllung der übertragenen Aufgaben sichergestellt ist, überwiegende öffentliche Interessen nicht entgegenstehen und die Anforderungen einer Rechtsverordnung nach Absatz 3 erfüllt sind.

Die Übertragung ist zu befristen und unter den Vorbehalt des Widerrufes und nachträglicher Auflagen zu stellen. Die Übertragung ist zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für eine Übertragung dauerhaft nicht mehr erfüllt sind.“

§ 45c Abs. 1 des baden-württembergischen Wassergesetzes stellt also materielle Prüfungsvorgaben vor die Übertragung einer öffentlichen Aufgabe an einen Privaten und damit vor die Eröffnung des privatrechtlichen Handlungsraums. Absatz 2 regelt das Erlöschen der Abwasserbeseitigungspflicht des Dritten, während Absatz 3 eine Ermächtigung zum Erlass weiterer Vorschriften enthält, die das Verhalten im Privatrechtskontext unmittelbar beeinflussen können: „(3) Die oberste Wasserbehörde und die oberste Rechtsaufsichtsbehörde regeln durch Rechtsverordnung das Verfahren, die näheren Voraussetzungen für die Übertragung der Abwasserbeseitigungspflicht und die Rechte und Pflichten nach erfolgter Übertragung. Dabei können insbesondere Bestimmungen getroffen werden über

180 Vgl. Creifelds, Rechtswörterbuch, 1997, Eintrag „Privatisierung“; Gramm, Privatisierung, 2001, S. 107 ff.; Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – DJT-Gutachten, 2008, S. D92; am Beispiel des Eisenbahnwesens siehe Soldner, Liberalisierung des Eisenbahnwesens, 2008, S. 303 ff.

C. Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung

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1. den Nachweis, die Prüfung und die dauerhafte Gewährleistung von Fachkunde, Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit des Dritten und der für die Leitung und Beaufsichtigung der Abwasseranlagen verantwortlichen Personen, 2. die von der Körperschaft und dem Dritten zu treffenden technischen, organisatorischen und finanziellen Vorkehrungen zur dauerhaften Sicherstellung der Aufgabenerfüllung, 3. die Möglichkeit von Teilübertragungen.“

Die Norm enthält die Idee der Gewährleistungsverantwortung des Staates bei einer Hinwendung zum Privatrecht. Die den Gesetzgeber leitenden materiellen Gedanken lassen sich darin erkennen: Versucht wird, den Schutz des öffentlichen Interesses auch bei einer privatrechtlichen Wahrnehmung zu gewährleisten. Der Gesetzgeber versucht, die Aufgabenerledigung der Privaten materiell zu steuern, Standards zu setzen und Kontrollmöglichkeiten zu erhalten.181 Die Gewährleistungsverantwortung des Staates beschneidet damit den Freiraum der privaten Aufgabenerledigung, und sei es nur durch das präventive Druckmittel, dem Privaten den (ggf. lukrativen) Auftrag wieder zu entziehen. Aus den Normen spricht kein Bewusstsein einer Trennung von öffentlichen Interessen und privaten Interessen. Nicht zu erkennen ist, dass der Gesetzgeber primär ein neues Freiheitsparadigma für die Sachmaterie anerkennt. Vielmehr scheint er die Übertragung an Private für ein alternatives Mittel zu halten, um die tradierten Ordnungsvorstellungen unter veränderter Ausführungsverantwortung durchzusetzen. Auch im Schrifttum erwähnt nur Burgi als materiellen Leitgedanken für Maßnahmen der Aufgabenprivatisierung die Wettbewerbssicherung als öffentliches Interesse.182 Der Schutz dieses öffentlichen Interesses wäre aber gerade Ausdruck eines zivilrechtlichen Grundverständnisses, wie es in dieser Arbeit zugrunde gelegt wird.

IV. Regulierungsrecht als Bindeglied Der Übergang vom öffentlichen Recht in das allgemeine Zivil- und Wirtschaftsrecht erfolgt bei überlegter Deregulierung meist nicht unmittelbar, sondern über den Zwischenschritt der „Regulierung“. Der Gesetzgeber fügt so Sicherungen ein, die einen geordneten Übergang von der staatlichen Lenkung in die freie Marktwirtschaft ermöglichen sollen.

181 Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – DJT-Gutachten, 2008, S. D94 ff.; Stamm, JZ 2009, 784, 785; Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 2008, S. 146. 182 Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – DJT-Gutachten, 2008, S. D99.

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

1. Konzept des Regulierungsrechts Hintergrund der Schaffung von Regulierungsrecht sind die Erkenntnisse über das Funktionieren von Märkten. Märkte arbeiten nicht voraussetzungslos, sondern bedürfen eines Rechtssystems und einer Finanzierung, bestimmter Infrastrukturen und einer Wettbewerbsordnung, die es ermöglicht, die Position überkommener Monopole zu bestreiten.183 Schon bei Adam Smith ist nachzulesen, dass bestimmte Voraussetzungen vorliegen müssen, um das Wirken seiner berühmten „unsichtbaren Hand“184 erst zu ermöglichen.185 Belege finden sich etwa für die Einführung von Eigentumsrechten186, den Aufbau eines Rechtssystems187 oder die Herausbildung von Institutionen, die den Handel erleichtern188. Das Regulierungsrecht als Wirtschaftsordnungsrecht hat sich gerade in den Netzwirtschaften, also den Sektoren Energie, Post und Telekommunikation sowie Bahn, als neues Rechtsgebiet herausgebildet.189 Unterschieden wird zwischen enger und weiter Regulierung. Als weite Regulierung wird das komplette Instrumentarium wirtschaftsrechtlicher Steuerungen erfasst, einschließlich Vorschriften zum Eigentum oder zum Vertrag. Als enge Regulierung wird die gezielte Einschränkung des Geltungsbereichs des allgemeinen Zivil- und Wettbewerbsrechts verstanden zugunsten einer unmittelbaren staatlichen Marktgestaltung, die auf die Schaffung wettbewerblicher Strukturen und auf die Sicherung öffentlicher Interessen ausgerichtet ist.190 Das Energiewirtschaftsgesetz, das die Bundesnetzagentur zur Regulierung des Energiemarktes ermächtigt, bringt dies in § 1 zum Ausdruck: „(1) Zweck des Gesetzes ist eine möglichst sichere, preisgünstige, verbraucherfreundliche, effiziente und umweltverträgliche leitungsgebundene Versorgung der Allgemeinheit mit Elektrizität und Gas. (2) Die Regulierung der Elektrizitäts- und Gasversorgungsnetze dient den Zielen der Sicherstellung eines wirksamen und unverfälschten Wettbewerbs bei der Versor183 Vgl. Landy/Levin in: Landy/Levin/Shapiro, Creating Competitive Markets, 2007, S. 3; Leschke in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 6, S. 281; Ruffert in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 7 Rn. 18 ff. (S. 343 ff.); Vogel in: Landy/Levin/Shapiro, Creating Competitive Markets, 2007, S. 25, 27 f., 37 ff. 184 Smith, Wealth of Nations, 1976, S. ii.477. 185 Vgl. Mestmäcker in: Mestmäcker, Recht und ökonomisches Gesetz, 1984, S. 104 ff.; Fikentscher/Hacker/Podszun, FairEconomy, 2013, Kapitel 1. 186 Smith, Wealth of Nations, 1976, S. ii.232, i.136. 187 Smith, Wealth of Nations, 1976, S. ii.231. 188 Smith, Wealth of Nations, 1976, S. ii.245 ff. 189 Vgl. Ruffert in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 7 Rn. 44 ff. (S. 354 ff.); Kühling, Sektorspezifische Regulierung in den Netzwirtschaften, 2004, S. 40 ff. 190 Vgl. Ruffert in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 7 Rn. 58 ff. (S. 359 ff.); Berringer, Regulierung, 2004, S. 83 ff.; Heinemann, Grenzen staatlicher Monopole im EG-Vertrag (1996), S. 7; Böhmann, Privatisierungsdruck des Europarechts, 2001, S. 37; Möschel in: FS Immenga, 2004, S. 277 f., spricht von konstitutiver (= weiter) und spezieller (= enger) Regulierung.

C. Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung

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gung mit Elektrizität und Gas und der Sicherung eines langfristig angelegten leistungsfähigen und zuverlässigen Betriebs von Energieversorgungsnetzen. (3) Zweck dieses Gesetzes ist ferner die Umsetzung und Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet der leitungsgebundenen Energieversorgung.“

Ähnliche Bestimmungen finden sich im TKG sowie im PostG. An erster Stelle steht für den Gesetzgeber also ein öffentliches Interesse, die verbraucherfreundliche Versorgungssicherheit. Erst an zweiter Stelle steht die Wettbewerbseröffnung, die wiederum durch den Hinweis auf die Netzsicherheit relativiert wird. In den folgenden Normen des EnWG werden vor allem die besonderen Pflichten der Netzbetreiber und die Befugnisse der Bundesnetzagentur statuiert. Den Energieversorgungsunternehmen werden besondere Einschränkungen ihrer Privatautonomie auferlegt, der Bundesnetzagentur direkte Eingriffsmöglichkeiten in das Marktgeschehen gewährt. Mit dem Regulierungsrecht greift der Gesetzgeber also unmittelbar in den Wirtschaftsprozess ein, um den Wettbewerb (der durch den Eingriff gestört wird) in eine wettbewerbsfreundliche Richtung zu steuern.191 Zugleich wird auf eine Sicherung öffentlicher Interessen hingewirkt, die als bedroht gelten, wenn eine komplette Marktöffnung erfolgt. Damit ist die besondere Spannung, aber auch die Brückenfunktion des Regulierungsrechts benannt: es muss einerseits in bester privatrechtlicher Art auf Wettbewerb zielen, andererseits öffentliche Interessen wahren. Diese Spannung wird als typischer Ausfluss des staatlichen Gewährleistungsrechts angesehen, da einerseits eine Orientierung hin zum privatrechtlichen Denken erfolgt, andererseits öffentliche Interessen weiterhin durchgesetzt werden sollen.192 Der Gesetzgeber beschränkt sich heute bei der Regulierung im engeren Sinne auf ökonomische Faktoren, um Marktprozesse und -ergebnisse in solchen Märkten zu steuern, die ihre wettbewerblichen Strukturen noch ausbilden. Weitergehende Voraussetzungen für das Funktionieren von Märkten werden darüber vernachlässigt. Die Regulierungstheorie rechtfertigt die Eingriffe mit Hinweis auf die natürlichen Monopole in der Netzwirtschaft, dadurch entstehende bottlenecks, also Zugangsschranken, und das daraus folgende Marktversagen.193 Das grundsätzliche Ob einer Regulierung war Gegenstand eines Rechtsstreits zwischen Deutschland und der Europäischen Kommission, den der

191

Vgl. Kühling, Sektorspezifische Regulierung in den Netzwirtschaften, 2004, S. 16 f. Vgl. Lepsius in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 4 Rn. 2 ff.; Gersdorf, JZ 2008, 831, 836; Schebstadt, WuW 2005, 6, 8. 193 Vgl. Knieps in: Berg, Deregulierung und Privatisierung, 2002, S. 59 ff.; Basedow in: FS Immenga, 2004, S. 3, 7 ff. 192

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

EuGH entschied.194 Deutschland hatte im 2006 verabschiedeten § 9a TKG versucht, eine Regelung zur „Vorabregulierung“ neuer Telekommunikationsmärkte zu implementieren, die den Einschätzungsspielraum der Bundesnetzagentur eingeschränkt und zur Ausnahme bestimmter Märkte von der Regulierung geführt hätte. Hintergrund war der Ausbau des HochgeschwindigkeitsGlasfasernetzes (VDSL) durch die Deutsche Telekom AG. Deren Investitionen in Höhe von etwa 3 Milliarden Euro wären durch „Regulierungsferien“ einfacher zu amortisieren gewesen als in einem regulierten Markt, auf dem dank der Regulierung auch Wettbewerber auf das leistungsstarke Netz hätten zugreifen können. Es stellte sich die Frage, ob solche neuen Telekommunikationsmärkte von Anfang an reguliert werden müssen. Rechtlich entzündete sich der Streit an der Frage, welche Kriterien dazu von wem zu prüfen sind und welche Vorgaben der nationalen Regulierungsbehörde für die Marktabgrenzung gemacht werden. Der deutsche Gesetzgeber hatte in § 9a TKG der Bundesnetzagentur vorgeschrieben, eine Regulierung sei nur bei langfristigen Behinderungen eines nachhaltig wettbewerbsorientierten Marktes vorzunehmen. Insbesondere sei der Schutz von Infrastrukturinvestitionen und Innovationen zu berücksichtigen. Nach den europäischen Richtlinien sollte hingegen eine Regulierung erfolgen, wenn kein wirksamer Wettbewerb herrscht. Eine Prioritätensetzung durch den Gesetzgeber bei den Zielen der Regulierung ist im europäischen Recht nicht vorgesehen. Die deutsche Lösung hätte die Bundesnetzagentur gebunden und eine Vorabregulierung des VDSLMarktes unwahrscheinlich gemacht, da eine solche den Investor durch wettbewerbsfreundliche Auflagen bei der Amortisation seiner Investitionen belastet hätte. Kritiker sprachen von einer „Lex Telekom“. Sowohl im europäischen Recht als auch im deutschen Recht gibt es mehrere Bestimmungen, die die Ziele der Regulierung umreißen und dabei einen Katalog von Verbraucherinteressen über Wettbewerb bis zu Interessen der öffentlichen Sicherheit vorgeben (vgl. Art. 8 Rahmenrichtlinie (2002/21/EG) sowie § 2 TKG). Die Europäische Kommission sah in der deutschen Regelung einen Verstoß gegen die Zugangsrichtlinie (2002/19/EG), die Rahmenrichtlinie (2002/21/ EG) und die Universaldienstrichtlinie (2002/22/EG), drei Rechtsvorschriften, die den wettbewerblichen Rahmen in der Telekommunikationsbranche abstecken. Der EuGH gab der Kommission im Vertragsverletzungsverfahren Recht und stellte auf das weitreichende Ermessen der nationalen Regulierungsbehörden ab, das diesen in den Richtlinien eingeräumt werde.195 194

EuGH, 3.12.2009, Rs. C-424/07, Slg. 2009, I-11431 = K&R 2010, 30 ff. = EuZW 2010,

109 ff. 195 EuGH, 3.12.2009, Rs. C-424/07, Slg. 2009, I-11431 = K&R 2010, 30 ff. = EuZW 2010, 109 ff. Vgl. ähnlich die Bitstrom-Entscheidung des BVerwG, 28.1.2009, Az. 6 C 39/07, MMR 2009, 786, in der das BVerwG die grundsätzliche Regulierungsbedürftigkeit des BitstromMarktes prüfte, aber eine nachträgliche Entgeltregulierung statt einer Vorab-Genehmigung für möglicherweise ausreichend hielt.

C. Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung

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Das Urteil des EuGH ist aus drei Gründen interessant: Erstens gewichtet der Gerichtshof das Ermessen der Fachbehörde höher als den politischen Wunsch des demokratisch legitimierten Gesetzgebers in einer wesentlichen Frage der Wirtschaftsordnung.196 Regulierung dient also der Tendenz im neueren Verwaltungsrecht, Entscheidungen auf Fachbehörden zu verlagern. Hinzu kommt in diesem Fall die europäische Dimension: Antrieb der Europäischen Kommission in diesem Fall war auch, dass die nationalen Regulierungsbehörden sich bei ihrem Vorgehen zur Marktdefinition an den Empfehlungen der Kommission ausrichten (vgl. Art. 15 Abs. 3 Rahmenrichtlinie 2002/21/EG). Die Wirtschaftsordnung ist heute eine europäische und wird massiv von der wirtschaftspolitischen Vorgaben der Kommission geprägt, die wiederum interventionsfreundlicher scheinen. Zweitens schärft das Urteil den Blick für die Ziele der Regulierung. Regulierungsrecht in seiner Brückenfunktion zwischen öffentlich-rechtlicher Eingriffsverwaltung und zivilrechtlicher Selbststeuerung des Marktes verlangt eine weitergehende Rücksichtnahme auf öffentliche Interessen als das Zivilrecht. Allerdings ist der Kanon der Ziele im Regulierungsrecht umfassend, sodass auch ein eindeutiges öffentliches Interesse nicht mehr identifiziert werden kann. Während im klassischen Wirtschaftsordnungsrecht das Gemeinwohlinteresse relativ eindeutig zu bestimmen war, ist nun eine Pluralität von Interessen zu berücksichtigen. Das aber stärkt automatisch die Rolle der im Bereich der Wirtschaftsordnung tätigen Instanzen, etwa der Bundesnetzagentur oder auch der Gerichte. Drittens zeigen Kommission und EuGH den Glauben an die Steuerbarkeit von Marktentwicklungen durch hoheitliche Vorgaben. Der Fall wies insofern gleich zwei Merkmale auf, die zur Demut gemahnt hätten: die Dynamik des Telekommunikationssektors und den Zeitpunkt ex ante. Dass die europäischen Institutionen eine Vorabregulierung hier für möglich halten und dafür die Entfaltung der Marktkräfte einschränken, zeugt von einem ausgeprägten Vertrauen in die Möglichkeiten des Marktdesigns. Das Bundesverwaltungsgericht hatte in einem ähnlichen Fall zur Bitstrom-Regulierung von einem „fiktiven Markt“ gesprochen, den die Regulierungsbehörde vorab prüfen könne, auch wenn es noch kein Marktgeschehen gebe.197 Verhältnisse in der Wirtschaft werden also nicht mehr durch das Entdeckungsverfahren Wettbewerb ermittelt, sondern durch Richter fingiert. Auch wenn die privatrechtliche Koordination eines der Ziele der Regulierungsbemühungen ist, so könnte sich doch der Ansatz von europäischer Regulierungspolitik und privatrechtlicher Marktkoordination nicht stärker unterscheiden. Eine Ironie des Falles bleibt, dass trotz der klaren Entscheidung des 196 Kritisch Gärditz, Anm., JZ 2010, 198 ff.; Attendorn, MMR 2009, 238 f. Vgl. Lüdemann in: Lüdemann, Telekommunikation, Energie, Eisenbahn, 2008, S. 69, 73 ff. 197 Vgl. BVerwG, 28.1.2009, Az. 6 C 39/07, MMR 2009, 786, 1. Leitsatz.

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

EuGH die Regulierung des Marktes aufgrund der Dauer des Rechtsstreits faktisch unterblieben ist.198

2. Instrumente und Institutionen des Regulierungsrechts In den Netzwirtschaften stellen sich bei der Regulierung ähnlich gelagerte Probleme: Differenziert wird zwischen dem Dienste-Wettbewerb, also dem Wettbewerb um Dienstleistungen gegenüber dem Kunden, und dem Infrastruktur-Wettbewerb, der das Netz betrifft.199 Typische Problemfelder der Regulierung sind der Zugang zur Infrastruktur, die für die Bereitstellung von Vorleistungen verlangten Entgelte, die Universaldienstverpflichtung sowie Nebenaspekte, die über den wettbewerblichen Erfolg der Marktteilnehmer entscheiden können, etwa Regeln zum Vergaberecht oder zu den sonstigen Konditionen.200 Die Regulierungsbehörde hat dafür entsprechende Instrumente zur Verfügung, sie kann durch Verwaltungsakte Zugangsregeln und Universaldienst-Verpflichtungen durchsetzen, Entgelte kontrollieren oder branchenspezifische sonstige Maßnahmen ergreifen (etwa zur vertikalen Entflechtung in der Energiewirtschaft).201 Die Ausübung dieser Befugnisse obliegt in Deutschland der Bundesnetzagentur, die – wie im EuGH-Urteil gesehen – mit weitreichendem Ermessen ausgestattet ist. Die Fachbehörde rückt an die Stelle detaillierter Einzelregulierung durch den Gesetz- oder Verordnungsgeber.202 Gleichzeitig rückt die Behörde auch an die Stelle der Gerichte, die sonst über Konflikte entscheiden würden. Schorkopf weist darauf hin, dass die Unzufriedenheit mit der Rechtsprechung überhaupt erst zur Entwicklung eines Regulierungsrechts in den USA führte.203 Die unabhängigen Gerichte wurden damit durch eine rechtlich stärker gebundene und ökonomisch geschulte Behörde ersetzt. So nimmt auch institutionell die Regulierungsbehörde eine Zwischenstellung zwischen planmäßiger Gesetzgebung durch die Parlamente einerseits und fallweiser Entscheidung durch eine Vielzahl von Gerichten andererseits ein. Dies zeigt sich an der Verfahrensweise der Bundesnetzagentur in verschiedenen Aspekten: So entscheiden in der BNetzA zwar einerseits Beschlusskammern, die in ihrem Zuschnitt an die Kammern der Justiz erinnern. Andererseits sind die Beschlusskammern auch mit Ökonomen besetzt und entscheiden zum Teil ex ante. Die Perspektive richtet sich nicht, wie bei Gericht, auf einen konkreten Fall, sondern eher wie beim Gesetzgeber auf eine gesamte Branche. 198

Vgl. Ufer, K&R 2010, 100, 103. Vgl. Kruse, MMR 2002, XXVIII; umfassend Kühling, Sektorspezifische Regulierung in den Netzwirtschaften, 2004, S. 65 ff. 200 Vgl. Ruffert in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 7 Rn. 49–51 (S. 355 f.); Berringer, Regulierung, 2004, S. 121 ff. 201 Vgl. Kühling, Sektorspezifische Regulierung in den Netzwirtschaften, 2004, S. 164 ff. 202 Vgl. Lepsius in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 4 Rn. 9 ff. 203 Schorkopf, JZ 2008, 20, 23. Vgl. Attendorn, MMR 2009, 238, 239. 199

C. Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung

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3. Finalität der Regulierung Regulierungsrecht verfolgt dem Konzept nach eine doppelte Finalität: Zum einen ist es ausgerichtet auf die materielle Zielerreichung auf den Märkten gemäß den Zielbestimmungen der Regulierungsgesetze. Zum anderen ist es von der ursprünglichen Konzeption her darauf ausgerichtet, die regulierte Sachmaterie derart wettbewerblich zu festigen, dass eine komplette Überführung in das allgemeine Wirtschaftsrecht möglich ist. Die beiden Ziele stehen in einem Spannungsverhältnis: Gezieltes „Marktdesign“ verlangt viele Regeln und intensive Eingriffe.204 Freier Wettbewerb verlangt das Gegenteil. Die Ausrichtung auf ein Marktdesign ergibt sich schon aus den Zielbestimmungen der Regulierungsgesetze.205 Nicht mehr die klassisch öffentlich-rechtliche Abwehr von Gefahren, sondern die moderne Steuerung auf ein positives Ergebnis hin ist das anspruchsvolle Ziel der Regulierung.206 Die Regulierungstheorien der Ökonomik bieten dafür das Fundament.207 Dabei ist dieser Weg nicht unumstritten. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass ökonomische Ergebnissteuerung nicht funktionieren kann und der Gesetzgeber besser beraten wäre, imperfekte Ergebnisse hinzunehmen und auf die Kraft der Märkte und die schöpferische Zerstörung im Sinne von Joseph Schumpeter zu vertrauen.208 Diese Diskussion soll hier nicht vertieft werden.209 Festzuhalten ist aber, dass die ökonomische Auswirkungsorientierung, die Vorgabe von price oder revenue caps oder die genaue Vorgabe der Auftragserfüllung bei Universaldienstverpflichtung dem Prinzip der freien Entdeckung im Markt zuwider läuft. Gesetzgeber und Regulierungsbehörde maßen sich hier Wissen an, das an eine planvolle Steuerung wirtschaftlicher Abläufe denken lässt. Das zweite Ziel der Regulierung ist die schrittweise Überführung der Sachmaterie in das allgemeine Zivil- und Wirtschaftsrecht.210 Hier liegt die Schnittstelle in der Wende zum Privatrecht: Regulierungsrecht setzt Meilensteine auf 204

Vgl. Schuck in: Landy/Levin/Shapiro, Creating Competitive Markets, 2007, S. 347. Vgl. Schorkopf, JZ 2008, 20, 21. 206 Berringer, Regulierung, 2004, S. 108. 207 Vgl. Leschke in: Fehling/Ruffert Regulierungsrecht, 2010, S. 281; Höffler in: Lüdemann, Telekommunikation, Energie, Eisenbahn, 2008, S. 3 ff.; Sherman, Market Regulation, 2008, S. 352 ff. 208 Vgl. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 2005, S. 138; Landy/Levin in: Landy/Levin/Shapiro, Creating Competitive Markets, 2007, S. 1, 3; Bardach in: Landy/Levin/Shapiro, Creating Competitive Markets, 2007, S. 331, 336 ff. Monopolkommission, Telekommunikation 2009, 2009, S. 82 ff. (für den Bereich der Mobilfunk-Regulierung in Europa). 209 Sie wird geführt bei Schlepütz, Sektorspezifische Regulierung, 2006. 210 Dass dies immer noch Ziel der Wirtschaftspolitik ist, betonte etwa der zuständige Staatssekretär bei seiner Rede auf der Internationalen Kartellkonferenz in Hamburg 2009, siehe Othremba, Der schmale Grat zwischen Regulierung und Kartellrecht, 2009. Vgl. Kirchner, WuW 2007, 327; Lange/Pries, Kartellrecht, 2011, Rn. 440 f.; Lüdemann in: Lüdemann, Telekommunikation, Energie, Eisenbahn, 2008, S. 69, 95; krit. Klotz, MMR 2008, 709 f. 205

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

dem Weg zu einer privatrechtlich verfassten Wirtschaftsordnung. Die Regulierungsbehörde müsste sich selbst überflüssig machen, was institutionell eine spannende Perspektive ist. Entsprechende Bestrebungen dieser Behörde sind in der Praxis nach mehr als zehn Jahren Regulierung nicht feststellbar, und als organisationspsychologisches Paradoxon kaum zu erwarten. Damit bleibt aber ein Träger der Wirtschaftsordnung einflussreich, der geradezu das Gegenmodell zum Leitbild der Privatrechtsgesellschaft institutionalisiert. Möglicherweise zeichnet sich ab, dass das Finalitätsversprechen der Aufhebung von Regulierung nicht erreicht wird und stattdessen ein „neuer regulatorischer Mix“ erhalten bleibt.211 Grundsätzlich sollen Aufgaben der Wirtschaftsordnung für die betroffenen Branchen, wie für alle anderen Branchen auch, von den Kartellbehörden und privaten Klägern vor Zivilgerichten wahrgenommen werden. Das Kartellrecht stellt mit den Bestimmungen gegen den Missbrauch von Marktmacht (Art. 102 AEUV, § 19 GWB) Möglichkeiten zur Verfügung, die der Regulierung ähneln. So wurden vor der Schaffung eines spezifischen Regulierungsrechts Fragen über den Zugang zu Netzen oder die Entgelthöhe kartellrechtlich entschieden. Zwischen Kartell- und Regulierungsrecht gibt es aber – zumindest in der ursprünglichen Gestaltung – fundamentale Unterschiede, welche die Trennung von Zivilrecht und öffentlichem Recht spiegeln: Kartellrechtliche Missbrauchs-Entscheidungen sind grundsätzlich Einzelfallentscheidungen, die ex post getroffen werden, um ein bestimmtes Verhalten zu beurteilen (auch wenn sie eine Ausstrahlungswirkung in die Zukunft entfalten). Anders als im Regulierungsrecht wird nicht mit Blick auf ein Marktdesign und ex ante entschieden.212 Institutionell sind im Kartellrecht auch private Kläger und damit Zivilgerichte befasst. Insgesamt zielt das Kartellrecht darauf ab, dass eine Lösung von den Parteien selbst, im Markt, gefunden wird. Abgesichert wird nur der Prozess, um eine solche Lösung zu finden. Das Regulierungsrecht hingegen zielt direkt auf Marktergebnisse ab. Wann und unter welchen Bedingungen eine Sachmaterie vom Regulierungsrecht ins allgemeine Zivil- und Wirtschaftsrecht entlassen werden kann, ist ökonomisch umstritten.213 Schon das aktuelle Parallel-Verhältnis von Regulierungsrecht einerseits und Kartellrecht andererseits ist nicht immer eindeutig.214 Für den Gang der Untersuchung sind zwei Punkte wesentlich: Erstens ist aus legislatorischer Perspektive darauf hinzuwirken, dass die Marktordnungsfunktion des Regulierungsrechts immer weiter dem Primat der Privatautono211

Vgl. Basedow in: FS Immenga, 2004, S. 3, 15. Vgl. aber Podszun, ZWeR 2012, 48 ff. 213 Vgl. Klotz, MMR 2008, 709 f.; Kirchner, WuW 2007, 327; Bardach in: Landy/Levin/Shapiro, Creating Competitive Markets, 2007, S. 336 ff. 214 Vgl. Wagemann in: Lüdemann, Telekommunikation, Energie, Eisenbahn, 2008, S. 53 ff.; aus ökonomischer Sicht Duijm in: Berg, Wettbewerbssicherung nach Deregulierung und Privatisierung, 2002, S. 9 ff. 212

D. Flexibilisierung des Verwaltungshandelns

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mie folgt. Zweitens ist aus Perspektive des Wissenschaftlers zu berücksichtigen, dass die Sachmaterien in post-deregulativen Konflikte häufig den Zwischenschritt über das Regulierungsrecht genommen haben, das mit seiner Auswirkungsorientierung dem zivilrechtlichen Denken noch ferner steht als das klassische öffentlich-rechtliche Gefahrenabwehrrecht.

D. Flexibilisierung des Verwaltungshandelns Neben der Deregulierung ist die Flexibilisierung des Verwaltungshandelns die zweite wichtige Ausprägung der Wende zum Privatrecht. Während die Exekutive früher ihre Regelungsvorstellungen mit Hilfe von Verwaltungsakten, also hoheitlichen, ggf. sanktionsbewehrten Maßnahmen durchsetzte, bedient sich die Verwaltung heute immer häufiger flexibler Instrumente, die kooperative und informelle Elemente integrieren. Teilweise wird mit Gesprächen oder soft law versucht, Aufgaben zu erfüllen, teilweise begibt sich die Verwaltung auf die Stufe der Gleichordnung und schließt privatrechtliche Verträge. Das bedeutsamste Beispiel sind Public Private Partnerships. Bei diesen Partnerschaften (!) handelt es sich häufig nicht um öffentlich-rechtliche Verträge im Sinne der §§ 54 ff. VwVfG, sondern um zivilrechtlich ausgestaltete Verträge.215 Als beispielhaft für diese Konstellation kann die Übertragung der AutobahnMauterhebung an das private Konsortium „Toll Collect“ angesehen werden.

I. Handeln der Verwaltung in Privatrechtsform Der Verwaltung wird grundsätzlich Wahlfreiheit eingeräumt, in welcher Form sie ihre Aufgaben erledigt. Sie kann verschiedene Instrumente nutzen, um die ihr zugewiesenen öffentlichen Aufgaben zu erfüllen. In Frage kommen zunächst klassische verwaltungsrechtliche Instrumente, etwa der Verwaltungsakt, der öffentlich-rechtliche Vertrag, Rechtsverordnungen, Satzungen oder Verwaltungsvorschriften. Darüber hinaus kann die Verwaltung Instrumente des Privatrechts nutzen. Hier bietet sich zum einen der privatrechtliche Vertrag an, zum anderen die Nutzung privatrechtlicher Organisationsformen, etwa des Gesellschaftsrechts. Die Rechtswissenschaft tut sich mit der Einordnung des Handelns der Verwaltung in Privatrechtsform schwer. Heute jedoch kann – auch angesichts der praktischen Bedeutung – nicht mehr bestritten werden, dass die Verwaltung sich grundsätzlich solcher Möglichkeiten bedienen kann. Verschiedene Erscheinungsformen des privatrechtlichen Handelns der Behörden können unterschieden werden.

215

Vgl. Bonk in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 2008, § 54 Rn. 78.

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

Bei der Beleihung wird ein Privater durch Gesetz mit der Befugnis ausgestattet, eine öffentliche Aufgabe im eigenen Namen wahrzunehmen.216 Der Private wird also wie eine Behörde gestellt. Klassische Beispiele sind die Befugnisse von Notaren, Technischen Überwachungsvereinen217 oder Bezirksschornsteinfegern. Die Bindung an das öffentliche Recht ist offensichtlich, auch wenn der Private weiterhin primär aus Eigeninteresse (am Profit) handelt. Auch die Übertragung des Maßregelvollzugs in Hessen war als Beleihung konstruiert worden. Bei der Verwaltungshilfe erbringen Private einzelne Teilleistungen, die zu einer öffentlichen Aufgabe gehören.218 Sie sind dabei aber nicht beliehen, das heißt, dass sie keine öffentliche Aufgabe wahrnehmen. Vielmehr erhalten sie einen Auftrag von der Verwaltung und sind nur im Rechtsverhältnis zu dieser tätig. Dieses Rechtsverhältnis ist grundsätzlich privater Natur, während das Verhältnis der Behörde zum Dritten grundsätzlich öffentlich-rechtlich bleibt.219 Die Abgrenzung zwischen dem Verwaltungshelfer und einem selbständig handelnden Privaten wird nach dem Bezug zur hoheitlichen Aufgabe und den Entscheidungskompetenzen vorgenommen.220 Beispiele der Verwaltungshilfe sind Abschleppdienste oder die private Bewachung von Bahnhöfen. Die Indienstnahme Privater bezeichnet ein privates Handeln im öffentlichen Interesse, das als „Bürgerpflicht“ ausgestaltet ist.221 Die öffentliche Verwaltung bindet Private aus Gründen der Sachnähe oder Praktikabilität ein. Beispiel ist die Einbehaltung der Lohnsteuer durch den Arbeitgeber. Behörden können sich auch privatrechtlicher Organisationsformen bedienen, um ihre Verwaltung effizient zu gestalten.222 So ist es üblich, dass Verwaltungen ihre Aufgabenerfüllung auf Aktiengesellschaften, GmbHs, Stiftungen oder Vereine verlagern, die organisationsrechtlich den Regeln des Privatrechts unterworfen sind, aber inhaltlich öffentlich-rechtlich gebunden sind. Klassisch privatrechtlich ist das staatliche Beschaffungswesen, bei dem die Verwaltung zu fiskalischen Zwecken handelt und dafür privatrechtliche Verträge abschließt.223 Hier tritt die Verwaltung wie ein Privater am Markt auf.

216 Vgl. Stober, NJW 2008, 2301, 2306; Sodan in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2010, § 40 Rn. 359 ff. (mit zahlreichen Beispielen); Lämmerzahl, Beteiligung Privater, 2007, S. 183 ff.; Rennert, JZ 2009, 976 ff. (mit Fokus auf die Rechtsetzungsbefugnis des Privaten). 217 Dazu BGH, 30.11.1967, Az. VII ZR 34/65, BGHZ 49, 108 (Rn. 14) = NJW 1968, 443. 218 Stober, NJW 2008, 2301, 2306; Sodan in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2010, § 40 Rn. 365 ff.; Lämmerzahl, Beteiligung Privater, 2007, S. 190 ff. 219 Sodan in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2010, § 40 Rn. 365 ff. 220 BGH, 21.1.1993, Az. III ZR 189/91, BGHZ 121, 161 = NJW 1993, 1258. 221 Sodan in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2010, § 40 Rn. 364; Lämmerzahl, Beteiligung Privater, 2007, S. 197 f.; vgl. Kube, JZ 2010, 265 ff. 222 Vgl. Stober, NJW 2008, 2301, 2307; Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1986, § 12 Rn. 8. 223 Vgl. Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1986, § 12 Rn. 9.

D. Flexibilisierung des Verwaltungshandelns

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Für solche wirtschaftlichen Aktivitäten der Verwaltung ist die Nutzung des Privatrechts sogar verpflichtend.224 Als neuartige Form der Einbindung Privater in die Wirtschaftsverwaltung gelten die Akkreditierung und Zertifizierung durch Private, die staatliche Zulassungen ersetzt.225 Zur Übertragung öffentlich-rechtlicher Befugnisse kommt es nicht, daher liegt kein Fall der Beleihung vor, die Wirkungen sind aber ähnlich, da den privat erstellten Akkreditierungen und Zertifikaten hoher Wert zugemessen wird. Hier zeichnet sich besonders deutlich die Wende zum Privatrecht ab: auf eine öffentlich-rechtliche Ausgestaltung wird zugunsten einer privatrechtlichen (zudem mit Gewinnerzielungsabsichten verknüpften) Wahrnehmung einer entsprechenden Tätigkeit verzichtet. Hinzuweisen ist auf die informelle Kooperation der Verwaltung mit Privaten, etwa in Gesprächskreisen oder vorbereitenden Kontakten.226 Sie entzieht sich ihrer Natur nach einer normativen Durchdringung.

II. Insbesondere: Public Private Partnerships Während die bislang aufgeführten Elemente, abgesehen von der Akkreditierung, seit langem eingeführt sind und keine neue Dimension der Wirtschaftsordnung eröffnen, gilt für Public Private Partnerships (PPP) etwas anderes. Die schiere Zahl dieser Kooperationen und das mit PPP verbundene Selbstverständnis der Beteiligten machen eine Neubewertung der staatlichen Einflussnahme auf das Leitbild der Wirtschaftsordnung erforderlich – selbst wenn es PPP-artige Modelle schon früher gab227.

1. Definition Als PPP wird das längerfristig angelegte, partnerschaftliche Zusammenwirken, also die Kooperation, von Behörden mit privaten Unternehmen verstanden.228 Diese äußerst weite Definition lässt erahnen, dass es verschiedene Typen von PPP gibt. Schon darin liegt eine Neuerung: Während das klassische Verwaltungsrecht die Handlungsformen relativ eindeutig umreißt und als Befugnisse ausgestaltet, regiert bei PPP die Typenfreiheit des Schuldrechts und damit das Entdeckungsverfahren des Rechts-Marktes. Es lassen sich jedoch weitere Elemente zur Charakterisierung von PPP identifizieren: Negativ sind PPP abzugrenzen von dem Fall, dass ein Rechtsunterworfener mit einer Be224

Vgl. Rhinow in: FG Schweizerischer Juristentag, 1985, S. 295, 297 f. Vgl. Stober, NJW 2008, 2301, 2307. 226 Vgl. Becker, ZRP 2002, 303, 305. 227 Vgl. den historischen Überblick bei Lämmerzahl, Beteiligung Privater, 2007, S. 63 ff. 228 Vgl. Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 57 f.; Bausback, DÖV 2006, 901, 902; Kiethe, NZG 2006, 45 f.; Budäus in: Budäus, Kooperationsformen zwischen Staat und Markt, 2006, S. 11 ff. 225

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

hörde kooperiert, um beim Gesetzesvollzug durch diese gravierendere Sanktionen abzuwenden.229 Ein Beispiel dafür wären Settlement-Vereinbarungen mit Aufsichtsbehörden. Positiv wird hervorgehoben, dass es bei PPP häufig um die Durchführung von Projekten, insbesondere Infrastrukturmaßnahmen geht. Die Europäische Kommission definierte PPP in ihrem Grünbuch zu der Thematik 2004 wie folgt: „Der Terminus bezieht sich im Allgemeinen auf Formen der Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Stellen und Privatunternehmen zwecks Finanzierung, Bau, Renovierung, Betrieb oder Unterhalt einer Infrastruktur oder die Bereitstellung einer Dienstleistung.“230

Die Gesetzesbegründung zum deutschen ÖPP-Beschleunigungsgesetz umreißt das Phänomen PPP so: „Mit Öffentlich Privaten Partnerschaften wird eine dauerhafte, in beiderseitigem Vorteil liegende, dem Gemeinwohl dienende Kooperation zwischen öffentlichen Händen und Privatwirtschaft angestrebt. (…) ÖPP heißt Kooperation von öffentlicher Hand und privater Wirtschaft beim Entwerfen, bei der Planung, Erstellung, Finanzierung, dem Management, dem Betreiben und dem Verwerten von bislang in staatlicher Verantwortung erbrachten öffentlichen Leistungen.“231

Es besteht also ein enger Zusammenhang zu Beschaffungsmaßnahmen der Verwaltung. Dass es sich aber bei PPP lediglich um ein „alternatives Beschaffungskonstrukt“232 für die Verwaltung handle, greift zu kurz. Das Anwendungsfeld ist weiter. Differenziert werden zwei Typen von PPP, solche auf Vertragsbasis und institutionalisierte PPP.233 PPP auf Vertragsbasis sind Partnerschaften, die lediglich auf einer vertraglichen Beziehung zwischen öffentlicher Stelle und Unternehmen beruhen. Unterschieden wird dabei nach Konzessionsmodellen und Betreibermodellen. Beim Konzessionsmodell erbringt der Private eine Leistung im Rahmen einer öffentlichen Aufgabe und wird finanziert durch die Gebühren der Nutzer 229

Becker, ZRP 2002, 303, 305. KOM, Grünbuch zu öffentlich-privaten Partnerschaften, Mitteilung vom 30.4.2004, KOM(2004), 327 endg., S. 3. Vgl. auch das Nachfolgedokument vom 15.11.2005, KOM(2005), 569 endg., in dem die KOM von Regelungen zu PPP, die noch im Grünbuch erwogen worden waren, weitgehend Abstand nimmt. 231 Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen vom 14.6.2005, BTDrucks. 15/5668, S. 10. 232 Stober, NJW 2008, 2301, 2307. 233 Hierzu und zum Folgenden siehe KOM, Grünbuch zu öffentlich-privaten Partnerschaften, Mitteilung vom 30.4.2004, KOM(2004), 327. Zu den im Folgenden diskutierten PPP-Modellen vgl. Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – DJT-Gutachten, 2008, S. D33 ff.; Gersdorf, JZ 2008, 833; Lämmerzahl, Beteiligung Privater, 2007, S. 190 ff.; Schwintowski/Ortlieb in: Budäus, Kooperationsformen zwischen Staat und Markt, 2006, S. 189, 198 ff. 230

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sowie ggf. Zuschüsse der öffentlichen Hand. Beispiele sind etwa das Parkhaus der Universitätsklinik Düsseldorf oder die Sanierung der Bäder der Stadt Fürth, die durch Entgelt refinanziert werden. Das 2005 vereinbarte Fürther Projekt beispielsweise hat eine Vertragslaufzeit von 30 Jahren, in denen das private Unternehmen die Konzession zum Betrieb der Schwimmbäder erhält. Jährlich soll es dafür einen Zuschuss der Stadt in Höhe von 1,8 Mio. Euro erhalten, die Investitionssumme wird auf 28 Mio. Euro veranschlagt.234 Beim Betreibermodell betreibt der Private für die öffentliche Hand eine Anlage. Die Nutzungsgebühren erhält der Staat, der wiederum den Privaten bezahlt. Dieses Modell ist etwa bei der Mauterhebung auf Autobahnen verwirklicht worden. Weitere Kategorisierungen unterscheiden verschiedene Vertragsmodelle (Erwerber-, Inhaber-, Leasing- oder Mietmodell). Dabei wird geprüft, wie die Eigentumsverhältnisse an dem entstehenden Objekt sind. So handelt es sich etwa beim Neu- und Umbau der Fürst-Wrede-Kaserne der Bundeswehr in München um ein PPP-Inhabermodell235: Das private Unternehmen übernimmt Planung, Bau, Finanzierung und Betrieb der Gebäude,236 die von der öffentlichen Hand genutzt werden und in ihrem Eigentum stehen. Dafür erhält der Private regelmäßige Zahlungen. Beim Bau des Alten- und Pflegeheims „Bürgerheim Kumpfmühl“ in Regensburg hingegen handelt es sich um ein Mietmodell: Hier plant und errichtet der private Unternehmer ein Altenheim, finanziert den Bau und kümmert sich um den Gebäudebetrieb. Dafür erhält er während der Vertragslaufzeit „Mietzahlungen“ für Gebrauchsüberlassung und Facility Management von der Stadt Regensburg. Bei einer institutionalisierten PPP, auch PPP-Gesellschaftsmodell oder GModell genannt, schaffen öffentliche Hand und privates Unternehmen ein gemeinsames Wirtschaftssubjekt (Special Purpose Vehicle), das die Leistung erbringt.237 Die Parteien sind also gesellschaftsrechtlich miteinander verbunden. So wurde etwa in einer der größten deutschen PPP, bei Sanierung, Finanzierung und Betrieb von 282 Schulgebäuden im Kreis Offenbach, eine Projektgesellschaft zwischen dem Unternehmen Hochtief und dem Landkreis Offenbach gegründet.238 Das Projekt hat ein Volumen von 410 Mio. Euro und läuft über 15 Jahre. Entsprechende Vertragsdokumente für solche langfristigen zi-

234 Angaben aus der PPP-Projektdatenbank, www.ppp-projektdatenbank.de, abgerufen am 11.4.2012. 235 Vgl. den Erfahrungsbericht von Leckel in: Immenga/Lübben/Schwintowski, PPP, 2007, S. 122 ff. 236 In der Fachterminologie wird von Design-Build-Finance-Operate (DBFO) gesprochen, vgl. Kulle, ZfBR 2003, 129. 237 Dazu Kiethe, NZG, 2006, 45, 46. 238 Angaben aus der PPP-Projektdatenbank, www.ppp-projektdatenbank.de sowie von der Homepage www.hochtief-schulpartner.de, beide abgerufen am 11.4.2012.

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vilrechtlichen Verträge umfassen zuweilen über 1000 Seiten239, sie enthalten eine Vielzahl komplexer Regelungen, die einerseits dem Zivilrecht entstammen, aber seitens der Verwaltung das Gemeinwohl wahren müssen. Die Bedeutung von PPP ist insbesondere im Bereich größerer Investitionen nicht zu unterschätzen, auch wenn Deutschland im internationalen Vergleich mit solchen Kooperationen zurückhaltend ist.240 Der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière bezifferte 2009 den Anteil von PPP bei öffentlichen Investitionen auf ca. 5 Prozent und nannte als Ziel der Bundesregierung einen PPP-Anteil an öffentlichen Investitionen von 15 Prozent.241 Die PPPProjektdatenbank des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung listet aktuell in einer nicht abschließenden Aufstellung 236 Projekte auf.242 Kennzeichen der modernen Kooperationsformen ist, dass die Aufgabe weiterhin der staatlichen Stelle verbleibt, der Private aber in ihre Erfüllung massiv eingebunden wird. Hier stellt sich die Frage, welches Rechtsregime darauf Anwendung findet. Nur wenn sich in diesen Konstellationen das Privatrecht durchsetzt, ist es auch legitim, von einer Wende zum Privatrecht in der Wirtschaftsordnung zu sprechen. Das Problem der Einordnung entfaltet praktische Relevanz: Zum Ersten ist bei Rechtsstreitigkeiten zu prüfen, welche Gerichtsbarkeit zuständig ist. Zum Zweiten lässt sich fragen, welche Verfahrensbindungen bestehen, ob also etwa Anforderungen des VwVfG berücksichtigt werden müssen. Zum Dritten ist für die Auslegung und Bewertung von Rechtsstreitigkeiten auch fraglich, ob das zivilrechtliche Leitbild als Maßstab heranzuziehen ist.

2. Grundkonflikt Die Konfliktlinien zwischen dem Öffentlichen Recht und dem Privatrecht entstehen durch die divergierenden Interessen der Parteien. Während die öffentliche Verwaltung grundsätzlich die Interessen des Gemeinwohls verfolgen muss, handeln Private aus unternehmerischem Antrieb.243 Es wäre verfehlt, von Privaten die Änderung dieser Grundeinstellung zu erwarten. Der Beitrag zur öffentlichen Aufgabe ist für sie nur Mittel zur Realisierung ihres – legitimen – Geschäftszwecks. Die Verwaltung muss beim Versuch der Einbindung Privater in ihr Aufgabenerfüllungskonzept diese Einstellung respektieren. 239 Vgl. Kulle, ZfBR 2003, 129 f. (auch zum Ablauf einer PPP in der Praxis); typisierte Klauseln bei Horn/Peters, BB 2005, 2421 ff. 240 So Kulle, ZfBR 2003, 129 f. Empirische Daten zur PPP siehe Grabow/Schneider in: Baumgärtner/Eßer/Scharping, Public Private Partnership, 2009, S. 224 ff.; Lämmerzahl, Beteiligung Privater, 2007, S. 70 ff. 241 Vgl. Stamm, JZ 2009, 784, 785. 242 www.ppp-projektdatenbank.de, abgerufen 11.4.2012. 243 Becker, ZRP 2002, 303, 306 f.; Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 58.

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So wie die Interessen nur in einem eingeschränkten Verhandlungskorridor kongruent gemacht werden können, prallen auch rechtliche Elemente aufeinander. Ein Beispiel aus der Praxis ist die Anwendung von öffentlich-rechtlichem Gebührenrecht auf privatrechtlich betriebene Anlagen244: Soll sich etwa der Bau einer Anlage refinanzieren über eine Benutzungsgebühr, so wird deren Höhe teilweise öffentlich-rechtlich in einer Gebührensatzung festgelegt. Diese ist mit einem verwaltungsgerichtlichen Anfechtungsrisiko behaftet, was die unternehmerische Planungssicherheit beeinträchtigt. Vor allem aber kann der Unternehmer die Gebührenhöhe nicht an der Nachfrage ausrichten oder sonstige Preis-Anreize für die Nutzung der von ihm betriebenen Anlage setzen. Das kann betriebswirtschaftlich problematische Folgen haben. Die Auslastung der Anlage kann nicht marktwirtschaftlich beeinflusst werden. Die verwaltungsrechtliche Prägung der Behörde mit ihren hoheitlichen Ansprüchen und festgelegten Befugnissen trifft also auf das unternehmerische Denken der Privaten, das juristisch im Privatrecht verankert ist.

3. Institutionalisierte PPP In der Wahl des rechtlichen Instruments wird sich regelmäßig das Privatrecht durchsetzen. Dies gilt zunächst für institutionalisierte PPP245, die nach den Regeln des (zivilrechtlichen) Gesellschaftsrechts ausgestaltet sind. Hier gilt der gesellschaftsrechtliche Typenzwang. Im Außenverhältnis tritt die Gesellschaft als Gesellschaft des Privatrechts auf. Sie muss sich im Rechtsverkehr daran festhalten lassen, unabhängig davon, wer ihre Gesellschafter sind. Eine andere Lösung ist dem Rechtsverkehr nicht ohne entsprechenden Zusatz in der Gesellschaftsbezeichnung zuzumuten. Das Innenverhältnis der Gesellschafter ist vom Gesellschaftsvertrag bestimmt. Hier begegnen sich die Parteien auf der Ebene der Gleichordnung und zielen darauf ab, eine zivilrechtlich verfasste Gesellschaft zu gründen. Der Vertrag ist damit eindeutig als zivilrechtlich zu qualifizieren.246 Das Verhalten nach der Gesellschaftsgründung wird sodann nicht nur vom Vertrag, sondern auch von den Vorgaben des Aktien- oder GmbH-Rechts determiniert, die die Rolle der Gesellschafter relativ strikt umreißen. Die gesellschaftsrechtlichen Pflichten können wegen ihrer Schutzwirkung nach außen und innen nicht von öffentlich-rechtlichen Interessen durchbrochen werden. § 65 BHO lässt dies für Beteiligungen des Bundes erkennen.247 Mit dieser Norm sollen bei der Gründung von oder der Beteiligung an privatrechtlichen Unternehmen Einflussmöglichkeiten des Staates gesichert und seine finanziel244

Beispiel bei Kulle, ZfBR 2003, 129, 132 f. Vgl. Kirchhof in: Maunz/Dürig/Herzog, GG Kommentar, 2010, Art. 83 Rn. 104; Kiethe, NZG 2006, 45, 47 f. 246 Ebenso Lämmerzahl, Beteiligung Privater, 2007, S. 210. 247 Entsprechende Normen gibt es auch in den Kommunalgesetzen, etwa Art. 92 BayGO. 245

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

len Verpflichtungen begrenzt werden. Die Soll-Bestimmungen dieser Norm zeigen den Konflikt zwischen dem hergebrachten staatlichen Steuerungsanspruch und der Einordnung des Staates auf der Ebene der Gleichordnung: Der Staat hegt bestimmte Vorbehalte gegen eine Beteiligung an Unternehmen in Privatrechtsform, weshalb besondere inhaltliche Legitimationen verlangt (Abs. 1) und Zustimmungsvorbehalte statuiert werden (Abs. 2, 5 und 7). Geradezu hilflos klingt das Bemühen, die öffentlichen Interessen des Bundes über die Mitglieder des Aufsichtsrats oder entsprechender Gremien vertreten zu lassen, wenn es in Abs. 6 heißt: „Das zuständige Bundesministerium soll darauf hinwirken, daß die auf Veranlassung des Bundes gewählten oder entsandten Mitglieder der Aufsichtsorgane der Unternehmen bei ihrer Tätigkeit auch die besonderen Interessen des Bundes berücksichtigen.“

Dieses „Hinwirkens-Soll“ ist in derart zurückhaltender Form gefasst, da das Gesellschaftsrecht eine direkte Weisungsbefugnis ausschließt: In personalistischen Gesellschaften, etwa der GbR, oder auch in manchen GmbHs sind die Gesellschafter an die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht gebunden, sie müssen primär das Interesse der Gesellschaft berücksichtigen. In Aktiengesellschaften haften Aufsichtsratsmitglieder persönlich, sie sind daher unabhängig und weisungsfrei.248 Ihnen die Durchsetzung öffentlicher Interessen aufzutragen, würde mit diesem Grundprinzip kollidieren. Ein ähnlicher Konflikt stellt sich zwischen dem kommunalrechtlichen Transparenzgebot und der Verschwiegenheitspflicht der Aufsichtsräte bei Weisungen der Kommune an ihre Vertreter in der AG. Auch hier ist zugunsten des Gesellschaftsrechts zu entscheiden.249 Der Staat muss also den Vorrang des Gesellschaftsrechts respektieren. Das ist allerdings in der Praxis zu verschmerzen, da der Staat die öffentlichen Interessen nicht nur als Gesellschafter im Tagesgeschäft einbringen kann. Vielmehr besteht für die öffentliche Hand die Möglichkeit, den Gesellschaftszweck bei Gründung der Gesellschaft so zu definieren, dass die öffentlichen Interessen gewahrt bleiben.250 Für ein eigenes „Verwaltungsgesellschaftsrecht“251, das de lege ferenda geschaffen werden könnte, besteht daher keine Notwendigkeit.252

248 249 250 251 252

Vgl. Mann, Die Verwaltung 35 (2002), 463, 470 f. Vgl. Kiethe, NZG 2006, 45, 46. Vgl. Habersack, ZGR 1996, 544, 551 ff. Dafür Danwitz, AöR 120 (1995), 595 ff. (unter C). Ebenso Mann, Die Verwaltung 35 (2002), 463, 488; Habersack, ZGR 1996, 544, 555 f.

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4. PPP auf Vertragsbasis Das Innenverhältnis von Verwaltung und privatem Partner wird bei PPP auf Vertragsbasis fast immer den Regeln des BGB unterworfen sein und nicht als öffentlich-rechtlicher Vertrag nach Art. 54 ff. VwVfG anzusehen sein.253 Damit verliert die Verwaltung die Möglichkeit, ihre Interessen einseitig durchzusetzen, sie muss vielmehr Gemeinwohl-Bindungen in einem privatrechtlichen Vertrag unterbringen.254 Ein öffentlich-rechtlicher Vertrag wäre gem. Art. 54 VwVfG nur anzunehmen, wenn das Rechtsverhältnis zwischen Verwaltung und Privatem als öffentlich-rechtliches zu qualifizieren wäre. Es müsste sich demnach auf die Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe beziehen. In PPP kommt es aber gerade nicht zur Übertragung einer öffentlichen Aufgabe, wie etwa bei der Beleihung, sondern nur zur Erbringung einer Teilleistung oder zur Beschaffung einer Leistung. Gerade das Gleichordnungsverhältnis von Behörde und Privatem kennzeichnet die PPP. Es handelt sich um eine partnerschaftliche Kooperation, nicht um eine verdeckt hierarchische. Gemäß Art. 54 Satz 2 VwVfG, auf den sich die Norm über den öffentlich-rechtlichen Austauschvertrag (Art. 56 VwVfG) ausdrücklich bezieht, ist ein öffentlich-rechtlicher Vertrag als Substitut zum Verwaltungsakt gedacht. Einen solchen könnte die Verwaltung aber in einer PPP-Konstellation nicht erlassen. Eine Behörde könnte ein Unternehmen nicht verpflichten, eine Fernstraße zu bauen oder eine IT-Struktur für eine Verwaltungsaufgabe aufzusetzen. Wenn die Parteien von einer Gleichordnung und der freien Aushandlung der Vertragsbedingungen ausgehen, spricht dies für einen rein zivilrechtlichen Vertrag, da damit die wesentlichen Charakteristika des Zivilrechts erfasst sind. Die PPP-Modelle sind entstanden, um Projekte in flexibler Form durchführen zu können. Die Beschränkungen des öffentlichen Rechts sollen im Verhältnis der PPP-Partner zueinander gerade nicht gelten, es wird vielmehr auf moderne Vertragstypen des Zivilrechts abgestellt.255 Für eine solche Anerkennung des Zivilrechts besteht auch eine verfassungsrechtliche Absicherung. Zum einen ist eine effiziente Leistungserbringung Ziel von PPP, was über den haushaltsrechtlichen Wirtschaftlichkeitsgrundsatz geschützt wird. Zum anderen hat auch das sog. Kooperationsprinzip Verfassungsrang.256 Dieses Kooperationsprinzip ist vor allem im Umweltrecht herausgearbeitet worden. Die Kernidee ist auf andere komplexe Sachverhalte zu übertragen: Demnach gebieten es die Sachnähe und die demokratische Partizi253 Ebenso Kunkel/Weigelt, NJW 2007, 2433, 2436. Vgl. Rhinow in: FG Schweizerischer Juristentag, 1985, S. 295, 302 f. Andere Ansicht Gündling, Modernisiertes Privatrecht und öffentliches Recht, 2006, S. 425 m.w.N. 254 Kirchhof in: Maunz/Dürig/Herzog, GG Kommentar, 2010, Art. 83 Rn. 103. 255 Vgl. Lämmerzahl, Beteiligung Privater, 2007, S. 212. 256 Vgl. Reicherzer, Authentische Gesetzgebung, 2006.

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pation, dass Behörden und Private bei der Lösung komplexer Fragen zusammenarbeiten. Fraglich ist, ob der Grundsatz des zivilrechtlichen Innenverhältnisses auch für das Konzessionsmodell der PPP gilt, bei dem der Bezug zur öffentlichen Aufgabe manifest wird. Das ist zu bejahen. Dafür spricht, dass die Abgrenzung zwischen verschiedenen PPP-Modellen häufig fließend ist und die Wahl in der Regel an der Effizienz der Leistungserbringung ausgerichtet ist, nicht aber an Kriterien der öffentlichen Interessenwahrnehmung. Hinzu kommt, dass auch in diesem Fall kein Verwaltungsakt an das Partnerunternehmen gerichtet werden könnte. Falsch wäre es jedoch, hieraus zu folgern, dass die Verwaltung keinen grundrechtlichen Bindungen unterliegt. Eine Zeitlang war die sog. Zweistufen-Theorie vorherrschend, nach der das Ob des Vertragsabschlusses öffentlich-rechtlichen Bindungen unterlag, das Wie jedoch allein privatrechtlich ausgestaltet war. Diese Trennung ist praktisch kaum durchführbar und verkennt die grundsätzliche Bindung aller staatlichen Institutionen an das Grundgesetz (Art. 1 Abs. 3 GG)257: Da Hoheitsträger keine Eigeninteressen verfolgen, sondern immer nur aus ihren durch das öffentliche Interesse legitimierten Befugnissen heraus handeln, müssen sie sich in jedem Schritt ihres Handelns den entsprechenden Bindungen unterwerfen. Statt der Zweistufen-Theorie wird in der Rechtswissenschaft schon seit Hans Julius Wolff die Idee eines Verwaltungsprivatrechts diskutiert, das die Besonderheiten der Nutzung privatrechtlicher Handlungsformen durch Behörden erfassen soll.258 In dieser Diskussion wird jedoch gelegentlich übersehen, dass es sich bei einem Verwaltungsprivatrecht nur um die Konstituierung verwaltungsinterner Bedingungen handeln kann. Diese können nicht in den Bereich des Zivilrechts weiterwirken. So wie im Gesellschaftsrecht aus Gründen des Verkehrsschutzes eindeutig ein Vorrang der zivilrechtlichen Formen gilt, so müssen sich auch im allgemeinen Vertragsrecht Rechtsverkehr und Vertragspartner auf die zivilrechtlichen Grundsätze verlassen können. Andernfalls würden die Kernideen des Zivilrechts – Gleichordnung und Privatautonomie – aufgegeben, und es käme zu einer Relativierung des Eigenwerts des Zivilrechts. Abzulehnen ist daher auch das Modell von Hans Christian Röhl, der das Privatrecht als „Auffangordnung“ für öffentlich-rechtliche Bindungen nutzen will und etwa über §§ 134, 138, 315 und 242 BGB kontrollieren will, ob die öffentlich-rechtlichen Bindungen respektiert werden259. Röhl postuliert: 257

Vgl. Stelkens in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 2008, § 35 Rn. 69a f. m.w.N. Wolff, Verwaltungsrecht, 1956, § 23 I. Grundlegend Ehlers, Verwaltung in Privatrechtsform, 1984; Wall, Anwendbarkeit privatrechtlicher Vorschriften im Verwaltungsrecht, 1999, S. 35 und passim. 259 Röhl, VerwArch 86 (1995), 531, 542 ff. 258

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„Diese [die privatrechtlichen Instrumente] können die Wertungen, die in öffentlichrechtlichen Bindungen repräsentiert sind, im Privatrecht zur Geltung bringen. Im äußersten Fall wird einem Vertrag, der durch eine gegen öffentliches Recht verstoßende Handlung zustande gekommen ist, die Anerkennung durch das Zivilrecht versagt.“260

Diese Vorstellung, welche die Idee von „wechselseitigen Auffangordnungen“ ausformuliert, ist aus zivilrechtlicher Sicht abzulehnen: Hier wird das Zivilrecht in den Dienst der öffentlichen Interessen gestellt, statt das Freiheitsprimat der Parteien zu respektieren und lediglich systemerhaltende Bindungen vorzusehen. Zu trennen ist wie folgt: Die grundrechtlichen Bindungen, von denen im Zusammenhang mit einem Verwaltungsprivatrecht häufig gesprochen wird, betreffen die Verwaltung, nicht ihren Vertragspartner. Eine Überlagerung des zivilrechtlichen Verhältnisses durch öffentlich-rechtliche Bindungen ist dem Zivilrecht fremd. Die Verwaltung muss sich bei Vorbereitung und Durchführung von PPP ihren öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen stellen.261 Sie muss prüfen, ob sie zur Erfüllung der öffentlichen Aufgabe überhaupt eine PPP eingehen darf. Dies wird, wie schon bei der Privatisierung, regelmäßig zu bejahen sein, wenn auch möglicherweise mit weiteren Kautelen. Sie muss kompetenzrechtliche Regeln (Zustimmungsvorbehalt des Parlaments?), haushalts- und vergaberechtliche Aspekte sowie grundgesetzliche Bindungen berücksichtigen und darf sich nicht durch die Wahl eines zivilrechtlichen Instruments ihrer eigenen Bindungen entledigen – es darf keine „Flucht des Staates ins Privatrecht“262 geben. Die Klärung solcher Vorbehalte ist jedoch Sache der Verwaltung. Handelt sie außerhalb ihrer Kompetenzen, oder zivilrechtlich formuliert: überschreitet sie ihre Vollmachten, so wirkt das nicht auf den Vertrag an sich, sondern ist ein verwaltungsinternes Problem. Besonders virulent wird die Frage nach den öffentlich-rechtlichen Bindungen im Verhältnis zu Dritten, nämlich bei Wettbewerbern, die bei Abschluss der PPP nicht zum Zuge kamen, sowie bei Nutzern der jeweiligen Anlage und sonstigen Betroffenen. Das Verhältnis von privaten PPP-Beteiligten und Nutzern ist als zivilrechtlich zu qualifizieren, soweit nicht das private Unternehmen beliehen ist. Das Verhältnis der Verwaltung zu Nutzern und Wettbewerbern unterliegt hingegen öffentlich-rechtlichen Bindungen. So sind ggf. Vergabe- und Beihilferecht263 zu beachten. Umstritten ist, ob weitere Verfahrenssicherungen zu berücksichtigen sind, ob etwa die Regeln über Akteneinsicht, rechtliches Gehör, Befangenheit von Amtspersonen oder Bekanntma260

Röhl, VerwArch 86 (1995), 531 ff., 544. Vgl. Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1986, § 12 Rn. 19 ff.; Kirchhof in: Maunz/Dürig/Herzog, GG Kommentar, 2010, Art. 83 Rn. 103; Eichenberger in: FG Schweizerischer Juristentag, 1985, S. 75, 79 f.; Rhinow in: FG Schweizerischer Juristentag, 1985, S. 295, 298; grundlegend Ehlers, Verwaltung in Privatrechtsform, 1984. 262 Leisner in: FS Canaris, Band II, 2007, S. 1181. 263 Dazu Haubner, EuZW 2013, 816 ff. 261

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chung gelten, wenn die Verwaltung einen PPP-Vertrag abschließt.264 Für Beschaffungsvorgänge, also ein fiskalisches Handeln der Verwaltung, werden solche Verfahrensgarantien üblicherweise nicht verlangt. Sie sind durch das Vergaberecht weitgehend abgedeckt. Wenn auch PPP nicht ausschließlich Beschaffungszwecken dienen, so ist die Nähe zu diesen doch unverkennbar. Die Verwaltung nutzt – ob durch schlichte Beschaffung oder elaborierte, langfristige Projektzusammenarbeit – die flexible Form des Zivilrechts und begibt sich auf die Ebene der Gleichordnung.

III. Beispiel Autobahnmaut Die Einführung der Autobahnmaut war eine der wegweisenden, weil politisch und rechtlich höchst umstrittenen PPP. Die privatrechtliche Ausgestaltung dieses verkehrspolitischen Projekts illustriert die rechtlichen Mechanismen der Wende zum Privatrecht und erhellt die Rolle, die der Zivilgerichtsbarkeit in derartigen Konstellationen zufällt. Die klar abgrenzbare Maßnahme, die sich rechtlich sowohl in der Entstehung als auch in den ersten Folgeproblemen nachvollziehen lässt, öffnet den Blick für die Probleme, die in zahlreichen Deregulierungs- und Privatisierungs-Konstellationen angelegt sind.

1. Rechtsgrundlagen der Autobahnmaut Seit 2005 erhebt das private Unternehmen Toll Collect GmbH eine Maut von Lastwagen für die Nutzung von Autobahnen. a) Das Modell Gemäß § 1 Abs. 1 Bundesfernstraßenmautgesetz (BFStrMG) müssen Fahrzeuge, die ausschließlich dem Güterkraftverkehr dienen, und Fahrzeuge mit einem Mindestgewicht von 12 t eine Gebühr für die Benutzung näher bestimmter Fernstraßen entrichten. Die Einbindung Privater bei der Umsetzung dieser Maut ist in § 4 Abs. 3 Satz 1 BFStrMG geregelt: „Das Bundesamt für Güterverkehr kann einem Privaten die Errichtung und den Betrieb eines Systems zur Erhebung der Maut übertragen oder diesen beauftragen, an der Erhebung der Maut mitzuwirken (Betreiber).“

Im Bundesanzeiger gab das Bundesamt für Güterverkehr 2004 bekannt, dass das Unternehmen Toll Collect GmbH „mit der Mitwirkung an der Erhebung der Maut (…) beauftragt“ wurde, Toll Collect „Betreiber nach den Vorschriften des ABMG“ sei und dem Unternehmen „folgende Aufgaben als Beliehene übertragen wurden“, nämlich Mautentrichtung und -nacherhebung.265 Die ge264

Vgl. Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1986, § 12 Rn. 25; Röhl, VerwArch 86 (1995), 531, 558 ff.

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samte Abwicklung der Mauterfassung, -erhebung und -kontrolle liegt damit faktisch bei einem privaten Unternehmen. Mit der Verwendung der Termini Beauftragung und Beleihung sowie der Zuweisung der Betreibereigenschaft wurde an öffentlich-rechtliche Tatbestände angeknüpft. Sodann stellte das Bundesamt in der Bekanntmachung klar: „Das Bundesamt für Güterverkehr weist darauf hin, dass die Toll Collect GmbH im Rahmen ihrer Tätigkeit privatrechtliche Verträge mit den Mautschuldnern abschließt (§ 4 Abs. 5 ABMG). (…) Der ausschließliche Gerichtsstand für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten ist nach den AGB Berlin-Tiergarten.“

Damit wurde die privatrechtliche Komponente deutlich gemacht. Dass ein Bundesamt auf den Gerichtsstand eines privaten Unternehmens für AGBFragen hinweist, ist signifikantes Beispiel für die Wende zum Privatrecht. Das seit 19.7.2011 geltende BFStrMG ist die im Kern unveränderte Fortschreibung der ursprünglichen Rechtsgrundlage, des 2002 verabschiedeten Autobahngesetzes für schwere Nutzfahrzeuge (ABMG).266 Eine Vorgängerregelung ohne Einbindung Privater enthielt das auf ein internationales Abkommen zurückgehende Autobahnbenutzungsgebührengesetz für schwere Nutzfahrzeuge (ABBG).267 Neben das ABMG traten verschiedene Begleitgesetze268, welche die Komplexität des Vorhabens verdeutlichen: Die Mauthöhe wurde in der sog. Mauthöhenverordnung festgelegt (inzwischen Anlage zu § 14 BFStrMG), eine spätere Ausdehnung der betroffenen Strecken in der Mautstreckenausdehnungsverordnung. Technische Fragen regelt die LKWMaut-Verordnung. Hinzu kamen Änderungsgesetze. Zu differenzieren ist die nach diesen Normen erhobene Maut von der Maut, die auf Basis des Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetzes vom 30.8.1994 erhoben wird. Bei diesem sogenannten F-Modell von PPP werden Straßen durch private Unternehmen gebaut und betrieben, einschließlich einer Mauterhebung zur Refinanzierung der Investition. Es handelt sich damit um Straßen, die zwar staatlich gefördert werden, aber (in der Regel für mindestens 30 Jahre) von einem privaten Unternehmen betrieben werden. Beispiel einer nach dem F-Modell entstandenen Verkehrsführung ist der Warnowtunnel in Rostock. Die hier thematisierte Autobahnmaut wird hingegen als eine PPP nach dem sog. A-Modell eingestuft,269 soweit die Einnahmen dazu verwendet werden, weitere Autobahnausbauten zu finanzieren. Der Betreiber, also Toll Collect, hat in diesem Modell die Systeme zu errichten und zu betreiben, die zur Mauterfassung erforderlich sind (§ 6 BFStrMG), erhebt die Maut (§ 4 Abs. 3 BF265

Bundesanzeiger, 31.12.2004, Nr. 249, S. 24744. 5.4.2002, BGBl. I S. 1234. 267 30.8.1994, BGBl. II S. 1765. 268 Überblick bei Neumann, NVwZ 2005, 130 ff. 269 Vgl. Rösch, Das A-Modell im Bundesautobahnbau, 2008, S. 184 ff.; Byok/Jansen, NZBau 2005, 241, 242; Roth, NVwZ 2003, 1056 ff. 266

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StrMG), verarbeitet die dazu erforderlichen Daten (§ 4 Abs. 3 BFStrMG) und kann die Mautkontrolle (§ 7) sowie die nachträgliche Mauterhebung (§ 8) übernehmen. Bei öffentlichen Stellen verbleiben im Wesentlichen die Ausweisung neuer mautpflichtiger Strecken (durch das Bundesverkehrsministerium, § 1 Abs. 4 BFStrMG), die Festsetzung der Mauthöhe (durch die Bundesregierung, § 3 Abs. 2), der Anspruch auf die Mauteinnahmen (für den Bund, § 11) sowie die Bebußung von Mautschuldnern (durch das Bundesamt für Güterverkehr, § 10). b) Umsetzungsschwierigkeiten Der Betreiber handelt in privatrechtlicher Form. Dies wurde mit dem ersten Änderungsgesetz zum ABMG ausdrücklich klargestellt.270 Der Bundesrat hatte bei Beratung des ABMG noch die Auffassung vertreten, der Private müsse beliehen werden und solle dann in öffentlich-rechtlicher Form handeln, z.B. durch Verwaltungsakt.271 Diese Regelung setzte sich jedoch nicht durch: gewollt war gerade ein Handeln in der flexiblen, privatrechtlichen Form. Das Oberverwaltungsgericht des Landes NRW hat dies allerdings in einem Urteil relativiert, in dem ein Fuhrunternehmer gegen das Bundesamt für Güterverkehr vorgegangen war, weil er die Rechtmäßigkeit seiner Mautpflichtigkeit anzweifelte.272 Das OVG hielt fest, dass es gegen eine rein privatrechtliche Abwicklung des Mautverhältnisses verfassungsrechtliche Bedenken hege273: Die Maut sei als „Gebühr“ vom Gesetzgeber gewollt, nicht als rein privatrechtliche Transaktion zwischen Toll Collect und dem Mautschuldner.274 Bezeichnenderweise hatten das Bundesamt und die Beigeladene Toll Collect GmbH in der Vorinstanz eine andere Auffassung, nämlich zugunsten einer rein privatrechtlichen Abwicklung, vertreten.275 Das OVG konstruierte die Rolle von Toll Collect sodann, die Verfassungsmäßigkeit rettend, als die einer „Verwaltungshelferin“, weshalb die Anfechtung der Mauthöhe richtigerweise gegen das Bundesamt gerichtet sei. In seiner öffentlich-rechtlichen Darstellung des Mauterhebungs-Vorgangs schreibt das OVG: „Die Rolle der Beigeladenen [Toll Collect GmbH] beschränkt sich dabei faktisch darauf, im Namen des Bundesamtes die zu entrichtenden Mautbeträge zu ermitteln, sie von den Autobahnbenutzern einzuziehen und an das Bundesamt auszukehren.“276

Offen bleibt, wie das OVG den Begriff „faktisch“ hier verstehen will, schließlich sind all diese Maßnahmen rechtlich so vorgesehen. Zudem ist die Bedeu270 271 272 273 274 275 276

Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 15/3678, S. 1, 7 und 8. Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 14/7013, S. 20 f. OVG Münster, 23.6.2009, Az. 9 A 2054/07, DÖV 2010, 35. Vgl. zur Verfassungsmäßigkeit auch Uechtritz/Deutsch, DVBl. 2003, 575, 580 f. OVG Münster, 23.6.2009, Az. 9 A 2054/07, DÖV 2010, 35, Rz. 46–51. Vgl. OVG Münster, 23.6.2009, Az. 9 A 2054/07, DÖV 2010, 35, Rz. 46. OVG Münster, 23.6.2009, Az. 9 A 2054/07, DÖV 2010, 35, Rz. 42.

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tung des Wortes „beschränkt“ dem OVG offenbar noch verborgen geblieben – jedenfalls bleibt schleierhaft, welche bedeutsamen Maßnahmen Toll Collect noch im Zusammenhang mit der Mauterhebung erledigen könnte. Dem Konflikt mit dem Gesetzgeber, der die Wende zum Privatrecht vollzieht, geht das OVG damit aus dem Weg. Die Rechtsbeziehung zwischen Betreiber und Bund ist durch einen privatrechtlichen, nicht offiziell offen gelegten Vertrag geregelt, den für den Bund eine eigens mit Hilfe gesetzlicher Ermächtigung277 gegründete GmbH (VIFG) abgeschlossen hat. Dieser Vertrag regelt auch die in § 11 Abs. 1 Satz 2 BFStrMG nur angedeutete Entlohnung des Betreibers. In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, dass in der Gesetzesbegründung zum ABMG der Gesetzgeber lediglich mit einem Satz darauf eingeht, dass die originär staatliche Aufgabe der Gebührenerhebung auf einen Privaten delegiert wird: „Um die Kosten für die Erhebung möglichst günstig und den Mauteinzug möglichst kundennah zu gestalten, beauftragt das Bundesamt für Güterverkehr einen privaten Betreiber mit der Errichtung und dem Betrieb des Erhebungssystems.“278

Mit dieser Begründung betont der Gesetzgeber die (vermeintlich) größere Effizienz privaten Tätigwerdens (Kostenersparnis) und die größere Flexibilität (Verbrauchernähe) durch die Nutzung eines PPP-Modells. c) Schlüsse für eine Wende zum Privatrecht Die Rechtsgrundlagen zur Mauterhebung durch Toll Collect illustrieren drei Charakteristika der Wende zum Privatrecht: Erstens wird deutlich, in welch weitgehendem Maße der Staat bereit ist, selbst bei politisch sensiblen Projekten das Heft des Handelns aus der Hand zu geben. Die Rolle des Bundesamtes ist die eines Letztverantwortlichen – hier wird das Konzept einer „Gewährleistungsverantwortung“ sichtbar, das in der öffentlich-rechtlichen Diskussion eine immer stärkere Rolle spielt. Die wesentlichen Maßnahmen und Aktionen hingegen können nunmehr von einem privaten Marktteilnehmer gesetzt werden, auch wenn das OVG Münster an einer formalen Betrachtungsweise festhält und die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Abgabe an Private hervorhebt. Zweitens wird deutlich, dass es zwar formal zu einer Überlappung von öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Regelungsbestandteilen kommt, etwa wenn Toll Collect einerseits beliehen und beauftragt wird, andererseits aber seine Tätigkeiten in rein privatrechtlicher Form durchführt. Diese Überlappung löst sich aber immer stärker in Richtung einer rein privatrechtlichen Umsetzung der Autobahnmaut auf. Die Wende zum Privatrecht ist ein Sieges277 Verkehrinfrastrukturfinanzierungsgesellschaftsgesetz (VIFGG), 28.6.2003, BGBl. I S. 1050. 278 Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 14/7013, S. 10.

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zug des Privatrechts über die Reste des öffentlichen Rechts, die sich zunächst noch Geltungsanspruch verschaffen wollen. Dieser Sog, den das Privatrecht auslöst, zeigt sich daran, wie weitgehend der Hoheitsträger dem Betreiber entgegen kommt, etwa durch Gründung einer GmbH als Vertragspartnerin (VIFG) von Toll Collect, bei der Geheimhaltung des PPP-Vertrags, bei Nutzung einer Bekanntmachung des Bundesamtes zum Verweis auf die AGB-Regelungen, bei der Stärkung der privatrechtlichen Komponente im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens und bei der Abwägung, welche Bereiche wie ausgestaltet sind: die praktisch bedeutsamen Massentransaktionen, die mit der Mauterhebung verbunden sind, laufen in privatrechtlicher Form. Öffentlichrechtlich verankert bleiben im Prinzip nur die selten zu klärenden Fragen der mautpflichtigen Strecken, der Mauthöhe sowie der Bebußung. Drittens zeichnet sich eine Problematik ab, welche die staatliche Übergabe einer Materie in den Bereich des Privatrechts mit sich bringt, nämlich die einseitige Stärkung eines einzelnen privaten Unternehmens, das, wie in diesem Fall, durch staatliche Intervention zum Monopolisten wird. Bei aller Relativierung der Kraft des öffentlichen Rechts darf nicht übersehen werden, dass der Staat eine ganz wesentliche Durchsetzungsmacht hat, nicht zuletzt finanzieller Art, die er privilegiert an einen einzelnen privaten Marktteilnehmer weiterreicht. Eine solche Art von Machtübertragung ist dem grundsätzlich gleichheitsorientierten Privatrecht fremd. Dieser Eingriff in die Chancenverteilung am Markt bereitet zahlreiche Probleme. Das Vergaberecht, das die staatliche Privilegienverteilung transparent und kontrollierbar machen soll, löst das Grundproblem nicht, sondern legitimiert vielmehr die Schaffung eines Monopols.

2. Zivilrechtliche Streitigkeiten im Entstehungsprozess Die Einführung der Autobahnmaut mit Hilfe des Unternehmens Toll Collect GmbH bietet ein Kaleidoskop an Rechtsstreitigkeiten, die für PPP, Deregulierungsmaßnahmen und ähnliche Maßnahmen nicht unüblich sind. Die im Folgenden überblicksartig dargestellten Fälle illustrieren Parameter der zivilgerichtlichen Konfliktkonstellationen. Die Streitigkeiten lassen sich in drei Konstellationen unterteilen: Zivilrechtliche Auseinandersetzungen zwischen Bund und Betreiber, Konflikte um wettbewerbliche Interessen sowie Rechtswegfragen für Nutzer des Mautsystems. a) Schadensersatzansprüche gegen Toll Collect Dem Toll Collect Konsortium wurde der Aufbau eines Maut-Erfassungssystems übertragen. Die beteiligten Unternehmen, Deutsche Telekom AG, Daimler Chrysler Services AG und Cofiroute SA als Konsortium, waren dafür verantwortlich, die notwendige Technik zu entwickeln, Mautstationen auf-

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zubauen und das reibungslose Funktionieren der Mautabbuchung zu gewährleisten. Eine besondere Leistung sollte darin bestehen, ein Mautsystem zu entwickeln, das den Verkehrsfluss nicht unterbricht: die Mautstationen sollten also nicht, wie in anderen europäischen Ländern, als feste Kontrollpunkte installiert werden, bei denen der LKW-Fahrer anzuhalten hat, sondern rein elektronisch arbeiten. Der Start der Mauterhebung war in der Gesetzesbegründung zum ABMG von 2001 für 2003 vorgesehen,279 im Vertrag zwischen dem Bund und dem Betreiberkonsortium war der 31.8.2003 als Starttermin genannt.280 De facto konnte die Mauterhebung erst zum 1.1.2005 beginnen. Für die Verzögerung, die mit erheblichen Einnahmeausfällen einherging, wurde von der Bundesregierung das Unternehmen Toll Collect verantwortlich gemacht. Der Bund verlangte daraufhin von Toll Collect Schadensersatz. Als Anspruchsgrundlage wurde der zwischen Bund und Toll Collect geschlossene privatrechtliche Vertrag vom 20.9.2002 herangezogen, die eigentliche PPP-Abrede also. In diesem nicht offen gelegten Vertrag war offenbar eine Schiedsklausel vorgesehen, sodass die Klage nicht öffentlich vor einem ordentlichen Gericht, sondern unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor einem privaten Schiedsgericht verhandelt wird. Vor dem Schiedsgericht sind zwei Verfahren anhängig: Zum einen verlangt der Bund von Toll Collect und den Konsorten 3,5 Milliarden Euro Schadensersatz. Der Betrag setzt sich aus entgangenen Mauteinnahmen und Vertragsstrafen zusammen. Toll Collect wiederum verlangt vom Bund die Zahlung einer Betreibervergütung, die unrechtmäßig gekürzt worden sei. Laut einer Auskunft der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage im Bundestag sind die Verfahren im Jahr 2012 noch immer anhängig, ohne dass ein voraussichtliches Ende angegeben werden kann.281 Die bisherigen Kosten für das Verfahren gibt die Bundesregierung mit 92,6 Mio. Euro an.282 Die Verfahren können hier mangels ihrer Öffentlichkeit nicht analysiert werden.283 Das Misstrauen, das selbst der Bund gegenüber der eigentlich zuständigen ordentlichen Gerichtsbarkeit zum Ausdruck bringt, mag als bezeichnend für die Problemlösungsfähigkeit der Zivilgerichtsbarkeit angesehen werden. Offenbar traut nicht einmal der Bund der Zivilgerichtsbarkeit die angemessene Lösung von Konflikten zu, die aus komplexen Verträgen wie dem Mautbetreiber-Vertrag resultieren. Dabei handelt es sich bei Toll Collect nicht um einen Einzelfall, vielmehr ist die Vereinbarung einer Schiedsklausel durch staatliche Stellen oder öffentliche Unternehmen nicht unüblich.284 Das Schiedsverfahren 279

Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 14/7013, S. 16. Byok/Jansen, NZBau 2005, 241, 242. 281 Antwort der Bundesregierung vom 6.2.2012, BT-Drucks. 17/8553, S. 2. 282 Antwort der Bundesregierung vom 6.2.2012, BT-Drucks. 17/8553, S. 2. 283 Einzelne Aspekte des Verfahrens sind freilich bekannt geworden, so etwa die Haftungsfreizeichnung, vgl. Grundmann in: MüKo BGB, 2007, § 276 Rn. 151. Vgl. auch die Darstellung bei Byok/Jansen, NZBau 2005, 241, 242 ff. 284 Böckstiegel, SchiedsVZ 2009, 3, 5. 280

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scheint Vorzüge gegenüber dem Verfahren der ordentlichen Gerichtsbarkeit zu haben, die den Parteien so wichtig waren, dass eine Konfliktschlichtung im Rahmen der ordentlichen Gerichte nicht opportun erschien. Überspitzt formuliert: Die Hinwendung des Bundes zum Schiedsrecht in einem wichtigen wirtschaftsrechtlichen Fall, in dem der Bund selbst Partei ist, ist ein Kompliment für das Schiedsrichterwesen – und Menetekel für die ordentliche Gerichtsbarkeit. Ein wesentlicher Aspekt des Schiedsverfahrens ist, dass dieses unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt wird. Die Geheimhaltung des Vertrages und des Verfahrens werfen ein Schlaglicht auf die Steuerungseinbuße der öffentlichen Hand und den mit der Wende zum Privatrecht verbundenen Wandel demokratischer Grundprinzipien. In einer öffentlich-privaten Partnerschaft muss die öffentliche Hand die Standards der privaten Vertragsparteien (hier: Schiedsklausel bei einem wichtigen Auftrag, keine Öffentlichkeit des Vertrags) akzeptieren. Zugleich entfällt damit weitgehend eine demokratische Kontrollmöglichkeit.285 Ohne Anspruch auf Einsicht in Vertrag und Verfahren werden die Rechte des Parlaments, hier des Deutschen Bundestags, gegenüber der Regierung beschnitten. Im konkreten Fall beschloss der Bundestag zwar die Rechtsgrundlage zur Erhebung der Maut in Form des ABMG. Die nicht gerade unwesentliche Frage der Umsetzung entzieht sich aber vollständig seiner Kontrolle. In der Gesetzesbegründung wird etwa zu der Vergütung für den privaten Betreiber lapidar festgehalten, diese könne noch nicht beziffert werden.286 Gerade das Schiedsverfahren, in dem um Milliarden-Forderungen gestritten wird, belegt die Bedeutung der Abwicklungsebene. Das Schadensersatz-Verfahren illustriert somit in verschiedenen Dimensionen die erheblichen Veränderungen im wirtschaftlichen Ordnungsgefüge, die mit Einflusseinbußen des Staates verbunden sind. b) Konfligierende Wettbewerbsinteressen Durch den Vertragsschluss mit dem Toll Collect-Konsortium hat der Bund in die Privatwirtschaft eingegriffen. Ein ganzes Geschäftsfeld wurde neu eröffnet, nämlich der Markt für Produkte und Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Mauterhebung. Die wirtschaftlichen Aktivitäten beschränken sich nicht auf das Anbieten von „On-Board-Units“ und Mautstationen. Die primäre Leistung zieht weitere Geschäftsideen nach sich. Ohne staatliche Gebührenerhebung für die Autobahnnutzung wäre es mangels Nachfrage zu entsprechenden Angeboten durch Unternehmen gar nicht erst gekommen. So verwundert es nicht, dass im Zusammenhang mit der Autobahnmaut Rechtsstreitigkeiten auftraten, in denen um Anteile an neu eröffneten Märkten ge285 Schorkopf geht daher von einem Verfassungsverstoß (Art. 65 GG) aus, vgl. Schorkopf, NVwZ 2003, 1471, 1473. 286 Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 14/7013, S. 1.

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stritten wurde. Diese Konflikte wurden teilweise im Bereich des Wettbewerbsrechts, aber auch in anderen Rechtsgebieten ausgetragen. In den zu besprechenden Fällen zeigt sich die prägende Rolle des Staates bei Privatisierungsmaßnahmen nicht nur darin, dass es ohne die Hinwendung zu den Privaten gar keine Freisetzung dieser unternehmerischen Kräfte gegeben hätte. Der Staat hat durch den Vertragsschluss mit Toll Collect zugleich die Basis für eine starke Stellung dieses Unternehmens in den zivilrechtlichen Folgekonflikten gelegt. Andere Unternehmen, die in den Märkten tätig werden wollen, treten also im Verhältnis zu Toll Collect mit einem Wettbewerbsnachteil an. Das Ungleichgewicht zwischen einem Unternehmen mit staatlich eingeräumter Schlüsselstellung und Konkurrenzunternehmen, die auf dieses Unternehmen angewiesen sind, stellt eine Herausforderung für die Zivilgerichte dar. Die Konstellation tritt in vergleichbarer Form in den deregulierten Sektoren, z.B. Post, Telekommunikation oder Energiewirtschaft, auf. In diesen Feldern hat der etablierte Betreiber, der Incumbent, häufig eine ähnliche Schlüsselstellung, etwa durch seine Verfügungsmacht über wichtige Infrastrukturen. aa) Service-Partner-Verträge Die erste privatrechtliche Auseinandersetzung betrifft Kfz-Werkstätten, die gegen Toll Collect einen Anspruch auf Aufnahme in das Service-Netz des Unternehmens geltend machten. Die Toll Collect GmbH verwendet zur Berechnung der Autobahnmaut „On-Board-Units“ (OBU), elektronische Geräte, die in den Lastwagen eingebaut werden.287 Diese erhalten Ortungssignale, sodass die Streckenabschnitte ermittelt werden können, die mit dem Fahrzeug zurückgelegt werden. Zugleich enthalten die OBU fahrzeugspezifische Daten, die für die Berechnung der Mauthöhe erforderlich sind. Die zur Abrechnung erforderlichen Daten werden automatisiert per SMS an Toll Collect gesendet. Die Geräte sind Eigentum der Toll Collect GmbH. Einbau und Wartung werden von „Service Partnern“ der Toll Collect GmbH übernommen. Noch vor Beginn der Mauterfassung war streitig, welche Kfz-Werkstätten als Service Partner ausgezeichnet würden. Die Toll Collect GmbH hatte zunächst offenbar ausschließlich oder ganz überwiegend sogenannte Vertragswerkstätten der großen Nutzfahrzeughersteller als Service Partner akzeptiert, nicht aber freie Werkstätten.288 Im Raum stand eine Klage freier Werkstätten auf Aufnahme in das Vertragsnetz der Toll Collect GmbH. Diese wählten zur Durchsetzung dieses Anspruchs nicht den Zivilrechtsweg, sondern beschwer287 Vgl. dazu die Angaben auf der Website von Toll Collect, www.toll-collect.de, sowie Europäische Kommission, 30.4.2003, COMP/M.2903 – DaimlerChrysler/DeutscheTelekom/JV, Rz. 16. 288 Bundeskartellamt, Tätigkeitsbericht 2003/2004, 2005 (BT-Drucks. 15/5790), S. 141 f.

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ten sich beim Bundeskartellamt.289 Nachdem das Bundeskartellamt eingeschaltet worden war, sagte Toll Collect zu, 200 freie Werkstätten als Service Partner zuzulassen.290 Die rechtliche Basis des Anspruchs auf Anerkennung als Service Partner sind §§ 19, 20 GWB bzw. Art. 102 AEUV über den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung. Unternehmen, die auf dem sachlichen und räumlichen Markt, auf dem sie Waren oder Dienstleistungen anbieten, besonders stark sind, dürfen ihre Marktmacht nicht missbrauchen. Als Missbrauch gilt unter anderem die Diskriminierung bestimmter Unternehmen, die auf Leistungen oder auf die Aufnahme in ein Vertriebssystem des Marktbeherrschers angewiesen sind. Das Bundeskartellamt konstatierte, dass Toll Collect als Eigentümer der OBU eine marktbeherrschende Stellung auf dem Markt für die Nachfrage von OBU-Einbau-Leistungen habe.291 Wegen des Ausschlusses einer ganzen Gruppe von Werkstätten aus diesem Markt hegte das Amt den Verdacht des Behinderungsmissbrauchs. Dieser Verdacht wurde durch die Selbstverpflichtung zur Aufnahme 200 freier Werkstätten in das Service-Netz so ausgeräumt, dass das Bundeskartellamt die Sache ohne förmliche Entscheidung beließ.292 Die Signifikanz des Falles liegt darin, dass er die Weiterungen der Privilegierung eines Marktteilnehmers durch staatlichen Eingriff aufzeigt: Der Vertrag mit Toll Collect eröffnet einerseits weitere Märkte, belegt diese aber zugleich mit dem Makel der Ungleichgewichtigkeit der auf dem Markt tätigen Unternehmen. Es ist das im liberalen Sinn wirtschaftsordnende Kartellrecht, mit dessen Hilfe schon zu Beginn der Marktentwicklung eingegriffen werden muss. Hier zeigt sich das Zusammenspiel von Deregulierung einerseits und notwendiger Ordnung andererseits. Deutlich wird aber auch, dass die Initiative für die Sicherung des marktwirtschaftlichen Geschehens von den betroffenen Parteien, also den Privaten ausgeht: Das Bundeskartellamt wurde wegen zahlreicher Beschwerden tätig, nicht aufgrund eigener Initiative. Damit steht dieser Fall, obwohl letztlich ohne Hilfe der Zivilgerichte gelöst, exemplarisch für die Wende zum Privatrecht. Zugleich macht das Verfahren die Beschränkungen des Zivilrechtswegs deutlich: Während das Bundeskartellamt aufgrund seiner marktordnenden Macht und seiner Sanktionsmittel den Fall sogar ohne förmliches Verfahren 289 Das Bundeskartellamt weist ausdrücklich auf die Vielzahl von Beschwerden der Marktteilnehmer hin, vgl. Bundeskartellamt, Tätigkeitsbericht 2003/2004, 2005 (BT-Drucks. 15/ 5790), S. 141. 290 Bundeskartellamt, Tätigkeitsbericht 2003/2004, 2005 (BT-Drucks. 15/5790), S. 141 f. 291 Bundeskartellamt, Tätigkeitsbericht 2003/2004, 2005 (BT-Drucks. 15/5790), S. 142; weitere Autoren sehen eine marktbeherrschende Stellung von Toll Collect zudem auf dem „Gesamtmarkt für Telematikleistungen“, vgl. Zeiss/Günther, EuZW 2004, 103, 104. 292 Vgl. Bach in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht GWB, 2007, § 32b GWB Rn. 1 (mit Fußnote).

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und ohne Gebührenerhebung zugunsten von 200 Unternehmen lösen kann, wäre eine zivilgerichtliche Lösung erheblich aufwändiger, langwieriger und kostenintensiver gewesen. Jedes Unternehmen hätte einzeln auf Aufnahme in das Service Partner-Netz klagen müssen. Einzelne Entscheidungen von Zivilgerichten (ggf. in mehreren Instanzen) wären (zumindest vorläufig) gebührenintensiv gewesen, hätten länger gedauert und Bindungswirkung nur zwischen den Parteien entfaltet. Der Weg zu offenen und diskriminierungsfreien Sekundärmärkten zur Autobahnmaut über die Zivilgerichte wäre beschwerlich gewesen. bb) Fusionskontrollverfahren Einigen solcher Bedenken bei der Entstehung neuer, potentiell marktmächtiger wirtschaftlicher Einheiten wird im Zuge von Fusionskontroll- und Vergaberechtsverfahren Rechnung getragen, soweit es zu einem Unternehmenszusammenschluss im Sinne des Fusionskontrollrechts oder zu einer staatlichen Auftragserteilung im Sinne des Vergaberechts kommt. Diese behördlichen Prüfverfahren, die an Wettbewerbszielen orientiert sind, kommen also nicht bei jeder Deregulierungsmaßnahme in Betracht. Bei der Autobahnmaut kontrollierte die Europäische Kommission die Gründung des Gemeinschaftsunternehmens Toll Collect GmbH durch die Daimler Chrysler Services AG und die Deutsche Telekom AG und gab das Zusammenschlussvorhaben unter Bedingungen frei.293 Das Gericht erster Instanz bestätigte diese Entscheidung, nachdem Wettbewerber Qualcomm Wireless Business Solutions die Freigabe angefochten hatte.294 Maßstab der Fusionskontrollentscheidung der Kommission war die Frage, ob durch die Gründung des Gemeinschaftsunternehmens eine marktbeherrschende Stellung entsteht, durch die wirksamer Wettbewerb im Gemeinsamen Markt oder in einem wesentlichen Teil desselben erheblich behindert wird (Art. 2 Abs. 2 Fusionskontrollverordnung a.F.). Die Kommission prüfte in ihrer Entscheidung nicht den Kern-Markt, nämlich die Erhebung einer Autobahnmaut auf Basis eines Gesetzes. Diese Tätigkeit sah die Kommission als hoheitlich an und insofern der kartellrechtlichen Würdigung entzogen.295 Die Kommission stellte jedoch fest, dass das Toll Collect-System dazu angelegt sei, über die Erbringung des hoheitlichen Auftrags hinaus Verkehrstelematikdienste zu erbringen, also Dienste zur elektronischen Information, Kommunikation und Steuerung im Verkehr. Auf dem ent293 Europäische Kommission, 30.4.2003, COMP/M.2903 – DaimlerChrysler/DeutscheTelekom/JV. 294 EuG, 19.6.2009, Rs. T-48/04, Slg. 2009, II-2029 – Qualcomm Wireless. 295 Vgl. Europäische Kommission, 30.4.2003, COMP/M.2903 – DaimlerChrysler/DeutscheTelekom/JV, Rz. 42. Vgl. Wiedemann in: Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, 2008, § 23 Rn. 7.

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sprechend definierten, deutschlandweiten Markt für Verkehrstelematikdienstleistungen für Transport und Logistikunternehmen habe das Konsortium durch die kostenlose Verteilung der OBU eine starke Ausgangsstellung.296 Die Kommission sah die Gefahr der Verschließung eines Zukunftsmarkts.297 Dieser Gefahr begegnete die Behörde, indem sie die Unternehmen verpflichtete, eine offene Schnittstelle für andere Unternehmen anzubieten, sodass diese auf dem Modul von Toll Collect aufbauen können, um ihre eigenen Telematikdienstleistungen anzubieten.298 Das Gericht sah diese Schnittstellen als ausreichend an, um wettbewerbliche Bedenken auszuräumen, sodass die Freigabe bestätigt wurde.299 In materieller Hinsicht überrascht die Entscheidung der Kommission durch ihre Fokussierung auf zukünftige Telematikdienstleistungen. Hier sieht die Kommission die Weiterungen auf sich entwickelnden Märkten. So hat die Brüsseler Behörde offenbar das Problem der Service-Partner-Verträge, das später vom Bundeskartellamt gelöst wurde, nicht gesehen, obwohl dies ebenfalls wettbewerblich relevant war – aber in einem anderen Markt als dem von der Kommission untersuchten. Die Einordnung aller Aktivitäten im Zusammenhang mit der Mauterhebung selbst als hoheitlich wird der Komplexität von PPP nicht gerecht. Immerhin erkannte die Kommission aber den erheblichen Wettbewerbsvorteil durch die hoheitliche Privilegierung der Toll Collect und versuchte, mit der Offenhaltung der Schnittstelle eine wirksame Lösung dafür zu generieren. Die verfahrensrechtliche Komponente des Zusammenschlussverfahrens offenbart wiederum zwei interessante Aspekte: Zum einen ist bemerkenswert, dass das Gericht erster Instanz erst sechs Jahre nach Freigabe über die Anfechtung dieser Freigabe entschieden hat. Zu diesem Zeitpunkt hatte das durch die Klageerhebung angegriffene Gemeinschaftsunternehmen Toll Collect seinen wesentlichen Geschäftszweck in kaum mehr rücknehmbarer Form bereits begonnen, nämlich die Abwicklung der Autobahnmaut in Deutschland. Zum anderen hatte gegen die Freigabe auch das Telematik-Unternehmen Socratec geklagt, das jedoch etwa ein Jahr nach Klageerhebung in Liquidation gehen musste.300 Die Klage wurde sodann mangels Rechtsschutzinteresse vom Gericht erster Instanz wegen Erledigung abgewiesen.301 Hätte Qualcomm keine Klage eingereicht, wäre es nicht zu einer Überprüfung der Kommissions-Ent296 Europäische Kommission, 30.4.2003, COMP/M.2903 – DaimlerChrysler/DeutscheTelekom/JV, Rz. 22 ff., 37. 297 Europäische Kommission, 30.4.2003, COMP/M.2903 – DaimlerChrysler/DeutscheTelekom/JV, Rz. 57 ff. 298 Europäische Kommission, 30.4.2003, COMP/M.2903 – DaimlerChrysler/DeutscheTelekom/JV, Rz. 68. 299 EuG, 19.6.2009, Rs. T-48/04, Slg. 2009, II-2029 – Qualcomm Wireless. 300 Vgl. EuG, 19.6.2009, Rs. T-269/03, Slg. 2009, II-88 – Socratec, Rz. 16. 301 EuG, 19.6.2009, Rs. T-269/03, Slg. 2009, II-88 – Socratec.

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scheidung in der Sache gekommen. Besonders problematisch werden die lange Verfahrensdauer und die Abweisung der Klage vor dem Hintergrund, dass Unternehmen in solch langen Zeiträumen – siehe Socratec – auch scheitern können, was durch die gerichtlich geltend gemachten Probleme mitbedingt sein kann. Das Scheitern von Socratec zeigt auf, wie eng die gerichtliche Kontrolle und damit die intensivierte Prüfung des Wettbewerbsschutzes an eine einzelne klagende Partei gebunden sein kann. Socratec versucht mit seiner Klage einerseits, ein individuelles Ziel zu erreichen, zugleich wird die Partei aber, wie die Anspruchsgrundlage belegt, für den Wettbewerb tätig, also im Allgemeininteresse. Dies wirft ein Licht auf die Asynchronität von privater Rechtsdurchsetzung und Allgemeininteressen. Nur hingewiesen werden soll an dieser Stelle auf die vergaberechtliche302 und die beihilferechtliche303 Dimension des Auftrags an das Toll Collect-Konsortium. Sowohl Vergabe-, als auch Beihilferecht sollen staatliches Eingreifen in Märkte relativieren und in den problematischen Folgen abmildern. Beide Rechtsgebiete machen die Eingriffe transparent, führen aber nicht zu einer grundlegenden Einschränkung solcher Interventionen. cc) Transaktionsmanager Toll Collect stritt mit seinem Kooperationspartner AGES um die Nutzung der Transaktionsdaten aus der Mauterhebung. Die Maut kann über Tankkarten beglichen werden, die von AGES-Gesellschaften ausgegeben werden. AGES wickelt für Toll Collect die über Tankkarte gezahlte Maut ab und erhält dafür von Toll Collect jeweils die Mautdaten des Vortags. Die Nutzer erhalten von Toll Collect monatlich eine Abrechnung. Die zeitige Übermittlung der Mautdaten an AGES dient der Abrechnung der Tankkartenemittenten mit ihren Kunden und der Kontrolle der Verfügungslimits auf den jeweiligen Tankkarten. AGES bietet mit Hilfe dieser „Abschlagsdaten“ Kunden einen „Transaktionsmanager“ an, mit dessen Hilfe der jeweilige Nutzer noch vor Rechnungstellung durch Toll Collect seine individuellen Mauttransaktionen online verfolgen und auswerten kann. Gegen diese Nutzung der Abschlagsdaten klagte Toll Collect gegen die Gesellschafterin der AGES mit der Begründung, die Datennutzung verletze das Recht von Toll Collect als Datenbankherstellerin (§ 87b Abs. 1 Satz 1 UrhG). Der BGH hat, wie die Vorinstanzen,304 einen Unterlassungsanspruch der Toll Collect aus § 97 Abs. 1 Satz 1 UrhG gegen die Subunternehmer der AGES bejaht.305 Bei den Abschlagsdaten, die Toll Collect den Tankkarten302

Vgl. Byok/Jansen, NZBau 2005, 241, 242 ff. Vgl. Zeiss/Günther, EuZW 2004, 103, 106 f. 304 OLG Hamburg, 20.2.2008, Az. 5 U 161/07, CR 2009, 775; LG Hamburg, 6.7.2007, Az. 308 O 711/06, BeckRS 2010, 22061. 305 BGH, 25.3.2010, Az. I ZR 47/08, CR 2011, 43. 303

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emittenten zur Verfügung stellt, handele es sich um eine Datenbank im Sinne von § 87a Abs. 1 UrhG. Der Senat konstatierte eine Verletzung des Leistungsschutzrechts der Toll Collect als Datenbankherstellerin durch „öffentliche Verfügbarmachung durch Online-Übermittlung“.306 Darin sei bei richtlinienkonformer Auslegung (Art. 7 Abs. 1 Datenbankrichtlinie) eine „öffentliche Wiedergabe“ im Sinne des § 87b Abs. 1 Satz 1 UrhG zu sehen. Ausreichend sei, dass jeweils nur einem Nutzer die Daten öffentlich gemacht würden (nämlich die diesen betreffenden), „wenn diese Nutzer in ihrer Gesamtheit eine Öffentlichkeit bilden.“307 Die Nutzung durch AGES sei auch nicht durch den Kooperationsvertrag gedeckt, in dem AGES keine Befugnis für eine Datenbanknutzung eingeräumt sei, die Dienstleistungen ermöglichen, die über die schlichte Abrechnung mit den Tankkarten-Kunden hinausgingen.308 Im vorliegenden Zusammenhang, in dem die Wende zum Privatrecht und die Rolle der Zivilgerichte im Fokus stehen, ist das Urteil noch aus weiteren Gründen interessant. Es belegt zunächst die Relevanz zivilgerichtlicher Streitschlichtung in wirtschaftlich komplexen und bedeutsamen Streitigkeiten, die in Folge von Deregulierungs- und Privatisierungsmaßnahmen auftreten. In diesem Fall trifft der BGH auch bedeutende marktbezogene Weichenstellungen, indem er ein Leistungsschutzrecht von Toll Collect anerkennt, das es Toll Collect ermöglicht, die Nutzung der Mautdaten weiter zu kommerzialisieren.309 Die privilegierte Stellung des staatlich beauftragten Unternehmens wird so mit Hilfe eines Leistungsschutzrechts für weitere Bereiche abgesichert, soweit diese – was der Senat offen lässt – für eine Kommerzialisierung in Frage kommen. Nachgelagerte Märkte, die nicht zwingend mit der Kerntätigkeit der Mauterhebung zusammen fallen müssen, werden so dem Partner der öffentlichen Hand zugesprochen, der ohnehin gegenüber allen potentiellen Marktteilnehmern auf nachgelagerten oder benachbarten Märkten privilegiert ist. Dies bedeutet eine Festigung des Wettbewerbsvorteils für Toll Collect. Für Verbraucher bedeutet dies, dass sie auf den Leistungserbringungswillen von Toll Collect angewiesen sind. Im vorliegenden Fall wird beispielsweise die Nachfrage nach zeitnaher Information und Abrechnung nicht befriedigt,310 was volkswirtschaftlich eine Ineffizienz darstellt. Das Leistungsschutzrecht knüpft an die Investition an, die der Datenbank zugrunde liegt. Den Schutz aus dem Datenbankrecht soll nur genießen, wer auch eine entsprechende Investition in die Herstellung der Datenbank, also 306

BGH, 25.3.2010, Az. I ZR 47/08, CR 2011, 43, Rz. 36. BGH, 25.3.2010, Az. I ZR 47/08, CR 2011, 43, Rz. 35. 308 BGH, 25.3.2010, Az. I ZR 47/08, CR 2011, 43, Rz. 42. 309 Ob Toll Collect zu einer Kommerzialisierung der Daten berechtigt wäre, also etwa durch Erteilung einer Lizenz zur Datennutzung, ist allerdings streitig, vgl. BGH, 25.3.2010, Az. I ZR 47/08, CR 2011, 43, Rz. 27. 310 Darauf weist die Beklagte in der Vorinstanz hin, vgl. OLG Hamburg, 20.2.2008, Az. 5 U 161/07, Rz. 60. 307

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die systematische und methodische Anordnung der Datensammlung, vorgenommen hat.311 Dabei setzt sich der Senat mit der Besonderheit auseinander, dass Toll Collect einen Auftrag der Bundesrepublik erhalten hat. Da Toll Collect aber „die organisatorische Verantwortung und das wirtschaftliche Risiko für die Errichtung und den Betrieb des Mautsystems und damit auch für die Erhebung der Daten“ trage, sei Toll Collect selbständiger Datenbank-Hersteller und nicht nur Auftragnehmer.312 Dem stehe die Vergütung nicht entgegen, die Toll Collect von der Bundesrepublik erhalte, da auch amortisierte Investitionen schutzfähig seien. Diese Argumentation belegt, dass die Zivilgerichte das Eingreifen des Staates, etwa durch PPP oder Deregulierungsmaßnahmen, nicht gesondert würdigen, sondern vielmehr in den privatrechtlichen Kontext einordnen. Der Senat thematisiert zwar, ob Toll Collect bloßer Auftragnehmer sei, aber es spielt für den Senat keine explizit dargestellte Rolle, dass der Auftraggeber die Bundesrepublik ist. Der hoheitliche Rest-Konnex und die volkswirtschaftliche Prägung durch staatliche Intervention werden ausgeblendet und argumentativ nicht aufgegriffen. Wie umkämpft der Markt für die in dem BGH-Urteil thematisierten Dienstleistungen war, belegt ein verwandter Streitfall, den das LG Düsseldorf 2007 zu entscheiden hatte.313 Eine Tankkartenemittentin war wegen unlauterer Werbung gegen ein Unternehmen vorgegangen, das sich auf Dienstleistungen für die Organisation von Geschäftsreisen, sog. „Business-Travel-Management“, spezialisiert hat. Beide Unternehmen verfügen über Kooperationsverträge mit Toll Collect, wobei die Antragstellerin die Zahlung der Maut über Tankkarten abwickelt, während die Antragsgegnerin neben der Kreditkartenzahlung auch die Möglichkeit bietet, über ein „virtuelles“ Konto, also ohne physische Karte, zu bezahlen. Für dieses neuartige Zahlungsprogramm hatte die Antragsgegnerin u.a. mit „umfassenden Einkaufsvorteilen“ geworben, die damit verknüpft seien. Das Landgericht verurteilte zur Unterlassung dieser Werbung, da die Einkaufsvorteile nicht umfassend seien.314 Aus dem Urteil geht hervor, dass die Bundesrepublik offenbar im Vertrag mit Toll Collect ausgeschlossen hat, dass im Zusammenhang mit der Mautentrichtung Vorteile gewährt werden, etwa Rabatte.315 Die Entstehung eines gan311

Vgl. Vogel in: Schricker/Loewenheim, Urheberrecht, 2010, § 87a Rn. 45. BGH, 25.3.2010, Az. I ZR 47/08, CR 2011, 43, Rz. 23. Ebenso eindeutig die Vorinstanz, OLG Hamburg, 20.2.2008, Az. 5 U 161/07, CR 2009, 775, Rz. 37. 313 LG Düsseldorf, 25.4.2007, Az. 12 O 68/07, abrufbar unter http://www.justiz.nrw.de/ nrwe/lgs/duesseldorf/lg_duesseldorf/j2007/12_O_68_07urteil20070425.html. 314 LG Düsseldorf, 25.4.2007, Az. 12 O 68/07, abrufbar unter http://www.justiz.nrw.de/ nrwe/lgs/duesseldorf/lg_duesseldorf/j2007/12_O_68_07urteil20070425.html, Rz. 29/30. 315 Vgl. LG Düsseldorf, 25.4.2007, Az. 12 O 68/07, abrufbar unter http://www.justiz.nrw. de/nrwe/lgs/duesseldorf/lg_duesseldorf/j2007/12_O_68_07urteil20070425.html, Rz. 21. 312

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zen Geschäfts rund um die Mauterhebung konnte die öffentliche Hand damit aber nicht verhindern. Dazu bestand aus volkswirtschaftlicher Sicht auch kein Anlass. Die zahlreichen wirtschaftsrechtlichen Folgestreitigkeiten vor den Zivilgerichten wurden beim Projekt der Autobahnmaut nicht antizipiert. Sicherungen für eine wettbewerbskonforme Ausgestaltung des Maut-Geschäftsfelds waren staatlicherseits nicht vorgesehen. Die Zivilgerichte wiederum messen die Streitigkeiten an hergebrachten zivilrechtlichen Maßstäben. Dabei spielen für die Zivilgerichte die Marktprägungen ebenso wenig eine Rolle wie die zentrale Stellung von Toll Collect als einem staatlich privilegierten Unternehmen. Eine weitere wettbewerbsrelevante Rechtsstreitigkeit in Folge der Autobahnmauterhebung, auf die hier nur hingewiesen werden soll, betraf die Patentanmeldung für ein „Lastzugserkennungssystem für mautpflichtige Fernstraßen“ (abgewiesen vom Bundespatentgericht).316 c) AGB von Toll Collect Ein weiterer Komplex, der die wirtschaftlichen Verhältnisse im neu entstehenden Geschäftsfeld „Maut“ und die dafür prägende Rolle der Zivilgerichtsbarkeit beleuchtet, betrifft die Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Toll Collect, gegen die sich Logistik- und Transportunternehmen wendeten. Hintergrund der AGB-Verwendung sind die vielfältigen Möglichkeiten, die Maut zu entrichten. Hierzu stehen OBU, Interneteinbuchung oder stationäre Maut-Terminals zur Verfügung. Wer OBU oder das Internet zur Bezahlung nutzen möchte, tritt in einen privatrechtlichen Vertrag mit Toll Collect ein. Für diese Verträge mit den Mautpflichtigen stellt Toll Collect Allgemeine Geschäftsbedingungen. Diese AGB treffen vor allem Transport- und Logistikunternehmen. Zu Beginn der Mauterhebung 2005 teilte Toll Collect den für OBU und Interneteinbuchung registrierten Nutzern eine Änderung seiner AGB mit, verbunden mit dem Hinweis, diese würden als genehmigt gelten, falls nicht innerhalb von sechs Wochen ein Widerspruch erfolge. Bei Widerspruch behalte sich Toll Collect eine Kündigung des Vertrags vor, was für die Nutzer die aufwändigere Bezahlung der Mautgebühr an Terminals nach sich zöge. Wegen dieses Verhaltens (Stellen der AGB, Drohung mit Kündigung, tatsächliche Kündigung) klagten 32 nationale und internationale Verbände von Transport- und Logistikunternehmen gegen Toll Collect auf Unterlassung. Sie stützten ihre Klage in erster Instanz auf § 19 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 1 GWB bzw. Art. 82 EG,317 also den kartellrechtlich untersagten Missbrauch einer marktbe316 BPatG, 11.12.2007, Az. 17 W (pat) 42/07, abrufbar unter http://juris.bundespatentgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bpatg&Art=en&Datum=2007&Seite=3&nr=3282&pos=46&anz=1507&Blank=1.pdf. 317 Heute Art. 102 AEUV.

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herrschenden Stellung, sowie in der Berufungsinstanz auf die AGB-Inhaltskontrolle nach § 307 BGB. Das LG Düsseldorf wies die Klage 2006 ab.318 Die Berufung wurde vom OLG Düsseldorf 2007 als unzulässig verworfen.319 Das Landgericht verneinte bereits die Unternehmenseigenschaft von Toll Collect. Der funktionale Unternehmensbegriff setzt für die Anwendbarkeit des Kartellrechts voraus, dass eine wirtschaftlich tätige Einheit handelt, indem sie Waren oder Dienstleistungen am Markt anbietet oder nachfragt.320 Eine solche wirtschaftliche Tätigkeit liege bei der Mauterhebung durch Toll Collect nicht vor, so das LG, denn die Mauterhebung erfolge allein im Auftrag der Bundesrepublik auf gesetzlicher Grundlage (§ 4 Abs. 2 ABMG) und stelle eine originär hoheitliche Tätigkeit dar. Gebührenschuldner seien keine Nachfrager im kartellrechtlichen Sinn. Die Tätigkeit von Toll Collect gegenüber den Transporteuren werde „wesentlich durch den ihr im Rahmen seitens des Bundes erteilten Auftrag sowie die gesetzlichen Rahmenvorgaben bestimmt.“321 Dafür werden u.a. die Abführung der Einnahmen an den Bund und die erforderliche Erlaubnis angeführt. Die privatrechtliche Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Toll Collect und den Mautschuldnern ändere daran nichts. Das Landgericht sieht sich hier in Einklang mit der EuGH-Rechtsprechung zur Luftraumüberwachung durch die Organisation Eurocontrol.322 An der Argumentation des Landgerichts überrascht die geradezu binäre Einordnung der Tätigkeit, die nach Ansicht der Kammer offenbar entweder marktwirtschaftlich ausgestaltet ist oder hoheitlich. Das LG trägt nicht dem Umstand Rechnung, dass im Fall einer PPP eine Hybridlösung entsteht, die Elemente beider Prägungen enthält. Eine Differenzierung klingt in dem Urteil nicht an, die Rechtsbeziehungen zwischen den Beteiligten – Bund, Toll Collect sowie Mautnutzer – werden formalistisch interpretiert.323 Dementsprechend einseitig fällt das Urteil aus, das die Unternehmenseigenschaft von Toll Collect bei der Mauterhebung pauschal bestreitet und die Klage als unbegründet abweist. So wird ein privatrechtlich organisiertes Unternehmen, das in einem privatrechtlichen Rechtsverhältnis zu Unternehmen auftritt und dabei Allgemeine Geschäftsbedingungen stellt, geradezu zu einer hoheitlich handelnden Organisation gewandelt.324

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LG Düsseldorf, 10.5.2006, Az. 12 O 255/05, WuW/E DE-R 1908. OLG Düsseldorf, 10.10.2007, Az. VI-U (Kart) 24/06, abrufbar unter http://www.justiz.nrw.de/nrwe/olgs/duesseldorf/j2007/VI_U__Kart__24_06urteil20071010.html. 320 EuGH, 23.4.1991, Rs. C-41/90, Slg. 1991, I-1979, Rz. 16 ff., 21 – Höfner. 321 LG Düsseldorf, 10.5.2006, Az. 12 O 255/05, WuW/E DE-R 1908, Rz. 45. 322 Vgl. EuGH, 19.1.1994, Rs. C-364/92, Slg. 1994, I-43 – Eurocontrol. 323 Vgl. Kordel, ZWeR 2005, 359, 366; Gimmler/Steinborn, TranspR 2005, 234 ff. 324 Vgl. Kordel, ZWeR 2005, 359, 363 ff. Zur verwandten Frage der Haftung für die Straßenverkehrssicherungspflicht als Private oder als Amtsträger siehe Müller, VersR 2006, 326 ff. 319

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

Nicht zuletzt mutet die Entscheidung vor dem konkreten Sachverhalt merkwürdig an, in dem es gerade um die Ausgestaltung der unternehmerischen Spielräume durch AGB geht. Werden diese von Toll Collect gestellt und nicht von der Bundesrepublik vorgegeben, scheint es zumindest einen Handlungsspielraum im Geschäftsverkehr von Toll Collect zu geben,325 der nach der Logik des LG Düsseldorf keiner wirtschaftsordnenden Kontrolle unterliegt – denn eine materiellrechtliche Kontrolle der AGB durch einen Hoheitsträger findet gleichermaßen nicht statt.326 Ob die Analogie zur nicht unumstrittenen Eurocontrol-Entscheidung des EuGH glücklich gewählt ist,327 mag dahinstehen. Nur hingewiesen werden soll hier darauf, dass Eurocontrol, anders als Toll Collect, in Form einer internationalen Organisation verfasst ist und den Luftraum sichert, also eine Tätigkeit ausübt, die unmittelbar sicherheits- und möglicherweise militärrelevant ist. Das LG sieht, wie es hilfsweise ausführt, auch keinen Missbrauch durch Toll Collect. Die Kündigung bei Widerspruch stelle nämlich keine grundsätzliche Verweigerung des Zugangs zum Autobahnnetz dar, sondern mache den Zugang auf erleichtertem Weg (OBU/Internet) nur von bestimmten Konditionen abhängig.328 Eine zivilrechtliche Kontrolle nach AGB-Recht nimmt das LG nicht vor, da dies von den Klägern ausdrücklich nicht gewollt sei.329 Nur erwähnt sei, dass das OLG die Berufung für unzulässig hält, da die Kläger in der Berufungsinstanz den Streitgegenstand verändert hätten, sodass eine zusprechende Berufungsentscheidung die Beschwer aus dem erstinstanzlichen Urteil nicht hätte beseitigen können.330 Die Kläger hatten die Berufung nicht mehr auf den kartellrechtlichen Vorwurf, sondern auf den Verstoß gegen das AGB-Recht gestützt. Im Ergebnis blieb die Klage der Transport- und Logistikunternehmen erfolglos, eine Kontrolle der AGB fand weder in kartellrechtlicher noch zivilrechtlicher Hinsicht statt. Obwohl gerade das Zusammenwirken von Staat und Privatem die Beschwer der Kläger erst ausgelöst hat – der Vorwurf eines Missbrauchs lässt sich eben nur durch die vom Staat der Toll Collect eingeräumten starken Stellung konstruieren – wird den besonderen Umständen der Wende zum Privatrecht keine Beachtung geschenkt. Die Zivilgerichtsbarkeit verzichtet damit in diesem Fall darauf, ihre wirtschaftsordnende Funktion wahrzunehmen; es kommt geradezu zu einer „Flucht aus dem Pri325

A.A. Beeser-Wiesmann, LG Düsseldorf EWiR § 19 GWB 3/06, 529, 530. Die Prüfung der AGB durch das Bundesamt für Güterverkehr enthält keine Überprüfung der zivilrechtlichen Wirksamkeit, vgl. LG Düsseldorf, 10.5.2006, Az. 12 O 255/05, WuW/ E DE-R 1908, Rz. 31. 327 So Beeser-Wiesmann, LG Düsseldorf EWiR § 19 GWB 3/06, 529, 530. 328 LG Düsseldorf, 10.5.2006, Az. 12 O 255/05, WuW/E DE-R 1908, Rz. 49. 329 LG Düsseldorf, 10.5.2006, Az. 12 O 255/05, WuW/E DE-R 1908, Rz. 21. 330 OLG Düsseldorf, 10.10.2007, Az. VI-U (Kart) 24/06, abrufbar unter http://www.justiz.nrw.de/nrwe/olgs/duesseldorf/j2007/VI_U__Kart__24_06urteil20071010.html, Rz. 41. 326

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vatrecht“ – allerdings nicht ins öffentliche Recht, sondern in ein rechtliches Niemandsland.

3. Rechtswegfragen Die neuartige Prägung von ehemals öffentlich-rechtlichen Rechtsmaterien durch verstärkt privatrechtliche Elemente zeigt sich in besonderer Weise an Schwierigkeiten, den Rechtsweg zu bestimmen. Bei der Durchführung der Mauterhebung stellt sich in der Praxis immer wieder die Frage, wer überhaupt mautpflichtig ist. Die Mautpflichtigkeit richtete sich nach §§ 1 und 2 ABMG und ist nunmehr in §§ 1 und 2 BFStrMG geregelt. Auslegungsstreitigkeiten betreffen etwa die Frage, ob auch eine Sattelzugmaschine mit einem Gesamtgewicht von 12 t mautpflichtig ist, wenn sie ohne Auflieger die Autobahn benutzt,331 oder ob Tankreinigungsfahrzeuge332 oder Pferdetransporter333 mautpflichtig sind. Der Rechtsweg bestimmt sich für Klagen nach den Regeln in § 13 GVG und § 40 VwGO. Aus der Zusammenschau beider Normen ergibt sich, dass für die Wahl des Rechtswegs die Differenzierung zwischen bürgerlichen sowie strafrechtlichen Streitigkeiten einerseits und öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten andererseits entscheidend ist. Bei Streitigkeiten bezüglich der Mauterhebung ergeben sich rechtliche Anknüpfungspunkte sowohl für ein Tätigwerden der Verwaltungsgerichte, als auch der Zivil- und Strafgerichte. Die Frage der Mautpflichtigkeit kann nämlich in unterschiedlichen rechtlichen Gewändern auftreten, wie drei Beispielsfälle belegen: Das OLG Köln hatte über die Mautpflicht für Sattelzugmaschinen ohne Ladebrücke zu entscheiden, also solche Sattelkraftfahrzeuge, die ohne Sattelanhänger fahren und damit keine Güter transportieren.334 Das OLG bejahte die Mautpflicht. Dieser Streit hatte das OLG Köln erreicht, da das Amtsgericht Köln wegen einer fahrlässigen Ordnungswidrigkeit nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 ABMG eine Geldbuße verhängt hatte. Der Bebußte bezweifelte die Mautpflichtigkeit seines Fahrzeugs. Die materiell-rechtliche Frage nach der Mautpflicht (§ 1 Abs. 1 ABMG) war so vor der ordentlichen Gerichtsbarkeit im Zuge eines Bußgeldverfahrens zu klären. Das VG Köln hatte zu entscheiden, ob ein Pferdetransporter, der für den Besuch von Reitturnieren benutzt wird, der Mautpflicht unterliegt.335 Das VG bejahte dies, da es sich um ein Fahrzeug zum Gütertransport handele. Der Halter des Fahrzeugs hatte die Mautpflichtigkeit im Sinne des § 1 Abs. 1 331 332 333 334 335

Vgl. OLG Köln, 9.7.2008, Az. 82 Ss-OWi 52/08, NZV 2008, 585. Vgl. VG Köln, 15.6.2007, Az. 25 K 5967/04 (Juris). Vgl. VG Köln, 4.5.2007, Az. 25 K 358/06, NVwZ-RR 2007, 714. OLG Köln, 9.7.2008, Az. 82 Ss-OWi 52/08, NVZ 2008, 585. VG Köln, 4.5.2007, Az. 25 K 358/06, NVwZ-RR 2007, 714.

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

ABMG bestritten. Der Pferdetransporter war bei einer von Toll Collect als Betreiber durchgeführten Kontrolle aufgefallen, Toll Collect hatte daraufhin nachträglich als Beliehene die Maut in Bescheid-Form erhoben (§ 8 Abs. 1 ABMG). Über den Widerspruch gegen den Bescheid hatte das Bundesamt für Güterverkehr gemäß § 8 Abs. 1 Satz 2 ABMG entschieden. Die Beleihung und damit die Eröffnung des verwaltungsrechtlichen Rechtswegs hat auch das VG Berlin ausdrücklich in derartigen Nacherhebungsstreitigkeiten festgestellt.336 Hier handelte es sich damit um einen verwaltungsrechtlichen Streit. Was für den Fall der Maut-Nacherhebung gilt, gilt allerdings nicht ohne weiteres für die Anfechtung einer erfolgten Mautzahlung. Das OVG NRW hatte in einem Rechtsstreit zu entscheiden, in dem der Fuhrunternehmer an einem Terminal von Toll Collect seinen Mautbetrag beglichen hatte.337 Den entsprechenden „Bescheid“ wollte der Kläger mit Klage beim Verwaltungsgericht gegen das Bundesamt für Güterverkehr anfechten. Toll Collect war Beigeladene dieses Verfahrens. Das OVG entschied, dass eine Anfechtungsklage nicht statthaft sei, da die Mauterhebung nicht in Form eines Verwaltungsakts erfolgt sei. Bei der einfachen Mauterhebung handele Toll Collect nämlich nicht als Beliehene, sondern schließe mit dem Mautschuldner einen privatrechtlichen Vertrag.338 „Dementsprechend trat die Beigeladene dem Kläger als selbständig handelndes privatrechtliches Unternehmen gegenüber, das im Rahmen eines Auftragsverhältnisses für den Kläger einen in dem von ihm gewählten Mauterhebungsverfahren ermittelten Betrag in Höhe der Maut an das Bundesamt abführte.“339

Das OVG interpretierte die „Anfechtung“ dann aber als allgemeine Leistungsklage gegen das Bundesamt, die auf schlichtes Verwaltungshandeln (Erstattung des Betrags) gerichtet sei.340 Die Abweichung vom Zivilrechtsweg steht in Spannung zu der gesetzgeberischen Vorstellung bei Einführung des ABMG. Dieser hatte, wie das OVG selbst ausführt, Streitigkeiten über die Berechtigung und Höhe des Mautentgelts „ausschließlich“ der Zivilgerichtsbarkeit zuweisen wollen.341 Das OVG kehrt diesen gesetzgeberischen Willen völlig um und konstruiert entsprechende Rechtsstreitigkeiten als öffentlich-rechtliche Verhältnisse zwischen 336 VG Berlin, 9.6.2009, Az. 4 A 255/08, Rz. 15 (zur Mautpflichtigkeit eines FahrschulFahrzeugs) (Juris). 337 OVG Münster, 23.6.2009, Az. 9 A 2054/07, DÖV 2010, 35. 338 OVG Münster, 23.6.2009, Az. 9 A 2054/07, DÖV 2010, 35, Rz. 27. Ebenso VG Köln, 21.3.2006, Az. 14 K 10004/03 (Juris), das eine vorbeugende Feststellungsklage gegen die Mautpflicht zuließ, da im Zivilrechtsweg keine grundlegende verbindliche Klärung über die Mautpflichtigkeit erreicht werden könne (Rz. 12). 339 OVG Münster, 23.6.2009, Az. 9 A 2054/07, Rz. 32. 340 Ebenso Bender/Bister, DAR 2006, 361, 367. 341 Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 15/3678, S. 8. Vgl. OVG Münster, 23.6.2009, Az. 9 A 2054/07, DÖV 2010, 35, Rz. 42 ff.

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dem Mautschuldner und dem Bundesamt für Güterverkehr. Die gesetzgeberische Intention tut das OVG als „Fehlvorstellung“342 ab. Schließlich haben sich aber auch Zivilgerichte mit der Mautpflichtigkeit befasst, insofern der gesetzgeberischen Intention durchaus folgend. So entschied das LG Berlin in einem Rechtsstreit zwischen Toll Collect und einem Transportunternehmen, das sich weigerte die über OBU ermittelte Maut zu zahlen, da die Fahrzeuge inzwischen verkauft seien.343 Das Verfahren war über ein Mahnverfahren eingeleitet worden. Das LG stellt lapidar fest: „Es liegt eine zivilrechtliche Streitigkeit vor, da der geltend gemachte Anspruch sich aus einem privatrechtlichen Rechtsverhältnis ergibt.“344 So entfaltet sich beim Rechtsweg in Mauterhebungsfragen das ganze Rechtsschutz-Panorama einer PPP: Ein und dieselbe Frage kann im Ordnungswidrigkeitenverfahren von einem ordentlichen Gericht zu klären sein oder von einem Zivilgericht auf Basis des Vertrags zwischen Toll Collect und Mautschuldner oder in Form einer allgemeinen Leistungsklage wegen Beleihung oder als Anfechtung eines Nacherhebungsbescheids.345 Es ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass die unterschiedlichen institutionellen Gegebenheiten der unterschiedlichen Gerichte und die dogmatische Vorprägung der jeweiligen Richterschaft unterschiedliche Akzente in den Urteilen herbeiführen.

IV. Legislatorischer Reformbedarf? Der Fall der Autobahnmaut mit den zahlreichen Folgeproblemen zeigt auf, welche Regelungsbedürfnisse bei PPP bestehen können, um das Dreiecksverhältnis von Öffentlicher Hand, privatem Partnerunternehmen (und dessen Subunternehmen) sowie den Kunden/Nutzern möglichst konfliktfrei auszugestalten. Da sich in zahlreichen PPP ähnliche Konflikte ergeben, stellt sich die Frage, ob die derzeit sehr flexiblen Lösungen der PPP rechtlich kodifiziert werden sollten. Bislang hat es keine umfassende Kodifikation zu PPP gegeben. Der deutsche Gesetzgeber hat 2005 das „Gesetz zur Beschleunigung der Umsetzung von Öffentlich Privaten Partnerschaften und zur Verbesserung gesetzlicher Rahmenbedingungen für Öffentlich Private Partnerschaften“ (ÖPP-Beschleunigungsgesetz) erlassen. Dabei handelt es sich um ein Artikelgesetz, das einzelne Vorschriften in anderen Gesetzen abändert. So wurde etwa im Vergaberecht das Instrument des „Wettbewerblichen Dialogs“ (§ 6a Vergabeverord342

OVG Münster, Az. 23.6.2009, 9 A 2054/07, DÖV 2010, 35, Rz. 44. LG Berlin, 20.9.2006, Az. 28 O 242/05, NJOZ 2007, 1987. 344 LG Berlin, 20.9.2006, Az. 28 O 242/05, NJOZ 2007, 1987, 1988. 345 Vgl. Bender/Bister, DAR 2006, 361, 367. Siehe auch Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1986, § 12 Rn. 27 ff., der auf die Rechtsschutzverkürzungen hinweist, die durch Beschreiten des ordentlichen Rechtswegs entstehen können, etwa Wegfall der Verfassungsbeschwerde. 343

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nung) eingeführt, mit dem die staatlichen Auftraggeber in die Lage versetzt werden sollen, eine PPP im Dialog mit potentiellen Auftragnehmern auszuarbeiten. Im Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetz wurde eine Flexibilisierung der Finanzierung vorgesehen, sodass neben Gebühren auch Entgelte erhoben werden können. Das ÖPP-Beschleunigungsgesetz hat jedoch keine „Ordnungsidee“346, das heißt: der Gesetzgeber hat darauf verzichtet, einen normativen Rahmen für PPP zu setzen und materielle Grundgedanken zu formulieren, die ein Regelungsregime für PPP vorsehen. Erkennbar wird bestenfalls eine politische Öffnung für PPP.347 Ähnlich zurückhaltend blieben europäische Rechtsetzungsversuche. Während das Grünbuch der Kommission noch erkennen ließ, dass die Kommission sich eine umfassende Definition und Normierung von PPP vorstellen könnte,348 ruderte die KOM ein Jahr nach der Veröffentlichung wieder zurück. In der Konsultation hatte sich offenbar kein Regelungsbedarf für die meisten PPP-Aspekte ergeben.349 Einige Anregungen der KOM, etwa zum „wettbewerblichen Dialog“, wurden im ÖPP-Beschleunigungsgesetz aufgenommen. Seither ist es nicht mehr zu Gesetzgebungsinitiativen gekommen, die sich den PPP in grundsätzlicher Form genähert hätten. Die Idee einer Kodifikation wurde aber in der Wissenschaft ausführlich diskutiert. So hatten etwa Jan Ziekow und Gunnar Folke Schuppert bereits 2001 Gutachten über verwaltungsrechtliche Kooperationsverhältnisse für das Bundesinnenministerium angefertigt.350 Der Deutsche Juristentag befasste sich 2002 mit öffentlichen Unternehmen und thematisierte Fragen der Kooperation, 2006 mit Regulierung und 2008 mit Privatisierungsfragen und insbesondere PPP. Bezeichnenderweise wurden die Themen jeweils in der Abteilung für Öffentliches Recht abgehandelt. Immer wieder waren spezifische Kodifikationen vorgeschlagen worden. So hatte Ziekow etwa eine Überarbeitung des Rechts des öffentlich-rechtlichen Vertrags angeregt. Schuppert hatte einen eigenen Abschnitt zu den neuen Kooperationsformen der Verwaltung im VwVfG vorgeschlagen. Der Beirat Verwaltungsverfahrensrecht beim Bundesinnenministerium hatte für eine „kleine Lösung“ plädiert, nach der PPP-Verträge in einem neu zu schaffenden Art. 54a VwVfG als eigenständige Form der 346

Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – DJT-Gutachten, 2008, S. D111. Vgl. auch den Antrag zu einem PPP-Modell und einem PPP-Gesetz, der von Abgeordneten der Großen Koalition 2009 eingebracht wurde, aber nicht mehr in der Legislaturperiode umgesetzt wurde, Antrag vom 18.3.2009, BT-Drucks. 16/12283, sowie das BT-Plenarprotokoll 16/211 vom 19.3.2009, S. 22922 ff. 348 KOM, Grünbuch zu öffentlich-privaten Partnerschaften, Mitteilung vom 30.4.2004, KOM(2004), 327 endg. 349 Vgl. KOM, Mitteilung vom 15.11.2005, KOM (2005), 569 endg. 350 Schuppert, Verwaltungskooperationsrecht, 2001; Ziekow, Verankerung verwaltungsrechtlicher Kooperationsverhältnisse, 2001, beide abrufbar über www.verwaltung-innovativ.de (zuletzt abgerufen 11.4.2012). 347

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Kooperation anzuerkennen seien.351 Burgi hatte dem Juristentag 2008 ein Allgemeines PPP-Gesetz als gesonderte Kodifikation außerhalb des VwVfG vorgeschlagen, was von der Mehrheit mitgetragen wurde.352 Er hatte darin eine eigene „Fehlerfolgenregelung“ vorgesehen, die neben BGB und VwVfG greifen sollte.353 Das Pro und Contra solcher Vorschläge wurde in der Wissenschaft ausgiebig diskutiert.354 Dass es zu solchen Kodifikationen nicht gekommen ist, hat gute Gründe, und diese reichen über die Komplexität und damit Schwierigkeit des Regelungsunterfangens hinaus. Erstens ist eine Kodifikation, wie von den Verwaltungsrechtlern vorgeschlagen, nicht erforderlich. Die PPP sind, wie gesehen, im Wesentlichen zivilrechtlich reguliert, und die Regeln des Vertragsrechts funktionieren. Insbesondere kann jede Vertragspartei ihre Interessen in einen zivilrechtlichen Vertrag einbringen, auch wenn diese öffentliche Interessen sind. Eine wie auch immer geartete Privilegierung eines Vertragspartners, etwa durch Vorrang seiner Interessen, ist dem Zivilrecht fremd. Es bedarf keiner Privilegierung, da die Verwaltung nicht gezwungen ist, einen Vertrag abzuschließen. Wer sich auf das Zivilrecht einlässt, muss nach dessen Regeln verhandeln. Zweitens würde jede Regelung die Flexibilität des Formats PPP einschränken. Genau diese Flexibilität suchen aber die Vertragsparteien. Die Entstehung von PPP außerhalb des hergebrachten öffentlich-rechtlichen Vertrags oder anderer Einbindungen Privater in öffentliche Tätigkeiten belegt, dass ein Bedürfnis für kooperative Beschaffungslösungen seitens der öffentlichen Hand besteht. Würden hier Einschränkungen gemacht, wäre vermutlich das Phänomen zu beobachten, dass bald wieder neue Lösungen auftauchen, die eine Flucht aus den Fesseln des öffentlichen Rechts ermöglichen. Diese Flexibilität ist nicht zuletzt deshalb angemessen, weil die PPP regelmäßig langfristig angelegte, sehr komplexe und individuelle Gegenstände betreffen, für die sich schematische Lösungen verbieten. Drittens ist das oben dargestellte Leitbild des Zivilrechts zu berücksichtigen. Einschränkungen der Privatautonomie müssen demnach nur bei gestörten Autonomieverhältnissen oder zur Erhaltung des Systems der autonomen Interessenkoordination erfolgen. Selbst wenn der Behörde als Vertragspartei ein eigenes Berufen auf die Privatautonomie verwehrt ist, da diese nur Privaten 351 Vorgeschlagen vom Beirat Verwaltungsverfahrensrecht beim Bundesinnenministerium, siehe Beirat, NVwZ 2002, 834 ff. 352 Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – DJT-Gutachten, 2008, S. D109 ff. sowie Beschluss 22 der Abteilung für Öffentliches Recht. 353 Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – DJT-Gutachten, 2008, S. D113. 354 Für eine Kodifikation etwa Becker, ZRP 2002, 303, 307; Lämmerzahl, Beteiligung Privater, 2007, S. 237 ff.; dagegen Bausback, DÖV 2006, 901, 907; Stober, NJW 2008, 2301, 2308; Schwintowski/Ortlieb in: Budäus, Kooperationsformen zwischen Staat und Markt, 2006, S. 189, 212 f.

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

zusteht, so liegt doch keine Störung vor, die mit Regelungen des materiellen Rechts behoben werden müsste. Gerade die Behörde kann ihre Interessen gut vertreten und hat entsprechende Ressourcen.355 Ein Schutz des privaten Unternehmens ist gleichfalls nicht angezeigt. In PPP verwirklicht sich vielmehr das Leitbild des Zivilrechts aufs Beste: Zwei starke Verhandlungspartner, die öffentliche Hand und meist größere Unternehmen, ringen frei um die Koordination ihrer Interessen zur Verwirklichung eines gemeinsamen Projekts. Öffentliche Interessen werden nicht durch dieses Vertragsverhältnis abgesichert, sondern im Verhältnis der öffentlichen Verwaltung zu Dritten, denen gegenüber sie sich ggf. schadensersatzpflichtig macht. Der nachhaltige Erfolg von PPP in der Praxis bestätigt, dass gesonderte Kodifikationen nicht erforderlich sind. Das Zivilrecht beweist hier vielmehr seine Regelungskraft, weshalb sich die Verwaltung gern auf diese Wende zum Privatrecht einlässt, statt an den hergebrachten Formen des Verwaltungshandelns festzuhalten.

E. Publifizierung des Privatrechts Die Hinwendung der Verwaltung zum Privatrecht findet auf legislativer Ebene ihre Entsprechung. Der Gesetzgeber selbst benutzt, auch unter dem Eindruck des europäischen Rechts, immer häufiger bewusst das Durchsetzungs- und Formeninstrumentarium des Zivilrechts, um gemeinwohlorientierten Ordnungsvorstellungen Ausdruck zu verleihen.

I. Mechanismen der Publifizierung Die Wende zum Privatrecht vollzieht auch der Gesetzgeber. Immer häufiger werden privatrechtliche Mechanismen eingesetzt, um Ziele zu erreichen, die nach traditioneller Vorstellung durch hoheitliches Handeln zu verwirklichen wären. Zivilrecht ist das Rechtsgebiet, in dem Interessen der Privaten zum Ausgleich gebracht werden, ohne dass hoheitliche Vorstellungen von der Bewertung dieser Interessen verabsolutiert werden. Die Präferenzen und Entscheidungen der Individuen sind maßgeblich. Grenzen finden private Ordnungsvorstellungen nur in Konstellationen, in denen die ungehinderte Durch355 Kritisch aus Perspektive der Neuen Politischen Ökonomie und der Transaktionskostenökonomie allerdings Mühlenkamp in: Budäus, Kooperationsformen zwischen Staat und Markt, 2006, S. 29 ff. Er geht davon aus, dass die öffentliche Hand häufig fehlerhafte Anreizsetzungen hat (Gewinnung von Wählerstimmen statt Gemeinwohloptimierung) und bei der Sicherung des langfristigen Vertragsziels tendenziell unterlegen ist. Schlechtes Verhandeln ist allerdings ein typisches vertragsrechtliches Risiko, das sich nicht nur auf Verwaltungen bezieht. Insofern sind Mühlenkamps ökonomische Ausführungen eher ein Plädoyer für eine sorgfältigere Überlegung, ob ein Projekt mit Hilfe einer PPP realisiert werden sollte, aber kein Plädoyer für dessen öffentlich-rechtliche Übersicherung.

E. Publifizierung des Privatrechts

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setzung privater Vorstellungen in eklatanter Weise von den Ordnungsvorstellungen im Gemeinwesen abweichen, etwa bei Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) oder bei Verstößen gegen den Minderjährigenschutz (§§ 104 ff. BGB) sowie in stark politisch geprägten Bereichen des Bürgerlichen Rechts, etwa dem sozialen Mietrecht. Im allgemeinen Wirtschaftsrecht beschränkt sich der Gesetzgeber hingegen und überlässt den Interessenausgleich den Marktteilnehmern. Dieses modellartig skizzierte Verständnis des Zivilrechts wird durch eine zunehmende Publifizierung in Frage gestellt. Der Begriff der „Publifizierung“ ist insbesondere von Walter Leisner geprägt worden.356 Für Leisner geht es im Zivilrecht um eine staatsferne Selbstorganisation der Gesellschaft.357 Funktionalisiert der Staat aber das Zivilrecht für seine Ordnungsvorstellungen, so verliert dieses den Charakter als Recht der autonomen Organisation der Gesellschaft durch ihre Mitglieder und wird zum „Anlass zu staatlicher Fremdordnung“.358 Skeptische Kommentatoren sehen daher in der Publifizierung nicht etwa die Wende zum Privatrecht, sondern das „Privatrecht auf dem Rückzug“.359 Eine solche Wertung scheint übertrieben, und sie unterschätzt, welche Sogkraft vom Freiheitsversprechen des Privatrechts ausgeht. Konkret bedeutet Publifizierung, dass privaten Teilnehmern des Rechtsund Wirtschaftsverkehrs die Initiative überlassen wird, ob sie ein bestimmtes Verhalten rechtlich angreifen, allerdings erhalten sie vom Gesetzgeber Anreize dies zu tun, sodass das Rechtsverfolgungsinteresse stark gefördert wird. So wird konkret-hoheitliches Eingreifen durch legislative Maßnahmen ersetzt, die privaten Personen die Möglichkeit geben, bestimmte Ordnungsvorstellungen gerichtlich zu verwirklichen. Zivilrechtliche Regelungen werden so in zunehmendem Maße mit dem politisch Gewünschten aufgeladen.360 Die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen, der vor der Frage steht, wie er einen bestimmten Vertrag entwirft oder ob er Rechtsschutz gegen ein bestimmtes Verhalten sucht, wird durch die gesetzgeberischen Eingriffe verzerrt. Sachmaterien, die in dieser Form als „publifiziert“ angesehen werden, in denen der Gesetzgeber also starke inhaltliche Wertungen im öffentlichen Inter356 Erstmals wohl Leisner, Erbschaftsbesteuerung, 1970, S. 70 f., später Leisner, „Privatisierung“ des Öffentlichen Rechts, 2007, S. 34 ff. Kube, JZ 2010, 265 ff. erörtert eine parallel gelagerte Problematik des öffentlichen Rechts, nämlich „kostenträchtige Indienstnahmen für Gemeinwohlbelange“ (S. 266), bei der Grundrechtsträger seitens öffentlicher Stellen dazu verpflichtet werden, bestimmte Lasten zu tragen, ohne dafür einen finanziellen Ausgleich zu erhalten. Kube bewertet dies aus freiheitsgrundrechtlicher Perspektive kritisch. 357 Leisner, Erbschaftsbesteuerung, 1970, S. 70. 358 Leisner, Erbschaftsbesteuerung, 1970, S. 70. 359 Coing/Honsell in: Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts, 2011, S. 79. Vgl. auch Wall, Anwendbarkeit privatrechtlicher Vorschriften im Verwaltungsrecht, 1999, S. 31 f. 360 Vgl. Gündling, Modernisiertes Privatrecht und öffentliches Recht, 2006, S. 424 f. und passim. Weniger skeptisch Grundmann in: Riesenhuber, Privatrechtsgesellschaft, 2007, 105, 122 f.

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

esse dem Zivilrecht eingeschrieben haben soll, sind in verschiedenen Bereichen zu finden. Besonders engagiert diskutiert wurden in den vergangenen Jahren das Verbraucherschutzrecht (einschließlich der Schuldrechtsreform)361 und das Antidiskriminierungsrecht. Schon früh „publifiziert“ wurde das Lauterkeitsrecht, in dem durch Konkurrentenklagen das öffentliche Interesse an einem lauteren Geschäftsverkehr durchgesetzt werden sollte. Eine neuere Entwicklung ist die Förderung des „private enforcement“ im Kartellrecht: Der europäische Gesetzgeber will hier wettbewerbliche Ordnungsvorstellungen durch Anreize für private Kläger stärken. Sowohl im Gleichstellungsrecht als auch im Kartellrecht bringt der Gesetzgeber ein öffentliches Interesse (Gleichstellung, Wettbewerbssicherung) mit einem privaten Interesse (Schadensersatz) in Deckung und erleichtert darüber hinaus die Durchsetzung des privaten Interesses derart, dass das öffentliche Ziel erreicht werden kann. Die Impulse zu einer solchen Publifizierung (oder kritischer: Instrumentalisierung) des Zivilrechts gehen vor allem von der europäischen Gesetzgebung aus. Rechtsinstrumente, die Anreize zur Interessendurchsetzung im privaten Rechtsverkehr setzen, sind etwa Klagebefugnisse für Verbände, Beweiserleichterungen, Verjährungsverlängerungen, Schadensersatzansprüche mit pönalen oder generalpräventiven Elementen,362 Informations- und Auskunftsansprüche, Selbstregulierungsanreize oder die Ausweitung rechtsgestaltender und vertragskontrollierender Möglichkeiten (z.B. Widerrufsrechte, Inhaltskontrolle).363

II. Das Beispiel AGG Die Konflikte um den vermeintlichen Paradigmenwechsel im Privatrecht kristallisierten sich an der Anti-Diskriminierungsgesetzgebung, die in Deutschland mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) von 2006 vollzogen wurde.364 Mit dem AGG wurden vier europäische Richtlinien in deutsches Recht umgesetzt, die dem Ziel der Gleichbehandlung dienen.365 § 19 AGG sieht ein ausdrückliches Diskriminierungsverbot im Zivilrechtsverkehr vor. Unzulässig sind demnach Benachteiligungen wegen eines der in § 19 AGG genannten besonderen Merkmale (Rasse, ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion, Behinderung, Alter, sexuelle Identität) bei Begründung, 361 Vgl. nur Gündling, Modernisiertes Privatrecht und öffentliches Recht, 2006, S. 53 m.w.N.; Honsell, ZIP 2008, 621, 623 f. 362 Dazu Coing/Honsell in: Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts, 2011, S. 81 f. 363 Vgl. Bruns, JZ 2007, 385, 392 f. 364 Darstellungen bei Adomeit/Mohr, Komm AGG, 2007, Rn. 201 ff. Däubler/Ambrosius, AGG, 2008, Rn. 8 ff.; Schwab, DNotZ 2006, 649 ff. 365 Richtlinien 2000/43/EG; 2000/78/EG; 2002/73/EG; 2004/113/EG. § 19 AGG geht dabei über das in den Richtlinien Geforderte hinaus, vgl. Thüsing in: MüKo-BGB, 2012, AGG, Einl. Rn. 3; Franke/Schlichtmann in: Däubler/Ambrosius, AGG, 2008, § 19 Rn. 8 f.

E. Publifizierung des Privatrechts

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Durchführung oder Beendigung eines zivilrechtlichen Schuldverhältnisses, wenn es sich um ein Massengeschäft oder einen Versicherungsvertrag handelt. Gerade die Einschränkung des allgemeinen Diskriminierungsverbots auf Massengeschäfte und Versicherungsverträge lässt erkennen, dass es sich hier primär um eine wirtschaftsrechtliche Intervention handelt.366 § 3 Abs. 2 AGG erfasst auch mittelbare Diskriminierungen, also dem Anschein nach neutrale, faktisch aber eine Gruppe benachteiligende Maßnahmen. Benachteiligungen können gerechtfertigt sein, wenn die Vergleichbarkeit der Betroffenen fehlt (so bei unmittelbaren Benachteiligungen, vgl. § 3 Abs. 1 AGG) oder ein sachlicher Grund für die unterschiedliche Behandlung gegeben ist (bei mittelbaren Benachteiligungen, vgl. § 3 Abs. 2 AGG). Gemäß § 21 AGG führt eine Benachteiligung zu Ansprüchen auf Beseitigung, Unterlassung und Schadensersatz. Gemäß § 21 Abs. 2 Satz 3 AGG ist dabei auch eine angemessene Entschädigung für den immateriellen Schaden zu leisten. Diese Ansprüche werden in ihrer Durchsetzung erleichtert, indem zugunsten des sich auf Benachteiligung berufenden Klägers Beweiserleichterungen vorgesehen sind: Wenn eine Partei Indizien vorlegen kann, die eine Benachteiligung vermuten lassen, muss die andere Partei nachweisen, dass nicht gegen das AGG verstoßen wurde (§ 22 AGG). Zudem haben Antidiskriminierungsverbände eine besondere Stellung (§ 23 AGG), wenn auch keine eigene Klagebefugnis. Eine Antidiskriminierungsstelle des Bundes steht zu Beratungszwecken für Geschädigte zur Verfügung (§ 27 AGG). Die Judikatur zu Benachteiligungen im Zivilrechtsverkehr ist überschaubar geblieben.367 Von 2006 bis 2010 sind nur eine Handvoll Fälle bekannt geworden, in denen § 19 AGG eine Rolle spielte. Insbesondere sind erfolgreiche Klagen aufgrund von Benachteiligungen selten geblieben. Größere Bedeutung hat das AGG in arbeitsgerichtlichen Streitigkeiten entfaltet, wenn auch angemerkt wird, dass es in diesem Bereich auch vor dem AGG bereits umfassenden Schutz vor Ungleichbehandlungen gab.368 Für Beschäftigungsverhältnisse sind spezielle Antidiskriminierungsregeln in §§ 6–18 AGG vorgesehen. Zu berücksichtigen ist freilich der präventive Steuerungseffekt durch Vertragsanpassungen oder Compliance-Maßnahmen von Unternehmen. Zur Illustration der Wirkungen des AGG im Wirtschaftsverkehr diene ein vom Amtsgericht Potsdam entschiedener Fall aus dem Telekommunikationssektor:369 Die Klägerin beantragte bei der Beklagten den Abschluss eines Mobilfunkvertrags. Im Angebotsformular wurden Daten zu Alter, Geschlecht 366

§ 19 Abs. 2 AGG erstreckt das Verbot der Benachteiligung wegen Rasse und ethnischer Herkunft freilich auf weitere Schuldverhältnisse. 367 Franke, NJ 2010, 233, spricht zwar von zahlreichen Verfahren, zitiert nur acht Urteile seit Inkrafttreten des AGG 2006. Auch im Arbeitsrecht hält sich das Aufkommen von AGGProzessen in Grenzen, siehe Hey, BB 4/2011, I. 368 Vgl. Thüsing in: MüKo-BGB, 2012, AGG, Einl. Rn. 6, 23. 369 AG Potsdam, 10.7.2008, Az. 22 C 25/08, MMR 2008, 769.

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

und Staatsbürgerschaft abgefragt. Die Beklagte führte eine Kreditwürdigkeitsprüfung durch und verweigerte den Vertragsschluss. Zur Begründung führte sie aus, die Entscheidung beruhe auf der Auswertung von Angaben von Wirtschaftsauskunfteien sowie internen Bonitätskriterien, über die keine Auskunft erteilt werde. Die Klägerin vermutete, dass ihre Angaben zu Geschlecht, Alter oder Staatsangehörigkeit den Ausschlag für die Verweigerung gegeben hätten. Dies hätte die Beklagte nach Ansicht der Klägerin aufgrund der Beweislastregel in § 22 AGG widerlegen müssen. Das Gericht schloss sich dieser Sicht jedoch nicht an und hielt die „Mutmaßungen ins Blaue hinein“ der Klägerin für nicht ausreichend, um eine negative Beweislast der Beklagten herbeizuführen. Die Indizien für eine vermutliche Diskriminierung seien zu schwach. Eine Ungleichbehandlung auf Basis unterschiedlicher Bonitätswerte sei zudem sachlich gerechtfertigt. Die Entscheidung ist typisch für die restriktive Handhabung des AGG durch die Mehrzahl der Gerichte. Zugleich wird aber deutlich, welches wirtschaftsordnende Potential in der Regelung liegt: Hätte das Gericht, was wohl nicht völlig unvertretbar gewesen wäre, die Darlegung der Klägerin genügen lassen, wäre das gesamte Kontrahierungssystem der Beklagten (und weiterer Unternehmen) zu reformieren gewesen. Deutlich wird so die Einschränkung der Privatautonomie des Handelnden. Dieser hat nicht mehr die Freiheit, seinen Vertragspartner nach ihm genehmen Kriterien – und seien sie noch so unvernünftig – auszuwählen oder Konditionen von bestimmten Kriterien – und seien sie noch so unvernünftig – abhängig zu machen. Stattdessen wird ein öffentliches Interesse verfolgt, nämlich die umfassende Gleichstellung benachteiligter Gruppen.370 Dass die Zielsetzung im öffentlichen Interesse liegt, macht schon § 1 AGG deutlich, der als Ziel des Gesetzes die Verhinderung und Beseitigung von Benachteiligungen ausweist. Noch deutlicher wird die öffentliche Zielsetzung in den europäischen Rechtstexten, wenn es etwa in Erwägungsgrund 9 der Richtlinie 2000/43/EG heißt: „Diskriminierungen aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft können die Verwirklichung der im EG-Vertrag festgelegten Ziele unterminieren, insbesondere die Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz, die Hebung des Lebensstandards und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt sowie die Solidarität. Ferner kann das Ziel der Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beeinträchtigt werden.“

Die individuelle Gleichstellung der von Benachteiligung betroffenen Person ist also nicht die Motivation, jedenfalls nicht die vorwiegende. Vielmehr geht es um wirtschaftspolitische, soziale und politische Ziele. Diese Ziele verfolgt 370

Vgl. Thüsing in: MüKo-BGB, 2012, AGG, § 1 AGG Rn. 3 ff.

E. Publifizierung des Privatrechts

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der Gesetzgeber, indem er im Zivilrecht die Aussichten für Schadensersatzklagen durch neue Anspruchsgrundlagen und Verfahrenserleichterungen verbessert. Wenn das Zivilrecht nie frei von Gemeinwohlüberlegungen war, stellt sich die Frage, warum die Publifizierung gerade heute als Trend, als Element einer Wende zum Privatrecht anzusehen ist. Anders gefragt: Warum wird das 1896 erstmals erlassene UWG grundsätzlich als Kernbereich des Privatrechts akzeptiert, während dies für das 2006 in Kraft getretene AGG nicht gilt? Dafür gibt es drei Gründe: Erstens ist das AGG nur das prominenteste Beispiel in einer Reihe von Kodifikationen, die in ähnlicher Weise staatliche Interessen in das Privatrecht einführen und mit dessen klassisch-liberaler Grundhaltung in Konflikt stehen. Zweitens scheint die Eingriffsintensität höher zu sein als in früheren Gesetzen. Während die Anreize früher so ausgestaltet waren, dass in erster Linie Schäden kompensiert werden konnten, die anderenfalls nicht ausgeglichen worden wären, sind in neueren Gesetzen die Anreize zur Rechtsdurchsetzung deutlich stärker geworden. Drittens schließlich wird inhaltlich ein stärkerer Bruch zwischen dem bürgerlich-rechtlichen System und der neuen Gesetzgebung konstatiert. Das UWG galt ursprünglich als ein Gesetz, welches das Funktionieren des Geschäftsverkehrs sichern sollte, es hatte also eine systemimmanente Funktion. Das AGG hingegen oder auch neuere Reformen des UWG bringen externe Wertungselemente in das bürgerlich-rechtliche System, also Ordnungsvorstellungen, die möglicherweise mehr bewirken, als die reibungslose Abwicklung des Handelsverkehrs zu ermöglichen.

III. Dogmatische Einordnung der Publifizierungs-Kritik Die Publifizierung (die zuvor auch schon für die Schuldrechtsreform und andere Gesetzgebungsvorhaben diskutiert worden war) gilt als verfassungsrechtlich umstritten: Einerseits steht sie für einen Eingriff des Gesetzgebers in die Privatautonomie, sodass die allgemeine Handlungsfreiheit und die unternehmerische Freiheit (Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 16 EU-Grundrechte-Charta) berührt sind. Andererseits ist es auch Auftrag staatlicher Gewalt, die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte zu gewährleisten und eine objektive Wertordnung zu schaffen. In diesem Sinne ist den im deutschen und europäischen Verfassungsrecht vorgesehenen Gleichbehandlungsgeboten (Art. 3 GG, Art. 20 ff. EU-Grundrechte-Charta) Wirksamkeit zu verschaffen.371 Rechtspolitische Aspekte der Auseinandersetzung über das AGG sind ökonomischer und gesellschaftspolitischer Natur.372 Für das AGG wird etwa angeführt, das Marktgeschehen werde von unsachlichen, nicht ökonomisch 371 372

Vgl. Thüsing in: MüKo-BGB, 2012, AGG, Einl. Rn. 24, 50 m.w.N. Vgl. Thüsing in: MüKo-BGB, 2012, AGG, Einl. Rn. 51 ff.

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

begründbaren Einflüssen freigehalten. Andererseits widerspricht es ökonomisch-liberaler Lehre, überhaupt ins Marktgeschehen einzugreifen, zumal in diesem Fall einzelnen Gruppen von Marktteilnehmern Sonderopfer auferlegt werden, um gesamtökonomische Ziele zu erreichen. Gesellschaftspolitisch wurden der Schutz vor Diskriminierung und die Integration benachteiligter Gruppen hervorgehoben. Andererseits wurde auch aus gesellschaftspolitischer Warte kritisiert, dass diese Ausprägung der „political correctness“ eine staatliche Vorgabe „richtigen Denkens“ enthält, die dem Staat nicht zusteht. Der Konflikt um das AGG hat neben diesen allgemein politischen Kontroversen die Wissenschaftler gezwungen, ihre aktuellen Leitbilder privatrechtlicher Dogmatik offen zu legen. Hier zeigt sich in paradigmatischer Klarheit die Rezeption des Privatrechts in unterschiedlichen dogmatischen Schulen. Eine in der Tradition von Werner Flume stehende liberale Auffassung lehnt das AGG als unzulässigen Eingriff in die Privatautonomie rundweg ab.373 Die Autoren definieren als ihr privatrechtliches Leitbild ein freies Spiel der individuellen Entscheidungen, die ohne staatliche Beeinflussung bleiben sollen. Das Privatrecht wird nicht als Instrument angesehen, mit welchem öffentliche Interessen verfolgt werden könnten. Insbesondere wird es für verfehlt und „jakobinisch“374 gehalten, dass Moralvorstellungen staatlicherseits vorgegeben werden. Eine derartige Bindung des Privaten an das Öffentliche ist im Leitbild nicht vorgesehen. Explizit wird das Zivilrecht als Bereich des subjektiv-willkürlichen Entscheidens der Individuen definiert, das frei ist von inhaltlicher Beeinflussung durch Wertvorstellungen des Staates.375 Die staatliche Aufgabe im Rahmen der Privatrechtsdurchsetzung ist zunächst eine der Erleichterung und der Bereitstellung eines Konfliktlösungsmechanismus, in zweiter Linie werden der privaten Rechtsgestaltung auch Grenzen gesetzt. Angesichts der Fokussierung auf das Individuum und seine Entscheidungsmacht werden inhaltliche Vorgaben aber abgelehnt und prozedurale Instrumente wie Verbandsklagerechte, also die kollektivierte Geltendmachung von Interessen, energisch zurückgewiesen.376 Auf besondere Kritik stößt auch die Verbindung von Schadensersatzansprüchen mit Präventions- und Pönalisierungselementen.377 Die Autoren dieser Schule nehmen keine völlig bindungslose Freiheit an. Anerkannt wird, dass selbst bei einem auf die Privatautonomie ausgerichteten System bestimmte Grenzen gezogen werden müssen. Eduard Picker benennt dafür zwei Tatbestände, nämlich zum einen die Sicherung des „ethischen Mi373 Vgl. statt vieler Picker, JZ 2003, 540 ff.; Säcker, ZRP 2002, 286 ff.; Coing/Honsell in: Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts, 2011, S. 82 f. 374 Picker, JZ 2003, 540, 541. 375 Picker, JZ 2003, 540, 543. 376 Picker, JZ 2003, 540, 542. 377 Vgl. Honsell, ZIP 2008, 621, 626 f.; Schwab, DNotZ 2006, 649, 677.

E. Publifizierung des Privatrechts

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nimums eines zivilisierten Zusammenlebens“, zum anderen Fälle des Marktversagens.378 Über die erste Fallgruppe wird etwa § 138 BGB ins Leitbild des Zivilrechts eingeordnet. Hier ließe sich eventuell auch – über das überragende Menschenwürde-Gebot – ein Diskriminierungsrecht in weniger einschneidender Form einordnen.379 Über die zweite Fallgruppe werden Fälle wie der Kontrahierungszwang bei Monopolisten erfasst. Ein anderer Kreis von Autoren hält weiterhin an der Privatautonomie als dem Zentralbegriff des Privatrechts fest, hält aber das AGG gerade für nötig, um deren Voraussetzung zu schaffen.380 Die Wahrnehmung der Vertragsfreiheit sei nur gewährleistet, wenn für alle Beteiligten die Möglichkeit der Wahlfreiheit bestehe. Würden einzelne Gruppen von Vertragsabschlüssen grundsätzlich ausgeschlossen, müsse der Gesetzgeber einschreiten, da andernfalls die Freiheit, Verträge schließen zu können, entwertet werde. Hierbei wird zum Teil auf die Funktionsfähigkeit des Marktes, zum Teil auf das verfassungsrechtliche Sozialstaatsgebot und eine dementsprechende staatliche Schutzpflicht abgestellt.381 Die Autoren stellen damit auf ein öffentliches Interesse ab, das aber in den Dienst der Freiheitsverwirklichung des Einzelnen gestellt wird. Teilweise wird in den Begründungen unmittelbar auf öffentliche Interessen hingewiesen oder auf die Korrektur gesellschaftlicher Fehlentwicklungen, die sich privatrechtlich manifestieren, und die daher im Privatrecht abzustellen seien. So heißt es in der Kommentarliteratur etwa, das AGG sei erforderlich gewesen, da es mit dem vorhandenen deliktsrechtlichen Instrumentarium nicht möglich gewesen sei, „auf alle Fälle sozial unerwünschter Benachteiligungen angemessen zu reagieren“.382 Jörg Neuner benennt zur Legitimation des Diskriminierungsschutzes eine Trias von Schutz des Individuums, der Gruppe und der Allgemeinheit.383 Dabei steht nicht in allen Dimensionen die Freiheitsverwirklichung im Vordergrund. Gregor Thüsing sieht im AGG einen entscheidenden Schritt „zur Etablierung des Gedankens der Verteilungsgerechtigkeit im allgemeinen Zivilrecht“.384 Er deutet an, dass das AGG die Rechtfertigung und die Grenzen der Privatautonomie neu bestimmt und der berühmte Tropfen sozialen Öls „stär-

378

Picker, JZ 2003, 540, 544. Vgl. Schwab, DNotZ 2006, 649, 671. 380 Neuner JZ 2003, 57, 59; Mahlmann, ZEuS 2002, 421 ff.; ähnlich Looschelders, JZ 2012, 105, 113; vgl. auch schon Bezzenberger, AcP 196 (1996), 395, 433 f. 381 Franke/Schlichtmann in: Däubler/Ambrosius, AGG, 2008, § 19 Rn. 12. 382 Franke/Schlichtmann in: Däubler/Ambrosius, AGG, 2008, § 19 Rn. 13 unter Verweis auf die amtliche Begründung, BT-Drucks. 16/1780, S. 39; siehe auch Britz, VVDStRl 64 (2005), 355, 365 ff. 383 Neuner, JZ 2003, 57, 58. 384 Thüsing in: MüKo BGB, 2012, AGG, Einl. Rn. 83. Vgl. ders. in NJW 2007, 21, 26: „natürliche Gerechtigkeit“ (unter Bezugnahme auf die katholische Soziallehre). 379

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

ker fließe“.385 Eine weitgehende Bindung der Entscheidungsbefugnisse an übergeordnete Interessen wird damit akzeptiert. Thüsing verortet das Ziel der Bindung direkt in der Verteilungsgerechtigkeit. Besondere Bedeutung misst er dem Umstand bei, dass der deutsche Gesetzgeber über die europäischen Anforderungen hinausgegangen ist. Wolfgang Däubler wiederum ordnet die Änderungen durch das AGG in den Kontext des bisherigen Rechts ein und sieht keine umwälzenden Veränderungen, sondern eine hohe Kontinuität, sowohl bei der Umsetzung grundrechtlicher Wertungen im Zivilrecht als auch bei der Einführung eines präventiv-wirkenden Schadensersatzes.386 Das AGG würde lediglich bestimmte Anknüpfungspunkte beim Vertragsschluss ausschließen, aber keine positiven Vorgaben machen. Mit dieser Lesart des Zivilrechts entwirft Däubler das Leitbild eines Zivilrechts, das schon vor Verabschiedung des AGG von einer privatautonomie-zentrierten Sicht entfernt war. Verhaltenssteuerung im öffentlichen Interesse durch vom Gesetz gegebene Anreize wird als selbstverständlich im zivilrechtlichen Leitbild vorausgesetzt. Susanne Baer entwickelt ihr Leitbild des Zivilrechts aus der verfassungsrechtlichen „Trias Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit“387. Das von anderen geforderte Primat der Autonomie wird hier also schon im Ansatz relativiert. Als Teil der Autonomie wird, wie von anderen Autoren auch, die Befähigung zur Autonomie, also die faktische Möglichkeit, Verträge zu schließen, hervorgehoben. Weitergehend aber versteht Baer das Zivilrecht als Ausprägung der verfassungsrechtlichen Wertordnung, sodass die Umsetzung von Gerechtigkeitsvorstellungen und die Aufhebung von Ungleichheiten (etwa bei gestörter Vertragsparität) zu den wesentlichen Funktionen des Zivilrechts gezählt werden.388 Ihr Leitbild ist damit stärker von öffentlichen Interessen geprägt als von dem Respekt für die individuelle, auch unvernünftige Entscheidung des Einzelnen. In der Diskussion um das zivilrechtliche Leitbild scheint ein weiterer Aspekt auf, der inzwischen als Selbstverständlichkeit gelten darf: die Berücksichtigung ökonomischer Auswirkungen. So schreibt Thüsing: „Im allgemeinen Privatrecht (…) dürfen ökonomische Aspekte bei Schaffung und Auslegung von Normen nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben.“389 Und Picker begründet den Vorrang der Privatautonomie nicht zuletzt mit deren ökonomischen Wirkungen: „Nicht zuletzt legitimiert sich die Freiheit zur Selbstbestimmung aber auch ökonomisch. Denn nach gefestigter Menschheitserfahrung kann nichts die Kräfte und Fähig385 386 387 388 389

Thüsing in: MüKo BGB, 2012, AGG, Einl. Rn. 83. Däubler in: Däubler/Ambrosius, AGG, 2008, Einl. Rn. 68 ff. Baer, ZRP 2002, 290, 292. Baer, ZRP 2002, 290, 293 f. Thüsing in: MüKo-BGB, 2012, AGB, Vor § 19 AGG Rn. 18.

F. Zusammenfassung

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keiten, die Kreativität und Innovationsbereitschaft einer Population so nachhaltig mobilisieren wie die Aussicht auf Freiheitsgewinn und dadurch eröffnete Gewinnmaximierung.“390

Dass er damit selbst die im Übrigen abgelehnte Indienstnahme des Privatrechts für öffentliche Interessen befördert, ist ein Hinweis auf die Sonderrolle, die der ökonomischen Dimension zugestanden wird. Betrachtungen zur Effizienz der AGG-Regelungen, zu den von diesen gesetzten wirtschaftlichen Anreizen und zu den Folgekosten der Gesetzgebung werden in Veröffentlichungen immer wieder angeführt. Dieser ökonomische Blick ist dabei aber nicht nur Ergänzung der dogmatischen Auseinandersetzung, sondern hat innerhalb dieser Auseinandersetzung einen Eigenwert. Die dogmatische Einordnung von Normen erhält eine ökonomische Dimension, die unter dem Stichwort der Effizienz zusammengefasst wird. Schließlich ist in der Publifizierungskritik auf die europäische Dimension einzugehen. Teilweise wird die Aufweichung der klassischen deutschen Dogmatik auf den Einfluss des europäischen Rechts zurückgeführt, so etwa wenn Thomas Honsell seine Kritik an Verbraucherschutz- und Antidiskriminierungsregeln betitelt mit „Erosion des Privatrechts durch das Europarecht“.391 In der Tat sind einige der aus liberaler Sicht problematischen Erscheinungen auf die europäische Gesetzgebung zurückzuführen. Im modernen europäischen Unionsrecht gibt es keine Tradition privatrechtlicher Regelung, zudem behindern das institutionelle Regime und die Kompetenzproblematik mit zum Teil konkurrierenden Generaldirektionen einheitliche und dogmatisch durchdachte Regelungen. Die mangelhafte Qualität europäischer Rechtsetzung wird vielfach beklagt.392 Eine Spaltung in eine europäische und eine deutsche Zivilrechtsdogmatik wird jedoch der Rechtspraxis nicht mehr gerecht: Zum einen ist auch das europäische Privatrecht demokratisch legitimierter Bestandteil einer einheitlichen Rechtsordnung. Zum anderen ist gerade das AGG ein Beleg dafür, dass der deutsche Gesetzgeber sich das, was an den europäischen Vorgaben kritisiert wird, zu eigen macht und noch darüber hinausgeht. Die europäische Komponente ist mithin zwingend mitzudenken.

F. Zusammenfassung Seit den 1990er Jahren bedienen sich Gesetzgeber und Verwaltung immer häufiger privatrechtlicher Mechanismen. Wesentlich sind dafür drei Formen: Die Deregulierung von Sachmaterien, also ihre Überführung vom öffentlichen 390 391 392

Picker, JZ 2003, 540, 543. Honsell, ZIP 2008, 621. Statt aller Honsell, ZIP 2008, 621, 622 ff.

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Kapitel 1: Die Wende zum Privatrecht

Recht ins Privatrecht, die Flexibilisierung des Verwaltungshandelns, wie am Beispiel der PPP mit Toll Collect gesehen, sowie die Publifizierung des Privatrechts, also seine Aufladung mit öffentlichen Interessen, wie im Beispiel des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Diese Maßnahmen reflektieren ein kritischeres Bewusstsein gegenüber den Aufgaben des Staates. Die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft hat hierin den Übergang vom Erfüllungsstaat zum Gewährleistungsstaat erkannt. In der Geschichte der Wirtschaftsordnung, die als ein Ringen um Entscheidungskompetenzen zwischen Staat und Gesellschaft gelesen werden kann, hat sich damit das Gefüge zugunsten der privaten Marktteilnehmer verschoben. Diese haben größere Freiheitsräume als früher, wenn auch öffentliche Interessen in vielfacher Weise weiterwirken. Dennoch ist es legitim, die Entwicklung als eine Wende zum Privatrecht zusammenzufassen.

Kapitel 2

Methodik der evolutionären Rechtsprechungsanalyse In dieser Studie wird Rechtsprechung in ihrem Verlauf betrachtet. Methodisch stellt sich damit das Problem, den Wandel der Rechtsprechung erfassen zu müssen. Nicht das einzelne Urteil ist von primärem Erkenntnisinteresse, sondern die Entwicklung der Rechtsprechung zu einer bestimmten Frage in einem bestimmten Zeitraum. Dem liegt das Verständnis zugrunde, dass ein einzelnes Urteil nur ein Glied in einer Kette von Urteilen ist: Rechtsprechung ist ein Entdeckungsverfahren, ein dynamischer Suchprozess. Wenn es gelingt, die Entwicklung von Rechtsprechung abzubilden, öffnet sich der Blick für die Grundbedingungen richterlichen Entscheidens. Methodisch wird dazu auf einen in den Wirtschaftswissenschaften entwickelten Forschungsansatz zurückgegriffen, die Evolutionsökonomik. Im Folgenden wird zunächst die evolutionsökonomische Methodik skizziert (A). Sodann wird das Verständnis von Rechtsprechung als Entdeckungsverfahren erläutert, das Urteile zum geeigneten Untersuchungsgegenstand einer evolutionären Methodik macht; die Möglichkeiten einer evolutionären Rechtsprechungsanalyse werden dargestellt (B). Im folgenden Abschnitt werden Anknüpfungspunkte in der bisherigen rechtswissenschaftlichen Literatur dargestellt (C).

A. Grundriss der evolutionsökonomischen Methodik Die Evolutionsökonomik ist eine wirtschaftswissenschaftliche Forschungsrichtung. Zunächst ist festzustellen, dass – für die Rechtswissenschaften zuweilen ungewohnt – die Ökonomik deskriptiv, nicht normativ vorgeht, das bedeutet: es handelt sich um ein Instrumentarium, das tatsächliches Geschehen abbilden und so analytisch erfassbar machen soll. Sollens-Vorgaben sind damit nicht verbunden.

I. Ausgangspunkte Die Evolutionsökonomik ist eine relativ junge Teildisziplin der Wirtschaftswissenschaften, deren Entstehung auf das Jahr 1982 datiert wird. Damals erschien das Buch „An Evolutionary Theory of Economic Change“ von

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Kapitel 2: Methodik der evolutionären Rechtsprechungsanalyse

Richard R. Nelson und Sidney G. Winter.1 Seine Veröffentlichung gilt als Startschuss für die Evolutionsökonomik.2 Von herkömmlichen wirtschaftswissenschaftlichen Modellen unterscheidet sich die Evolutionsökonomik insbesondere durch die zeitliche Verlaufs-Perspektive, durch die Betonung des Wissens als zentralem Faktor und die Anerkennung einer beschränkten Rationalität der Handelnden.3 Das Erkenntnisinteresse der Evolutionsökonomen richtet sich nicht auf die Analyse von Gleichgewichten und Allokationsoptimierungen, sondern auf den Wandel des Wissens und der ökonomischen Strukturen.4 Die Evolutionsökonomik hat fünf Wurzeln: Evolution, eingeschränkte Rationalität, Dynamik, Wissen und Institutionenökonomik.

1. Evolution Der Begriff der Evolution ist in der Wissenschaft in erster Linie mit Charles Darwins biologischer Theorie von der Entstehung der Arten assoziiert.5 Die Evolutionsökonomik hat den Begriff übernommen und lehnt sich in ihren Grundannahmen an biologische Modelle der Entwicklung an. Darwin hatte die Entstehung verschiedener Arten und ihrer jeweiligen Ausprägungen als Entwicklungsprozess beschrieben, der durch Anpassung und Selektion gesteuert wird. Nach Darwin kommt es bei Lebewesen zu Mutationen, die unterschiedliche Ausprägungen zur Folge haben. Die am besten an das Umfeld angepasste Veränderung werde im Zuge einer natürlichen Auslese bevorzugt und so vererbt. Da es bei Darwin um einen Kampf ums Dasein geht, führt die Auslese zu einem „survival of the fittest“6. Die stetige Änderung der Umgebung lässt diesen Prozess nicht zu einem Ende kommen, sondern sorgt immer aufs Neue für Anpassungs- und Selektionsprozesse der Arten. Evolution als Schlüsselbegriff moderner Wissenschaft etablierte sich bald nach der Rezeption Darwins auch in den Sozialwissenschaften (nicht jedoch im juristischen Bereich) unter dem Stichwort „Universeller Darwinismus“7. 1 Nelson/Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change, 1982. Dazu etwa Vromen in: Elgar Companion to Economics and Philosophy, 2004, S. 102, 120 ff.; Andersen, Evolutionary Economics, 1994, S. 95 ff. 2 Vgl. den Überblick bei Zumbansen/Calliess in: Zumbansen/Calliess, Law, Economics and Evolutionary Theory, 2011, S. 1 ff. 3 Vgl. Cantner/Hanusch, Industrie-Evolution, 1998, S. 8. 4 Vgl. Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 148 f. 5 Vgl. Darwin, Die Entstehung der Arten, 1982. 6 Dieses Schlagwort geht auf Herbert Spencer zurück. Korrekter wäre es wohl von einem „survival of the fitter“ zu sprechen, da sich nicht notwendig eine optimale Lösung durchsetzt, sondern die überlegene, vgl. Van den Bergh/Kallis, Evolutionary Policy, 2009, S. 11. 7 Vgl. Hodgson, J Evol Econ 12 (2002), 259, 269 führt den Universal Darwinism zurück bis auf Walter Bagehot (1872). Der Begriff „Universal Darwinism“ geht auf Richard Dawkins zurück. Zu den Unterschieden zwischen biologischer und kultureller Evolution vgl. Hayek, Anmaßung von Wissen, 2006, S. 105 ff.

A. Grundriss der evolutionsökonomischen Methodik

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Der Anspruch der – innerhalb der Evolutionsökonomik umstrittenen – Darwin-Rezeption ist, dass die Muster von Variation, Selektion und Vererbung in jedem offenen System vorkommen und Darwinismus daher als eine „Metatheorie“ für andere sozialwissenschaftliche oder ökonomische Erklärungen geeignet ist, die zahlreiche Analogien ermöglicht.8 Auf einer fundamentaleren Ebene wird im Darwinismus die Überzeugung gesehen, dass jeder Grund, jeder Glaube, jedes Phänomen wiederum eine Begründung habe: „there is no uncaused cause“9. Diese Konstante des kausalen Denkens sei ein wesentliches Vermächtnis Darwins für andere Wissenschaftler. Klarzustellen ist, dass das Aufgreifen von naturgebundenen Evolutionsphänomenen eher Inspiration als Gleichsetzung beinhaltet: was der Mensch als planvoll handelnder Akteur bewirkt, unterscheidet sich von den Gesetzmäßigkeiten, die in der übrigen Natur gelten.

2. Eingeschränkte Rationalität In den Wirtschaftswissenschaften profilierte sich die Evolutionslehre zunächst als Kritik an der vorherrschenden Neoklassik, der sie vorwarf, falsche Annahmen über die Rationalität der Handelnden zu machen sowie dynamische Veränderungen und Innovationen zu vernachlässigen.10 Hinsichtlich der Rationalitätsvorstellung der Neoklassik, die vom homo oeconomicus, dem rational handelnden Wirtschaftsteilnehmer, ausgeht, setzen die Vertreter der Evolutionsökonomik auf das Konzept der eingeschränkten Rationalität („bounded rationality“, den Begriff hat Herbert Simon geprägt)11 und noch weitergehend auf verhaltenswissenschaftliche (zum Teil psychologische oder neurologische) Erkenntnisse über das menschliche Handeln.12 Statt für ökonomische Modellierungen die Annahme zu treffen, dass die Handelnden rational und stets nutzenmaximierend handeln, wird mit diesem Konzept zugestanden, dass der Mensch verschiedenen Beschränkungen unterliegt, insbesondere informationellen, kognitiven und zeitlichen Beschränkungen. Hinzu treten Entscheidungsmuster, die darauf ausgerichtet sind, den Entscheidungsprozess zu vereinfachen, was bedeutet, dass sich nicht die rationale, nutzenmaximierende Lösung durchsetzt, sondern häufig die bequemste oder, vornehmer ausgedrückt, habituelle. Der entscheidende Paradigmenwechsel liegt darin, nicht bzw. nicht nur das Ergebnis einer Handlung zu betrachten, 8 Vgl. Hodgson, J Evol Econ 12 (2002), 259, 278; Stoelhorst, Journal of Economic Issues 42 (2008), 415 ff.; Van den Bergh/Kallis, Evolutionary Policy, 2009, S. 25 ff.; Dopfer, Grundzüge der Evolutionsökonomie, 2007, S. 5 f. 9 Hodgson, J Evol Econ 12 (2002), 259, 277. 10 Vgl. Nelson/Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change, 1982, S. 23 ff., 139 ff., 195 ff. 11 Simon, Models of Man, 1957, S. 199 ff. 12 Vgl. Nelson/Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change, 1982, S. 35 f.

110

Kapitel 2: Methodik der evolutionären Rechtsprechungsanalyse

sondern den Entstehungsprozess des Ergebnisses, sozusagen seine Evolution, zu überprüfen.13

3. Dynamik Verwandt mit der Vorstellung einer Evolution ist eine dynamische Sichtweise der Wirtschaft. Nicht die Momentaufnahme, die einen statischen Eindruck vermittelt, sondern die dynamische Entwicklung bietet ein realistisches Bild. Der erste Ökonom, der dies in den Mittelpunkt seiner Überlegungen rückte, war Joseph Schumpeter (1883 –1950). Der Ökonom behauptete in seiner 1911 erstmals erschienenen „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ ein Markt-Modell, nach dem Wettbewerb die dynamischen Prozesse auslöst, die zu Wohlstand verhelfen.14 Er rückte mit seinem berühmt gewordenen Wort von der „schöpferischen Zerstörung“15 Innovationen als Triebfeder wirtschaftlichen Wohlstands in den Vordergrund. Dem statischen Gleichgewichtsmodell der Neoklassik, das auf Preise und Effizienzen ausgerichtet ist, erteilte er eine Absage, da es die Dynamik der Wirtschaft nicht abzubilden vermag. Damit öffnete Schumpeter nicht nur den Blick auf die Dynamik des Wirtschaftslebens und auf die Notwendigkeit zu Impulsen, sondern identifizierte auch den Kreislauf von Innovationen („der schöpferische Unternehmer“) und Imitationen als wesentliche Triebfedern der Wirtschaft.

4. Wissen An Schumpeters Überlegungen knüpfte der österreichische Ökonom Friedrich von Hayek (1899–1992) an, der den Grundmechanismus der Marktwirtschaft, den Wettbewerb, als „Entdeckungsverfahren“ beschrieb. Von Hayek betonte die Wissensproblematik für die an Marktprozessen beteiligten Akteure und das Experimentelle ihres Verhaltens.16 Damit lenkte er die Aufmerksamkeit auf zentrale Elemente einer dynamischen Theorie von Wirtschaft, welche die Wirkungszusammenhänge analysieren will. Aus seiner Skepsis gegenüber der Planung von zukünftigen Modellen resultierte ein Spätwerk wie „Recht, Gesetz und Freiheit“17, mit dem er sich an eine darwinistische, kulturelle Evolu-

13 Vgl. Haucap in: Drexl/Kerber/Podszun, Competition Policy and the Economic Approach, 2011, 217. 14 Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 1926, S. 88 ff., 318 ff. Vgl. Nelson/Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change, 1982, S. 39 f. 15 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 2005, S. 138. 16 Hayek, Anmaßung von Wissen, 1996, S. 309; van den Hauwe in: Elgar Companion to Law and Economics, 2005, S. 545 ff. 17 Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, 2003.

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tionstheorie anlehnte und das Modell „spontaner Ordnung“ vertiefte, das sich aus dem freien Handeln der Individuen ergibt und sich nach den Gesetzen von Variation und Selektion fortentwickelt.18

5. Institutionenökonomik Als Baustein, der Niederschlag in der Evolutionsökonomik gefunden hat, ist schließlich die Neue Institutionenökonomik zu erwähnen.19 In der Institutionenökonomik wurden Rationalitätseinschränkungen, Evolutionsannahmen und Lernprozesse frühzeitig erkannt. Kern der Institutionenökonomik ist der Begriff der Institution, die Douglass North, einer der wichtigsten Vertreter dieses Faches, definiert als „rules of the game in a society or, more formally, […] the humanly devised constraints that shape human interaction.“20 Es handelt sich somit um Regeln, Einrichtungen oder Gebräuche, die menschliche Kooperation steuern.21 Mit der Einführung des Begriffs der „Institution“ und der Untersuchung des Zusammenhangs von Regeln und Wirtschaft liefert die Institutionenökonomik einen methodischen Beitrag, der auch für die Nachbardisziplin der Evolutionsökonomik wichtig ist.22 Die Institutionenökonomik wendet sich konsequent der Analyse von Bedingungen zu, die Transaktionen im Markt prägen. Auf den Schultern zweier „Riesen“ der modernen Wirtschaftswissenschaften23, Schumpeter und von Hayek, sowie mit den Anleihen aus Biologie, Verhaltensforschung und Institutionenökonomik konnte die Evolutionsökonomik entstehen, die mit ihrem Schwerpunkt auf der Erforschung des wirtschaftlichen Wandels heute zwar nicht im Zentrum der Wirtschaftswissenschaften steht, aber doch anerkanntermaßen einen wichtigen Beitrag leisten. Die Vergabe des Nobel-Gedenkpreises für Wirtschaft 2009 an zwei Forscher, die den Gedanken der Evolutionsökonomik zumindest nahestehen, Oliver Williamson 18 Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, 2003, S. 40 ff. Dazu Okruch, ORDO 52 (2001), 131, 133 ff. 19 Wegweisend North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1991. Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, 2007. 20 North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1991, S. 3. 21 Weiter Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, 2007, S. 22. 22 Vgl. Eckardt, Technischer Wandel und Rechtsevolution, 2001, S. 60. North selbst betont wiederum, wie sehr die Evolutionsökonomik seine Arbeiten befruchtet hat, vgl. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1991, S. 92. Zu Institutionenökonomik und Recht siehe Drobak/North in: Elgar Companion to Law and Economics, 2005, S. 53 ff. 23 Zu nennen ist als wichtiger Einfluss für die Evolutionsökonomik noch der amerikanische Ökonom und Soziologe Thorstein Veblen (1857–1929), der insbesondere für seine „Theory of the Leisure Class“ bekannt wurde, aber auch wichtige Impulse für eine evolutionsgeleitete Forschung gab, vgl. Stoelhorst, Journal of Economic Issues 42 (2008), S. 415 ff.; zur Geschichte der Evolutionsökonomik auch Andersen, Evolutionary Economics, 1994, S. 16 ff.; Witt in: Dopfer, Evolutionary Economics, 2001, S. 45, 46 ff.

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Kapitel 2: Methodik der evolutionären Rechtsprechungsanalyse

und Elinor Ostrom, erkannte die Bedeutung dieser Themen für die Wirtschaftswissenschaften an.24

II. Bausteine der evolutionsökonomischen Wirtschaftsanalyse Ziel der Evolutionsökonomik ist es, die Wirtschaft als dynamischen, wissensgetriebenen Prozess abzubilden, in dem die Wirtschaftsteilnehmer interagieren und ständig Neues generieren. Evolutionsökonomen gehen davon aus, dass der technologische Wandel und innovative Inhalte in der „Wissensgesellschaft“ zu entscheidenden Triebfedern der Wirtschaft geworden sind.25 Sie stellen ein Modell zur Verfügung, das dazu geeignet ist, das von Schumpeter und Hayek geprägte Verständnis von wirtschaftlichen Prozessen analytisch abzubilden. Eine Darstellung der Evolutionsökonomik steht vor dem Problem, dass zahlreiche Fragen innerhalb der relativ jungen Disziplin noch umstritten sind. Ansätze unterscheiden sich bis hin zu der Frage, ob die Evolutionsökonomik lediglich ein Teilgebiet der Mainstream-Ökonomik ist oder ob die Theorie einen Paradigmenwechsel mit sich bringt, der die Evolutionsökonomik zu einem eigenen Grundlagenfach macht. Innerhalb der Gruppe von Forschern, die sich zu diesem Ansatz bekennen, gibt es unterschiedliche Ansätze.26 Diffizile Detailprobleme und Fundamentalfragen spielen für die vorliegende Studie aber keine Rolle. Es genügt eine Darlegung der Grundstrukturen, die nicht vollständig und nicht mit allen Positionen innerhalb der Evolutionsökonomik kongruent sein muss, da hier darauf abgezielt wird, Elemente der Evolutionsökonomik für eine genuin rechtswissenschaftliche Analyse fruchtbar zu machen. Ein eigener Beitrag zur ökonomischen Lehre wird nicht angestrebt.27

24

Ebenso Zumbansen/Calliess, Law, Economics and Evolutionary Theory, 2011, S. 7. Vgl. Nelson/Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change, 1982, S. 275 ff. 26 Vgl. Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 21; Vromen in: Elgar Companion to Economics and Philosophy, 2004, S. 102 ff.; Hodgson, Philosophical Perspective, 2010, S. 4. Dopfer, Grundzüge der Evolutionsökonomie, 2007, S. 47 spricht von „kreativem Chaos“. 27 Allerdings ist bereits die Zusammenfassung der Evolutionsökonomik in deutscher Sprache angesichts der Literaturlage nicht einfach. Eine Darstellung der Evolutionsökonomik als eigener Disziplin in deutscher Sprache bietet Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002; siehe auch Erlei/Lehmann-Waffenschmidt, Curriculum Evolutorische Ökonomik, 2002; aus der englischsprachigen Literatur sind hervorzuheben Dopfer, Evolutionary Foundations of Economics, 2005; Andersen, Evolutionary Economics, 1994. Arndt, Evolutorische Wirtschaftstheorie, 1992, geht zwar ebenfalls von einer Entwicklungstheorie aus, lehnt sich aber – auch terminologisch – stark an Eucken und Schumpeter an; Nelson/Winter finden keine Erwähnung. Seine Fragestellung bleibt näher an der herrschenden Vorstellung, seine Ausführung ähnelt aber dem hier dargestellten Ansatz. 25

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1. Erkenntnisinteresse der Evolutionsökonomik Während die neoklassische Position die Wirtschaft als Ort wahrnimmt, an dem knappe Ressourcen durch nutzen- bzw. profitmaximierende Akteure rational verteilt werden (Ziel: Effizienz), sieht die evolutorische Position die Wirtschaft als dynamischen Trial-and-Error-Prozess, in dem mit eingeschränkter Rationalität, aber nach bestimmten Mustern Transaktionen in komplexer Weise koordiniert werden.28 Die Koordination setzt Entscheidungen voraus, die von der Wissensproblematik geprägt sind: Für die Marktteilnehmer ist es eine entscheidende Frage, welche Informationen sie zur Verfügung haben und wie sie mit verbleibenden Ungewissheiten umgehen. Entscheidungsmöglichkeiten setzen sich im Koordinationsprozess des Marktes nach verschiedenen Aspekten durch, ebenso wie Variationen in der Natur selektiert werden. Schon diese kurze Skizze illustriert, dass es der Evolutionsökonomik um einen prozessorientierten Ansatz geht. Es sollen Aussagen über die Koordinationsverfahren der Wirtschaft getroffen werden, nicht über den Effizienzwert eines Verteilungsergebnisses. Die Methodik der Evolutionslehre macht langfristige Entwicklungen sichtbar und befasst sich weniger mit aktuellen Zustandsbeschreibungen.29 So unterscheiden sich schon die Forschungsfragen der Evolutionsökonomik deutlich von hergebrachten wirtschaftswissenschaftlichen Fragestellungen. Nicht ein Zustand, sondern eine Dynamik wird untersucht, und es werden Bedingungen herausgearbeitet, unter denen Entscheidungen getroffen werden.30 Zugleich werden Aussagen möglich, unter welchen Voraussetzungen Innovationen begünstigt werden. Dies wird dem von Wettbewerb, Wandel, Innovation und Dynamik lebenden Feld der Wirtschaft gerecht. Die evolutionsökonomische Theorie ist mit diesem Erkenntnisinteresse insbesondere für dynamische Sektoren der Wirtschaft, etwa technologiegetriebene Branchen, geeignet.31

2. Akteure, Elemente, Prozesse Die Funktionsweise der Wirtschaft wird von der Evolutionsökonomik mit Hilfe von Akteuren, Elementen und Netzwerken dargestellt.32 Akteure sind handelnde Personen, wobei natürliche Personen als fundamentale Akteure, 28 Vgl. Cantner in: Drexl/Kerber/Podszun, Competition Policy and the Economic Approach, 2011, S. 149; abw. Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 22. 29 Vgl. Witt in: Dopfer, Evolutionary Economics, 2001, S. 45, 75. 30 Vgl. Eckardt, Technischer Wandel und Rechtsevolution, 2001, S. 64 f. 31 Vgl. Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 36. 32 Die Darstellung der Funktionsweise folgt – auch terminologisch – im Wesentlichen Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 37 ff., 51 ff. Dieser spricht freilich anglisierend von „Aktor“ (siehe dort S. 52) (auch wenn etwa Andersen, Evolutionary Economics, 1994, im Englischen von „agents“ und nicht „actors“ spricht). Dopfer, Grundzüge der Evolutionsökonomie, 2007, S. 28 spricht von „Trägern“ und bezeichnet als „Regel“, was hier „Element“ heißt.

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Kapitel 2: Methodik der evolutionären Rechtsprechungsanalyse

Gruppen und Organisationen als derivative Akteure bezeichnet werden. Die Möglichkeiten des Akteurs zu Handlungen werden als sein Vermögen bezeichnet, alle Akteure sind divers. Wie bereits in Kapitel 1 herausgearbeitet wurde, ist Wirtschaft das Zusammenspiel der Entscheidungen der Akteure, die miteinander in Austauschbeziehungen treten. Entscheidungen basieren auf dem Wissensstand der Akteure. Um dies hervorzuheben und um die Diversität der Wissensverteilung zu betonen, sprechen Evolutionsökonomen von Elementen als Wissensträgern. Wissensträger können Akteure sein, aber auch Nicht-Akteuren kann Wissen zugeschrieben werden. Der Begriff des Elements kennzeichnet eine Einheit, die Informationen kennt und zur Verfügung stellt. Ein solches Element kann z.B. eine einzelne Person sein, etwa ein Energieverbraucher, der Wissen trägt, aber auch eine Gruppe von Energieverbrauchern kann ein Element sein, wenn sich aus dem Zusammenhalt der Verbraucher ein bestimmtes Wissen ergibt. Die Beziehung zwischen Energieverbraucher und Hausverwaltung kann gleichfalls ein Element sein, wenn sich aus der Zusammenführung des Wissens des Energieverbrauchers und des Wissens der Hausverwaltung ein neues, „höheres“ Wissen ergibt. Die Verbindung von verschiedenen Akteuren und Elementen, etwa durch Beziehungen untereinander, wird Netzwerk genannt. Die Gesamtheit von Akteuren, Elementen und Netzwerken, die für eine bestimmte Fragestellung oder ein System abgegrenzt werden, bildet eine Population. Um im Beispiel der Energiewirtschaft zu bleiben: Gasimport-Unternehmen, Pipeline-Betreiber, Stadtwerke, Energieverbraucher, Bundesnetzagentur u.a. sind Akteure in der Energiewirtschaft. Sie sind zugleich Elemente, da sie Wissen tragen, aber es gibt auch nicht-referentielles Wissen, das unabhängig von Akteuren in der Energiebranche existiert, z.B. Handelsbräuche, ökonomische Gesetze, naturwissenschaftliche Gegebenheiten oder rechtliche Vorgaben. Netzwerke von Bedeutung sind beispielsweise die Verbindungen von Gasimport-Unternehmen und Pipeline-Betreibern oder die Verbindung von Stadtwerken zu Energieverbrauchern. All diese Aspekte zusammen genommen, bilden die Population, die je nach Fragestellung anders abgegrenzt werden muss, nicht zuletzt, um nicht an der Komplexität zu scheitern. Immerhin bietet das Denken in solchen Populationen die Möglichkeit, die Unvollkommenheit eines reduzierten Ausschnitts zu erkennen. Wenn Akteure miteinander in Austauschbeziehung treten, also Transaktionen stattfinden, wird von einem Prozess gesprochen, in dem das unten näher erläuterte Variations-Selektions-Paradigma zum Tragen kommt. Durch die Transaktionen ändert sich die Konfiguration der Akteure und Netzwerke, z.B. indem diese neues Vermögen bilden. Die Prozesse bilden die sog. Produktion, die in Raum und Zeit vermessen werden kann: Jede Transaktion führt zu einer Zustandsveränderung, sodass eine wirtschaftliche Theorie immer mit einer gewissen Dynamik zurechtkommen muss. Es ist ein Verdienst der Evolutionsökonomik, solche komplexen Rückwirkungen stets im Blick zu behalten.

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3. Strukturen und Ordnung Wenn es, wie hier, um die Frage geht, wie Rechtsprechung zur Wirtschaftsordnung beiträgt, ist von besonderem Interesse, wie in einem evolutionsökonomischen Modell eine Ordnung entsteht, ob es also Grundpfeiler für die wirtschaftliche Betätigung im Gemeinwesen gibt. Dies wird von Evolutionsökonomen bejaht.33 Bei aller Dynamik, die der evolutionsökonomischen Betrachtung innewohnt, verkennt diese nicht, dass sich Muster etablieren und dem evolutionären Ablauf Kontinuität verleihen. Dies wird durch Strukturen gewährleistet, die letztlich Regelmäßigkeiten abbilden und dem Bedürfnis der Akteure nach Komplexitätsreduktion und Vorhersehbarkeit entgegenkommen. Strukturen werden definiert als „langfristig stabile Muster, die aus Elementen gebildet werden.“34 Das vorhandene Wissen wird also zusammengefügt, sodass Muster in den Einflüssen erkennbar sind, die letztlich über Erfolg oder Misserfolg einer Transaktion entscheiden. Die Strukturen konfigurieren das Umfeld, in dem Akteure tätig werden. Die Akteure richten ihre Entscheidungen daran aus, welche Wirkungen sie aus dem Zusammenspiel ihrer Entscheidung mit den Entscheidungen der übrigen Akteure in dem jeweils strukturierten Umfeld erwarten. Entscheidungen und Strukturen geraten in Wechselwirkungen miteinander und stabilisieren sich teilweise, da üblicherweise Entscheidungen so getroffen werden, dass sie sich widerspruchsfrei in die vorgefundenen Strukturen einfügen lassen. Die Akteure rezipieren also die Ordnung und – wenn die Ordnung Legitimation genießen soll – fügen sie in ihre jeweiligen Wissenszusammenhänge konsistent ein.35 Da über diese Wissenszusammenhänge die Erwartungen der Akteure geprägt werden und davon wiederum ihre Transaktionsaktivitäten abhängen, ist das „Design“ der Institutionen, Strukturen und der Ordnung von eminenter Bedeutung für den wirtschaftlichen Erfolg der Einzelnen und des Gemeinwesens insgesamt.36 Strukturen sind zwar stabiler als Prozesse, sie verändern sich aber inkrementell und wandeln sich also auch – nur erheblich langsamer.37 Als wichtigste Typen von Strukturen werden Institutionen, Technologien und Machtverhältnisse identifiziert.38 Der Begriff der Institution ist der Insti33

Vgl. Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 27; mit leichten Abweichungen siehe Van den Bergh/Kallis, Evolutionary Policy, 2009, S. 4 ff.; Dopfer, Grundzüge der Evolutionsökonomie, 2007, S. 28. 34 Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 41. 35 Vgl. Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 387 f. Die Schwierigkeiten, einer Ordnung Geltung zu verschaffen (als Beispiele könnten hier der Zusammenbruch der Ordnung der DDR oder die Schwierigkeiten mit der Durchsetzung von Immaterialgüterrechten im Internet dienen), wären demnach zu lesen als Schwierigkeiten der Akteure (DDR-Bürger, Internetnutzer) das Wissen über die Ordnung konsistent in ihr übriges Wissen einzufügen. 36 Vgl. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1991, S. 69. 37 Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 264 f. 38 Vgl. Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 41.

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tutionenökonomik entlehnt. Gemäß der bereits zitierten Definition von Douglass North sind Institutionen die Spielregeln der Gesellschaft, die das menschliche Verhalten, und also auch das wirtschaftliche Handeln durch positive oder negative Sanktionierung bzw. Anreizsetzung prägen.39 Institutionen sind demnach bewusst gesetzte Regeln, die bestimmte Entwicklungsverläufe gegenüber anderen bevorzugen. Institutionen kommt also im Entscheidungsund Selektionsprozess eine wichtige Rolle zu, da sie die jeweilige Auswahl sanktionieren, z.B. indem sie Transaktionskosten erhöhen oder senken.40 Diese Sanktionierung wiederum wird von den Akteuren als Wissen gespeichert. Institutionen liegen aber nur vor, wenn die Regelmäßigkeit netzwerkübergreifend gilt, Institutionen sind also nicht auf einen einzelnen Akteur bezogen, sondern gelten allgemein. Auch Institutionen unterliegen in Entstehung und Wirkung wiederum den kognitiven Einschränkungen, die sich wie ein roter Faden durch die Evolutionstheorie ziehen. Auf Technologien und den damit zusammenhängenden Innovationsbegriff sowie auf Machtstrukturen im evolutionsökonomischen Sinn braucht hier nur verwiesen zu werden.41 Das Zusammenwirken von Strukturen, ihre wechselseitige Verfestigung und der Einfluss, den sie gemeinsam ausüben, lassen die Strukturen zu einer Ordnung werden.42 In evolutionsökonomischer Perspektive ist die Wirtschaftsordnung also das Zusammenspiel wissensbasierter Elemente, die sich in stabilen Beziehungen konfiguriert haben. Die Ordnung reduziert Unsicherheit und bietet dadurch verbesserte Möglichkeiten für die Akteure, die Erwartungen, die sie an Transaktionen stellen, einzuschätzen, sodass Gewinnchancen erhöht werden und Konfliktpotenzial minimiert wird.43 Ordnung leistet also einen Beitrag zur Vereinfachung des Handels. Die Entstehung von Ordnung als sich dauernd entwickelnde Konfiguration von Strukturen ist erinnert an Hayeks Auffassung vom Markt, der immer aufs Neue eine „spontane Ordnung“44 entstehen lässt: die dezentrale Koordination der individuellen Präferenzen über den Preismechanismus führt zu Regelmäßigkeiten (und folgt diesen dann auch), die sich durch das Verhalten der Marktteilnehmer selbst ergeben.45 Die Ordnung ist daher keine statische, sondern eine evolutiv hervorgebrachte. Jede Transaktion wirkt auf Strukturen zurück und kann diese stabilisieren, aber auch destabilisieren. Die Komplexität 39

North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1991, S. 3. Vgl. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1991, S. 5, 61 ff.; Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 295 ff. 41 Vgl. Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 309 ff. 42 Vgl. Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 267. 43 Vgl. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1991, S. 6 f. 44 Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, 2003, S. 117, 260; Hayek, Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, 1968, S. 8. 45 Vgl. Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, 2003, S. 48 f. 40

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der Ordnung und die Schwierigkeit, diese im Verlauf abzubilden, resultiert demnach nicht zuletzt aus den Rückwirkungen, die jede Koordination wiederum hat. Die Wirtschaftsordnung ist eben ein komplexes und dynamisches Konstrukt. Eine bewusste Steuerung der Ordnung ist in einer modernen Gesellschaft nicht mehr möglich.46 So ergibt sich, wie aus evolutionsökonomischer Perspektive die Wirtschaft dargestellt werden kann47: Akteure (und ggf. Nicht-Akteure) mit unterschiedlichem Vermögen sind Elemente, die miteinander in Bezug gesetzt werden (Prozess). Akteure bilden Netzwerke und Populationen. Die Gesamtheit der Prozesse, in die die Population involviert ist, stellt die Produktion dar, aus der Strukturen hervorgehen, die die Ordnung der Wirtschaft ausmachen. Wissen, verankert im Begriff des Elements, steht damit im Mittelpunkt des evolutionsökonomischen Denkens. Da sich Wissen ständig wandelt und in der Produktion dauernd ausgetauscht, ergänzt und verbessert wird, erfasst die Evolutionsökonomik die Dynamik der Wirtschaft automatisch.

III. Wissen und Wettbewerb als Fokalpunkte evolutorischen Denkens Für den Erfolg der Akteure und den Erfolg einer Volkswirtschaft ist ausschlaggebend, auf welcher Basis Entscheidungen getroffen werden (Wissen) und in welchem Verfahren die Entscheidungen der Akteure koordiniert werden (Wettbewerb).

1. Wissen und Unwissen Wissen – oder eigentlich: Unwissen – ist der „archimedische Punkt“48 der Evolutionsökonomik. Dabei ist die Anknüpfung an Hayek, der Wissensprobleme ausführlich thematisierte,49 besonders greifbar. Wissen bezieht sich auf Funktionszusammenhänge, Gründe, also „wenn-dann“-Beziehungen.50 Dem liegt das Verständnis zugrunde, dass Wirtschaft erklärbar ist als Zusammenspiel von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen („there is no uncaused cause“). So erklärt sich, warum Akteure nach Wissen streben, da sie nur dann ihre Handlungen gezielt steuern können (wenngleich ihnen dies aufgrund stets defizitären Wissens nie perfekt gelingen wird). Wissen bleibt immer unvollständig, bleibt Unwissen. So wenig eine zentrale Steuerung der komplexen Wirtschaft möglich ist, so wenig kann ein Akteur alles erforderliche Wissen 46 Vgl. Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, 2003, S. 46; vgl. Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, S. 33 ff. 47 Vgl. Andersen, Evolutionary Economics, 1994, S. 15. 48 Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 30. 49 Vor allem in Hayek, Anmaßung von Wissen, 1996, S. 3 ff., 307 ff. 50 Vgl. Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 51.

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versammeln, das seine Entscheidungen ultimativ berechenbar machen würde. Evolution ist immer nur die Annäherung an mehr Wissen. Die philosophische Grundlage dieses Eingeständnisses von unvollkommenem Wissen kann in den erkenntnistheoretischen Beiträgen von Karl Popper gesehen werden, der den Glauben an eine objektive Wahrheit, ein absolutes Wissen erschüttert hat.51 Nach Popper sind „alle Gesetze oder Theorien als Hypothesen oder Vermutungen“ zu betrachten.52 Er verwendet den Begriff „Vermutungswissen“, um zu kennzeichnen, dass vermeintliche Wahrheiten bloß aktuelle Vermutungen sind, die einer dauernden kritischen Prüfung bedürfen.53 Pragmatisch, aufgrund von Wahrscheinlichkeiten, werden bestimmte „Gesetze und Theorien“ bevorzugt.54 Poppers Aussage, dass es keine endgültigen Wahrheiten gibt, sondern nur Suchprozesse zur möglichen Falsifizierung bestehender Anschauungen, bildet das erkenntnistheoretische Fundament evolutionärer Betrachtungen.55 Die Entscheidungen der Akteure sind damit zwingend durch eine Restunsicherheit gekennzeichnet. Das bedeutet eine Relativierung von Entscheidungsgewissheiten, aber auch eine Entlastung: Risiko und Scheitern sind selbstverständliche Phänomene wirtschaftlichen Handelns. Die Kehrseite von Risiko und Scheitern, Chancen und Erfolg, hängt aber genauso vom Wissen ab. Die Evolutionsökonomik geht davon aus, dass in komplexen Systemen wie der modernen Gesellschaft und dem Wirtschaftskreislauf, aber auch bereits bei größeren Transaktionen oder in einem Unternehmen Wissen der Fokalpunkt ist. Informationen, also neue Wissensbestandteile, sind eine bedeutende Triebfeder solcher Systeme und gleichzeitig erforderlich, um das komplexe System zu organisieren und zu gestalten. Informationsgewinnung und -verteilung sowie der Umgang mit Ungewissheiten werden zu wesentlichen Aspekten innerhalb des Systems. Terminologisch wird unterschieden zwischen der Diffusion von Wissen (das bekannt ist, aber nicht jedem) und der Entdeckung neuer Informationen.56 Wissen wird unterschieden in referentielles und nicht-referentielles Wissen, wobei als Referenzpunkt das „erkennende Subjekt“ gilt.57 Demnach liegt referentielles Wissen vor, wenn es sich um Wissen handelt, das konkret in der Person eines Akteurs vorhanden ist. Nicht-referentielles Wissen hingegen existiert akteursunabhängig. Es stellt die Situations- und Aktionsgrundlage für den Einsatz des referentiellen Wissens durch die Akteure dar. In der Biologie wäre nicht-referentielles Wissen als genetische Information zu bezeichnen.

51 52 53 54 55 56 57

Umfassend in Popper, Objektive Erkenntnis, 1995. Popper, Objektive Erkenntnis, 1995, S. 9. Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, 1995, S. 1 ff. Popper, Objektive Erkenntnis, 1995, S. 13 ff. Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, 1995, S. 270 ff. Vgl. Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 63. Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 38, 82.

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Will man Handlungen von Akteuren rationalisieren, so ist von ihrem Vermögen und insbesondere ihrem Wissensstand auszugehen. Der Wissensstand wird beeinflusst durch das individuelle Vorwissen, durch Transaktionen, durch Kommunikation und Wahrnehmung, die Art der Wissenskoordination sowie die Interpretation von Wissen.58 Diese Faktoren werden wiederum komplexer bei Annahme nicht-individueller Akteure, also z.B. bei Netzwerken oder derivativen Akteuren.

2. Wissen im wirtschaftlichen Prozess Drei Eigenheiten von Wissen sind hervorzuheben, wenn Wissen im Prozess eingesetzt wird, also kommuniziert wird: Lerneffekte, Beschränkungen und Emergenz. Es liegt in der Natur des Wissens, dass es teilbar ist und durch Diffusion und Vernetzung wertvoller wird (bis der Punkt erreicht ist, an dem eine Wissensüberforderung zur Handlungslähmung führt). Das Wissen verändert sich dadurch. Die Erweiterung von Wissen wird als Lernen bezeichnet, und die Evolutionsökonomik bezieht in ihre Forschungen ein, dass sich der Wissensstand permanent durch die Neu-Zusammensetzung von Elementen in Transaktionen verändert, Akteure also lernen und ihre Handlungen neu ausrichten.59 Dies ist in typischen Rationalitätsmodellen nicht vorgesehen. Solche Lerneffekte sind ein weiterer Baustein der wirtschaftlichen Dynamik. Zugleich sind aber die Grenzen des eigenen Wissens schwer erkennbar. Ein Akteur kann kaum erkennen, zu welchem Zeitpunkt er genug weiß, um eine Entscheidung treffen zu können, zumal – mit Popper – sein Wissen immer nur Vermutungswissen bleiben wird. Hier schließt sich die Verbindung zur „bounded rationality“: Indem auf kognitive und andere Einschränkungen eingegangen wird, die die Rationalität des Akteurs einschränken und seine Handlungen weniger planvoll machen, hebt sich die Evolutionsökonomik von der Vorstellung eines homo oeconomicus als Handelndem ab.60 Schon die Akteure innerhalb eines Netzwerks, etwa verschiedene Energieverbraucher, können ein völlig unterschiedliches Wissen haben und dieses unterschiedlich kommunizieren, ausbauen, interpretieren. Geht ein Modell von typisierten Energieverbrauchern aus, liegt darin bereits eine Abweichung von der Realität. Die Evolutionsökonomik steht für die konsequente Beachtung der „bounded rationality“ bei der Abbildung von Prozessen.61 58

Vgl. Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 65 ff. Vgl. Cantner in: Drexl/Kerber/Podszun, Competition Policy and the Economic Approach, 2011, S. 149, 157 f. zum Lernen bei Innovationsprozessen. 60 Vgl. Cantner in: Drexl/Kerber/Podszun, Competition Policy and the Economic Approach, 2011, S. 149, 159. Ebenso die Institutionenökonomik, vgl. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1991, S. 17 ff. 61 Hintergrund ist die Singularität jedes Akteurs, vgl. Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 69. Da die Evolutionsökonomik diese Singularität akzeptiert und den individuel59

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Als dritte Eigenheit wird von einigen Evolutionsökonomen die Auffassung vertreten, dass Wissen ein emergentes Phänomen ist.62 Das bedeutet, dass die Zusammenführung von Elementen eine von den Handlungen und dem Einzelwissen der Individuen unabhängige Bedeutung erhält. Wie beim Konzept der Übersumme soll das Ganze an Wissen mehr als die Summe der einzelnen Elemente sein. Geht man von der Emergenz des Wissens aus, sind die Unsicherheiten für die Akteure angesichts mangelnden Wissens noch erheblicher. Das bedeutet für den Wissenschaftler allerdings auch, dass eine echte Beschreibung eines Phänomens wegen der eingeschränkten Rationalität des Beobachters und dem emergenten Wissen gar nicht möglich ist. Diese fundamentale Erkenntnis des Nichtwissen-Könnens lehrt für die Beurteilung von Phänomenen Demut. Umso wichtiger ist es jedoch, die Verfahren zu analysieren, nach denen Wissen produziert und eingesetzt wird.

3. Wettbewerb als Verfahren Das wesentliche Koordinationsverfahren ist in der Marktwirtschaft der Wettbewerb, und so besteht ein enger Zusammenhang zwischen Wissen, das die Basis der von den Marktteilnehmern getroffenen Entscheidungen darstellt, und diesem Ur-Mechanismus wirtschaftlicher Aktivität von Menschen. Nach einer bekannten Definition ist Wettbewerb „das selbständige Streben sich gegenseitig im Wirtschaftserfolg beeinflussender Anbieter oder Nachfrager (Mitbewerber) nach Geschäftsverbindungen mit Dritten (Kunden) durch InAussichtstellen möglichst günstiger Geschäftsbedingungen.“63 Wettbewerb bezeichnet damit die Rivalität unabhängiger Entitäten, die mit ihren Leistungen gegeneinander antreten, um Erfolg zu haben. Dabei handelt es sich um ein Kontaktphänomen, das immer wieder aufs Neue angestoßen wird, da es immer wieder einen neuen Preis in Form von Gewinn zu erringen gilt. Dieser geht aus den stets erneuerten oder neuen Bedürfnissen der Menschen hervor. Der ständige Wettbewerb ist Motor der Marktwirtschaft und Organisationsprinzip für das Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage. Unternehmen müssen sich diesem Leistungswettbewerb stellen. Der Markt ist das Forum, in dem sich diese evolutiven Prozesse niederschlagen. In diesem Leistungswettbewerb ist Unwissen über die Nachfrage, die Präferenzen der Marktgegenseite, die Aktionen der Mitbewerber, das eigene Leislen62Akteur und seine Entwicklungsmöglichkeiten zum Ausgangspunkt ihrer Theorie macht, lässt sich möglicherweise auch folgern, dass sie eine konsequent individuell-personalistische Theorie in der Tradition der Aufklärung ist. Systemtheoretische Anleihen einiger Evolutionsökonomen relativieren dies freilich. 62 Vgl. Foster/Metcalfe, Emergence Economics, 2011, S. 14 und passim; Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 33. 63 Borchardt/Fikentscher, Wettbewerb, Wettbewerbsbeschränkung, Marktbeherrschung, 1957, S. 15.

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tungsvermögen und die äußeren Umstände ein entscheidender Faktor. Die Fähigkeit, Unwissen richtig einzuschätzen, oder Wissensvorsprünge zu generieren, verhilft regelmäßig zu wettbewerblichen Vorsprüngen und damit zu Erfolg. Der Wettbewerb hat allerdings noch eine weitere Komponente in Bezug auf das Wissen, die in dem berühmten Diktum Friedrich von Hayeks ausgedrückt wird: Wettbewerb ist „ein Verfahren zur Entdeckung von Tatsachen […], die ohne sein Bestehen entweder unbekannt bleiben oder doch zumindest nicht genutzt werden würden.“64 Mit dem Schlagwort vom Wettbewerb als Entdeckungsverfahren machte Hayek deutlich, dass nicht nur Wissen in den Wettbewerbsprozess eingeht und in diesem Prozess koordiniert wird, sondern dass der Wettbewerb selbst Wissen kreiert. Die Kreation des schöpferischen Unternehmers, seine Innovationskraft, hervorgehoben von Schumpeter, wird durch die Integration in Hayeks Wettbewerbskonzeption zu einem Schlüsselthema der Wirtschaft. Der Begriff der Entdeckung kennzeichnet die Neuheit, das Überraschende. Diese geniale Leistung des Wettbewerbs ist es, die Hayek zufolge dieses Organisationsprinzip allen anderen, weniger dezentralen Formen der Wirtschaft überlegen macht.65 Die evolutorische Ökonomik führt Wissen und Wettbewerb in eigenen Wettbewerbsdefinitionen eng und löst sich damit von anderen Wettbewerbstheorien. Wettbewerb (und damit wirtschaftliche Aktivität) wird dann etwa von Kerber und Budzinski als Forschungsprozess beschrieben, in dem Individuen versuchen, ihr begrenztes Wissen über die Lösung ökonomischer Probleme (ein solches Problem könnte z.B. die Bedarfsdeckung sein) zu erhöhen, um Vorteile bei Transaktionen zu erringen zu können.66 Dabei orientieren sich die Akteure, wie aus Kognitionsforschungen bekannt ist, an Vorerfahrungen, Routine usw. – ihre Rationalität ist schließlich eingeschränkt. Komplexer wird dieses Modell durch die Annahme, dass nicht natürliche Personen ihr individuelles Wissen einsetzen, sondern Unternehmen oder andere Akteure ihr institutionelles Wissen organisieren und einsetzen müssen. Evolutionsökonomik bildet die Dynamik der Wirtschaft also ab, indem der treibende Mechanismus der Wirtschaft, der Wettbewerb, und der (aus evolutionsökonomischer Sicht) wichtigste Parameter wirtschaftlichen Handelns, das Wissen bzw. Unwissen, zusammengeführt werden. So ist es berechtigt, von Wettbewerb, ja, von Wirtschaft als einem Entdeckungsverfahren zu sprechen, das mit immer neuen Lösungen für die gestellten ökonomischen Probleme aufwarten kann. Gleichzeitig kann Evolutionsökonomik über die Entstehung von Strukturen und Mustern erklären, warum trotz des Wettbewerbs eine 64 Hayek, Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, 1968, S. 3; vgl. Kerber in: Drexl/Kerber/ Podszun, Competition Policy and the Economic Approach, 2011, S. 173, 175 ff. 65 Hayek, Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, 1968, S. 1. 66 Vgl. Kerber in: von Delhaes/Fehl, Dimensionen des Wettbewerbs, S. 29, 49 f.; Budzinski, Evolutionary Theory of Competition, 2004, S. 7 f.

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Grundstabilität, die Ordnung, vorhanden ist. Genaueren Aufschluss über die Wirkungsweisen in wirtschaftlichen Prozessen liefert das Variations-Selektions-Paradigma.

IV. Von Variation-Selektion zu Struktur und Ordnung Die Evolutionsökonomik erläutert den wirtschaftlichen Prozess als Ausleseprozess. Die Evolutionsökonomik wendet dazu das aus der Biologie stammende Variations-Selektions-Paradigma und die Topoi der Pfad- und Häufigkeitsabhängigkeit auf Entscheidungsprozesse an.

1. Variations-Selektions-Paradigma Das Variations-Selektions-Paradigma67 stellt den Prozess dar, wie sich in einer Population bestimmte Merkmale herausbilden. In einer Population weisen Träger bestimmte Merkmale auf. Das Merkmal bildet sich aufgrund von Umgebungseinflüssen in unterschiedlichen Varianten aus, die wiederum weitere Variationen zur Folge haben. Die unterschiedlichen Variationen werden reproduziert (in der Biologie auf Basis von Vererbung), allerdings nicht unendlich, da es eine Ressourcenknappheit für die Reproduktion gibt. Es muss daher ausgewählt werden, welche Variation sich in der kommenden Generation durchsetzt. Diese Auswahl ist die Selektion. Ausgewählt werden diejenigen Merkmale, die wiederum den größten Reproduktionserfolg versprechen.68 Diese Aussichten sind dann besonders groß, wenn das Merkmal an die Umgebung und die vorhandenen Ressourcen angepasst ist. Durch Selektion und Reproduktion werden die nach dem Kriterium der Anpassung ausgesuchten Merkmale weitergetragen (bewahrt), es beginnt allerdings sogleich wieder die nächste Variationsstufe. Teil der Reproduktionsprozesse sind Replikation, Imitation und Innovation als Versuche, alte Variationen zu wiederholen oder neue, noch anpassungsfähigere Variationen hervorzubringen.69 Selektion führt dabei nicht zu effizienten oder optimalen Zuständen, sondern zu einem andauernden Prozess, der funktionstüchtige (viable) Zwischenlösungen hervorbringt,70 die aber durch Innovationen, also Neuerungen, wiederum in Frage gestellt werden.71 Noch komplexer wird dieses Modell durch Wissenspro67 Die Definition hier folgt Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 206 f. Vgl. Hodgson, Philosophical Perspective, 2010, S. 10. 68 Häufig wird daher das Element der Reproduktion (oder auch Retention, Replikation oder Bewahrung) als dritter Baustein des Paradigmas Variation und Selektion hinzugefügt. Vgl. etwa Dopfer, Grundzüge der Evolutionsökonomie, 2007, S. 23. 69 Vgl. Van den Bergh/Kallis, Evolutionary Policy, 2009, S. 5. 70 Vgl. Hodgson, Philosophical Perspective, 2010, S. 10; Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 241. 71 Vgl. Van den Bergh/Kallis, Evolutionary Policy, 2009, S. 5.

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bleme, Rückwirkungen der Merkmale auf die Umwelt und Zeitstruktur.72 Vereinfacht wird das komplexe Verfahren durch sog. Standards, die die Koordination zwischen verschiedenen Selektionsprozessen und die Kooperation von Akteuren erleichtern,73 sowie durch die Neigung zu Imitations- und Replikationslösungen.74 Überträgt man dieses allgemeine Schema auf wirtschaftliche Phänomene, so lassen sich die Merkmale als Elemente im Sinne von Wissensträgern fassen, die in Transaktionen eingebracht werden. Die Ressourcenknappheit besteht auch in der Wirtschaft, der Reproduktionserfolg ist der mögliche Gewinn, die Selektion findet durch den Wettbewerb statt: das am besten angepasste Element wird weitergetragen. Hier lassen sich auch problemlos die Begriffe Innovation, also die Schaffung von Neuem,75 und Imitation, die Nachahmung von Bekanntem, einbeziehen. So wählt der Verbraucher etwa diejenigen Angebote aus, die am besten an seine Bedürfnisse angepasst sind. Da sich Bedürfnisse und Umstände ändern, da es aber auch immer neue Angebote gibt, ist die Nachfrage nicht konstant, sondern einer Entwicklung unterworfen. Ein Unternehmer, der sich auf dieses Umfeld einstellt, wird versuchen, die wissensgesteuerten Selektionsprozesse des Verbrauchers nachzuvollziehen und neue Variationen anzubieten, die den Verbraucher überzeugen könnten. Erst recht lässt sich dieses Schema aber auf die volkswirtschaftliche Gesamtdynamik übertragen, etwa wenn untersucht werden soll, wie sich eine Branche entwickelt: bestimmte Variationen, die den höchsten Reproduktionserfolg versprechen, da sie am besten angepasst sind, werden selektiert. Das Verhalten der Akteure ist bestimmt davon, in einem ständigen Suchprozess Variationen hervorzubringen oder durchzusetzen, um in der Selektion der übrigen Marktteilnehmer bestehen zu können. So kommt es durch die Transaktionen, in denen die Selektionen sich manifestieren, zu Entwicklungen und Innovationen in der jeweiligen Branche.

2. Pfad- und Häufigkeitsabhängigkeit Das Ergebnis jeder einzelnen Selektion ist pfadabhängig, das bedeutet, dass sich die Entwicklung anhand eines Pfads zurückverfolgen lässt.76 Der Pfad ist geprägt von Entscheidungsnotwendigkeiten (Kreuzungen), an denen sich verschiedene Alternativen bieten, und stabilen Phasen, die auf die Entscheidung 72 Vgl. Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 208 f.; Witt in: Dopfer, Evolutionary Economics, 2001, S. 45, 63 ff. 73 Vgl. Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 234 f. 74 Vgl. Van den Bergh/Kallis, Evolutionary Policy, 2009, S. 5. 75 Zu den Bedingungen dieses Schlüsselthemas der Evolutionsökonomik siehe Cantner in: Drexl/Kerber/Podszun, Competition Policy and the Economic Approach, 2011, S. 149, 150 ff. 76 Vgl. Hathaway, Iowa Law Review 86 (2001), 601 ff. Zur Fruchtbarmachung des PfadDenkens für das Recht siehe Wahl, JZ 2013, 369, 377 f.

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folgen. Die Prägung durch die Pfadabhängigkeit setzt für Analysen eine historische Betrachtung voraus. Die Pfadabhängigkeit folgt dem darwinistischen Konzept der Erklärbarkeit. Auch der wirtschaftliche Prozess lässt sich mit Hilfe von Entscheidungspfaden beschreiben, sodass sich jede Transaktion als Folge von verschiedenen Selektionen an Kreuzungen darstellen lässt. Zugleich weist der Pfad auf die „Trial-and-Error“-Konstellation hin: für die Akteure, beispielsweise die Unternehmen, stellt sich jede einzelne unternehmerische Entscheidung als ein Versuch dar, auf dem eingeschlagenen Pfad weiterzukommen und das angestrebte Gewinnziel zu erreichen. Dabei sind „Fehler“ möglich, also Fehleinschätzungen bezüglich der Reaktionen anderer Marktteilnehmer oder der Umwelt. Wirtschaften wird dann zu einem Suchprozess. Zentrale Stationen dieses Suchprozesses sind jeweils die Transaktionen, die solche Pfade bilden. Erfolgreiche Unternehmer schließen Lücken in den Netzwerken, indem sie erkennen, welche Verbindungen eingegangen werden müssen, die noch nicht existieren. Evolutionsökonomen nennen solche neuen Verbindungen Innovationen.77 Hier ist die Rolle des schöpferischen Unternehmers für die Wirtschaft noch einmal zu würdigen: Sein Vermögen und seine Kreativität, neue Pfade zu betreten, lösen die systemnotwendige wirtschaftliche Dynamik aus.78 Aus Transaktionen folgt die Produktion, die auf Input zurückgreift und Output aus ihrem Subsystem hervorbringt. Produktion ist ein zyklischer Prozess, der sich in einer Marktwirtschaft ständig fortsetzt und selbst am Leben erhält (Selbstorganisation).79 In der Produktion wird wiederum selbstverständlich Wissen eingesetzt, verarbeitet und verändert. Aus der Annahme, dass es sich um fehleranfällige Suchprozesse handelt, lässt sich eine weitere Folge für die Analyse ziehen: Entwicklung und Erfolg sind häufigkeitsabhängig. Je häufiger Entscheidungen und Verfahren ausprobiert werden und je diverser die Pfade sind, die dabei eingeschlagen werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass das Risiko des Misserfolgs für den Unternehmer minimiert und der innovative Ertrag für die Gesellschaft erhöht werden kann. Die Häufigkeitsabhängigkeit ergibt sich daraus, dass jede neue Entscheidung in einem Trial-and-Error-Verfahren wieder Chancen und Risiken bietet. Wenn Lernerfahrungen integriert werden, erhöhen sich mit jeder Entscheidung die Erfolgschancen. Lernen wird damit zu einem wesentlichen Faktor des Erfolgs. Aufgrund der dauernden Evolution wird eine Entscheidung jedoch ohnehin nicht zwei Mal getroffen – zu denken ist an das Heraklit zugeschriebene Motto „pantha rei“ („alles fließt“), welches das evolutionäre Element in allen Dingen kennzeichnet. Dennoch ergibt sich aus der Häufigkeit, mit der Variationen zur Selektion angeboten werden, eine erhöhte Erfolgsaus77 78 79

Vgl. Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 77. Vgl. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1991, S. 83. Vgl. Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 165 ff., 245 ff.

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sicht, da sich an häufigen Verhaltensmustern die Erwartungen der Mehrheit orientieren.80 Spezial- und Einzelfälle hingegen, die nur ein einziges Mal reproduziert wurden, bieten wesentlich geringere Aussagekraft für Verhaltenserwartungen. Die Häufigkeit, mit der Variationen zur Selektion angeboten werden, spielt damit eine wesentliche Rolle für die Durchsetzung bestimmter Variationen. Mit der Häufigkeit steigt die Möglichkeit zur Diversität. Je mehr unterschiedliche Wege beschritten werden können und je stärker die einwirkenden Umweltbedingungen sind, desto größer sind die Chancen für Innovationen. Auf mikroökonomischer Ebene lässt sich beispielsweise annehmen, dass ein Unternehmen, das mehrere Teams mit unterschiedlichen Ausgangsideen Lösungen für eine Frage entwickeln lässt, größere Erfolgsaussichten hat als ein Unternehmen, das nur einen Entwicklungspfad mit einem einseitig ausgebildeten Team verfolgt. Übertragen auf Volkswirtschaften empfiehlt es sich, diverse Umfelder zu schaffen und wirtschaftliche Entscheidungsträger nicht in ein einengendes (zum Beispiel monopolistisches oder durch starke Regulierung geprägtes) Verhaltensmuster zu drängen. Die Übertragbarkeit von Pfadabhängigkeit, Häufigkeitsabhängigkeit und Diversität als Selektionsbedingungen auf das Rechtswesen, in dem verschiedene Verfahrens- und Entscheidungspfade beschritten werden können, und in dem eine Sachverhaltskonstellation einmal oder häufiger die Gerichte erreichen kann, und in dem einheitliche sowie diverse Umwelteinflüsse wirken können, liegt auf der Hand.

3. Entscheidungstheorie In den Transaktionen spielen Entscheidungen die wesentliche Rolle. Die Entscheidungen der Akteure konstituieren jeweils den Pfad. Diese Entscheidungen stehen jedoch unter Wissensbedingungen und sind damit nicht, wie von der traditionellen Lehre angenommen, ausschließlich rational. Sie sind vielmehr wissens- und erfahrungsbasiert, aber auch von weiteren Faktoren beeinflusst oder sogar determiniert. Pfad-Entscheidungen stehen immer unter Ungewissheit: Wie sich die Entwicklung tatsächlich vollzieht, ist ex ante nicht sicher vorherzusagen; es handelt sich für die Akteure, wie gesehen, um einen Trial-and-Error-Prozess.81 Die Akteure entscheiden unter Ungewissheit, aber aufgrund ihrer Erwartungen, mit denen sie zukünftige Entwicklungen einschätzen. Werden Erwartungen an Transaktionen enttäuscht, ergibt sich Konfliktpotenzial, das etwa in Rechtsstreitigkeiten münden kann.

80

Vgl. Witt in: Dopfer, Evolutionary Economics, 2001, S. 45, 55 ff. Vgl. Cantner in: Drexl/Kerber/Podszun, Competition Policy and the Economic Approach, 2011, S. 149. 81

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Die Komplexität des Themas „Entscheiden unter Unsicherheit“ kann hier nur angedeutet werden.82 Wesentlich ist, dass überhaupt erkannt wird, dass der Entscheidungsprozess den Gesetzmäßigkeiten der Wissensproblematik unterliegt und keine sicheren Vorhersagen möglich sind. Dennoch ist das Bemühen der Akteure wesentlich, ihre Entscheidungen so erfolgversprechend wie möglich zu gestalten. Wie dabei vorzugehen ist und welchen Zwängen Akteure dabei unterliegen, untersucht die Entscheidungstheorie. Drei Aspekte der Entscheidungstheorie sollen hervorgehoben werden: – Ein wichtiges Kriterium der Entscheidung sind die sog. Opportunitätskosten, also der durch Wahl einer bestimmten Entscheidung entgangene Nutzen, der realisiert worden wäre durch alternative Entscheidungen. Dieses Element der Mainstream-Ökonomik wird von der Evolutionsökonomik unter den Imperativ beschränkten Wissens und kognitiver Einschränkungen gestellt: Opportunitätskosten sind ex ante oft ebenso wenig eindeutig einzuschätzen wie der Nutzen der tatsächlichen Entscheidung. – Ein weiteres typisches Entscheidungskriterium ist die Bevorzugung bekannter Verhaltensmuster gegenüber unbekannten, nicht zuletzt da Unternehmen nicht ohne weiteres in der Lage sind, ihr Verhalten zu ändern („organizational routine“83). Damit wird zum einen Komplexität reduziert, da sich die Akteure auf Erfahrungen stützen können. Zum anderen werden damit häufigkeitsabhängige Entscheidungen geschaffen: Die Erwartungen werden ausgerichtet auf das Verhalten der Mehrheit der Akteure in einer Population, da das Mehrheitsverhalten die Koordination von Erwartungen erleichtert.84 In diesen Zusammenhang ist die häufige Replikation von in der Vergangenheit erfolgreichen Entscheidungen einzuordnen. Die Ausrichtung an dominantem Verhalten erklärt zudem die Neigung zu Imitation statt Innovation. Weicht der Akteur von der Routine ab, begibt er sich also auf die Suche nach neuen Möglichkeiten („search“85), besteht zwar ein Risiko des Scheiterns, aber auch die Chance, Variationen zu finden und damit innovative Prozesse auszulösen. – Schließlich sind Entscheidungen geprägt durch das Selektionsumfeld und Rückkopplungseffekte im Lauf der Zeit.86 Vorhandene Strukturen und das Feedback auf Entscheidungen prägen Erwartungen, verändern aber auch das Umfeld selbst. Ist eine Entscheidung tatsächlich oder scheinbar unumkehrbar gemacht, tritt der sog. lock-in-Effekt ein. 82 Weiterführend aus ökonomischer Sicht Bamberg/Coenenberg/Krapp, Betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre, 2008; Laux, Entscheidungstheorie, 2005, S. 105 ff.; aus psychologischer Sicht Jungermann/Pfister/Fischer, Psychologie der Entscheidung, 2010. 83 Nelson/Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change, 1982, S. 400. 84 Vgl. Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 242; Dopfer, Grundzüge der Evolutionsökonomie, 2007, S. 29. 85 Nelson/Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change, 1982, S. 400. 86 Vgl. Nelson/Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change, 1982, S. 401.

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Das Arbeiten mit Pfad-Modellen in der Entscheidungstheorie macht es möglich, Prägungen durch frühere Entscheidungen und Umgebungen zu erkennen, die die Aussagekraft aktueller Werte relativieren, und Entscheidungen einzuordnen.87 Zudem erklärt Pfadabhängigkeit die Singularität jeder Entwicklung und den Einfluss früherer Wissensstände.

V. Anwendungsbeispiele evolutionsökonomischer Forschung Zum besseren Verständnis der Theorie wird im Folgenden der evolutionsökonomische Forschungsansatz anhand von zwei empirischen Analysen vorgestellt, die sich mit dem in dieser Studie relevanten Untersuchungsgegenstand, deregulierten Branchen, befassen.88

1. Dynamik der Telekommunikationsindustrie Die französischen Ökonomen Gaffard/Krafft untersuchen in einem Paper die Dynamik der Telekommunikationsindustrie.89 Ihre Forschungsfrage ist, wie sich die Branche weiterentwickelt und welche Erwartungen sich aus den vergangenen Entwicklungen in dieser Branche für die Zukunft herleiten lassen. Schon diese Fragestellung weist die Autoren als Evolutionsökonomen aus, denn sowohl Thematik als auch Ziel und Methodik sind einem evolutionären Denken verpflichtet: Untersucht wird die Dynamik eines typischen technologiegetriebenen Sektors. Wie gesehen eignet sich die Evolutionsökonomik besonders, um die Entwicklung solcher innovationsgetriebener Sektoren zu erfassen. Das Ziel ist gefasst in der Form von „Erwartungen“, einem weiteren typischen Topos dieser Lehre. Methodisch wiederum werden die historischen Entwicklungen in den Blick genommen, was konsequenter Ausfluss der Pfadabhängigkeit zukünftiger Entwicklungen ist. Im Ausgangspunkt stellen die Autoren die Charakterisierung der Organisation des Telekommunikationssektors und des Wandels gegenüber, so wie es bislang in Studien erfolgt ist.90 Ausgangspunkt ist die historische Entwicklung, die in den 1980er Jahren von einer Monopolwirtschaft mit zwei Pfeilern geprägt war, nämlich Verbindungsinfrastruktur/Dienstleistungen einerseits (meist in der Hand eines staatlichen Monopolisten) und der technischen Ausstattung (in Deutschland z.B. weitgehend monopolisiert durch Siemens). Mit der Wende zum Privatrecht, also der Deregulierung und Privatisierung in den 87

Auch North betont die Bedeutung von Pfadabhängigkeit und historischen Ursprüngen für die Institutionenökonomik, siehe North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1991, S. 92 ff. 88 Weitere Fallstudien sind gesammelt in Pyka/Hanusch, Applied Evolutionary Economics, 2006. 89 Gaffard/Krafft, Telecommunications, 2001. 90 Gaffard/Krafft, Telecommunications, 2001, S. 3–11.

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1990er Jahren, wurde die Branche aufgebrochen. Es kam zu zahlreichen Markteintritten, zu neuen Kundenerwartungen (Multimedia) und zu erheblichen technologischen Entwicklungen, insbesondere der Umstellung auf paketvermittelte Netzwerke und eine Diversifizierung von Anwendungen. Diese Fakten haben zu zwei unterschiedlichen Forschungsansätzen seitens der Ökonomik geführt91: Die „Mainstream“-Ökonomik hat sich in der Folge insbesondere mit Preis-Kalkulationen bei der Transition in die von Netzwerkeffekten geprägte Wettbewerbswirtschaft befasst. Evolutive Ansätze hingegen haben versucht, die Triebfedern des Wandels in der Branche zu identifizieren, um daraus Schlüsse für deren zukünftige Organisation zu ziehen. Diese Diskrepanz sei Ausdruck unterschiedlicher „Visionen“92 von der Organisation des Sektors. Gaffard/Krafft entscheiden sich für einen evolutorischen Ansatz, da die schlichte Preis-Untersuchung in Zweier-Beziehungen nicht geeignet sei, die erheblichen Wechselwirkungen in der Branche zu erfassen. Die Telekommunikationsbranche sei nämlich gerade von der Komplexität gekennzeichnet, die sich aus den Effekten der unterschiedlichen Subsysteme aufeinander ergebe.93 Sie identifizieren Innovationen als wichtigsten Parameter dieses Systems. Innovationen erbrächten nicht nur neue Technologien, sondern würden die Branche selbst verändern, zumal es keine lineare Innovationstätigkeit gebe, sondern eine spontane. Unsicherheit werde damit zu einem wesentlichen Aspekt bei den Entscheidungen von Unternehmen in diesem Sektor. Auch in diesen Äußerungen schlägt sich die evolutionsökonomische Perspektive nieder: Evolutionsökonomen sind bereit, die Komplexität des Gesamtzusammenhangs anzuerkennen, statt künstlich einzelne Faktoren zu isolieren, die in der Praxis doch in Abhängigkeit von zahlreichen weiteren Faktoren stehen.94 Typisch ist auch die Fokussierung auf Innovationen als einem wesentlichen Parameter und auf Unsicherheit als prägende Entscheidungsbedingung. Die Rückkopplung neuer Technologien auf das Umfeld, ein oft unterschätzter Effekt, wird herausgearbeitet. Die Autoren gehen von diesen Erkenntnissen über zu ihrer Frage, wie sich die Organisation der Branche angesichts der unsicheren Erwartungen erklären lässt. Ihrer Ansicht nach lässt sich für die wichtigen Investitionsentscheidungen konstatieren, dass es den Akteuren nicht um rationale Entscheidungen geht, sondern um viable, also jedenfalls taugliche Strategien, die die Sprunghaftigkeit der Innovationen absichern. Das Risiko der Nichterfüllung von Erwartungen wird demnach von Unternehmen abgefedert durch gezielte Arbeit am Koordinationsproblem (d.h. genauere Erwartungseinschätzungen), Of91 92 93 94

Gaffard/Krafft, Telecommunications, 2001, S. 6 ff. Gaffard/Krafft, Telecommunications, 2001, S. 9. Gaffard/Krafft, Telecommunications, 2001, S. 12. Vgl. Nelson/Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change, 1982, S. 402 f.

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fenhaltung wettbewerblicher Möglichkeiten und kompensatorischen Investitionen.95 Dieses unternehmerische Verhalten sowie die Preisregulierung durch Regulierungsbehörden sollen, so die Autoren, eine gewisse Stabilität bewirkt haben, die der stürmischen Dynamik trotzte. Diese Dynamik ergab sich vor allem in neuen technologischen Möglichkeiten und durch erweiterte Verbraucheranforderungen.96 Abschließend entwickeln die Autoren vor diesem Hintergrund im Jahr 2001 drei mögliche Szenarien, wie die Subsysteme auf zwei Veränderungen reagieren, nämlich die Zunahme von Highspeed-Internet und die Entwicklung des 3G-Standards für Mobilfunk. Dieser technologische Wandel, so prognostizieren die Autoren, führt zu Ungleichgewichten (enttäuschten Erwartungen). Die erforderliche Stabilität in der Organisation des Telekommunikationssektors werde daher durch einen „shakeout“ erreicht werden, der sich entweder durch Marktaustritte oder durch Fusionsaktivitäten vollziehen werde.97 Die Formulierung solcher Erwartungen passt in das evolutionsökonomische Schema, da durch solche Analysen die Unsicherheit reduziert wird und unternehmerische Entscheidungen viabler werden. Die Anlehnung an Schemata der Mainstream-Ökonomik (z.B. Denken in Gleichgewichtsvorstellungen) bleibt erhalten, was erweist, dass die Evolutionsökonomik den Anschluss an die traditionelle Ökonomik behalten kann.

2. Mobilfunk-Kooperationen Die drei Ökonomen Sadowski/Dittrich/Duysters knüpfen mit ihrem Paper zu Kooperationen von Mobilfunk-Unternehmen an der soeben vorgestellten Bestandsaufnahme an.98 Ihre Forschungsfrage ist, wie Unternehmen auf eine disruptive technologische Veränderung reagieren und ob die Zusammenarbeit von kleinen und großen Unternehmen dabei hilfreich sein kann.99 Charakteristisch für die evolutionsökonomische Fragestellung ist die Anknüpfung an technologischen Wandel als wichtiger Triebfeder der modernen Wirtschaft sowie die Perspektive des unternehmerischen Entscheidens. Eine typische traditionelle Fragestellung würde eher Wohlfahrtseffekte oder Preisentwicklungen modellieren. Theoretischer Ausgangspunkt der Forschungen sind die Theorien von Schumpeter und Nelson/Winter über den Zusammenhang von Unternehmensgröße und technologischem Wandel.100 Von der Dichotomie – große Firmen einerseits, kleine Firmen andererseits – lösen sich die Autoren und prüfen, wie 95

Gaffard/Krafft, Telecommunications, 2001, S. 15 ff. Gaffard/Krafft, Telecommunications, 2001, S. 19 f. 97 Gaffard/Krafft, Telecommunications, 2001, S. 22 ff. 98 Sadowski/Dittrich/Duysters, Small Business Economics 21 (2003), 173 ff. 99 Sadowski/Dittrich/Duysters, Small Business Economics 21 (2003), 173 f. 100 Sadowski/Dittrich/Duysters, Small Business Economics 21 (2003), 173. 96

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sich große Unternehmen (hier: das Mobilfunkunternehmen Nokia) einem disruptiven technologischen Wandel anpassen und welche Rückwirkungen das auf kleine Unternehmen (hier: finnische Unternehmen im Nokia-Umfeld) hat.101 Diese Konkretisierung der Fragestellung greift die Komplexität der Wirtschaft auf und isoliert nicht einzelne Aspekte. Der Begriff der Rückkopplung ist eine Konstante evolutionsökonomischen Denkens. In der Darstellung des technologischen Wandels folgen die Autoren dem Konzept der Pfadabhängigkeit und der Gefahr von lock-in-Effekten.102 Der disruptive Wandel, die entscheidende Innovation, welche die Autoren in ihrem historischen Kontext präsentieren, ist die Standardisierung des Mobilfunks. Während Nokia ursprünglich die NMT-Technologie anwendete, erfolgte im Verlauf der Wechsel auf GSM. Diese Technologie wurde von der Telekommunikationsstandardisierungs-Organisation ETSI zu einem Standard erklärt. GSM wurde sodann durch den UMTS-Standard abgelöst, was wiederum eine harte Unterbrechung des technologischen Prozesses bedeutete. Finnland hatte schon in den 1980er Jahren begonnen, seine Unternehmen in sog. Science Parks zu bündeln, um dadurch innovative Netzwerke zu schaffen.103 Dieses Konzept ging in den ersten Jahren sehr gut auf, wurde aber durch den Wechsel der Standards auf die Probe gestellt. Auf die harte Unterbrechung des jeweiligen Mobilfunk-Innovationsstrangs reagierte Nokia als Großunternehmen mit einer Internationalisierungsstrategie. Um die notwendigen Fähigkeiten und Partnerschaften zu erwerben, wendete sich Nokia Allianzen mit anderen international führenden Partnern zu.104 Diesen Strategiewechsel konnten kleinere und mittlere Unternehmen nicht nachvollziehen. Was als F&E-Partnerschaft in den lokalen Science Parks begonnen hatte, wurde zunehmend verwandelt in ein Outsourcing von Dienstleistungen. Die kleineren und mittleren finnischen Unternehmen wurden für den großen Partner Nokia mehr und mehr zu Dienstleistern, nicht mehr aber zu Kooperationspartnern. Das wurde nicht zuletzt durch Exklusivklauseln in Nokias internationalen Verträgen besiegelt.105 Der abrupte technologische Wandel konnte, so die Schlussfolgerung, vom großen Unternehmen durch Ausweichen in internationale Investments aufgefangen werden, was aber für die kleineren und mittleren Unternehmen in der lokalen Umgebung eine neue Rolle mit sich brachte, die nicht mehr an die direkte Forschungsbeteiligung anknüpfte.106

101 102 103 104 105 106

Sadowski/Dittrich/Duysters, Small Business Economics 21 (2003), 174. Sadowski/Dittrich/Duysters, Small Business Economics 21 (2003), 175. Sadowski/Dittrich/Duysters, Small Business Economics 21 (2003), 179. Sadowski/Dittrich/Duysters, Small Business Economics 21 (2003), 182. Sadowski/Dittrich/Duysters, Small Business Economics 21 (2003), 183 f. Sadowski/Dittrich/Duysters, Small Business Economics 21 (2003), 183 f.

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Wiederum befasst sich eine Studie also mit einer eindeutigen Wissensthematik (technologischer Wandel und Reaktionen darauf). Methodisch ähnlich wie die erste vorgestellte Studie wird ein historisches Narrativ aufbereitet, das die Entwicklung anhand von Variationen und Selektionen darstellt und dabei bemüht ist die durch Rückkopplungen und andere Effekte entstehende Komplexität des tatsächlichen Geschehens abzubilden. Damit wird dann wiederum ein Beitrag zu den Ausgangshypothesen geleistet. In der Darstellung operieren die Autoren durchaus mit Methoden, die auch von der empirischen Mainstream-Ökonomik anerkannt sind.

3. Zusammenfassung Die Evolutionsökonomik, so lässt sich aus der Zusammenschau ihrer theoretischen Grundlagen und zweier Anwendungsbeispiele festhalten, unterscheidet sich bereits in ihren Fragestellungen fundamental von der hergebrachten Ökonomik. Daher ist auch die Streitfrage schwer zu beantworten, ob es sich um eine neue wirtschaftswissenschaftliche Theorie mit eigener Grundlage oder lediglich um eine ergänzende Teildisziplin der Mainstream-Ökonomik handelt. Dies kann dahinstehen, da Fragestellungen und methodisches Vorgehen jedenfalls die Evolutionsökonomik legitimieren. Durch ihre neuartige Perspektive hilft die Evolutionsökonomik, die Ergebnisse der herkömmlichen Forschung zu relativieren. Die neuere Richtung ist nämlich in der Lage, die besonders relevanten Fragen, die um Dynamik, Wissensprobleme und Entscheidungen kreisen, korrekter zu erfassen. Das ist gerade für moderne Sektoren, die informations- oder technologiegetrieben sind, angemessen. Der Komplexität wirtschaftlicher Abläufe wird dabei besser Rechnung getragen als in stilisierten Modellen, auch wenn dadurch die Aussagen an Eindeutigkeit verlieren. Welches nun die entscheidenden Charakteristika der Evolutionsökonomik sind, mag selbst unter Evolutionsökonomen umstritten sein.107 Die folgenden Aspekte scheinen jedoch wichtige Parameter der Evolutionsökonomik zu sein: – Die Fragestellung richtet sich an der Dynamik der Wirtschaft aus und versucht einen Geschehensablauf in seiner Komplexität zu erfassen. – Methodisch werden historische Einordnungen vorgenommen, was durch das Konzept der Pfadabhängigkeit ermöglicht wird. – Im Mittelpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung stehen die Entscheidungen des Einzelnen, der Bestandteil einer heterogenen Population ist. Dies 107 Vgl. die unterschiedlichen Zusammenfassungen bei Van den Bergh/Kallis, Evolutionary Policy, 2009, S. 2; Dopfer, Grundzüge der Evolutionsökonomie, 2007, S. 2; Cantner/Hanusch, Industrie-Evolution, 1998, S. 8 f.; Hodgson, Philosophical Perspective, 2010, S. 5 f.

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entspricht dem Verständnis von Wirtschaft als Summe der freien Entscheidungen Einzelner. – Diese Entscheidungen sind ausgerichtet an wissensbasierten, aber auch erfahrungsorientierten und in anderer Weise determinierten Erwartungen ex ante. Die eingeschränkte Rationalität der Handelnden wird konsequent beachtet. – Die Entscheidungen verdichten sich zu einem Selektionsprozess und ergeben das Entdeckungsverfahren, das der Motor von Entwicklungen ist. – Überzeugend lässt sich mit Hilfe der Evolutionsökonomik erklären, wie aus vielen dezentralen, wissensbasierten Transaktionen Prozesse, Strukturen und Ordnungen entstehen, die wiederum auf die Transaktionen zurückwirken. Wie sich dieser Ansatz auf rechtswissenschaftliche Fragestellungen übertragen lässt, ist Gegenstand des folgenden Abschnitts. Ausgangspunkt dieses Abschnitts war die Klarstellung, dass die ökonomische Theorie primär bemüht ist, die Wirklichkeit abzubilden, nicht aber normative Vorgaben zu machen. An diesem Konzept wurde in der Darstellung festgehalten. Nicht verschwiegen werden soll, dass Evolutionsökonomen durchaus eine Empfehlung für die Ausrichtung von Gesellschaftsstrukturen haben: Gesellschaften sollten nicht versuchen, Gleichgewichte zu erreichen, sondern sie sollten experimentieren und Vielfalt zulassen.108 Nur aus vielen verschiedenen Lösungen kann mit Hilfe aufmerksamer Informationsverarbeitung und der stetigen Auswertung von Feedback die für eine Gesellschaft am besten geeignete Lösung ermittelt werden. Normativ ist die evolutorische Theorie also ein Plädoyer für Vielfalt und Versuch – das stellt eine ungewöhnliche Herausforderung für die Rechtsprechung dar.

B. Rechtsprechung als Entdeckungsverfahren Rechtsmethodisches Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, den Forschungsansatz der Evolutionsökonomik für die Rechtswissenschaft fruchtbar zu machen. In Kapitel 4 wird die Rechtsprechung in wirtschaftsrechtlichen, post-deregulativen Konstellationen mit Hilfe des Instrumentariums der Evolutionsökonomik, quasi auf Basis einer „evolutionären Rechtstheorie“, dargestellt. Die evolutionäre Perspektive soll den Blick für die Entwicklung der Rechtsprechung öffnen und diese als kontinuierlichen, dynamischen und komplexen Suchprozess besser abbilden als es etwa die Betrachtung eines einzelnen Urteils vermag oder die Darstellung der Rechtslage zu einem bestimmten Zeitpunkt. Es geht 108 Vgl. Nelson/Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change, 1982, S. 402; Kerber in: Drexl/Kerber/Podszun, Competition Policy and the Economic Approach, 2011, S. 173, 178 ff.

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bei einer solchen Darstellung primär nicht um die normative Frage, wie die Fälle „richtig“ zu lösen sind, sondern um die empirische Frage, wie Gerichte im Laufe der Zeit eine Herangehensweise zu bestimmten wirtschaftlichen Konfliktkonstellationen herausbilden. Der Wandel des Rechts steht im Vordergrund, also die Verbreitung von Innovationen,109 und damit öffnet sich der Blick für Grundstrukturen richterlichen Entscheidens. Diese Perspektive ist nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht besonders wichtig, sondern auch aus Sicht des Praktikers, ist es doch – etwa in der Vertragsgestaltung – unabdingbar, rechtliche Entwicklungen zu antizipieren und Rechtsrat auf eine „fundierte Voraussage über die zu erwartende Haltung des zuständigen obersten Gerichts“110 zu erteilen.111 Zunächst aber sind methodologische Vorarbeiten zu leisten, indem die Evolutionsökonomik als Theorie auf den juristischen Bereich übertragen wird, was insbesondere in der Tradition von Hayeks steht.112 Dazu ist die Eignung der Rechtsprechung als Untersuchungsgegenstand für evolutionäre Forschung darzulegen. Im Folgenden werden zunächst Zivilgerichte als Akteure dargestellt, die in der Wirtschaftsordnung eine wichtige Rolle einnehmen, bevor ihr Vorgehen als wissensbasiertes, pfadabhängiges Trial-and-Error-System interpretiert wird. So lassen sich Schwerpunkte einer evolutionären Rechtsprechungsanalyse darstellen. Eine rechtstheoretische Besonderheit des vorliegenden Untersuchungsmaterials, Entscheidungen in post-deregulativen Konstellationen, ist, dass es sich um „new cases“ handelt.

I. Zivilgerichte als Akteure der Wirtschaftsordnung Zivilgerichte sind zu wesentlichen Akteuren für die Wirtschaft geworden, die mit ihren Handlungen erheblichen Einfluss auf die Konfiguration der Erwartungen der übrigen Akteure haben, insbesondere der Unternehmen.

1. Das institutionelle Design nach der Wende zum Privatrecht Die in Kapitel 1 dargestellte Wende zum Privatrecht führt nicht etwa dazu, dass die staatliche Wirtschaftssteuerung oder die hoheitliche Durchsetzung 109 Vgl. Eckardt, Evolutionary Approaches to Legal Change, 2004, S. 2; Okruch, Innovation und Diffusion von Normen, 1999, S. 150 ff. 110 Junker/Kamanabrou, Vertragsgestaltung, 2010, § 1 Rn. 34. 111 Vgl. Okruch, ORDO 52 (2001), 131, 134. 112 Hayek hat immer wieder im Rahmen seiner Vorstellung von kultureller Evolution das Regelsystem des Rechts evolutiv interpretiert, beispielhaft in Band 1 seines Werks Recht, Gesetz und Freiheit, 2003. Wesentliche Aufsätze von Hayeks, in denen das Thema aufscheint, sind in dem von Viktor Vanberg herausgegebenen Band Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung, 2002, versammelt. Siehe auch Okruch, Innovation und Diffusion von Normen, 1999, S. 123 ff. sowie ders., ORDO 52 (2001), 131 ff., jew. m.w.N.

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von marktwirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen aufgegeben ist oder in einem institutionellen Vakuum stattfindet. Institutionell ruht das neue Konzept nun vielmehr auf drei Säulen: Erstens gibt es weiterhin direkte Interventionen staatlicher Stellen in Form hoheitlicher Verfügungen oder wirtschaftlicher Aktivitäten im Bereich der Wirtschaft, etwa wenn Bundesnetzagentur, Bundeskartellamt, Finanzbehörden, Gewerbeaufsichtsämter tätig werden oder der Staat Unternehmen subventioniert. Wie gesehen nimmt die Bedeutung dieser Eingriffe mit der Wende zum Privatrecht jedoch ab. Die abnehmende Bedeutung dieses Pfeilers wird durch die Pfeiler zwei und drei aufgefangen: Zweitens nämlich wird die Selbstorganisation der Akteure im Markt stärker beansprucht. Die Marktteilnehmer sind selbst dafür verantwortlich, dass der Markt in ihrem Sinne funktioniert. Drittens rücken Akteure ins Zentrum der Wirtschaftssteuerung, die traditionell nicht in dieser Aufgabe wahrgenommen wurden: die Zivilgerichte. Wenn die privaten Marktteilnehmer nicht in der Lage sind, ihre Interessen konfliktfrei zu koordinieren, können sie auf die hoheitliche Instanz der Zivilgerichtsbarkeit zugreifen, um ein geordnetes Verfahren der Konfliktlösung anzustreben. Gerade in den durch die Wende zum Privatrecht neu eröffneten Handlungsfeldern besteht Konfliktpotenzial, da hier Grundpositionen zu verteilen sind, also Weichen für späteren wirtschaftlichen Erfolg gestellt werden, und die Erwartungen der Marktteilnehmer sich erst noch konfigurieren müssen. Es kommt zu Streitigkeiten um wirtschaftliche Möglichkeiten in den deregulierten Branchen oder zu Problemen bei Public Private Partnerships, die vor Zivilgerichten ausgetragen werden müssen. Bei der Eröffnung neuer Handlungsfelder kommt es immer zu „Verteilungskämpfen“, an denen sich häufig zahlreiche Unternehmen beteiligen, die sodann einem Ausleseprozess unterworfen werden. Das Beispiel der Autobahn-Maut hat dies illustriert. Die Gerichte werden in dem Ausleseprozess teilweise bewusst von den Parteien eingeschaltet, um Konkurrenten aus dem Markt zu verdrängen. Ein Beispiel aus dem Bereich der Autobahn-Maut ist das Vorgehen gegen Nutzer der von Toll Collect beanspruchten Datenbank. Teilweise geraten die Gerichte aber auch schlicht aufgrund entstehender Konflikte in die Position, über wesentliche Marktparameter entscheiden zu müssen. Dies ist der Fall, wenn unterschiedliche Auffassungen von der Strukturierung des Marktes bestehen, also nicht-erfüllte Erwartungen zu Konflikten führen. Die Kontrolle der AGB von Toll Collect ist ein Beispiel für einen solchen Streit. Zivilgerichte rücken damit in die besondere Position, eine der wenigen verbliebenen hoheitlich agierenden Instanzen im Bereich der Wirtschaft zu sein. Institutionell löst so die Judikative die Exekutive zunehmend ab. Diese Weichenstellungsfunktion der Rechtsprechung ist bislang kaum rezipiert worden. Verstärkt wird die Bedeutung der Zivilgerichte als Regelungsinstanzen durch die Förderung der Konfliktbereitschaft von Privaten durch den Gesetzgeber. Indem zivil- und zivilverfahrensrechtliche Anreize geschaffen werden,

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um bestimmte Rechtspositionen durchzusetzen, macht der Gesetzgeber die Zivilgerichte zu einer bedeutsamen Arena. Manche wirtschaftlichen Anreize, die durch die Publifizierung des Privatrechts gesetzt werden, wirken so stark, dass sie Klagen eigenständig auslösen. Damit wird die Rechtsverfolgung selbst zu einem Geschäftsfeld. Es steht nicht mehr die Auflösung eines Konflikts im Vordergrund, der die Erzielung wirtschaftlicher Vorteile im eigentlichen Geschäftsfeld des Klagenden temporär beeinträchtigt. Der Konflikt ist vielmehr bloßer Anlass, um wirtschaftliche Vorteile aus der Rechtsverfolgung zu erzielen. In solchen Fällen, die in der Publifizierungsgesetzgebung angelegt sind, werden Zivilgerichte noch in einem weiteren Sinn zu einer Institution der Wirtschaftsordnung – als eigene „Märkte“.113

2. Institutionenökonomische Einordnung Die Entscheidungen der Gerichte haben eine verhaltenssteuernde Wirkung, indem sie Spielregeln setzen, die in die strategischen Überlegungen der Akteure eingehen, also deren Erwartungen prägen. Zwar sind die Wirkungen eines Gerichtsurteils formal auf den Einzelfall begrenzt, da Urteile lediglich die Parteien des Rechtsstreits binden. Faktisch jedoch entstehen je nach Konstellation auch Regelungen von branchensteuernder Tragweite. Dies gilt insbesondere für ober- und höchstgerichtliche Entscheidungen in neuen Rechtsfragen. In die Begrifflichkeiten der Evolutions- und Institutionenökonomie übersetzt lässt sich feststellen, dass Zivilgerichte Akteure im Rahmen der Wirtschaft sind, die ihr besonderes Wissen in den wirtschaftlichen Prozess einbringen. Ihre Entscheidungen stellen Institutionen dar, die sich zu Strukturen verfestigen können und bei entsprechender Stabilisierung eine Ordnung bilden. Gerichtsurteile bilden damit einen wesentlichen Baustein zur Konfigurierung der Erwartungen von Marktteilnehmern. Dies gilt insbesondere, wenn man mit Hayek davon ausgeht, dass gerade das Privatrecht – anders als das Öffentliche Recht – Gegenstand einer dynamischen, spontanen Ordnung ist.114 In einer solchen kommt der Judikative die entscheidende Rolle in der Genese von Regeln zu.115 113 In diesem Sinn sind auch Bemühungen einzuordnen, den „Justiz-Standort Deutschland“ zu fördern. Rechtsprechung wird damit als Dienstleistung angeboten, die sich im internationalen Wettbewerb bewähren muss. Beispielhaft kann für entsprechende Aktivitäten die Initiative „Law – Made in Germany“ von Bundesnotarkammer, Bundesrechtsanwaltskammer, Deutscher Richterbund u.a. Organisationen genannt werden, vgl. www.lawmadeingermany.de. 114 Vgl. Hayek, Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung, in: Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung, 2002, S. 69, 78. 115 Vgl. Hayek, Die Verfassung eines freien Staates, in: Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung, 2002, S. 143 ff.

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3. Ökonomische Impact-Analyse Diese Rolle der Zivilgerichte wirft die Frage auf, wie ihre Entscheidungen derzeit wirtschaftspolitisch eingeordnet werden. Während der Gesetzgeber, insbesondere der europäische Gesetzgeber, die wirtschaftlichen Folgen seiner Rechtsakte inzwischen häufig prüft (damit einem Postulat der Law-and-Economics-Bewegung nachkommend)116, ist dies für die rechtliche Einzelfallbeurteilung, also die Rechtsprechung, nicht die Regel. Die Gerichte werden auch regelmäßig nicht als wirtschaftsordnende Institutionen angesehen, bei denen eine ökonomische Folgenorientierung geboten wäre.117 Die wesentlichen Grundlagen für eine Analyse der Folgen von Rechtsprechung legte Ronald Coase mit seinem Aufsatz „The problem of social cost“118 und der damit verbundenen Begründung der Transaktionskostenökonomie, die letztlich die gesamte Law-and-Economics-Bewegung beflügelte. Coase berechnete konsequent Kosten und Nutzen verschiedener rechtlicher Szenarien. Sein Ausgangsbeispiel, das er mit Rechtsprechungsanalysen verband, war das einer Fabrik, deren Emissionen sich schädlich auf benachbarte Grundstücke auswirkten – bzw. das einer streunenden Viehherde, welche die Früchte der Nachbargrundstücke zerstört.119 Coase eröffnete der Juristenzunft die Einsicht, dass gerade in den von ihm zitierten wirtschaftsrechtlichen Fällen, in denen also finanzielle Interessen dominant sind, eine Konfliktschlichtung durch Berechnung und Ausgleich der Gewinne und Verluste möglich wäre, die mit dem störenden Verhalten einhergehen: Schädiger und Geschädigter könnten Effizienzen heben, wenn sie diese miteinander verglichen.120 Indem Gerichte eingeschaltet werden, greifen sie in einen Verhandlungsprozess mit neuen Parametern ein, die teilweise – wie Coase beispielhaft belegt – zu Ineffizienzen führen, was den Ökonom verwundert: “The reasoning employed by the courts in determining legal rights will often seem strange to an economist because many of the factors on which the decision turns are, to an economist, irrelevant.”121 116

Vgl. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2005, S. 490. So dezidiert Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2005, S. 490. Erhellend ist auch, dass in Übersichten zum „Regulatory Impact Assessment“, also zur Messung der Auswirkungen von Regulierung, Gerichte keine Erwähnung finden, vgl. OECD, Regulatory Impact Analysis, 2009; Kirkpatrick/Parker, Regulatory Impact Assessment, 2007. 118 Coase, Journal of Law and Economics 3 (1960), 1 ff. 119 Vgl. Coase, Journal of Law and Economics 3 (1960), 1, 2. 120 Schubert, Fairness in Urban Land Use, 2006, kritisiert den Ansatz von Coase aus Sicht eines evolutionärökonomischen Ansatzes. Er rügt dabei insbesondere, dass die rein effizienzökonomische Betrachtung der Nachbarschaftsfälle rechtliche Dynamik nicht abbilden kann und keine Fairness-Überlegungen integriert, obwohl gerade dies für die Erwartungen der Parteien besonders wichtig ist. Gerichtliche Interventionen scheitern zudem, wie Schubert schreibt, am Nicht-Wissen und an der beschränkten Rationalität der Akteure. 121 Coase, Journal of Law and Economics 3 (1960), 1, 15. 117

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Der klassisch-normativen Herangehensweise an Konfliktsituationen fügte Coase die Transaktionskostenökonomie hinzu. Die von ihm vorgeschlagenen Verhandlungslösungen bringen Transaktionskosten mit sich, die bei der Berechnung von Effizienzen nicht außer Betracht bleiben dürfen.122 In diesem Kontext haben auch Gerichte eine besondere Bedeutung, da sie meist eingeschaltet werden, wenn die Transaktionskosten für eine Verhandlungslösung zu hoch sind und also ein solcher Konflikt entsteht, der von einem unparteiischen Dritten gelöst werden muss. Coase schreibt zu den Fällen, in denen Transaktionskosten im Markt zu hoch erscheinen: “In such cases, the courts directly influence economic activity. It would therefore seem desirable that the courts should understand the economic consequences of their decisions and should, insofar as this is possible without creating too much uncertainty about the legal position itself, take these consequences into account when making their decisions.”123

Deutlicher lässt sich nicht formulieren, dass Gerichte eine bedeutende Rolle für die Wirtschaftsordnung haben, der sie Rechnung tragen müssen. Doch trotz dieser eindeutigen Worte ist es – zumindest in Deutschland – nicht zu einer standardisierten Rezeption der ökonomischen Analyse des Rechts gekommen. Einer der ersten, die in Deutschland die Verhaltenssteuerung durch Wirtschaftsrecht thematisiert haben, war Ernst Steindorff, der konsequent eine politische – und damit im Wirtschaftsrecht ökonomische – Betrachtung von Rechtsfällen verlangte.124 Er postulierte einen Vorrang der ökonomischen Ordnungsvorstellungen des Gesetzgebers bei der Auslegung des Gesetzes. Bislang allerdings findet eine ökonomische Analyse des Rechts in Gerichtsverfahren meist implizit statt125 (häufig in Form der Darstellung der beteiligten Interessen), sie ist aber noch keine allgemein akzeptierte Auslegungsmethode geworden. Hier lohnt es sich zu vergegenwärtigen, was die klassische ökonomische Analyse eigentlich leistet: sie analysiert rechtliche Regelungen (in Form von Gesetzen oder auch Urteilen) im Hinblick auf ihre ökonomischen Auswirkungen für die betroffenen Parteien und teilweise auch für die Volkswirtschaft. Maßstab ist dabei Effizienz, Ausgangspunkt die Rationalität aller Beteiligten. Üblicherweise werden die Regelungen isoliert und tendenziell statisch betrachtet. Schäfer/Ott beschreiben in ihrem bahnbrechenden Lehrbuch die Aufgabenstellung der ökonomischen Analyse des Rechts so: 122

Vgl. Coase, Journal of Law and Economics 3 (1960), 1, 15 ff. Coase, Journal of Law and Economics 3 (1960), 1, 19. 124 Zum Beispiel Steindorff in: FS Larenz, 1973, S. 217, 235. Die Rolle Steindorffs würdigen etwa Fikentscher, Wirtschaftsrecht I, 1983, S. 24 f.; Wagner, AcP 206 (2006), 352, 430 f.; Fleischer/Zimmer in: Fleischer/Zimmer, Effizienz als Regelungsziel, 2008, S. 9, 23 f. 125 Dies attestiert Coase der (insoweit allerdings erheblich offeneren) common-law-Rechtsprechung schon 1960, vgl. Coase, Journal of Law and Economics 3 (1960), 1, 19 f., 22. 123

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„Gefragt wird von diesem Ansatz her (1) nach dem Zustandekommen einer bestehenden Rechtsstruktur, nach Art und Verteilung von rechtlichen Handlungsbefugnissen, (2) nach den Auswirkungen, die die Rechtsstruktur auf das Ziel der Allokationseffizienz hat, (3) nach den tatsächlichen Voraussetzungen der Herausbildung einer effizienten Rechtsstruktur, (4) wie die Rechtsstruktur im Hinblick auf das Ziel der Allokationseffizienz beschaffen sein sollte.“126

Sie fahren fort mit dem Hinweis, die Aspekte 2 und 4 stünden im Vordergrund. Schwerpunkte der ökonomischen Analyse des Rechts sind damit die Analyse isolierter Zustandsveränderungen und die normative Ausrichtung rechtlicher Regelungen auf das Effizienzkriterium. Diese eindeutige Positionierung bestimmt das wissenschaftliche Vorgehen, auch wenn Gründervater Coase selbst eine erheblich weitergehende Ausrichtung der Wohlfahrtstheorie anmahnte127. Eine breiter angelegte ökonomische Wirkungsforschung profitiert enorm von den Leistungen der Pioniere ökonomischer Rechtsforschung in Deutschland, kann aber über deren Ansatz hinausgehen. Der Anspruch der ökonomischen Analyse kann weiter und enger zugleich formuliert werden. Weitergehend wäre zu fordern, die Komplexität des Geschehens abzubilden. Eine Fragestellung könnte dann lauten: Welchen Einfluss hat die Rechtsprechung auf die Entwicklung des Telekommunikationssektors? Eine umfassende ökonomische Analyse würde dabei über Effizienzwirkungen hinausgehen. Enger gefasst wäre die ökonomische Analyse aber auch auf das Positive zu beschränken, das heißt auf eine Abbildung der Entwicklungen. Des normativen Programms der ökonomischen Analyse (Punkt 4 der Liste von Schäfer/Ott) bedarf es nicht. Die fundamentale Erkenntnis, die der ökonomischen Analyse zugrunde liegt, ist, dass Urteile überhaupt erheblichen Impact haben können, der sich zudem komplexer zusammensetzt, als es sich aus einer puren Betrachtung der unmittelbaren Kosten-/Nutzenrechnung der Beteiligten ergeben würde. Das ist einerseits eine Selbstverständlichkeit, andererseits handelt es sich um eine ignorierte Selbstverständlichkeit, da für gewöhnlich weder in den Urteilen selbst noch in Darstellungen der Wirtschaftsordnung explizit auf die Auswirkungen gerichtlicher Regelungen für die Wirtschaftsordnung eingegangen wird. Noch immer selten ist eine Überschrift wie die über einer Urteilsanmer-

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Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 2005, S. 10. Vgl. Coase, Journal of Law and Economics 3 (1960), 1, 43 (“As Frank H. Knight has so often emphasized, problems of welfare economics must ultimately dissolve into a study of aesthetics and morals.“). 127

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kung zum Bankenrecht: „Wie ein Gerichtsurteil eine Institution gefährdet“.128 In der Anmerkung kommt der Autor zu dem anreiztheoretisch begründeten Schluss, dass durch ein Urteil des LG Berlin zu den Ansprüchen im Rahmen der freiwilligen Einlagensicherung des Bundesverbands deutscher Banken die Institution der freiwilligen Einlagensicherung gefährdet wird. Hier wird die regulatorische Wirkung einer Gerichtsentscheidung vorgeführt, dies bleibt aber – zumindest in dieser Ausdrücklichkeit – die Ausnahme. Während es also einerseits anekdotische Evidenz für einschneidende Urteilswirkungen gibt, gilt andererseits das Prinzip der Regulierungsbegrenzung durch Einzelfallentscheidung129: Da die unmittelbaren Wirkungen des Urteils auf die Parteien beschränkt sind, ist formal keine Strukturveränderung mit einem Urteil verbunden. Die regulatorische Bedeutung ist im Vergleich zu Gesetzen oder hoheitlich-behördlichen Verfügungen geringer. Solche Interventionen können eine ganze Branche oder eine Vielzahl von Unternehmen treffen. Sie sind zwar an Kompetenzen (Gesetzgeber) und Befugnisse (Exekutive), nicht aber an die Anträge der Parteien gebunden. Gerade nach der Wende zum Privatrecht geht aber die faktische Wirkung eines einzelnen Urteils häufig über die Entscheidung im Einzelfall hinaus, nicht zuletzt mangels konkurrierender hoheitlicher Regelungsansprüche. Dadurch werden Urteile eher zu Institutionen und Strukturen. Bislang wird die Dualität der Urteilswirkungen (einerseits Einzelfallbegrenzung, andererseits Branchenwirkung) nicht differenziert, sie wirkt auch bestenfalls informell oder zufällig auf die Art der Urteilsformulierung zurück. Der erste Schritt ist jedenfalls die Wahrnehmung, dass Zivilgerichte Akteure in der Wirtschaftsordnung sind, deren Tätigkeit also auch als Umwelteinfluss in Form einer Institution auf die Entscheidungen der unmittelbar am Markt tätigen Akteure einwirkt.

II. Rechtsprechung als Wissensproblem Die Rechtsprechung eignet sich für eine evolutionäre Analyse, da ihre Tätigkeit eng mit Wissensproblemen verknüpft ist. Rechtsprechung geht von Unwissenheit aus und findet unter Bedingungen der Ungewissheit und der eingeschränkten Rationalität der Richter statt.130 Das zivilrichterliche Urteil setzt mindestens die Kombination von zwei Wissenselementen voraus: Erstens ist der Sachverhalt aufzuklären, also eine Verständigung mit den Parteien darüber zu erzielen, welche Tatsachen die Basis des Urteils bilden sollen. Zweitens ist das Recht auf diesen Sachverhalt anzuwenden. Recht kann gleichfalls als Wissen interpretiert werden. 128 129 130

Klöhn, ZIP 2011, 109. Dazu ausführlich unten, Kapitel 3, A.III.3. Vgl. Vermeule, Judging under Uncertainty, 2006, S. 154 ff.

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Bei der Sachverhaltsermittlung ist das Gericht im Zivilprozess weitgehend an die Vorträge der Parteien gebunden. Diese bilden die wesentliche Entscheidungsgrundlage, allerdings muss der Richter den Prozess der Informationsgewinnung und der Informationsweitergabe an die jeweils andere Partei organisieren (§§ 272, 273 ZPO). Jedes einzelne gerichtliche Verfahren verläuft dabei in mehreren Stufen der Wissensgenerierung: von der Klageerhebung (§ 253 ZPO) über Klageerwiderung (§§ 275, 276, 277 ZPO), Replik (§ 277 Abs. 4 ZPO) und gegebenenfalls Duplik und weitere schriftliche Äußerungen sowie mündlichen Einlassungen bei frühem ersten Termin (§ 275 ZPO), Güteverhandlung (§ 278 Abs. 2 ZPO) oder mündlicher Verhandlung (§ 279 ZPO). Prinzipien des gerichtlichen Wegs der Wissensaneignung sind, wie aus den zitierten Vorschriften hervorgeht, einerseits das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, abgesichert durch § 321a ZPO), andererseits das Beschleunigungsgebot (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK), das sich vor allem in den Präklusionsvorschriften niederschlägt. Der Gesetzgeber hat also einen Pfad angelegt, wie Wissen im Verfahren zu akquirieren ist. Dabei ist die Vorstellung, dass im Zuge des Verfahrens immer mehr Wissenselemente zusammengefügt werden, sodass sich der Wissensstand des Gerichts (und der Parteien) stetig fortentwickelt. Eine Grenze zieht der Gesetzgeber den Gerichten durch die Forderung, dass bei Entscheidungsreife entschieden werden muss (z.B. § 300 Abs. 1 ZPO). Entscheidungsreife ist demnach das Kriterium, die Suche nach weiteren Informationen einzustellen und die bis dahin gesammelten Fakten ausreichen zu lassen, auch wenn sie nicht die vollständige Komplexität der Vorgänge abbilden können.131 Entscheidungsreife ist das Maß an Unwissenheit, das der Gesetzgeber akzeptiert, um die Konfliktschlichtung nicht durch Zeitdauer oder einen Überfluss an Information scheitern zu lassen. Der Dynamik der Sachverhaltsermittlung, die sich in offiziellen Stationen darstellen lässt, steht die Dynamik der rechtlichen Einschätzung zur Seite, die allerdings im Laufe des Prozesses kaum formal erkennbar ist. Die Rechtsanwendung setzt Informationen über die gesetzlichen Vorgaben und deren Auslegung voraus, lässt sich also als ein Suchprozess nach Informationen konstruieren. Der Richter nähert sich im Laufe des Gerichtsverfahrens immer weiter der Rechtskenntnis für den konkreten Fall an. Die gesetzlichen Vorgaben sind Institutionen im Sinne der Institutionenökonomik, also Spielregeln, die Geltung erlangt haben, die aber letztlich nur Strukturen sind, die aus einzelnen Wissenselementen gefügt sind. Martina Eckardt definiert rechtliche Regeln institutionenökonomisch als „sozio-technologische Hilfsmittel, die Menschen helfen, Koordinationsprobleme zu lösen sowie zwischenmenschliche Konflikte, die aufgrund von knappen Ressourcen entstehen.“132 131 Vgl. Thole in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 2011, § 300 Rn. 1 f.; Leipold in: Stein/Jonas, ZPO, 2008, § 300 Rn. 6 f. 132 Eckardt, Evolutionary Approaches to Legal Change, 2004, S. 1.

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Ausnahmsweise lässt die ZPO durchscheinen, dass auch die Rechtsfindung für das Gericht evolutiv verläuft. Dies zeigt sich am richterlichen Hinweis an die Parteien (§ 139 ZPO), an der Erörterung der Rechtslage in der mündlichen Verhandlung (§ 137 Abs. 2, 2. Hs. ZPO), an Zwischenurteilen (§§ 303, 304 ZPO) oder an der Beratung des Richtergremiums (§§ 192 ff. GVG). Im Übrigen aber verweist der Gesetzgeber die rechtliche Erkenntnis in die alleinige Sphäre des Gerichts. Dem mag die Vorstellung zugrunde liegen, dass rechtliche Erkenntnisse nicht im Verlauf des Verfahrens reifen, sondern zu jedem beliebigen Punkt als feststehendes Wissen abgerufen werden können. Diese Vorstellung freilich muss jedem Praktiker realitätsfern anmuten: auch Richter sind Beschränkungen ausgesetzt, die ein absolut richtiges Urteil (so es dieses überhaupt gäbe), unerreichbar machen. Dass gerichtliche Entscheidungen nur Annäherungsversuche ans Recht sind, wird bereits durch abweichende Gerichtsurteile bei derselben Sachverhaltskonstellation belegt. Aus evolutionärer Sicht ändern sich auch Institutionen, soweit sich Elemente ändern, die ihnen zugrunde liegen. Bei Gesetzen mag auf den ersten Blick eine Änderung nur im Sinne einer Gesetzesänderung erkannt werden. Tatsächlich aber verändert sich die Lesart von Gesetzen, ihre Auslegung, ständig. Insbesondere Generalklauseln oder offene Rechtsbegriffe ändern sich in ihrer Bedeutung, da sich auch die Umstände ändern, unter denen sie ausgelegt werden. Das im Wirtschaftsrecht deutlichste Beispiel für eine solche Dynamik des Rechts dürfte in der großen Generalklausel des Lauterkeitsrechts zu finden sein, dem früheren § 1 UWG a.F. (Verstoß gegen die guten Sitten) und derzeitigem § 3 Abs. 1 UWG (Unlauterkeit). Welche geschäftlichen Handlungen als unlauter zu werten sind (soweit der Gesetzgeber diese Wertung nicht selbst getroffen hat, insbesondere im Anhang zu § 3 UWG), ist eine Rechtsfrage, deren Beantwortung einem steten Wandel unterworfen ist. Damit wird der Blick auf die dritte wissensinduzierte Dynamik der Rechtsprechung nach Sachverhaltsermittlung und Rechtsfindung gelenkt: die Dynamik des Rechts, soweit diese durch Urteile ausgelöst wird. Jedes Urteil ist ein neues Element, das die Erwartungen der Marktteilnehmer prägt und diesen Spielregeln vorgibt. Für sich genommen oder in der Zusammensetzung mit weiteren Elementen kann sich dieses Element zu einer Struktur verfestigen und dadurch auf Transaktionen einwirken.133 Dieses in Urteilen verkörperte Wissen erschöpft sich aber nicht in der Wirkung auf die Akteure, sondern konkretisiert auch die Gesetze, dient also der Entwicklung des Rechts. Während die gesetzlichen Vorgaben relativ stabil sind, unterliegt ihre Auslegung einer ständigen Dynamik, die wesentlich geprägt wird von der Rechtsprechung, insbesondere der obergerichtlichen. Die Weiterentwicklung der Rechtslage durch Urteile ist ein dynamischer Prozess, der zur Neustrukturierung von Wissen führt. Jedes Urteil reichert die vorhandene rechtliche Regelung (also 133

Vgl. Herrmann-Pillath, Evolutionsökonomik, 2002, S. 300 f.

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die Institution) mit einer neuen Information an, nämlich mit mindestens derjenigen, dass diese rechtliche Regelung in einem bestimmten Sachverhalt in der gegebenen Interpretation Anwendung findet oder nicht. Diese Informationen können die Struktur stabilisieren (wenn sich die Information konsistent in das bisherige Wissen einfügen lässt), aber auch destabilisieren oder fortentwickeln (wenn sich Ergänzungen oder Abweichungen zum bisherigen Wissen ergeben). Die Auswirkungen auf den Wissensstand können sehr gering sein, etwa wenn ein Amtsgericht einen typischen Fall im Einklang mit der herrschenden Meinung entscheidet, sie können aber auch sehr groß sein, etwa wenn der BGH entscheidet, die bisher vertretene Auslegung aufzugeben oder gar eine Auslegung contra legem vorzunehmen. Hypothetisch lässt sich formulieren, dass Untergerichte regelmäßig bemüht sind, das vorhandene Wissen zu stabilisieren. Für die obersten Gerichte, etwa den BGH, so lässt sich hypothetisch formulieren, geht es für gewöhnlich um eine inkrementelle Evolution des vorhandenen Wissens. Da die bei ihm zu entscheidenden Rechtsfragen gemäß § 543 Abs. 2 ZPO von grundsätzlicher Bedeutung sein müssen oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung zum Gegenstand haben müssen, ist das evolutive Element in der revisionsinstanzlichen Rechtsprechung angelegt. Hier kann es gelegentlich auch zu disruptiven Entwicklungssprüngen kommen – ebenso wie bei der Einführung eines neuen Standards für die Mobilfunktechnologie. Ein genaueres Bild ergibt sich allerdings erst bei einer evolutiven Betrachtung über einen bestimmten Zeitraum hinweg. In jedem Fall ist die Justiz dauernd mit Wissensproblemen befasst, die üblicherweise eine Dynamik in sich tragen. Das prädestiniert die Urteilsanalyse für einen evolutionären Ansatz. Mit diesem Wissensproblem der Rechtsprechung hat sich allen voran Hayek befasst, der das Motiv des Wissens in der Wirtschaftsordnung als großes Thema des 20. Jahrhunderts etabliert hat.134 Aufgrund des Unwissens und der Unsicherheit sind nach Hayek Entdeckungsverfahren in Form von Trialand-Error-Prozessen nötig, um Hypothesen zu testen.135 Diese parallele Überprüfung von Hypothesen reichert das Wissen an, führt zu Entdeckungen und Innovationen, zu Wandel und zum Entstehen „spontaner Ordnungen“. Dies gilt nicht nur in der Wirtschaft. Hayek hat explizit auch von „kultureller Evolution“136 gesprochen und das Recht als eine „spontane Ordnung“ klassifiziert, das auf einem Suchprozess der Rechtsprechung beruhe.137 Ist einmal die Erkenntnis gewonnen, dass Rechtsfragen Wissensprobleme sind und dass 134 Etwa in Hayek, American Economic Review, Vol. 35 No. 4 (Sep. 1945), 519 ff.; Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, 2003, S. 122 f. 135 Vgl. Hayek, Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, 1968, S. 4. 136 Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, 2003, S. 462. 137 Vgl. Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, 2003, S. 105; Eckardt, Technischer Wandel und Rechtsevolution, 2001, S. 97 ff.; Okruch, ORDO 52 (2001), 131, 134.

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Wissensprobleme nur in einem offenen Suchprozess annäherungsweise bearbeitet werden können, liegt ein evolutionäres Vorgehen auch in der Rechtslehre auf der Hand. Den überragenden Beitrag Hayeks für die Fundierung einer evolutionären Rechtstheorie würdigt Eckardt, die seine Vorstellung von richterlichen Selektionsvorgängen kritisiert, wie folgt: „Der von Hayek vertretene evolutorische Ansatz (…) liefert damit vor allen in seiner Betonung des generell unvollständigen Wissens, des Auftretens von nicht-antizipierbaren Neuerungen und der Bedeutung von Wettbewerbs- und Lernprozessen für den Wissenserwerb und für die Wissensweitergabe wichtige Einsichten über die Funktionsweise einer Rechtsordnung.“138

In diesem Zitat sind die Bausteine einer evolutionären Rechtstheorie, die an Hayek anknüpft, genannt: die Problematik des Nicht-Wissens, die sich ändernden Umwelteinflüsse, die Notwendigkeit von Selektionsmechanismen (hier: Wettbewerb) und die Bedeutung der Wissensmehrung und -verteilung (Lernen). Die Wirtschaftsordnung verliert bei einer solchen Betrachtung ihren monolithischen Charakter. Es wird wichtig, nicht nur ihre substantiellen Aussagen zu kennen, sondern auch die Selektionsmechanismen zu durchschauen und die Einflüsse zu identifizieren, die bei der Selektion von Hypothesen und Ergebnissen einwirken. Hier schließt sich der Kreis zur Zivilprozessordnung. Die ZPO ist ein wesentlicher Parameter für die Wissensfindung im Zivilverfahren: Das Zivilverfahrensrecht gibt nach dem hier dargestellten Verständnis der Rechtsordnung den Pfad vor, aufgrund dessen die Institutionen gebildet werden, die dann Strukturen und Ordnung ergeben. Beim Verfahrensrecht kann man freilich nicht stehen bleiben. Hayek wies darüber hinaus insbesondere auf die Ausbildung und Sozialisation der Richter hin.139 Eine bemerkenswerte Verschiebung von Hayeks Position zur heutigen Sicht liegt darin, dass Hayek die Wissensprobleme der Rechtsprechung vor allem aus unbeabsichtigten Lücken in der Gesetzgebung konstruierte.140 Die spontane Ordnung der Rechtsprechung war quasi als Unfall imperfekter Gesetzgebung entstanden. Heute aber, nach der Wende zum Privatrecht, hat der Gesetzgeber sein Paradigma geändert: Die Legislative legt die Regelung der Lebensverhältnisse in die Hände der Individuen. Rechtsprechung ist nicht mehr nur dazu berufen, Lücken zu schließen, sondern leistet in Form der Wissensgewinnung ganz wesentliche Beiträge zur Wirtschaftsordnung.

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Eckardt, Technischer Wandel und Rechtsevolution, 2001, S. 105. Vgl. Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, 2003, S. 67. Schünemann mahnt als Forschungsdesiderat eine „richterbezogene Attitüdenforschung“ an, vgl. Schünemann in: FS Mehle, 2009, S. 613. 140 Vgl. Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, 2003, S. 94 ff. 139

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III. Rechtsprechung als regelgebundenes Verfahren Wenn die richterliche Tätigkeit einen Suchprozess darstellt, in dem sich die Gerichte dem Sachverhalt annähern, rechtliche Bewertungen ausprobieren und die Wirtschaftsordnung mitgestalten, stellt sich die Frage nach den Selektionsparametern. Viele Stationen des richterlichen Suchprozesses sind Kreuzungen, an denen Entscheidungen für oder gegen ein bestimmtes weiteres Vorgehen zu treffen sind. Dieses Vorgehen stellt einen Auswahlprozess dar, in dem nach den Regeln von Variation und Selektion entschieden wird. Die Ergebnisse sind unter anderem abhängig vom eingeschlagenen Pfad, von Häufigkeit und von anderen Entscheidungsmustern der Entscheidungstheorie. Auch vor dem Hintergrund dieses Bildes von Rechtsprechung lohnt eine evolutionäre Analyse. In jedem einzelnen Verfahren verläuft von Klageerhebung bis zum Urteil ein Entscheidungspfad, der von der ZPO strukturiert wird und auf dem sich für das Gericht jeweils unterschiedliche Varianten der rechtlichen Würdigung bieten, von denen eine ausgewählt werden muss. Diese Auswahl prägt dann die Folgerungen. Sie verläuft nach einem Selektionsschema, bei dem zu überprüfen ist, ob die für Entscheidungen in Transaktionen identifizierten Parameter ähnlich sind. Einige Entscheidungsparameter der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie wurden bereits dargestellt, etwa die Einfügung in ein widerspruchsfreies Erwartungsbild, die Entscheidung nach Opportunitätskosten, die Bevorzugung bekannter Muster einschließlich der Aspekte der Häufigkeitsabhängigkeit sowie die Berücksichtigung von Rückkopplungseffekten. Übertragen auf Rechtsentscheidungen lassen sich diese Auswahlparameter wie folgt konkretisieren: Gerichte bemühen sich, die Einheit der Rechtsordnung, so wie sie diese wahrnehmen, zu wahren. Sie versuchen daher, ihre Entscheidung so zu treffen, dass sie sich konsistent in die Rechtsordnung einfügen lässt, also nicht in Widerspruch zu anerkannten Institutionen und Strukturen steht. Dazu ist in erster Linie die Konformität mit Gesetzen zu suchen. Entscheidungen werden von Opportunitätskosten abhängig gemacht, die Interessen der Parteien werden unter Berücksichtigung der Folgekosten einer Entscheidung abgewogen. Bekannte Entscheidungsmuster (zum Beispiel gemäß der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Parallelfällen) werden gegenüber disruptiven Sprüngen bevorzugt. Die Häufigkeitsabhängigkeit, die in der Rechtsprechung die Erhebung von Klagen zu denselben Sachverhalten bedeutet, entwickelt eine besondere Sogkraft: Häufige Entscheidungen zu einer Problematik ermöglichen Ausdifferenzierungen und die Entstehung größerer Rechtssicherheit.141 Rückkopplungseffekte zur Wirtschaftsordnung werden beachtet, insbesondere in Fällen, in denen dies – wie beim BGH – automatisch der Fall ist, wenn eine eindeutige Lösung nicht vorhanden ist. Bei all diesen 141

Vgl. Eckardt, Technischer Wandel und Rechtsevolution, 2001, S. 142 f.

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Entscheidungsaspekten ist jedoch zu berücksichtigen, dass Gerichte aufgrund von Einschränkungen nicht in der Lage sein werden, optimale Entscheidungen auf profunder Wissensbasis zu treffen.142 Die Pfadabhängigkeit betrifft aber nicht nur das einzelne Urteil, sondern vor allem die Urteilskette, die Entwicklung bis hin zu einer „herrschenden Meinung“. Diese stellt für eine gewisse Zeit eine Struktur dar, an der sich die Erwartungen der Rechtsunterworfenen orientieren können. In der Rechtswissenschaft dominieren üblicherweise statische Betrachtungen, die das Recht zu einem bestimmten Zeitpunkt fassen, oder normativ geprägte Aussagen, die eine bestimmte rechtliche Haltung für zutreffend erklären. Diese Art, die Rechtsprechung zu betrachten, ist legitim. Aus rechtswissenschaftlicher Perspektive können solche Momentaufnahmen jedoch nicht überzeugen, wenn sie verabsolutiert werden. Denn Rechtsprechung entwickelt sich in einem dynamischen Prozess stetig weiter. Im Folgenden wird genau diese Perspektive eingenommen, indem Rechtsprechung in ihrem Verlauf betrachtet wird. Die Justiz ist dann Akteur eines dynamischen Suchprozesses, in dem jede einzelne Entscheidung nur ein Baustein in einer sich laufend entwickelnden Kette ist, die historische Ursprünge hat und aus dieser Historie heraus geprägt wurde. Genau wie in dem von Schumpeter bahnbrechend formulierten Blick auf die Wirtschaft als eines von ständigen kreativen Destruktionen und Innovationen getriebenen Phänomens143 wird auch die Entwicklung von Rechtsauffassungen über einen längeren Zeitraum betrachtet, in dem verschiedene Einflüsse auf das Recht wirken. Zu prüfen ist in einer solchen Analyse, welche Parameter das „Entdeckungsverfahren Rechtsprechung“ bestimmen.144 So lässt sich prüfen, zu welchen Zeitpunkten und wie Innovationen in die Rechtsprechung integriert werden, ob die Entwicklung inkrementell oder disruptiv verläuft, und wie die Strukturen und Ordnungen durch die Rechtsprechung neu konfiguriert werden. Besonders gut überprüfbar wird dies, da Rechtsprechung selbst einem relativ strikten Verfahrensgang (dem der Institution ZPO) unterliegt. Das Entdeckungsverfahren ist regelgebunden und macht dadurch Urteile besser vergleichbar. Bevor im nächsten Kapitel konkrete Möglichkeiten einer solchen evolutionären Rechtsprechungsanalyse dargelegt werden, ist daran zu erinnern, dass dieser Ansatz zwei gravierende Konsequenzen für das Selbstverständnis des Rechtswissenschaftlers hat:

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Vgl. Vermeule, Judging under Uncertainty, 2006, S. 155 ff. Vermeule zieht daraus den Schluss, dass sich Gerichte eng an gesetzgeberische Materialien halten sollten, um die Vorhersehbarkeit von Rechtsprechung zu erhöhen, siehe dort Kapitel 7. 143 Vgl. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 2005, S. 134 ff.; Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 1926, S. 88 ff. 144 Ebenso der Ansatz von Eckardt, Technischer Wandel und Rechtsevolution, 2001, S. 132 ff., sowie für die Gesetzgebung S. 150 ff.

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Kapitel 2: Methodik der evolutionären Rechtsprechungsanalyse

Erstens rückt so in den Vordergrund, dass es sich bei Recht gerade nicht um ein feststehendes Gebilde handelt, sondern um ein dauernd in Veränderung begriffenes Konstrukt. Der Begriff der Entwicklung ist hier wertfrei zu verstehen, also nicht als notwendige Entwicklung zum Besseren.145 Wie gesehen geht die Evolutionsökonomik nicht davon aus, dass sich Akteure rational verhalten oder ihr Verhalten effizient ist. Beschränkte Rationalität gilt auch für gerichtliche Akteure, und bestenfalls wird durch Urteile eine Viabilität der Strukturen erreicht. Die Vorstellung, dass es eine Art „ewiges Recht“ gibt, etwa in Form eines überpositiven Wertesystems, oder eine einzige „richtige Entscheidung“, um deren Abbildung sich die Rechtsprechung bemüht, ist damit nicht zu vereinbaren. Das einzelne Urteil ist im Rahmen des andauernden Entwicklungsprozesses nur eine zeitgebundene Zwischenstation, die im besten Fall die Entwicklung fördert, indem etwa neue Perspektiven aufgebracht werden, also neue Informationen integriert werden. Ansonsten bleibt Rechtsprechung ein Entdeckungsverfahren und ein Trial-and-Error-Prozess der Konfliktschlichtung. Für die rechtswissenschaftliche Forschung gilt das natürlich ebenfalls. Eine solche Vorstellung relativiert die Tätigkeit des Juristen. Sie liegt augenscheinlich der richterlichen Rechtsfindung und der rechtswissenschaftlichen Forschung nur selten zugrunde. Zweitens macht eine evolutionäre Analyse von Recht Entstehungsbedingungen, Zyklen und Interdependenzen bei der Verfertigung von Recht sichtbar. Sowohl die beschränkte Rationalität der Akteure als auch die institutionellen Zwängen werden damit aufgedeckt. Was und wie Gerichte entscheiden, hängt eben auch von dem Wissen, den Strukturen, den Rückkopplungen ab, oder konkreter: von der Gerichtsorganisation, der Verfahrensstruktur, den sonstigen Einflüssen auf Richterpersonen, um nur einige wenige Aspekte zu benennen. Dass das Umfeld die Entscheidung prägt, klingt trivial, wird aber in der Rechtswissenschaft häufig vernachlässigt. Ein Beispiel aus der verhaltenswissenschaftlichen Rechtsforschung belegt dies: 2010 sorgte eine Studie für Aufsehen, die einen Nachweis zwischen Entstehungsbedingungen und Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels offen legte. Die Autoren hatten über 1000 israelische Verfahren analysiert, in denen zu entscheiden war, ob ein Häftling auf Bewährung entlassen wird. Dabei zeigten sich ein signifikantes Muster, demzufolge die Chancen eines Häftlings, auf Bewährung freizukommen, vom Verhandlungstermin abhingen. Am frühen Morgen und nach Pausen wurden rund 2/3 aller Häftlinge freigelassen, während die Chance im Tagesverlauf stark absank auf bis zu Null vor den Pausen oder vor Dienstschluss.146 Erklärt wurde das statistisch signifikante Phänomen mit dem Aufwand, den der jeweilige Pfad verlangte: die Begründung einer 145

Vgl. Van den Bergh/Kallis, Evolutionary Policy, 2009, S. 23. Danziger/Levav/Avnaim-Pesso, Extraneous factors in judicial decisions, PNAS Early Edition, 11.4.2011. 146

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Freilassung bedurfte etwa doppelt so viele Wörter wie die Begründung einer Ablehnung der Bewährung. Auch der Verhandlungs-Zeitaufwand für Ablehnungen war geringer. Größeren Aufwand scheuten die Richter aber offenbar, je näher Pause bzw. Feierabend rückten. Diese Studie und das mit ihr verbundene Aufsehen147 belegen, wie selten sich Juristen der Auswirkungen konkreter institutioneller Bedingungen auf die Rechtsprechung sind. Das ist nicht nur eine Mahnung für Richterinnen und Richter, sondern auch für Wissenschaftler, sich stets der Umwelteinflüsse auf Entscheidungen oder Ansichten zu vergewissern. Die Übersetzung dieser Einflüsse in Entscheidungen und die noch schwierigere Aufgabe, diese dann als legitim darzustellen, bleibt für Richter eine Daueraufgabe. Dieter Simon hat diese zusätzliche Komplizierung als das „beunruhigende Paradoxon“ bezeichnet, dass der Richter „erst jene Bindung herstellt, an die gebunden zu sein er anschließend erklärt“.148 Festzuhalten bleibt, dass Rechtsprechung als regelgebundenes Verfahren konstruiert werden kann, das eine automatische Dynamik hat und wie ein Trial-and-Error-Prozess abläuft, insbesondere bei Betrachtung mehrerer Urteile zu einem Komplex.

IV. Skizze einer evolutionären Rechtsprechungsanalyse Die bisherige methodische Untersuchung hat ergeben, dass die Evolutionsökonomik einen Forschungsansatz hervorgebracht hat, der auf dynamische, wissensbasierte Entscheidungsverfahren wie die Zivilrechtsprechung passt. Im Folgenden wird das Vorgehen bei einer evolutionären Rechtsprechungsanalyse konkretisiert. Dabei sind auch Probleme zu würdigen, die sich in methodischer Hinsicht stellen.

1. Methodisches Vorgehen Die evolutionäre Rechtsprechungsanalyse wird in dieser Studie verwendet, um die Entwicklung der Rechtsprechung in konkreten Konfliktkonstellationen darzustellen. a) Vergleich und Kontextualisierung Das Untersuchungsmaterial bieten die Entscheidungen des BGH und teilweise weiterer Gerichte in drei Konfliktkonstellationen innerhalb eines Zeitraums von etwa zehn Jahren. In dieser Darstellung sollen die Funktionsme147 In zahlreichen Medien wurde über die Studie berichtet, u.a. Economist, „I think it’s time we broke for lunch …“, 16.4.2011, S. 79; Spiegel.de, „Müde Richter entscheiden gegen Angeklagte“, 12.4.2011; beckaktuell, „Studie: Essenpausen beeinflussen Richtersprüche“, becklink 1012208. 148 Simon, Vom Rechtsstaat in den Richterstaat?, 2008, S. 6.

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chanismen der Zivilrechtsprechung herausgearbeitet werden. Die Grundannahme ist, dass Rechtsprechung ein Entdeckungsverfahren ist. Die Urteile werden dazu in chronologischer Reihenfolge in ihren wesentlichen Aspekten (Sachverhalt, Entscheidung, Begründung, Rezeption) dargestellt und miteinander verglichen. Daraus ergibt sich, welche Elemente die Justiz in den jeweiligen Konflikten im Laufe der Zeit „entdeckt“ hat. Das richterliche Vorgehen wird dabei jeweils kontextualisiert mit den vorangehenden und nachfolgenden Entscheidungen, um zu verdeutlichen, wie sich einzelne Elemente zu Strukturen verfestigen oder auflösen. Das Vorgehen impliziert die Bildung eines historischen Narrativs zu der jeweiligen Konfliktentscheidung. Dieses Vorgehen unterscheidet sich von den häufiger anzutreffenden Darstellungen der Rechtslage, die auf einen bestimmten zeitlichen Punkt verengt sind oder Rechtsprechung als lineare Entwicklung auffassen. Eine evolutionäre Analyse stellt den Anspruch, die Komplexität richterlichen Entscheidens deutlicher zu machen, auch wenn zu Zwecken der Verständlichkeit auch hier Komplexitätsreduktionen unvermeidlich sind. Methodisch weist die evolutionäre Rechtsprechungsanalyse eine gewisse Nähe zu Darstellungen der historischen Entwicklung einer bestimmten Rechtslage auf. In der hier vorgenommenen Darstellung wird allerdings besonderer Wert auf die Topoi Wissen, Selektion, Institution gelegt, die für einen evolutorischen Ansatz kennzeichnend sind, und die es ermöglichen, die Dynamik der Rechtsprechung und ihren Anteil an der Wirtschaftsordnung abzubilden. b) Zeitliche und inhaltliche Beschränkung Die Beschränkung auf einen Zeitraum von etwa zehn Jahren ist durch drei Aspekte gerechtfertigt. Erstens würde eine längere Betrachtung den Rahmen dieser Studie sprengen. Zweitens handelt es sich bei den Konflikten allein um post-deregulative Konflikte, also solche, die nach der Wende zum Privatrecht erst entstehen konnten oder aus dem Bereich des öffentlichen Rechts in die Domäne des Zivilrechts überführt wurde. Da die großen Liberalisierungsund Privatisierungsmaßnahmen in den 1990er Jahren stattgefunden haben, wird mit einem Zehn-Jahres-Zeitraum die prägende erste Phase von Konfliktentscheidungen dargestellt, die bis in die Gegenwart reicht. Dies schließt nicht aus, dass es in den entschiedenen Konstellationen künftig noch andere Entwicklungen geben kann. Ziel der Darstellung ist aber nicht die Darstellung der Rechtslage zu einem bestimmten Stichtag, sondern die Abbildung der komplexen richterlichen Entscheidungsvorgänge im privaten Wirtschaftsrecht. Drittens bietet ein Zehn-Jahres-Zeitraum einen sicheren Rahmen, um die letztinstanzliche Klärung eines Rechtsstreits zu erfassen. Die Beschränkung auf Entscheidungen bestimmter Gerichte ist wesentlich der Praktikabilität geschuldet: erstinstanzliche Urteile der Amts- und Landge-

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richte sind häufig nicht oder nur im Tenor veröffentlicht. In einigen der Konfliktkonstellationen würde eine Einbeziehung sämtlicher unterinstanzlicher Urteile zudem den Untersuchungsrahmen sprengen. Die Beschränkung ist aber auch inhaltlich zu rechtfertigen aufgrund der dominanten Position des BGH für die Zivilrechtsprechung. c) Doppeltes Proxy-Problem Die vergleichende Betrachtung von Urteilen in einer zeitlichen Verlaufsperspektive setzt voraus, dass vergleichbare Faktoren gefunden werden, die in allen Urteilen feststellbar sind und die dadurch in Zusammenhang miteinander gesetzt werden können. Die Urteile müssen also „kodiert“ werden.149 Hier stößt die Analyse an Grenzen: Es handelt sich bei Urteilen nicht um Daten, wie sie der Markt hervorbringt (z.B. Preis, Menge usw.), sondern um einzelfallspezifische Erwägungen in Worten. Diese sind schwieriger zu vergleichen als numerische Größen. Die rein statistisch erfassbaren Daten sind rar: zu denken etwa ist an den Streitwert, an die Verfahrensdauer, an die Kostenverteilung oder an die Anzahl der Parteien oder der Anträge. Genau diese Informationen sind jedoch häufig schlecht zugänglich. Aus vielen Urteilsveröffentlichungen gehen solche Daten oft nicht hervor. Methodisch tritt ein weiteres Problem hinzu: wie sind die Daten, so sie überhaupt vorhanden sind, zu deuten? Was lassen die Daten erkennen? Diese Schwierigkeiten werden hier als doppeltes Proxy-Problem bezeichnet. Als „proxy“, englisch: Stellvertreter, bezeichnet man in der statistischen Forschung die Größen, die stellvertretend als Variablen für eine bestimmte Aussage stehen können, die nicht direkt messbar ist, etwa weil sie sich einer Messung entzieht oder die Messung zu aufwändig wäre. So könnte man – beispielsweise – den Streitwert eines Verfahrens als Proxy für dessen volkswirtschaftliche Bedeutung nehmen. Das doppelte Proxy-Problem bei der evolutionären Analyse kennzeichnet die Problematik, dass es in der Rechtsprechung zum einen überhaupt wenig messbare Variablen (also Proxies) gibt, zum anderen die Zuordnung dieser Variablen zu bestimmten Aussagen sehr schwierig ist. Der Streitwert illustriert dies: Es handelt sich zum einen um eine der wenigen statistisch verwertbaren Angaben, die aber schlecht verfügbar sind, da in Urteilsveröffentlichungen oft nicht angegeben (Proxy-Problem 1). Zudem ist die Auswertung fraglich: Ein niedriger Streitwert kann durchaus hohe volkswirtschaftliche Bedeutung implizieren, wenn es sich bei der Entscheidung um einen Musterfall handelt, der für zahlreiche weitere Bagatellfälle von wegweisender Bedeutung sein wird (Proxy-Problem 2). 149 Vgl. die Kodierung zur Thematik „Ausnahmen vom Prinzip, dass Vermögensschäden deliktsrechtlich nicht ersetzt werden“ bei Niblett/Posner/Shleifer, Evolution of a Legal Rule, 2008, S. 10 ff.

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Diese Schwierigkeiten sollten jedoch nicht überschätzt werden, sie treten bei jeder derartigen Forschung auf und weisen den Betrachter in erster Linie darauf hin, dass die Interpretation der Daten mit Vorsicht anzugehen ist. Verfehlt wäre es jedenfalls, aufgrund der methodischen Schwierigkeiten vor einer evolutionären Analyse zu kapitulieren. Wie in den zwei ökonomischen Beispielen zur Telekommunikationsindustrie gesehen verlagert sich die evolutionsökonomische Analyse häufig auf einen beschreibenden Vortrag, der die Komplexität ohnehin besser darzustellen vermag, aber leider nicht die (scheinbare) Griffigkeit von Zahlenmaterial mit sich bringt. Es handelt sich insofern eher um einen qualitativen als quantitativen Ansatz, der den inhaltlichen Fragen des Rechts durchaus näher steht. Für justizorganisatorische und verfahrensrechtliche Fragen mag ein stärker empirisch basierter Vergleichsansatz ergiebig sein, für materiellrechtliche Fragen ist ein qualitativer Ansatz relevant.

2. Zentrale Fragestellung Der Fokus wird in der Darstellung auf das Thema gerichtet, das in evolutorischen Betrachtungen die wichtigste Rolle spielt, die Dynamik, die sich inhaltlich auf den Topos Wissen bezieht, die verfahrensmäßig umgesetzt wird durch Selektion und die zur Entstehung von Institutionen führt, die wiederum die Ordnung konstituieren. Zu prüfen ist, wie und warum sich das Wissen zu den Konfliktkonstellationen im Lauf der Zeit verändert. Die evolutionäre Analyse soll die Möglichkeit bieten, Muster und Einflüsse zu erkennen. Diese sind inhaltlicher Art, beziehen sich also auf die Frage, welcher Sachverhaltsvortrag für relevant gehalten wird, welche inhaltlichen Positionen bezogen werden und wie letztlich entschieden wird. Darüber hinaus soll das Verfahren als Entdeckungsverfahren erforscht werden: Dabei geht es um die institutionellen Grundbedingungen richterlichen Entscheidens, also etwa Prozessrecht, Justizorganisation oder Stellung der Parteien in ihrem Verhältnis zu den Entscheidungen. Wie gesehen besteht Rechtsprechung in den Stufen von Sachverhaltsermittlung, Rechtsfindung und Herausbildung einer Rechtsprechungslinie aus der Gewinnung neuer Informationen und der Erarbeitung neuer Institutionen (Rechtssätze), die aus Wissenselementen zusammengefügt sind. Wissen verändert sich ständig, unterliegt also einer von Innovationen und neuen Informationen getriebenen Dynamik. Diese Dynamik wird in einem regelgebundenen Verfahren (dem Zivilprozess) organisiert. Innerhalb dieses Verfahrens ist die Auswahl zu treffen, welche Informationen aufgenommen werden und wie diese in den vorhandenen Wissensbestand integriert werden. Dieses pfadabhängige Entscheiden der Gerichte kann mit dem Variations-SelektionsSchema verglichen werden. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei nicht auf der Binnen-Entwicklung im Verlauf eines Zivilverfahrens (diese Ent-

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wicklung ist aus dem Urteilsdokument kaum nachvollziehbar), sondern auf der Entwicklung im Verlauf mehrerer Zivilverfahren. Jedes Urteil stellt eine Manifestation des Wissensstands zu dem Zeitpunkt dar, sodass sich aus der Zusammenschau der Urteile die Dynamik einschließlich der „schöpferischen Zerstörung“ von Recht ablesen lässt.

3. Schwerpunkte der Untersuchung Die Untersuchung wird in evolutionärer Hinsicht drei Schwerpunkte verfolgen, nämlich Sachverhalt, Argument und Ergebnis. Alle drei Schwerpunkte sind wissensbasiert, Ziel des Urteils ist es, den Stand des Wissens zu dokumentieren und daraus Folgerungen abzuleiten, die mit den Strukturen (insbesondere dem Gesetz) konsistent sind. Die Parameter der Wissensorganisation werden den Richtern von der Rechtsordnung vorgegeben. Hierzu zählen die Anhörung der Parteien, die Ermittlung des Sachverhalts bis zur Entscheidungsreife, die Beschleunigung des Verfahrens und die nach Verfahren und materiellem Recht gesetzmäßige Entscheidung des Konflikts. Hierbei handelt es sich um Umweltbedingungen, die für die Entscheidung im Auswahlprozess zwischen Tatsachen, Argumenten und Bewertungen von Relevanz sind. Insbesondere die ZPO strukturiert den Entscheidungspfad und hat somit bereits wesentlichen Einfluss auf die Dynamik des Wissens in wirtschaftsordnenden Rechtsstreitigkeiten. a) Sachverhalt Die untersuchten Konfliktkonstellationen weisen allesamt eine sehr hohe Ähnlichkeit auf. Immer wieder geht es im Kern um denselben Konflikt, sodass zwar die Parteien und die Streitanlässe teilweise wechseln, sodass der Streitgegenstand nicht identisch ist. Immer wieder aber sind die gestellten Ansprüche und die Charakteristika der Parteien ähnlich. Die Sachverhaltselemente, die vom Gericht im Urteil berücksichtigt werden, müssten daher im Verlauf konstant bleiben. Geprüft wird, ob im Untersuchungszeitraum neue Sachverhaltselemente hinzukommen oder bisherige Sachverhaltselemente entfallen. Dabei kann analysiert werden, ob ein Grundsachverhalt im Laufe der Zeit nur um einzelne Elemente angereichert wird, oder ob es auch zu grundlegenden Verschiebungen von Elementen kommt. Die Prüfung, welche Elemente der Wirklichkeit die Gerichte für entscheidungsrelevant halten und welche sie daher in den Tatbestand aufnehmen, gibt Auskunft darüber, wie sich das Bild, das sich die Gerichte von den Transaktionen machen, wandelt. Da die Sachverhaltselemente von den Parteien des Rechtsstreits vorgetragen werden, lässt der Tatbestand auch erkennen, welche Wahrnehmung des Konflikts die Parteien haben. Der Tatbestand gibt also Auskunft über das Transaktions- und Wirtschaftsverständnis der Akteure.

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Eine sich ändernde Tatsachengrundlage müsste dabei auch mit einer sich ändernden Rechtsprechung einhergehen. Methodische Schwierigkeiten stellen sich bei diesem Prüfungspunkt in mehrerlei Hinsicht: Erstens ist in der Revisionsinstanz die Tatsachenbasis vorgegeben und nicht mehr Gegenstand der Überprüfung. Sie wird daher nur kursorisch aufgegriffen und dargestellt. Zweitens hat der Gesetzgeber die Darstellung des Tatbestands im Urteil aus Gründen der Gerichtsentlastung und Verfahrensbeschleunigung immer weiter zurückgedrängt. In der ursprünglichen Civilprozessordnung von 1877 heißt es noch: „Das Urtheil enthält: 1. die Bezeichnung der Parteien und ihrer gesetzlichen Vertreter nach Namen, Stand oder Gewerbe, Wohnort und Parteistellung; 2. die Bezeichnung des Gerichts und die Namen der Richter, welche bei der Entscheidung mitgewirkt haben; 3. eine gedrängte Darstellung des Sach- und Streitstandes auf Grundlage der mündlichen Vorträge der Parteien unter Hervorhebung der gestellten Anträge (Thatbestand); 4. die Entscheidungsgründe; 5. die von der Darstellung des Thatbestandes und der Entscheidungsgründe äußerlich zu sondernde Urtheilsformel. Bei der Darstellung des Thatbestandes ist eine Bezugnahme auf den Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze und auf die zum Sitzungsprotokoll erfolgten Feststellungen nicht ausgeschlossen.“ Heute bestimmt § 313 ZPO: „Das Urteil enthält: 1. die Bezeichnung der Parteien, ihrer gesetzlichen Vertreter und der Prozessbevollmächtigten; 2. die Bezeichnung des Gerichts und die Namen der Richter, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben; 3. den Tag, an dem die mündliche Verhandlung geschlossen worden ist; 4. die Urteilsformel; 5. den Tatbestand; 6. die Entscheidungsgründe. Im Tatbestand sollen die erhobenen Ansprüche und die dazu vorgebrachten Angriffsund Verteidigungsmittel unter Hervorhebung der gestellten Anträge nur ihrem wesentlichen Inhalt nach knapp dargestellt werden. Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes soll auf Schriftsätze, Protokolle und andere Unterlagen verwiesen werden. Die Entscheidungsgründe enthalten eine kurze Zusammenfassung der Erwägungen, auf denen die Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht.“

Von einer – wenn auch „gedrängten“ – Darstellung des Sach- und Streitstandes ist keine Rede mehr, der Tatbestand soll nur noch die Ansprüche, die Angriffs-

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und Verteidigungsmittel und die Anträge enthalten. Sah die Fassung von 1877 vor, dass der Bezug auf Schriftsätze und Protokolle nicht ausgeschlossen ist, also ausnahmsweise möglich ist, enthält die aktuelle Fassung eine Soll-Bestimmung, nach der auf diese Schriftsätze verwiesen werden soll. Zudem entfällt die Pflicht zum Abfassen eines Tatbestands in den Fällen der §§ 313a und 313b ZPO. Das macht eine Auswertung des Tatbestands schwieriger. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die Gerichte nur die Tatsachen in den Tatbestand aufnehmen werden, die sie für entscheidungserheblich halten. Dadurch entsteht eine Verzerrung: welche Tatsachen das Gericht weggelassen hat, ist im Nachhinein nicht überprüfbar. Hier handelt es sich um einen Musterfall, der analog zur Kritik der Evolutionsökonomik an der MainstreamÖkonomik gesehen werden kann: In die Konstruktion der Wirklichkeit werden von der Rechtsprechung ebenso wie von modellierenden Neoklassikern nur diejenigen Tatsachen einbezogen, die in das normative Konstrukt Urteil respektive das normativ zusammengefügte Modell passen. b) Argument Im Fortgang der richterlichen Tätigkeit wird nach der Ermittlung des Sachverhalts dieser unter die rechtlichen Merkmale der anwendbaren Normen subsumiert. Die Entscheidung, ob die Merkmale der Norm erfüllt sind oder nicht, erfolgt argumentativ. In der Untersuchung wird verfolgt, wie sich im Laufe der Zeit Argumentationen wandeln, welche Gesichtspunkte also für erheblich gehalten werden und wie die Rechtsprechung ihre Entscheidungen begründet. Der Stellenwert eines Arguments kann sich im Laufe der Jahre verschieben, das Argument selbst kann modifiziert werden. Inwiefern dies vorkommt, ist Gegenstand der Untersuchung. Insbesondere ist die Innovationskraft der richterlichen Prüfung zu würdigen, indem verfolgt wird, zu welchem Zeitpunkt und aufgrund welcher Einflüsse neue Argumente eingebracht werden. Die Auswahl der Argumente stellt jeweils eine Entscheidung dar, die den in der Evolutionsökonomik entwickelten Kriterien unterfallen kann. Ob es tatsächlich zu einer Ausfüllung der Normen im Sinne eines Variation-SelektionParadigmas kommt, ist zu prüfen. Demnach müssten die Richter die Auswahl zwischen unterschiedlichen Argumenten haben und das führende selektieren, also einen Begründungszweig auswählen. Aufschlussreich könnte sein, die prägenden Einflüsse für Innovationen und Begründungsänderungen zu entschlüsseln. Möglicherweise lässt sich bei genauer Nachverfolgung des Bedeutungswandels einzelner Argumente im Laufe von zehn Jahren erkennen, welche Einflüsse die Rechtsauffassung prägen. Dabei ist zu prüfen, welche Rückkopplungen von anderen Faktoren und Vorentscheidungen ausgehen, ob Argumente häufigkeitsabhängig sind, und wie in Urteilen versucht wird, eine konsistente Erklärung des Konflikt-Phänomens und seiner Lösung zu liefern. Von Rechtsökonomen wird hier mit dem Begriff des rechtlichen Paradigmas

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Kapitel 2: Methodik der evolutionären Rechtsprechungsanalyse

gearbeitet, das darüber Auskunft gibt, wie an eine rechtliche Streitfrage üblicherweise herangegangen wird.150 Die Hypothese ist, dass sich Gerichte an der bisher dominanten Vorgehensweise orientieren und zu rechtlichem Wandel nur in der Lage sind, wenn es einen starken Widerspruch zwischen der bisherigen Herangehensweise und anderen Prinzipien gibt. Diese Situation hat Hayek ebenfalls gesehen, und diagnostiziert, dass Richter einer bestimmten „Handelnsordnung“ folgen und sich einer „Situationslogik“ unterwerfen.151 Ihr Bemühen ist darauf gerichtet, eine möglichst konsistente Rechtsordnung zu etablieren, in der Widersprüche zwischen Strukturprinzipien reduziert werden. Dass das nicht immer gelingen kann und Erwartungen von Akteuren enttäuscht werden, versteht sich von selbst. Die Gerichte sind dadurch immer wieder vor die Aufgabe gestellt, aktuelle tatsächliche Entwicklungen mit hergebrachten rechtlichen Prinzipien in Einklang zu bringen. Sie stehen dabei nicht nur unter einem Modernisierungsdruck – also unter der Erwartung, eine zeitgemäße Rechtsprechung zu entwickeln –, sondern müssen zudem die Einheit der Rechtsordnung, die Stabilität rechtlicher Prinzipien und das Vertrauen auf Rechtssicherheit in Einklang mit neuen Entwicklungen halten. Dies erklärt, warum sich Gerichte scheuen, sich von voran gegangenen Entscheidungen deutlich abzusetzen. Hier wird wiederum der Blick auf die Pfadabhängigkeit solcher Entscheidungen gelenkt und auf die Rückkopplungen, das positive Feedback aus vergangenen Entscheidungen.152 Dieser dem Recht eingebaute Konservativismus, die Orientierung an früheren Entscheidungen, wird von Innovationsadvokaten als Problem wahrgenommen. Die Orientierung an erfolgreichen Konfliktlösungen der Vergangenheit aufgrund entsprechender Anreize durch vorgesetzte Instanzen oder die Ausbildung perpetuiert dominante Regelungen und erschwert Innovationen.153 Allerdings muss es nicht zwangsweise zu einem „lock-in“ kommen. Lernprozesse sind ebenso möglich wie Umwelteinflüsse, die in die andere Richtung drängen (etwa negative Konsequenzen einer Entscheidung in wirtschaftlicher Hinsicht). Genau um solche Mechanismen geht es in der Analyse, und damit um eine offene Schlüsselfrage der evolutionären Rechtstheorie: „The decisive question how the legal alternatives themselves are generated is not analysed and so novelty and change are assumed as exogenous.“154 Möglicherweise kann eine Analyse also einen Beitrag zu der Frage leisten, welche Einflüsse rechtliche Innovationen (in Form neuer Argumente und Institutionen) und damit rechtlichen Wandel und eine verbesserte „Anpassung“ des Rechts hervorbringen. 150 151 152 153 154

Vgl. Eckardt, Evolutionary Approaches to Legal Change, 2004, S. 13 f. Hayek, Recht, Gesetz und Freiheit, 2003, S. 118 f. Vgl. Eckardt, Evolutionary Approaches to Legal Change, 2004, S. 14. Vgl. Eckardt, Evolutionary Approaches to Legal Change, 2004, S. 14. Eckardt, Evolutionary Approaches to Legal Change, 2004, S. 1.

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Die Stützung der Analyse auf das geschriebene Urteil bringt einen Positivismus mit sich, der möglicherweise mehr über das Selbstverständnis der Richterschaft aussagt als über die wahren Motive ihrer Entscheidung. Richter konstruieren in ihren Urteilen das Recht so, dass es aus ihrer Wahrnehmung konsistent ist. Ob die dafür angeführten Begründungen ihrer tatsächlichen Überzeugung entsprechen, oder ob es sich nicht teilweise auch um vorgeschobene Begründungen handelt, kann nicht ermessen werden. Zur Illustration: Fällt ein Richter beispielsweise ein Urteil aus Mitleid zugunsten eines vom Schicksal gebeutelten Klägers, so wird er dieses Urteil nicht mit seinem Mitleid begründen, sondern versuchen, Argumente so zu fassen, dass das gewünschte Ergebnis erzielt wird. Dieses Problem lässt sich nicht lösen, ist aber insofern von untergeordneter Bedeutung als die Rezeption des Urteils sich am Urteilstext ausrichtet, nicht an dahinter stehenden „wahren“ Motiven. Für die Öffentlichkeit sind nur die Motive „wahr“, die nachlesbar sind, nur sie werden als Elemente in die Ordnung eingefügt. Was für die Sachverhaltsermittlung an Schwierigkeiten durch die Verknappung des Urteilsstils gesagt wurde, gilt entsprechend für die Entscheidungsgründe (vgl. § 313 Abs. 3 ZPO), in denen – falls überhaupt, vgl. §§ 313a und 313 b ZPO – nur noch knapp die Erwägungen dargelegt werden sollen. Dies erschwert es, die Pfade der Rechtsprechung nachzuverfolgen. c) Ergebnis Gerichte sind aufgerufen, eine Entscheidung des Konflikts herbeizuführen. Dritter Schwerpunkt der Untersuchung aus evolutionärer Sicht ist die Darstellung des Ergebnisses. Das Ergebnis, verkörpert in der Urteilsformel, ist ein neues Wissenselement, das als ein solches wiederum in den Prozess der Erwartungsstrukturierung der Akteure einfließt. Zu prüfen ist, wie sich die Entscheidung des Konflikts im Laufe der Zeit entwickelt. Die Entscheidung geht in vielen komplexen Streitigkeiten über eine schlichte Entscheidung zugunsten der einen oder anderen Partei hinaus. Sie kann etwa Bedingungen oder Einschränkungen haben oder mehrere Teilentscheidungen enthalten, die zusammen das Gesamtergebnis bilden. Anhand der Ergebnisentwicklung lässt sich nicht nur die Dynamik der Rechtsprechung selbst darstellen. Die Entscheidungen der Rechtsprechung verfestigen sich vielmehr auch zu Strukturen, die dann wiederum Bestandteil der Wirtschaftsordnung werden. So lässt sich zumindest in Ansätzen nachvollziehen, wie sich im Lauf der Zeit, geprägt in einem Variations-SelektionsSchema und umgeben von den Institutionen des Zivilprozessrechts, die privatrechtliche Ordnung des betroffenen Wirtschaftsbereichs bildet.

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V. „New Cases“ Das hier untersuchte Material besteht aus Urteilen in post-deregulativen Streitigkeiten. Diese Fälle, die vor der Deregulierung gar nicht erst entstehen konnten oder jedenfalls nicht zivilrechtlich gelöst wurden, weisen eine für die evolutionstheoretische Analyse methodische Besonderheit auf. Es handelt sich um neue Fälle, für die es noch keine gefestigte Rechtsprechungspraxis der Zivilgerichte gibt. In Anlehnung an das Konzept der (auch im Deutschen meist sogenannten) „hard cases“, der schwierigen Fälle, könnte man in diesen Konstellationen von „new cases“ sprechen.155 Diese Ausgangslage ist für die Untersuchung einer Rechtsprechungs-Dynamik hoch interessant. Der Begriff „hard cases“ ist in der rechtsphilosophischen Debatte von H.L.A. Hart und die Kritik daran von Ronald Dworkin geprägt worden.156 Als „hard cases“, schwierige Fälle oder Grenzfälle, werden von Positivisten wie Hart solche Streitigkeiten bezeichnet, in denen sich die richtige Lösung nicht von selbst aufdrängt, sondern mit Fug und Recht beide Ansichten vertretbar erscheinen. In solchen Fällen kommt es nach Hart auf das Ermessen des Richters an, dem es obliegt, den Fall zu entscheiden, auch wenn er kaum entscheidbar scheint. Das ausgeübte Ermessen erlangt sodann – je nach Stellung des Gerichts – quasi legislative Funktion. Dworkin wiederum, der von einem nahtlosen Rechtskonzept ausgeht und die Theorie der einzig richtigen Entscheidung vertritt, kritisiert den Ermessensbegriff der Positivisten und meint, Richter seien nicht frei, einen solchen Fall nach Gutdünken zu entscheiden. Vielmehr müssten sie aus den Rechtsprinzipien („principles“) schöpfen, wenn eindeutige gesetzliche Regelungen („rules“) fehlten. Auch Dworkin bestreitet freilich nicht, dass es Grenzfälle gibt, in denen sich eine eindeutige Lösung nicht aufdrängt. Klassische Beispiele für „hard cases“ finden sich etwa in den deliktsrechtlichen Schockschäden-Fällen. In diesen Fällen geht es um die Schadensersatzansprüche von Personen, die unmittelbare oder mittelbare Zeugen eines Unfalls werden und dadurch erschüttert werden. Ist es ein allgemeines Lebensrisiko, Zeuge eines schrecklichen Unfalls zu werden und dadurch einen Schock zu erleiden? Gilt das auch, wenn nahe Angehörige in den Unfall verwickelt sind? Und was gilt überhaupt als ein zum Schadensersatz berechtigender „Schock“? Antworten auf solche Fragen liegen nach Lektüre des § 823 BGB nicht unbedingt auf der Hand: einerseits ist die Kausalität des Unfalls für die Folgen nicht zu bestreiten, andererseits scheint eine uferlose Haftung unangemessen. Der BGH, der sich mehrfach mit solchen Konflikten auseinanderzusetzen 155 Siehe die Vorüberlegungen zu diesem Begriff bei Podszun in: GJZ, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2011, 2012, S. 305 ff. 156 Vgl. Hart, Der Begriff des Rechts, 1973, S. 14 f.; Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, 1984, S. 144 („schwierige Fälle“).

B. Rechtsprechung als Entdeckungsverfahren

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hatte, hat eine differenzierte Würdigung vorgenommen und feine Grenzlinien gezeichnet, bis zu welchem Punkt welcher Schaden ersatzfähig ist.157 Die Fälle, die der BGH und andere Obergerichte zu entscheiden haben, sind sehr häufig solche „hard cases“. Wären die Fälle nicht schwierig, sondern eindeutig, so würde bereits auf eine gerichtliche Klärung, jedenfalls aber auf eine Revision zum BGH verzichtet. § 543 Abs. 2 ZPO sieht die Zulassung der Revision vor, wenn eine Sache grundsätzliche Bedeutung hat, das Recht fortzubilden ist oder die Einheitlichkeit der Rechtsordnung zu wahren ist. Die Standardanwendung für alle drei Merkmale ist der Grenzfall im Sinne von Hart.158 Zu einer freien Schöpfung kommt es in diesen Fällen jedoch nicht, vielmehr wird das Gericht auf eine jahrzehntelange Rechtsprechungstradition und eine rechtswissenschaftliche Dogmatik zurückgreifen, also Strukturen, Institutionen, vorfinden, welche die Selektion der rechtlichen Entscheidung vorprägen. Die Schockschäden sind dafür ein gutes Beispiel: In seiner Grundsatzentscheidung von 1971 zu der Thematik setzt sich der BGH ausführlich mit einer Entscheidung des Reichsgerichts von 1938 auseinander, in der die Frage bereits erörtert worden war.159 Seine Rechtsauffassung ist also geprägt von den bestehenden Institutionen, seine Innovationen sind nicht frei geschöpft, sondern es wird versucht, neues Wissen in den Bestand alten Wissens zu integrieren. In dem Fall schließt sich der BGH dem Ergebnis des RG teilweise an, wenn auch mit abweichender Begründung. Die Strukturen werden damit neu konfiguriert. Während es in den „hard cases“ üblicherweise schon eine Bewertung der rechtlichen Interessen gibt, aber die Abwägung zwischen beiden Bewertungen rechtlich unklar ist, liegt die Sache in den „new cases“ anders: Hier fehlt noch eine rechtliche Interessenbewertung. Da es aufgrund der Neuartigkeit der Streitfälle noch keine etablierte Rechtsprechung und keine fundierte rechtswissenschaftliche Aufarbeitung gibt, müssen erst einmal die verschiedenen Interessen identifiziert werden. In den Worten der Evolutionslehre: Die Variationsmöglichkeiten sind noch gar nicht aufgezeigt, geschweige denn ausgeschöpft, Institutionen, die die Selektion vorgeben oder beeinflussen sind nur schwach entwickelt. Unmittelbare Präzedenzfälle existieren nicht. Auch diese Streitigkeiten können – im Sinne von § 543 Abs. 2 ZPO – grundsätzliche Bedeutung haben oder die Rechtsfortbildung erfordern oder uneinheitliche unterinstanzliche Urteile hervorgerufen haben, aber sie sind noch nicht vorgeprägt. Ob sie zu „hard cases“ werden, entscheidet sich noch. Denkbar ist nämlich auch, dass der BGH die Streitigkeiten als eindeutig zu Gunsten einer 157 Vgl. etwa BGH, 11.5.1971, Az. VI ZR 78/70, NJW 1971, 1883; BGH, 5.2.1985, Az. 198/ 83, NJW 1985, 1390; BGH, 22.5.2007, Az. VI ZR 17/06, NJW 2007, 2764; BGH, 6.2.2007, Az. VI ZR 55/06, NJW-RR 2007, 1395. Vgl. Oetker in: MüKo-BGB, 2007, § 249 Rn. 143 ff. 158 Wenzel in: MüKo-ZPO, 2007, § 543 Rn. 6 ff. 159 Vgl. BGH, 11.5.1971, Az. VI ZR 78/70, NJW 1971, 1883 sowie RG, 15.1.1938, Az. VI 168/37, RGZ 157, 11.

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Kapitel 2: Methodik der evolutionären Rechtsprechungsanalyse

Partei zu entscheiden ansieht. Da eine autoritative rechtliche Bewertung bis zur BGH-Entscheidung fehlt, ist der Prozess offen. Die Dynamik ist daher eine gänzlich andere; es besteht die Chance, aus den neuartigen Sachverhalten rechtliche Innovationen zu entwickeln. Der BGH kann entscheiden, welche Sachverhaltselemente wichtig sind, welche Normen anzuwenden sind, wie diese auszulegen sind, welche Interessen wie gewichtet werden, welche Argumente sich durchsetzen, wie diese zu systematisieren sind und wie der Fall schließlich zu entscheiden ist. Der Spielraum des BGH ist in „new cases“ erheblich größer als in „hard cases“, was ungeahnte Innovationsmöglichkeiten eröffnet. Erst wenn sich eine „herrschende Meinung“ herausgebildet hat, ist vorläufig eine Institution geschaffen, die die jeweiligen Konflikte sowohl präventiv reguliert, als auch im Nachhinein entscheidbar macht. Zwar ist auch eine „herrschende Meinung“ nicht dauerhaft stabil, sondern inkrementell weiter zu entwickeln (ausnahmsweise sogar disruptiv). Sie bietet für einen Sachverhalt jedoch eine Strukturierung, sodass – gerade wenn der Sachverhalt häufig beurteilt wurde – nur noch über die konkrete Anwendung zu entscheiden ist. In den „new cases“ ist richterliche Rechtsfortbildung, jedenfalls aber die Anpassung des geltenden Rechts auf den jeweiligen Sachverhalt in ganz anderem Maße verlangt. Die Rechtsprechung kann in diesen Fällen noch in starker Weise branchenprägend oder wirtschaftsordnend wirken und muss es auch: die Pflicht zur Entscheidung in post-deregulativen Streitigkeiten wird damit zur Pflicht, die Wirtschaftsordnung in einer Branche oder zu einer Thematik zu konfigurieren. Christian Fischer geht noch weitergehend davon aus, dass richterliche Rechtsfortbildung ohnehin ein häufiges Phänomen ist.160 Seit dem Soraya-Beschluss161 des Bundesverfassungsgerichts sei die Rechtsfortbildung auch in einem Kernbereich des Zivilrechts (hier: Schadensersatzanspruch aus Delikt für Persönlichkeitsverletzung) als mit Art. 20 Abs. 3 GG vereinbar anerkannt.162 Sie finde aber aus verschiedenen Gründen meist verdeckt statt.163 Sollte richterliche Rechtsfortbildung ohnehin gängige Praxis sein und sogar Aufgabe der Justiz, wäre der Anpassungs- und Selektionsprozess nicht nur auf „new cases“ beschränkt.164 Evolutionäre Überlegungen zur Analyse der Rechtsprechung sind damit noch passender.

160 Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen, 2007, S. 149 ff. Vgl. Maultzsch, Streitentscheidung und Normbildung, 2010, S. 4 ff. 161 BVerfG, 14.2.1973, Az. 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269 = NJW 1973, 1221 – Soraya. 162 Vgl. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen, 2007, S. 214 ff. 163 Vgl. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen, 2007, S. 295 ff. 164 Fischer thematisiert eine evolutionäre Herangehensweise allerdings nicht, er verweist hingegen auf ein “rationaleres Modell begründeten Entscheidens”, vgl. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen, 2007, S. 558 ff.

C. Methodische Anknüpfungspunkte

159

C. Methodische Anknüpfungspunkte Während es in den Wirtschaftswissenschaften eine wachsende Zahl von Abhandlungen über die evolutionäre Analyse gibt, ist die rechtswissenschaftliche Literatur überschaubar. Dennoch gibt es wichtige Anknüpfungspunkte für das hier vorgestellte Konzept einer evolutionären Rechtsprechungsanalyse, die – wenn man sie konsequent anwendet – zu einer neuen Herangehensweise an Urteilsbesprechungen und richterliche Rechtsfortbildung führt.

I. Präzedenzfall-Diskussion Im Common Law System ist die evolutionäre Betrachtung von Rechtsprechung üblicher, da sich Recht durch Abgrenzung und Fortentwicklung vorhergehender Entscheidungen herausbildet. Die Prägung des Common Law durch Präzedenzien führt nach einer von Richard Posner und Paul Rubin begründeten Auffassung zur Steigerung der Effizienz rechtlicher Regelungen.165 Dieses Ergebnis wird mit Hilfe der ökonomischen Analyse, kurzgefasst, wie folgt erklärt: Ineffiziente rechtliche Regelungen produzieren typischerweise höhere Wohlfahrtsverluste als effiziente Regelungen. Davon betroffene Parteien sind daher geneigt, den Klageweg zu beschreiten. Effiziente rechtliche Arrangements produzieren hingegen entweder schon keine Konflikte oder nur solche, die in Verhandlungen gelöst werden können. Zur gerichtlichen Überprüfung gelangen so vor allem solche rechtlichen Arrangements, die besonders ineffizient sind. Wenn die Richter in diesen Fällen tendenziell effizientere Regeln wählen, wandelt sich das Common Law zunehmend zu einem immer effizienteren Regelungssystem, indem ineffiziente Regeln überholt werden.166 Die Diskussion um die Effizienz-Orientierung des Common-Law-Systems ist mit dem hier vertretenen evolutionären Betrachtungsmodell insofern vergleichbar als die Dynamik der Rechtsprechung untersucht wird. Auch die Präzedenz-Diskussion nimmt Rechtsprechung als kontinuierlichen Prozess an. Einzelne Autoren haben Charakteristika in dieser Diskussion hervorgehoben, die auch in der Evolutionstheorie von besonderer Bedeutung sind, etwa die Pfadabhängigkeit, welche die Auswahl der Konfliktfälle determiniert,167 oder 165 Posner, Economic Analysis of Law, 2011, § 19.2; Rubin, Journal of Legal Studies VI/1 (1977), 51, 61. 166 Die Diskussion wird mit zahlreichen Beiträgen dokumentiert in Rubin, Evolution of Efficient Common Law, 2007. In deutscher Sprache siehe vor allem Leder, Die sichtbare und die unsichtbare Hand in der Evolution des Rechts, 1998; Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, S. 172 ff.; Wangenheim, Evolution von Recht, 1995, S. 72 ff. Aktuell mit kritischer Note Miceli in: Elgar Companion to Law and Economics, 2005, S. 393, 400 f. Vgl. Eckardt, Technischer Wandel und Rechtsevolution, 2001, S. 64 ff. 167 Hathaway, Iowa Law Review 86 (2001), 601, 664.

160

Kapitel 2: Methodik der evolutionären Rechtsprechungsanalyse

den Vorteil, den Kläger mit besseren Informationen genießen,168 damit ein Wissensproblem aufgreifend. Es ließe sich rasch einwenden, dass das Common Law und seine Stare Decisis-Regel ganz andere Voraussetzungen beinhalten als das kontinentaleuropäische, von gesetzlichen Regelungen geprägte Recht. Das stimmt natürlich, doch sollte die Bedeutung der gesetzlichen Vorgaben nicht überschätzt werden, wenn man sich vergegenwärtigt, wie viele offene Rechtsbegriffe Gesetze beinhalten. Diese bedürfen der Konkretisierung durch die Gerichte, sodass die Rechtspraxis auch in Deutschland stark von Richterrecht geprägt ist. Eine Anwendung der Ideen auf das gesetzesgeprägte Recht ist daher keineswegs ausgeschlossen.169 Auch wenn in diesem Ansatz von Evolutionsaspekten immer wieder die Rede ist, unterscheiden sich die Präzedenz-Diskussion und die hier gewählte Methodologie doch erheblich.170 Die Orientierung auf das Effizienz-Ziel hin entspricht der Vorstellung von Rechtsprechung als einem Entdeckungsverfahren nicht. Lineare Entwicklungen sind zwar bei sehr stabilen Strukturen denkbar, realistischer scheint aber die Annahme eines offenen Entdeckungsverfahrens, in dem es gelegentlich auch zu kreativen Innovationen kommt. Zudem vernachlässigt die Präzedenzien-Diskussion die eingeschränkte Rationalität der Akteure.171 An diesem Punkt setzte eine 2008 veröffentlichte empirische Überprüfung der Effizienz-These ein.172 Die Autoren hatten 465 Berufungsentscheidungen aus den Jahren 1970 bis 2005 aus der Baubranche ausgewertet, die sich allesamt um den Ersatz von Vermögensschäden gemäß der Economic Loss Rule drehten. Würde die These von der Effizienz im Verlauf der Zeit zutreffen, dürfte die Rechtsprechung, so die Autoren, nach 35 Jahren eigentlich kaum mehr divergieren, zumal Branche und Rechtsfrage eine gewisse Reife erlangt haben und die Zahl der Fälle ausreichend groß ist. Im Ergebnis stellten die Autoren jedoch fest, dass nach einer Phase der Konsolidierung (die ersten 25 Jahre) die Rechtsprechungslinien sich immer weniger ähnelten.173 Das Prinzip, dass reine Vermögensschäden vom Deliktsrecht nicht umfasst sind, wurde mit eigenwilligen Ausnahmen durchlöchert, ohne dass sich eine Konsistenz zwischen den verschiedenen Staaten und Gerichten herstellen ließ. Insbesondere konstatieren die Autoren für den Zeitraum 1995–2005 einen nicht ohne 168

Hylton, American Law and Economics Review 8/1 (2006), 33 ff. Vgl. Eckardt, Evolutionary Approaches to Legal Change, 2004, S. 9; Wangenheim, Evolution von Recht, 1995, S. 72 f. Entsprechend analysieren Blair/Schafer, University of Florida Law Review 40 (1988), 379, 381, das statute-geprägte US-amerikanische antitrust law. Vgl. Leder, Die sichtbare und die unsichtbare Hand in der Evolution des Rechts, 1998, S. 158 f. 170 Kritisch auch Eckardt, Evolutionary Approaches to Legal Change, 2004, S. 11 f. m.w.N. 171 Leder, Die sichtbare und die unsichtbare Hand in der Evolution des Rechts, 1998, S. 160, kommt zu dem Ergebnis, dass bei Annahme eingeschränkter Rationalität die richterlichen Entscheidungen nur noch zufällig optimal sind. 172 Niblett/Posner/Shleifer, Evolution of a Legal Rule, 2008. 173 Niblett/Posner/Shleifer, Evolution of a Legal Rule, 2008, S. 6. 169

C. Methodische Anknüpfungspunkte

161

weiteres erklärbaren Anstieg an unvorhersehbaren Ausnahmen, und sie kommen zu dem Schluss, dass die empirische Analyse die Annahmen einer Effizienzerreichung durch Common Law nicht rechtfertigt: „the hypothesis that, in traditional commercial areas, common law is predictable and efficient, or at least is moving there, is not supported by the evidence in this particular sphere.“174

II. Evolutionstheoretische Ansätze Während die US-amerikanische Präzedenzien-Diskussion häufig unter dem Schlagwort einer evolutionären Rechtslehre diskutiert wird, ist sie der Sache nach nicht mit dem hier gewählten Ansatz identisch. Für diesen gibt es aber durchaus Anknüpfungspunkte, sowohl in der Volkswirtschaftslehre als auch bei Rechtswissenschaftlern.

1. Evolutionäre Rechtsökonomik Mehrere Ökonomen haben sich mit rechtlichen Fragestellungen aus evolutionsökonomischer Perspektive auseinandergesetzt. Evolutionsökonomen und Juristen mit engem Bezug zur Evolutionsökonomik haben sich etwa vielfach mit Fragen der rechtlichen Regulierung befasst.175 Diese Forschungen weisen aber meist zwei Unterschiede zum hier gewählten Vorgehen auf: die Studien beschränken sich nicht auf die Beobachtung des Wandels, sondern erarbeiten für einzelne Bereiche des Rechts, etwa den Verbraucherschutz,176 normative Vorschläge. Adressaten solcher Forschungen sind zudem meist die Gesetzgeber, nicht aber die Gerichte. Wolfgang Kerber, Stefan Okruch und Martina Eckardt zählen zu den prononciertesten kontinentaleuropäischen Vertretern einer rechtlichen Evolutionsökonomik.177 Auf ihren Forschungen baut auch das hier vertretene Modell auf. Sie gehen von der Frage aus, wie Innovationen und damit Wandel im Recht möglich sind. Ausgehend von Hayeks Ideen sehen sie ein möglichst vielfältiges Umfeld für rechtliche Entscheidungen und einen offenen Suchprozess als etwas Positives im Recht, da nur dies evolutionäre Schritte ermöglicht. 174

Niblett/Posner/Shleifer, Evolution of a Legal Rule, 2008, S. 39. Vgl. Nelson/Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change, 1982, S. 412 f.; Eckardt, Evolutionary Approaches to Legal Change, 2004, S. 4 ff. 176 Für die Regelung des Verbraucherschutzrechts vgl. Van den Bergh/Kallis, Evolutionary Policy, 2009, S. 22 ff. m.w.N. 177 Vgl. z.B. Kerber in: Priddat/Wegner, Zwischen Evolution und Institution, 1996, S. 297 ff.; Kerber/Heine in: Pelikán/Wegner, Evolutionary Analysis of Economic Policy, 2003, S. 191 ff.; Okruch, Innovation und Diffusion von Normen, 1999; ders., ORDO 52 (2001), 131 ff.; Eckardt, Evolutionary Approaches to Legal Change, 2004; dies., Technischer Wandel und Rechtsevolution, 2001. 175

162

Kapitel 2: Methodik der evolutionären Rechtsprechungsanalyse

Kernfragen, die teilweise noch unbeantwortet sind, bleiben die Prägung der Entscheidungen durch rechtliche Paradigmen und die Einflüsse auf Gesetzgeber und Richter, also das Selektionsumfeld und die Selektionsmechanismen.178 Eckardt hat sich mit der rechtlichen Entwicklung am historischen Beispiel des Unfallschadensrechts im 19. Jahrhundert befasst. Als Ökonomin knüpft sie an ökonomischen Theorien, auch der Neoklassik, an, um eine evolutionäre Rechtstheorie zu entwickeln. Trotz dieser Voreingenommenheit für ökonomisierte Erklärungsmuster,179 die möglicherweise nicht immer den komplexen Erwägungen des Rechtswesens gerecht werden, formuliert die Autorin konsistente Erklärungsmuster für die Evolution von Recht angesichts des technischen Wandels. Ihre Ausführungen sind für eine evolutionäre Rechtstheorie, die sich von der einseitigen Ausrichtung aufs Effizienzdenken löst, wegweisend. In ihrer Fallstudie zum Unfallschadensrecht, das im Zuge der Industrialisierung besonders bedeutsam wurde, richtet die Autorin ihr Augenmerk auf den Rechtswandel durch den Gesetzgebungsprozess (vom Preußischen Eisenbahngesetz über das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch und das Reichshaftpflichtgesetz bis zum Unfallversicherungsgesetz).180 Richterliche Innovationsbeiträge werden jedoch ebenfalls thematisiert.181 Als „Problemlösungsroutinen“ werden Selektionsmechanismen der Rechtsprechung thematisiert, die insbesondere dafür sorgen sollen, dass die „ubiquitäre Varietät“, also die unendliche Entscheidungsmöglichkeit der Richter, eingeschränkt wird. Eckardt nennt die Funktionsweise menschlicher Problemwahrnehmung, argumentative Prozesse, Gesetze und Auslegungsregeln sowie Rechtsdogmatik, die Sozialisation der Juristen und die institutionelle Ausgestaltung der Gerichtsbarkeit.182 Hieran besticht die Einordnung von Phänomenen, die dem Juristen selbstverständlich sind, in den Kontext einer funktional-evolutiven Betrachtung. Okruch hat, gleichfalls aus institutionsökonomischer Sicht, den Normgebungsprozess evolutionär gedeutet.183 Er richtet, in Anlehnung an Hayek, das Augenmerk auf die kulturelle Evolution und auf die Rechtsordnung als eine Institution, die den Gesetzmäßigkeiten der kulturellen Evolution unterliegt. Konsequent ist seine Forderung, die sich mit der hier vertretenen Auffassung deckt, dass Ziel einer evolutionären Rechtstheorie sein muss, „Anwendungsbedingungen der Muster-Voruassage vorteilhafter richterlicher Rechtsfortbildung [zu] spezifizieren“.184 Es geht also um die Analyse und Systematisierung der Strukturen und Bedingungen für Rechtsetzung und Recht178 179

Vgl. Eckardt, Evolutionary Approaches to Legal Change, 2004, S. 13 f., 1. Vgl. den Überblick bei Eckardt, Technischer Wandel und Rechtsevolution, 2001, S. 201–

204. 180 181 182 183 184

Eckardt, Technischer Wandel und Rechtsevolution, 2001, S. 207 ff. Vgl. Eckardt, Technischer Wandel und Rechtsevolution, 2001, S. 132 ff. Eckardt, Technischer Wandel und Rechtsevolution, 2001, S. 138 ff. Okruch, Innovation und Diffusion von Normen, 1999; ders., ORDO 52 (2001), 131 ff. Okruch, ORDO 52 (2001), 131, 148.

C. Methodische Anknüpfungspunkte

163

sprechung, damit deren Wirkung auf die Gesamtordnung erfasst wird. Das wiederum erlaubt die Steigerung der Prognosesicherheit für Rechtsunterworfene (also Marktteilnehmer) und befähigt diese zur freien Entscheidung. Wesentlich für Okruchs Arbeit, der seine Thesen unter anderem am Eigentumsrecht185 und am UWG186 exemplifiziert, ist sein Fokus auf „Innovation und Diffusion“.187 Damit werden die Schaffung (oder Entdeckung) neuer Ideen im Recht und deren Durchsetzung in den Mittelpunkt gestellt. Dieser Bezug zur Innovationsforschung verdeutlicht das Potential einer evolutionären Rechtstheorie: Der Rechtsbegriff wird wesentlich für Neuerungen geöffnet und dynamisiert. Eine evolutionsökonomische Arbeit hat auch Georg von Wangenheim vorgelegt.188 Zunächst prüft er die Entstehung von Innovationen durch Gesetzgebung. Dabei rekurriert er auf die Public-Choice-Theorie und bildet ein Modell, das mit Hilfe von rent-seeking-Aktivitäten das Interesse an Regulierung und Deregulierung abbilden soll.189 Das Modell muss, zwecks Handhabbarkeit, um mehrere Faktoren reduziert werden, wie der Autor selbst einräumt.190 Das mindert die Aussagekraft, entspricht aber einem typischen Vorgehen der vorherrschenden ökonomischen Theorie. Auch bei der Analyse von Richterrecht, die sich an einem Common-Law-artigen Rechtsmodell orientiert, lässt sich Wangenheim von Ideen der Public-Choice-Theorie leiten und bleibt dem Gleichgewichtsgedanken bei der Modell-Bildung treu.191 Abschließend fügt Wangenheim seine Modelle zusammen, die damit zwar bestimmte Entwicklungsfaktoren abbilden können, aber nicht den rechtlichen Wandel in seiner Komplexität erfassen können. Der Autor bleibt damit im Wesentlichen der Neoklassik verhaftet statt sich auf ein offenes Verfahren im Sinne Hayeks einzulassen.

2. Ansätze zu evolutionären Rechtstheorien Auch Juristen haben sich verschiedentlich mit der Übernahme evolutionärer Ansätze für die Rechtstheorie befasst.192 Als einer der ersten in Deutschland hat Ernst-Joachim Lampe einen kurzen Band über „Genetische Rechtstheorie“ vorgelegt, der die Grundideen der Entwicklungsbiologie für das Recht fruchtbar zu machen versucht.193 185 186 187 188 189 190 191 192

Okruch, Innovation und Diffusion von Normen, 1999, S. 136 ff., 176 ff. Okruch, ORDO 52 (2001), 131, 141. Siehe insbesondere Okruch, Innovation und Diffusion von Normen, 1999, S. 150 ff. Wangenheim, Evolution von Recht, 1995. Vgl. Wangenheim, Evolution von Recht, 1995, S. 11 ff. Vgl. Wangenheim, Evolution von Recht, 1995, S. 69. Vgl. Wangenheim, Evolution von Recht, 1995, S. 72 ff., 84 ff. Für einen evolutorischen Ansatz im Öffentlichen Recht siehe jüngst Wahl, JZ 2013,

369 ff. 193

Lampe, Genetische Rechtstheorie, 1987.

164

Kapitel 2: Methodik der evolutionären Rechtsprechungsanalyse

Marc Amstutz hat eine Arbeit mit dem Titel „Evolutorisches Wirtschaftsrecht“ vorgelegt, die er laut Untertitel als „Vorstudien zum Recht und seiner Methode in den Diskurskollisionen der Marktgesellschaft“ verstanden wissen will.194 Es handelt sich neben den Arbeiten von Eckardt und Okruch um die – soweit ersichtlich – umfassendste Entwicklung eines komplexen Modells zum Wirtschaftsrecht mit Anleihen aus der Evolutionstheorie in deutscher Sprache. Die Arbeit lehnt sich terminologisch und inhaltlich einerseits an Hayeks Erkenntnisse, andererseits an Luhmanns Systemtheorie an. Nach der Auffassung von Amstutz entstehen in einer marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft Normen spontan („planloses Heranwachsen“195). Diese Planlosigkeit lässt Evolution zu, was nach Amstutz im Anschluss an Hayek den Erfolg der Marktwirtschaft begründet. Das Recht hat dann die Aufgabe, den Diskurs über den aus der planlosen Evolution entstehenden „normativen Abstimmungsbedarf“ zu führen.196 Dieser entsteht, da unterschiedliche Evolutionsergebnisse miteinander kollidieren können. Recht ist damit, wenn man diese Aussagen einiger rechtsphilosophischer Bezüge entkleiden will, ein Instrument zur Konfliktschlichtung. Das ist zunächst nichts Überraschendes, die Konfliktentstehung wird von Amstutz aber immerhin evolutiv begründet. Ihm geht es von diesem Ausgangspunkt um die Entwicklung eines Modells „von Recht-in-Marktgesellschaft“. Dieses soll Diskursprinzipien enthalten, welche das Recht legitimieren und bestimmen.197 Hierzu greift er auf „Evolution als Kollisionsmechanismus“ zurück. Das bedeutet, etwas schlichter formuliert als bei Amstutz, dass rechtliche Regelungen den Prinzipien der Evolutionslehre (z.B. dem Variations-Selektions-Paradigma) unterworfen sind.198 In den „Diskurskollisionen der Marktgesellschaft“ setzen sich damit Regeln durch, die sich in einem Entdeckungsverfahren bewähren, allerdings sieht Amstutz darin nicht nur eine Beschreibung der Entstehung von Regeln, sondern auch ein normatives Postulat.199 Ein Verdienst der Schrift von Amstutz ist es nicht zuletzt, vorhandene Theorien zu Recht und Evolution gebündelt darzustellen. Er unterscheidet drei Typen solcher Theorien. Erstens werde Evolution rechtssoziologisch zur Erklärung der Wirklichkeit verwendet.200 Hier ordnet der Autor etwa Überlegungen von Max Weber, Jürgen Habermas und Niklas Luhmann ein. Zweitens stellt er Überlegungen dar, in denen die Evolutionslehre der Biologie fruchtbar gemacht wird für die Rechtswissenschaften.201 Er prüft dafür nach, welche 194 195 196 197 198 199 200 201

Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001. Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, S. 53. Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, S. 53. Vgl. Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, S. 66 ff., 71. Vgl. Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, S. 81 ff. Vgl. Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, S. 83. Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, S. 91 ff. Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, S. 117 ff.

C. Methodische Anknüpfungspunkte

165

Elemente der Evolutionslehre von der Rechtswissenschaft rezipiert wurden und findet solche Elemente etwa in der „Geschichtlichkeit“ Savignys oder den biologischen Metaphern von Jherings. Drittens widmet er sich unmittelbar normativen Theorien, die die Evolutionslehre verwenden.202 Hierzu zählt er insbesondere die hier bereits dargestellte ökonomische Analyse der Effizienz des Common Law und die soziobiologische Rechtstheorie. An sein eigenes Modell von Recht stellt Amstutz drei Anforderungen:203 es soll frei sein von materiellen Wertungen, um die Evolution des Rechts nicht zu präjudizieren; es darf die biologischen Evolutionsmechanismen nur als Inspiration übernehmen; es muss Platz für die sog. „Eigenlogik“ des Rechts lassen, dieses darf sich also nicht bloß an seinen sozialen Subsystemen ausrichten. Das sodann entwickelte Modell204 geht von einem diskursiven Kreislauf aus, in dem sich das Recht in Teilrechtsordnungen differenziert, die die sich verändernden Sachverhaltsumstände aufnehmen und sich entsprechend anpassen. Die Teilrechtsordnungen sind, wie im hier dargelegten Modell, aus Elementen und Strukturen immer wieder spontan zusammengesetzt. Die Stabilität des Rechts ergibt sich aus einem Equilibrium, das spieltheoretisch simuliert werden kann, aber immer wieder in Frage gestellt wird. Für den Richter bedeutet dieses Modell im praktischen Vorgehen Folgendes:205 Er muss zunächst feststellen, dass eine Teilrechtsordnung, eine Nische, vorliegt. Sodann ist zu prüfen, aufgrund welcher Elemente und Strukturen eine andere Teilrechtsordnung in diese Nische eindringt („Kollision“). Die Auflösung der Kollisionen erfolgt durch „Selektion“ derjenigen Elemente, die sich durchsetzen müssen. Dieser Selektionsakt ist nach Amstutz die Subsumtion. Entstehen Kollisionen häufig, und werden diese ähnlich selektiert, kommt es zu einem relativ stabilen Gleichgewicht, das aber offen sein muss.206 Die Studie von Amstutz stellt ein umfassendes, komplexes Modell dar, das wichtige Impulse zur rechtstheoretischen Einordnung des Evolutionsansatzes bietet. Überschneidungen zum hier dargestellten Vorgehen sind zahlreich vorhanden, insbesondere im Verständnis von Recht als einem offenen Entdeckungsverfahren. Es gibt freilich auch Unterschiede: Ob es der Komplexität und des systemtheoretischen Überbaus für eine evolutionäre Rechtsprechungsanalyse bedarf, mag dahinstehen. Ebenso fraglich scheint, ob es die spieltheoretisch begründete Entwicklung hin zu einem Equilibrium braucht, um die Stabilität der Rechtsordnung zu erklären. Der Widerspruch zwischen Equilibrium einerseits und offenem Prozess andererseits wird nicht vollständig überzeugend aufgelöst. Schließlich ist fraglich, ob der Nachweis evolutionären Denkens in verschiedenen rechtssoziologischen und rechtshistorischen 202 203 204 205 206

Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, S. 169 ff. Vgl. Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, S. 209 ff. Zusammenfassend Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, S. 303 f. Vgl. Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, 327 ff. Vgl. Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, S. 328 f.

166

Kapitel 2: Methodik der evolutionären Rechtsprechungsanalyse

Positionen nicht übertrieben ist. Pragmatisch gedacht scheint, gerade für das Wirtschaftsrecht, eine Anlehnung an die deskriptiven Theorien der Evolutionsökonomik, die bei Amstutz mitbehandelt werden,207 ertragreicher.

3. Theorien richterlicher Normbildung Ein wesentliches Thema bei der Betrachtung von Rechtsprechung ist die richterliche Rechtsfortbildung. Auch diese lässt sich mit evolutionären Ideen erfassen. Felix Maultzsch befasst sich mit richterlicher Normbildung im Prozess, vertritt dabei aber – anders als der bereits erwähnte Fischer208 – eine evolutionär geprägte Auffassung, die ihren Ausgangspunkt in Hayeks Erörterung der Wissensproblematik hat. Maultzsch bezeichnet konsequent die richterliche Normbildung als Entdeckungsverfahren.209 Damit greift der Autor Motive der Evolutionstheorie direkt auf. Die Organisation und Verarbeitung von Wissen wird als zentrales Problem der Rechtsprechung benannt.210 Das Zivilverfahren kann demnach als Informationsverarbeitungsprozess angesehen werden. Besonders herausgearbeitet wird, basierend auf Vorgängerschriften,211 die Einwirkung des Zivilprozessrechts auf die Rechtsfortbildung, oder, anders gefasst: die Prägung der Entscheidungen durch die Institutionen des Verfahrens.212 Maultzsch legt allerdings Wert auf die Anbindung der Rechtsfortbildung (oder Normbildung) an die Reaktion auf den konkreten Fall. Eine weiter greifende abstrakte Rechtsfortbildungskompetenz billigt er der Rechtsprechung nicht zu.213 Dies begründet er nicht zuletzt mit der privaten Initiative zur Konfliktschlichtung im Zivilprozess, die nicht auf abstrakte Rechtsfortbildung, sondern auf konkrete Fallentscheidung ausgerichtet sei,214 sowie mit der Aufgabenverteilung zwischen Legislative und Judikative, die zu einem „judicial self-restraint“ führen müsse.215 Auch in der sonstigen zivilprozessualen Lehre wird die richterliche Rechtsfortbildung immer wieder in Bezug gesetzt zu den Entstehungsbedingungen von Rechtsprechung.216 Der stete Wandel der Gesetzesinterpretation ist inzwischen Topos der Zivilrechtswissenschaft geworden, wenn auch meist ohne die 207

Vgl. Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, S. 75 ff. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen, 2007. 209 Vgl. Maultzsch, Streitentscheidung und Normbildung, 2010, S. 252. 210 Maultzsch, Streitentscheidung und Normbildung, 2010, S. 252 ff. 211 Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995; Lames, Rechtsfortbildung als Prozesszweck, 1993, §§ 3 ff.; Langenbucher, Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996. 212 Vgl. Maultzsch, Streitentscheidung und Normbildung, 2010, S. 10, 304 ff. 213 Vgl. Maultzsch, Streitentscheidung und Normbildung, 2010, S. 270 f. 214 Vgl. Maultzsch, Streitentscheidung und Normbildung, 2010, S. 305 ff. 215 Vgl. Maultzsch, Streitentscheidung und Normbildung, 2010, S. 314 ff. 216 Vgl. nur Säcker in: MüKo-BGB, 2006, Einleitung Rn. 143 f. m.w.N. 208

C. Methodische Anknüpfungspunkte

167

explizite Anlehnung an ein daran ausgerichtetes Modell evolutionären Rechtsdenkens. Für Maultzsch führt die Anlehnung an Hayek automatisch zu einer Entwicklungsperspektive. Weitergehende Anleihen an die Evolutionslehre lehnt er jedoch – explizit mit Hinweis auf die Präzedenzien-Diskussion in den USA – ab.217 So bleibt eine genaue Darstellung des Entdeckungsverfahrens ebenso Desiderat wie die Einordnung der Rechtsprechung als Faktor der Wirtschaftsordnung nach der Wende zum Privatrecht. Dennoch teilt das Modell von Maultzsch eine breite Basis mit dem hier vertretenen Vorschlag einer evolutionären Rechtsprechungsanalyse.

III. Methodische Konsequenzen evolutionären Rechtsdenkens In diesem Kapitel erfolgte die methodische Grundlegung für die nachfolgende Besprechung ausgewählter Urteile in post-deregulativen Konstellationen. Dazu wurde das Konzept einer evolutionären Rechtsprechungsanalyse entwickelt, das auf den Erkenntnissen der Evolutionsökonomik und der (überschaubaren) rechtstheoretischen Literatur mit evolutionären Ansätzen aufbaut.

1. Charakteristika der evolutionären Rechtstheorie Zusammenfassend lassen sich fünf Charakteristika des Ansatzes identifizieren, welche für die Methodik der folgenden Darstellung besonders wichtig sind: – Die Methodik bedingt eine Forschungsfrage, die das Augenmerk des Lesers auf den rechtlichen Wandel legt: Was passiert in den Jahren, nachdem eine neuartige Konfliktkonstellation den Regeln des Zivilrechts unterworfen worden ist? Die Funktionsweise der Rechtsprechungstätigkeit wird in den Blickpunkt gerückt. – Die Aufgabe des Richters wird primär als Wissensproblem gesehen, sodass Rechtsprechung zum Entdeckungsverfahren wird. Wie in diesem Verfahren Wissen generiert und verarbeitet wird, wie Richter mit Ungewissheiten umgehen und wie neues Wissen entsteht (Innovationen), sind Kernfragen der Analyse. – Aus verschiedenen Möglichkeiten (Variationen) müssen Gerichte selektieren. Die Selektionsprozesse werden geleitet von Strukturen, insbesondere Institutionen. Dabei sind rechtliche Vorgaben die wichtigsten, aber nicht die einzigen Parameter der Selektion. Die evolutionäre Methodik ist bemüht, weitere Einflüsse zu identifizieren, etwa die Pfad- und Häufigkeits217

Vgl. Maultzsch, Streitentscheidung und Normbildung, 2010, S. 259 ff.

168

Kapitel 2: Methodik der evolutionären Rechtsprechungsanalyse

abhängigkeit von Entscheidungen oder die Orientierung am Leitbild einer einheitlichen Rechtsordnung, in die neue Entscheidungen konsistent einzufügen sind. – Der Wandel kann nicht unhistorisch, als Momentaufnahme gedacht werden, sondern verlangt eine Verlaufsdarstellung. Damit wird der Pfadabhängigkeit von Entscheidungen Rechnung getragen. Die Entwicklung muss nicht immer linear verlaufen. – Schließlich ermöglicht die evolutionäre Methodik, die von Gerichten mitgeschaffene Wirtschaftsordnung als ein komplexes Phänomen anzusehen, das sich beständig wandelt, da es aus vielen einzelnen Elementen zusammen gesetzt ist. Die Neuartigkeit der post-deregulativen Konstellationen (Stichwort: new cases) macht diese besonders geeignet, um den Wandel zu untersuchen.

2. Evolutionäre Rechtstheorie auf dem Prüfstand Die Untersuchung geht allerdings in zwei Richtungen: Einerseits wird die Rechtsprechung analysiert. Andererseits wird mit Hilfe der konkreten Analyse aber auch die Methodik getestet. Die evolutionäre Rechtstheorie ist bislang, von wenigen Ausnahmen abgesehen, häufiger beschrieben als eingesetzt worden. Es stellt sich die Frage, ob sie als Methodik für den Juristen geeignet ist. Dies entscheidet sich daran, ob sie praktisch relevante und robuste Einsichten zu vermitteln vermag. Einige der möglichen Schwierigkeiten wurden bereits in diesem Kapitel aufgezeigt. Sollte sich das Verständnis von Rechtsprechung als einem evolutionären Verfahren weiter durchsetzen, hätte dies freilich weiter reichende Konsequenzen. Urteile sind aus evolutionärer Perspektive nur Ergebnisse eines unvollkommenen Suchprozesses im Rahmen einer sich ständig neu konstituierenden spontanen Ordnung. Sie sind „Annäherungen“ im Sinne Poppers, das jüngste BGH-Urteil ist jeweils der aktuelle Stand des Irrtums. Konsequent müsste sich der Stil von Urteilen, aber auch von Urteilskritik ändern: Kritiker könnten mit etwas mehr Gelassenheit und Demut die beschränkte Rationalität der Akteure bewerten. Neben eine auswirkungsorientierte Ergebniskritik und eine in sich geschlossene Rechtmäßigkeitskritik müsste die Kritik an den Bedingungen und Strukturen des Entscheidens treten.218 Gerichte könnten entscheiden im Bewusstsein, dass ihre Auffassungen nur Bausteine in einer Entwicklung sind, die sie bald überholen wird – ob durch offensichtlich disruptive Rechtsänderungen oder durch inkrementelle Fortbildungen in spezifischen Einzelfällen.

218

Vgl. mit ähnlicher Stoßrichtung Vermeule, Judging under Uncertainty, 2006, S. 290.

C. Methodische Anknüpfungspunkte

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3. Selbstverständnis der Justiz – die Hirsch-Rüthers-Debatte Dass dies für das Selbstverständnis von Richterinnen und Richtern durchaus gravierende Änderungen mit sich bringen würde, illustriert die Diskussion in den vergangenen Jahren um die Aufgabe der Justiz, die als Hirsch-RüthersDebatte bekannt geworden ist. Bernd Rüthers hatte in markigen Worten der Richterschaft eine Überschreitung ihrer Kompetenzen bis hin zum Verfassungsbruch vorgeworfen. Die richterliche Rechtsfortbildung gehe inzwischen zu weit, manche Gerichte entfernten sich von gesetzlichen Vorgaben und würden ihre subjektiven Wünsche verwirklichen, statt die Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG) zu respektieren.219 Die Methodenlehre mit ihrem anerkannten Vorgehen spiele keine Rolle mehr, selbst das Bundesverfassungsgericht habe sich in dieser Hinsicht problematisch verhalten.220 Von richterlicher Zurückhaltung, dem berühmten „judicial self-restraint“, sei nichts mehr zu spüren. Die Richter würden offensiv in die Lücken stoßen, die der von Rüthers gleichfalls kritisch gesehene Gesetzgeber in immer fahrlässigerer Weise lasse.221 Anstoß genommen hatte Rüthers nicht zuletzt an einer Formulierung des damaligen BGH-Präsidenten Günter Hirsch, der Richter als „mehr oder weniger virtuose Pianisten“ bezeichnet hatte, welche die Partitur des Komponisten, nämlich des Gesetzgebers, interpretierten.222 Ein Virtuose allerdings zeichnet sich gerade durch seine Freiheit gegenüber dem Komponisten aus. Hirsch hatte sich mehrfach zum Verhältnis von Rechtsprechung und Gesetzgeber geäußert und dabei das Bild der Gerichte als Diener des Gesetzes als unzeitgemäß zurückgewiesen.223 In die Debatte hatten sich später zahlreiche weitere Juristen eingeschaltet.224 Im Wesentlichen geht es in der Diskussion um die Frage, welche Gestaltungsspielräume Richter im Verhältnis zum Gesetzgeber haben und wie sie diese ausfüllen. Ändert sich aufgrund der hier dargelegten Positionen der Blick auf diese Grundlagenfragen der rechtswissenschaftlichen Methodik? Zunächst ist Rüthers entgegenzuhalten, dass in den vom Gesetzgeber eröffneten Spielräumen nicht unbedingt ein staatspolitisches Versagen zu sehen ist. Mit Recht konstatiert er eine Verschiebung zugunsten der Judikative. Doch 219 Vgl. Rüthers in FAZ, 18.10.2010, vgl. http://www.faz.net/artikel/C31408/gastbeitragrichter-ohne-grenzen-30038908.html; ders., NJW 2011, 1856; ders., JZ 2002, 365 ff.; ders., JZ 2008, 446 ff.; ders., ZRP 2008, 48 ff. 220 Rüthers, NJW 2009, 1461, er bezieht sich auf BVerfG, 15.1.2009, Az. 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248. 221 Rüthers, JZ 2008, 446, 447 f. 222 Hirsch, ZRP 2006, 161. 223 Vgl. Hirsch, JZ 2007, 853 ff.; ders., ZRP 2006, 161. 224 Vgl. nur Hassemer, RTh 39 (2008), 1 ff.; ders., ZRP 2007, 213 ff.; Kriele, ZRP 2008, 51 ff.; Foerste, JZ 2007, 122 ff.; Simon, JZ 2011, 697 ff.; Schwöbbermeyer, ZRP 2007, 66; Wenzel, NJW 2008, 345 ff.

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Kapitel 2: Methodik der evolutionären Rechtsprechungsanalyse

darin kann auch – Stichwort: Wende zum Privatrecht – ein Freiheitsgewinn gesehen werden. Zumindest für die Deregulierung verfolgt der Gesetzgeber gerade auch dieses Ziel. Abgemildert wird die Dramatik des Vorwurfs auch durch das Prinzip der Regulierungsbegrenzung durch Einzelfallentscheidung. Zwar können Gerichtsurteile, wie gesehen, große Wirkungen entfalten, doch wird letztlich immer nur ein einzelner Fall entschieden. Die über den Fall hinausreichenden Wirkungen unterliegen einer besonderen Dynamik: Fehlentwicklungen können schon mit dem nächsten zu Gericht gebrachten Fall wieder korrigiert werden. Als Institutionen sind Urteile eben erheblich instabiler als Gesetze. Diese Dynamik, die sich bei evolutionärer Betrachtung aufdrängt, scheint in der Debatte selten auf. Hirsch ist entgegenzuhalten, dass die Selbstgewissheit, die im Bild vom virtuosen Pianisten steckt, mit einem evolutionären Rechtsverständnis nicht vereinbar ist. Richter (möglicherweise selbst BGH-Richter) müssten sich immer wieder als Lernende begreifen, als Klavierschüler gewissermaßen. Denn mit jedem Fall (und insbesondere jedem „new case“) stehen sie wieder vor Wissensproblemen, deren Lösungen sich nur in einem Entdeckungsverfahren annäherungsweise finden lassen, in dem Richter mit eingeschränkter Rationalität agieren. Soweit es um die Ausfüllung des Gestaltungsspielraums geht, also die Entscheidungen innerhalb des Entdeckungsverfahrens, wirft Rüthers der Justiz eine Entfernung vom Gesetz und vom anerkannten Methodenkanon vor. Die verfassungsrechtliche Auslegungsfrage zur Bindung an das Gesetz wäre im jeweiligen Einzelfall nach evolutionärer Rechtstheorie wohl nicht anders zu beurteilen als mit Rüthers’ Maßstäben. Doch schon die Fragen nach dem Auslegungskanon der Methodenlehre zeigt auf, welchen Beitrag die evolutionäre Rechtslehre hier leisten würde. Der Methodenkanon ist ja keine gesetzgeberisch legitimierte und dadurch zwingend zu beachtende Institution, sondern eine solche, die sich im Lauf der Zeit aus verschiedenen Einflüssen heraus zu einer besonders stabilen Struktur verfestigt hat. Sie prägt damit Erwartungen, doch ist sie auf anderer Ebene angreifbarer als eine gesetzliche Vorgabe. Es handelt sich um einen dogmatischen Einfluss, eine Institution, aber diese steht in Konkurrenz zu anderen Einflüssen und Strukturen. Wenn die Justiz öfter, wie von Rüthers angenommen, von diesem Pfad abweicht, dann sind offenbar andere Anreize stärker geworden. Die evolutionäre Rechtslehre könnte hier im jeweiligen Einzelfall untersuchen, welcher Stellenwert welcher Struktur in der Praxis zukommt und wie sie von den beschränkt rationalen Akteuren wahrgenommen und verarbeitet wird. Die Debatte zwischen Rüthers und den übrigen Autoren ist dabei selbst Teil der Neukonfiguration, trägt doch die Rechtstheorie mit ihren Versuchen, zu systematisieren oder gar zu kanonisieren selbst dazu bei, Erwartungen der Rechtsuchenden zu wecken und zu strukturieren. Je engagierter diese Debatte geführt wird (und zumindest am Engagement besteht in dieser Kontroverse kein Mangel), desto stärker sind

C. Methodische Anknüpfungspunkte

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rechtliche Paradigmen offenbar in Umbruch geraten. Widersprüche zwischen klassischer Auffassung und neuen Erwartungen und Sachverhalten fordern die Strukturen heraus. Damit steht möglicherweise sogar ein neues Ordnungsmodell zur Diskussion – und genau das deutet Rüthers ja an, wenn er die Gewaltenteilung in der Gesellschaft als bedroht ansieht. Würde man die normative Diskussion auf derartigen Beobachtungen von sich wandelnden Institutionen und Akteuren mit unterschiedlichen Erwartungen und Bindungen aufbauen, ließe sich ein wesentlich komplexeres Bild von Rechtsprechung gewinnen. Aus evolutionärer Sicht aber ist die Debatte zwischen großen Gelehrten des Rechts ein Musterbeispiel für eine Debatte über das zentrale Thema des rechtlichen Wandels, dessen Teil diese Debatte selbst ist.

Kapitel 3

Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung Nachdem in Kapitel 2 eine Methodik entwickelt wurde, um die Funktionsweise der Rechtsprechung herauszuarbeiten, ist die Frage noch ungeklärt, nach welchen Maßstäben die Tätigkeit der Zivilgerichte zu beurteilen ist. Neben die Analyse der zivilgerichtlichen Rechtsprechung (Forschungsfrage 1 dieser Schrift) soll deren Bewertung treten (Forschungsfrage 2), damit erkennbar wird, ob die Wende zum Privatrecht zum normativen Programm erhoben werden kann. In diesem Kapitel wird ein Modell der Bewertung der gerichtlichen Tätigkeit entwickelt, das an einer vierfachen Legitimation der Zivilrechtsprechung anknüpft. Zunächst wird als Untersuchungsgegenstand das gerichtliche Urteil festgelegt. Vorhandene Ansätze für Bewertungen werden in der Rechtstheorie und in der Prozesszwecklehre verortet. Das hier verwendete Modell knüpft multiperspektivisch an der Legitimation der Zivilrechtsprechung an (A). Detailliert erörtert wird zunächst die funktionale Legitimation von Urteilen, die sich insbesondere aus der Lösung von Konflikten der Parteien und der gesellschaftlichen Befriedung speist (B). Die materielle Legitimation von Urteilen folgt aus den Parteierwartungen an das Leitbild des Privatrechts und aus dem Schutz systemrelevanter Grundlagen der Privatrechtsordnung (C). Zu fragen ist, ob neuere Entwicklungen die Legitimation von Urteilen verschoben haben (D). Eine Zusammenfassung, in der überblicksartig die Bewertungskriterien für Urteile dargestellt werden, beschließt das Kapitel (E).

A. Kriterien guter Rechtsprechung In der Analyse von Wirtschaftsordnungen wurde als wesentliches Charakteristikum das Kriterium der Entscheidungskompetenz herausgestellt. In einer Marktwirtschaft entscheiden die Marktteilnehmer so autonom wie möglich über die Koordination ihrer Interessen. Derselbe Topos – dezentrale Entscheidungskompetenzen von Akteuren – lässt sich für die institutionell verfasste Struktur der Wirtschaftsordnung fruchtbar machen: Durch welche Institutionen, auf welcher Ebene wird hoheitliche Gewalt ausgeübt? Welche Spielräume sind vorhanden? Werden Entscheidungen dezentral gefällt oder zentralisiert? Mit der Wende zum Privatrecht haben sich die Gewichte institutionell verschoben. Die Zivilgerichte sind in Schlüsselfunktionen für die Prägung der

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Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

Wirtschaftsordnung gerückt. Es sind immer seltener Wirtschaftsaufsichtsbehörden, die als staatliche Institutionen wirtschaftliche Sachverhalte regeln, dafür aber immer häufiger Zivilgerichte, die auf Antrag der Parteien Entscheidungen treffen, die wiederum Grenzen und Anreize für die wirtschaftlichen Aktivitäten der Marktteilnehmer setzen. Ihrer Hoheit sind verstärkt Entscheidungen zugewiesen, die zuvor nicht zu treffen waren oder die zuvor von Behörden getroffen wurden, die in eine Hierarchie staatlicher Lenkung eingebunden waren. Die Stärkung des Privatrechts führt naturgemäß auch zu einer Stärkung der Instanzen, die zu dessen Durchsetzung berufen sind. Mit der Wende zum Privatrecht geht also ein Übergang von Entscheidungskompetenzen von der Exekutive auf die Judikative und von zentralen Instanzen auf dezentrale Instanzen einher. Der bisherige Wert zivilgerichtlicher Konfliktlösung wird durch den Rückzug anderer hoheitlich handelnder Instanzen gesteigert, da kaum andere hoheitliche Bewertungen von deregulierten Sachverhalten vorliegen und Korrekturen der von der Rechtsprechung gesetzten Leitlinien schwieriger durchzusetzen sind. Zivilgerichte sind damit in einer privatrechtlich verfassten Wirtschaftsordnung wesentliche Entscheidungsträger. Das Bewusstsein dafür ist weder bei Gerichten noch in der Literatur bislang besonders ausgeprägt. In Lehrbüchern, die sich mit der Wirtschaftsordnung befassen, fehlen Gerichte häufig als wirtschaftsordnende Institutionen. Will man diesem Defizit abhelfen, ist ein methodisches Raster erforderlich, um Rechtsprechung als Element der Wirtschaftsordnung zu erfassen. Dieses wurde in Kapitel 2 entwickelt. Die Folgefrage ist, wie die Tätigkeit der Gerichte zu bewerten ist.

I. Ansätze zur Urteilskritik Gegenstand der Analyse sind in dieser Studie Urteile von Zivilgerichten. Dieser Ansatzpunkt bildet das Spektrum gerichtlicher Tätigkeit nicht umfassend, aber zielführend ab. Ansätze zu einer systematischen Methodik der qualitativen Urteilsanalyse bestehen in Praxis und Wissenschaft trotz der überragenden Rolle von Urteilen für die Konkretisierung des Rechts kaum.

1. Das Urteil im Zivilprozess Gerichte sprechen Urteile. Das ist ihre eigentliche und vornehmste Aufgabe. Zur Bewertung der wirtschaftsordnenden Kraft von Zivilgerichten wird daher dieser besonders greifbare Ertrag zivilgerichtlicher Tätigkeit in wirtschaftsrechtlichen Fragen erfasst und analysiert.

A. Kriterien guter Rechtsprechung

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a) Das Urteil zwischen Hoheitsgewalt und Parteibindung Das Urteil in einem zivilgerichtlichen Verfahren ist eine Institution der Rechtsordnung, nämlich eine Entscheidung der rechtsprechenden Gewalt, die von Gerichten ausgeübt wird, mit der ein entscheidungsreifer Rechtsstreit in der jeweiligen Instanz abgeschlossen wird.1 Der Zivilprozess hat einen Konflikt zum Gegenstand, der von den Parteien zur Lösung an das Gericht herangetragen wird. Das zivilprozessuale Urteil ist im 2. Titel der ZPO (§§ 300 ff. ZPO) geregelt. Der Gesetzgeber trifft in diesem Teil der ZPO im Wesentlichen Regelungen zu den folgenden Aspekten: verschiedene Arten von Urteilen (End-, Teil-, Vorbehalts- und Zwischenurteil), Verzicht und Anerkenntnis, die Bindung im zivilprozessualen Urteil an die Anträge der Parteien (§ 308), die Form des Urteils (§ 313) und seine Verkündung (§ 311), Möglichkeiten der Korrektur von Urteilen und die Wirkungen des Urteils (§§ 322, 325). Grundlegende Ausführungen des Gesetzgebers zum Telos des Urteils als Institution scheinen zu fehlen, sodass sich aus dem Gesetz ein Maßstab der Bewertung schwerlich konstruieren lässt. Doch geben auch die Normen in §§ 300 ff. ZPO erste Ansätze preis. Zunächst ist festzuhalten, dass es sich beim Urteil um einen besonderen hoheitlichen Akt und um eine Institution im Sinne der Institutionenökonomik handelt. Die besondere Bedeutung eines Entscheidungsspruchs in Urteilsform erwächst aus den Wirkungen, die dem Urteil gesetzlich zugewiesen sind. Schon die ZPO benennt insbesondere die Bindungswirkung für das Gericht (§ 318) sowie die materielle Rechtskraft (§ 322) und die subjektive Rechtskraft für die Parteien (§ 325). Das in materielle Rechtskraft erwachsene Urteil bindet somit alle Beteiligten und stellt eine gültige, nicht ohne weiteres zu widerrufende Lösung der Ausgangsfrage dar. Die entgegenstehende Rechtskraft ist als negative Prozessvoraussetzung ein von Amts wegen zu berücksichtigender Einwand2 und verhindert die erneute Befassung eines Gerichts mit dem Streitgegenstand (also dem zugrundeliegenden Lebenssachverhalt und dem klägerischen Antrag3), sodass das Urteil auch aus seiner Endgültigkeit eine besondere Bedeutung ziehen kann. Die Verknüpfung dieser Postulate mit der tatsächlichen staatlichen Gewalt findet über § 704 ZPO statt, der die Durchsetzung des materiellen Anspruchs im Wege der Zwangsvollstreckung aus dem Endurteil ermöglicht, soweit dies erforderlich ist (und nicht bereits im Urteil selbst die Durchsetzung liegt, wie etwa bei Gestaltungsurteilen).4 Durch die staatlich ermöglichte Zwangsmaß1

Vgl. Musielak in: Musielak, ZPO Kommentar, 2012, § 300 Rn. 1. Vgl. Musielak in: Musielak, ZPO Kommentar, 2012, § 322 Rn. 9. 3 So die h.M. zum Streitgegenstandsbegriff, siehe Musielak in: Musielak, ZPO Kommentar, 2012, Einl. Rn. 69 ff. 4 Vgl. Krüger in: MüKo-ZPO, 2007, § 704 Rn. 1. 2

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Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

nahme der Vollstreckung eines Leistungsurteils aus dem Titel lässt sich das Wort in eine Tat umsetzen – der Richterspruch entfaltet seine lebenstatsächliche Geltung. Die aufwändigen Regelungen und Formalitäten, die etwa der Berichtigung, Ergänzung und Abänderung von Urteilen gelten (z.B. §§ 319, 320, 321, 323 ZPO), zeigen auf, dass es sich bei Urteilen um Dokumente besonderen Werts handelt. Neben diese Hinweise auf die grundsätzliche Kraft des Urteils tritt eine zweite Art von Regelungen, die die Einbindung des Urteils in den gerichtsbehördlichen Aufbau markieren: Gerade in neueren Regelungen hat der Gesetzgeber die pragmatische Organisation des Rechtsprechungswesens in den Vordergrund gerückt, etwa wenn in § 313a ZPO die Möglichkeit geschaffen wird, dass die Darstellung von Tatbestand und Entscheidungsgründen im Urteil entfallen kann – eine den Richtern willkommene Arbeitsentlastung. So lässt der Gesetzgeber nicht aus dem Blick, dass die Urteilsfindung effizient vonstattengehen muss. Aber selbst in diesen eher organisatorischen Aspekten werden einem effizienten Pragmatismus sichtbare Grenzen gesetzt. Diese aus staatlich-institutioneller Eigenrationalität entspringenden Aspekte der Hoheitlichkeit des Urteils und der effizienten Verfahrensorganisation treffen in der ZPO auf ein zweites, durchgehendes Regelungsmotiv, das eine Dualität des Zivilverfahrensrechts erkennen lässt, die für die gesamte Zivilrechtsprechung kennzeichnend ist: die Dualität von staatlicher Gewalt und Parteibindung. Die Parteien, das heißt die zivilen Personen, die ihre Ansprüche gegeneinander geltend machen, haben im Zivilprozess eine Schlüsselrolle inne, die so weit geht, dass ein Vorgehen ohne ihre Mitwirkung – anders als im Verwaltungs- oder Strafprozess – nicht denkbar ist. Selbst im Stadium der Zwangsvollstreckung, dem vehementesten hoheitlichen Akt, ist die Parteienherrschaft tragend, da eine Zwangsvollstreckung nicht stattfindet, soweit nicht ein Antrag des Gläubigers auf Vollstreckung vorliegt.5 Die Dispositionsmaxime, die ihm stets die Verfügung über den Streitgegenstand einräumt, wirkt somit auch im Durchsetzungsstadium und macht die Wirkung staatlicher Gewalt von der Zustimmung einer individuellen Partei abhängig. Ohne den Antrag der obsiegenden Partei wird der Richterspruch nicht bzw. nicht zwangsweise in die Tat umgesetzt. Der Partei steht es frei, sich mit der unterliegenden Partei zu einigen oder die Leistung doch nicht einzufordern; sie bestimmt das Streitprogramm. Die große Macht des Urteilsspruchs wird damit wieder eingehegt durch den auslösenden Moment des Parteiantrags. Die Dualität von Hoheitsgewalt und Parteibindung, die der Gesetzgeber im System des Zivilprozesses fein austariert hat, manifestiert sich auch in §§ 300 ff. ZPO. So ist in § 311 Abs. 1 ZPO festgelegt, dass das Urteil „im Namen des Volkes“ ergeht. Richter sprechen als Vertreter des Volkes, also jener 5

Vgl. Kindl/Meller-Hannich/Wolf, Gesamtes Recht der Zwangsvollstreckung, 2010, § 704 Rn. 5.

A. Kriterien guter Rechtsprechung

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Personen, die in ihrer Gemeinschaft den Staat bilden. Damit schreibt der Gesetzgeber der rechtsprechenden Gewalt eine Autorität zu, die nicht an die Weisheit oder Autorität des jeweiligen Spruchkörpers gebunden wird, sondern aufgeladen wird durch eine institutionelle Repräsentanz staatlicher Legitimation.6 Anerkannt wird damit auch, dass der Urteilsspruch nicht auf Wissen und Gewissen der Richter beruht, sondern Ausdruck eines staatlichen Ordnungsanspruchs ist, der „im Namen des Volkes“ bestimmten Personen zur Ausübung übertragen ist. § 311 Abs. 1 ZPO bringt so den in Art. 20 Abs. 2 GG enthaltenen Fundamentalanspruch zum Ausdruck, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht.7 Das Urteil im Zivilprozess ist somit nicht nur formal-verwaltungsrechtlich ein Akt staatlicher Gewalt, sondern bereits in seinem Geltungsgrund. Zugleich relativiert der Gesetzgeber diesen großen Anspruch erheblich, indem die Gerichte an die Anträge der Parteien gebunden sind (§ 308 ZPO) und die Parteien stets das Recht haben, den Rechtsstreit, etwa durch Klagerücknahme mit Zustimmung des Beklagten, vorzeitig zu beenden.8 Der Parteiwille setzt sich insofern gegen einen theoretisch denkbaren Entscheidungsanspruch des Staates durch – Ausfluss der Stellung der Privatautonomie im Zivilrecht.9 So können sich Parteien noch während des Gerichtsverfahrens entscheiden, auf eine gerichtliche Klärung zu verzichten, wenn sie den Eindruck gewinnen, dass sich ihre Ordnungsvorstellungen bezüglich ihrer privaten Verhältnisse von denjenigen des Gerichts unterscheiden. Der Staat wird folglich durch die Möglichkeiten von Klagerücknahme und Antragsbindung diszipliniert. Seine Ordnungsvorstellungen kann er nicht autonom durchsetzen. Die Dispositionsmaxime unterscheidet den Zivilprozess damit grundlegend von den Ordnungsmöglichkeiten, die dem Staat im Strafprozess und im Verwaltungsprozess zustehen, in denen er jeweils selbst Partei ist, sei es in Form der staatlichen Strafanklagebehörde oder in Form einer anderen Verwaltungsbehörde. In die Hände der Parteien, im Wirtschaftsleben: der Marktteilnehmer, ist es gelegt, welche Streitigkeiten sie überhaupt als solche ansehen, die einer staatlichen Intervention bedürfen. Und darüber hinaus ist es sogar in die Hände der Parteien gelegt, wenn sie sich für eine gerichtliche Konfliktlösung entschieden haben, welche Art von Konfliktlösung sie zu akzeptieren bereit sind: nur die Anträge der Parteien können in Urteilsformeln erwachsen.10 Wenn auch in der Begründung gemäß der Vorstellung des „iura novit curia“ (vgl. § 138 ZPO) das Gericht die staatlichen Ordnungsvorstellungen beachtet und selbst findet, unabhängig vom Parteivortrag, so ist doch im entscheidenden Teil der Eingriff 6

Vgl. Herzog/Grzeszick in: Maunz/Dürig/Herzog, GG Kommentar, 2010, Art. 20 Rn. 107. Vgl. Rensen in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 2007, § 311 Rn. 1; Musielak in: Musielak, ZPO Kommentar, 2012, § 311 Rn. 1. 8 Vgl. Foerste in: Musielak, ZPO Kommentar, 2012, § 269 Rn. 1. 9 Vgl. Rauscher in: MüKo-ZPO, 2008, Einl. Rn. 274. 10 Vgl. Rauscher in: MüKo-ZPO, 2008, Einl. Rn. 280. 7

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Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

in die Sphäre der Parteien begrenzt durch die Anträge. Das Urteil ist, wie es bei Gottwald heißt, „Antwort auf die Klage“11. So stellt sich das Urteil im Zivilprozess sowohl auf der Ebene des Erkenntnisverfahrens als auch im Vollstreckungsverfahren als ein staatliches Instrument dar, das ganz im Dienste der Parteien steht: Mögen Begründung und Durchsetzung des Urteils auch Ausdruck staatlicher Rechts- und Durchsetzungsvorstellungen sein, so sind sie doch abhängig von Akzeptanz und Rahmensetzung durch die klagende – und in gewisser Weise auch die beklagte – Partei.12 b) Alternativen der Streitschlichtung Das Erstreben eines Urteils ist nur eine Art, einen privatrechtlichen Konflikt zu lösen. Alternative Streitschlichtungsmodelle haben in den vergangenen Jahren massiv an Bedeutung gewonnen.13 Sie stellen mittlerweile echte, gleichrangige und gesetzgeberisch anerkannte Möglichkeiten für die Parteien dar. Diese Entwicklung hat Bedeutung für die Kriterien guter Rechtsprechung. Als primäre Alternative zur gerichtlichen Konfliktentscheidung durch Urteil ist der Verzicht auf Rechtsdurchsetzung zu nennen. Eine Person kann sich dafür entscheiden, das subjektiv empfundene Unrecht fortbestehen zu lassen. Für diesen Verzicht auf Rechtsdurchsetzung gibt es unterschiedliche Gründe, bestimmend dürfte aber immer ein negatives Abwägungsergebnis zwischen Nutzen und Lasten der Rechtsverfolgung sein.14 In andauernden Geschäftsbeziehungen kann es sich als inopportun erweisen, das geschäftliche Klima durch formales Austragen eines Rechtsstreits zu belasten. Wer auch in den nächsten Wochen und Monaten noch Geschäfte mit seinem Geschäftspartner machen will, nimmt von einer gerichtlichen Rechtsverfolgung möglicherweise Abstand, selbst wenn gute Chancen bestünden, einen Anspruch durchzusetzen. Bei einer solchen Entscheidung, den potentiellen Beklagten zu schonen, können Ungleichgewichte in der Geschäftsbeziehung eine Rolle spielen, etwa wenn ein Zulieferbetrieb von einem Abnehmer abhängig ist. Die Rechtsdurchsetzung kann sich in einer Abwägung auch dann als problematisch darstellen, wenn es keine derartige Bindung zum Geschäftspartner gibt. Zu ermessen sind die Erfolgsaussichten einer Klage, die mit den Kosten ins Verhältnis zu setzen sind. Daraus ergibt sich, ob eine Klageerhebung effizient ist. Wenn es nur um kleinere Forderungen geht, erweist sich das Gerichtsverfahren selbst bei guten Erfolgsaussichten oft als zu teuer und aufwändig. Dies gilt insbesondere für potentielle Kläger, die keine Rechtsschutzversicherung und keine eigene Stelle zur Verfolgung von kleineren Streitigkeiten haben. Je unsi11 12 13 14

Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 2010, § 88 Rn. 8. Vgl. Musielak in: MüKo-ZPO, 2008, § 308 Rn. 1. Vgl. Ritter, NJW 2001, 3440, 3441. Vgl. Eidenmüller, ZZP 113 (2000), 5 ff.

A. Kriterien guter Rechtsprechung

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cherer die Erfolgsaussichten und je höher die Kosten (etwa hinsichtlich des eigenen Ermittlungsaufwands und bezüglich der vorzuschießenden Gerichtskosten) werden, desto eher wird auf eine Rechtsdurchsetzung verzichtet. Der Verzicht auf die Durchsetzung des Rechts ist für die staatliche Gemeinschaft hinzunehmen. Es handelt sich um eine privatautonome Entscheidung, ob eine Rechtswidrigkeit, die in erster Linie eine Privatperson betrifft, von dieser remediert wird. Die Fortdauer eines (möglicherweise) rechtswidrigen Zustands ist der Preis der Freiheit. Hier verläuft die Grenze zu den Materien, die der Staat als regelungsbedürftig ansieht und entsprechend in den Vorschriften des öffentlichen Rechts mit seinen Ordnungsvorstellungen geregelt hat. Nur hingewiesen werden kann an dieser Stelle darauf, dass den Staat eine Verantwortung trifft, den Justizgewährungsanspruch aus Art. 2 Abs. 1 und 20 Abs. 3 GG so auszugestalten, dass die Rechtsverfolgung grundsätzlich attraktiv bleibt.15 Resultiert der Verzicht auf Rechtsdurchsetzung in der Abwägung im Wesentlichen darauf, dass die Rechtsdurchsetzung institutionell zu teuer oder ineffizient ist, wäre dies ein Abwägungsgesichtspunkt, der nur schwerlich akzeptabel wäre. Forschungen zu den „optimalen“ Kosten der Rechtsdurchsetzung ergeben, dass der Staat die Anreize für eine gerichtliche Rechtsverfolgung so setzen muss, dass einerseits „querulatorische“, unsinnige und aussichtslose Klagen nicht erhoben werden, andererseits aber auch jeder Kläger die Möglichkeit erhält, berechtigte Ansprüche mit Hilfe der Justiz durchzusetzen. Die Balance zwischen diesen beiden Polen zu finden, ist ständige Aufgabe der Rechtspolitik unter Berücksichtigung der verfassungsrichterlichen Vorgaben.16 Nach Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens gibt es immer noch Lösungsmöglichkeiten, um ein streitentscheidendes Endurteil zu vermeiden. Diese reichen von Anerkenntnis und Verzicht (die auch in Urteilsform ergehen, vgl. §§ 306, 307 ZPO) über die Klagerücknahme (§ 269 ZPO) bis zum Vergleich. Der Vergleich (§ 278 ZPO), also die Streitbeilegung unter Vermittlung des Gerichts,17 spielt in der Praxis eine erhebliche Rolle. Ausschlaggebend dafür sind vor allem prozessökonomische Gründe: Für Parteien ist das Durchstehen eines langwierigen Prozesses mühsam und aufwändig, aber auch für Gerichte sind die Anreize derart gesetzt, dass aus Gründen der Arbeitsbelastung ein Vergleich stets der Abfassung eines Urteils vorzuziehen ist. Der Vergleich, der auch Vollstreckungstitel ist (§ 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO), ist mit Vorteilen wie denen aus §§ 98, 161 Abs. 1 Nr. 2 oder 251 verbunden, der Richter spart sich das Verfassen eines Urteils,18 und auch die bei streitiger Entschei15 St. Rspr., vgl. BVerfG, 25.7.2005, Az. 1 BvR 2419/03 und 2420/03, WM 2005, 2014, Rz. 9 m.w.N. 16 Zu ökonomischen Aspekten siehe Miceli in: Elgar Companion to Law and Economics, 2005, S. 393 ff. 17 Vgl. Prütting in: MüKo-ZPO, 2008, § 278 Rn. 1.

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Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

dung drohende Anrufung der nächsten Instanz ist ausgeschlossen. Das Vordringen des Vergleichs in der täglichen Praxis geht teilweise so weit, dass Richter sich ihrer Vergleichsquote rühmen und Parteien immer stärker drängen, in einen Vergleich einzuwilligen.19 So willkommen die gütliche Einigung der Streitenden ist, so problematisch ist es, wenn Vergleiche vorwiegend getrieben sind von Motiven, die nichts mehr mit den Prozesszwecken zu tun haben. Hier droht die Inkaufnahme von Einbußen der Rechtsdurchsetzung bis hin zur am Horizont aufscheinenden Justizverweigerung. Zu konstatieren ist aber, dass der gerichtliche ebenso wie der außergerichtliche Vergleich verbreitete Alternativen zum Urteil darstellen. Während der Vergleich noch im gerichtlichen Forum stattfindet, suchen Parteien zunehmend nach formalen Streitschlichtungsforen außerhalb der gerichtlichen Arena.20 Die außergerichtliche Streitbeilegung hat dabei neben der Mediation in verschiedenen Formen der sog. „Alternative Dispute Resolution“ im wirtschaftlichen Bereich besondere Bedeutung erlangt. Das Spektrum reicht von Ombudsleuten, die sich um Beschwerden kümmern, wie etwa im Versicherungssektor, über Schlichtungsstellen der Kaufmannschaft bis zu internationalen Schiedsverfahren. Diese Formen der Streitschlichtung sind vom Gesetzgeber durchweg anerkannt. Besonders deutlich wird dies durch das 2011 verabschiedete Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Formen außergerichtlicher Konfliktbeilegung21. Die Mediation stellt gemäß § 1 des Mediationsgesetzes „ein vertrauliches und strukturiertes Verfahren“ dar, „bei dem Parteien mit Hilfe eines oder mehrerer Mediatoren freiwillig und eigenverantwortlich eine einvernehmliche Beilegung ihres Konflikts anstreben“. Zwar hat der Gesetzgeber seinen ursprünglichen Plan, aus der Mediation eine eigenständige Vollstreckung zu ermöglichen, im letzten Moment aufgegeben, aber auch so kann das Ergebnis einer Mediation gemäß § 794 Abs. 1 Nr. 5 oder § 796a ZPO mit staatlichem Durchsetzungsanspruch versehen werden.22 Auf die Mediation wird aber auch außerhalb des Mediationsgesetzes, so etwa in § 124 TKG, Bezug genommen. Sie ist etabliertes Element der Konfliktlösung. Schlichtungsverfahren sind außergerichtliche Streitbeilegungsverfahren, die Konflikte einer unbürokratischen und raschen Lösung zuführen sollen. Gelegentlich sind sie gerichtlichen Verfahren vorgeschaltet (vgl. etwa das BaySchlG). Zu den Schlichtungsverfahren gehören auch die sog. OmbudsmannVerfahren, von denen beispielhaft der als Schlichtungsstelle anerkannte Versicherungsombudsmann (§ 214 VVG) genannt werden kann. Er entscheidet in 18

Vgl. Foerste in: Musielak, ZPO Kommentar, 2012, § 278 Rn. 18. Kritisch Sodan in: Isensee/Kirchhof, HStR V, 2007, § 113 Rn. 56 mit dem Hinweis, die Aufgabe der Justiz sei, Recht zu sprechen. 20 Vgl. Junker/Kamanabrou, Vertragsgestaltung, 2010, § 1 Rn. 42. 21 Vgl. die Materialien zur Gesetzgebung, BT-Drucks. 17/5335, 17/5496 und 17/8058. 22 Vgl. BT-Drucks. 17/5335, S. 21. 19

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versicherungsvertraglichen Streitigkeiten zwischen Versicherung und Versicherungsnehmer. Als Gütestelle kann der Ombudsmann Vorverfahren im Sinne des § 15a EGZPO durchführen. Die EU-Kommission, die die außergerichtliche Streitbeilegung fördert, hat Empfehlungen zu Grundsätzen solcher Schlichtungsstellen ausgesprochen.23 Die Verabschiedung einer Richtlinie zur außergerichtlichen Streitbeilegung für Verbraucher ist seit einiger Zeit in der rechtspolitischen Diskussion.24 Der Ombudsmann gilt als neutraler Vermittler zwischen Versicherungen und deren Kunden und hat eine eigene Entscheidungsgewalt bis zu 10 000 Euro, sodass Beschwerden von Kunden, die sich finanziell in einem derartigen Rahmen bewegen, durch den Ombudsmann abgewickelt werden können, ohne dass in ein streitiges Verfahren eingetreten werden muss. Der Ombudsmann arbeitet auf Basis einer eigenen Verfahrensordnung.25 Die Unternehmen, welche sich der Ombudsstelle verpflichtet haben, müssen sich dem Schlichtungsverfahren stellen, während der Kunde wahlweise auch ein ordentliches Gericht anrufen kann. Auch in anderen Branchen hat sich das Schlichtungswesen entwickelt.26 Schiedsverfahren sind durchaus gerichtsähnlich, da sie in einem geordneten Verfahren ablaufen und sich auf die Sachkunde und Entscheidung eines unabhängigen Dritten verlassen. Die Parteien gehen bei Abschluss einer Schiedsvereinbarung in der Regel aber davon aus, dass ein Schiedsverfahren effizienter, geräuschloser und wirtschaftlich sinnvoller abgeschlossen werden als ein öffentliches Gerichtsverfahren vor einem ordentlichen Gericht. Die Internationale Handelskammer, ein Anbieter privater Schiedsverfahren, schreibt dementsprechend: „Die Vorteile gegenüber einem staatlichen Gerichtsverfahren sind Schnelligkeit, Flexibilität, Kosteneffizienz, Vertraulichkeit, hohe Qualität, Vollstreckbarkeit.“27

Der Gesetzgeber hat in §§ 1025 ff. ZPO das Schiedsverfahren anerkannt, einschließlich der Möglichkeit zur Vollstreckung von Schiedssprüchen, und diese Form der privaten Streitbeilegung somit in das zivilrechtliche System eingeordnet. Ablauf und Formen der außergerichtlichen Streitbeilegung sind vielfältig – hier regiert eben grundsätzlich die Privatautonomie der Parteien, die sich auch auf den Bereich der Konfliktlösung erstreckt. 23 KOM, 30.3.1998, Empfehlung „Grundsätze für Einrichtungen, die für die außergerichtliche Beilegung von Verbraucherrechtsstreitigkeiten zuständig sind“, 98/257/EG, ABl. Nr. L 115, 17.4.1998, S. 31 ff. 24 KOM, 29.11.2011, Mitteilung „Alternative Verfahren zur Beilegung von Verbraucherstreitigkeiten im Binnenmarkt“, KOM(2011) 791 endg.; dazu Isermann/Berlin, VuR 2012, 47, 50 ff. 25 Siehe http://www.versicherungsombudsmann.de/Navigationsbaum/Verfahrensordnung. html. 26 Zur Schlichtung in der Energiewirtschaft siehe Kapitel 4 D.I.1 sowie Kapitel 5 B.I.3. 27 ICC, siehe http://www.icc-deutschland.de/icc-regeln-und-richtlinien/icc-regeln-zurstreitbeilegung-mediation-guetliche-einigung-schiedsgerichtsbarkeit.html.

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Die hier dargestellten Alternativen zur gerichtlichen Konfliktlösung haben für das Thema der Kriterien guter Rechtsprechung eine zweifache Relevanz: Zum einen handelt es sich um gleichwertige Alternativen zur gerichtlichen Konfliktlösung. Dies verdeutlicht der Gesetzgeber durch seine Bezugnahme und Anerkennung, ja, Förderung dieser Formen der Streitbeilegung. Folglich handelt es sich nicht um zweitrangige oder untergeordnete Formen der Konfliktlösung, sondern um solche, die gleichrangig zur gerichtlichen Entscheidung stehen, aber in privaten Foren passieren. Dies ist konsequent, da der Gesetzgeber damit anerkennt, dass die Konfliktbereinigung ebenso wie die Anspruchsbegründung im Zivilrecht vom Prinzip der Privatautonomie geformt wird: Es ist Sache der Parteien, wie sie ihre Auseinandersetzungen lösen. Hier zeichnet sich folglich bereits ab, dass die Legitimation des staatlichen Verfahrens gerade aus der Entscheidung der Parteien folgt, diese in Anspruch zu nehmen. Zum anderen liegt die Signifikanz darin, dass die Wahl alternativer Streitbeilegungsformen eine Entscheidung gegen das gerichtliche Streitbeilegungsverfahren darstellt. Die Scheu vor dem Zivilprozess ist Indiz für die Probleme, mit der die Rechtsprechung aus Sicht der Parteien zu kämpfen hat.28 Unverhohlen heißt es auf der Website des Versicherungsombudsmanns: „Die deutschen Versicherer verfolgen mit der Schlichtungsstelle zwei Ziele. Das sind zum einen der Verbraucherschutz und zum anderen das Bemühen, Meinungsverschiedenheiten mit ihren Kunden möglichst nicht vor Gericht auszutragen.“29

Die von der Internationalen Handelskammer betonten Vorteile des Schiedsverfahrens weisen in eine ähnliche Richtung: es geht gerade darum, Kosten, Ineffizienzen, Unberechenbarkeit, Dauer und Öffentlichkeit des gerichtlichen Verfahrens zu vermeiden. Damit werden Schwachpunkte des gerichtlichen Verfahrens benannt, die Aufschluss über Qualitätskriterien geben können, um die es in diesem Kapitel geht. Die Beurteilung von Urteilen kann also auch vor der Folie erfolgen, inwiefern es in Formen der alternativen Streitbeilegung bereits zu Verbesserungen gekommen ist. Dies heißt nicht zwingend, dass alle Maßnahmen positiv zu bewerten sind, die in alternativen Streitbeilegungsforen verfolgt werden. Doch die Flucht vor dem Urteil, sei es in den Verzicht auf Rechtsdurchsetzung, in den Vergleich oder in alternative Konfliktlösungsmechanismen, steht eben auch für ein Scheitern der Gerichte in der ihnen ursprünglich zugewiesenen Aufgabe und für einen neu entfachten Wettbewerb.30 Dieser Wettbewerb der Konfliktlösungsmechanismen hat innovative Lösungen hervorgebracht, von denen der ehemalige Marktbeherrscher, der „Incumbent“ – wenn man die Zivilgerichtsbarkeit einmal so bezeichnen will – lernen 28

Vgl. Ritter, NJW 2001, 3440, 3443. Vgl. http://www.versicherungsombudsmann.de/Navigationsbaum/WirUeberUns/AufgabenUndZweck/index.html. 30 Vgl. Ritter, NJW 2001, 3440, 3446. 29

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kann. Nur am Rande sei bemerkt, dass dieser Wettbewerb inzwischen – aufgrund der weitgehenden Möglichkeiten, die im Internationalen Privatrecht geschaffen wurden – auch ein Wettbewerb der nationalen EU-Rechtsordnungen untereinander geworden ist (Stichwort: „forum shopping“).31 c) Rechtsdogmatische Legitimation der Urteilsanalyse Angesichts der sinkenden Bedeutung gerichtlicher Streitentscheidung stellt sich die methodische Frage nach der Legitimation einer Urteilsanalyse für rechtsdogmatische und rechtspolitische Zwecke. Ergibt es überhaupt noch Sinn, Urteile und ihre Qualität zu erörtern oder wird der Blick damit nicht unzulässig auf eine spezielle Form der Konfliktlösung in der Gesellschaft, aber eben eine unter vielen, verengt? Zunächst ist festzuhalten, dass schon die Befassung mit Urteilen angesichts der Bedeutung dieser Streitentscheidungsform relevant bleibt. Jedes Urteil für sich genommen ist Ausdruck einer individuellen Beschwer, die für die Betroffenen erhebliche Bedeutung hat. Allein im Jahr 2010 wurde beim Amtsgericht München ein Geschäftsaufkommen von 34.307 Zivilsachen, ohne Familienund Grundbuchsachen, verzeichnet.32 Das LG Nürnberg-Fürth verzeichnete 2010 7.863 neue Zivilverfahren in erster Instanz sowie 1.087 Berufungsverfahren.33 Etwa 30 Prozent der Fälle am LG Nürnberg-Fürth seien durch Vergleich beendet worden. Eine gewaltige Zahl von Fällen wird aber weiterhin durch Urteil entschieden, sodass eine genaue Befassung mit den Problemen dieser Entscheidungsform gerechtfertigt ist. Schon die Bedeutung für den Einzelfall, der durch Urteil verbindlich entschieden wird, macht das Urteil somit zum relevanten Untersuchungsgegenstand. Das Urteil ist darüber hinaus die zentrale Ausdrucksform der Rechtsprechung34 und weiterhin stil- und maßstabsbildend für die Tätigkeit der Zivilgerichte, aber auch für andere Konfliktbeendigungsstrategien. Das Urteil bleibt – allen Alternativen zum Trotz – die zentrale Manifestation des Rechts im Einzelfall. Wo die Rechtsetzung abstrakte Regelungen vorgibt, im Wirtschaftsrecht häufig über alle Branchengrenzen hinweg, buchstabiert die Entscheidung eines Gerichts in einem Fall die Abstrakta der Regel in Anbetracht der sektorenspezifischen Rahmenbedingungen und der typischen Parteiinteressen aus. Die Bedeutung der Rechtsprechung geht erheblich über den Einzelfall hinaus, und dies legitimiert die Zuschreibung einer wirtschaftsordnenden Kraft: Entscheidungen, insbesondere der Obergerichte, des Bundesgerichtshofs und des Gerichtshofs der EU in Zivilsachen, entfalten Präzedenzwirkungen für die 31 32 33 34

Vgl. Ritter, NJW 2001, 3440, 3445. Vgl. http://www.justiz.bayern.de/gericht/ag/m/daten/. Vgl. http://www.justiz.bayern.de/gericht/lg/nfue/daten/. Vgl. Rennert, JZ 2013, 297 f.

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betroffenen Konstellationen und werden vielfach Entscheidungsgrundlage in weiteren Fällen. Sie dienen zudem als Maßstäbe für Kommentierungen und Vertragshandbücher und gehen so als Rahmenbedingungen des Durchsetzbaren in Vertragsverhandlungen ein. Das Gebot des sicheren Weges in der Vertragsgestaltung macht eine Orientierung an der höchstrichterlichen Rechtsprechung erforderlich.35 Ein Urteil des BGH in einem Zivilverfahren kann durch die Verarbeitung in Literatur und Beratungspraxis erhebliche Bedeutung für die betroffenen Sektoren entwickeln. Hält beispielsweise ein BGH-Senat starre Fristenregelungen für Renovierungspflichten eines Mieters in Mietverträgen für unangemessen,36 so betrifft dies zwar de jure nur die Parteien des konkreten Rechtsstreits vor dem BGH. Die übrigen Gerichte jedoch werden sich in ihren Parallelentscheidungen an der BGH-Rechtsprechung ausrichten. Aufgrund der Aufnahme in Kommentierungen, Vertragshandbücher und Musterformulare entfaltet das einzelne Urteil dann faktisch eine Wirkung wie eine gesetzliche Regelung. So findet sich heute kein Mietvertragsratgeber mehr, der dem Vermieter die Setzung starrer Fristen empfiehlt, obwohl dies bis zur BGH-Entscheidung durchaus Vertragspraxis war. Diese regulatorische Kraft der Rechtsprechung ist das (unterbelichtete) Phänomen, das im Rahmen einer institutionell-wirtschaftsrechtlichen Analyse die Fokussierung auf Urteile rechtfertigt. d) Rechtspolitische Legitimation der Urteilsanalyse Auch rechtspolitisch hat die Urteilsanalyse und damit einhergehend die Analyse der gerichtlichen Konfliktlösung anhaltende Bedeutung. Außergerichtliche Streitschlichtungsmöglichkeiten bestehen nämlich nicht für alle Rechtssuchenden. Hier droht die Gefahr einer Zwei-Klassen-Konfliktlösung: Unternehmen, die Schiedsvereinbarungen schließen, erhalten eine fundierte und effiziente Lösung ihrer Konflikte vor kompetenten Schiedsgerichten. Wirtschaftsrechtliche Klagen, in denen eine solche Schiedslösung nicht vorgesehen ist, und für die Mediation oder andere Verfahren wenig ergiebig sind, müssen hingegen den Gerichtsweg beschreiten. Solche Klagen sind typischerweise Klagen von Wettbewerbern, von Verbrauchern oder von Geschädigten ohne vorherige Beziehung zum Beklagten. Diesen Zusammenhang erhellt eine Zahl, die in der bereits erwähnten Statistik des LG Nürnberg-Fürth enthalten ist. Von den dort eingegangenen 7.863 Zivilsachen in erster Instanz betreffen nur 748 Handelssachen – nicht einmal 10 Prozent.37 Nur drei der 1.087 an das LG als Berufungsinstanz herangetragenen Fälle im Jahr 2010 waren Handelssachen, also ein verschwindend geringer Anteil. Diese Zahlen sind sicher auf 35 36 37

Vgl. Junker/Kamanabrou, Vertragsgestaltung, 2010, § 1 Rn. 32 ff. BGH, 23.6.2004, Az. VIII ZR 361/03, NJW 2004, 2586 ff. Siehe http://www.justiz.bayern.de/gericht/lg/nfue/daten/.

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verschiedene Arten interpretierbar, vorsichtig mutmaßen lässt sich aber, dass gerade in Handelssachen andere Möglichkeiten der Streitschlichtung (Verhandlungslösungen der Parteien, Verzicht auf konfrontative Rechtsdurchsetzung, alternative Streitschlichtungsmodelle) eine große Rolle spielen. Was als Handelssache im bürgerlichen Recht gilt, ist in § 95 GVG definiert. Beteiligt sind jeweils Kaufleute. Mag die geringe Zahl der Berufungen in Handelssachen noch mit den üblicherweise höheren Streitwerten in solchen Verfahren zusammenhängen, sodass von vornherein das LG zuständig ist, scheint die Zahl von nur 748 Handelssachen in einem Jahr im LG-Bezirk Nürnberg-Erlangen doch eher niedrig. In nur 748 Fällen (plus amtsgerichtliche Streitigkeiten) ist angesichts der zahllosen Transaktionen in diesem bedeutenden Wirtschaftsraum ein Konflikt entstanden, der landgerichtlich zu verhandeln war! Werden mehr Handelsstreitigkeiten außerhalb des gerichtlichen Forums entschieden? Ist das Vertrauen der Kaufmannschaft in die Konfliktlösungsmechanismen eines Landgerichts gering ausgeprägt? Aufschluss geben die Zahlen darüber nicht, aber sie lassen sich als Hinweis verstehen, dass geschäftlich erfahrene Parteien seltener untereinander das Gericht anrufen, als eventuell zu erwarten wäre. Das gerichtliche Forum ist damit eines, das typischerweise bei Sachverhalten angerufen wird, in denen zumindest nicht beide Parteien Kaufleute sind. Es ist, wie jede Rechtsinstanz, das Forum des Schwächeren. Der Stärkere setzt seine Interessen ggf. auch ohne gerichtliche Hilfe durch. Gerichte sind Instanzen, die das darwinistische „Recht des Stärkeren“ in der Gesellschaft brechen, da sie mit einer höheren Durchsetzungsmacht versehen sind, nämlich der des Staates. Rechtsprechung als institutionalisierte Konfliktlösung ist ein uraltes gesellschaftliches Anliegen, ja, vielleicht das grundlegende Anliegen einer zivilisierten Gesellschaft; heute verankert als dritte Gewalt im Staat. Der Zivilprozess dient der Rechtspflege und ist als solcher Teil des vom Staat ursprünglich beanspruchten „Rechtsschutz- oder Rechtsprechungsmonopols“38, welches das Faustrecht, also die eigenständige Durchsetzung von Ansprüchen im Wege der Selbsthilfe, zurückdrängt. Dieses (vermeintliche) Monopol bedeutet für den Staat eine Verpflichtung, die Institutionen zur Verfügung zu stellen, welche die Gewährung von Recht ermöglichen. Diese Justizgewährungspflicht des Staates korrespondiert mit dem Rechtsschutzanspruch des Einzelnen. Dies gilt auch für Streitigkeiten des bürgerlichen Rechts, wie das Bundesverfassungsgericht aus dem Rechtsstaatsprinzip gefolgert hat.39

38 BGH, 27.09.1976, Az. RiZ(R) 3/75, NJW 1977, 437; Wilke in: Isensee/Kirchhof, HStR V, 2007, § 112 Rn. 24; Schilken, Zivilprozessrecht, 2010, § 1 Rn. 6; Kissel/Mayer, GVG, 2005, Einl. Rn. 209. 39 BVerfG, 12.2.1992, Az. 1 BvL 1/89, BVerfGE 85, 337 = NJW 1992, 1673; BVerfG, 27.1.1998, Az. 1 BvL 15/87, BVerfGE 97, 169 = NJW 1998, 1475; Kissel/Mayer, GVG, 2005, Einl. Rn. 200. Vgl. Rauscher in: MüKo-ZPO, 2008, Einl. Rn. 16.

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Urteile sind die unmittelbar für den Einzelnen spürbare Folge des Rechtsstaatsprinzips. Wer ein zivilgerichtliches Urteil erstreitet oder gegen wen ein solches ergeht, erfährt das Paradoxon staatlicher Konfliktlösung in einer privaten Angelegenheit: Der Staat erfüllt seine Aufgabe der institutionalisierten Konfliktlösung, indem er – ohne parteiliche eigene Beteiligung – zwischen zwei privaten Personen die Wertmaßstäbe der Gesellschaft (Recht) anwendet und ggf. durchsetzt. Im Urteil manifestieren sich so ein Kernaspekt des gemeinschaftlichen Zusammenlebens, das Rechtsstaatsprinzip und der Auftrag der Streitschlichtung. Urteilskritik ist damit auch eine Auseinandersetzung mit einer wesentlichen Institution in Gesellschaft und Staat. Wer die Erkenntnis teilt, dass Gerichte in erster Linie als Institutionen zum Schwächerenschutz wirken, indem sie in Konfliktlagen gleichberechtigte Chancen auch demjenigen bieten, der ohne staatliche Hilfe von vornherein unterlegen wäre, muss die Dringlichkeit einer rechtswissenschaftlichen Befassung mit dem Urteil erkennen. Rechtspolitisch nämlich hängt vom „guten Urteil“ ab, ob ohnehin benachteiligte Schichten der Gesellschaft wenigstens auf das Recht und seine Durchsetzung verständigerweise vertrauen dürfen. Wenn vor allem Unternehmen bedeutende Rechtsstreitigkeiten außerhalb des gerichtlichen Forums lösen, verliert die Justiz den Kontakt zu einem ganzen Bereich von Rechtsstreitigkeiten, die für die Schärfung des juristischen Handwerkszeugs besonders wichtig sind. Was im schlechtesten Fall für die ordentlichen Gerichte übrig bleibt, ist, wie es ein ehemaliger Justiz-Staatssekretär formuliert hat, die „juristische[n] Notambulanz für das „untere“ Drittel der Gesellschaft“40. Das würde der Justiz schaden, auch den Rechtssuchenden, und Rechtsprechungstätigkeit wäre nur noch ein Schatten dessen, was als Justizgewährleistungsanspruch eine hehre, den Rechtsstaat tragende Bedeutung hat. Die Entwicklung von Kriterien zur Bewertung von Urteilen und die maßstabsgeleitete Kritik an der Rechtsprechung sind somit gesellschaftspolitische Aufgaben. e) Individualpartizipation als demokratiepolitischer Trend Die vergangenen Jahre sind demokratiepolitisch gekennzeichnet von einer Auflösung überkommener Beteiligungsformen, in Deutschland etwa in Form einer Krise der politischen Partei als Organisationsform zur Bündelung von Interessen. Gleichzeitig hat das politische Interesse an Fragen, die den Bürger unmittelbar betreffen, nicht nachgelassen. Der Wunsch nach spontaner Individualpartizipation ist vernehmbar geworden, etwa in den Protesten gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart21. Das politische Bewusstsein der Bürgerschaft scheint nicht abgenommen zu haben, es wird aber nunmehr verbunden mit der Forderung nach direkter Beteiligung im konkreten Streitfall. 40

Vgl. Ritter, NJW 2001, 3440, 3448.

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Dieser Trend zur spontanen Individualpartizipation des Staatsbürgers findet seine Entsprechung in der Stärkung privater Rechtsdurchsetzung im Einzelfall, die immer häufiger an die Stelle hoheitlicher Vorentscheidung, etwa durch behördliche Regulierung, tritt.41 Konfliktlösung in der Gesellschaft findet auch auf der größeren politischen Ebene nicht mehr nur in der politischen Auseinandersetzung statt, sondern verlagert sich in einen häufig individualisiert betriebenen Prozess der rechtlichen Auseinandersetzung. Proteste, die teilweise erst nach parlamentarischen Entscheidungen mobilisiert werden, münden institutionell dann gelegentlich in juristischen Auseinandersetzungen, die zum Teil parlamentarische Entscheidungen aushebeln können. Wenn nun aus rechtswissenschaftlicher Perspektive die Befassung mit dem Urteil als Entscheidungsform verstärkt wird, was das Anliegen dieser Studie ist, so ist darin auch ein Aufgreifen des aktuellen Trends zu sehen, der die häufig empfundenen Defizite bei Mitwirkungsmöglichkeiten im Staat abmildern kann. Die Stärkung privater Rechtsdurchsetzung bindet den Rechtsuchenden auch politisch an sein Gemeinwesen.42

2. Richtige Urteile? Wurde nunmehr die besondere Rolle des Urteils im Zivilprozess einschließlich seiner Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft festgestellt, so ist vor einer detaillierteren Entwicklung von Bewertungskriterien mit einer Vorstellung zu brechen, der die Urteilskritik gelegentlich begegnet. Diese Vorstellung beinhaltet, dass es richtige und falsche Urteile oder gar nur richtige Urteile gibt und eine kritische Auseinandersetzung mit Urteilen verfehlt ist. Dabei ist ganz vordergründig eine kritische Auseinandersetzung mit dem Vorgehen der Rechtsprechung und den inhaltlichen Wertungen schon deshalb geboten, weil Urteile immer Wertungen beinhalten, also normative Entscheidungen, die für Kritik zugänglich sind. Die bloße Feststellung von Fakten ist nur ein Teil der Aufgabe des Gerichts, das Gericht bewertet diese Fakten auch, urteilt über die festgestellte Konstellation.43 Wäre es anders, könnten die berüchtigten „Subsumtionsautomaten“ Recht sprechen. Die richterliche Tätigkeit umfasst zudem die Auslegung von Gesetzen, die Aufstellung von Rechtsgrundsätzen und die Rechtsschöpfung.44 Dazu bedarf es inhaltlich substantieller Hilfestellungen. Das auf den Einzelfall anzuwendende Gesetz ist Ausgangspunkt und Grenze, wird aber in vielen Fällen Fragen offen lassen. 41

Diesen Gedanken hat Wolfgang Fikentscher entwickelt, vgl. Fikentscher/Hacker/Podszun, FairEconomy, 2013, Foreword. Vgl. auch Micklitz in: MüKo-BGB, 2012, Vor §§ 13, 14 Rn. 79 ff. 42 Vgl. auch Kübler in: FS Raiser, 1974, S. 697, 723 ff. 43 Vgl. Wilke in: Isensee/Kirchhof, HStR V, 2007, § 112 Rn. 66. 44 Vgl. Kirchhof in: Isensee/Kirchhof, HStR V, 2007, § 99 Rn. 238; Wilke in: Isensee/Kirchhof, HStR V, 2007, § 112 Rn. 32. Vgl. Pieroth/Aubel, JZ 2003, 504 ff.

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Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

Wenn es offene Fragen gibt, divergieren die Antworten und es bedarf qualitativer Maßstäbe, um gute von weniger guten Antworten scheiden zu können. Dieses Vorgehen zieht Urteilskritik automatisch nach sich.45 a) Mangelnde Kanonisierung der Urteilskritik Trotzdem ist eine breit angelegte Urteilskritik bislang nicht selbstverständlicher Bestandteil juristischer Tätigkeit und Maßstäbe sind nicht kanonisiert worden, um Urteile bewerten zu können. Das überrascht, sind doch Entscheidungen der Rechtsprechung dem diskursiv-demokratischen Kontrollprozess nicht entzogen, auch wenn gelegentlich von politischer Seite der Eindruck erweckt wird, als seien höchstrichterliche Urteile sakrosankt.46 Ein Verständnis von Rechtsprechungsorganen (einschließlich des Bundesverfassungsgerichts) als Träger einer Autorität, die sich der Kritik nicht stellen muss, wie es möglicherweise als Folge positivistisch-dezisionistischer Theorien gefolgert werden könnte, verkennt den „checks- and balances“-Charakter des verfassungsmäßigen Institutionengefüges. Das im politischen Diskurs gelegentlich vorgebrachte Argument, Kritik an der Rechtsprechung könne deren Autorität untergraben und stehe insbesondere Vertretern anderer Verfassungsorgane nicht zu, lässt sich in einer pluralen Gesellschaft nicht halten. Zwar werden immer wieder Urteile kritisiert und Gerichte gescholten. Doch solche Kritik wird relativiert durch Vertrauensbekundungen zu den höchstinstanzlichen Gerichten. Urteile werden in viel stärkerem Maße schlicht hingenommen als andere Entscheidungen von Trägern öffentlicher Gewalt. Die Judikative genießt insoweit einen Sonderstatus in der Wissenschaft, den Medien und in der eigenen Zunft. Das mag noch andere Ursachen haben als die Anerkennung der tragenden Rolle der Justiz für die Gemeinschaft. Urteile werden gegen Kritik immunisiert, indem sie sprachlich und inhaltlich stark reduziert und für weite Kreise unverständlich oder unzugänglich bleiben. Das Auffächern eines Einzelfalls in allen Schattierungen blendet zudem häufig denjenigen, der die zugrundeliegenden Muster erkennen will. Rasch folgt der Kritik der Gegeneinwand, es handle sich um einen besonderen Einzelfall. Für Praktiker ist zudem die Kritik – etwa eines BGH-Urteils – müßig: Sie nehmen hin, was entschieden ist, und passen sich der dadurch fortentwickelten Rechtslage an. Möglicherweise, das soll hier nicht übergangen werden, fehlt das Bedürfnis für Kritik, wenn die Rechtsprechung aufgrund guter Arbeit keinen Empörungsimpuls setzt, aus dem heraus Kritik aktiviert würde. Selbst wenn dem so ist, ist ein qualitativer 45

Ebenso Rafi, Kriterien für ein gutes Urteil, 2004, S. 43 f. Vgl. Streyl, NZM 2008, 236 zur Kritik am BGH und zu den Wirkungen solcher Kritik. Luhmann erklärt die „Freistellung des Richters von Kritik“ mit der Notwendigkeit der Unparteilichkeit des Richters, die bei Folgenverantwortung nicht mehr gegeben sei, vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 2008, S. 135. 46

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Bewertungsmaßstab zur Beurteilung von Urteilen dennoch wünschenswert. Ein solcher böte die Chance, das Selbstverständnis der Rechtsprechung zu festigen, institutionelle Lernprozesse zu fördern und Fehlentwicklungen vorzubeugen. Fragen nach der Qualität der Rechtsprechung sind in der Ausbildung, in der Richterschaft selbst und seitens der Wissenschaft bislang überraschend selten thematisiert worden. Wie wenig sich Maßstäbe der Urteilsbewertung durchgesetzt haben, zeigen die rechtswissenschaftlichen Maßstäbe, die an Urteilsanmerkungen angelegt werden. Zwar veröffentlichen zahlreiche Juristen Urteilsanmerkungen, die in vielen Fällen auch Bewertungen und Kritik enthalten, aber kaum einer der Autoren legt je die Maßstäbe offen, nach denen er bewertet, und ob er sich solche bildet, ist in vielen Fällen zweifelhaft. Das Genre der Urteilsanalyse hat bislang beinahe keine methodische Beachtung gefunden, es klafft eine Lücke in der juristischen Ausbildung und Literatur zu der Frage, was ein gutes Urteil leisten soll. In der Regel ist es wissenschaftlichen Autoren auch seitens ihrer Auftraggeber, etwa Verlagen oder Herausgebern, selbst überlassen, welche Maßstäbe sie methodisch leiten. Die meisten redaktionellen Richtlinien enthalten zum Beispiel keine Vorgaben für Urteilsanmerkungen. In den Redaktionsrichtlinien einer Praktiker-Zeitschrift ist immerhin formuliert: „An dieser Stelle kann und soll der Bearbeiter aus seiner Expertise und seinem Überblick als Spezialist schöpfen.“47 So praktikabel und nachvollziehbar diese Individualisierung der Maßstäbe zur Bewertung von Urteilen ist, so unbefriedigend muss es dem Wissenschaftler scheinen, wenn er für eine seiner wichtigsten Quellengattungen kein anerkanntes methodisches Werkzeug vorfindet. b) Rechtmäßigkeit als alleiniger Maßstab? Was macht gute Gerichtsurteile aus? Ein bloßer Verweis auf die Rechtmäßigkeit des Urteils greift zu kurz. Die Rechtmäßigkeit eines Urteils, also sein Einklang mit den gesetzlichen Vorgaben, ist notwendig, aber nicht hinreichend. Dass ein Urteil rechtmäßig ist, macht es nicht zu einem guten Urteil, sondern bewahrt es lediglich davor, ein schlechtes (oder falsches) zu sein. Eine qualitative Trennlinie kann die Rechtmäßigkeit noch nicht bilden. Insofern ist auch die Methodenlehre, die sich darauf fokussiert, den Kanon der Auslegungsmethoden zu präzisieren und die verschiedenen Methoden (grammatisch, systematisch, historisch, teleologisch) in verschiedenen Konstellationen durchzudeklinieren, keine Hilfe: Die Methodenlehre erhebt nicht den Anspruch, Aussagen über die Qualität von Urteilen zu ermöglichen, sondern über die Richtigkeit von Urteilen. Differenzen innerhalb der Methodenlehre über Aus47

Redaktionsrichtlinien der Zeitschrift „Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht“ (GWR), Stand: 15.4.2009.

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legungshierarchien sind Meinungsstreite über die korrekte Anwendung des Rechts. Der Justiz werden in dieser Hinsicht Vorgaben angeboten, um zu richtigen Lösungen zu gelangen. Damit ist aber kein qualitativer Maßstab verknüpft, der gute von weniger guten Urteilen scheiden ließe.48 Als Methodenproblem der richterlichen Rechtsfindung ist Ausgangspunkt der Methodenlehre, dass Gesetze lückenhaft sind und somit der Ausfüllung bedürfen. Aus dem Rechtsverweigerungsverbot – der Richter hat Recht zu sprechen getreu dem Grundsatz „da mihi facta, dabo tibi ius“ und darf nicht der Entscheidung ausweichen – folgt eine Verpflichtung des Richters zum Lückenschluss. Damit stellt sich die Frage, auf welche Art die Lücke zu schließen ist. An diese Überlegung knüpft die Methodenlehre an, die mehrere Auslegungsmethoden bereitstellt, mit denen der Richter das „richtige“ Urteil ermitteln soll. Ob dies möglich ist, ohne dass der Richter auf eigene Wertungen zurückgreift, ist umstritten. Während die Gesetzgeber des BGB offenbar von der Vorstellung ausgingen, solche Lücken mit Hilfe von objektiven Schlüssen verdecken zu können, wurde schon früh im Anschluss an die BGB-Gesetzgebung, etwa von Eugen Ehrlich, die Gegenauffassung vertreten.49 Entscheidende Impulse erhielten die Überlegungen zur Objektivität und Rechtmäßigkeit auch aus der Hermeneutik, insbesondere durch Hans-Georg Gadamers These vom „Vorverständnis“. Nach Gadamer ist eine unbefangene Textinterpretation nicht möglich, vielmehr hat das Vorverständnis des Betrachters konstitutive Funktion für den Verständnisprozess. So wie Sprache und Überlieferungstradition für Gadamer essentielle Vorprägungen für das Verständnis eines Texts enthalten, lassen sich im juristischen Verständnis, etwa bezogen auf Gesetzestexte, subjektive Vorprägungen nicht ausblenden. So wird Rechtmäßigkeit bei hermeneutischer Betrachtung als Maßstab relativiert, sobald die Lösung eines Falles sich nicht mehr unmittelbar aus dem Gesetzestext ergibt. Josef Esser münzte diesen Gedanken konsequent auf die Rechtswissenschaft.50 Aus dieser Verunsicherung ergibt sich der Versuch, mit Hilfe einer Kanonisierung der auf Savigny zurückgehenden Auslegungsmethoden für größere Rechtssicherheit zu sorgen und sich den Vorgaben des Gesetzes soweit wie möglich anzunähern. Dies in Ansätzen geschafft zu haben, ist das Verdienst der modernen Methodenlehre. Aber selbst wenn ein Gericht zur rechtmäßigen Rechtsanwendung gelangen sollte, also selbst unter der Annahme, Urteile ließen sich in aller Eindeutigkeit und objektiv als rechtmäßig und unrechtmäßig qualifizieren, würde dies noch 48

Insofern sind die bei Rafi, Kriterien für ein gutes Urteil, 2004, dargestellten „bisherigen Lösungsansätze“, S. 19 ff. irreführend, da der Autor von einem Methodenproblem ausgeht (Einschränkung des Richters in seinem Dezisionismus), das für die Frage nach einem guten Urteil, die der Autor im späteren Teil seiner Arbeit zu beantworten sucht, nur begrenzte Aussagekraft hat. 49 Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1987, S. 20. 50 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1972, S. 139 f.

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nicht den Verzicht auf weitere Qualitätsmerkmale mit sich bringen: Ein Urteil kann beispielsweise verständlich oder unverständlich geschrieben sein – schon dies macht eine qualitative Differenzierung zwischen verschiedenen Urteilen, unabhängig von der Rechtmäßigkeit, möglich. c) Harts Positivismus und Dworkins Herkules Eine weitere Perspektive wirft die Auseinandersetzung zwischen den Rechtsphilosophen H.L.A. Hart und Ronald Dworkin auf die Frage, ob es richtige Urteile gibt. Der Positivismus, wie Hart ihn prototypisch für das 20. Jahrhundert vertritt, misst dem (aufgrund von Kodifikation oder aus sozialen Gründen) geltenden Recht die größte Bedeutung zu und verteidigt die Domäne des Rechts gegen außerrechtliche Interpretationen. Trotz dieser Nähe zu einem Absolutheitsanspruch des positiven Rechts verkennt Hart nicht, dass auch bei Kodifikation ein Gericht gefordert sein kann, Lücken zu füllen.51 Die offene Struktur („open texture“) des Gesetzes mache es erforderlich, dass Richter auslegen, werten, entscheiden, also ihr Ermessen anwenden, ohne dass es eine einzige richtige Lösung gibt.52 Hart erschütterte damit den Glauben an eine einzige richtige Lösung, sein Ansatz bildet das rechtsphilosophische Fundament, um die Rechtsprechung einer Bewertung zu unterziehen. Dworkin, Harts Nachfolger in Oxford und Kontrahent in genau dieser Frage, entwickelte ein Gegenmodell von einem nahtlosen System des Rechts, in dem jeder Rechtsstreit nur eine einzige richtige Entscheidung kennt. Ein (ideal imaginierter) „Richter Herkules“ könne diese Entscheidung dank übermenschlicher Fähigkeiten und Geduld erkennen.53 Dieses Bild eines richtigen Rechts folgt aus Dworkins Grundidee von „law as integrity“ (Integritätstheorie), einer Vorstellung, derzufolge das Recht einem umfassenden Narrativ folgt, in dem Gesetze, vergangene Urteile und aktuelle Prinzipien zu einem einheitlichen Bild verwoben sind.54 Das positive Regelwerk wird bei Dworkin durch Prinzipien, Rechtsprinzipien, ergänzt, die auch diejenigen Lebenssachverhalte erfassen können, für die es keine spezifische Gesetzesregel gibt.55 Auch Dworkin ist sich aber bewusst, dass der Richter Herkules so nicht im Gerichtssaal anzutreffen ist, sodass auch er einen Anknüpfungspunkt bieten muss, damit Richter einen Fall im Einklang mit seiner Theorie entscheiden können. Dworkin transzendiert die Trennung von positivem Recht (wie bei 51

Hart, Der Begriff des Rechts, 1973, S. 189. Hart, Der Begriff des Rechts, 1973, S. 173 ff. 53 Dworkin, Law’s Empire, 1986, S. 239. Vgl. Herbst, JZ 2012, 891 ff. 54 Dworkin, Law’s Empire, 1986, S. 225 ff. Vgl. Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S. 30 ff.; Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, S. 85 ff. 55 Vgl. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, 1984, S. 64 ff. 52

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Hart) und älteren Naturrechtstheorien und wendet sich einer interpretativen Rechtsanwendung zu, die er an von ihm identifizierte Prinzipien (Gerechtigkeit, Fairness, Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens) bindet.56 Der Richter müsse die Gesetze analysieren und, falls daraus eine Antwort nicht eindeutig folgt, die Prinzipien der Gemeinschaft befragen, bis er die richtige Antwort gefunden hat. Eine solche prinzipienorientierte Interpretation des Rechts, auch unter Rückgriff auf „außerrechtliche“57 Maßstäbe, muss sich erst recht einer Bewertung öffnen. Die Annäherung an ein Ideal ist der Bewertung sogar eher zugänglich als die freiere Schöpfung, die Hart für möglich hält. Selbst wenn es also eine einzige richtige Antwort geben sollte, die in einem konkreten Rechtsfall zu suchen wäre, würde sich immer noch Spielraum für Bewertungen ergeben. Dass es eine solche Lösung gibt, ist freilich nach den Darlegungen von Hayek und Popper in der Praxis des dauernden Suchprozesses ausgeschlossen und – wenn man Popper folgt – auch in der theoretischen Erkenntnis nicht denkbar.58

3. Ausbildungsmaßstäbe Aus den Überlegungen zum „richtigen Urteil“ folgt, dass es legitim ist, Bewertungsmaßstäbe für Urteile zu entwickeln, die über eine bloße Rechtmäßigkeitsprüfung hinausgehen. Ansätze dafür wären am ehesten in der Ausbildung derer zu suchen, die für die Rechtsprechung zuständig sind. In der Ausbildung für Studierende und insbesondere für angehende Richterinnen und Richter spielen fast ausschließlich formale Kriterien bei der Bewertung eine Rolle, ob ein Urteil gelungen ist oder nicht.59 Die Qualität eines Urteils entscheidet sich demnach daran, ob es in der nächsten Instanz Bestand hat, und ob die gesetzlichen Anforderungen an die Abfassung eines Urteils berücksichtigt worden sind (vgl. §§ 300 ff. ZPO).60 Eine weitergehende Reflexion über Sinn und Zweck eines Urteils und die daraus zu ziehenden Folgerungen für die Abfassung eines Urteils fehlt in dieser Literatur,61 wie sie auch in der Reflexion für die Bewertungen von Urteils-Klausuren im Zweiten Juristischen Staatsexamen regelmäßig nur am Rande vorkommt. Die Prüfungsordnungen der Län56

Vgl. Dworkin, Law’s Empire, 1986, S. 225 ff. Was Dworkin so natürlich nicht formulieren würde. 58 Siehe dazu Kapitel 2, B.II. 59 Vgl. Furtner, Das Urteil im Zivilprozess, 1985; Schneider/van den Hövel, Richterliche Arbeitstechnik, 2007. 60 Vgl. beispielhaft das Arbeitspapier der Landesgruppe Rheinland-Pfalz der Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 16.5.2006: „Das Urteil – ein Leitbild“, abrufbar unter www.verwaltungsgerichtsbarkeit.de/binnenmodernisierung/060309_rlp_urteil.pdf. 61 Siehe aber immerhin Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 2012, Übers. § 300 Rn. 2 f. 57

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der für das Zweite Juristische Staatsexamen, das Laufbahnprüfung für den Richterdienst ist, enthalten zwar genaue Vorgaben, was zu beachten ist, wenn ein Kandidat an der Teilnahme zur Prüfung verhindert ist, aber das Ausbildungsziel des Referendardienstes und die Kriterien der Prüfung werden, wenn überhaupt, vom Gesetzgeber nur äußerst lapidar festgehalten (vgl. etwa §§ 57 ff. BayJAPO). Für die Frage, was ein gutes Urteil ausmacht, sind sie unergiebig.

4. Reflexionen der Richterschaft Ähnliche Defizite ergeben sich aus dem Richtergesetz und dem Selbstverständnis der Richterschaft. Marc Tully, Vorsitzender am LG Hamburg, stellt fest: „Die Qualität der Arbeit spielt in der Binnenbetrachtung der Gerichte keine Rolle.“62 Diskussionen etwa auf Justiz-Konferenzen fokussieren sich stark auf die materielle Ausstattung der Justiz und stellen die Rahmenbedingungen der Rechtsprechung in den Vordergrund.63 So hat der Deutsche Juristentag zwar als erste Folgerung einer Diskussion über „Gute Rechtsprechung“ beschlossen: „Maßstab guter Rechtsprechung in richterlicher Unabhängigkeit ist die Herstellung von Rechtsfrieden, Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit.“64

Damit gibt der Juristentag Anknüpfungspunkte für eine qualitative Urteilsdiskussion. Die übrigen Beschlüsse richten sich aber fast ausschließlich auf die Rahmenbedingungen der Justizgewährung (z.B. Anzahl der Richterstellen), nicht auf die Ausfüllung des genannten Maßstabs.65 Klaus F. Röhl konstatierte im Zusammenhang mit der Debatte um das „Neue Steuerungsmodell“66, einen Ansatz zur Justizreform, dass zwar einerseits das Bewusstsein für die Bedeutung der Ausstattung der Justiz wachse, andererseits Verfahrenssicherungen (etwa Kollegialentscheidungen und schriftliche Begründungen) immer stärker abgesenkt würden.67 Das Feld der eigentlichen Ergebnisqualität im Sinne einer Urteilskritik bleibe gänzlich unbeackert. Der Deutsche Richterbund hat 2010 ein Thesenpapier zur Qualitätssicherung in der Justiz vorgelegt, das Qualitätskriterien der Rechtsprechung aus der Stellung des Richters heraus entwickelt. Als Kriterien werden genannt:

62 Süddeutsche Zeitung, Nr. 65, 18.3.2013, S. 2 („4000 Minuten pro Fall“ – Wolfgang Janisch). 63 Zum Beispiel auf dem 66. Deutschen Juristentag 2006; dazu Noske, ZRP 2006, 232, 234; siehe auch Bargen, NJW 2006, 2531, 2532 m.w.N. 64 66. Deutscher Juristentag, Beschlüsse, 2006, S. 30, Abteilung Justiz, Beschluss 1. 65 Kritisch Ritter, NJW 2001, 3440. 66 Näher Kramer, NJW 2001, 3449. 67 Röhl, Die Verwaltung Beiheft 5/2002, 67 ff.

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„a. Bindung an Recht und Gesetz, b. Entscheidungsfindung in richterlicher Unabhängigkeit, unparteiisch und unvoreingenommen, c. genaue Kenntnis und sorgfältigste Anwendung des materiellen Rechts unter Beachtung der Verfahrensordnungen bei genauer Tatsachenfeststellung, d. Erzielung gerechter Ergebnisse zur Schaffung von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit, e. Wahrung der Grundsätze der Gleichheit vor dem Gesetz und des „fairen Verfahrens“, f. Transparenz nach außen wirkender Verfahrensabläufe, g. Entscheidungen in angemessener Zeit und in verständlicher Form und Sprache, h. Beachtung der berechtigten Interessen der Verfahrensbeteiligten bei der Gestaltung, des Verfahrens, insbesondere Gewährung des rechtlichen Gehörs, i. Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen und Rücksichtnahme auf ihre besondere psychische Situation, j. teamorientierte Zusammenarbeit mit den Assistenzkräften zum Zwecke der Optimierung der Verfahrensabläufe, auch unter Sicherstellung der – individuell organisierten – Erreichbarkeit, k. Darstellung der Arbeit gegenüber der Öffentlichkeit mit dem Ziel der Vertrauensbildung in die Justiz und der bestmöglichen Transparenz ihrer Entscheidungen, l. ressourcenschonende Amtsausübung unter Einhaltung der vorgenannten Qualitätskriterien (Wirtschaftlichkeitsgebot).“68

Die richterliche Perspektive ist den Kriterien, die wohl breite Zustimmung ernten können, deutlich zu entnehmen. Dies wird auch am Folgepunkt deutlich, der die Kriterien sofort erheblich relativiert: „Die Qualität richterlicher und staatsanwaltschaftlicher Arbeit ist letztlich nicht messbar.“

Damit erteilt die Richterschaft all denjenigen eine Absage, die die Arbeit der Gerichte einer ernsthaften Qualitätskontrolle unterwerfen wollen. Wo es nämlich keine Messbarkeit gibt, kann kein Kriterium fixiert werden. Sanktionen, etwa im Fall des Qualitätsabfalls, stehen dann nicht zu befürchten. So spricht sich die Justiz von einer vertieften Kontrolle ihrer Arbeit frei. Sie entgeht damit nicht nur konstruktiven Qualitätsimpulsen und Lernprozessen, sondern auch der Haftung für Fehlentscheidungen, was durch die hohen Anforderungen für Richterablehnungen wegen Befangenheit, Verurteilungen wegen Rechtsbeugung, Schadensersatz für Justizunrecht oder auch nur Dienstaufsichtsbeschwerden abgesichert wird.69 Die Diskussion über die Qualität von Urteilen ist also nicht nur wissenschaftlich unterentwickelt, sondern wird seitens der Richterschaft meist auf Ausstattungsfragen reduziert. Der Kurz68 Deutscher Richterbund, Thesenpapier zur Qualität der Arbeit in Gerichten und Staatsanwaltschaften, verabschiedet am 25.3.2010, abrufbar unter http://www.drb.de/cms/fileadmin/ docs/qualitaet_thesenpapier_1003.pdf [21.3.2011]. 69 Vgl. Röhl, Die Verwaltung Beiheft 5/2002, 67.

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beitrag eines hochrangigen Richters mit dem Titel „Was ist ein guter Richter?“ hat Seltenheitswert.70 Verbreitet sind in der Richterschaft Bedenken, dass qualitative Maßstäbe, die an richterliche Entscheidungen angelegt werden, mit dem Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) unvereinbar sein könnten.71 In der Tat schreibt auch das Richtergesetz vor, dass eine Dienstaufsicht über Richter die Unabhängigkeit nicht beeinträchtigen darf (§ 26 DRiG). Allerdings kann das Prinzip richterlicher Unabhängigkeit nicht dazu führen, die Tätigkeit von Richtern von jeglicher Diskussion auszunehmen.72 Das wäre mit einem demokratischen Rechtsstaatsverständnis nicht vereinbar: In einer Demokratie ist keine Institution vor Kritik gefeit, im Gegenteil dient die demokratische Auseinandersetzung gerade dazu, die Arbeit der Institutionen einer dauernden Kontrolle zu unterwerfen (Gewaltenteilung) und damit zu verbessern. Zudem lassen sich auch Tätigkeiten, die in Unabhängigkeit ausgeübt werden, qualitativ einordnen. Urteilskritik wird nur dann problematisch, wenn mit ihr harte oder weiche Sanktionen verknüpft sein könnten, die die Unabhängigkeit einschränken. Wissenschaftlich fundierte, also an Methoden und Maßstäben orientierte Kritik muss hingegen gerade derjenige ertragen können, der selbst Unabhängigkeit für sich in Anspruch nimmt – denn Unabhängigkeit ist in erster Linie eine Frage innerer Freiheit, nicht äußeren Zwangs.

5. Rechtstheoretische Anknüpfungspunkte In Fällen, in denen eine Berufung oder Revision nicht möglich ist, bleibt die wissenschaftliche Kritik die einzige, der sich die Rechtsprechung ernsthaft stellen muss. Auch wenn, wie oben dargelegt, eine Kanonisierung der Urteilskritik und ihrer Bewertungsmaßstäbe noch nicht stattgefunden hat, so sind doch Ansätze dazu in verschiedenen Arbeiten vorhanden, von denen die meisten einen rechtstheoretischen Hintergrund haben, der hier schlaglichtartig beleuchtet werden soll. a) Pragmatische Ansätze und Methodenlehre Ohne Rückgriff auf eine umfassende Theorie des Rechts kommt ein Pragmatismus aus, der lediglich das Problem der Urteilskritik lösen möchte. So hat als einer der Wenigen Hans Hattenhauer eine „Anleitung für Studenten“ zur Kritik des Zivilurteils verfasst.73 Das Urteil könne inhaltlich und formal kritisiert 70

Rennert, JZ 2013, 297 ff. Vgl. Sodan, NJW 2003, 1494, 1495; Wilke in: Isensee/Kirchhof, HStR V, 2007, § 112 Rn. 45 f. Vgl. auch die Kritik am „Neuen Steuerungsmodell“ bei Bertram/Daum/Graf von Schlieffen/Wagner, Das Neue Steuerungsmodell am Verwaltungsgericht Hamburg, 1998, abrufbar unter www.richterverein.de, S. 97 ff. 72 Vgl. Bargen, NJW 2006, 2531, 2533 m.w.N.; Röhl, Die Verwaltung Beiheft 5/2002, 67, 68. 73 Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, 1970. 71

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werden: Inhaltlich seien Tatbestand, Entscheidungsgründe und Urteilsformel getrennt zu prüfen. Die Tatbestandskritik müsse auf die Kongruenz von Tatbestand und Entscheidungsgründen achten. Die Kritik der Entscheidungsgründe, also die eigentliche rechtliche Würdigung des Urteils, müsse die einschlägigen Rechtsnormen, ihren Aufbau, die Subsumtion, insbesondere die korrekte Auslegung der Norm, und eine Prüfung der Argumente nach verschiedenen Kriterien enthalten. Anhand des Urteilstenors seien u.a. die sozialen Wirkungen des Urteils zu berücksichtigen. Formale Kritik sei an Sprache, Stil und der Zitierweise des Urteils anzubringen. Ähnlich frei von ideologischer Verengung geht Helge Sodan vor. Er unterscheidet drei verschiedene qualitative Dimensionen, Ergebnis-, Verfahrensund Organisationsqualität.74 Die Ergebnisqualität bezieht sich auf das Urteil selbst. Hier verlangt Sodan Einzelfallgerechtigkeit als Maßstab, der ausgefüllt werde durch eine vollständige Sachverhaltsermittlung, eine angemessene Beweisaufnahme, eine Erörterung aller relevanten Rechtsnormen und -fragen sowie eine Rechtssicherheit schaffende Begründung. Hinzu kommen die Verfahrensqualität (einschließlich der Verfahrensdauer) und die Organisationsqualität, die institutionelle Aspekte der Justiz erfasst wie etwa deren Ausstattung. Sodan weist darauf hin, dass Voraussetzung hochwertiger Rechtsprechung gute Gesetzgebung und gute Gerichtsorganisation sind.75 Solche pragmatischen Modelle orientieren sich in ihrem Kernbereich an den Forschungen der Methodenlehre. Sie erkennt das richterliche Entscheiden als Prozess von rechtstheoretischer Tragweite.76 Ihr Ziel ist, eine möglichst gesetzestreue Entscheidung zu ermöglichen, indem die Methodik richterlichen Arbeitens in den Vordergrund gerückt wird. Die Methodenlehre fokussiert sich dabei auf die Frage, wie Gesetze auszulegen sind und bietet in ihrer klassischen Position einen Kanon von Auslegungsmethoden an, die im konkreten Fall anzuwenden seien. Ihr geht es um das „Verfahren der Gewinnung konkreter Rechtsentscheidungen aus dem Gesetz“77. Es ist müßig, hier die Entwicklung der Methodenlehre detailliert nachzuzeichnen, das ist an anderer Stelle autoritativ geschehen.78 Savignys Grundlegung des Auslegungs-

74

Sodan in: Isensee/Kirchhof, HStR V, 2007, § 113 Rn. 58 ff.; ders., NJW 2003, 1494 ff. Ähnlich Bargen, NJW 2006, 2531, 2535. 75 Sodan in: Isensee/Kirchhof, HStR V, 2007, § 113 Rn. 61. 76 Vgl. Schroth in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 2004, S. 294 ff.; Schneider, ebd., S. 348, 353 ff.; Rottleuthner, Richterliches Handeln, 1973; Garrn, Zur Rationalität rechtlicher Entscheidungen, 1986. 77 Kaufmann in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 2004, S. 110; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 312 ff. 78 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 312 ff.; Kaufmann in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 2004, S. 109 ff.

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kanons79 folgte ein Wechselspiel, in dem stets aufs Neue definiert wurde, wie streng der Richter an den Wortlaut gebunden ist und welche äußeren Einflüsse er heranziehen darf. Die überaus strenge Begriffsjurisprudenz80 schloss ganz vom Begriff her, während die Interessenjurisprudenz81 sich umso stärker um die Einbeziehung der Lebenswirklichkeit mühte. Paradigmenwechsel kamen mit der Freirechtsschule82, die sich vom Gesetz ganz lösen wollte,83 mit Hans Kelsens „Reiner Rechtslehre“84, der Recht als bloßes Instrument der Rechtspolitik ansah, und mit der Hermeneutik85, die das Vorverständnis als erkenntnistheoretische Kondition etablierte. Die führenden Methodiker der Gegenwart bauen auf dieser Tradition auf, reichern sie an, bleiben aber primär interessiert an den Methoden, die zur rechtmäßigen Gesetzesanwendung führen, nicht an der Qualität der Entscheidung als solcher. Die enge Anlehnung an die Arbeit mit dem Gesetz ist zweifellos von größter Bedeutung für die richterliche Arbeit. Die Frage, welche Urteile als qualitativ gelungen bezeichnet werden können, ist damit aber noch nicht beantwortet. Es griffe für das Verständnis von Rechtspflege zu kurz, wollte man die Qualität von Urteilen lediglich daran messen, ob ein Richter das Gesetz im Einklang mit der herrschenden Methodenlehre ausgelegt hat. b) Theorie des richterlichen Entscheidens Eine der neueren Überlegungen aus dem Umfeld der Methodenlehre betrifft eine Frage, die bereits im vorhergehenden Kapitel angeklungen ist, nämlich die, welche Bedingungen das richterliche Entscheiden leiten. Hier öffnet die Rechtstheorie ein Fenster zu den Umständen der Entstehung von Urteilen, was sowohl die logisch-argumentative, also rationalisierbare Seite umfasst86 als auch die soziologischen, ökonomischen und psychologischen Aspekte87. Zwar besagt die Auswertung logischer und verhaltenspraktischer Umstände des richterlichen Entscheidens noch nichts über die Qualität von Urteilen, sie 79

Savigny, Juristische Methodenlehre, 1951. Vertreten vor allem von Georg Friedrich Puchta und Bernhard Windscheid. 81 Beginnend mit Rudolph von Jhering und entfaltet von Philipp Heck. 82 Vertreten v.a. von Hermann Kantorowicz. Dazu Raiser, Beiträge zur Rechtssoziologie, 2011, S. 38 ff. 83 Vgl. Kantorowicz in: Rechtswissenschaft und Soziologie, 1962, S. 21 f. 84 Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960. 85 Vertreten von Hans-Georg Gadamer. Siehe dazu Schroth in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 2004, S. 270 ff. 86 Dazu etwa Neumann in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 2004, S. 333 ff.; Struck, Rechtssoziologie, 2011, S. 138 ff. 87 Dazu als einer der ersten in deutscher Sprache Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, 1969, vgl. dort den historischen Überblick, S. 16 ff.; Schneider in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 2004, S. 348 ff. 80

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zeigt aber Bedingungen und Spielräume auf, die vor unrealistischen SollensSzenarien bewahren. Die Entscheidungstheorien gehen von verschiedenen Handlungsmöglichkeiten aus, die Richtern eröffnet sind, die sich immer weiter im Laufe des Verfahrens verengen und die bestimmten Außenwirkungen unterliegen.88 Die aus den Entscheidungstheorien der Ökonomie importierte Grundidee ist, bei vernunftbegabten Wesen (z.B. Richtern) primär eine rationale Entscheidungsstruktur anzunehmen. Die Rationalität des Richters ist normativ vorgegeben als eine Rationalität der Rechtmäßigkeit – das Programm des Entscheidens ist final oder konditional auf Rechtmäßigkeit ausgerichtet. Dieser Ansatz einer reinen Rationalitätstheorie ist als präskriptiv einzuschätzen, vernachlässigt er doch zwei in der Praxis relevante Aspekte, welche die richterliche Entscheidung ebenso determinieren wie das Rechtmäßigkeitsprogramm, nämlich den Einfluss von Nebenbedingungen und das Problem der eingeschränkten Rationalität (bounded rationality) des Handelnden. Eine deskriptive Theorie richterlichen Entscheidens, die also den Gegebenheiten der Praxis zu Analysezwecken Rechnung trägt, muss diese Aspekte berücksichtigen. Dabei geht es zum einen um Nebenbedingungen, die dem primären Rationalitätsziel (hier: Rechtmäßigkeit) zwar grundsätzlich untergeordnet sind, die aber die Handlung und Entscheidung massiv beeinflussen. Eine solche Optimierung des Rationalverhaltens unter Nebenbedingungen entsteht beispielsweise aufgrund von Effizienzerwägungen oder Informationsdefiziten: Die Sachverhaltsaufklärung im Prozess beispielsweise kann an tatsächlichen oder zeitlichen Grenzen scheitern. Der Richter kann auch eigene Ziele verfolgen, die er der Rationalität der Rechtmäßigkeit in einer Weise nebenordnet, dass seine Entscheidungen entsprechend geprägt werden, z.B. wenn sein Wunsch nach effizienter Verfahrensgestaltung für ihn eine ähnliche Rationalität hat wie die Rationalität der Rechtmäßigkeit (die ja eher institutionell als personell von ihm gefordert wird). Hinzu tritt das Phänomen der „bounded rationality“, worunter Institutionenökonomen verstehen, dass die Erkenntnismöglichkeiten des Entscheidungsträger von vornherein begrenzt sind – auch das Erkennen, Handeln und Entscheiden vermeintlich rationaler Personen unterliegt kognitiven Grundbedingungen und Anreizsteuerungen, die eine rein logische Rationalität ausschließen. Entscheidungssteuernde Momente wie etwa Wiedererkennungseffekte, Routineverhalten oder institutioneller Konservativismus sind für die Entscheidungstheorie nicht unbeachtlich und verzerren die Vorstellung eines rein rationalen Prozesses. Die Rationalitätseinschränkung folgt aus den Begrenzungen menschlicher Fähigkeiten, aber auch aus der (ggf. subtilen) Anreizsteuerung, etwa im Rahmen des Berufsweges oder aus antizipierter Sorge 88

Vgl. Schneider in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 2004, S. 351.

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vor persönlicher Betroffenheit bei Aufhebung durch die Oberinstanz.89 Ist es für den Richter mit persönlichen Kosten, etwa Nachteilen im Karriereweg, verbunden, wenn er auf ein reines Rechtmäßigkeitsprogramm setzt (z.B. Belastung des zu erledigenden Pensums oder vom Vorgesetzten abweichende Meinung), sind dies Nebenbedingungen oder bereits Rationalitätsbindungen, welche die Entscheidungen beeinflussen. An diesem Punkt setzen auch soziologische und psychologische Erklärungen an. So erklärt die Rechtssoziologie (heute „mit der gebührenden Vorsicht“90 gegenüber allzu simplifizierenden Zuschreibungen) bestimmte Rechtsauffassungen aus der Herkunft und Prägung der Richterschaft und nicht aus einem unterschiedslos reproduzierbaren juristischen Vorgehen.91 Nicht auf empirisch-soziologischer Basis, sondern auf verhaltenswissenschaftlichen, zum Teil psychologischen oder gar neurologischen Erkenntnissen basieren die Überlegungen der „behavioural economics“, die weitere Rationalitätseinschränkungen im Verhalten erklären.92 Dieses Forschungsfeld wird auch für die Rechtswissenschaften fruchtbar gemacht.93 Hier ist beispielsweise die Studie einzuordnen, die eine Korrelation zwischen der Tageszeit der Verhandlung über die Freilassung eines Straftäters auf Bewährung und der Erfolgsaussicht seines Antrags auf Freilassung nachwies.94 Diese Forschungen stehen allerdings, insbesondere für die Justiz, noch am Anfang. Zudem ist es schwierig, Kausalitäten zu etablieren oder gar ein umfassendes Bild der (komplexen) Entscheidungswege herzustellen. Dennoch ist die Theorie richterlichen Entscheidens für die vorliegende Fragestellung der Kriterienbildung zur Bewertung von Rechtsprechungstätigkeit aus drei Gründen von Interesse: Erstens wird durch die Theorie richterlichen Entscheidens überhaupt vergegenwärtigt, dass es sich bei Rechtsprechung um eine Tätigkeit handelt, die der differenzierten Analyse aus verschiedenen Perspektiven offen steht. Nicht mehr nur das Ergebnis dieser Tätigkeit (das Urteil), sondern auch der Entstehungsprozess wird damit thematisiert. Zweitens thematisiert die hier skizzierte Theorie die Imperfektionen richterlichen Entscheidens und legitimiert damit die kritische Analyse. Insbesondere wird der Blick auf Nebenbedingungen, Anreizwirkungen und ein89

Vgl. Struck, Rechtssoziologie, 2011, S. 150 f. Struck, Rechtssoziologie, 2011, S. 99. 91 Vgl. Struck, Rechtssoziologie, 2011, S. 96 ff.; Rehbinder, Rechtssoziologie, 2009, Rz. 134 ff. 92 Vgl. Klöhn/Stephan in: Holzwarth u.a., Unabhängigkeit des Richters, 2009, S. 65 ff.; Grundlegend Löschper, Bausteine für eine psychologische Theorie richterlichen Urteilens, 1999; Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, 1969; Wagner, ZZP 121 (2008), 5 ff.; zurückhaltend Struck, Rechtssoziologie, 2011, S. 213 ff. 93 Vgl. Weimar, Psychologische Strukturen richterlichen Entscheidens, 1969. 94 Danziger/Levav/Avnaim-Pesso, Extraneous factors in judicial decisions, PNAS Early Edition, 11.4.2011. 90

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geschränkte Rationalitäten gelenkt, welche die richterliche Tätigkeit beeinflussen. Drittens sind Konsequenzen, die aus der vorliegenden Untersuchung gezogen werden sollen, ggf. in Einklang zu bringen mit den Anreizmechanismen der Justizorganisation, wenn sie praktische Wirksamkeit entfalten sollen. Unmögliches oder schwer Zugängliches kann von Richtern nicht verlangt werden. c) Diskurstheorie Ansätze zur Bewertung von Urteilen lassen sich aus den umfassenden Rechtstheorien des 20. Jahrhunderts entwickeln. Bereits erwähnt wurden das Vertrauen, das ein Positivist wie Hart in das einzelfallbezogene Ermessen des Richters setzt, sowie Dworkins Überwindung des Positivismus durch eine interpretative Rechtstheorie, seine Idee von „law as integrity“, die bezogen auf das einzelne Urteil in der Vorstellung einer einzig richtigen Entscheidung gipfelt. Für den kontinentaleuropäischen rechtstheoretischen Kontext ist die wohl einflussreichste Theorie die maßgeblich von Jürgen Habermas sowie Robert Alexy und Karl-Otto Apel entwickelte Diskurstheorie des Rechts.95 Ausgangspunkt der Diskurstheorie ist das normative Potential des Sprechakts: Wer spricht, erhebt den Geltungsanspruch, gehört zu werden. Diese Erkenntnis lädt Kommunikation normativ auf und ermöglicht es, in der Kommunikation den konstitutiven Akt des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu erkennen. Auch das Recht unterliegt dieser linguistisch geprägten Kooperation: Das Ziel einer rechtlichen Konfliktschlichtung wäre demnach, einen rationalen Diskurs zu ermöglichen, in dessen Fortgang sich die Teilnehmer auf die Fakten (Sachverhalt) und deren Bewertung (Normen) verständigen. Voraussetzung für einen solchen Prozess ist die „ideale Sprechsituation“, an die Habermas mehrere Forderungen stellt, insbesondere Chancengleichheit aller Diskursteilnehmer im kommunikativen Geschehen, Offenheit für Kritik, Offenheit im Umgang und Handlungsfreiheiten.96 Aus der Anerkennung des Diskurses als des wesentlichen sozialen Ordnungsfaktors folgt die Rolle des Rechts: Das Recht verleiht Aussagen einen Geltungsanspruch, kann dies aber nur, weil die Begründung der Aussage oder Handlung so robust ist, dass jeder Teilnehmer eines potentiell idealen Diskurses dieser Begründung zustimmen könnte. Die Beteiligten am Diskurs „geben zumindest vor, dass ihre Argumente so beschaffen sind, dass sie unter idealen Bedingungen die Zustimmung aller finden würden.“97 95 Grundlegend Habermas, Faktizität und Geltung, 1992; ders., Theorie des kommunikativen Handelns, 2001; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1991. 96 Habermas in: FS Schulz, 1973, S. 211, 220, 255; dazu Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1991, S. 155 ff. 97 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1991, S. 434.

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Der Schwerpunkt der Diskurstheorie liegt für das richterliche Entscheiden damit auf der Argumentation (Recht muss überzeugen) und den prozeduralen Bedingungen (angelehnt an die ideale Sprechsituation). Alexy hat den juristischen Diskurs als „Sonderfall“ des allgemeinen praktischen Diskurses ausgearbeitet und dabei den Besonderheiten der Rechtsfindung Rechnung getragen.98 Den wichtigsten Unterschied sieht er in den Bindungen an das geltende Recht, was den juristischen Diskurs vom sonstigen (herrschaftsfreien) Diskurs unterscheidet.99 Ausreichend ist für die Richtigkeit der gefundenen Entscheidung, dass diese im Rahmen der vorgegebenen Bindungen „vernünftig begründet werden kann“100, eine Norm sei „genau dann richtig, wenn sie das Ergebnis der durch die Diskursregeln definierten Prozedur sein kann.“101 Diesen streng prozeduralen Ansatz relativiert Alexy jedoch (besonders deutlich in Reaktion auf Ota Weinberger), indem er herausstellt, dass die Diskursregeln auch darauf abzielen, gute Einfälle, gute Gründe und damit richtige Entscheidungen hervorzubringen.102 Hierzu benennt Alexy u.a. folgende Schlagworte für den Diskurs: Widerspruchsfreiheit der Argumente, Universalisierbarkeit, sprachlich-begriffliche Klarheit, empirische Wahrheit, deduktive Vollständigkeit, Folgenberücksichtigung, Festsetzung von Präferenzrelationen, Analyse der Entstehung moralischer Überzeugungen, Berücksichtigung aller Einwände und Gesichtspunkte.103 So bindet die Diskurstheorie die materiell-inhaltliche Komponente des Rechts ein, ohne die formal-prozedurale Struktur zu verlassen. Die Diskurstheorie eröffnet damit einen Spielraum zur Bewertung von Urteilen anhand der Überprüfung, ob im Verfahren diese Idealbedingungen guter Argumentation gewahrt blieben. Der Clou der Diskurstheorie bleibt die schwerpunktmäßige Verortung des Legitimitätsanspruchs auf der prozeduralen Ebene, die aber durch Forderung bestimmter Diskursbedingungen substantiell aufgeladen wird. Für die hiesige Prüfung, welche Kriterien sich zur Bewertung der Rechtsprechung entwickeln lassen, lenkt die Diskurstheorie das Augenmerk auf das Verfahren und mittelbar auf die Stärke der inhaltlichen Argumentation. Ihr liegt zudem eine personale Anknüpfung zugrunde, die sie gerade für den Zivilprozess besonders fruchtbar macht, in dem die Kommunikation der als gleich zu behandelnden Beteiligten Ausgangspunkt der Rechtsfindung ist. Der

98

Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1991, S. 261 ff. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1991, S. 262. 100 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1991, S. 264. 101 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1991, S. 399. 102 Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1991, S. 401. Ähnlich die Kritik von Kaufmann in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 2004, S. 141. 103 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1991, S. 401 m.w.N. 99

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Zusammenhang zur Privatautonomie, dem Schlüsselbegriff des Zivilrechts, ist unverkennbar. d) Rawls’ Vertragstheorie Der Diskurstheorie verwandt ist die Rechtstheorie von John Rawls, die als Vertragstheorie eingeordnet wird und insofern in der Tradition der großen Vertragstheorien der Aufklärung steht.104 Rawls definiert in seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ einen fiktiven Urzustand, in dem Vereinbarungen über Regeln geschlossen würden.105 Der dadurch zustande kommende Gesellschaftsvertrag sei ein gerechter, da im Urzustand die aktuelle Position der Vertragschließenden in der Gesellschaft im Dunklen bleibt – die Parteien stehen hinter einem „Schleier des Nichtwissens“106 und vereinbaren folglich Regeln, die unabhängig von Status, Fähigkeiten oder anderen Merkmalen bleiben, die moralische Urteile ansonsten zu beeinflussen geeignet sind. Rawls argumentiert, im Urzustand würde sich eine Gesellschaft auf Gerechtigkeit als Fairness einigen und zwei Prinzipien zur Grundlage der Gesellschaftsordnung machen, nämlich erstens: Jede Person habe das gleiche Recht auf die weitest gehenden grundlegenden Freiheiten, die mit den Freiheiten anderer vereinbar sind. Zweitens: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten seien zu arrangieren in einem System, das von Chancengleichheit und dem Differenzprinzip gekennzeichnet sei. Letzteres besagt, dass die am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil durch die Ungleichheiten haben müssen.107 Dies seien die elementaren Gerechtigkeitsprinzipien, von denen zu erwarten sei, dass sich die Gesellschaft im Urzustand auf sie einige. Rawls arbeitet hier mit der Idee „legitimer Erwartungen“ (als Kehrseite des Prinzips der Fairness), die als Maßstab für die prospektive Bestimmung von Ansprüchen genügen müssen.108 Seine liberal strukturierte Rechtstheorie ist zunächst als Staats- und Gesellschaftstheorie erkennbar, an dessen materialen Gehalt sich zahlreiche abweichende Ordnungsvorstellungen entzündeten. Libertäre Theoretiker wie Robert Nozick auf der einen Seite lehnten Rawls starken Impuls der sozialen Gerechtigkeit ab, der sich vor allem im Differenzprinzip niederschlägt. Kommunitaristische Denker wie Charles Taylor, Michael Walzer oder Amitai Etzioni auf der anderen Seite des rechtsphilosophischen Spektrums wandten sich gegen den starken individuellen Freiheitsimpuls bei Rawls und betonten demgegenüber die Stärke des gemeinschaftlichen Gefüges. 104 Siehe Rawls, A Theory of Justice, 1997; ders., Gerechtigkeit als Fairness, 2003; Rawls beruft sich selbst auf die Aufklärer Locke, Rousseau und Kant, siehe A Theory of Justice, S. 11. 105 Rawls, A Theory of Justice, 1997, S. 12. 106 Ebd. 107 Rawls, A Theory of Justice, 1997, S. 60 f.; ders., Gerechtigkeit als Fairness, 2003, S. 77 f. 108 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 2003, S. 120 ff.

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Eine Fruchtbarmachung dieser Rechtstheorie für die Bewertung von Urteilen fällt nicht leicht, insbesondere angesichts der Fiktionalität des Urzustands, die eine simple Übernahme des Prinzips in die Arena der Rechtsfindung verbietet. Rawls selbst betont allerdings die Rechtsstaatlichkeit und damit auch die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen vor Gericht als wichtiges Element der Gesellschaftsordnung und des Vertrags. Eine wesentliche Rolle spielt der für die übergeordnete Idee der Fairness wesentliche Aspekte der „legitimen Erwartungen“. Diese müssten klar umrissen sein, würden sie enttäuscht, stehe der Rechtsweg offen.109 Funktioniere dies nicht, seien die individuellen Freiheiten und die Effizienz der Kooperation bedroht.110 Rawls benennt für ein rule-of-law-basiertes Rechtssystem mehrere Regeln:111 Das Recht darf keine unerfüllbaren Pflichten statuieren. Gesetzgebung und Rechtsprechung müssen „in good faith“ erfolgen, und dies muss auch für die Rechtsunterworfenen erkennbar sein. Gleiches muss gleich behandelt werden. Regeln müssen bekannt, offiziell und eindeutig sein, damit das Verhalten und Kooperation an legitimen Erwartungen ausgerichtet werden können. Schließlich müssen Verfahrensrechte garantiert werden. Die Beispiele, die Rawls erwähnt, stammen häufig aus dem Bereich des Strafrechts. Dennoch lassen sich in der geglückten Belebung der Vertragstheorie auch Elemente erkennen, die für das Urteil im Zivilprozess von Interesse sind: Erstens stellt Rawls, darin der Diskurstheorie ähnlich, die Personen ganz in den Fokus seiner Überlegungen. Das Individuum, das im Zivilrecht die zentrale Rolle beansprucht, ist Handlungsträger und – geradezu im kantischen Sinne – Maßstab der Entscheidungen. Die Autonomie der Parteien ist also zu wahren. Dies zeigt sich nicht nur am Ausgangspunkt des Vertragsmodells, sondern auch an der scharfen Betonung der Chancengerechtigkeit. Zweitens ist der Schleier des Nichtwissens ein faszinierendes Denkspiel, um die Rolle der Parteien bei der Interessenabwägung im Prozess zu dechiffrieren. Die Vorstellung einer Loslösung aus aktuellen Bindungen kann dabei helfen, gerechtfertigte und nicht gerechtfertigte Interessen zu differenzieren. Auch für den institutionell unabhängigen, aber durch Vorprägungen gebundenen Richter schärft dieses Modell den Blick. Drittens verknüpft Rawls noch stärker als die Anhänger der Diskurstheorie einen prozeduralen Weg (Vertragstheorie) mit einer Werthaltigkeit (Chancengleichheit, Freiheit). An dieser Doppelspurigkeit des Rechts kann eine moderne Kriterien-Lehre nicht vorbeigehen. Auffällig ist dabei nicht zuletzt die hohe Bedeutung, die dem Verfahren zugemessen wird – und die die substantiellen Wertungen teilweise verdrängt.

109 110 111

Vgl. Rawls, A Theory of Justice, 1997, S. 235. Vgl. Rawls, A Theory of Justice, 1997, S. 236. Vgl. Rawls, A Theory of Justice, 1997, S. 237 ff.

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e) Luhmanns Verfahrenstheorie Niklas Luhmann befasst sich in seiner Schrift „Legitimation durch Verfahren“ ausführlich mit dem Gerichtsprozess als einer zentralen Idee moderner politischer Systeme.112 Sein soziologischer Ansatz erfasst das Recht als ein autopoietisches System, also als ein soziales System, das durch Kommunikation in einem Netzwerk erzeugt wird und sich in einem zirkulären Prozess weiterentwickelt. Trotz der Offenheit für extrasystemische Einflüsse grenzt sich das System selbst von der Umwelt ab.113 In der Sprache der Systemtheoretiker (zu deren bedeutendsten Vertretern im Recht Gunther Teubner zählt) geht es sodann um einzelne Codierungen, strukturelle Typologien, Komplexitätsreduktionen und die Rolle der Beobachtung, um mit Hilfe dieser Elemente die Wirkungsweise des Systems – hier des Rechts – zu erklären. Kennzeichnend für Luhmanns Einschätzung des Verfahrens ist die Auffassung, dass das Verfahren auf der Übernahme von Rollen durch die Beteiligten basiert.114 Das Spielen einer Rolle ermögliche eine so weitgehende Entpersonalisierung, dass Entscheidungen hingenommen werden können (also als legitim empfunden werden), selbst wenn sie konträr ausfallen. Der Richter ist der Moderator eines solchen Rollenspiels, der auf die formale Erhaltung einer Kontaktfähigkeit der Beteiligten hinzusteuern hat, damit das System Gerichtsverfahren sich erhält.115 Die Systemtheoretiker sehen es nicht als ihre Aufgabe an, Bewertungskriterien für Urteile zu entwickeln. Luhmann bewegt aber die Frage, wie die mögliche Diskrepanz zwischen der sachlichen Unrichtigkeit eines Urteils und seiner Rechtskraft theoretisch erfasst werden kann.116 Er konstatiert die fortlaufende Schwächung des Wahrheitsziels und damit der Richtigkeit der Entscheidung. Diese gewinnt ihre Bedeutung aus der autonomen Erarbeitung einer „Verfahrensgeschichte“ (durch Kommunikation, Rollendifferenzierung, Institutionalisierung von Konflikten u.a.) im ausdifferenzierten System des Gerichtsverfahrens.117 Die Funktionalität des Systems und seine Perpetuierung durch fortlaufende Selbsterneuerung legitimieren die Entscheidung. Die Rolle des Richters in diesem System interpretiert Luhmann als die eines Unparteilichen, der in einem festgefügten Konditionalprogramm (vorgegeben durch Gesetze) Komplexität reduziert, und der keinesfalls weitergehende Zwecke verfolgen darf, um das notwendige Vertrauen in das System nicht

112 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 2008. Dazu Zippelius in: FS Larenz, 1973, S. 293 ff. 113 Vgl. Büllesbach in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 2004, S. 428 ff. 114 Vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 2008, S. 57 ff., 63, 87. 115 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 2008, S. 86. 116 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 2008, S. 17. 117 Vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 2008, S. 55.

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durch vorangegangene Bindungen zu erschüttern.118 Von Kritik und Haftung sei er daher freizustellen, um ihn nicht zu belasten.119 Die hier knapp skizzierte Erfassung des gerichtlichen Verfahrens als System muss man nicht teilen.120 Drei Punkte des Luhmannschen Programms scheinen aber für die weitere Befassung bedenkenswert: Erstens betont er den Wert des Verfahrens als einem entscheidenden Faktor für die Akzeptanz von Urteilen und für die Auflösung der Spannungen, die der Konfliktschlichtung inhärent sind. Zweitens macht Luhmann deutlich, dass mit materialen Werten überfrachtete Erwartungen an das Gerichtsurteil das Funktionieren des Streitschlichtungsmechanismus gefährden. Schließlich knüpft seine Idee der Autopoiesis an evolutionäre Elemente im Rechtswesen an, also auf die eigenständige Fortentwicklung des Rechts aus sich selbst heraus unter Einschluss bisheriger Erfahrungen und außerrechtlicher Einflüsse. f) Ökonomische Analyse So wie die Systemtheorie mit soziologischen Begrifflichkeiten das Recht erfasst, wendet die ökonomische Analyse des Rechts die Parameter einer anderen wissenschaftlichen Disziplin auf das Recht an und entwickelt daraus einen neuen Beschreibungsrahmen und ein neues normatives Konzept für das Recht.121 Die ökonomische Analyse geht dabei, wie die Volkswirtschaftslehre, von der Frage aus, wie begrenzte Ressourcen möglichst geschickt eingesetzt werden können. Untersucht wird der Beitrag des Rechts für die Entscheidung der Marktteilnehmer zum Einsatz der Ressourcen. Zwei Pfeiler der ökonomischen Analyse sind dabei zu unterscheiden: Zum einen stellen Ökonomen empirisch-analytische Hilfsmittel zur Verfügung, um Regelungen und Institutionen des Rechts zu erfassen. Dies ist ein deskriptives Vorgehen. Zum anderen werden aber auch normative Konzepte vertreten, die eine Aufladung des Rechts, und hier nicht zuletzt des Wirtschaftsrechts, mit ökonomischen Zielvorstellungen propagieren, insbesondere der Effizienz. Diese würden einen materiellen Beurteilungsmaßstab zur Qualität von Rechtsprechung darstellen können. Die Fruchtbarmachung ökonomischer Forschungsmethoden für die Messung der Qualität von Rechtsprechung liegt methodisch auf der Hand, immerhin ist die Erfassung und Auswertung von Transaktionen (und als solche lassen sich auch Rechtsakte interpretieren) Gegenstand der ökonomisch-empirischen Forschung. In diesen Zusammenhang gehört auch die evolutionär118

Vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 2008, S. 133 ff. Vgl. Zippelius in: FS Larenz, 1973, S. 293, 298 f. 119 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 2008, S. 135. 120 Vgl. Brehm in: Stein/Jonas, ZPO, 2003, Vor § 1 Rn. 29. 121 Grundlegend Posner, Economic Analysis of Law, 2011, § 1.2; Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2005, S. 4 ff.; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 2005, S. 10 f.

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ökonomische Forschung, die in Kapitel 2 bereits dargestellt worden ist. Statistisch erfassbare Kriterien liegen in der Rechtsprechung teilweise vor, sodass eine Qualitätsmessung mittels empirisch-ökonomischer Analyse durchaus vertreten wird.122 Wie in einem Benchmarking-Verfahren ließe sich die gerichtliche Konfliktlösung kategorisieren. Als statistisch erfassbare Werte kommen etwa die Verfahrensdauer, die Rechtsmittelquote, die Erledigungsart, die Fehlerstatistik, die Kosten und zahlreiche weitere Aspekte in Betracht. Die teilweise Einführung ökonomischer Analysen, angefangen bei der statistischen Erhebung von Fallzahlen bis hin zur Auswertung von Gerichtsurteilen nach den damit verbundenen Wohlfahrtseffekten, hat bereits in den vergangenen Jahren massive Erkenntnisfortschritte in der Rechtswissenschaft erbracht. Röhl schreibt: „In der Justiz werden Massenvorgänge bearbeitet, die sich statistisch leicht zu Hunderten, Tausenden oder gar zu Millionen aggregieren lassen. Es ist schlechthin unvorstellbar, dass sich die Qualität einer solchen Massendienstleistung nicht sollte messen lassen.“123

In der Tat wäre verwunderlich, wenn hier nicht mit statistischen oder ökonometrischen Werkzeugen interessante Zusammenhänge aufgezeigt werden könnten. Der Auffassung Röhls steht jedoch eine weit verbreitete, erheblich skeptischere Sicht gegenüber, die Helge Sodan, der sich selbst für Qualitätsmaßstäbe für die Rechtsprechung ausspricht, wie folgt auf den Punkt bringt: „Die Qualität einer einzelnen Entscheidung im Sinne eines gesellschaftlichen Nutzens wird sich nicht an einem entwickelten Kennzahlenraster quasi naturwissenschaftlich ablesen lassen. Die rechtlichen und organisatorischen Besonderheiten der dritten Gewalt verbieten eine unreflektierte Übertragung der für die Privatwirtschaft oder für die Verwaltung entwickelten Qualitätskriterien.124“

Es gibt also auch in der Wissenschaft grundlegende Zweifel an den Möglichkeiten der Urteilsbewertung. Sowohl in Röhls als auch in Sodans Aussage vermischen sich genau die zwei Dimensionen, die es zu trennen gilt: die statistische Arbeit dient der Abbildung von Zusammenhängen; die Qualitätsmessung an dieser Abbildung abzulesen, setzt jedoch einen Maßstab voraus, der durch das bloße Zahlenwerk noch nicht vorgegeben ist.125 Die normative Dimension der ökonomischen Analyse betrifft die Ausrichtung des Rechts. Ein Urteil ist demnach als „gut“ anzusehen, wenn es ökono122 Vgl. Röhl, Kann die Qualität der Justiz gemessen werden?, Thesen, 29./30.1.2000, abrufbar unter http://www.ruhr-uni-bochum.de/rsozlog/06-qualitaetskontrolle.html; vgl. Bargen, NJW 2006, 2531, 2535. 123 Röhl, Kann die Qualität der Justiz gemessen werden?, Thesen, 29./30.1.2000, These 1, abrufbar unter http://www.ruhr-uni-bochum.de/rsozlog/06-qualitaetskontrolle.html. 124 Sodan, NJW 2003, 1494, 1495. 125 Vgl. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 2005, S. 16 m.w.N.

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mischen Zielen verpflichtet ist, etwa bestimmte Wohlfahrtseffekte fördert. Horst Eidenmüller hat diese Tendenz mit dem Schlagwort von der „Effizienz als Rechtsprinzip“126 auf den Punkt gebracht. Er schreibt: „Es ist die Aufgabe aller Institutionen des Rechtssystems, also nicht nur des Gesetzgebers, sondern – soweit möglich – auch der Gerichte, Entscheidungen zu treffen, die (…) den gesellschaftlichen Wohlstand erhöhen oder ihn zumindest nicht verringern.“127

Normativ geht es also um eine Folgenanalyse und darum, diese zu antizipieren und an Wohlfahrtsstandards auszurichten. Dass rechtliche Regelungen wirtschaftliche Folgen haben, wirkt wie eine Binsenweisheit, daraus Konsequenzen zu ziehen und nicht bei einem rechtlichen Formalismus unter Verkennung der wirtschaftlichen Realitäten stehen zu bleiben, ist aber durch die US-amerikanische „law and economics“Bewegung etabliert worden. Die Folgen umfassen nicht nur die unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen durch den Urteilsspruch (etwa eine Vermögensverschiebung zwischen den Parteien), sondern auch die mittelbaren Effekte durch rechtliche Anreizsetzung und Verhaltenssteuerung. Insbesondere Grundsatzurteile der Obergerichte können Wirkungen für ganze Wirtschaftszweige enthalten, auch wenn das Urteil eigentlich nur die Parteien bindet.128 Diese Steuerungsmechanismen sind natürlich noch evidenter in der Gesetzgebung, die sich per definitionem an einen weiten Adressatenkreis richtet. Das erste Paradigma der ökonomischen Analyse ist, den Fokus von der Beurteilung einer Rechtsfrage zu verschieben auf die Folgenorientierung. Diese tritt an die Stelle des Systems von Regeln, Normen und Werten, die von Juristen gemeinhin als im Zentrum des Rechts stehend akzeptiert werden. Rechtsprechung ist dann in erster Linie nicht mehr ex-post Bewertung eines historischen Sachverhalts, sondern Intervention anlässlich eines Sachverhalts mit Wirkungen für die Zukunft.129 Das zweite Paradigma ist die Beurteilung der Folgen im Hinblick auf ihre Wohlfahrtseffekte. Die Erhöhung des gesellschaftlichen Wohlstands, ökonomisch formuliert: Effizienz, wird zum Maßstab des Rechts erhoben und anderen Ideen vorgezogen. Entsprechend haben Louis Kaplow und Steven Shavell in ihrer berühmten Streitschrift die Überlegenheit eines Wohlfahrtsstandards gegenüber Fairness-Konzepten (wie sie etwa ein Rawls-Anhänger als das Recht prägend postulieren würde) behauptet.130 Verschiedene Arten von Effi-

126

Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2005. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2005, S. 4. 128 Vgl. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 2005, S. 16. 129 Wagner, AcP 206 (2006), 352, 424. 130 Kaplow/Shavell, Welfare vs Fairness, 2006; kritisch Fikentscher/Hacker/Podszun, Fair Economy, 2013, Kap. 2. 127

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zienzen können unterschieden werden:131 Allokationseffizienz bezeichnet einen Faktoreinsatz, der zum volkswirtschaftlich sinnvollsten Ergebnis führt. Dabei sind die Präferenzen der Marktteilnehmer zu berücksichtigen. Gemessen wird in der Wohlfahrtsökonomik die Effizienz mit Hilfe des Pareto-Kriteriums132 und des Kaldor-Hicks-Kriteriums133. Das Pareto-Kriterium, zurückgehend auf den italienischen Gelehrten Vilfredo Pareto (1848–1923), rückt für Maßnahmen zur Wohlfahrtssteigerung den Nutzen des Einzelnen in den Mittelpunkt. Das Pareto-Optimum ist demnach erreicht, wenn kein Parameter mehr verändert werden kann, ohne dass der Nutzen zumindest einer Person gemindert wird.134 Das Kaldor-Hicks-Kriterium, das die US-Ökonomen Nicholas Kaldor und John Hicks 1939 entwickelt haben, besagt, dass die Wohlfahrt dann maximiert werden kann, wenn die Nutzenminderung eines von Umverteilung Betroffenen durch eine Entschädigungsleistung des von der Umverteilung Profitierenden ausgeglichen werden kann.135 Damit werden potenzielle Kompensationsleistungen der Gewinner zu wesentlichen Kriterien der Interessengewichtung. Andere Effizienz-Begriffe lenken den Blick auf weitere volkswirtschaftlich relevante Aspekte, die durch Recht und den daraus folgenden Faktoreinsatz beeinflusst werden können, etwa Produktivität (Produktionseffizienz), Innovationen (dynamische Effizienz) oder institutionelle Anpassungsmöglichkeiten (adaptive Effizienz). Dem effizienz-geleiteten Programm der ökonomischen Theorie des Rechts wird erst seit Kurzem mit einer gewissen Offenheit in der deutschen Rechtswissenschaft begegnet.136 Traditionell richten sich erhebliche Widerstände gegen den normativen Zugriff der ökonomischen Analyse: Die Ausrichtung auf Wohlfahrtseffekte darf nach Ansicht der Kritiker nicht normativ zum Programm gemacht werden.137 Während der Wert der ökonomischen Analyse als solcher und die Bedeutung einer Folgenabwägung bei wirtschaftsrechtlichen Gesetzgebungsverfahren jedoch zunehmend akzeptiert wird, ist weiterhin offen, ob ökonomische 131 Vgl. Schwalbe in: Fleischer/Zimmer, Effizienz als Regelungsziel, 2008, S. 43 ff.; Fleischer/Zimmer in: Fleischer/Zimmer, Effizienz als Regelungsziel, 2008, S. 9, 14 f.; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 2005, S. 24 ff. 132 Kann eine Variable so verändert werden, dass der Zustand verbessert wird, ohne dass ein anderer Parameter verschlechtert wird? Ist dies nicht der Fall, liegt das Pareto-Optimum vor. 133 Kann eine Variable so verändert werden, dass der Zustand insgesamt verbessert wird, da Verluste durch Kompensationszahlungen der Gewinner an die Verlierer ausgeglichen werden können?. 134 Vgl. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2005, S. 48 ff.; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 2005, S. 25 ff. 135 Vgl. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2005, S. 51 ff.; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 2005, S. 32 ff. 136 Vgl. Fleischer/Zimmer in: Fleischer/Zimmer, Effizienz als Regelungsziel, 2008, S. 9, 11; Lieth, Die ökonomische Analyse des Rechts, 2007, S. 15 ff. 137 Vgl. statt aller Stürner, JZ 2012, 10, 22 f.

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Analyse und Effizienz-Standards auch im gerichtlich zu entscheidenden Einzelfall verlangt werden können. Denkbar wäre, jedem Urteilsspruch eine Folgenabwägung vorzuschalten, Wohlfahrtsaspekte in der teleologischen Auslegung oder im Rahmen von Abwägungsvorgängen zu berücksichtigen. Ob dies in einzelnen Verfahren überhaupt handhabbar ist, ob es sinnvoll und erwünscht ist, ob die ökonomische Ausrichtung vielleicht sogar das primäre Qualitätsmerkmal in wirtschaftsrechtlichen Prozessen darstellt, ist selbst unter Befürwortern eines ökonomischen Ansatzes umstritten.138 Aber schon legitimatorisch weist der ökonomische Ansatz Defizite auf. So begrüßenswert eine Berücksichtigung der wirtschaftlichen Wirklichkeiten ist, so wenig lässt sich theoretisch eine Dominanz des Wohlfahrtsimperativs über andere Wertvorstellungen herleiten. Der Gesetzgeber hat nämlich nicht einmal im Wirtschaftsrecht seine Tätigkeit allein dem Ziel untergeordnet, einen reibungslosen Wirtschaftsverkehr zu ermöglichen oder Effizienzen zu generieren und gemäß moderner ökonomischer Theorie zu verteilen.139 Vielmehr wird mit der Gesetzgebung auch eine wertgebundene Ordnungsidee, der Anspruch einer normativen Durchdringung der Wirtschaft, verbunden. Diesem Auftrag muss dann auch die Rechtsprechung nachkommen, die sich folglich nicht allein der Wohlfahrtsmehrung verpflichten kann. Dies bedeutet nicht zwingend, dass es für die Kriterien guter Rechtsprechung überhaupt nicht auf die wirtschaftliche Folgenerwägung oder die Wohlstandsmehrung ankommt. Die Konstruktion einer Berücksichtigungsfähigkeit kann sich jedoch nicht darin erschöpfen, gleich das gesamte Rechtswesen einer Effizienzorientierung zu unterwerfen. Es wird später zu zeigen sein, wie über die Funktionalität der gerichtlichen Konfliktschlichtung auch eine ökonomische Betrachtung eingebunden werden kann.140 g) Zusammenfassung Die verschiedenen Ansätze zur Urteilsanalyse lassen erkennen, dass es keinen allgemeinen, anerkannten Maßstab zur Bewertung von Entscheidungen und zur Messung der Qualität von Rechtsprechung gibt, und dass eine Befassung mit dieser für Wissenschaft und Praxis wichtigen Frage noch selten ist. Selbstverständlich ist die Bindung des Richters an Gesetz und Recht die wesentliche Anforderung, die an ein Urteil zu stellen ist. Diese Forderung bezieht sich sowohl auf das materielle Recht als auch auf Form und Verfahren. Die Theorie richterlichen Entscheidens arbeitet heraus, dass der Prozess der Urteilsfin138

Dazu unten, D.III.2. Siehe auch unten. Kritisch etwa Fezer, JZ 1986, 817 ff. (gegen das von der ökonomischen Analyse vertretene Menschenbild); differenziert Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 162 ff. (gegen einen „Absolutheitsanspruch“ (S. 185) und für ein Modell der normativen statt ökonomischen Effizienz). 140 Siehe dazu D.III.2. 139

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dung nicht allein reinen Rationalitätskriterien folgt, sondern von sozialen, psychologischen, ökonomischen und anderen Faktoren mitbestimmt wird. Die hier vorgestellten Ansätze moderner Rechtstheorien werfen Schlaglichter auf die Dimensionen des Problems einer Urteilsbewertung und liefern Material für eine Einbindung der Thematik. Die großen rechtstheoretischen Entwürfe der vergangenen Jahrzehnte weisen dem richterlichen Entscheidungsprozess eine bedeutende Stellung zu, weichen aber der Frage nach der Güte gerichtlicher Konfliktlösung im Detail und insbesondere bezogen auf das Zivilverfahren aus. Eine Checkliste der Merkmale guter Rechtsprechung lässt sich nicht ohne weiteres aus den Entwürfen der Positivisten und der Diskurs-, Vertrags- und Systemtheoretiker ermitteln. Am ehesten lässt sich die ökonomische Analyse des Rechts in dieser Hinsicht anwenden. Ihre konsequente Befolgung würde aber den Blick einseitig auf eine Folgenorientierung verengen. Dennoch lassen sich Grundideen für die Bewertung von Urteilen erkennen: Hattenhauer und Sodan zeigen die verschiedenen Dimensionen des Problems auf. Sie liefern das methodische Rüstzeug, um das Genre der Urteilskritik zu systematisieren. Zu Recht behandeln sie dabei sowohl inhaltliche als auch formale Aspekte, sie gehen also sowohl vom Ergebnis des Urteils aus, als auch von seinen Entstehensbedingungen (u.a. der Justizorganisation) und dem Verfahren. Darin ist eine Doppelspurigkeit angelegt, die sich in den rechtstheoretischen Entwürfen in unterschiedlicher Form findet: Die klassische Methodenlehre lenkt den Blick stärker auf das inhaltliche Ergebnis, indem sie auf das Gesetz als wichtigstem Arbeitsmittel der Justiz vertraut. Der Ansatz der Methodenlehre zu einem guten Urteil ist die Stärkung seiner inhaltlichen Überzeugungskraft durch die Verwendung von Hilfsmitteln, welche die Bindung an das Gesetz ermöglichen. Ergänzt wird dies durch die Forschungen zum Prozess richterlichen Entscheidens, die den Blick auf die psychologischen und prozeduralen Bindungen der mit Rechtsprechung betrauten Personen lenken. Die Diskurstheorie bezieht die personal Beteiligten in ihrer kommunikativen Kooperation ein, bestimmt prozedurale Grundbedingungen und erhebt den Konsens unter den Streitparteien zum Maßstab. Auch in der Vertragstheorie wird die Bedeutung des Verfahrens betont, aber aus dem (fiktiven) Vertragsschluss auch eine prinzipienorientierte Vorstellung von Recht entwickelt (die sich stellenweise mit Dworkins Ansicht trifft). Luhmanns Ansatz ordnet das Rechtswesen als System ein, betont gleichermaßen einen prozeduralen Ansatz und hilft bei der Dechiffrierung einzelner Elemente des Systems. Ökonomische Methoden lassen Zusammenhänge erkennen, die für die Analyse von Urteilen wichtig sind, verengen aber das normative Programm auf eine Effizienzsteigerung, die nicht einmal im Wirtschaftsrecht gedeckt ist.

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II. Ausgangspunkte einer legitimatorischen Urteilsanalyse Den bisherigen Anknüpfungspunkten wird eine legitimatorische Urteilsanalyse entgegengestellt, die Qualitätskriterien aus der Legitimation der gerichtlichen Konfliktschlichtung schöpft. Hiermit wird einerseits an die rechtstheoretischen Entwürfe, die auch Legitimationsfragen ansprechen angeknüpft, andererseits an den funktionalen Ansatz von Anusheh Rafi und die in der Zivilverfahrensrechtswissenschaft vertretenen Prozesszwecktheorien. Eine wichtige Ergänzung erfahren solche Überlegungen durch eine Multiperspektivität.

1. Funktionaler Ansatz Einen wichtigen Beitrag zur Forschung über die Bewertung von Urteilen leistet Rafi in seiner Dissertation „Kriterien für ein gutes Urteil“141. Er versteht das Urteil als Institution der Rechtsordnung, die funktional für das Gesamtgefüge zu analysieren ist. Sein Ausgangspunkt für die Bestimmung von Kriterien eines guten Urteils sind also Ziel und Funktion des Urteils als Institution in der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft.142 Das Urteil erhalte seinen Wert nämlich als Mittel zur Zweckerreichung, es mangele dem Urteil ein intrinsischer Wert, an den eine qualitative Bestimmung geknüpft werden könne.143 Von dieser Erkenntnis ausgehend benennt Rafi mögliche Ziele eines Urteils. Einziges unstrittiges Ziel sei die Schaffung von Rechtsfrieden. Weitere Aspekte für die Qualität eines Urteils seien Gerechtigkeit, Wahrheit, Rechtssicherheit, der Schutz subjektiver Rechte, die Bewährung objektiven Rechts sowie Effizienz144. Vor diesem Hintergrund identifiziert Rafi neun Kriterien, an welche die Qualität eines Urteils gebunden sei: Wortlaut des Gesetzes, Folgeerwägungen, Dogmatik, gesellschaftliche Moralvorstellungen, Zeit, Erzählung der Parteien, gesellschaftliche Praxis, Logik, Verständlichkeit. Während diese Kriterien durchaus der weiteren Überprüfung bedürfen, überzeugt der Ausgangspunkt von Rafis Überlegungen: Grundsätzlich sind qualitative Maßstäbe zur Beurteilung von Institutionen aus deren Funktion abzuleiten. Wer ein Instrument schafft, so wie hier der Gesetzgeber das Instrument des Urteilsspruchs, der wird an das Instrument in erster Linie die Anforderung der Zielerreichung stellen. Qualität wird dann mit Zielerreichung gleichgesetzt, das gute Urteil „ist demnach ein Urteil, welches seiner Funktion gerecht wird“145. Funktionalität ergibt Qualität. Dies entspricht einem sozialwissenschaftlichen Zugriff auf die Thematik. Manfred Rehbinder fasst – in 141 142 143 144 145

Rafi, Kriterien für ein gutes Urteil, 2004. Rafi, Kriterien für ein gutes Urteil, 2004, S. 43 ff., 78. Rafi, Kriterien für ein gutes Urteil, 2004, S. 44 f. Vgl. Rafi, Kriterien für ein gutes Urteil, 2004, S. 48 ff. Rafi, Kriterien für ein gutes Urteil, 2004, S. 48.

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Anlehnung an Llewellyn – die soziologische Position zu den Funktionen des Rechts (und damit mittelbar des Prozesses) so zusammen: „Recht festigt den sozialen Zusammenhalt der Rechtsgemeinschaft durch Bereinigung von Konflikten (Reaktionsfunktion), durch Verhaltenssteuerung (Ordnungsfunktion), durch Legitimierung und Organisation sozialer Herrschaft (Verfassungsfunktion), durch Gestaltung der Lebensbedingungen (Planungsfunktion) und durch Rechtspflege (Überwachungsfunktion).“146

Rechtssoziologen sehen also die systemische Funktion des Urteils mit besonderer Schärfe (wenn auch vielleicht gelegentlich mit allzu ideologischen Anflügen) und verweisen primär auf seine institutionelle Funktion, nämlich seine Bedeutung für das soziale Gefüge.

2. Klassische Prozesszwecktheorien Ohne Rückgriff auf die großen Rechtstheorien der Gegenwart arbeitet die Zivilverfahrensrechtswissenschaft grundlegend über Funktionen und Legitimationen gerichtlicher Konfliktschlichtung. Für die Auslegung der zivilprozessualen Normen und für das Verständnis des Urteils als Spiegel147 und Schlusspunkt eines Verfahrens gemäß § 300 ZPO ist über die allgemeine Einordnung hinaus der Zweck des Zivilprozesses zu konkretisieren. Aus diesem Zweck ergibt sich die Legitimation des Urteils, aus dieser wiederum lassen sich die Maßstäbe ableiten, die an Urteile anzulegen sind. Was ist also die Funktion eines Zivilprozesses? Die Rechtswissenschaft hat die Diskussion über Prozesszwecktheorien seit Jahrzehnten geführt und immer wieder aus der Funktion des Prozesses bzw. des Urteils heraus zivilprozessual argumentiert.148 Es lassen sich zwei wichtige Argumentationslinien unterscheiden: Der überwiegende Teil der Lehre sieht den Prozess primär als Verfahren zur Durchsetzung subjektiver Rechte.149 Die materielle Gerechtigkeit im Einzelfall steht damit im Vordergrund. Das setzt voraus, dass im Verfahren die Wahrheit ermittelt wird und die Wahrheitsfindung nicht zugunsten einer raschen Konfliktschlichtung hintangestellt wird.150 Der Bezug des Prozesses zur materiellen Ordnung, also der privatrechtlichen Rechtsordnung, ist nach dieser Auffassung besonders eng, da das Verfahren seine Legitimation gerade daraus bezieht, dass die in der objektiven Wertordnung zugeschriebenen subjek146

Rehbinder, Rechtssoziologie, 2009, Rz. 110. Vgl. Hattenhauer, Die Kritik des Zivilurteils, 1970, S. 45. 148 Vgl. Gaul, AcP 168 (1968), 27, 35 f. 149 Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 2010, § 1 Rn. 7; Brehm in: Stein/ Jonas, ZPO, 2003, Vor § Rn. 9; Rauscher in: MüKo-ZPO, 2008, Einl Rn. 8; Prütting in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 2011, Einl Rn. 3; Saenger in: Hk-ZPO, 2011, Einführung Rn. 3; Schilken, Zivilprozessrecht, 2010, § 1 Rn. 9 ff.; Meyer, JR 2004, 1, 6; Kocher, Funktionen der Rechtsprechung, 2007, S. 310. 150 Schilken, Zivilprozessrecht, 2010, § 1 Rn. 11. 147

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tiven Rechte durchgesetzt werden. Der Prozess bleibt darauf ausgerichtet, die Parteien in der Behauptung und Durchsetzung ihrer subjektiven Rechte möglichst stark zu machen. Das reduziert die Bedeutung des Richters und stärkt die Rolle der Parteien für das Verfahren. Reflexartig wird, so diese Auffassung, durch die Betonung der subjektiven Rechte die objektive materielle Wertordnung durchgesetzt („Bewährung der Rechtsordnung“).151 Deren Durchsetzung sei nicht Selbstzweck im Privatrecht, wohl aber eine wichtige Folge, die im Interesse der Allgemeinheit liege. Das Urteil muss bei einer auf Rechtsdurchsetzung und materielle Gerechtigkeit im Einzelfall auf Basis der Zuweisung subjektiver Rechte darauf ausgerichtet sein, diese Rechte korrekt zu ermitteln, zu benennen und durchsetzbar zu machen. Eine andere Auffassung rückt nicht den materiellen Kern des Prozesses in den Vordergrund, sondern die Sicherung des Rechtsfriedens oder, in neueren Überlegungen, die Konfliktlösung.152 Der Bezug des Prozesses zur materiellen Ordnung ist nach dieser Auffassung etwas stärker gelöst: Zwar ist eine endgültige Konfliktlösung nur denkbar, wenn sich eine Gerechtigkeitsvorstellung im Einklang mit dem materiellen Recht durchsetzt. Jedoch kann auch die rasche Beendigung eines Rechtsstreits unabhängig vom Gerechtigkeitsgehalt des Ausgangs einen Beitrag zum Rechtsfrieden leisten oder den Konflikt beenden. Die Legitimation der Konfliktlösung ist dann autoritativ-formal, nicht argumentativ-materiell. Für das Verfahren bedeutet dies, dass der Prozess stärker richterlich gelenkt werden kann und eine Fokussierung auf die Interessen der Parteien zwecks einer Konfliktschlichtung erfolgen muss.153 Das Verfahren an sich dient nicht primär der Wahrheitsermittlung, sondern der Erreichung eines akzeptablen Zustands für die streitenden Parteien. Ein solcher kann beispielsweise durch einen Vergleich erreicht werden. Das Urteil wiederum muss dementsprechend auf eine nachhaltige Konfliktlösung ausgerichtet werden, die zwar eine materielle Positionierung einschließt, aber in erster Linie die Auseinandersetzung klärt und idealerweise Perspektiven der Kooperation in der Zukunft eröffnet. Mit dieser Position eng verbunden sind diejenigen Autoren in der Lehre, die als Zweck des Prozesses die Gewährung von Rechtssicherheit ansehen154 oder im Prozess einen gleichberechtigten Dialog der Parteien sehen, der einer Konfliktlösung, ggf. im diskursiven Verfahren, dient.155 Auch die rechtssoziologische Position, die den Richterspruch als individuelle Interessenwürdigung im Konfliktfall versteht, die aus der Funktionsteilung im 151

Vgl. Brehm in: Stein/Jonas, ZPO, 2003, Vor § 1 Rn. 6, 12 f. Vgl. Rafi, Kriterien für ein gutes Urteil, 2004, S. 78; Kocher, Funktionen der Rechtsprechung, 2007, S. 489; Wilke in: Isensee/Kirchhof, HStR V, 2007, § 112 Rn. 56; Badura, Staatsrecht, 2003, H Rn. 3. Siehe auch Rauscher in: MüKo-ZPO, 2008, Einl Rn. 9; Rosenberg/ Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 2010, § 1 Rn. 11. 153 Vgl. Brehm in: Stein/Jonas, ZPO, 2003, Vor § 1 Rn. 14 ff. 154 Vgl. Gaul, AcP 168 (1968), 27, 59. 155 Schmidt in: AK-ZPO, 1987, Einl. Rn. 19 ff. 152

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Staatssystem zwischen Parlament und Judikative hervorgeht, weist in diese Richtung.156 Neben diesen beiden Grundpositionen – der Prozess als Verfahren zum Schutz subjektiver Rechte und der Prozess als Verfahren zur Sicherung des Rechtsfriedens – werden weitere Prozesszwecke diskutiert, die aber eher als Ergänzung denn als eigenständige Prozesszwecke zu verstehen sind. So wird die Aus- und Fortbildung des Rechts als ein Zweck der Rechtsprechung angesehen157 ebenso wie der Ausgleich sozialer Ungerechtigkeiten, soweit dies mit dem Gesetz vereinbar ist158. Nach der ökonomischen Theorie des Rechts könnte der Zweck des Zivilprozesses in der Generierung volkswirtschaftlicher Effizienzen liegen, allerdings wird die ökonomische Theorie mit Blick auf Einzelfallentscheidungen und Verfahren eher als Methode zur Verfahrensökonomie denn als „Prozesszweck“ verstanden.159 Im Zusammenhang mit den Prozesszwecken wird die Rolle der Gerichte im Verfahren immer wieder thematisiert. Liberale Prozessrechtler sehen den Zivilprozess ganz in der Verantwortung der Parteien160: Sie gehen von der Gleichordnung der Parteien aus, die ihre subjektiven Rechte durchzusetzen bestrebt sind. Ihnen obliegt daher die Verfahrensgestaltung, während der Richter nur eine passive Rolle einnimmt. Das Prozessrecht dient in erster Linie der Begrenzung seiner Macht und insbesondere dem Schutz der Parteien vor Willkür. Einen ähnlichen Ansatz wählt Georg Steinberg, der in seinem Versuch, eine allgemeine Prozesslehre für alle Verfahrensarten zu schaffen, als wesentliches Kennzeichen des Prozesses die Unterworfenheit des prozessbeteiligten Bürgers unter die richterliche Gewalt ansieht.161 Er interpretiert die Regeln der ZPO als Schutzmaßnahmen (mit verschiedenen Stufen), die die Freiheit sichern, die durch die Unterwerfung unter die richterliche Gewalt mit Prozessbeginn eingeschränkt wird.162 Die liberale Prozessauffassung wird häufig mit der Theorie in Verbindung gebracht, nach der die Rechtsdurchsetzung das Ziel des Zivilprozesses ist. Dies ist jedoch keineswegs eine notwendige Einschränkung. Die soziale Prozessauffassung hingegen nimmt faktische Unterschiede zwischen den formal gleichgestellten Parteien des Zivilprozesses wahr und sieht das Prozessrecht als Mittel, diese Unterschiede auszugleichen.163 Die ZPO 156

Vgl. Raiser, Beiträge zur Rechtssoziologie, 2011, S. 219 m.w.N. Vgl. Brehm in: Stein/Jonas, ZPO, 2003, Vor § 1 Rn. 18 ff.; Rauscher in: MüKo-ZPO, 2008, Einl Rn. 10; Musielak in: Musielak, ZPO Kommentar, 2012, Einl. Rn. 5. 158 Vgl. Musielak in: Musielak, ZPO Kommentar, 2012, Einl. Rn. 5. 159 Vgl. Rauscher in: MüKo-ZPO, 2008, Einl Rn. 15. 160 Vgl. Rauscher in: MüKo-ZPO, 2008, Einl. Rn. 11. 161 Steinberg, Richterliche Gewalt und individuelle Freiheit, 2010, S. 10 ff. 162 Steinberg, Richterliche Gewalt und individuelle Freiheit, 2010, S. 190 f. 163 Vgl. Meyer, JR 2004, 1 ff. m.w.N., der selbst allerdings den Begriff des „sozialen Zivilprozesses“ ablehnt, die Rechtsdurchsetzung als Prozesszweck unabhängig von der sozialen Stel157

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würde damit in erster Linie dem Ziel dienen, die Rechtsdurchsetzung in gleicher Weise für beide Parteien zu gewährleisten.

3. Materieller Geltungsgrund Der funktionale Ansatz, wie ihn Rafi darlegt und wie er in der sozialwissenschaftlichen Analyse im Mittelpunkt steht, ist ein notwendiger Ausgangspunkt, aber kein hinreichender Ansatz, um das Besondere des Urteils zu erfassen. Eine reine Funktionalitätsanalyse verengt die Institution des Urteils auf ihre formale Zielerreichung.164 Bezeichnend ist, dass Rafi seine Beispiele für die Erläuterung seines Qualitätsbegriffs aus anderen Bereichen als denen des Rechts schöpft, wenn er von einem „guten Dieb“ oder den unterschiedlichen Funktionalitäten eines Flugzeugflügels schreibt.165 Die Prozesszwecktheorien weisen in ihrer Verknüpfung des Funktionalen mit dem materiellen Inhalt des Urteils auf diese Besonderheit hin: Recht hat einen intrinsischen Wert, einen inneren Geltungsgrund. Anders als ein Flugzeugflügel hat das Recht eine innere Qualität, die über eine bloße Funktion im Gesamtgefüge hinausgeht, und die sich folglich auch in jeder rechtlichen Institution niederschlagen muss. Das Recht verbindet mit der „technischen Funktionalität“ (das Urteil als formales Instrument) die materielle Wertung (das Urteil als Ausdruck der Rechtsordnung). Es genügt daher nicht, Entstehungsbedingungen des Urteils zu analysieren und zu prüfen, sondern es muss auch die materielle Substanz, die inhaltliche Bedeutung des Urteils betrachtet werden. Die Legitimation des Urteils hat also einen funktionalen, aber auch einen materiellen Geltungsgrund. Die entscheidende Frage ist damit: Warum gibt es eine zivilgerichtliche Konfliktlösung in Urteilsform? Das „Warum“ beinhaltet sowohl die funktionale Einbindung des Urteils als auch die Ebene der materiellen Legitimation, beides Dimensionen der Urteilskritik. Legt man diese Schlüsselfrage an die zuvor erörterten Theorien an, lassen sich verschiedene Impulse beziehen, und es lässt sich auch klarer fassen, wo diese Erklärungsansätze defizitär bleiben: Vom verfassungsrechtlichen Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit auszugehen, wie es der Deutsche Richterbund in seinen Qualitätsüberlegungen tut, greift zu kurz, da die richterliche Unabhängigkeit nur ein Aspekt, aber nicht Grund zivilgerichtlicher Konfliktlösung ist. Hier wird die Persönlichkeit des Handelnden zu Lasten seiner Handlung überhöht. Die klassische Methodenlehre, soweit diese den 164 lung der Parteien in den Mittelpunkt stellt und im Wesentlichen das Recht der Prozesskostenhilfe als sozialen Ausgleich anerkennt. Vgl. krit. auch Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 2010, § 1 Rn. 34 f.; Rauscher in: MüKo-ZPO, 2008, Einl. Rn. 12 ff. 164 Vor diesem Vorwurf ist Rehbinder in Schutz zu nehmen, vgl. seine Bemerkung in Rehbinder, Rechtssoziologie, 2009, Rz. 110 a.E. 165 In Anlehnung an Aristoteles und Bernard Williams, siehe Rafi, Kriterien für ein gutes Urteil, 2004, S. 45.

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Anspruch stellt, Qualitätsmaßstäbe zu entwickeln, verengt den Blick auf das wichtigste materielle Element, die richterliche Gesetzesauslegung, lässt aber andere praktische Fragen, insbesondere bezüglich der formellen Funktionalität, die gleichermaßen von Bedeutung sind, außen vor. Die Theorie richterlichen Entscheidens äußert sich zu der Frage der Legitimation nicht. Dies müssten aber die großen rechtstheoretischen Entwürfe des 20. Jahrhunderts leisten, auch wenn sie sich nicht dezidiert mit dem Sinn des Zivilprozesses befassen: Positivisten sehen im Urteil die Konkretisierung des Gesetzesrechts, die Funktion liegt in der Bewährung der Rechtsordnung durch Schließung der Lücken, die vom Gesetzgeber gelassen worden sind. Der materielle Geltungsgrund des Rechts hingegen folgt für den Positivisten aus der formalen Überlegung seiner Geltung. Kelsen geht hier am weitesten, wenn er den Geltungsgrund der Rechtsordnung im erkenntnistheoretischen Konzept der Grundnorm verankert und die Geltung damit völlig unabhängig von Inhalten macht (Recht als Instrument).166 Die Vertreter der Diskurstheorie sehen im Prozess einen verfahrensrechtlich abgesicherten Diskurs, der der Herstellung eines Konsenses dient, der im Urteil festgehalten wird. Das Urteil ist damit als Ausweis des Diskursergebnisses funktional für die Durchsetzung innerhalb einer Rechtsordnung. Materieller Legitimationsgrund des Urteils ist seine Herstellung in einem Verfahren, das den Anforderungen eines offenen Diskursverfahrens genügt. Das formale Verfahren ersetzt also die inhaltlich-substantielle Begründung. Allerdings wird verschiedentlich darauf hingewiesen, dass auch die Diskurstheorie eine normative Basis hat, die ein bestimmtes materielles Wertkonzept beinhaltet – und sei es nur in der Postulierung der Chancengleichheit im Diskurs.167 In vertragstheoretischen Rechtsmodellen müsste die zivilgerichtliche Konfliktlösung funktional als Klärung der im Gesellschaftsvertrag offen gebliebenen Hierarchien zwischen Prinzipien angesehen werden. Der Prozess selbst kann dabei als eine Art vertragliches Verfahren gelesen werden, das unter Vermittlung eines Dritten einen Teilaspekt des großen Vertrags neu verhandelt. Rawls entwickelt hierzu ähnlich den Diskurstheoretikern einen verfahrensrechtlichen Ansatz, der für den Geltungsgrund wichtig ist. Er bekennt sich aber auch zu einer materiellen Gerechtigkeitsvorstellung (in Form der Prinzipien), die zu beachten sind, um dem Recht (und seiner Konkretisierung im Urteil) eine materielle Legitimation zu verleihen (Gerechtigkeit als Fairness). Luhmann würde das Urteil als Element in einem System werten, sodass vor allem auf die Systemfunktionalität abzustellen wäre; hieran scheint sich auch Rafi zu orientieren. 166

Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, S. 223 ff. Vgl. Kaufmann in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2004, S. 140. 167

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In der ökonomischen Analyse schließlich ist das Urteil durch seinen effizienzsteigernden Beitrag legitimiert: Die Rechtsprechung ist der Wohlfahrtssteigerung verpflichtet. Mit diesem kursorischen Überblick sind wichtige Topoi der Legitimation von Rechtsprechung und Urteilen erfasst.

4. Multiperspektivität Ein qualitatives Werturteil impliziert eine Offenlegung der Perspektive, von der aus die Bewertung vorgenommen wird. Die Frage nach dem Warum des Urteils, nach seiner Funktion und Legitimität, darf sich nicht von vornherein auf einen staatstheoretisch-institutionellen Ansatz verengen – das Urteil hat seine Bedeutung gerade auch für die Parteien. Folglich sind zwei Ansätze für die Perspektivenbildung zu differenzieren: Zum einen ist für die am Konflikt beteiligten Parteien zu fragen, was aus ihrer Sicht ein gutes Urteil ausmacht (individuelle Betrachtung). Zum anderen ist aus globaler Perspektive zu prüfen, welche Wirkung die Summe der Einzelfälle erzielt und welche Wirkung davon für die Allgemeinheit ausgeht (institutionelle Betrachtung). Der bislang präsentierte Blick auf das Urteil war geprägt von der Rolle des Urteils im Prozess mit den diesem zugeschriebenen Funktionen, die sich insbesondere an seiner staatlichen Einordnung festmachen lassen. Das Urteil im Zivilprozess hat jedoch noch eine weitere Komponente, nämlich die Beschreitung des ordentlichen Rechtswegs durch die Parteien, unabhängig von einer staatlichen Begründung des Rechtswegs.168 Das Urteil im Zivilprozess bezieht seine Legitimation aus der Anrufung des Gerichts durch den Kläger. Es ist seine Entscheidung, diesen Weg zu beschreiten. Ohne die Entscheidung des Klägers für den Zivilrechtsweg gäbe es kein Urteil, die Klageerhebung begründet das Verfahren. Das unterscheidet das Urteil im Zivilverfahren fundamental vom strafrechtlichen Urteil, das auf die Initiative des Staates zurückgeht und in gewisser Weise auch vom verwaltungsgerichtlichen Urteil, das zwar regelmäßig von einem Bürger erstritten wird, aber zurückgeht auf einen staatlichen Akt, gegen den sich der Bürger wendet. Das Urteil im Verwaltungsprozess ist insofern nicht in gleicher Weise wie das Urteil im Zivilprozess allein von zivilen Parteien abhängig. Die klassische staatsorganisationsrechtliche Auffassung geht von einem Rechtsschutz- und Rechtsprechungsmonopol des Staates aus, daraus ergibt sich die starke Prägung einer institutionellen Perspektive. Zwar können nur Gerichte Urteile im Sinne von § 300 ZPO fällen, aber dies ist weder die einzige Möglichkeit der Justiz, mit Konflikten umzugehen, noch der beteiligten Parteien. Zur Erinnerung: Auch ein privates Schiedsgericht kann „Recht spre168

Vgl. Maultzsch, Streitentscheidung und Normbildung durch den Zivilprozess, 2010, S. 305 ff.

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chen“ (wenn Recht nicht so definiert wird, dass genau dies schon terminologisch ausgeschlossen ist) und private Entscheidungen von Nicht-Gerichten können sogar ähnliche Wirkungen wie diese entfalten, etwa wenn ein Schiedsverfahren außerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit auf Basis der §§ 1025 ff. ZPO durchgeführt wird oder durch Anerkennung eigener Vereinsgerichtsbarkeiten. Welche Art von Konfliktlösung stattfindet, liegt im Wesentlichen in der Hand des Klägers. Der Kläger hat – heute stärker denn je – alternative Möglichkeiten, mit dem Konflikt umzugehen169: Er kann auf Rechtsdurchsetzung verzichten, kann alternative Streitschlichtungsmodelle wählen oder versuchen, seinen Anspruch „auf eigene Faust“ durchzusetzen. Die das zivilrechtliche Urteil von anderen Urteilen distinguierenden Merkmale wurden bereits genannt: Es ist vor allem die Dispositionsmaxime (als verfahrensrechtlicher Ausdruck der Privatautonomie)170, sie legt die Klageerhebung ebenso wie die Verfügung über den Rechtsstreit in die Hände der Parteien. Dabei ist diese Wahlmöglichkeit des Klägers kein ihm staatlich zugestandenes, neuartiges Recht. Sie wurzelt vielmehr im originären Recht jedes Individuums, seine privaten Verhältnisse durch Rechte und Pflichten zu gestalten. Der Grundsatz des „wo kein Kläger, da kein Richter“ ist eben schon eine im römischen Recht etablierte Maxime und keine Erfindung des neuzeitlichen Gesetzgebers. Hier treffen sich das Grundrecht auf Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und das subjektive Recht des Zivilrechts171: Nicht öffentlicher „Befehl“, sondern autonome Entscheidung ist der Nukleus zivilrechtlicher Verhältnisse.172 In der ZPO sind die Rechte der Parteien so weitgehend ausgestaltet, dass sich eine ausschließliche Fokussierung auf die Funktion des Urteils für den Staat verbietet.173 Schon dass ein Urteil in einem Verfahren noch kurz vor Verkündung von den Parteien verhindert werden kann, zeigt, dass das Urteil wesentlich von den Parteien selbst legitimiert ist. Das Urteil als Institution ist somit nicht nur legitimiert durch seine Funktion im Staatsaufbau, sondern in gleicher Weise durch die autonome Entscheidung des Klägers für die Regelung seiner Rechtsverhältnisse auf dem Zivilrechtsweg. Der staatsfunktionale, institutionelle Ansatz ist somit um einen privat-funktionalen, individuellen Ansatz zu ergänzen, der dieser Entscheidung des Klägers Rechnung trägt und seine Perspektive auf das Urteil verdeutlicht.174 169

Vgl. Paulus, Zivilprozessrecht, 2004, S. 3 ff. Vgl. Häsemeyer, AcP 188 (1988), 140, 151. 171 Vgl. Peukert, Güterzuordnung als Rechtsprinzip, 2008, S. 48 f. 172 Vgl. Radbruch/Zweigert, Einführung in die Rechtswissenschaft, 1980, S. 91. 173 Noch deutlicher Steinberg, Richterliche Gewalt und individuelle Freiheit, 2010, passim. 174 Dem steht nicht der Befund entgegen, dass der Richter im deutschen Zivilverfahren eine starke Stellung hat oder sogar eine „faktische Verfahrensherrschaft“ ausübt, vgl. Kocher, Funktionen der Rechtsprechung, 2007, S. 479 f. Diese Stellung des Richters ist ihm gegeben, um eine Schutzfunktion auszuüben und institutionelle Aspekte einzubringen. Das Urteil bleibt aber eines, das zugunsten der Parteien und der Allgemeinheit ergeht. 170

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III. Die vierfache Legitimation des Zivilurteils Aus der Kritik an den bisher vertretenen Ansätzen lässt sich nun die Matrix schöpfen, anhand derer Zivilurteile beurteilt werden müssen. Ihre Legitimation ist nicht etwa einfach in einer staatlich-institutionellen Funktion zu finden, sondern erheblich komplexer. Das Urteil hat eine funktionale Legitimation, also eine Bedeutung als formaler Akt, mit dem ein Zweck erreicht werden kann. Dem ist die materielle Legitimation des Urteils gleichgeordnet, die an die Durchsetzung einer materiellen Wertordnung anknüpft und das Recht grundlegend von einem bloßen Nutzungsgegenstand unterscheidet. Diese zwei Legitimationspfeiler müssen des Weiteren differenziert werden nach der Perspektive: Das Urteil ist institutionell-staatlich legitimiert (sowohl funktional als auch materiell), aber auch individuell-privatautonom durch die Parteien des Rechtsstreits (ebenfalls funktional wie materiell). Diese vier Dimensionen machen die Legitimation des Zivilurteils aus, und aus einer entsprechenden Matrix (funktional – materiell, individuell – institutionell) lassen sich die Kriterien zur Beurteilung der Qualität eines Urteils ableiten. Für die Prozesszwecklehre bedeutet die Anerkennung beider Perspektiven, dass eine monofinale Interpretation der Rechtsprechungstätigkeit aufzugeben ist.175 Die Durchsetzung subjektiver Rechte einschließlich einer Bewährung der materiellen Wertordnung und die Konfliktlösung einschließlich der Schaffung von Rechtsfrieden sind Ziele, die gleichermaßen verfolgt werden können, ohne dass sich aus Gesetz oder Logik ein hierarchisches Verhältnis der Prozesszwecke entnehmen ließe.176

1. Verfassungs- und europarechtliche Vorgaben Für eine derart erweiterte Prozesszwecklehre sprechen auch verfassungs- und europarechtliche Argumente. Die Verfassung als Maßstab gewichtet die verschiedenen Aspekte gleichwertig: Die für die Institution Rechtsprechung relevanten Normen der Verfassung sind Art. 1 Abs. 3, 19 Abs. 4 sowie 20 und 20a und Art. 92 bis 104 GG. Art. 1 Abs. 3 sowie 20 und 20a geben den Gerichten einen materiellen Standard vor, nämlich die Bindung an die Grundrechte und die Grundprinzipien des demokratischen, sozialen und föderalen Rechtsstaats, ergänzt um die Rücksichtnahme auf künftige Generationen. So wird die Rechtsprechung an eine materielle Wertordnung gebunden. Art. 19 Abs. 4 GG wendet durch den Anspruch auf Rechtsschutz diese Wertordnung ins Subjek175 Vgl. beispielhaft Schilken, Zivilprozessrecht, 2010, § 1, der in Rn. 10, 12 einerseits den Vorrang des Rechtsdurchsetzungszwecks postuliert, aber dies in Rn. 13, 14 so stark relativiert, dass von einem „primären“ Zweck kaum mehr gesprochen werden kann. 176 Vgl. Brehm in: Stein/Jonas, ZPO, 2003, Vor § 1 Rn. 5 ff.; Jauernig, Zivilprozessrecht, 2007, § 1 Rn.1 ff.

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tive und rückt den Rechtssuchenden ins Zentrum der Rechtsprechung. Bezeichnend ist dabei der in Art. 19 Abs. 4 S. 2 GG statuierte grundsätzliche Rang der ordentlichen Gerichtsbarkeit für Verletzungen des Einzelnen durch die öffentlich Gewalt – hierfür sind eben die ordentlichen Gerichte zuständig, zu denen auch die Zivilgerichte gehören. Sie haben vom Verfassungsgeber damit einen für das gesamte Staatsgefüge wichtigen Verantwortungsposten zugewiesen bekommen. Die subjektiv-materielle Zuweisung ist zu ergänzen durch die Regelungen des europäischen Rechts, an die die Rechtsprechung unmittelbar gebunden ist. Die zu beachtende Wertordnung ist nicht mehr nur diejenige des Grundgesetzes, sondern auch diejenige der europäischen Verträge, einschließlich der Grundrechte-Charta und der unmittelbar geltenden Grundfreiheiten, des Kartellrechts sowie der Verordnungen. Während die Grundrechte der Charta eindeutig einen primär subjektiven Charakter haben, also als Abwehr- oder Beteiligungsrechte des Einzelnen zu verstehen sind, wie aus Art. 47 Grundrechte-Charta hervorgeht, gilt dies für die Grundfreiheiten und das Kartellrecht nicht mehr mit gleicher Eindeutigkeit: Sie verwirklichen stärker eine objektive Grundordnung und sind in ihrer Entstehung weniger dem subjektiven Rechtsschutz als der Durchsetzung eines wettbewerbsgeprägten Binnenmarktes verpflichtet. Schon hier zeigt sich eine Tendenz, den subjektiven Rechtsschutz nicht mehr als Selbstzweck anzuerkennen, sondern als Mittel zur Erreichung öffentlicher Interessen. Dieser Aspekt muss sich auch im Verständnis des Verfahrensrechts niederschlagen. Aus den Grundrechten und der materiellen Wertordnung von Verfassung und EU-Recht ergibt sich aber, dass die Durchsetzung subjektiver Rechte eine wesentliche Triebfeder des Zivilprozesses ist. Urteile legitimieren sich aus dieser Funktion heraus – Rechtsschutz zu gewähren, indem die subjektiven Rechte bestimmt und durchsetzbar gemacht werden. Das höherrangige Recht sieht aber auch organisationsrechtliche Vorschriften für die Rechtsprechung vor, nämlich in Art. 20 Abs. 2 und 92 ff. GG sowie ansatzweise in Art. 47 ff. Grundrechte-Charta (insbesondere Art. 47 Abs. 2 und 3). Diese Normen belegen die Einordnung der Rechtsprechung in den demokratischen Staatsaufbau.177 Die Rechtsprechung als „dritte Gewalt“ stellt im Staatsaufbau eine Instanz dar, die Streitigkeiten im Zusammenleben entscheidet, in der Sache unabhängig, aber gebunden an die Gesetze, vgl. Art. 20 Abs. 2 und 3, Art. 92 ff. GG.178 Das Urteil ist das Instrument der Rechtsprechung, um der Streitentscheidung für das gesellschaftliche Zusammenleben die notwendige Durchsetzungskraft zu geben. Diese wird erlangt, indem das Urteil mit staatlicher Gewalt versehen wird (vgl. § 704 ZPO). Rechtsprechung erfüllt also auch eine Funktion in einem Gemeinwesen, das 177 178

Vgl. Degenhardt in: Isensee/Kirchhof, HStR V, 2007, § 114 Rn. 1. Vgl. Badura, Staatsrecht, 2003, H Rn. 1 f.

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nach dem Prinzip der Gewaltenteilung unterschiedliche Institutionen damit betraut, die Organisation des Gemeinwesens aufrecht zu erhalten. In dieser Dimension wird geordnete Rechtsprechung für das Gemeinwesen dahingehend funktionalisiert, dass das Faustrecht ersetzt wird. Deshalb bietet der Staat dem Kläger diesen Regelungsmechanismus an und zwingt den Beklagten in diesen. Die Verfassung versteht Rechtsprechung als Gewalt zur Sicherung des Rechtsfriedens durch Lösung der im Gemeinwesen vorhandenen Konflikte. Dies ergibt sich daraus, dass das Grundgesetz von der „rechtsprechenden Gewalt“ ausgeht, also die Integration in den Staatsaufbau und die hoheitliche Zwangsfunktion betont. Selbst in der auf subjektiven Rechtsschutz ausgerichteten Grundrechte-Charta wird durch Art. 47 Abs. 2 S. 1 klargestellt, dass die Gerichte nicht nur der materiellen Gerechtigkeit verpflichtet sind, sondern das Verfahren und die angemessene Behandlung des Konflikts relevant sind: „Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“

Eine Verhandlung innerhalb angemessener Frist enthält gerade keine Festlegung auf ein materiell richtiges Ergebnis, sondern zeugt vom Bemühen, einen akzeptablen Weg zur Verfügung zu stellen, in dem Probleme gelöst werden können. Aus diesen organisationsrechtlichen Überlegungen heraus lässt sich der Prozess als Medium zur Konfliktlösung begreifen. Das Urteil hat demnach auch eine Legitimation aus der Befriedung der Parteien heraus.

2. Matrix der Legitimation Die Vorgaben des übergeordneten Rahmens sind Beleg für die Anerkennung der vier identifizierten Dimensionen der Konfliktentscheidung durch Gerichte: die Durchsetzung der materiellen Wertordnung im Gemeinwesen, die Durchsetzung subjektiver Rechte, die Wahrung des Rechtsfriedens und die Befriedung des individuellen Konflikts. Diese Aspekte lassen sich aus dem Charakter des Endurteils (funktional und materiell) und den unterschiedlichen Perspektiven (institutionell und individuell) gewinnen. Zur Erläuterung: Ausgangspunkt des hier vorgestellten Qualitätsschemas für die Urteilskritik ist die Erkenntnis, dass das Urteil eine Institution im Rechtswesen ist und als solche einer Legitimation bedarf, nicht zuletzt, da Gewaltmittel an das Urteil geknüpft sind. Der Begriff der Legitimation bezeichnet die Rechtfertigung staatlichen Handelns und – in Bezug auf Recht – auch den inneren Geltungsgrund. In den oben skizzierten, heute einflussreichen Rechtstheorien wurden Legitimationsmodelle vorgestellt. Die Legitimation des Urteils ist zunächst eine rein formale – das Urteil als Titel, als Dokument, als Akt, der mit hoheitlichem Geltungsanspruch verse-

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hen ist. Mit dem Urteil in Zivilsachen verbindet sich aber auch eine materielle Dimension, also eine Anforderung, die an bestimmte inhaltliche Vorstellungen geknüpft ist. So wie der Begriff des „Rechts“ sowohl eine formale als auch eine materielle Komponente hat, haben Urteile eine funktionale Legitimation, nämlich die hoheitlich abgesicherte Befriedung, als auch eine materielle Legitimation, nämlich die Verwirklichung des Gesetzes. Ein gutes Urteil ist ein legitimes Urteil, und das bedeutet: Es muss sowohl dem formalen Anspruch gerecht werden, nämlich zu befrieden, als auch dem materiellen, nämlich die Gesetze umzusetzen. Der Legitimationsanspruch ist aber komplexer, da es zwei Träger von Legitimation gibt, die am zivilrechtlichen Urteil beteiligt sind. Individuell wird die Legitimation von den Parteien bezogen, die sich für das zivilgerichtliche Verfahren entscheiden und während dessen Dauer, einschließlich des Vollstreckungsverfahrens, jederzeit Verfahrensherrschaft haben. Die Parteien erwarten eine Lösung ihres Konflikts (funktionale Komponente) nach bestimmten materiellen Regeln und Konzepten (materielle Komponente). Institutionell hingegen bezieht das Urteil seine Legitimation aus der Zuständigkeit des Staates, der die Institution Urteil geschaffen hat, um das Gemeinwesen zu schützen. Die Allgemeinheit erwartet die Sicherung des Rechtsfriedens von den Gerichten. Das ist die funktionelle Komponente der institutionellen Betrachtung. Das Gemeinwesen erwartet aber zudem, dass die Konfliktlösung materiell der Wertordnung des Gemeinwesens entspricht. Das bedeutet für die institutionell-materielle Legitimation, dass ein gutes Urteil die Gesetze richtig anwendet und die Grundordnung des Privatrechts bewahrt. Die vier Dimensionen funktional-institutionell (Rechtsfrieden), materiellinstitutionell (Wertordnung), materiell-individuell (subjektive Rechte) und funktional-individuell (Konfliktschlichtung) wirken wie in einer Matrix zusammen: Die Dimensionen stehen in Wechselbeziehungen zueinander, verweisen aufeinander und beeinflussen sich. Ein gutes Urteil muss sowohl die Erwartungen der Parteien als auch der Allgemeinheit in funktionaler wie materieller Hinsicht erfüllen. Die sich dadurch ergebenden vier Dimensionen, die im Folgenden konkretisiert werden, bilden das hier angewendete Bewertungsraster für die Rechtsprechung.

3. Prinzip der Regulierungsbegrenzung durch dezentrale Einzelfallentscheidung Nach der hier vertretenen Auffassung sind die verschiedenen Dimensionen nebeneinander zu stellen und im Einzelfall miteinander zu verknüpfen. Eine schematische Lösung, wie die Zwecke ins Verhältnis zueinander zu stellen sind, verbietet sich. Rafi hält ein solches Ergebnis für nicht hilfreich, da im Zweifel eine Abwägung zwischen verschiedenen Funktionen stattfinden müsse. Er legt sich daher auf eine Funktion fest, um seine Qualitätskriterien

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auszuarbeiten.179 Auch in der Prozesszwecklehre wird zuweilen ein Zweck als überragend angesehen.180 Das ist jedoch eine Simplifizierung des komplexen Phänomens Zivilprozess. Mit den verschiedenen, auch verfassungsrechtlich anerkannten Funktionen muss gleichermaßen gearbeitet werden. Konfligieren die Dimensionen der Bewertungsmatrix oder lassen sie sich jedenfalls nur in unterschiedlichem Maße verwirklichen, so ist es Aufgabe des Richters zu ermessen, welcher Legitimation er im konkreten Fall den Vorzug gibt. Denkbar ist, dass er etwa in einem Grundsatzurteil, das eine Rechtsfrage klärt, die für die betroffenen Kreise von hoher Bedeutung ist, die materiell-institutionelle Legitimation höher gewichtet als andere Legitimationen seines Urteils. Dass es dadurch zu Unschärfen, abweichenden Entscheidungen und gelegentlich vielleicht zu grotesken Fehleinschätzungen einzelner Richter mangels eines eindeutigen Kriteriums kommt, ist hinnehmbar. Dass eine solche Zurückhaltung möglich ist, liegt am Prinzip der Regulierungsbegrenzung durch dezentrale Einzelfallentscheidung. Dieses Prinzip ist für den Fortgang der Untersuchung von großer Bedeutung; es lässt sich der Einfachheit halber mit den Vorteilen der Dezentralität allgemein illustrieren: Angenommen, bei Baumfällarbeiten fällt ein Arbeiter fahrlässig ein Holz so, dass dieses im Fallen eine Stromleitung durchtrennt, die zum Bauernhof eines Hühnerhändlers führt, so hängt der Schaden davon ab, wie wichtig die Stromleitung für den Hühnerbauern ist. Vertraut er einzig und allein auf diese Stromleitung, kann ein Stromausfall nicht kompensiert werden und es droht ein Verderben vieler Eier. Hat er seine Stromversorgung hingegen dezentral organisiert und speist sie aus verschiedenen Quellen, so wird der Schaden begrenzt bleiben. Im Wirtschaftsrecht hat der Staat eine ähnliche Wahl wie der Hühnerbauer: Er kann auf zentrale Entscheidungsinstanzen, z.B. Wirtschaftsaufsichtsbehörden wie Bundesnetzagentur, Finanzmarktaufsichtsbehörden oder die Europäische Kommission vertrauen. Die Stärke und Leistungsfähigkeit dieser Organisationen hat zur Kehrseite, dass ein Fehler einer solchen Organisation gravierende Auswirkungen haben kann. Setzt der Staat hingegen, wie ein vorsichtiger Hühnerbauer, auf zahlreiche, dezentrale Entscheidungsinstanzen, wird die Fehlentscheidung einer einzelnen Instanz sich im Gesamtgefüge nur relativ schwach auswirken, sie ist kompensierbar. Die Entscheidung über die Konkretisierung der Urteilsfunktionen und damit seiner Güte-Maßstäbe dem Richter zu überlassen, ist in einem dezentral organisierten, privatrechtlichen System, in dem täglich tausende von Rechts179 Vgl. Rafi, Kriterien für ein gutes Urteil, 2004, S. 46 ff., siehe aber auch S. 78, wo er anerkennt, dass die übrigen diskutierten Funktionen herangezogen werden können. 180 Brehm in: Stein/Jonas, ZPO, 2003, Vor § 1 Rn. 30 sieht den Schutz subjektiver Rechte als „Rahmen“ des Zivilprozesses. Der Richter habe nicht im Einzelfall zu entscheiden, welche Ziele er verwirklicht.

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streitigkeiten entschieden werden, legitim. Denn das einzelne Urteil bindet nur die Parteien bezüglich des konkreten Streitgegenstands. Es findet jedoch keine Bindung der weiteren Öffentlichkeit statt. Der volkswirtschaftliche Schaden wird im Regelfall relativ gering bleiben und im nächsten Verfahren gibt es bereits die Möglichkeit, eine abweichende Entscheidung zu treffen, also eine evolutive Korrektur vorzutragen. Ganz anders als bei der Entscheidung einer einzig zuständigen Instanz mit aller Macht bleiben die Wirkungen, die Folgen letztlich begrenzt – und damit auch der staatliche Einfluss, sodass hier von einer Regulierungsbegrenzung durch dezentrale Einzelfallentscheidung gesprochen werden kann. Die Bedeutung dieses Prinzips für die Wirtschaftsordnung durch Zivilgerichte liegt auf der Hand: Mit der Wende zum Privatrecht entscheidet sich das Gemeinwesen dafür, weniger stark auf zentral regelnde Instanzen zu setzen, die eine intensive Steuerungsmöglichkeit haben, deren Fehler aber teuer zu stehen kommen. Stattdessen wird auf Institutionen gesetzt, die sich dezentral koordinieren. Einzelne Akteure können damit geringere Steuerungswirkungen entfalten, das Risiko, das mit einer Fehlentscheidung einhergeht, bleibt beschränkt. Aus evolutionstheoretischer Perspektive bietet das zweite Modell den Vorteil, zahlreiche verschiedene Pfade zu eröffnen, die Häufigkeit von Entscheidungen zu erhöhen und dadurch evolutiv zu mehr Variationen und in der Folge zu Innovationen zu kommen. Die Wirtschaftsordnung wird flexibler. Eine Stärkung der privaten Rechtsdurchsetzung, so lässt sich vorsichtig folgern, führt zu einer Erhöhung der Chancen für innovative rechtliche Lösungen und zu einer Verminderung des Risikos von fehlgeleiteten hoheitlichen Eingriffen. Das Prinzip ist Kritikern entgegenzuhalten, die eine Gefahr darin sehen, dass einzelnen Richtern einzelne Entscheidungen überantwortet werden. Eben diese Begrenzung macht es auch möglich, die materiellen Lücken im Gesetz dem Richter zur Ausfüllung zu überlassen. Fehlentscheidungen wird durch sorgfältige Auswahl und Ausbildung sowie eine Überprüfung in der Folgeinstanz Rechnung getragen, sollte dennoch eine Fehlentscheidung vorkommen, bleibt der Schaden gering. So ergibt sich für die Kriterien guter Rechtsprechung folgendes Bild: Das Urteil ist der richtige Anknüpfungspunkt für die Untersuchung der Rechtsprechungstätigkeit, da es rechtsdogmatisch wie -politisch weiterhin von höchster Bedeutung ist. Trotzdem haben sich Maßstäbe zur Bewertung von Urteilen bislang nicht kanonisieren lassen. Die großen rechtstheoretischen Entwürfe der letzten Jahrzehnte bieten zwar kontextuelle Anknüpfungspunkte für die Frage der Rechtsprechungsqualität, bleiben aber gerade bezüglich des Zivilprozesses erstaunlich stumm. Das Urteil im Zivilprozess ist geprägt von einer Dualität, die sich anhand seiner Legitimation nachweisen lässt. Legitimiert wird das Urteil nämlich einerseits durch den staatlichen Rechtsdurchsetzungsanspruch. Andererseits lebt das Urteil im Zivilverfahren von

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den Parteien, die – trotz anderer Möglichkeiten – sich für den Weg der zivilgerichtlichen Klärung entschieden haben. Diese Dualität der Legitimation spiegelt sich in der Qualität des Zivilurteils, das nicht einseitig die Durchsetzung subjektiver Rechte oder die Befriedung des Gemeinwesens bevorzugen kann. Der hier gewählte Ansatz stellt, in Abweichung von hergebrachten Prozesszwecktheorien, auf eine vierfache Legitimation der Urteilskritik ab: die materiell-individuelle, die materiell-institutionelle, die funktional-individuelle und die funktional-institutionelle. Die Matrix dieser vier Kriterien steht in Einklang mit verfassungs- und europarechtlichen Vorgaben. Das Prinzip der Regulierungsbegrenzung durch dezentrale Einzelfallentscheidung sichert einen derart offenen Ansatz ab.

B. Funktionale Legitimation der Zivilrechtsprechung Die funktionale Legitimation der Zivilrechtsprechung ist der erste Ausgangspunkt für die Ermittlung von Kriterien zur Bestimmung der Qualität von Urteilen. Wie dargelegt ist die Funktionalität aus verschiedenen Perspektiven zu beurteilen. Die zu klärende Frage lautet damit: Was erwarten Staat und Individuum in funktionaler Hinsicht von der Zivilrechtsprechung?

I. Methodische Vorbemerkung Die Konkretisierung von Qualitätskriterien, die sich aus der funktionalen Legitimation der Zivilrechtsprechung ergeben, wirft methodische Fragen auf. Eine rein am Gesetz orientierte Betrachtung genügt nicht, da es vorliegend ja gerade um Bewertungsmaßstäbe geht, die bloße Rechtmäßigkeitserwägungen transzendieren. Eine empirische Forschung, was der Rechtssuchende erwartet, würde nur die individuelle Perspektive abdecken und müsste methodisch mehrere Klippen überwinden. Ein kanonisiertes Raster für Urteilskritik existiert, wie oben gezeigt wurde, nicht einmal in Ansätzen. Vor einer solchen Lücke sollte der Wissenschaftler jedoch nicht kapitulieren, hieße dies doch, Forschungsfragen in Ermangelung einer anerkannten Methodik gänzlich auszublenden. Qualitätsfragen sind eben immer auch Streitfragen, für die sich keine allgemeingültige Ansicht ergibt. Es verbietet sich aber auch eine Festlegung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Letztlich basiert die Ausarbeitung der Qualitätskriterien auf einer rechtspolitischen Wertentscheidung, die angreifbar ist, aber eine Diskussionsgrundlage darstellt. Die nachfolgende Untersuchung basiert auf Annahmen, die im Einzelnen begründet werden, die aber dem Diskurs zugänglich sind. Angesichts des bisherigen Defizits an Qualitätskriterien wäre die Grundlegung für einen solchen Diskurs bereits ein erheblicher Erkenntnisfortschritt.

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Ein argumentativer Topos, der für die Ableitung der Kriterien verwendet werden kann, die aus der individuellen Legitimation des Urteils folgen, ist der der „legitimen Erwartungen“, wie ihn Rawls verwendet.181 Für ihn sind legitime Erwartungen solche, auf deren Erfüllung ein Mitglied der Gesellschaft verständigerweise vertrauen darf, auch wenn es für die Annahme eines Anspruchs nicht genügt.182 Es handelt sich für Rawls bei legitimen Erwartungen um das, was Institutionen bzw. die soziale Kooperation in der Gesellschaft dem Einzelnen für ein bestimmtes Verhalten versprechen. Dass Bürger darauf vertrauen können, entspricht dem Prinzip der Fairness, das wiederum bei Rawls für Gerechtigkeit steht.183 Gerechte Institutionen (vorstellbar wäre etwa die Justiz als Institution) entsprechen den legitimen Erwartungen desjenigen, der sich an sie wendet. Mit diesem Argumentationsmuster, das abgegrenzt werden kann von rechtlichen Ansprüchen und moralischem Verdienst, lässt sich erklären, welche Kriterien die Qualität einer staatlichen Institution ausmachen. Ein Kläger beispielsweise könnte die legitime Erwartung hegen, dass ein Gericht das Urteil in einer verständlichen Sprache verfasst. Ein Verstoß dagegen würde nicht die Rechtswidrigkeit des Urteils bedeuten, aber eine legitime Erwartung enttäuschen und damit das für die Gesellschaft erforderliche Vertrauen in die Institution erschüttern. Qualitativ wäre ein solches Urteil als schlecht zu bezeichnen. Eine letzte methodische Vorbemerkung gilt der Aufspaltung in vier verschiedene Pfeiler. Wie bereits dargelegt sind die vier Dimensionen der Legitimation eines Urteils als Matrix zu lesen, das heißt: es kommt zu Wechselwirkungen und gegenseitigen Beeinflussungen. Diese werden im Folgenden nur kursorisch angesprochen.

II. Konfliktlösung als individueller Legitimationsgrund Legitimation durch das Individuum entsteht durch Klageerhebung der betroffenen Partei mit dem Antrag, auf ein bestimmtes Urteil zu erkennen. Funktional steht für das Individuum im Vordergrund, den schwelenden Konflikt durch einen verbindlichen Ausspruch zu beenden und damit einen durchsetzbaren Titel zu erhalten. Darauf ist das Gerichtsverfahren angelegt, das bietet das Urteil in funktionaler Hinsicht: Es verleiht seiner Definition gemäß einen durchsetzbaren Titel, mit dem ein Rechtsstreit entschieden wird. Der Kläger sucht die Konfliktlösung.

181 Vgl. Rawls, A Theory of Justice, 1997, S. 310 ff.; ders., Gerechtigkeit als Fairness, 2003, S. 120 ff. 182 Ebd. 183 Vgl. Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, 2003, S. 121.

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Ob eine gerichtliche Konfliktlösung als gelungen eingestuft werden kann, entscheidet sich an den vier Aspekten, die der Konfliktlösung immanent sind: Verfahren, Entscheidung, Durchsetzbarkeit und Effizienz. Die rechtstheoretischen Positionen der Gegenwart haben, wie gezeigt, alle ein starkes prozedurales Element. Das ordnungsgemäße Verfahren spielt für das Recht eine legitimatorisch wichtige Rolle. Das Verfahren mit seinen Zugangshürden, der Einschaltung eines unabhängigen Dritten und dem Korsett seines Ablaufs dient dazu, die Ernsthaftigkeit der Konfliktsituation zu prüfen und den Konflikt zugleich durch formale Verfasstheit einzuhegen. Die Lenkung eines Rechtsstreits in die Bahnen der ZPO ist damit schon ein Beitrag zur Konfliktbefriedung. Der Rechtssuchende richtet seine legitimen Erwartungen daher zunächst auf ein ordnungsgemäßes Verfahren, auf das „fair trial“. Als wesentliche Parameter können die Anhörung seiner Meinung und die Gleichberechtigung im Verfahren gegenüber der anderen Partei identifiziert werden. Als erster Prüfstein eines guten Urteils ist damit seine Entstehung zu untersuchen: War das Verfahren, das zu dem Urteil geführt hat, fair? Die eigentliche Konfliktschlichtung findet in Form der Entscheidung statt, also durch den Tenor des Urteils. Die legitime Erwartung des Rechtssuchenden an diese Entscheidung ist, dass diese klar und nachvollziehbar ausfällt.184 Ein Konflikt oder Streit ist gekennzeichnet durch unterschiedliche Positionen der Streitenden. Die Anrufung eines Dritten, eines Richters, dient der Herbeiführung einer Entscheidung zwischen den unterschiedlichen Positionen – das ist die Funktion des gerichtlichen Verfahrens. Entscheidung bedeutet, dass das Gericht eine Klärung der Streitpositionen vornimmt und diese ins Verhältnis setzt. Das muss nicht im Sinne einer binären Entscheidung (Kläger oder Beklagter) sein, sondern kann differenzierte Formen annehmen, etwa durch Teilunterliegen einer Partei. Eine klare und nachvollziehbare Entscheidung setzt aber voraus, dass sich das Gericht mit dem wesentlichen Konfliktherd auseinandersetzt und in diesem Punkt eine echte Klärung herbeiführt. Ein Ausweichen auf „Nebenkriegsschauplätze“ würde keine Entscheidung in der Sache bedeuten und die Funktion der gerichtlichen Anrufung konterkarieren. Die Positionierung des Gerichts und die verständliche Erläuterung dieser Positionierung müssen aus dem Urteil hervorgehen. Als zweiter Prüfstein eines guten Urteils ist damit zu untersuchen: Entscheidet das Gericht eindeutig den Streit der Parteien? Das Urteil dient seiner Definition nach zur Durchsetzung eines Anspruchs, das heißt, dass es nicht funktionaler Abschluss nur für das Erkenntnisverfahren ist, sondern auch Startpunkt des Vollstreckungsverfahrens. Für die Vollstreckung kommt es auf die formale Eignung als Titel gemäß den Voraussetzungen des § 750 ZPO an. Bei genauerer Überlegung kann aber ein Qualitätskriterium der Durchsetzbarkeit nicht an der formalen Eignung haften bleiben. 184

Vgl. Rennert, JZ 2013, 297, 298.

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Das Urteil muss vielmehr auch dergestalt tenoriert sein, dass eine Umsetzung des Urteils in die Rechtspraxis für die durchsetzungsberechtigte Partei in dem Sinne erstrebenswert ist, dass der Konflikt dadurch tatsächlich gelöst wird. Hier wird zunächst eingewandt werden, dass sich – von Ausnahmen abgesehen – das Urteil ja stets an die Anträge der Parteien halten muss (§ 308 Abs. 1 ZPO). Allerdings belegt die Rechtsprechung, dass die Einhaltung dieses „ne ultra petita“ im Detail schwierig genug sein kann.185 Dies liegt insbesondere daran, dass der Klagegrund, also der zugrunde liegende Lebenssachverhalt, gemeinsam mit dem Klageantrag, dem prozessualen Anspruch, den Streitgegenstand definiert. Eine simple Reduzierung auf den Antrag sieht der BGH also bei der Auslegung des § 308 Abs. 1 ZPO nicht vor.186 Mag dies auch eine Spezialproblematik sein, so stellt sich für den Rechtssuchenden in funktionaler Hinsicht aber durchaus eine weitergehende Frage, nämlich die, ob das Urteil ihm in der Sache hilft, eine Durchsetzung also sinnvoll ist. Diese Problematik stellt sich im Wirtschaftsrecht mit besonderer Dringlichkeit, werden hier doch Streitgegenstände verhandelt, die sich typischerweise in ähnlicher Form wiederholen. Unternehmen, Verbraucher oder andere Beteiligte haben dauernd Kontakt miteinander, jede neue Transaktion bietet wieder die Möglichkeit zu Konflikten. Wenn die gerichtliche Konfliktschlichtung gelingt, muss sie zukunftsorientiert ausfallen. Das bedeutet: Idealerweise schlichtet die Entscheidung den Konflikt zwischen Kläger und Beklagtem, sodass diese wieder zusammenarbeiten können und eine Richtschnur für die Zukunft haben. Jedenfalls aber sollte das Urteil dergestalt ausfallen, dass eine Vollstreckung möglich ist, ohne dass der Kontakt zwischen der durchsetzenden Partei und der Gegenpartei dauerhaft beschädigt wird. Eine gute Konfliktlösung behält daher die zukünftigen Beziehungen zwischen den Parteien im Blick. Konfliktschlichtung impliziert nämlich das gedeihliche Zusammenleben in der Zukunft einschließlich der Möglichkeit zur sozialen oder wirtschaftlichen Kooperation. Der dritte Prüfstein für ein gutes Urteil ist daher: Ist eine Durchsetzung des Urteils möglich und im Interesse der Partei? Schließlich ist eine Konfliktschlichtung nur dann erstrebenswert, wenn sie von den Parteien als effizient eingestuft wird. Effizienz bezeichnet das Verhältnis zwischen Aufwand und Nutzen. In der vierten Überlegung zur Funktion des Urteils steht der Aufwand im Fokus: Die Konfliktschlichtung sollte aus Sicht der Parteien zügig und ohne zu große Kosten erfolgen können. Die Dauer des Verfahrens ist für die Parteien von wesentlicher Bedeutung. Ziel der Klage185

OLG Köln, 2.11.2001, Az. 19 U 77/01, MDR 2002, 716 hob die Unterinstanz auf, da auf „Kostenvorschuss“ statt den begehrten „Schadensersatz“ erkannt wurde. BGH, 3.1.2003, Az. I ZR 1/01, BGHZ 154, 342 hob ein vorinstanzliches Urteil auf, in dem nur teilweise dem Antrag stattgegeben wurde, was der BGH aber nicht als (zulässiges) minus, sondern als (unzulässiges) aliud im Sinne des § 308 Abs. 1 ZPO wertete. 186 Vgl. BGH, 3.1.2003, Az. I ZR 1/01, BGHZ 154, 342, Rz. 28; BGH, 7.12.2000, Az. I ZR 146/98, GRUR 2001, 755, 756, jeweils m.w.N.

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erhebung ist ja das Beenden des Konflikts. Falls diese Beendigung aber lange dauert, reduziert sich der Vorteil der formalen Einhegung durch das Verfahren. Ein gutes Urteil ist ein solches, das den Konflikt zügig löst. Die Verfahrensdauer ist gelegentlich Gegenstand rechtlicher Überprüfung und nunmehr auch der Gesetzgebung. Für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten wird die Pflicht zum Abschluss des Verfahrens in angemessener Zeit in Art. 19 Abs. 4 GG gesehen (effektiver Rechtsschutz)187, für bürgerlich-rechtliche Verfahren folgt diese Verpflichtung aus dem Rechtsstaatsprinzip i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG (Justizgewährungsanspruch)188. Hinzu tritt die Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention, welche die überlange Verfahrensdauer bei deutschen Gerichten thematisiert hat. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat nach mehreren Jahren der vergeblichen Mahnungen ein strukturelles Defizit der Justizgewährung in Deutschland erkannt und den deutschen Gesetzgeber aufgefordert, eine gesetzliche Abhilfe vorzusehen.189 Das am 3.12.2011 in Kraft getretene Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungen190 sieht eine Rüge- und Entschädigungsmöglichkeit bei überlanger Verfahrensverzögerung vor (§ 198 GVG). Die von der Rechtsprechung aufgegriffenen und die vom Gesetz erfassten Fälle sind jedoch regelmäßig Extremfälle. Das Bundesverfassungsgericht hatte beispielsweise eine Verletzung der Rechte der Beschwerdeführerin in einem Zivilverfahren gerügt, in dem auch 22 Jahre nach der Klageerhebung kein Ende absehbar war.191 Der vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof 2009 entschiedene Pilotfall betraf die Klage gegen die Versagung einer waffenrechtlichen Erlaubnis und zog sich vom ursprünglichen Widerspruch bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über 13 Jahre hin.192 Im Gesetz wird eine Entschädigung bei „unangemessener“ Verfahrensdauer zugesprochen. In der Gesetzesbegründung wird dieser Begriff nicht ausgefüllt, der Gesetzgeber begnügt sich mit Hinweis auf den Einzelfall und die gegebenenfalls zu berücksichtigenden Interessen.193 Es steht nicht zu erwarten, dass 187 BVerfG, 24.8.2010, Az. 1 BvR 331/10, NZS 2011, 384, Rz. 10 m.w.N. Im konkreten Fall wurde die Klage auf Feststellung der Mitgliedschaft in einer Krankenkasse im sozialgerichtlichen Verfahren nach vier Jahren entschieden, was das BVerfG als Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG ansah. 188 BVerfG, 23.6.2010, Az. 1 BvR 324/10, Lexetius.com/2010,2024, Rz. 5 m.w.N. Im konkreten Fall war über eine 1995 erhobene Zahlungsklage für Ingeniersleistungen über 480 000 Euro bis zur Entscheidung des BVerfG in erster Instanz noch nicht entschieden. BVerfG, 30.7.2009, 1 BvR 2662/06, NJW-RR 2010, 207, Rz. 20 m.w.N. In diesem Fall führte die Klägerin seit 22 Jahren einen Rechtsstreit über eine Schadensersatzforderung wegen Versteigerung unter Wert, ohne dass dessen Ende absehbar war. 189 EGMR, 2.9.2010, Beschwerde-Nr. 46344/06, NJW 2010, 3355. 190 BGBl I Nr. 60 vom 2.12.2011, S. 2302. 191 BVerfG, 30.7.2009, Az. 1 BvR 2662/06, NJW-RR 2010, 207. 192 EGMR, 2.9.2010, Beschwerde-Nr. 46344/06, NJW 2010, 3355, Rz. 37. 193 BT-Drucks. 17/3820, S. 18 f.

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angesichts der von der Rechtsprechung bislang gerügten Fälle eine Praxis entwickelt wird, die eine signifikant kürzere Unangemessenheitsfrist anschlägt. Damit bleibt eine rasche Konfliktschlichtung Desiderat und primär Qualitäts-, nicht bereits Rechtmäßigkeitserfordernis. Neben die Zeitdauer tritt der sonstige Aufwand, den die Parteien treiben müssen, um die Konfliktschlichtung herzustellen. Hierbei ist an Gerichts- und sonstige Rechtsverfolgungskosten (z.B. Anwaltsgebühren), aber auch die Kosten durch die aufgewendete Zeit zur Befassung mit der Sache zu denken. Als vierter Prüfstein der Rechtsprechung ist daher zu untersuchen: Erfolgt die Konfliktschlichtung zügig und mit vertretbarem Aufwand?

III. Befriedung als institutioneller Legitimationsgrund Legitimation bezieht das Urteil aus dem institutionellen, staatlichen Interesse am Rechtsfrieden. Die Interessenkoordination der Bürger in einem Gemeinwesen kann nur funktionieren, wenn dieses Gemeinwesen friedlich organisiert ist. Das ist der institutionelle Ursprung der Rechtsprechung, die den Konflikt im Gemeinschaftsinteresse in formale Bahnen lenken sollte, um die gewaltsame Rechtsdurchsetzung im Wege des Faustrechts überflüssig zu machen. Die Konfliktschlichtung zwischen Parteien eines bürgerlichen Rechtsstreits ist damit institutionelles Interesse des Gemeinwesens. Die soeben thematisierten Aspekte werden folglich durch diesen Legitimationsgrund verstärkt. In allen Prozesszweck- und Rechtstheorien wird die Befriedung als wesentliches Motiv genannt. Sie steht in der Matrix der Legitimationsgründe jedoch bewusst an zweiter Stelle, da sie letztlich der individuellen Konfliktschlichtung nachgeordnet ist: die Bereitschaft dazu ist Prämisse für eine Befriedung. Das Qualitätsmerkmal der Befriedung kann genauer gefasst werden. Zunächst wird der Rechtsfrieden durch eine Entscheidung vor allem dann gewahrt, wenn das konkrete Urteil zukünftige Streitigkeiten derselben oder verwandter Art antizipiert und löst. Gerade obergerichtliche Rechtsprechung hat die Möglichkeit, präventiv Rechtsklarheit zu schaffen, sodass die Streitentstehung verhindert wird. Die Konkretisierung des Rechts in Bereichen, in denen das Gesetz lückenhaft ist, wird damit zur institutionell erwünschten Aufgabe. Die erste Frage für die Qualität von Urteilen aus funktional-institutioneller Sicht lautet daher: Ist das Urteil geeignet, die Entstehung weiterer Rechtsstreitigkeiten zu verhindern? Die zweite und dritte Frage betreffen das System der Konfliktschlichtung als solches. Aus institutioneller Perspektive sollte ein Urteil stets so verfasst werden, dass das Funktionieren des Konfliktschlichtungsmechanismus in der gerichtlichen Arena nicht bedroht wird. Hier sind funktional zwei Punkte besonders hervorzuheben: Zugänglichkeit und Effizienz. Unter dem Schlagwort der Zugänglichkeit wird die Offenheit der Justiz für die Rechtssuchenden verstanden. Die Institution der ordentlichen Gerichts-

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barkeit verliert ihre Legitimation, wenn sie nicht für alle Streitparteien zugänglich ist. Dies ist eine Frage der unmittelbaren Kosten ebenso wie der mittelbaren Kosten und sonstigen Zugangshürden. Hier kann eingewandt werden, dass dies bereits aus dem Justizgewährungsanspruch folgt und somit dieses Kriterium nicht die Güte der Entscheidung, sondern deren Rechtmäßigkeit betrifft. In der Tat schreibt das Bundesverfassungsgericht zum – im Grundgesetz nicht ausdrücklich normierten – Justizgewährungsanspruch in ständiger Rechtsprechung: „Der aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Grundrechten, insbesondere Art. 2 Abs. 1 GG, abzuleitende Justizgewährungsanspruch umfasst das Recht auf Zugang zu den Gerichten und eine grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes sowie eine verbindliche Entscheidung durch den Richter. Der Weg zu den Gerichten darf zwar von der Erfüllung und dem Fortbestand bestimmter formaler Voraussetzungen abhängig gemacht werden. Der Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen darf aber nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Insbesondere darf ein Gericht nicht durch die Art der Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften den Anspruch auf die gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar verkürzen.“194

Das Bundesverfassungsgericht erkennt also an, dass jedes einzelne Urteil den Rechtsweg offen halten muss und den Zugang zur Rechtsdurchsetzung nicht so erschweren darf, dass die Rechtsverfolgung nicht mehr sinnvoll ist. Allerdings sind Fallgestaltungen denkbar, welche die relativ vagen und formalen Anforderungen des BVerfG nicht erfüllen, aber praktisch dennoch eine Zugangshürde darstellen. Die zweite Frage lautet daher: Wird durch das Urteil die Zugänglichkeit der gerichtlichen Konfliktschlichtung gewahrt? Schließlich muss das gerichtliche Verfahren darauf gerichtet sein, die eigenen Systemgrundlagen zu erhalten. Die Befriedungsfunktion wird nur erreicht, wenn sich das Rechtswesen nicht selbst zugrunde richtet. Die Grundlagen gerichtlicher Streitschlichtung müssen erhalten bleiben. Der wichtigste Maßstab hierfür ist die Effizienz des gerichtlichen Tätigwerdens. Die Justiz kollabiert, wenn zu viele Verfahren zu lange geführt werden, wenn der in einem Verfahren betriebene Aufwand in keinem Verhältnis mehr zum Ertrag steht, oder wenn auf andere Art und Weise die Ressourcen der Justiz durch Verfahren und Urteil übermäßig belastet werden. Wie bereits bei der individuellen Betrachtung gesehen spielt die Dauer für den Rechtssuchenden eine wichtige Rolle, ein überlanges Verfahren ist dem Einzelnen nicht zuzumuten. Die überlange Verfahrensdauer kann auch in ein institutionelles Problem umschlagen. Hier gilt es das Spannungsverhältnis zur Zugänglichkeit zu konkretisieren. Zu strenge Anforderungen an die Parteien würden die Zugänglichkeit 194

Im Original mit zahlreichen Nachweisen siehe BVerfG, 25.7.2005, Az. 1 BvR 2419/03 und 2420/03, WM 2005, 2014, Rz. 9.

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zum Rechtsapparat unzumutbar einschränken. Wird es den Parteien jedoch zu leicht gemacht, droht eine Überschwemmung der Gerichte mit insignifikanten Streitigkeiten oder querulatorischen Anliegen, deren Judizierung die Lösung wichtigerer Konflikte aufhält. Innerhalb des Verfahrens besteht das Spannungsverhältnis zwischen gründlicher Sachverhaltsaufklärung und sorgfältiger rechtlicher Würdigung einerseits und den limitierten Ressourcen der Rechtsprechung und dem Interesse aller Beteiligten an einer raschen Lösung des Streits andererseits. Wenn Richter die Balance nicht halten können, droht ein Justizkollaps. Das Gemeinwesen hegt also die legitime Erwartung, dass Gerichte das Funktionieren des Systems der Rechtsprechung insgesamt garantieren. Die dritte Frage aus funktional-institutioneller Perspektive lautet daher: Stehen Dauer und Aufwand der Urteilsgewinnung in einem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung des Streits?

C. Materielle Legitimation der Zivilrechtsprechung So wie das Urteil funktional legitimiert ist durch seine Stellung als Institution der Rechtsordnung und als Abschluss eines von den Parteien angestrengten Konfliktlösungsverfahrens, wohnt ihm auch eine materielle Legitimation inne. Diese materielle Komponente ist von den Prozesszwecktheorien anerkannt, die Konkretisierung der Kriterien zwecks einer Bewertung der Urteile steht aber aus. Auf die oben gemachten methodischen Vorbemerkungen kann verwiesen werden. Die materielle Legitimation ergibt sich aus den unterschiedlichen Perspektiven der den Prozess begründenden Parteien und des den Prozess ermöglichenden Gemeinwesens. Für die Parteien muss sich das Urteil in der Durchsetzung ihrer subjektiven Rechte bewähren. Institutionell muss das Urteil die Durchsetzung der Wertordnung gewährleisten.

I. Leitbildbindung als individueller Legitimationsgrund Aus Sicht der an einem Rechtsstreit beteiligten Parteien geht es in materieller Hinsicht darum, die beeinträchtigten bzw. in Frage gestellten subjektiven Rechte durchzusetzen. Das ist der individuell-materielle Prozesszweck. Aber was bedeutet dies konkret? Welchen Maßstab legen Parteien an, um ein Urteil als „gut“ qualifizieren zu können? Anders gewendet: Wann würde eine Partei ein Urteil trotz Unterliegens als „gutes Urteil“ bezeichnen? Zyniker der Praxis würden mit einem schlichten „nie“ diese Frage beantworten, aber hier hilft das von Rawls entliehene Konzept der legitimen Erwartung: Müssten die Parteien, ausgerichtet an der normativen Bestimmung des Urteils, vor dem Richterspruch entscheiden, was die Qualität eines konkreten Urteils ausmachen wird, würden sie legitime Erwartungen formulieren. Die Erwartung in materieller Hinsicht ist zunächst darauf gerichtet, dass das Urteil inhaltlich recht-

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mäßig ist. Hinzu tritt als Selbstverständlichkeit das Erfordernis einer sauberen Argumentation ohne logische Fehler. Darüber hinaus erwarten die Parteien aber legitimerweise, dass ihre betroffenen Interessen anhand eines anerkannten Maßstabs angemessen gewürdigt werden. Die Qualität eines Urteils entscheidet sich aus Parteisicht an der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Interessen.

1. Interessen im Konflikt Ein Konflikt liegt vor, wenn Interessen verschiedener Personen nicht in Einklang miteinander zu bringen sind, wenn es also zu einer Diskrepanz, einem wechselseitigen Ausschluss von Interessen kommt. Im Kern geht es in der gerichtlichen Entscheidung immer um die sich gegenseitig beeinflussenden Interessen der Parteien, die sich gegenüberstehen. Die Interessenjurisprudenz, die Philipp Heck einst begründete, hat diesen zentralen Topos der Rechtsfindung in den Fokus gerückt.195 Auch wenn die reine Interessenjurisprudenz durch spätere rechtstheoretische Entwicklungen überholt wurde, so bleibt doch der Interessengegensatz zwischen den Parteien Nukleus der gerichtlichen Auseinandersetzung, und so muss ein Urteil, das ein gutes sein soll, an diesem Kern ansetzen. Das interessengeleitete Denken zeigt auf, wann Verhandlungs- und Vergleichslösungen möglich sind, nämlich dann, wenn sich ein Interessenkonflikt nur als scheinbarer Konflikt erweist oder die Parteien bereit sind, unter Berücksichtigung ihrer Gesamtinteressenlage Einbußen am ursprünglich priorisierten Detailinteresse hinzunehmen. So sich die Interessen tatsächlich unvereinbar und die Parteien unversöhnlich gegenüberstehen, ist der Weg zum Vergleich versperrt und das gerichtliche Urteil ist erforderlich. Soweit das Gesetz es ermöglicht, wie in den allermeisten Fällen, zeichnet sich ein gutes Urteil dadurch aus, dass die Interessen der Parteien umfassend berücksichtigt werden und sich das Gericht mit den wichtigsten Gesichtspunkten auseinandersetzt. Nur in genauer Kenntnis der Parteiinteressen kann ein Urteil gefällt werden, das die Parteierwartungen erfüllt und das zur Konfliktbereinigung beiträgt. Eine Streitpartei kann legitim erwarten, dass sich das Gericht mit den wichtigsten, im Streit stehenden Interessen auseinandersetzt. Die Untersuchungsfrage lautet daher: Basiert die Entscheidung auf einer Auseinandersetzung mit den relevanten Interessen der Parteien?

2. Leitbilder des Privatrechts Auf das zweite Kriterium der individuell-materiellen Legitimation ist ausführlicher einzugehen. Die Frage ist, nach welchem Maßstab die identifizierten Interessen gewichtet und abgewogen werden sollen. Der schlichte Verweis auf 195

Vgl. Heck, AcP 112 (1914), 1 ff.

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die Interessen der Parteien genügt hier nicht, da damit der normative Charakter der Abwägung verkannt würde und vom Sein aufs Sollen geschlossen würde. Eine einfache Lösung wäre der Verweis auf das Gesetz, doch krankt dieser Verweis an zwei Problemen: Zum einen ist das Gesetz lückenhaft und bedarf der Ausfüllung, Begriffe sind auslegungsbedürftig. Diesem Problem widmet sich, wie gesehen, die Methodenlehre. Zum anderen richtet sich die legitime Erwartung des Rechtssuchenden zwar abstrakt auf die Rechtmäßigkeit, nicht aber auf konkrete gesetzliche Normen. Dies würde den Rechtssuchenden überfordern. Ein Verbraucher, der wegen eines Mangels des von ihm erworbenen Kaufgegenstands gegen den Verkäufer vorgeht, wird nur in den seltensten Fällen die Erwartung formulieren, der Rechtsstreit möge anhand von §§ 474 ff. i.V.m. 13, 14, 437, 433, 434 BGB gelöst werden. Eine inhaltliche Vorstellung hat der Kläger aber doch, nämlich die Vorstellung von einer Lösung anhand des hier sog. „Leitbilds des Privatrechts“. Durch die Klageerhebung vertraut sich der Kläger den Grundprinzipien des Zivilrechtsweg an, der an die Gesetze gebunden ist (Art. 20 Abs. 3 GG). Unabhängig von der konkreten Gesetzeslage erwartet der (hier natürlich typisierte, normativ gedachte) Kläger von der Justiz die Lösung im Rahmen eines Modells, das die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten regelt. Dieses Referenzsystem für Gesetzgebung und Rechtsprechung ist das Leitbild des Privatrechts, und auf dieses Referenzsystem lässt sich auch der Beklagte ein, für den dadurch die (erzwungene) Konfliktschlichtung akzeptabel wird. Die privaten Parteien, die sich für eine zivilgerichtliche Klärung ihres Streits entscheiden, lassen sich nicht auf ein unvorhersehbares Spiel der Willkür ein, sondern in formaler Hinsicht auf eine Einhegung ihres Streits durch ein faires Verfahren und in materieller Hinsicht auf eine Lösung dieses Streits anhand eines demokratisch legitimierten Maßstabs, an dessen Ausfüllung sie bestimmte Erwartungen richten, die im Leitbild des Privatrechts verankert sind. Was aber ist nun das Leitbild des Privatrechts? Was kennzeichnet in materieller Hinsicht die Konfliktlösung? Welche legitime Erwartung kann in wirtschaftsrechtlichen oder weitergehend bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten in das Urteil gesetzt werden? Ein Hilfsmittel zur Beantwortung dieser Fragen ist die zivilrechtliche Dogmatik.196 Gemeint ist damit die wissenschaftliche Durchdringung des geltenden Rechts mit dem Ziel, Prinzipien offenzulegen, die der Gesetzgeber dem Recht eingeschrieben hat.

196 Der Begriff der Dogmatik und ihre Verwendung in der deutschen Rechtswissenschaft werden pointiert in Frage gestellt von Lepsius in: Kirchhof/Magen/Schneider, Was weiß Dogmatik?, 2012, S. 39 ff. Das hier gewählte Vorgehen lässt sich aber mit dem (versöhnlicheren) Fazit von Lepsius (S. 61 f.) in Einklang bringen.

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a) Die Idee des Privatrechts Privatrecht stellt die staatliche Rahmenordnung für die Beziehungen zwischen rechtlich gleich gestellten Individuen dar, die ihre Verhältnisse selbständig regeln. Im vorliegend besonders relevanten Bereich des Wirtschaftsrechts betrifft dies die Regelung der wirtschaftlichen Tätigkeiten, also der marktbezogenen Aktivitäten. Hier wird die Idee des Privatrechts besonders greifbar, wenn sie als Pendant der Marktwirtschaft begriffen wird: Die Marktwirtschaft ist das Modell einer freien Interessenkoordination der Marktteilnehmer, das Privatrecht verfasst diese Freiheit normativ.197 Zwei Grundpfeiler machen die Idee des Privatrechts aus: Die rechtliche Gleichheit der sich gegenübertretenden Parteien und ihre Handlungsfreiheit.198 Die Wende zum Privatrecht ist damit auch eine Hinwendung zu den Werten Gleichheit und Autonomie. Der Gedanke, dass es eine „Idee“ des Privatrechts gibt, knüpft terminologisch an Platons Ideenlehre an, also die Auffassung, dass sich für Sachen, Begriffe, Theorien Grundvorstellungen abbilden lassen, dass es also einen identifizierbaren Kern gibt, der den Untersuchungsgegenstand ausmacht. Für das Privatrecht eine solche Idee zu benennen, kommt einer prinzipienorientierten Durchdringung entgegen, verschiedene Autoren sprechen explizit von einer „Idee des Privatrechts“.199 Aus anderer Warte muss die Annahme einer Privatrechtsidee zurückgewiesen werden, etwa durch den formalen Positivismus, wie ihn etwa Hans Kelsen vertritt, und der die Frage des dogmatischen Eigenwerts des Privatrechts am für ihn vermeintlichen Gegensatz von öffentlichem und privatem Recht erörtert. Sowohl im privaten Vertrag als auch im öffentlich-rechtlichen Verwaltungsakt würde letztendlich nur „politische Herrschaft“200 verwirklicht, nicht aber eine ideologische Orientierung.201 Immer gehe es nur um Formen der Rechtserzeugung, die auf unterschiedliche Weise politisch ausgefüllt würden.202

197 Diese Idee hat grundlegend Franz Böhm in seinem bahnbrechenden Text „Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft“ dargestellt, siehe Böhm, ORDO XVII (1966), 75. 198 Zunächst bleibt außer Betracht, dass nach Ansicht des Autors ein dritter Grundpfeiler hinzutritt, nämlich das Prinzip der Fairness. Ohne einen grundlegenden Fairness-Standard würde das System der Koordination nicht funktionieren. Diese Auffassung, die rechtsphilosophisch an Rawls anschließt, entspricht freilich wohl nicht der dogmatischen Konturierung des Privatrechts durch die in der Wissenschaft herrschenden Meinung. Implizit wird Fairness allerdings sehr wohl anerkannt, sowohl in zahlreichen grundlegenden Normen des Gesetzes (z.B. § 242 BGB), als auch in Darlegungen, wenn etwa die soziale Marktwirtschaft beschworen wird. Die Begründung des Fairness-Prinzips wird ausgeführt von in Fikentscher/Hacker/Podszun, FairEconomy, 2013, Kap. 2. 199 Vgl. Weinrib, The Idea of Private Law, 1995; Gysin, Rechtsphilosophie und Grundlagen des Privatrechts, 1969, S. 215 ff. 200 Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, S. 287. 201 Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, S. 286 f. 202 Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, S. 287.

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Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

Wer sich Kelsens Position anschließt, muss die politischen Wertungen offen legen, mit denen das Recht ausgefüllt wird. Das ist im Ergebnis nicht weit entfernt von der Offenlegung eines dogmatischen Leitbilds, allerdings werden die Werte dieses Leitbilds nicht als dem Recht inhärent angesehen, sondern als diesem politisch zugewiesen. Eine Auseinandersetzung über den materiellen Gehalt der Wirtschaftsordnung erspart die Ansicht Kelsens gerade nicht, sie öffnet die Diskussion aber stärker für politische Argumente. Das Ziel einer solchen Diskussion ist ein pragmatisches: Das Leitbild des Privatrechts soll die Vorstellung des Rechtssuchenden konkretisieren (und wiederum beeinflussen), was er von der gerichtlichen Konfliktlösung grundsätzlich erwarten kann. Zudem soll auf der anderen Seite der Gerichtsschranke die Rechtsprechung daran erinnert werden, welche Kerngedanken die Rechtsanwendung leiten müssen. Der Wissenschaftler oder Urteilskommentator wiederum erhält einen Maßstab zur materiellen Prüfung des Urteils. Dies ist angesichts des Untersuchungsgegenstands dieser Arbeit besonders wichtig, geht es doch um Konflikte, die aus der Domäne des öffentlichen Rechts in die des Privatrechts übergehen, also gerade einer neuen dogmatischen Durchdringung bedürfen, zumindest wenn man der Auffassung ist, dass sich Privatrecht und öffentliches Recht unterscheiden (dazu unter C.II.3). Die Entwicklung eines privatrechtlichen Leitbilds ist ein normativer Akt. Die Darlegungen dazu enthalten Wertungen, die nicht zwingend geteilt werden müssen. Es handelt sich um ein Angebot zum Diskurs über die Ordnungsrolle des Zivilrechts. Würde die Rechtswissenschaft nicht den Anspruch erheben, ein solches Leitbild vorzustellen, würde sie vor einer Argumentationslücke kapitulieren und könnte keinen dogmatisch-systematischen Beitrag zur Gestaltung von Recht mehr leisten. Zweite Analysefrage für die Qualität eines Urteils ist damit folgende: Entspricht das Urteil dem materiellen Leitbild des Privatrechts? b) Kerngedanken der Privatrechtsdogmatik Dieses Leitbild wird in Abschnitt III. dieses Kapitels konturiert, nachdem die materiell-institutionelle Perspektive der Urteilslegitimation integriert wurde. Bereits an dieser Stelle lassen sich aber die beiden Kerngedanken des Privatrechts identifizieren: Freiheit und Gleichordnung. Privatrecht wird lexikalisch definiert als der Bestand von Normen, die die Beziehungen von rechtlich gleichgestellten Rechtssubjekten regeln.203 Das Bürgerliche Recht (oder Zivilrecht) bezeichnet innerhalb des Privatrechts die Normen, die allgemein für alle Adressaten gelten, während spezielle Regeln, die nur bestimmte Materien oder Adressaten betreffen, als Sonderprivatrecht

203

Vgl. Creifelds, Rechtswörterbuch, 1997, Eintrag „Privatrecht“.

C. Materielle Legitimation der Zivilrechtsprechung

237

gekennzeichnet werden, so etwa das Handelsrecht für Kaufleute.204 Neben den Aspekt der rechtlichen Gleichstellung rückt in allgemeinen Definitionen regelmäßig die inhaltliche Prägung des Privatrechts als Freiheitsrecht: Die Privatautonomie, also die freie Entscheidungsbefugnis jedes Individuums, ist der Ursprung privatrechtlicher Bindung.205 Die freie Entfaltung des Individuums ist Ziel, Schutzgut und Maßstab des Privatrechts. Da die freie Entfaltung sich in Entscheidungen manifestiert und diese dafür wiederum einen freien Willen voraussetzen, ist die Privatautonomie der Zentralbegriff des Privatrechts.206 Der andere Kerngedanke des Privatrechts ist die rechtliche Gleichordnung der Parteien.207 Die Parteien werden nicht faktisch gleichgestellt, aber die rechtliche Gleichordnung der beteiligten Personen im Sinne einer Begegnung „auf Augenhöhe“, ohne rechtliche Privilegierung der einen oder anderen Seite, ist Voraussetzung aller privatrechtlichen Rechtsverhältnisse. c) Historische Einordnung Die Privatrechtsgeschichte kann gelesen werden als ein stetes Ringen um die Geltung dieser beiden Kerngedanken, der Privatautonomie und der rechtlichen Gleichordnung. In einer Art Koordinatensystem ließe sich darstellen, in welchem Maße sich Freiheit und Gleichheit jeweils zu welcher Zeit in Rechtsprechung, Gesetzgebung und Rechtswissenschaft durchsetzen konnten. In einer solchen axiomatischen Darstellung wäre das Leitbild das normative Sollen, die Rechtsprechung das empirische Sein. Zu differenzieren wäre jeweils, inwieweit die Handlungsfreiheit zugunsten von Gemeinwohlbindungen eingeschränkt wurde und inwiefern die rechtliche Gleichordnung der Parteien verwirklicht wird oder rechtliche oder faktische Unterordnungsverhältnisse bestehen bleiben. Eine solche Lesart gilt erst recht für die Wirtschaftsordnung, die in besonderer Weise von der Wahrnehmung unternehmerisch-individueller Freiheiten ohne Rücksicht auf Gemeinwohlbindungen lebt, und die eine gleiche „Augenhöhe“ der Marktpartner voraussetzt. Das wissenschaftliche Leitbild des Zivilrechts musste nach 1945 neu entwickelt werden, da das Zivilrecht in der nationalsozialistischen Zeit in den Dienst der Diktatur gestellt worden war. Christian Joerges stellt fest, dass es rasch gelang, neue Orientierung – zum Teil in Anknüpfung an vornationalsozialistische Lehren – zu finden:

204

Vgl. Säcker in: MüKo-BGB, 2006, Einl. Rn. 1; Larenz/Wolf, BGB AT, 2004, § 1 Rn. 47 ff., 52 ff. 205 Vgl. Gündling, Modernisiertes Privatrecht und öffentliches Recht, 2006, S. 425. 206 Zum Stellenwert der Privatautonomie vgl. Olzen in: Staudinger, BGB, 2009, Einl. zum SchuldR, Rn. 49 f. m.w.N.; Larenz/Wolf, BGB AT, 2004, § 1 Rn. 2 ff.; Petersen, JURA 2011, 184 ff.; Grigoleit in: Jestaedt/Lepsius, Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S. 51, 54 ff. 207 Vgl. Larenz/Wolf, BGB AT, 2004, § 1 Rn. 10.

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Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

„Bereits Anfang der 50er Jahre hatten sich all jene Schulrichtungen (re-)etabliert oder neu formiert, die für die Geschichte der Bundesrepublik wegweisend werden sollten.“208

In Frage stand für alle Privatrechtler, inwiefern unter dem Eindruck zunehmender wirtschaftsrechtlicher Interventionen des Gesetzgebers oder der Gerichte dogmatisch an der Kernidee des Privatrechts festgehalten werden sollte.209 Joerges identifiziert fünf große Leitbild-Strömungen für den bundesdeutschen Diskurs nach 1949: Formalismus der historischen Schule, Interessen- und Wertungsjurisprudenz, Ordoliberalismus sowie soziales und sozialethisches Privatrecht.210 – Die historische Rechtswissenschaft, vertreten vor allem von Werner Flume, sah Recht als ein Produkt historisch sich entwickelnder Wertvorstellungen. Legislatorischer oder richterlicher Eifer war einer solchen liberal-formalistischen Schule suspekt. – Die Wertungsjurisprudenz (Gustav Boehmer) knüpfte an Hecks Vorstellungen von Interessenjurisprudenz an, verstand also rechtliche Auseinandersetzungen als Interessenskonflikte von Individuen, die von den Rechtsprechenden bewertet werden müssen anhand der Maßstäbe des Gesetzes. Diese Maßstäbe allerdings lassen sich vom Gesetzgeber verändern und können auch auf Gerechtigkeitsvorstellungen Rücksicht nehmen. – Der von der Freiburger Schule begründete Ordoliberalismus (Franz Böhm) sah die Aufgabe des Rechts in der Rahmensetzung für die freie Marktwirtschaft. Das Privatrecht bildete die Ordnung für die Gemeinschaft, in der sich die Individuen frei entfalten. Deren Freiheitsverwirklichung erfüllte damit zugleich eine Aufgabe im Gesamtgefüge. – Vor allem Ludwig Raiser öffnete sich mit seinem privatrechtlichen Leitbild der Gemeinwohlbindung des Privatrechts in besonderem Maße. Sein „Soziales Privatrecht“ verschob das Leitbild in die Richtung von Gemeinwohlbindung und Gleichordnung. Raiser betonte dabei das Kollektive der modernen Massengesellschaft und materielle Gerechtigkeitsvorstellungen. – Wieacker schließlich bettete diese sozialen Überlegungen in ein sozialethisches Privatrechtsmodell ein, das weitergehend kulturelle, historische, gesellschaftspolitische Aspekte einbezog. Die Betonung der Sozialfunktion des Privatrechts rückte die Gemeinwohlbindung endgültig in den Mittelpunkt der Überlegungen. Von diesen Schulen aus startete die Privatrechts-Dogmatik in der Frühzeit der Bundesrepublik: Vom formal-liberalen Modell Flumes über die zwischen Formalismus und materiellen Ordnungsvorstellungen vermittelnden Modelle bis zu den sozialen Modellen wurden Leitbilder entworfen, die in unterschiedli208 209 210

Joerges in: Simon, Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, 1994, S. 311, 316 f. Vgl. Hofer in: HKK-BGB, 2007, Vor § 241 Rn. 32 ff. Vgl. Joerges in: Simon, Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, 1994, S. 311, 316 ff.

C. Materielle Legitimation der Zivilrechtsprechung

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cher Weise Autonomie und Gleichordnung akzentuierten. Sie bildeten Folien für die Integration immer neuer Herausforderungen an die Wirtschaft: Die Hinwendung zu einer stärker interventionistischen sozialen Politik unter der sozialliberalen Regierungskoalition konnte in diesem Raster ebenso gelesen werden wie die eher marktliberalen Ansätze in den Jahren ab 1982. Wichtige Impulse erhielt die Dogmatik in der Folgezeit aus drei Richtungen: Erstens wurde der Blick für interdisziplinäre Forschung geöffnet. Besonders wichtig waren hier zum einen die soziologisch-philosophische Überprüfung juristischer Vorstellungen (z.B. durch die Frankfurter Schule), zum anderen die ökonomische Absicherung der Anreize, die von Rechtssätzen ausgehen (law and economics). Zweitens wurde für die in Deutschland lange Zeit vorherrschende ordoliberale Schule der Schritt von von Hayek besonders bedeutsam. Der spätere Nobelpreisträger entwickelte die in Kapitel 2 bereits thematisierte Theorie spontaner Ordnungen und betonte das innovativ-dynamische Element der Marktprozesse, die auch dem Privatrecht zugrunde liegen. Damit löste er sich von der Vorstellung eines festen, werthaltigen Ordnungsrahmens und näherte sich wiederum dem Formalismus der liberalen Richtung an. Drittens galt es, in immer stärkerem Ausmaß gesetzgeberische Initiativen in das privatrechtliche Leitbild zu integrieren, die neuartig waren, z.B. im Bereich des Verbraucherschutzes. Die Ausdifferenzierung des Privatrechts wurde damit Herausforderung einer Prinzipienorientierung. Eine gänzlich neue Dimension fügte schließlich der Prozess der europäischen Einigung dem privatrechtlichen Leitbild hinzu: Mit den Verträgen und ihrer steigenden Bedeutung für die Rechtspraxis war eine neue übergeordnete Wertordnung vorgegeben, die ein eigenes wirtschaftliches Ordnungsmodell (basierend auf den Grundfreiheiten und dem Wettbewerbsprinzip) vorsah, ohne auf angestammte nationale Positionen Rücksicht zu nehmen. Die Friktionen, die daraus resultieren, werden im Laufe des aktuellen Prozesses der europäischen Privatrechtsvereinheitlichung sichtbar. Dieser kursorische Überblick über die historischen Quellen einer aktuellen Diskussion verschiedener Leitbilder des Privatrechts vermag nicht einmal im Ansatz den Reichtum rechtswissenschaftlicher Forschung zu diesem Thema spiegeln. Der Überblick führt aber zu zwei wesentlichen Erkenntnissen: Erstens ist es in der deutschen Rechtswissenschaft ganz überwiegende Ansicht, dass ein privatrechtliches Leitbild als Orientierungspunkt für Gesetzgeber und Justiz erforderlich ist und einen Eigenwert hat. Es ist also vertretbar, prinzipiengeleitete Ordnungsmodelle zur Beurteilung der Qualität (nicht Rechtmäßigkeit) von Rechtsprechung heranzuziehen. Dahinter steht der Gedanke, dass das Recht eine eigene Ordnung konstituiert – im Sinne Kants, demzufolge Recht und Politik getrennte Materien sind. Nach Ansicht Kants muss „alle Politik […] ihre Knie vor dem erstern beugen.“211 Fikentscher hat dies pointiert 211

Kant, Zum ewigen Frieden, 1968, Band XI, S. 244.

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so formuliert, dass Recht immer Gesellschaftskritik sei.212 Daraus folgt, dass es geradezu Aufgabe der Rechtswissenschaft ist, ein Leitbild aus dem Recht zu entwickeln, das gegebenenfalls in Kritik zur aktuellen Praxis zu setzen ist. Zweitens zeigen alle Leitbilder, dass Privatrechtler sich immer positionieren müssen: Sie müssen festlegen, welchen Wert sie der Freiheit des Einzelnen zubilligen, wie sie die Gleichordnung der Parteien sichern und welche Gemeinwohlbindung Privatrecht hat.

II. Systemrelevanz als institutioneller Legitimationsgrund Institutionell, also aus der globalen Perspektive des Gemeinwesens, ist die Funktion der Rechtsprechung gleichermaßen mit einem inhaltlichen Anspruch verknüpft wie aus Sicht des Individuums. Der Staat erwartet von der Rechtsprechung die Umsetzung der materiellen Wertordnung, wie sie von Verfassung und Gesetzgebung vorgegeben ist. Dies bedeutet, dass das Urteil in erster Linie rechtmäßig sein muss. Diese Priorität des geschriebenen Rechts wird, Leitbild-Diskussionen und Prinzipien-Bildung zum Trotz, in keiner Weise in Frage gestellt. Ein gutes Urteil leistet aber mehr als bloß rechtmäßig zu sein. Welche weitergehenden Interessen des Gemeinwesens, also öffentlichen Interessen sollte ein gutes Zivil-Urteil berücksichtigen?

1. Die Idee der Systemrelevanz Diese Frage zielt auf eine zentrale Spannung innerhalb der Rechtsordnung, nämlich die Spannung zwischen privaten und öffentlichen Interessen und damit auch die Trennung zwischen privatem und öffentlichem Recht. Wenn das Leitbild des Privatrechts dominiert wird von der Privatautonomie, der Freiheit der Bürger, ihre Interessen selbständig, ohne staatliche Bevormundung zu regeln, wirkt es wie ein dogmatischer Affront, öffentlichen Interessen überhaupt eine Rolle im Privatrecht zuzugestehen. Und doch folgt aus der dargestellten doppelgleisigen Begründung des Zivilprozesses, dass sich der Rechtssuchende auch einem gewissen öffentlichen Ordnungsanspruch unterwerfen muss – andernfalls stünden ihm alternative Streitschlichtungsmechanismen zur Verfügung. Zugleich spricht aber das Primat der Privatautonomie dafür, öffentlichen Interessen nur sehr begrenzt bei der individuellen Interessenkoordination Geltung zu verschaffen. Zur Auflösung dieser Spannung wird hier vorgeschlagen: Anerkannt werden nur solche öffentlichen Interessen, welche die Grundlagen der privatrechtlichen Markt- und Gesellschaftsordnung sichern. Öffentliche Interessen, die für die Privatrechtsordnung „systemrelevant“ sind, um mit einem seit der Finanzkrise 2008 geläufigen Begriff zu operieren, müssen auch in einem zivil212

Fikentscher, Methoden III, 1976, S. 608 ff.

C. Materielle Legitimation der Zivilrechtsprechung

241

gerichtlichen Verfahren berücksichtigt werden. Thomas Ackermann formuliert diesen Gedanken für das Wirtschaftsrecht, indem er dessen doppelte Funktion darlegt: „Das Recht sieht im Unternehmen nicht mehr und nicht weniger als den grundsätzlich gewinnorientierten Marktteilnehmer. Es will ihm die Wahrnehmung dieser Rolle ermöglichen, in dem es ihm die Regeln zur Verfügung stellt, die es braucht, um seine interne und externe Kooperation effizient zu organisieren. Zugleich will das Recht verhindern, dass unternehmerisches Handeln die Infrastruktur beschädigt, deren Funktionieren die Existenz von Märkten überhaupt erst ermöglicht.“213

Neben eine freiheitsermöglichende Organisationsfunktion von Privatrecht tritt also eine freiheitssichernde Begrenzungsfunktion, die darauf abzielt, die systemrelevanten Grundlagen des wirtschaftlichen Handelns (die „Infrastruktur der Märkte“) zu erhalten.214 Die Legitimation des Urteils speist sich in materiell-institutioneller Hinsicht damit aus der allgemeinen Wertordnung, die sich im Privatrecht niederschlägt. Dessen Paradoxie ist es, dass es die Freiheit der unternehmerischen Entscheidung sichert, indem es bestimmte Grenzen zieht, sodass die Freiheitsausübung in rechtlicher Gleichordnung ermöglicht wird. Würde ein Urteil die „Infrastruktur der Märkte“, das Funktionieren der privatrechtlichen Koordination untergraben, wäre es in sich nicht schlüssig, und mithin kein gutes Urteil. Welches die „systemrelevanten Grundlagen“ der Privatrechtsordnung sind, wird sogleich entwickelt.215 Als Untersuchungsfrage kann für die Bewertung von Urteilen festgehalten werden: Schützt das Urteil die systemrelevanten Grundlagen der Privatrechtsordnung?

2. Grundlagen der Privatrechtsordnung Aus institutioneller Sicht ist also erforderlich, die materiellen Bedingungen zu schaffen, die die privatrechtliche Ordnung dauerhaft sichern. Damit wird die Erhaltung der Grundlagen der Wertordnung zu einem Faktor der Konfliktschlichtung. Im Merkmal der Systemrelevanz liegt, wie sich zeigen wird, das Abgrenzungskriterium zum öffentlichen Recht.

213 Ackermann in: Neuhaus, Die Rolle des Unternehmers in Staat und Gesellschaft, 2007, S. 79, 112. Vgl. ders., Schutz des negativen Interesses, 2007, S. 110 ff. für die Legitimation privatrechtlicher Selbstbindung. 214 Ähnlich Larenz/Wolf, BGB AT, 2004, § 1 Rn. 43, wenn gefordert wird, „die Funktionsbedingungen der privatrechtlichen Institute zu sichern“, statt bei deren Gefährdung auf öffentlich-rechtliche Eingriffe auszuweichen. Genannt werden explizit Vertragsfreiheit und Eigentum. Grigoleit in: Jestaedt/Lepsius, Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S. 51, 57, spricht von „unverzichtbaren rechtlichen Rahmenbedingungen der Willkürentfaltung“ als „Mindestvoraussetzungen einer sinnvollen Privatrechtsordnung“. 215 Dazu III.

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Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

Das Gemeinwesen hat sich dafür entschieden, die Ordnung der wirtschaftlichen Beziehungen den Privatpersonen zu überlassen und für diese Marktwirtschaft lediglich einen Ordnungsrahmen zur Verfügung zu stellen. Das Privatrecht verfasst die Marktwirtschaft.216 Die Grundlagen des marktwirtschaftlichen Austauschs sind somit auch diejenigen der privatrechtlichen Ordnung. Ein solcher Austausch funktioniert nicht ohne weiteres, sondern bedarf einer „Infrastruktur“. Wer eine Marktwirtschaft will, muss Voraussetzungen dafür schaffen und darauf achten, dass die Marktwirtschaft nicht kollabiert, wie es beinah durch die Krisen seit 2008 geschehen wäre. Schon gar nicht der geistige Entdecker der freien Marktwirtschaft, Adam Smith, der Moralphilosoph, glaubte an die alleinige Lenkungswirkung der „unsichtbaren Hand des Marktes“ für die Marktwirtschaft, er selbst benannte mehrere Voraussetzungen für ein Funktionieren der Marktwirtschaft.217 Welche Voraussetzungen dies sind, wird im Folgenden, gemeinsam mit dem Leitbild des Privatrechts erörtert. Zuvor wird die Diskussion jedoch in die Auseinandersetzung um die Abgrenzung von Privatrecht und öffentlichem Recht eingeordnet.

3. Abgrenzung vom Öffentlichen Recht Die Abgrenzung von öffentlichem und privatem Recht bewegt die deutsche Rechtswissenschaft seit langer Zeit. Das Thema hat zu einer nicht mehr überschaubaren Fülle von Literatur geführt.218 Im Folgenden werden nur Grundlinien der Thematik aufgezeigt und die aktuellen Entwicklungen, die für die vorliegende Schrift von Bedeutung sind, erörtert. a) Ausgangspunkt Das Zivilrecht geht von einem Primat der Freiheit aus. Das öffentliche Recht hingegen ist von einer Dualität gekennzeichnet: einerseits dient es dem Schutz der Grund- und Freiheitsrechte, indem diese staatlich abgesichert werden und indem staatliches Handeln an enge Voraussetzungen geknüpft wird. Andererseits wird durch öffentlich-rechtliche Regelungen nicht nur dem Freiheitsinteresse der Marktteilnehmer zum Durchbruch verholfen, sondern auch den öffentlichen Interessen. Neben die freie Entscheidung des Individuums tritt also die Entscheidung im Staat über das Gemeinwohl. Bezogen auf den Bereich der 216

Böhm, ORDO XVII (1966), 75. Siehe schon die Belege oben, Kapitel 1 A.IV.1. 218 Aus der älteren Literatur siehe nur Wolff, AöR 76 (1950/51), 205 ff.; Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, 1968; ders. in: FS Rittner, 1991, S. 69 ff.; Menger in: FS Wolff, 1973, S. 149 ff.; Zuleeg, VerwArch 73 (1982), 384 ff.; Schmidt, Die Unterscheidung von privatem und öffentlichem Recht, 1985; aus neuerer Zeit etwa Bydlinski, AcP 194 (1994), 319 ff.; Wall, Anwendbarkeit privatrechtlicher Vorschriften im Verwaltungsrecht, 1999, S. 7 ff.; Zumbansen, Ordnungsmuster im modernen Wohlfahrtsstaat, 2000, S. 185 ff.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, § 52. 217

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243

Wirtschaft lässt sich formulieren: Privatrechtliche Regeln für das Wirtschaftsleben dienen dazu, den Bürgern die freie Verwirklichung ihrer unternehmerischen und wirtschaftlichen Tätigkeit zu ermöglichen. Das Wirtschaftsverwaltungsrecht hingegen sieht Regeln vor, welche die wirtschaftlichen Tätigkeiten so steuern, dass sie gemeinwohlverträglich sind, z.B. indem die Versorgung der Bevölkerung gesichert wird. Das Zivilrecht basiert auf der rechtlichen Gleichstellung der Personen, das öffentliche Recht nicht. In öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten wirkt das Prinzip personaler Gleichberechtigung nicht. Stets hat ein Beteiligter eine überlegene Position, denn er ist dem Staat zugeordnet und agiert daher aus einer besonderen Position heraus. Dass Privatrecht ein Teil (wenn nicht sogar Grundlage) des Wirtschaftsordnungsrechts ist, ist keine neue Erkenntnis. Fikentscher definiert Wirtschaftsrecht als „Inbegriff der rechtserheblichen Normen, die die Freiheit des Zuordnungswechsels und die Zuordnung wirtschaftlicher Güter in allgemeinen Grundsätzen und durch globale oder spezielle Eingriffe regeln, um eine nach den Maßstäben der wirtschaftlichen Gerechtigkeit ausgewogene Selbst-Entfaltung und Versorgung der Wirtschaftsbürger im Rahmen einer gesetzten Wirtschaftsverfassung zu gewährleisten.“219

Das Privatrecht betrifft die Zuordnung wirtschaftlicher Güter und die Freiheit, darüber zu entscheiden. Es enthält die allgemeinen Grundsätze für Zuordnung und Zuordnungswechsel. Es ist somit Teil des Wirtschaftsrechts. Privatrecht bleibt aber eine staatliche Vorgabe, sodass sich die Scheidung von den sonstigen staatlichen Vorgaben als Problem stellen kann. Hier wird die Auffassung vertreten, dass das Privatrecht öffentliche Bindungen nur dahingehend zulässt, dass die systemrelevanten Grundlagen der Freiheitsausübung geschützt werden, nicht aber weitergehende öffentliche Interessen. Die Wende zum Privatrecht impliziert damit eine Begrenzung öffentlicher Bindungen auf das, was zum Erhalt des freien Austauschs unter Bürgern nach deren autonomer Entscheidung systemnotwendig ist. b) Relevanz der Unterscheidung In der Praxis spielt die Unterscheidung der beiden Rechtsdomänen für die Entscheidung über den Rechtsweg (vgl. § 13 GVG) und die Anwendung des richtigen Rechtsgebiets eine Rolle. Denkbar sind etwa Streitigkeiten über die Haftung, bei denen die Unterscheidung wegen § 839 BGB, Art. 34 GG eine Rolle spielen kann.220 Relevanz entfaltet die Unterscheidung von privatem und öffentlichem Recht aber insbesondere für die wissenschaftliche Bearbeitung.221 219 220 221

Fikentscher, Wirtschaftsrecht I, 1983, S. 1. Vgl. BGH, 19.5.1958, Az. III ZR 211/56, NJW 1958, 1234. Vgl. Säcker in: MüKo-BGB, 2006, Einl. Rn. 2.

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Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

Das Erkenntnisinteresse fundamental betriebener Rechtswissenschaft reicht über die Entscheidung von Rechtswegfragen hinaus in den Bereich der Systembildung, die wiederum kein Selbstzweck ist, sondern einem vertieften Verständnis der Wertungen dient, die mit der Entscheidung für private oder öffentliche Normsetzung einhergehen.222 Aus der eigentümlichen Prägung, die das Rechtsgebiet aufgrund seiner dogmatischen Durchdringung erfährt, folgen wiederum Rückwirkungen für die Praxis, wenn einer der beiden Wege beschritten wird. Burgi hat dies mit der Dualität von „Tonart der Freiheit“ und „Tonart der Bindung“ illustriert:223 Private Rechtsausübung folgt der Tonart der Freiheit, d.h. bei allen auch im Privatrecht gesetzten Grenzen dominiert doch die Möglichkeit eines autonomen Zugriffs auf die Materie. Oberster Grundsatz der privatrechtlichen Konfliktlösung bleibe, den Parteien die Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse soweit wie möglich selbst zu überlassen. Öffentliches Recht hingegen schlägt eine Tonart der Bindung an, fordert also bei der Konfliktlösung an erster Stelle die Rücksichtnahme auf höherrangige Ziele, seien es Rechtsnormen oder das Gemeinwohl.224 Mag auch, und so ist das Bild von der Tonart zu verstehen, der Unterschied im Ergebnis kaum hörbar sein, so bleibt doch das Bewusstsein beim Herangehen an die Materie ein völlig unterschiedliches. Nur so konnte etwa die in Kapitel 1 diagnostizierte unterschiedliche Herangehensweise ans Wirtschaftsrecht entstehen: Während ein klassischer Zivilrechtler mit Regelungen für die Wirtschaft die Freiheitsausübung ermöglichen will, steht für einen klassischen Verwaltungsrechtler die Funktion des Wirtschaftens für das Gemeinwohl (etwa in Form des Topos „Daseinsvorsorge“) im Vordergrund der rechtlichen Regelungen. Burgis Bild der unterschiedlichen Tonarten bestimmt den materiellen Bezugspunkt der unterschiedlichen Regelungsgebiete. Hinzu tritt eine institutionelle Dualität, die ebenso bedeutsam ist. Das Zivilrecht ist von der institutionellen Gleichordnung der Akteure geprägt, während das öffentliche Recht eine Ungleichgewichtskonstellation kennt. Im Zivilrecht treffen Personen aufeinander, die formal auf derselben Stufe stehen. Im öffentlichen Recht ist immer eine Person beteiligt, die staatliche Autorität genießt. c) Dogmatische Unterscheidung Eine Trennung zwischen öffentlichem und privatem Recht wird auf das Ende des 18. Jahrhunderts datiert,225 also – wie Heinz Dieter Kittsteiner formulierte – auf den Zeitpunkt des Übergangs von der „Stabilisierungsmoderne“ zur 222

Vgl. Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, 2001, S. 30. Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – DJT-Gutachten, 2008, S. D24. 224 Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – DJT-Gutachten, 2008, S. D18 ff. 225 Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, 2008, Rn. 5; Steindl in: FS Coing, 1982, S. 348 ff.; Schröder in: FS Gernhuber, 1993, S. 961 ff. 223

C. Materielle Legitimation der Zivilrechtsprechung

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„Fortschrittsmoderne“.226 Die Lösung des Privatrechts vom öffentlichen Recht ist die Geschichte einer Emanzipation. Mit ihr wurden die zwei Versprechen der Aufklärung über den Weg des Privatrechts eingelöst: Freiheit und Gleichordnung. Das Fortschrittliche der Trennung beider Zweige lag in der Etablierung bürgerlicher Freiheiten (einschließlich der freien wirtschaftlichen Betätigung) entgegen dem subordinationsgeprägten Staat autoritärer Prägung. Wirtschaftliche Freiheit konnte sich zunehmend entfalten und damit die wirtschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritte beflügeln, die sich zu dieser Zeit Bahn brachen. Privatrecht als eigener Zweig des Rechts war damit von vornherein mit der Ermöglichung wirtschaftlicher Freiheit assoziiert. Eine der ersten227 Theorien zur Abgrenzung von Privatrecht und öffentlichem Recht, die Interessentheorie, differenziert nach dem materiellen Gehalt der streitentscheidenden Normen. Das Privatrecht schützt demnach Individualinteressen, das öffentliche Recht hingegen Interessen der Allgemeinheit.228 Diese Theorie lenkt den Blick auf die Dualität von Freiheit und Bindung und trifft damit den Kern der Entscheidung für eine bestimmte Wirtschaftsordnung: individuelle Entfaltung versus Gemeinwohlverwirklichung. Als Abgrenzungskriterium sind die in einer Norm verwirklichten Interessen jedoch nur begrenzt geeignet: Zum einen gibt es zahlreiche Überlagerungen, die als Fremdkörper wirken würden, wenn man in dieser Rigorosität die Trennung durchführen würde. So wird durch das öffentliche Recht die Grundrechtsverwirklichung im Individualinteresse vorangetrieben, während zugleich Normen des Zivilrechts auch dem Gemeinwohl dienen, etwa aus sozialen Gründen. Zum anderen ist Recht als solches eine Institution des Gemeinwohls: auch zivilrechtliche Regelungen dienen ja letztlich der Sicherung des Rechtsfriedens in der Gemeinschaft. Eine Fortentwicklung der Interessentheorie hat das vertretene Interesse an den Akteur zurückgekoppelt.229 Öffentliches Recht liege vor, wenn mindestens eine Partei ein Hoheitsträger sei, der an die Verfolgung von Allgemeininteressen gebunden sei. Im Privatrecht hingegen stünden sich nur Individuen gegenüber, die primär ihren eigenen Interessen verpflichtet seien. Noch deutlicher akzentuiert dies Dieter Medicus, der das Zivilrecht als das Recht der freien Entscheidung ansieht, während im öffentlichen Recht gebunden ent-

226 Vgl. Kittsteiner, Stabilisierungsmoderne, 2010. Vgl. zu diesem „Szenarium“ auch Steindl in: FS Coing, 1982, S. 348, 349, 350 ff.; Säcker in: MüKo-BGB, 2006, Einl. Rn. 163 ff. 227 Vgl. schon Ulpian (Ulp. Dig. 1, 1, 1, 2): „publicum ius quod at statum rei Romanae spectat, privatum quod ad singularum utilitatem“. Sein Lehrer Papinian hatte ähnlich darauf abgestellt, dass öffentliches Recht zwingendes Recht ist (D 2, 14, 38): “ius publicum privatorum pactis mutari non potest“. 228 Vgl. Larenz/Wolf, BGB AT, 2004, § 1 Rn. 24. 229 Vgl. Larenz/Wolf, BGB AT, 2004, § 1 Rn. 24.

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Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

schieden werde.230 Daran überzeugt die handlungs- und entscheidungsorientierte Perspektive. Auch dieses Kriterium versagt jedoch zur Abgrenzung, da in den kritischen Fällen gerade erst zu entscheiden ist, ob eine solche Bindung ans Allgemeininteresse gegeben sein soll oder nicht. Die Theorie legt aber offen, dass es grundsätzlich eine Differenzierung zwischen eigenen und fremden Interessen gibt. Für das Privatrecht, das gilt es festzuhalten, stellt die Verfolgung von Interessen des Allgemeinwohls grundsätzlich eine wesensfremde Verpflichtung dar. Gerade Medicus verdeutlicht, dass jedes Handeln einer Behörde bzw. einer staatlichen Stelle einen Sonderfall gegenüber dem freien, individuellen Handeln des Privaten darstellt. Die Entscheidungen eines staatlichen Angestellten oder Beamten fallen innerhalb einer direkt grundrechtsgebundenen Organisation ohne ein zulässiges institutionelles Eigeninteresse des Ausführenden. Eine Behörde verfolgt keine eigennützigen Interessen, selbst der Einkauf von Büromaterial ist, streng genommen, nur die Verwirklichung des staatlichen Auftrags, der der jeweiligen Behörde obliegt. Dass dies in der Praxis nicht immer mit der erforderlichen Schärfe gesehen wird, ist eine Fehlentwicklung. Während diese Theorien den materiellen Gehalt der Rechtsnormen in den Vordergrund rücken, stellt die Subordinationstheorie auf das institutionelle Gefüge ab. Nach dieser Auffassung sind die beiden Materien danach abzugrenzen, ob sich die Parteien eines Rechtsverhältnisses auf Ebene der Gleichordnung oder der Über-/Unterordnung begegnen. Sind die Parteien gleichgeordnet, ist Privatrecht anzuwenden, in einem Über-/Unterordnungsverhältnis ist hingegen ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis gegeben.231 Das Kriterium dieser Theorie ist schon deshalb zweifelhaft, da es auch im öffentlichen Recht Gleichordnungsverhältnisse gibt, etwa in Form von Verträgen zwischen zwei Gemeinden, und im Privatrecht Überordnungsverhältnisse, etwa im Verein.232 Insbesondere begründet das Kriterium aber einen Zirkel: Das Zivilrecht setzt nicht nur Gleichordnung voraus, sondern verleiht auch Gleichordnung. Über seine Anwendung kann daher nicht entschieden werden mit Hilfe eines Kriteriums, das selbst Teil der rechtlichen Bewertung ist. Dies erkannte auch der BGH, der 1954 über den folgenden Fall aus dem Bereich der staatlichen Wirtschaftstätigkeit urteilte:233 Eine staatliche Baubehörde hatte in einer dienstlichen Anweisung an nachgeordnete Baubehörden verfügt, dass ein bestimmter Bauunternehmer nicht mehr für öffentliche Bauaufträge in Frage komme. Der Bauunternehmer klagte auf Widerruf des Hinweises. Der BGH hielt in diesem Fall nicht die ordentlichen Gerichte für zuständig, sondern die Verwaltungsgerichte. In Wiederholung einer Formel der 230

Medicus, BGB AT, 2010, Rn. 10. BGH, 10.7.1954, Az. VI ZR 120/53, NJW 1954, 1486; vgl. Säcker in: MüKo-BGB, 2006, Einl. Rn. 3. 232 Vgl. Larenz/Wolf, BGB AT, 2004, § 1 Rn. 22. 233 BGH, 10.7.1954, Az. VI ZR 120/53, NJW 1954, 1486. 231

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ständigen Rechtsprechung sei „die Natur des Rechtsverhältnisses entscheidend, aus dem der Klageanspruch abgeleitet wird.“234 Es liege ein Fall des bürgerlichen Rechts vor, wenn der Anspruch seiner tatsächlichen Begründung nach aus einem zivilrechtlichen Rechtsverhältnis stammen könne. Könne der Fall aber dem Tatbestand nach nur im öffentlichen Recht entstehen, so seien die Verwaltungsgerichte zuständig. Auf die Rechtsgrundlage, auch das war ständige Rechtsprechung, komme es nicht an. In dem entschiedenen Fall wurde stattdessen darauf abgestellt, dass die Baubehörde als staatlicher Hoheitsträger handelte und gegenüber den nachgeordneten Behörden gerade seine hoheitliche Gewalt ausspielte (dienstliche Weisung). Dass die Wirkungen gegenüber einem Dritten (dem Bauunternehmer) eintreten, der bei den Bauaufträgen, um die es letztlich geht, in einem Privatrechtsverhältnis zu den Baubehörden steht, war zweitrangig. Dieser Anspruch, der Widerruf eines obrigkeitlichen Hinweises in einer Dienstanweisung, konnte so nur im öffentlichen Recht entstehen.235 In diesem Urteil legte der BGH die wesentlichen Aspekte fest, die auch in der Folgezeit seine Unterscheidung kennzeichnen sollten: Die Natur des Rechtsverhältnisses als Ausgangspunkt, die Unbeachtlichkeit der Rechtsgrundlage, die enge Orientierung an der tatsächlichen Anspruchsbegründung und die Auswertung von Indizien für die Frage, ob dieser Fall nur als öffentlich-rechtlicher Fall entstehen konnte, insbesondere mit Blick auf „obrigkeitliche“, also hoheitliche, mit besonderem Durchsetzungsanspruch versehene Befugnisausübung. Das wichtigste Indiz des BGH bei der Auswertung des Sachverhalts für die Entscheidung des Rechtswegs ist demnach die institutionelle Stellung der Parteien. Demnach macht nicht die Gemeinwohlbindung den Unterschied, sondern der besondere Durchsetzungsanspruch der staatlichen Gewalt. Die Bedeutung dieses Indiz verdeutlichte der BGH in späteren Entscheidungen. In einem Streit zwischen einer Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) und der in deren Bezirk zuständigen Innung für Orthopädie-Technik entschied der Gemeinsame Senat der Obersten Bundesgerichte 1987 zugunsten des ordentlichen Rechtswegs und zu Lasten der Sozialgerichte:236 Die streitige Frage war, ob die AOK gebrauchte Rollstühle nach Rückgabe wieder an andere bei ihr Versicherte abgeben darf. Die AOK ist Hoheitsträgerin und handelt ihren Mitgliedern gegenüber hoheitlich. Kern der lauterkeitsrechtlichen Anspruchsbegründung, so der Senat, sei aber ein Wettbewerbsverhältnis der Orthopädie-Techniker zur AOK bei der Abgabe von Rollstühlen. Im wirtschaftlichen Wettbewerb seien die Parteien gleichgeordnet, sodass das auf Gleichordnung gerichtete Zivilrecht einschlägig sei und der ordentliche 234 235 236

BGH, 10.7.1954, Az. VI ZR 120/53, NJW 1954, 1486. Vgl. Palandt/Sprau, BGB, 2011, Einl. BGB Rn. 3. GmS-OGB, 29.10.1987, Az. GmS-OGB 1/86, NJW 1988, 2295.

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Rechtsweg eröffnet sei. Dass die AOK auch hoheitlich tätig wird, spielte für diesen Sachverhalt keine Rolle. Dieses Urteil ist vertretbar, wenn der Schwerpunkt auf die Indizwirkung des Wettbewerbsverhältnisses für einen gleichgeordneten Charakter des Rechtsverhältnisses gelegt wird. Die AOK musste hier nicht auf hoheitliche Befugnisse rekurrieren, um diesen Tatbestand zu schaffen. Die Rechtsprechung tendiert jedoch uneinheitlich. In einem ähnlichen Fall zwei Jahre später entschied der Gemeinsame Senat genau anders: Die Barmer Ersatzkasse hatte gegen die AOK auf Unterlassung der Abwerbung von Mitgliedern geklagt. Diesen Fall wies der Gemeinsame Senat den Sozialgerichten zu. Zwar stünden die Kassen in einem gleichgeordneten Wettbewerbsverhältnis. Allerdings fuhr der Senat fort: „Solche Verhältnisse werden als öffentlich-rechtlich angesehen, wenn die das Rechtsverhältnis beherrschenden Rechtsnormen überwiegend den Interessen der Allgemeinheit dienen, wenn sie sich nur an Hoheitsträger wenden, oder wenn der Sachverhalt einem Sonderrecht der Träger öffentlicher Aufgaben unterworfen ist und nicht Rechtssätzen, die für jedermann gelten.“237

Im vorliegenden Fall sah der Gemeinsame Senat für das Wettbewerbsverhältnis der Krankenkassen ein Sonderrecht als einschlägig an, das von Normen beherrscht sei, die den Interessen der Allgemeinheit dienen. Das Kriterium der Gleichordnung, hier indiziert durch das Wettbewerbsverhältnis, wird also verdrängt durch die Rücksichtnahme auf den Normbestand und dessen materielle Interessenbindung. Das Urteil liegt auf der Linie einer sog. Sonderrechtstheorie, die in der Wissenschaft allerdings etwas präziser konturiert wird als in der zitierten BGH-Entscheidung. Ein Rechtsverhältnis ist demnach dann öffentlich-rechtlich, „wenn an ihm mindestens ein Hoheitsträger mit Rechten und Pflichten beteiligt ist, die nur ihn in seiner Eigenschaft als Träger öffentlicher Gewalt treffen können.“238 In dieser Definition, die die herrschende Meinung repräsentieren dürfte,239 wird deutlicher als in der zitierten BGH-Entscheidung der Bezug zum Handelnden und dem damit verbundenen hoheitlichen Geltungsanspruch hergestellt. Dieser bleibt kennzeichnend. Verfolgt man den traditionellen Diskurs zur Abgrenzung von öffentlichem Recht und Privatrecht ergeben sich folgende Zwischenergebnisse: Die beiden Materien werden als voneinander getrennt wahrgenommen. Durch die Scheidung des Privatrechts vom öffentlichen Recht erhielt das Privatrecht seine Prägung als Freiheitsrecht der Gleichgeordneten. In der Praxis ist die Trennung insbesondere für die Rechtswegzuweisung relevant. Angeknüpft wird hierfür an den Sachverhalt und die Frage, ob dieser nur als Sachverhalt des öf237 238 239

GmS-OGB, 10.7.1989, Az. GmS-OGB 1/88, NJW 1990, 1527. Larenz/Wolf, BGB AT, 2004, § 1 Rn. 27. So Larenz/Wolf, BGB AT, 2004, § 1 Rn. 27.

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fentlichen Rechts entstehen konnte. Indizien dafür sind die Beteiligung eines Trägers hoheitlicher Gewalt, dessen Überordnung durch die Möglichkeit, hoheitliche Befugnisse auszuüben, sowie die Bindung seiner Befugnisausübung an die Verwirklichung des Allgemeininteresses. Privatrechtlich ist ein Rechtsverhältnis hingegen dann, wenn es von den freien, nicht gebundenen Entscheidungen von Individuen geprägt ist, die sich auf gleicher rechtlicher Ebene treffen. d) Neuere Überlegungen Im 20. Jahrhundert setzte eine Bewegung ein, von der ausgehend eine Trennung zwischen öffentlichem und privatem Recht zunehmend bestritten wird. Besonders scharf musste sich für Hans Kelsen diese Trennung als künstlich erweisen, sieht er doch im Recht – wie andere Theoretiker auch – lediglich ein Instrument ohne inhärente materielle Aufladung. Privates und öffentliches Recht würden nur ideologisch getrennt, so Kelsen, es handle sich aber eigentlich nicht um einen absoluten Wesensgegensatz zwischen beiden Rechtsgebieten.240 Dass es immer Mischformen und Grenzfälle zwischen dem öffentlichen Recht und dem Privatrecht gibt, ist unbestritten.241 In den vergangenen Jahren ist jedoch die Abgrenzung mit großer Intensität verwischt worden. Nach neueren Ansichten wird die Trennung von öffentlichem Recht und Privatrecht unter dem Eindruck der verwaltungsrechtlichen Mischformen erheblich aufgeweicht. Die Kooperation mit Privaten wird kennzeichnend für die staatliche Ordnung der Wirtschaft. Wer sich von diesem empirischen Befund für die Zeichnung eines „Leitbilds“ des Privatrechts führen lässt, sieht dieses zunehmend als ein Rechtsgebiet an, das auf Steuerung, also Erzielung bestimmter Ergebnisse, ausgerichtet ist und präventiv agiert. Das Privatrecht bleibt damit nicht unangetastet, es erfolgt vielmehr eine Annäherung an das Leitbild des öffentlichen Rechts,242 das ein gezielt eingesetztes Instrument zur Verwirklichung von Gemeinwohlinteressen ist. An die Stelle dogmatischer Unterscheidung wird damit die pragmatisch-empirische Überlegung gesetzt, wie Ziele am effektivsten erreichbar sind.243 Der 3. Senat des BGH hat 2007 in einem post-deregulativen Urteil, also einer Entscheidung über eine Frage, die nach der Deregulierung einer Branche 240 Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, S. 286 f. Kritisch Säcker in: MüKo-BGB, 2006, Einl. Rn. 2 m.w.N. 241 Als Mischform werden etwa das Prozessrecht oder die Vertretung von Kollektivinteressen im Zivilrecht eingeordnet, vgl. Larenz/Wolf, BGB AT, 2004, § 1 Rn. 33 ff. 242 Vgl. Gündling, Modernisiertes Privatrecht und öffentliches Recht, 2006, S. 67 ff. m.w.N.; Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – DJT-Gutachten, 2008, S. D22; Schebstadt, WuW 2005, 6, 9. 243 Zum Beispiel Scheele in: Libbe/Tomerius/Trapp, Liberalisierung und Privatisierung kommunaler Aufgabenerfüllung, 2002, S. 175, 201.

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Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

auftrat, einen wesentlichen Schritt zu einer solchen Aufweichung vorgenommen. Zu klären war, ob die Deutsche Telekom AG einem anderen Unternehmen bestimmte Entgelte zurückzuzahlen hat, die das Unternehmen im Zusammenhang mit dem Zugang zum Telefon-Festnetz entrichtet hatte.244 Das Unternehmen meinte, die Entgeltfestlegung in den AGB der Deutschen Telekom AG sei unwirksam. Die Entgelte hatten der Bundesnetzagentur zuvor zur Prüfung vorgelegen. Der BGH verneinte eine Anwendung der AGB-Regeln des BGB. Die öffentlich-rechtliche Genehmigung durch die BNetzA habe den privatautonomen Gestaltungsspielraum der Telekom beseitigt, auch wenn nicht jedes Detail der AGB von der BNetzA geprüft wurde. Damit sei für die Anwendung des Zivilrechts kein Raum mehr. Auch wenn dieser Fall nicht die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte nach § 13 GVG betrifft, so ist doch die Problematik vergleichbar: das Zivilrecht wird nach Ansicht des Senats in einem Gleichordnungsverhältnis (Unternehmen im AGB-Streit) verdrängt durch den vorgelagerten Eingriff einer Behörde, den sog. „privatrechtsgestaltenden Verwaltungsakt“. Solche behördlichen Festlegungen sind insbesondere im Regulierungsrecht häufig. Der BGH-Senat verweist demnach eine große Anzahl von Streitigkeiten in die Domäne der Verwaltungsgerichte, obwohl die Auseinandersetzung eigentlich zwischen gleichgestellten Privaten verläuft.245 Für die Abgrenzung von Zivil- und Verwaltungsrecht sendet die Entscheidung des BGH ein zweideutiges Signal aus: Einerseits verteidigt der BGH das Zivilrecht als Raum privatautonomen Handelns und sieht eine Anwendbarkeit nur, wenn privatautonomer Gestaltungsspielraum vorliegt. Der BGH bestätigt also die Sonderrechtstheorie, die von einer Trennung beider Rechtsmaterien ausgeht. So bringt der BGH zum Ausdruck, dass dem Zivilrecht eine materielle Prägung eignet, die anderen Rechtsgebieten fehlt. Diese Prägung stellt den Eigenwert des Zivilrechts gegenüber dem öffentlichen Recht dar. Andererseits ist der Senat bereit, in einem großen Maße Prüfungskompetenzen an Verwaltungsgerichte abzutreten. Hier war insbesondere zu berücksichtigen, dass es faktisch durchaus Rest-Spielräume der Parteien gab, die Genehmigung durch die BNetzA hatte nicht die Vertragsgestaltung determiniert, und sie bezog sich nicht auf jedes Detail der AGB. Der BGH war dennoch bereit, die restautonome Verhandlung der Prüfung durch die Verwaltungsgerichte zu überlassen. Der Eigenwert des Zivilrechts wird damit relativiert: gerade im Randbereich privatautonomer Tätigkeit, der besonders schützenswert wäre, ist die Geltung des Zivilrechts überlagert von öffentlichen Bindungen. Zu beobachten ist darin ein Zusammenwachsen von Privatrecht und Öffentlichem Recht. Diese Tendenz wird auch in drei Modellen der Wissenschaft rezipiert. 244 245

BGH, 24.5.2007, Az. III ZR 467/04, MMR 2007, 585 m. Anm. Böckmann. Vgl. Geppert/Helmes, MMR 2007, 564, 568.

C. Materielle Legitimation der Zivilrechtsprechung

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aa) „Europäisches Gesellschaftsmodell“ Gerade Staatsrechtler knüpfen für das Zusammenwachsen von öffentlichem und privatem Recht am Konzept des Gewährleistungsstaats an, das in Kapitel 1 dargestellt wurde. Ein programmatischer Aufsatz von Schoch trägt den Titel: „Gewährleistungsverwaltung: Stärkung der Privatrechtsgesellschaft?“246 Dass der Gewährleistungsstaat eine Privatrechtsgesellschaft im Sinne von Böhm begründe, weist Schoch zwar zurück. Dieser Anspruch könne weder formal eingelöst werden – die Privatautonomie der Akteure werde vom Regulierungsrecht überlagert – noch materiell: Die Daseinsvorsorge bleibe das dominante Motiv des Gewährleistungsstaats. Mit diesem materiellen Maßstab sei eine Hinwendung zur Privatrechtsgesellschaft als einer Gesellschaft der Freiheit nicht vereinbar. Dennoch trage aber der Gewährleistungsstaat eine neue Komponente in das Zusammenspiel der Domänen, was Schoch zu einem neuen Ansatz führt, den er als das „Europäische Gesellschaftsmodell“ bezeichnet.247 Damit bezieht er sich auf Veröffentlichungen der Europäischen Union zu „Leistungen der Daseinsvorsorge“.248 In diesen Veröffentlichungen wird greifbar, dass seitens der europäischen Organe das Ziel einer „Privatrechtsgesellschaft“ keine Rolle spielt. Vielmehr enthalten die Mitteilungen zu dieser Thematik eine eindeutige Zielvorgabe und große Freiräume bei der Wahl der Mittel. Angestrebt wird ein Aufrechterhalten und Ausbauen der Leistungen der Daseinsvorsorge („gemeinwohlorientierte Leistungen“). Dieses Ziel wird als Ergebnis vorgegeben, was sich auch in der Vorgabe von Benchmarking- und Monitoring-Prozessen zeigt. Die Wahl der Mittel ist den Mitgliedsstaaten freigestellt. Die Europäische Kommission weist in ihren Berichten weder auf einen Schutz der privatrechtlichen Systematik noch auf eine Ergebnisoffenheit im Sinne dynamischer Entwicklungen hin. Bei der Wahl der Mittel wird ausdrücklich die Indienstnahme Dritter (gemeint sind etwa Public Private Partnerships) für positiv gehalten. In dieser Programmatik kann in der Tat ein konzeptionelles Zusammenwachsen von öffentlichem und privatem Recht gesehen werden. Die europäische Rechtsentwicklung ist mitgeprägt von Traditionen in anderen Mitgliedsstaaten und in der Union selbst, die von deutschen Traditionen abweichen. Während in Deutschland die Trennung von Staat und Gesellschaft, von öffentlichem und privatem Recht als Errungenschaft gilt, hat es in anderen Rechtsordnungen und auf Unionsebene selbst eine solche Emanzipation nicht derart ausgeprägt gegeben. Gerade dem europäischen Privatrecht, das punktuell aus Verordnungen und Richtlinien entsteht, sind solche Differenzierungen fremd. Aber auch in organisch gewachsenen Rechtstraditionen, etwa dem an246

Schoch, NVwZ 2008, 241. Schoch, NVwZ 2008, 241, 242. 248 EU-KOM, Leistungen der Daseinsvorsorge, KOM(2001), 598 endg. Rn. 1; Folge-Dokument: KOM(2007), 725 endg. 247

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gelsächsischen Common Law, wird nicht immer zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht mit Schärfe getrennt. Das europäische Recht kann somit von Schoch mit Recht als empirische Basis seiner Theorie vom Gewährleistungsstaat gelesen werden, in dem das Privatrecht in den Dienst der Gemeinwohlverwirklichung gestellt wird. bb) Wechselseitige Auffangordnungen Weniger auf der Folie des europäischen Rechts als vielmehr getrieben vom Steuerungsverlust des klassischen Wirtschaftsverwaltungsrechts entwickeln die Anhänger der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft249 ein neues Verhältnis von öffentlichem Recht und Privatrecht. Andreas Voßkuhle formuliert, das Zusammenspiel des Verwaltungsrechts mit dem Zivilrecht (und dem Strafrecht) sei intensiver in den Blick zu nehmen.250 Er fährt fort, dass es gelte, „Abschottungstendenzen“ zwischen Zivil-, Straf- und öffentlichem Recht zu überwinden, deren jeweilige „spezifischen Steuerungsleistungen“ anzuerkennen und in Form von sich „wechselseitig stützenden Auffangordnungen“251 miteinander in Bezug zu setzen. Diese Theorie der wechselseitigen Auffangordnungen ist insbesondere von den Verwaltungsrechtlern Wolfgang Hoffmann-Riem und Eberhard Schmidt-Aßmann ausgearbeitet worden: Unterschiedslos, je nach Effektivität, greifen öffentliches und privates Recht ineinander, um die gewünschten Steuerungswirkungen zu erzielen.252 Für das Zivilrecht impliziert der Paradigmenwechsel der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft einen neuen Anspruch, nämlich die Indienstnahme des Zivilrechts, soweit es Berührungspunkte mit dem Verwaltungsrecht hat, für eine „Steuerung“.253 Damit geht ein erheblicher Wandel des Zivilrechts einher: Aufgabe des Zivilrechts ist nicht mehr, die Möglichkeit zu sichern, dass Private frei ihre Interessen koordinieren, sondern im Sinne größtmöglicher Effizienz oder des Gemeinwohls einen steuernden Rahmen zu setzen. Eindeutig formuliert dies Oliver Lepsius, der von einer gezielten Verbindung „privatrechtlicher Instrumente mit öffentlich-rechtlicher Zweckbindung“ spricht und folgert, dass daraus weder Bedeutungsverlust des öffentlichen Rechts noch Bedeutungsgewinn des Privatrechts entstehe: 249

Dazu bereits in Kapitel 1, B.III. Voßkuhle in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Assmann/Voßkuhle, Verwaltungsrecht, 2008, Vorwort, S. VII. 251 Voßkuhle in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Assmann/Voßkuhle, Verwaltungsrecht, 2008, § 1, Rn. 33. 252 Siehe die Beiträge in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996. 253 Genau umgekehrt argumentiert Dieckmann, der für bestimmte öffentliche-rechtliche Normen behauptet, sie seien „funktionelles Zivilrecht“, siehe Dieckmann, AcP 213 (2013), 1, 45. 250

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253

„Im Rahmen moderner Regulierungsaufgaben sind öffentliches Recht und Privatrecht funktionell eingesetzte, alternative Grundformen ausgeübter Staatsgewalt.“254

Privatrecht wird also von Lepsius streng genommen als Teil des öffentlichen Rechts angesehen, das zur Erreichung des öffentlichen Interesses eingesetzt wird. Ein dem Freiheitsprinzip geschuldeter Substanzwert des Privatrechts als Rechtsmaterie aus eigener Legitimation wird nicht ausdrücklich anerkannt. cc) „Polykontexturalität“ Während sowohl die Vertreter eines „Europäischen Gesellschaftsmodells“ als auch die Proponenten der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft im Wesentlichen eine Annäherung von öffentlichem Recht und Privatrecht diagnostizieren oder fordern und die Unterschiede zwischen beiden Bereichen relativieren,255 schlägt Gunther Teubner als Vertreter einer Systemtheorie des Rechts neue Kategorien vor: Die Dichotomie privat/öffentlich will er überwinden zugunsten der Anerkennung „einer Pluralität von unterschiedlichen „privaten“ Autonomien“.256 Die Trennung in öffentliches und privates Recht ist für ihn die Konsequenz der Zweipoligkeit von Markt/Wirtschaft einerseits und Politik andererseits. Schon diese Dualität hält Teubner für überkommen. Er sieht die Chance, das Politische gegen den reinen Effizienzanspruch des Marktes zu retten und neue Aspekte in die Dogmatik zu integrieren, die über das klassisch binäre Markt- oder Politikdenken hinausgehen. Mit dieser Forderung nach einer integrativen Ausgestaltung der Rechtsordnung steht Teubner in der Tradition einer kritischen Rechtslehre. Diejenigen Bereiche des Lebens, die durch Politik und Wirtschaft nicht ausreichend repräsentiert seien, könnten durch eine Hybridisierung und Fragmentierung der entstehenden privatrechtlichen Ordnungen in die Gesellschaft integriert werden.257 In den neuen Ordnungen müsse eine Beteiligung des jeweils betroffenen „sozialen Aktivitätssektors“258 ermöglicht werden. Teubner verwendet bei seiner Skizzierung eines künftigen Ordnungsmodells den Begriff der „Polykontexturalität“,259 womit der dynamische und vielgestaltige Prozess bezeichnet wird, der eine einfache Kategorisierung von Rechtsnormen ausschließt. Diese Kritik an der vorherrschenden Dualität weist mit Recht darauf hin, dass sich neue Formen der „Governance“ entwickelt haben, die das klassische Schema von öffentlichem Recht und privatem Recht sprengen. Diese sind begrifflich noch schwer zu fassen. Allerdings stellt sich die Frage, ob es für Teu254

Lepsius in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 4 Rn. 5. Gündling, Modernisiertes Privatrecht und öffentliches Recht, 2006, S. 94: „einheitliche Entwicklungsperspektive“ der beiden Teilrechtsordnungen. 256 Teubner in: Meier-Schatz, Die Zukunft des Rechts, 1999, S. 128, 129. 257 Teubner in: Meier-Schatz, Die Zukunft des Rechts, 1999, S. 128, 129, 152, 157 f. 258 Teubner in: Meier-Schatz, Die Zukunft des Rechts, 1999, S. 128, 138. 259 Teubner in: Meier-Schatz, Die Zukunft des Rechts, 1999, S. 128, 131. 255

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bner nicht eigentlich darum geht, die Machtbildung jenseits etablierter politischer Formen einzufangen. Seinem Ziel wäre damit gedient, den Geltungsanspruch des Politischen zu behaupten und für eine stärkere Beteiligung zu öffnen. Das freilich ist eher als demokratiepolitisches Problem einzuordnen denn als kategoriales Problem der Unterscheidung von öffentlichem Recht und Privatrecht. Perspektivisch wird Recht hier anti-kantianisch in den Dienst der Politik gestellt. Die Schwierigkeit, die „Polykontexturalität“ greifbar zu machen, zeigt, dass eine Integration der Belange „sozialer Aktivitätssektoren“ in die etablierten Formen der Rechtsdogmatik anzustreben wäre, statt diese Formen aufzubrechen und neue zu schaffen. Andernfalls bleibt die Geltendmachung eines Mitwirkungsanspruchs im Rechtssystem schwierig. Da es um soziale, gemeinwohlorientierte Aspekte geht, ist das öffentliche Recht für diese Öffnung gefordert. Ein denkbarer Weg wäre die Definition des öffentlichen Interesses je nach sozialem Aktivitätssektor unter Berücksichtigung pluraler Ordnungsvorstellungen. Das würde bedeuten, dass das öffentliche Recht nicht mehr mit dem Anspruch auftreten würde, das öffentliche Interesse zu verwirklichen, sondern verschiedene öffentliche Interessen zu repräsentieren und in den Gestaltungsprozess einzubringen. Damit ist Teubner aber wieder verwiesen auf die ursprüngliche Kategorie, die zu Beginn dieser Arbeit als wesentlich für die Ordnung der Wirtschaft markiert wurde: es geht um die Entscheidungskompetenz als Schlüsselkriterium für das Verständnis der Wirtschaftsordnung. Seinen Beitrag sollte die Staatsrechtslehre eher als Postulat rezipieren, nicht mehr von einem einheitlichen Träger des öffentlichen Interesses („der Staat“) auszugehen, sondern anzuerkennen, dass Entscheidungen in der Wirtschaftsordnung seitens der öffentlichen Hand als Ausdruck verschiedener öffentlicher Interessen gelesen werden müssen, die über ein zentral festgelegtes Gemeinwohlverständnis hinausgehen. Diese Pluralität verlangt von der öffentlichen Hand, den Prozess dynamischer Willensbildung offener und besser zu organisieren, sie stellt aber nicht die grundsätzliche Unterscheidung in Frage, ob das Individuum selbst entscheiden darf (Privatrecht) oder ob die Entscheidung von einem Kollektiv getroffen wird. e) Der Eigenwert beider Teilrechtsgebiete Die jahrhundertelange Trennung von öffentlichem Recht und Privatrecht, so umstritten sie im Detail war, steht auf dem Prüfstand. Ist sie noch tragfähig, erforderlich, sinnvoll? Welche Kriterien können noch eine Unterscheidung rechtfertigen? Den Proponenten einer engeren Verzahnung von öffentlichem Recht und Zivilrecht ist zuzugeben, dass sich die rechtstatsächliche Entwicklung in den letzten Jahren angenähert hat. Die Verwaltung hat zunehmend privatrechtliche Elemente integriert, das Privatrecht wiederum wurde mit

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Gemeinwohlinteressen aufgeladen. Immerhin ist keine Tendenz des Gesetzgebers erkennbar, die Rechtsweg-Trennung (§ 13 GVG) aufzugeben, sodass schon aus praktischen Gründen auch künftig eine Abgrenzung erforderlich ist. Auf europäischer Ebene, auch dies ist festzuhalten, fehlt eine solche kategoriale Trennung jedoch, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass der Gerichtshof der EU gleichermaßen für Streitigkeiten beider Rechtsmaterien zuständig ist. Aus wissenschaftlicher Sicht bleibt eine Trennung sinnvoll. Sie gibt Auskunft über den eigentlichen Kern des Rechtsgebiets, bietet bei Auslegungsschwierigkeiten vertiefte Erkenntnisse zum Telos und schärft das Bewusstsein für rechtspolitische Wertungen. Wer von „wechselseitigen Auffangordnungen“ redet, verwischt die gravierenden Unterschiede zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen freier Entscheidung von Individuen und gebundener Entscheidung von Staatsvertretern, von eigener Interessenentdeckung und vorgeprägter Interessenverwirklichung, wenn auch die Ausgangspunkte und übergeordneten Verfassungswertungen inzwischen erhebliche Überschneidungen aufweisen. Der wesentliche Unterschied, auch dies hat die knappe Analyse des jahrzehntelangen Streits um die Abgrenzung beider Rechtsdomänen erbracht, liegt weiterhin im hoheitlichen Geltungs- und Durchsetzungsanspruch einerseits und dem Primat der freien Selbstbestimmung andererseits. In diesen Punkten hat das Privatrecht weiterhin einen Eigenwert, den auch der BGH mit Recht anerkennt. Anders als von den neueren Tendenzen suggeriert, kann es keinen Unterschied machen, ob die Verwaltung ihre hoheitlichen Durchsetzungsbefugnisse tatsächlich nutzt oder ob sie auf privatrechtliche Mittel zurückgreift. Die Vertreter der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft sehen in der Erweiterung des Befugnisinstrumentariums offenbar bereits einen Paradigmenwechsel, obwohl dieser erst vollzogen wäre, wenn dafür das alte Instrumentarium abgeschafft würde. Davon kann aber keine Rede sein. Die Effektivität der neuen Befugnisausübung hängt damit zusammen, dass der Verwaltung alternativ in der Regel einschneidendere Maßnahmen zur Verfügung stünden. Ein Unternehmen, das vor die Wahl gestellt wird, einen Vertrag mit einer Behörde zu verhandeln oder einen Verwaltungsakt zu bekommen, wird sich in der Praxis häufig zu dem Vertrag entschließen. Auch dieser ist dann aber von den hoheitlichen Befugnissen der Behörde geprägt, da die Verhandlungspositionen davon abhängen. Freiheit und Gleichstellung sind nicht die Grundlagen einer Public Private Partnership. Etwas anderes würde nur gelten, wenn sich – so wäre wohl Teubner zu verstehen – in einem neuen Governance-Modell alle Institutionen nur mehr als gleichberechtigter Partner verschiedener Individuen und Kollektive begreifen würde. Das würde die derzeitige Praxis aber nicht abbilden. Der somit relevante besondere staatliche Geltungsanspruch wird in der Sonderrechtstheorie aufgegriffen. Entscheidend für die Lösung des Privat-

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rechts vom Zugriff des öffentlichen Rechts bleiben das personale Verhältnis der Parteien und die zugrundeliegende Sache. Ist eine der Personen Träger hoheitlicher Gewalt, genügt es, dass er diese im konkreten Fall geltend macht, um den Fall dem öffentlichen Recht zuzuordnen. Fehlt es an einem solchen Einsatz oder ist gerade fraglich, ob ein Akt öffentlicher Gewalt vorliegt, ist eine letztlich normative Frage zu beantworten: Kann der Gesetzgeber es gewollt haben, dass in dieser Konstellation der Hoheitsträger seine besonderen hoheitlichen Befugnisse einsetzen kann? Das wiederum entscheidet sich an der Sache. Geht es der Sache nach um die Verpflichtung eines Privaten zur Verwirklichung eines Gemeinwohlbelangs, handelt es sich um den Bereich des öffentlichen Rechts. Um eine privatrechtliche Sache handelt es sich, wenn der Private frei ist, seine eigenen Interessen zu verwirklichen. Dem Privatrecht inhärent ist allerdings der systemische Anspruch der Gemeinschaft an den Einzelnen, durch seine willkürliche Freiheitsausübung die Basis seines privatautonomen Handelns im wirtschaftlichen Verkehr nicht zu gefährden. Betrachtet man nun noch einmal die Evolution der höchstrichterlichen Rechtsprechung dazu, wie sie in den drei zitierten Entscheidungen aus den Jahren 1954, 1987 und 2007 abgebildet wird, ergibt sich: Die Anwendbarkeit der AGB-Regeln (2007) wäre zu bejahen gewesen. Hier standen sich private Parteien mit eigenen Handlungsspielräumen auf rechtlich gleichgeordneter Ebene gegenüber. Das Wettbewerbsverhältnis zwischen AOK und Orthopädietechniker-Innung im Streit um die Nutzung der Rollstühle (1987) wurde zu Recht als zivilrechtlicher Fall eingeordnet, da die AOK in keiner hoheitlich relevanten Befugnisausübung befangen war, sondern eine wirtschaftliche Aktivität ausübte. Die Verzerrung der Marktmechanismen durch ihr Verhalten abzustellen, betraf gerade das systemrelevante Grundinteresse des Marktschutzes. Die Weisung der vorgesetzten Behörde, einen Bauunternehmer nicht mehr zu Ausschreibungen zuzulassen (1954), wurde zu Recht als Fall des öffentlichen Rechts eingeordnet, spielte die Behörde doch gerade ihre hoheitlichen Möglichkeiten aus. Allerdings zeigt sich hier die Nähe zu den systemrelevanten Grundlagen der Privatrechtsordnung: Von einer staatlichen Stelle geht eine Beschränkung der Handlungsfreiheiten aus, die offenbar den Markt vor bestimmten Verzerrungen sichern soll. Eine genuine Verantwortung des öffentlichen Rechts für das Funktionieren der Privatrechtsordnung verbleibt somit selbstverständlich. Dementsprechend ist weiterhin davon auszugehen, dass eine Vermutung für die Anwendung des öffentlichen Rechts streitet, wenn ein Hoheitsträger tätig geworden ist. Das wird der Stärke des Hoheitsträgers im Verhältnis zu einem Unternehmen oder Bürger gerecht, die sich auf ihre Abwehrgrundrechte berufen können müssen, um dem entgegenzutreten.

C. Materielle Legitimation der Zivilrechtsprechung

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III. System und Leitbild: Freiheit durch Bindung Für die materielle Legitimation des Urteils ist nach dem bislang Gesagten maßgeblich, welches Leitbild der inhaltlichen Konfliktlösung die Parteien erwarten (individuell) und welche Systemgrundlagen die Rechtsprechung (institutionell) zu schützen hat. Ausgangspunkt bleibt die auch vom BGH noch einmal betonte selbständige Bedeutung eines vom öffentlichen Recht differenzierten Privatrechts. Für das private Wirtschaftsrecht bleiben Privatautonomie und rechtliche Gleichordnung die zentralen Parameter, sie sind Grundlage der marktwirtschaftlichen Ordnung, die durch das Privatrecht verfasst wird. Zugleich ist anzuerkennen, dass Freiheit nur durch ordnende Bindungen ermöglicht wird, die sich aber durch das Merkmal der Systemrelevanz in berücksichtigungsfähige und nicht zu berücksichtigende öffentliche Interessen scheiden lassen. Das aus Freiheit und Bindung entwickelte Modell steht in einer Folge mit dem für die deutsche Rechtswissenschaft prägenden Bild einer Privatrechtsgesellschaft.

1. Privatautonomie und Gleichordnung Dogmatischer Ausgangspunkt des Zivilrechts bleiben Privatautonomie und Gleichordnung. Sie sind die Kerngedanken des Zivilrechts, die großen Topoi zivilrechtlichen Denkens. Schon die konzisesten Definitionen des Rechtsgebiets greifen genau diesen Gedanken auf: „Privatrecht ist der Teil der Rechtsordnung, der die Beziehungen der Einzelnen zueinander auf der Grundlage der Gleichordnung und Selbstbestimmung regelt.“260

Privatautonomie bezeichnet die „Selbstgestaltung der Rechtsverhältnisse durch den einzelnen nach seinem Willen“.261 Der Zentralgedanke der Selbstbestimmung lässt sich sowohl historisch als auch rechtsphilosophisch begründen. Historisch ist das Zivilrecht, wie gesehen, als Recht der Emanzipation der Gesellschaft vom Zugriff der staatlichen Autoritäten gewachsen. Die Geschichte des Privatrechts ist eine Geschichte der Freiheit. Das Privatrecht ist das Äquivalent zur demokratischen Partizipation auf individueller Ebene.262 Wie die Demokratie und wie jede andere Freiheit ist auch die Vertragsfreiheit immer wieder bedroht und muss verteidigt werden. Die Ausgangsidee des Privatrechts ist aber gerade nicht eine materiale Idee, etwa eine bestimmte Gerechtigkeitsvorstellung. Von dieser Vorstellung des Rechts hat sich das Privat-

260 Palandt/Sprau, BGB, 2011, Einl. Rn. 2; vgl. ähnlich Creifelds, Rechtswörterbuch, 2007, Eintrag „Privatrecht“; Larenz/Wolf, BGB AT, 2004, § 1 Rn. 1. 261 Flume, BGB AT, Band 2, 1979, S. 1. 262 Vgl. Bruns, JZ 2007, 385, 390.

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Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

recht bewusst gelöst,263 ebenso wie auch die modernen rechtstheoretischen Arbeiten prozedurale Vorstellungen entwickeln. Systematisch ist die Privatautonomie der Ausgangspunkt, da zivilrechtliche Rechtsverhältnisse aus dem freien Willensentschluss der Beteiligten begründet werden: es gibt kein Privatrecht ohne Privatautonomie, genau wie es keine wirtschaftliche Aktivität ohne unternehmerische Initiative gibt. Der Willensentschluss, einen Vertrag zu schließen, begründet erst das Rechtsverhältnis zwischen den Personen. Schon Kant geht in seiner Darlegung zum Privatrecht davon aus, dass dieses das Recht der Willkür im Sinne der freien Bestimmung durch das Individuum ist.264 Neben diese klassischen Begründungen der Stärke der Privatautonomie treten neuere Aspekte: Die Wende des öffentlichen Rechts zum Privatrecht basiert gerade auf der Flexibilität und Freiheitsermöglichung, die das Privatrecht bietet. Wenn die öffentliche Hand in stärkerem Maße als früher Verträge schließt statt Verwaltungsakte zu erlassen, so setzt sie damit einen Freiheitsraum (nämlich die Vertragsverhandlung) an die Stelle staatlicher Bevormundung. Die Flexibilität, Zielsicherheit und erhöhte Durchsetzungskraft, die man sich von der Nutzung zivilrechtlicher Instrumente verspricht, erwächst gerade aus der Freiheit, die den Parteien zugestanden wird. Die Hinwendung der Träger öffentlicher Befugnisse zum Privatrecht verstärkt damit den Freiheitsimpuls. Hätte man die auch im Privatrecht vorhandenen bindenden Elemente im Blick, bräuchte es die Wende zum Privatrecht gerade nicht. Auch mit der ökonomischen Theorie lässt sich das Freiheitspostulat des Privatrechts rechtfertigen: Die Vertragsfreiheit ist die Basis der Marktwirtschaft, die als Garant der Gesamtwohlfahrt gesehen wird. Adam Smith sah in den bürgerlichen Freiheiten eine wesentliche Voraussetzung des „Wohlstands der Nationen“.265 Die Versorgung der Bedürfnisse in effizienter Form und die Sicherung dynamischen Fortschritts hängen rechtlich von der Autonomie der Marktteilnehmer ab, da nur ihre dezentrale Koordination der Einzelpläne die gewünschte Effizienz mit sich bringt. Der Zusammenhang zwischen Privatrecht und volkswirtschaftlicher Effizienz jedenfalls ist vielfach belegt.266 Das deutsche und das europäische Verfassungsrecht erkennen die Privatautonomie als Grundpfeiler an. Die privatautonome Gestaltung der Lebensverhältnisse wird aus dem Menschenwürdeprinzip (Art. 1 Abs. 1 GG) und der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) gerechtfertigt.267 Sie ist da263

Vgl. Bruns, JZ 2007, 385, 386 m.w.N.; Canaris in: FS Lerche, 1993, S. 873, 886. Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, 1968, S. 354. Vgl. Canaris in: FS Lerche, 1993, S. 873, 875. Vgl. ähnlich später vor allem Flume („stat pro ratione voluntas“ – der Wille anstelle der Vernünftigkeit), BGB AT, Band 2, 1979, § 14. 265 Smith, The Wealth of Nations, 1976, S. i.111, ii.208 f.; vgl. Coing/Honsell in: Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts, 2011, S. 80. 266 Vgl. Bruns, JZ 2007, 385, 386, 390. 267 Vgl. Larenz/Wolf, BGB AT, 2004, § 1 Rn. 2; Bruns, JZ 2007, 385, 387. 264

C. Materielle Legitimation der Zivilrechtsprechung

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mit Ausdruck höchster Verfassungsprinzipien, steht darüber hinaus in engem Zusammenhang zu anderen Grundrechten, etwa Art. 12, 14 oder 5 GG, ist die individuelle Ausprägung dessen, was als Demokratieprinzip den Staat legitimiert und ist somit Basis einer gesamten Rechts- und Gesellschaftsvorstellung.268 Diese Vorstellung leitet auch das europäische Recht: Die Grundfreiheiten als klassischer Ausgangspunkt europäischen Wirtschaftsrechts basieren auf der Vertragsfreiheit, dem in den Verträgen verankerten Demokratieprinzip, sowie den in der Grundrechte-Charta niedergelegten Grundrechten (Menschenwürde, Handlungsfreiheit, Unternehmerfreiheit). Sie sind allen sekundärrechtlichen „Sünden“ zum Trotz übergeordnete Prinzipien, die den europäischen Rang der Vertragsfreiheit normieren.269 Hinzu tritt das im europäischen Recht für das Verhältnis zu den Mitgliedsstaaten verankerte Subsidiaritätsprinzip, das der kleinsten Einheit die Erledigung dessen überlässt, was diese vernünftig regeln kann. Bezieht man den Grundgedanken der Subsidiarität auf das Verhältnis staatlicher Instanzen zu Privaten, lässt sich daraus ein Plädoyer für das Privatrecht mit seinen kleinsten Einheiten und dem Markt als Koordinationsinstrument dieser Einheiten erkennen.270 Dogmatisch hätte man bei Anknüpfung an einem ius commune gleichfalls ein freiheitsbasiertes, dogmatisches Fundament, das eine jahrhundertelange europäische Rechtstradition fortschreibt.271 Der erste Leitgedanke des Privatrechts ist also derjenige, dass die Privatautonomie der Parteien, wie sie sich in ihrem selbstbestimmten Handeln manifestiert, primär zu respektieren ist. Der Wille der Parteien zählt vor allen Gemeinwohl- oder Gerechtigkeitserwägungen. Hinzu tritt die Zwillingsschwester der Freiheit, die Gleichheit, allerdings verstanden im Sinne einer rechtlichen Gleichordnung.272 Seit der Aufklärung und der Französischen Revolution hat sich die Gleichordnung Bahn gebrochen, auch wenn sie als gesellschaftlicher Grundwert durch solche Regime diskreditiert wurde, die keine Freiheit zuließen und eine angebliche Gleichordnung propagierten. Erforderlich ist die Gleichordnung, da ohne Gleichheit die Handlungsfreiheit nicht umgesetzt werden könnte.273

268

Canaris in: FS Lerche, 1993, S. 873, 874. Vgl. Bruns, JZ 2007, 385, 392. 270 Bydlinski in: FS Raisch, 1995, S. 7, 19 f., der allerdings auch darauf hinweist, dass dies eine grundsätzliche Gleichwertigkeit von Zivilrecht und öffentlichem Recht impliziert; Larenz/Wolf, BGB AT, 2004, § 1 Rn. 5. 271 Vgl. Coing/Honsell in Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts, 2011, S. 85. 272 Umfassend Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, der einen „Paradigmenwechsel“ dahingehend annimmt, dass als privatrechtliche Gleichheit nicht mehr nur formale Rechtsgleichheit anzunehmen ist, sondern weitergehend eine „Pflicht zur Gleichbehandlung“ besteht (S. 19 ff.). 273 Picker spricht daher – etwas zu weitgehend – von der Gleichheit als Mittel zum Zweck der Freiheit, siehe Picker in: Riesenhuber, Privatrechtsgesellschaft, 2007, S. 207, 210. 269

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Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

Das Privatrecht ist ein Recht der Gleichen: Die Interessenkoordination, für die das Privatrecht den Rahmen setzt, wäre gar nicht erst erforderlich, würden sich nicht Personen gegenüberstehen, deren Interessen grundsätzlich als gleichwertig geachtet sind. Dies gilt dann auch für den Gerichtssaal: Der Stärkere, der ohne staatliche Hilfe sein Recht durchsetzen könnte, müsste sich auf das Verfahren gar nicht einlassen, würde er nicht denknotwendig die ihm ebenbürtige formale Verfahrensposition der Gegenpartei zubilligen. Festzuhalten ist, dass es sich bei diesem Gleichheitsanspruch nicht um faktische Gleichstellung, sondern rechtliche Gleichordnung handelt. Ausnahmen kennt das Recht in Situationen einer massiv gestörten Vertragsparität, in denen die faktische Ungleichheit der Parteien dazu führt, dass von einem freien Vertragsschluss keine Rede mehr sein kann. Dann leistet das Privatrecht einen Ausgleich, der die Annahme einer Verhandlung der Parteien auf Augenhöhe gewährleistet. Dies erfasst etwa die Fälle einer strukturell gestörten Vertragsparität. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung zum Bürgschaftsrecht zu Beginn der 1990er Jahre den Gleichordnungsaspekt des Privatrechts erheblich gestärkt.274 Das Gericht erlegte den Zivilgerichten eine verschärfte Pflicht zur Inhaltskontrolle bestimmter Verträge auf. Zwar gelte grundsätzlich die Vertragsfreiheit der Parteien. Das Gericht fährt aber fort: „Ist aber der Inhalt des Vertrages für eine Seite ungewöhnlich belastend und als Interessenausgleich offensichtlich unangemessen, so dürfen sich die Gerichte nicht mit der Feststellung begnügen: ,Vertrag ist Vertrag‘. Sie müssen vielmehr klären, ob die Regelung eine Folge strukturell ungleicher Verhandlungsstärke ist, und gegebenenfalls im Rahmen der Generalklauseln des geltenden Zivilrechts korrigierend eingreifen. Wie sie dabei zu verfahren haben und zu welchem Ergebnis sie gelangen müssen, ist in erster Linie eine Frage des einfachen Rechts, dem die Verfassung einen weiten Spielraum läßt. Ein Verstoß gegen die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie kommt aber dann in Betracht, wenn das Problem gestörter Vertragsparität gar nicht gesehen oder seine Lösung mit untauglichen Mitteln versucht wird.“275

Mit dieser Rechtsprechung begründete das BVerfG eine Pflicht der Zivilgerichte, die Bürgschaftsübernahme durch einkommens- und vermögenslose Angehörige genauer zu prüfen. Signifikant ist, dass das BVerfG einen engen Zusammenhang zwischen strukturell ungleicher Verhandlungsstärke (also faktischer Ungleichheit) und der Privatautonomie herstellt, sodass der Verstoß wesentlich auf Art. 2 Abs. 1 GG gestützt wurde. Die mündige, selbstbestimmte Entscheidung als Ausfluss der Handlungsfreiheit setzt nach Ansicht des BVerfG die Verhandlung auf Augenhöhe voraus. Diese Grundlage privat274 BVerfG, 19.10.1993, Az. 1 BvR 567/89, BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36; BVerfG, 5.8.1994, Az. 1 BvR 1402/89, NJW 1994, 2749; dazu Hofer in: HKK-BGB, 2007, Vor § 241 Rn. 50; Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 266 ff. 275 BVerfG, 19.10.1993, Az. 1 BvR 567/89, BVerfGE 89, 214, 234 = NJW 1994, 36 ff.

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rechtlichen Handelns ist von den Zivilgerichten zu gewährleisten. In späteren Entscheidungen bestätigte das BVerfG die Linie, dass Selbstbestimmung nicht in Fremdbestimmung verkehrt werden dürfe.276 Dass die Gleichordnung im Übrigen in Art. 3 Grundgesetz und im europäischen Recht in Art. 20 ff. EUCharta als Prinzip erster Ordnung geschützt wird, bedarf beinahe keiner Erwähnung. Sie findet auf gesellschaftlicher Ebene ihr Pendant im Demokratieprinzip (one man, one vote), aber auch im Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 2 und 3). Rawls, der die Gerechtigkeit für das späte 20. Jahrhundert als rechtsphilosophisches Thema wieder entdeckt hat, geht von Unterschieden in der Gesellschaft aus (die positiv gewendet als Vielfalt anzuerkennen sind). Nur im Urzustand, hinter dem Schleier des Nichtwissens, fehlen die in der Gesellschaft die Ungleichheit konstituierenden Merkmale – in der fiktiven Situation des Vertragsschlusses also kommt es auch bei Rawls auf rechtliche Gleichordnung (und weitergehend auf substantielle Gleichbehandlung)277 an. Diese Vorstellung vom Urzustand entspricht der des übrigen rechtlichen Verfahrens: weil es Ungleichheiten und Unterschiede gibt, findet eine Verständigung darüber auf Ebene der Gleichordnung statt. Für die Diskurstheorie ist die formale Gleichordnung der Diskursteilnehmer normativer Bestandteil des Konzepts – ein Austausch, ein Diskurs in einem Über-/Unterordnungsverhältnis, ist gerade nicht möglich. Mit der Wende zum Privatrecht erfährt der Gleichordnungsaspekt eine Stärkung, begibt sich der Staat doch in vielen Fällen seiner übergeordneten Position, etwa bei der Aushandlung von Public Private Partnerships oder wenn die privatisierten Staatsbetriebe im Wettbewerb antreten müssen. In beiden Fällen treten ehemals übergeordnete Instanzen auf die Ebene der Gleichordnung. Ein Gefälle besteht dennoch, vor dessen Missbrauch ist zu schützen – und das ist Aufgabe der Zivilgerichte.278 Das Wettbewerbsprinzip baut die Brücke vom Modell der Gleichordnung zur ökonomischen Theorie. In der marktwirtschaftlichen Ordnung ist der Wettbewerb konstitutives Element, ein solcher basiert aber darauf, dass die im Wettbewerb antretenden Rivalen gleichgeordnet sind (mit Ausnahme des Marktbeherrschers, den besondere Verpflichtungen treffen können). Eine Bevorzugung kommt nicht in Betracht, andernfalls bräuchte der Wettbewerb gar nicht durchgeführt zu werden. Gerade die Innovationsökonomik ist darauf bedacht, die Märkte für alle Teilnehmer offen zu halten und Chancengleichheit zu ermöglichen. Nichts anderes gilt im Grundsatz auch für eine effizienzorientierte, neoklassische Wirtschaftstheorie. Auch wenn diese im Einzelfall 276 Vgl. BVerfG, BVerfG, 6.2.2001, Az. 1 BvR 12/92, BVerfGE 103, 89 = NJW 2001, 957; BVerfG, 23.10.2006, Az. 1 BvR 2027/02, WM 2006, 2270. 277 Vgl. Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S. 168, 849 f. 278 Vgl. Säcker in: MüKo-BGB, 2012, Einl. Rn. 62 ff.

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etwa Diskriminierungen für effizient halten mag, so geht sie doch im Grunde von einer gleichen Berechtigung aller Marktteilnehmer aus – die Berechnung von Effizienzen gewichtet die Interessen ja formal identisch. Für die vorliegend besonders im Fokus stehenden Konflikte in post-deregulativen Konstellationen, also Rechtsstreite, die aus der Domäne des öffentlichen Rechts in den Bereich des Privatrechts wechseln, hat die Besinnung auf die Grundanliegen des Privatrechts besondere Bedeutung. Die neue Zuweisung von Sachmaterien durch den Gesetz- oder Verordnungsgeber in einen anderen Rechtskreis impliziert die Grundentscheidung, nach welchen Paradigmen die Sachmaterie künftig zu behandeln ist. Das bedeutet: Wenn der Gesetzgeber die Entscheidung trifft, einen Sektor zu liberalisieren und das Privatrecht an vielen Stellen durchgreifen zu lassen, geht damit die Entscheidung einher, Privatautonomie und Gleichordnung als bestimmende Rechtsprinzipien zu akzeptieren und zu etablieren. Gemeinwohlbindungen, die Beanspruchung des Einzelnen für öffentliche Interessen und Vorrangstellungen für einzelne Personen (z.B. den früheren Monopolisten) können in der gerichtlichen Auseinandersetzung keine Berücksichtigung mehr finden. Mehr noch, die Gerichte haben darauf zu achten, dass solche Einschränkungen der privatrechtlichen Grundordnung von Beginn an deutlich zurückgewiesen werden, damit die Konfliktschlichtung nicht in falsche Bahnen gelenkt wird. An die Gerichte ist also der Anspruch gestellt, die privatrechtliche Ordnung zu verwirklichen. Die Respektierung der privatrechtlichen Paradigmen folgt aus der demokratisch und rechtsstaatlich legitimierten Entscheidung des Gesetzgebers für das Privatrecht. Diese demokratische Legitimation bezieht sich sowohl auf das deutsche als auch auf das europäische Recht: die Zivilrechtsordnung ist nicht nur ein dogmatisches Konstrukt, sondern basiert auf den Regeln der verfassten Gemeinschaft. Von nachlassender Bedeutung ist die gelegentlich geführte Auseinandersetzung, ob das Privatrecht grundsätzlich eine Vorrangstellung in einer Gesellschaft beanspruchen kann oder nicht.279 In der Fortschrittsmoderne hat sich das Privatrecht aus dem öffentlichen Recht herausgeschält, ist also aus diesem historisch gewachsen. In einer freien, demokratischen Gesellschaft jedoch, deren Zusammenhalt auf Basis eines Vertragsschlusses der Menschen konstruiert wird, fällt es schwer, dem öffentlichen Recht eine überlegene Stellung zuzuweisen.280 Die Debatte verliert zumindest für die Konstellationen an Schärfe, 279 Vgl. nur die Nachweise bei Bydlinski in: FS Raisch, 1995, S. 7, 9 (Fn. 9); Larenz/Wolf, BGB AT, 2004, § 1 Rn. 40 ff. m.w.N. 280 So scheint die Staatsbegründung aus dem Gesellschaftsvertrag hinaus eine Dominanz des Privatrechts zu implizieren. Es verwundert nicht, dass in den USA, in denen die Verfassung tatsächlich auf einer Art Gesellschaftsvertrag basiert, viel stärker Modelle der Eigeninitiative und also des Privatrechts propagiert werden, als etwa in der Bundesrepublik Deutschland. Die westdeutsche Verfassungsgebung 1949 war von den Alliierten abgeleitet (aus einer dem öffentlichen Recht typischen Überordnungsposition heraus), für die ostdeutschen Bundesländer 1990

C. Materielle Legitimation der Zivilrechtsprechung

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in denen der Gesetzgeber eine bewusste Verschiebung hin zum Privatrecht vornimmt. In diesen, hier untersuchten Bereichen entscheidet sich die Legislative ja gerade dafür, Unternehmen und Bürgern die Verantwortung für die Lebensgestaltung (zurück) zu geben und auf die vermeintlich für den Bürger bequemere Lösung einer staatlichen Normierung zu verzichten. Ob es einen grundsätzlichen Vorrang der privatrechtlichen Kerngedanken gibt, kann dahinstehen, wenn es jedenfalls eine eindeutige Zuweisung gibt. Die Grundgefahr für das Freiheits- und Gleichordnungsprimat ist dann nicht der Vorrang des öffentlichen Rechts, sondern eher, dass der Paradigmenwechsel nicht angemessen rezipiert wird, dass also eine „Publifizierung“ des Privatrechts in der Anwendungspraxis zu besorgen ist: Die Rechtsprechung muss die Wende zum Privatrecht eben umfänglich vollziehen, wenn diese gesetzlich vorgegeben wird. Diese Umgewöhnung wird nicht leicht fallen. Die Grenzziehung fällt umso schwerer, je stärker öffentliches und privates Recht angeglichen werden, hin zu einem flexiblen Steuerungsrecht.281 Dann noch die „Eigenrationalität der Subsysteme (Staat, Gesellschaft, Wirtschaft)“282 zu erkennen und zu respektieren, zumal in Konflikt- und also Drucksituationen, verlangt große Sicherheit bezüglich der Koordinaten dieser Subsysteme.

2. Ordnende Bindungen des Zivilrechts Mit der Grundentscheidung für das Privatrecht stellt sich die Frage, welche Bindungen an öffentliche Interessen noch zulässig sind. Selbst vehemente Verfechter eines liberalen Zivilrechtsmodells akzeptieren gewisse Einschränkungen der Privatautonomie als privatrechtskonform. Die Frage ist, wie diese Bindungen einzugrenzen sind. Für das Leitbild, von dem das Individuum ausgeht, spielen solche Bindungen nur eine untergeordnete Rolle. Aus individueller, personalisierter Sicht ist die legitime Erwartung, dass die Interessenkoordination von einer Gleichordnung der Parteien ausgeht und die freie Interessenkoordination so weitgehend wie möglich respektiert und ermöglicht. Dieses Leitbild bedeutet, dass die Gerichte Ungleichgewichte aufzudecken und eventuell zu kompensieren haben und den wirklichen Willen der Parteien zu erfor281 wurde wiederum kein gesellschaftsvertragliches Modell gewählt, sondern das Modell des „Beitritts“. Privatautonomie und Gleichordnung waren damit nicht die zentralen Topoi. Für die Europäische Union lässt sich eine interessante Hybrid-Entwicklung feststellen: die Grundlagen in den jeweiligen Verträgen basieren auf einem Vertragsmodell, das aber als Vertragsparteien nicht natürliche Personen, sondern Staaten annimmt. Die Kerngedanken der Privatrechtsordnung sind also vorhanden, aber (noch) nicht auf bürgerliche Träger übertragen. Es bleibt im Rahmen der Bemühungen um ein europäisches Privatrecht Desiderat, diese Übertragung im Unionskonzept zu verankern – das gemeinsame europäische Kaufrecht wäre damit die Chance, konzeptionell aus einer Union der Mitgliedsstaaten eine Union der Bürger zu machen. 281 Gündling, Modernisiertes Privatrecht und öffentliches Recht, 2006, S. 67 ff. m.w.N.; Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, 2008, Rn. 10. 282 Schoch, NVwZ 2008, 241, 245.

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Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

schen haben. Dabei werden nicht zuletzt, gerade in wirtschaftsrechtlichen Streitigkeiten, ökonomische Interessen zu berücksichtigen sein. Besonders gut ist das Urteil dann, wenn es diese Interessenkoordination nicht nur für den Streitfall sichert, sondern auch eine Perspektive bietet, wie in Zukunft die streitenden Parteien ihre Interessen wieder autonom koordinieren können. Aus institutioneller Perspektive sind ordnende Bindungen an öffentliche Interessen zu berücksichtigen. Welche das sind, ist innerhalb des privatrechtlichen Modells zu bestimmen. Hier wird vertreten, dass in einem guten Urteil nur solche heteronomen Setzungen vorgenommen werden, die nötig sind, um das System der dezentralen Interessenkoordination aufrecht zu erhalten und zu sichern. Das bedeutet: Grenzen können der Privatautonomie gesetzt werden, wo dieser die Tendenz innewohnt, die Grundlagen der privatautonomen und gleichgeordneten Gestaltung der Lebensverhältnisse aufzuheben. Es besteht damit eine Bindung zwischen freier Willensausübung und dem System, das die freie Willensausübung garantiert. Das Modell der Marktwirtschaft und der Privatrechtsgesellschaft funktioniert nicht voraussetzungslos. Der Schutz dieser Voraussetzungen ist logischer Bestandteil des Privatrechts und darf daher auch den Marktteilnehmern durch wirtschaftsprivatrechtliche Regeln auferlegt werden. Zu einer „paternalistischen Bevormundung“283 kommt es nicht, wenn diese Grenze beachtet wird, selbst wenn damit Regeln zwingenden Charakters im Privatrecht möglich werden. Regeln, die nicht notwendig sind, um die Voraussetzungen von Marktwirtschaft und Privatrechtsordnung zu garantieren, passen hingegen nicht zum Privatrecht. Sie sind öffentlich-rechtlich auszugestalten. Diese Grenzziehung basiert auf dem Freiheitsparadox, das Karl Popper in seiner Auseinandersetzung mit Platon im 20. Jahrhundert auf den Punkt gebracht hat: „Was tun wir, wenn es der Wille des Volkes ist, nicht selbst zu regieren, sondern statt dessen einen Tyrannen regieren zu lassen?“284

Auf das Privatrecht gewendet lässt sich formulieren: Was tun wir, wenn es der Wille der Parteien ist, das System der freien Entscheidung aufzuheben? Die Antwort muss, wie bei Popper, der Hinweis auf institutionelle Sicherungen sein: Es ist die Aufgabe des Gesetzgebers, des Richters und des Rechtswissenschaftlers solche institutionellen Sicherungen, sprich: Bindungen vorzusehen, die das privatrechtliche System insgesamt garantieren. Freiheit kann nur existieren durch Bindung.

283

Vgl. Drexl in: FS Medicus, 2009, S. 67, 68. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band I, 1996, S. 148. Dazu Fikentscher, Freiheit und ihr Paradox, 1997, S. 72 ff. Das Thema wird aus stärker sozialmodellverpflichteter Perspektive aufgegriffen von Wielsch, Freiheit und Funktion, 2001, S. 111, mit ähnlichen Ergebnissen. 284

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Hinzu tritt der Aspekt, dass die Gleichordnung der Parteien gewährleistet sein muss. Die Koordination von Freiheitsausübung, wie sie für die wirtschaftliche Aktivität kennzeichnend ist, ist eben nicht voraussetzungslos, sondern nur dann sinnvoll, wenn sich mündige Entscheider gegenüber treten. Genau dies hat das BVerfG in seiner Rechtsprechung zu Familienbürgschaften, wie gesehen, herausgearbeitet. Liegt eine strukturelle Überforderung eines Vertragspartners vor, ist es Aufgabe des Privatrechts, Sicherungen vorzunehmen. Im Ergebnis sind damit solche öffentlichen Interessen auch im Privatrecht anzuerkennen, die systemrelevant für das Funktionieren einer privatrechtlichen (oder marktwirtschaftlichen) Ordnung sind. Darüber hinausgehende öffentliche Interessen sind im Privatrecht hingegen nicht berücksichtigungsfähig, sie bedürfen einer eigenen gesetzlichen Grundlage und können damit die Befugnis zu staatlichen Interventionen verleihen – das ist öffentliches Recht. Welche Funktionsbedingungen aber sind es, die als systemrelevant zu gelten haben? Welches sind die Voraussetzungen für ein Funktionieren der privatrechtlich verfassten Marktwirtschaft? Der Diskurs darüber steht noch am Anfang. Die Finanzmarktkrise 2008 und die ihr folgenden Krisen haben deutlich gemacht, dass über die Grundlagen der marktwirtschaftlichen Ordnung noch kein Konsens hergestellt werden konnte.285 Zwei Beispiele systemrelevanter Bindungen im Privatrecht können illustrieren, welche öffentlichen Bindungen als systemrelevante Privatrechtselemente zu verstehen sind: das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen und der Verbraucherschutz.286 Diese Beispiele nennt Franz Jürgen Säcker als „Ausdruck der staatlichen Gewährleistungsverantwortung für eine Freiheit und Chancengleichheit sichernde Privatrechtsordnung, die es dem einzelnen überlässt, autonom zu entscheiden, ob und mit wem er Verträge mit welchem Inhalt abschließt.“287 Das erste Beispiel ist das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen, das in § 1 GWB, Art. 101 AEUV statuiert ist. Gelegentlich wundert es Forscher, dass das Kartellrecht traditionell als Teil des Privatrechts angesehen wird, ist es doch, gerade in seiner früheren Prägung vor der Stärkung des „private enforcement“, eigentlich ein Wirtschaftsaufsichtsrecht: Behörden greifen auf Basis von Befugnisnormen in die freie Wirtschaft ein, verhängen Sanktionen und verfügen die Unterlassung bestimmter Verhaltensweisen. Was unterscheidet dieses Vorgehen von der Anwendung gewerbeaufsichtsrechtlicher Normen, die doch eindeutig dem öffentlichen Recht zugeordnet sind? Was ist 285 Dass dieser Diskurs und daraus folgend die freiheitsgetriebene Gestaltung des Privatrechts Daueraufgabe sind, erklärt auch Picker in: Riesenhuber, Privatrechtsgesellschaft, 2007, S. 207, 227. 286 Zu einer weiteren Analyse des europäischen Vertragsrechts in diesem Sinne siehe Drexl in: FS Medicus, 2009, S. 67, 70 ff. 287 Säcker in: MüKo-BGB, 2006, Einl. Rn. 162.

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der Unterschied zwischen einer behördlichen Verfügung, die ein Kartell verbietet, und einer behördlichen Verfügung, die einem Gastronom Auflagen zum Lärmschutz macht? Die Antwort liegt in der Systemrelevanz: ein Kartell gefährdet das Funktionieren der Marktwirtschaft, stellt die Grundlagen der Privatrechtsordnung in Frage. Lärm durch den Betrieb einer Gaststätte gefährdet andere wichtige Güter, etwa die Gesundheit, deren Schutz aber nicht unmittelbar systemrelevant für die privatrechtliche Ordnung ist. In einem Kartell binden nämlich die Teilnehmer ihre Handlungsfreiheit, sie verzichten auf autonome Entscheidungen im Prozess der dezentralen Koordination der individuellen Wirtschaftspläne. Die Privatautonomie im wirtschaftlichen Handeln wird damit außer Kraft gesetzt. Würde die Rechtsordnung dies grundsätzlich gestatten, käme es zu einer Systemgefährdung, da die Privatautonomie nicht mehr ausgeübt würde; die Marktmechanismen würden verzerrt oder zum Erliegen kommen. Daher muss – aus Eigenschutz – das Privatrecht eine Sicherung vorsehen. Dies ist in Form des Kartellverbots geschehen, und konsequent ist darum die Einordnung in die Domäne des Privatrechts, und ebenso konsequent ist es, die privatrechtliche Durchsetzung des Kartellverbots, die in der zivilen Nichtigkeitsfolge des § 134 BGB bzw. in Art. 101 Abs. 2 AEUV wurzelt, zu stärken. Unstreitig erfüllt das Kartellverbot auch öffentliche Zwecke, etwa die Mehrung der Verbraucherwohlfahrt oder die leistungsgerechte Einkommensverteilung. Diese Zwecke sind aber für die privatrechtliche Ordnung nicht konstitutiv oder systemrelevant. Würde in ihnen der alleinige Telos des Kartellverbots gesehen, unabhängig von der Sicherung der individuellen Entscheidungsfreiheit, müsste das Kartellrecht konsequenterweise als Teil des öffentlichen Rechts verstanden werden. Das zweite Beispiel ist der Verbraucherschutz, dessen Zuordnung zum Privatrecht gelegentlich umstritten ist, und der in anderen Mitgliedsstaaten der EU stärker als in Deutschland durch Behörden wahrgenommen wird als im Wege der privaten Rechtsdurchsetzung. Josef Drexl hat in seiner Schrift „Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers“288 eine Argumentation entwickelt, die aufzeigt, wie Verbraucherschutz als genuin privatrechtliches Anliegen zu lesen ist. Der Gedanke, der hier entwickelt wurde und der auf die Akzeptanz derjenigen Regeln zielt, die notwendig sind, um das jeweilige System zu erhalten, wird bei Drexl in ein „Konzept der normativen Effizienz“ integriert.289 Das Konzept knüpft für Verbraucherschutzregeln an die Privatautonomie und an ökonomische Effizienzerwägungen an, es ist also sowohl normativ als auch ökonomisch begründbar. Drexls Ausgangspunkt ist die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, also dessen Entscheidungszuständigkeit. Ökonomisch trägt für ihn der Gedanke, dass selbstbe288

Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998. Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 202 f. Drexl knüpft allerdings in stärkerem Maße an ökonomischen Effizienzerwägungen als Modell an. 289

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stimmte Entscheidungen auch ökonomisch sinnvoll sind, da sie zur effizienten Koordination individueller Präferenzen am Markt führen.290 Normativ folgt Drexl dem Primat der formalen Privatautonomie, also einer uneingeschränkten Herrschaft des Parteiwillens. Er erkennt aber an, dass es Ungleichgewichtslagen geben kann, die vom Recht ausgeglichen werden müssen, „sofern in bestimmten Situationen selbstbestimmtes Verhalten nicht im ausreichenden Maße gewährleistet ist.“291 Es wäre, um in Drexls Diktion zu bleiben, normativ ineffizient, würde eine Gruppe von Personen aufgrund struktureller Unterlegenheit ihrer Entscheidungszuständigkeit beraubt.292 Das passiert beispielsweise, wenn ein überlegener Marktpartner Geschäftsbedingungen stipuliert, die letztlich vom Verbraucher nicht überprüft werden können.293 Hier muss das Privatrecht eingreifen, um die mangelnde Gleichordnung und die Freiheitsbeschneidung auszugleichen, andernfalls fehlt die Basis für eine autonome Interessenkoordination. Würde nicht eingegriffen, käme es ökonomisch zu Ineffizienzen, aber eben nicht nur das: es käme auch, so Drexl, in normativer Hinsicht zu Ineffizienzen, da eine ganze Reihe von Transaktionen nicht mehr von der Privatautonomie beider Seiten determiniert wären. Dieser Gedanke lässt sich mit dem hier entwickelten Begriff der Systemrelevanz noch verstärken: ohne ein AGB-Recht, das dem Verbraucherschutz verpflichtet ist, würde die Interessenkoordination der wirtschaftlichen Aktivitäten am Markt in Frage gestellt. Die AGB betreffen regelmäßig nicht die essentialia negotii des Vertrags, sondern die Nebenbedingungen, die ökonomisch nicht gewichtig genug sind, um davon das Zustandekommen des Vertrags abhängig zu machen. Entzieht man diesen gesamten Bereich der privatautonomen Regelung unter Gleichen, indem man einer Seite das unkontrollierte Entscheidungsrecht zugesteht, würde dies das System grundsätzlich in Frage stellen. Denn dann wäre ein weiter Bereich der Sachmaterie Wirtschaftstransaktion der privatautonomen Regelung entzogen, was bei globaler und mittelfristiger Betrachtung nicht ohne Rückwirkungen bleiben könnte. Ein Ungleichgewicht würde perpetuiert (im Stellen der AGB drückt sich bereits das Ungleichgewicht aus) und vom Privatrecht positiv sanktioniert, was systemwidrig wäre. Von einer sozialen oder öffentlich-rechtlichen Argumentation unterscheidet sich das von Drexl dargestellte Modell des Verbraucherschutzes allerdings erheblich: es zielt auf die Sicherung der Privatautonomie, nicht auf die Durchsetzung eines öffentlichen Interesses an der Besserstellung von Verbrauchern. 290 291 292 293

339 f.

Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 210. Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 210. Vgl. Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 206 ff. Vgl. Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 328 ff., insb.

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Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

Während Drexl selbst stärker auf die Freiheitssicherung abstellt als auf die für den Verbraucherschutz durchaus ebenso gewichtige Gleichordnungssicherung, rückt in einem anderen umstrittenen Bereich des Privatrechts die Gleichordnung stärker in den Vordergrund. In Kapitel 1 wurde bereits die Auseinandersetzung um das Allgemeine Gleichstellungsgesetz beleuchtet. Dessen Einordnung in den Bereich des Privatrechts war auf heftigen Widerstand gestoßen. Nach dem hier vertretenen Modell systemrelevanter Bindungen lässt sich das AGG nur dann in Einklang mit der privatrechtlichen Grundordnung bringen, wenn es erforderlich ist, um das System des Privatrechts selbst vor dem Kollaps zu bewahren. Wie gesehen gibt es durchaus Vertreter in der Literatur, die das AGG als notwendig für die Ermöglichung der Freiheitsausübung ansehen. Ohne Gleichordnung, so ihre Argumentation, lässt sich das System dezentraler Interessenkoordination nicht aufrechterhalten. Diese, nicht von allen Advokaten des AGG getragene Begründung der Regelungen, wäre mit dem Modell vereinbar. Andere Wissenschaftler lehnen das AGG gerade ab, da es einen zu großen Freiheitseingriff beinhaltet, also eine Bindung an öffentliche Interessen, die mit der Entscheidungsautonomie des Einzelnen nicht mehr vereinbar ist und das System freier Koordination an seine Grenzen bringt.294 Wie kann es sein, dass zwei im Ergebnis gegensätzliche Ansichten auf demselben Modell beruhen können? Dies ist möglich, weil kein Konsens über die Frage besteht, was zur Sicherung der Marktwirtschaft oder der Privatrechtsordnung erforderlich ist. Der Diskurs über die grundlegenden Voraussetzungen dieser Ordnung ist immer aufs Neue zu führen. Ein Beispiel für diesen fortgesetzten Diskurs ist die Frage, ob die Durchsetzung eines Fairness-Prinzips eine Grundbedingung der Marktwirtschaft ist. Dies ist zu bejahen, da das System des Miteinander-Handelns auf einem Grundvertrauen in die Fairness des Geschäftspartners basiert.295 Kann sich eine Person nicht darauf verlassen, dass dieses Grundvertrauen gerechtfertigt ist oder notfalls gerichtlich ein faires Geschäftsgebaren eingefordert werden kann, bricht der Handel zusammen. Dies hat sich in der Praxis vor allem nach der Finanzkrise 2008 gezeigt, als das Vertrauen in die Finanzmärkte erschüttert war und nicht zu erwarten stand, dass Gerichte unfaire Verhaltensweisen wenigstens retrospektiv sanktionieren. Aufgrund dieser Systemrelevanz ist es auch konsequent, das die Fairness im Geschäftsverkehr sichernde Lauterkeitsrecht als Teil des Privatrechts anzusehen. Diese Position – Fairness als Grundprinzip der Marktwirtschaft und also Lauterkeitsrecht als Systembestandteil des Privatrechts – ist freilich nicht unumstritten. Die EU, deren Vorgaben das 294 So etwa argumentiert Picker systembezogen, wenn er schreibt, dass das AGG „nach Geist und Buchstaben die Potenz hat, die geltende Ordnung in ihren Fundamenten zu sprengen“, siehe Picker in: Riesenhuber, Privatrechtsgesellschaft, 2007, S. 207, 216. 295 Vgl. Fikentscher/Hacker/Podszun, FairEconomy, 2013, Kap. 2.

C. Materielle Legitimation der Zivilrechtsprechung

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nationale Lauterkeitsrecht weitgehend folgt, macht keine Vorgaben bezüglich der Einordnung in privates oder öffentliches Recht, die Mitgliedsstaaten folgen dementsprechend unterschiedlichen Lösungsansätzen. Während in Deutschland die privatrechtliche Durchsetzung des Lauterkeitsrechts üblich ist, wird diese Aufgabe in anderen Staaten von Behörden wahrgenommen. Der Diskurs, ob Fairness systemrelevant für die Marktwirtschaft ist und welche Regeln es im Detail bedarf, ist entsprechend offen. Die Schlüsselfrage des Privatrechts ist demnach: welche institutionellen Sicherungen sind erforderlich, um das privatrechtliche Freiheitsmodell zu garantieren? Und welche intrinsischen Voraussetzungen ermöglichen dem Individuum erst die Wahrnehmung der eigenen Befugnisse? Die Antworten müssen kursorisch bleiben. Methodisch hilft Canaris weiter, der in ähnlichem Zusammenhang eine Negativabgrenzung für ausreichend, eine positive Definition für verzichtbar hält.296 Das ist insofern bei einem freiheitsgesteuerten System konsequent, da es ja gerade das unberechenbare „Entdeckungsverfahren“ (von Hayek) ist, das durch Freiheit ermöglicht wird. Insofern mögen abschließend Hinweise genügen: Privatautonomie, zusammengesetzt aus dem lateinischen privatus (das Eigene) und den griechischen Begriffen autos (selbst) und nomos (Gesetz), bezeichnet die Selbstbestimmung in eigenen Angelegenheiten. Der privatautonom Handelnde hat die Gestaltungshoheit über seinen Lebensbereich. Für die Wirtschaft, die hier im Vordergrund der Betrachtung steht, heißt dies, dass der Einzelne seine Bedürfnisse selbst bestimmen darf und den Weg, diese zu befriedigen, selbst wählen kann, insbesondere durch Entfaltung eigener unternehmerischer Aktivitäten. Als wichtige Voraussetzung eines autonomen Handelns werden traditionell die Vertragsfreiheit, die Eigentumsfreiheit, die privatrechtliche Verfasstheit persönlicher Lebensbeziehungen (z.B. Ehe und Familie) und die Testierfreiheit angesehen.297 Voraussetzung des autonomen Handelns ist die Mündigkeit des Handelnden, also seine Fähigkeit, einen freien Willen zu bilden und eine Entscheidung zu treffen. Diese Voraussetzung öffnet das Tor für rechtliche Maßnahmen, die die Mündigkeit sowie die formale und notfalls auch faktische Gleichordnung des Verhandlungspartners sichern, etwa das Minderjährigenrecht, Informationsrechte von Verbrauchern oder das Gleichbehandlungsrecht. Freilich wäre bei jeder einzelnen Maßnahme abzuwägen, ob sie dazu dient, den Bürger zu befähigen, überhaupt einen Willensentschluss zu fassen, oder ob sie nicht darüber hinausgeht. Dabei ist eine Gesamtschau anzumahnen, die die Wirkung verschiedener Einzelmaßnahmen betrachtet: Möglicherweise ist jede Grenze für sich genommen, die das Recht setzt, zum Schutz der Mündigkeit angemes-

296 297

Canaris in: FS Lerche, 1993, S. 873, 883. Canaris in: FS Lerche, 1993, S. 873, 876 f.

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Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

sen, im Zusammenwirken mit weiteren Maßnahmen hingegen kann sie einen erstickenden Effekt entfalten.298 Zur Vorstellung vom selbstbestimmten Bürger gehört, dass dieser seinem Gegenüber in Transaktionen auf Augenhöhe begegnet. Damit ist primär eine formale, normative Gleichordnung gemeint. Diese verwirklicht sich in der rechtlichen Anerkennung dieser Gleichheit, ist also in erster Linie keine Voraussetzung, die auf Tatsachenebene angegangen werden müsste. Wenn die faktischen Ungleichgewichte derart stark werden, dass die Anerkennung einer formalen Gleichordnung zur bloßen Hülle verkommt und die Selbstbestimmung nicht mehr gegeben ist, bedarf es jedoch einer privatrechtlichen Intervention. Selbst wenn Maßnahmen zum Ausgleich solcher Ungleichgewichte vorgenommen werden, etwa im Verbraucherschutzrecht, muss aber das Primat der privatautonomen Entscheidung beachtet werden: Die Stärkung der benachteiligten Person darf nur dazu führen, dass diese wieder selbstbestimmt ihre Interessen vorträgt und einbringt, eine weitergehende Steuerung darf nicht erfolgen. Das institutionelle Forum, in dem sich die Privatautonomie manifestieren kann, ist der Markt. An diesem Ort findet die Koordination der Einzelpläne statt. Ein solches Forum ist von der Rechtsordnung bereit zu stellen, und dieses darf keine Zugangssperren oder Freiheitsbeschränkungen haben. Es ist daher ein öffentliches Interesse im Dienste der Privatautonomie, einen freien, unbeschränkten Markt zur Verfügung zu stellen, auf dem sich die Aktivitäten entfalten können, zu denen sich die privatautonom Handelnden entschlossen haben. Der Zusammenhang von Ausübung der Privatautonomie und dem Forum Markt legitimiert das privatrechtliche Einschreiten bei Marktversagen.299 Der tiefere Grund für wirtschaftsordnende Maßnahmen, die den Markt sichern, liegt also nicht in der Absicht, Wohlfahrtseffekte zu erzielen, sondern in der Aufgabe der Rechtsordnung, die privatautonome Gestaltung des Lebens zu ermöglichen. An dieser Stelle kommt die Ökonomie ins Spiel, deren Bedeutung für das Zivilrecht ja allgemein betont wird. Hier nun ist ihr Platz gefunden: die Ökonomie vermittelt Erkenntnisse darüber, welche Mittel und Methoden anzuwenden sind, um einen Markt funktionieren zu lassen. Effizienz ist aber nicht Selbstzweck, sondern Mittel zur Freiheitsverwirklichung. Ebenso ist die Erreichung eines hohen Wohlfahrtsstandards nicht der Maßstab einer gelungenen, vom Recht her gedachten Wirtschaftsordnung, sondern im besten Fall Nebenprodukt einer möglichst freien Entfaltung der Aktivitäten.

298 Vgl. Kluth in: Schmidt-Aßmann/Dolde, Beiträge zum öffentlichen Wirtschaftsrecht, 2005, S. 11, 26 ff. 299 Vgl. Grundmann in: Riesenhuber, Privatrechtsgesellschaft, 2007, 105, 120 f.; Fikentscher, Wirtschaftsrecht I, 1983, S. 34; Mestmäcker, AcP 168 (1968), 235, 247.

C. Materielle Legitimation der Zivilrechtsprechung

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Ein Ansatz zur Bestimmung der systemrelevanten Grundlagen der Privatrechtsordnung setzt an den Funktionsbedingungen der Marktwirtschaft an.300 Schon Adam Smith als Begründer der Volkswirtschaftslehre hatte sich dazu, wie gesehen, Gedanken gemacht. Bestimmte Grundpfeiler seien vom Staat zu garantieren. Mit einer berühmten „unsichtbaren Hand“,301 so lässt sich mit deren Entdecker folgern, ist es für das Privatrecht doch nicht getan. Selbst ein derart liberaler Ökonom wie Milton Friedman formulierte Grundbedingungen für das Funktionieren der marktwirtschaftlichen Ordnung, die über einen Laisser-faire-Ansatz hinausgehen. Nach Friedman sind erforderlich: funktionierendes Rechtssystem, Ausschluss physischen Zwangs, Durchsetzbarkeit von Verträgen, Abschaffung von Monopolen und Vermeidung der Externalisierung von Verlusten.302 Nach herrschenden Ansichten in der Lehre von der Wirtschaftspolitik werden die hier untersuchten Fragen im Zusammenhang mit dem Ersten Wohlfahrts-Theorem erörtert, das den Zusammenhang von Marktwirtschaft und Gleichgewicht zum Gegenstand hat. Die zugrundeliegenden Annahmen betreffen die Frage, welche Voraussetzungen staatlich gewährleistet werden müssen, damit eine Marktwirtschaft überhaupt funktioniert.303 Als Voraussetzungen gelten die Schaffung von Eigentums- und Verfügungsrechten, Rechtsklarheit und -sicherheit, Vertragsfreiheit, Vermeidung von Externalitäten, Senkung von Transaktionskosten durch Schaffung eines offenen Forums, freier Informationsfluss, Bekämpfung von Marktmacht, Haftungsregeln. Ein Eingreifen des Staates ist geboten, wenn Marktversagen droht, also wenn es zu Externalitäten, Unteilbarkeiten, Informationsdefiziten und fehlenden oder verspäteten Anpassungen kommt.304 Ronald Coase hat diese Grundideen mit dem nach ihm benannten Theorem in eine juristisch handhabbare Leitlinie der Rechtsprechung verwandelt.305 Nach Coase ist es Aufgabe des Rechts, möglichst kostenneutrale Transaktionen zu ermöglichen. Dazu muss die Rechtsordnung Handlungsrechte zuweisen, diese übertragbar machen und die Transaktionskosten, etwa für Information und Koordination, minimieren. Diese wirtschaftswissenschaftlichen Überlegungen lassen sich weitgehend zurückführen auf die Grundwerte der informierten und freien Entscheidung der Marktteilnehmer (Privatautonomie) und die Chancengleichheit aller Marktteilnehmer (insoweit kongruent mit dem Leitbild des Privatrechts), ergänzt um infrastrukturelle Maßnahmen (die Systemkomponente). 300

Vgl. Fikentscher/Hacker/Podszun, FairEconomy, 2013, Kap. 1. Smith, The Wealth of Nations, 1976, S. i.477. 302 Friedman, Capitalism and Freedom, 1982, S. 14. 303 Siehe nur Stocker, Moderne Volkswirtschaftslehre, 2009, S. 152 ff. 304 Vgl. Fritsch/Wein/Ewers, Marktversagen und Wirtschaftspolitik, 2007, S. 82. 305 Coase, Journal of Law & Economics 2 (1960), 1 ff. Dazu Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2005, S. 59 ff.; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 2005, S. 100 ff.; Lieth, Die ökonomische Analyse des Rechts, 2007, S. 68 f. 301

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Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

3. Auf dem Weg in eine moderne Privatrechtsgesellschaft? Das hier entwickelte Leitbild des Privatrechts und die Eingrenzung öffentlicher Interessen auf solche, die für das Privatrecht systemrelevant sind, erinnern an Konzepte der Ordoliberalen. Franz Böhm hatte den wegweisenden Gedanken entwickelt, dass die Marktwirtschaft im Recht ihre Entsprechung in der sogenannten „Privatrechtsgesellschaft“ finden muss.306 Die „Privatrechtsgesellschaft“ ist bis heute einer der wichtigsten Ankerpunkte der Zivilrechtslehre in Deutschland.307 Böhm hat das Konzept eines gesellschaftlichen Ordnungsmodells entwickelt, in dem die Prinzipien der Marktwirtschaft und des Privatrechts als kongruent (weil von der Privatautonomie ausgehend) angesehen werden. Als wesentlicher Aspekt für die Organisation der Gesellschaft tritt der Aspekt des Ordnungsrahmens, des Ordo, hinzu. Böhm und die übrigen Vertreter der Freiburger Schule vertraten den Gedanken einer umfassenden Ordnung, da sie die Tendenz des Freiheitsparadoxons erkannt hatten, die Errungenschaften der Freiheit selbst aufzuheben. Sie befürworteten daher den Plan der „rechtlichen Steuerung der Wirtschaft zur Aufrechterhaltung der Selbststeuerung.“308 In diesem Konzept ist dem Staat eine starke Rolle zugewiesen, da er Garant des Ordo ist. Folglich geht Böhm von einer Wirtschaftsverfassung aus, die der demokratisch-parlamentarischen Verfassung auf Ebene der politischen Ordnung entspricht.309 Will man den Grundgedanken Böhms, die Entsprechung von Marktwirtschaft und Privatrecht, konsequent in die heutige Zeit übertragen, müsste man neuere ökonomische Erkenntnisse und die Prägung durch das Europarecht berücksichtigen. Bei Böhm ist zudem das Vertrauen auf die selbststeuernden Kräfte des Privatrechts schwächer ausgeprägt als man es heute – nach Hayeks Fortentwicklung einer liberalen Rechtstheorie – annehmen dürfte. Die zunehmende Wandlung des Staates, die zunehmenden Steuerungsverluste, waren zu Zeiten Böhms noch nicht offen zu Tage getreten. Konsequent sind darum heute die Sicherungsmechanismen für den Schutz von Marktwirtschaft und Freiheit im privaten Handeln und in einer entsprechenden Ausgestaltung des privaten Rechtsschutzes zu sehen. Das Vertrauen, das Böhm in den Nationalstaat setzte, wäre heute nicht mehr gerechtfertigt. Ein weiterer Unterschied des hier vorgestellten Konzepts zu den Freiburgern liegt darin, dass diese ihr Ordnungsmodell verabsolutiert hatten – auch gegenüber der Freiheit des Einzelnen, dessen Freiheitsausübung primär als 306

Böhm, ORDO XVII (1966), 75 ff. Vgl. zur neueren Diskussion statt aller die Beiträge in Riesenhuber, Privatrechtsgesellschaft, 2007; Bydlinski, FS Raisch, 1995, S. 7 ff.; Canaris, FS Lerche, 1993, S. 873 ff. 308 Fikentscher, Wirtschaftsrecht I, 1983, S. 9, vgl. ders., Wirtschaftsrecht II, 1983, S. 43. 309 Böhm, Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, 1950, S. 48 ff. Vgl. Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 223; Vanberg in: Riesenhuber, Privatrechtsgesellschaft, 2007, S. 131, 147 ff. 307

C. Materielle Legitimation der Zivilrechtsprechung

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Beitrag zur Ordnung, nicht als eigener Entfaltungsbeitrag gewertet wurde.310 So wurde schon in diesem Modell die Entfaltung des Einzelnen in den Dienst der Wohlstandsmehrung gestellt, statt das Primat der Freiheit anzuerkennen. Zum vorgelegten Legitimationsmodell der Rechtsprechung ist dies so in Beziehung zu setzen, dass Böhm sich auf die institutionelle Perspektive verengt, ohne die individuelle ausreichend zu würdigen. Sehr wohl wirken in seiner Schrift aber die funktionale und die materielle Seite zusammen. Die Idee der Privatrechtsgesellschaft wurde zwar weitgehend als materielles Konzept rezipiert, die Durchsetzungskomponenten sind beim Autoren selbst aber stets gleichberechtigt berücksichtigt. Der Freiburger Impuls wirkt in verschiedenen Ausgestaltungen fort, insbesondere in Form einer Fundierung des wirtschaftlichen Handelns auf den Prinzipien von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit sowie auf der Basis ökonomischer Erwägungen.311 Viktor Vanberg hat darauf hingewiesen, dass die Neue Institutionenökonomik zahlreiche Überlegungen mit der Freiburger Schule teilt, insbesondere „die analytische Fokussierung auf die Wirkungszusammenhänge zwischen den institutionell-rechtlichen Rahmenbedingungen und den Funktionseigenschaften der sich darin entfaltenden wirtschaftlich-sozialen Prozessabläufe.“312 Genauso zeigt Vanberg die Nähe von Böhms Konzeption zu den hier gleichfalls rezipierten Gesellschaftsvertragstheorien auf.313

4. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich die materielle Legitimation des Zivilurteils wie folgt skizzieren: Das Zivilurteil wird legitimiert durch die Durchsetzung subjektiver Rechte und den Erhalt der Wertordnung. Ein gutes Urteil liegt vor, wenn das Leitbild, aufgrund dessen sich der Rechtssuchende an die Zivilgerichte wendet, ausgefüllt wird, und wenn die Grundlagen der privatrechtlichen Ordnung von den Zivilgerichten geschützt werden. Das bedeutet für das Wirtschaftsrecht die Sicherung der Funktionsbedingungen der Marktwirtschaft. Was das im Einzelnen bedeutet, ist für das privatrechtliche Leitbild durch Rückgriff auf die von der Wissenschaft herausgearbeiteten Prinzipien des Privatrechts zu bestimmen. Welche die Systemgrundlagen der Marktwirtschaft sind, ist im Wesentlichen eine Frage an die Volkswirtschaftslehre. Definitive Antworten können nicht gegeben werden – beide Themen (Leitbild und Systemgrundlagen) unterliegen einem ständigen Diskurs in der Gesellschaft. Die Krisen seit 2008 haben dies ins allgemeine Bewusstsein gerückt. Ausgangspunkt des Zivilrechts ist die privatautonome Gestaltung der Lebensverhältnisse, die sich insbesondere durch die Vertragsfreiheit durchsetzt. 310 311 312 313

Vgl. Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, 2008, Rn. 7 m.w.N. Vgl. etwa Grundmann in: Riesenhuber, Privatrechtsgesellschaft, 2007, S. 105, 107. Vanberg in: Riesenhuber, Privatrechtsgesellschaft, 2007, S. 131, 132. Vgl. Vanberg in: Riesenhuber, Privatrechtsgesellschaft, 2007, S. 131, 139 f.

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Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

Im Bereich der Wirtschaft begegnen sich die Personen als Gleiche (auf Augenhöhe) und koordinieren dezentral und frei ihre je individuellen Wirtschaftspläne durch Transaktionen. Ihnen steht die Entscheidungskompetenz zu, es ist also der Wille der Parteien, der maßgeblich ist. Dieser Vorrang der Vertragsfreiheit ergibt sich aus rechtshistorischen und -philosophischen Gründen ebenso wie aus dem besonderen Schutz, welcher der privatautonomen Gestaltung der Wirtschaft im deutschen wie im europäischen Verfassungsrecht zukommt. Entscheidet sich der Gesetzgeber, eine Sachmaterie ins Privatrecht zu übertragen, folgt schon aus Respekt vor der demokratischen Legitimation, dass damit das Freiheitsprimat anerkannt wird. Die freiheitliche Organisation der Sachmaterie verdrängt damit die Bindung an öffentliche Interessen. Gleichwohl sind bestimmte Bindungen privatrechtsimmanent, nämlich solche, die das System des Privatrechts ermöglichen und garantieren. Werden Einschränkungen der Vertragsfreiheit vorgenommen, ist daher zu prüfen, ob diese letztlich nur der Sicherung der Privatautonomie im Sinne des Freiheitsparadoxons dienen. Zu würdigen ist dabei auch der kumulative Einschränkungsaspekt (Summeneffekt) durch das Zusammenwirken verschiedener Regelungen. Privatrechtsimmanente Bindungen sind vor allem solche, die für den Handelnden die Voraussetzung zur freien Willensbildung und Entscheidung schaffen (Mündigkeitsvoraussetzungen) sowie solche, die institutionell die Ausübung und Koordination der einzelnen Entschlüsse ermöglichen. Dies leistet für den Bereich der Wirtschaft der Markt, sodass das Privatrecht – in Verbund mit ökonomischen Erkenntnissen – ein Einschreiten bei Marktversagen erlaubt. Die Freiheit muss gegen die selbstaufhebenden Tendenzen der Freiheit geschützt werden. Dies bedeutet für das Wirtschaftsprivatrecht die Erhaltung einer Markt- und Wettbewerbsordnung und ihrer Grundlagen, auch durch diejenigen staatlichen Institutionen, denen die Lösung wirtschaftsprivatrechtlicher Konflikte anvertraut ist, nämlich den ordentlichen Gerichten. Als Kernelemente dieser Systemvoraussetzungen können identifiziert werden: Gleichstellung der Parteien, Wahrung ihrer Privatautonomie, Funktionsfähigkeit der Mechanismen zur freien Interessenkoordination der Individuen. Durch entsprechende systemerhaltende Einschränkungen der Privatautonomie wird diese ermöglicht und gesichert. Das ist zwar Aufgabe des Staates, wie schon in Franz Böhms Modell der Privatrechtsgesellschaft, ist aber zunehmend abhängig von den Entdeckungen und Initiierungen seitens der Zivilgesellschaft. So entsteht ein Modell der privatrechtlichen Freiheit durch Bindung, das Gesetzgeber und Rechtsanwender leiten kann. Dieses Leitbild erlaubt es, aktuelle Entscheidungen danach zu beurteilen, ob es Fremdkörper für das Privatrecht sind oder nicht. Ob es mit der Wende zum Privaten tatsächlich auch eine Stärkung der Privatrechtsgesellschaft gegeben hat, ist nach Auswertung der Rechtspraxis zu beurteilen.

D. Legitimationsverschiebungen?

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D. Legitimationsverschiebungen? Einer genaueren Analyse bedarf die Frage, ob neuere Entwicklungen das Modell der Legitimation gerichtlicher Urteile verändern. Drei Entwicklungen sind, wie bei der Analyse des Allgemeinen Gleichstellungsgesetzes gesehen, von besonderer Bedeutung: die Europäisierung des Zivilrechts, seine Publifizierung und die Ökonomisierung. Diese Entwicklungen könnten Triebfedern einer Legitimationsverschiebung sein oder müssen in das Modell integriert werden. Veränderungen wie die Integration des AGG in den Korpus des Privatrechts können jedenfalls Rückwirkungen für Leitbild und Systemgrenzen haben, da sich auch dieses evolutiv entwickelt.314 Die Rechtswissenschaft ist jedoch auch aufgerufen, unerwünschten Wandlungen gegebenenfalls entgegenzutreten.

I. Europäisierung Das Zivilrecht ist zunehmend von europäischer Rechtsetzung geprägt.315 Leitbild und Systembildung müssen die europäische Dimension integrieren. Zu prüfen ist, ob dies zu einer grundlegenden Veränderung der privatrechtlichen Dogmatik führt. Der Abwehrreflex, der die Diskussion in Deutschland teilweise beherrscht hat, genügt nicht: Den europäischen Einfluss auf das deutsche Zivilrecht zu leugnen, wäre Realitätsverweigerung – und demokratiepolitisch problematisch. Tatsächlich ist es so, dass alle großen Rechtsetzungsinitiativen im Privatrecht in den vergangenen Jahren vom europäischen Gesetzgeber oder dem Gerichtshof ausgingen.

1. Einfluss des europäischen Rechts Dem europäischen Gesetzgeber fehlt die Kompetenz, das Zivilrecht innerhalb der EU umfassend zu regeln. Gleichwohl hat der EU-Gesetzgeber auf Basis verschiedener anderer Kompetenzen, insbesondere mit Hilfe der Kompetenz zur Binnenmarktförderung (Art. 179 Abs. 2 AEUV), Verordnungen und Richtlinien erlassen, die das Zivilrecht massiv prägen. Nur beispielhaft seien Verbraucherkredite, Produkthaftung, Gleichstellungsgebote, vergleichende Werbung oder Reisevertragsrecht als Themen europäischer Rechtsetzung genannt. Hinzu tritt die Einwirkung des Primärrechts auf das nationale Privatrecht, etwa in Form von Beschränkungsverboten, die aus den Grundfreiheiten 314 Mit Bezug auf die „Pflicht zur Gleichbehandlung“ spricht Grünberger konsequent von einem Paradigmenwechsel, vgl. Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S. 19 f. 315 Vgl. in Überblicken nur Wiedmann/Gebauer in: Gebauer/Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2010, S. 3 ff.; Lehmann in: FS Canaris, Band I, 2007, S. 729 ff.; Herresthal in: FS Canaris, Band II, 2007, S. 1107 ff.; Säcker in: MüKo-BGB, 2012, Einl. Rn. 213 ff. m.w.N.

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Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

folgen oder der Durchsetzung des Herkunftslandprinzips im internationalen Gesellschaftsrecht. In jüngerer Zeit hat die Kommission zudem neben den eher punktuellen Eingriffen, die sie in der Vergangenheit durchgesetzt hat, mit den Überlegungen zu einem europäischen Vertragsrecht das Kerngebiet des Zivilrechts betreten. 2011 gipfelten die bisherigen, heftig umstrittenen Bemühungen im Vorschlag einer Verordnung,316 die ein europäisches Kaufrecht neben die nationalen Kaufrechte als Regelungsregime stellen würde. Damit werden die langjährigen Vorarbeiten, von den Lando-Principles317 bis zum Draft Common Frame of Reference,318 in einen ersten verbindlichen, wenn auch optionalen (von den Parteien zu wählenden) Rechtsrahmen überführt. Überwiegend handelt es sich bei den bislang vorliegenden europäischen Rechtsakten von Relevanz für das deutsche Zivilrecht aber um Richtlinien, die gem. Art. 288 AEUV in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Offensichtliche Folge ist die Notwendigkeit richtlinienkonformer Auslegung. Ein lauterkeitsrechtlicher Fall, den das OLG Frankfurt zu entscheiden hatte, illustriert die Bedeutung der Richtlinien in der Praxis:319 Ein Wettbewerber im Stromhandel hatte einen Konkurrenten aus § 4 Nr. 11 UWG in Anspruch genommen, da dieser auf Werbeflyern für ein Energieprodukt nicht alle nach § 42 EnWG erforderlichen Angaben abgedruckt hatte. Diese sog. Stromkennzeichnungspflicht soll Verbrauchern die Möglichkeit geben, die ökologischen Folgen ihres Strombezugs einzuschätzen. Beide entscheidungserheblichen Normen, sowohl § 4 Nr. 11 UWG als auch § 42 EnWG, stehen in engem Zusammenhang mit europarechtlichen Richtlinien.320 Das OLG Frankfurt verneinte den Unterlassungsanspruch, da die Anforderungen des deutschen Gesetzgebers in § 42 EnWG über das europarechtlich geforderte Informationsniveau hinausgingen. Da die dem UWG zugrundeliegende UGP-Richtlinie aber das Ziel einer Vollharmonisierung des lauterkeitsrechtlichen Schutzstandards in der EU verfolge und § 4 Nr. 11 UWG in dieser Richtlinie nicht vorgesehen sei, könnten Ansprüche nur mit Hilfe von § 4 Nr. 11 durchgesetzt werden, wenn dadurch europäisches Recht durchgesetzt würde. Da aber in der Richtlinie zum Elektrizitätsbinnenmarkt eine derartige Verpflichtung zur Stromkennzeichnung fehle, sei der Anspruch zu versagen. Anders sei das vom europäischen Gesetzgeber gewünschte harmonisierte Informationsniveau in der EU nicht zu gewährleisten.

316 KOM, 11.10.2011, Vorschlag für eine Verordnung über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, KOM(2011) 635 endg. 317 Lando u.a., Principles of European Contract Law, 2000/2003. 318 Study Group, Draft Common Frame of Reference, 2008. 319 OLG Frankfurt am Main, 12.4.2011, Az. 11 U 5/11 (Kart), BeckRS 2011, 26752. 320 Für das UWG siehe die UGP-Richtlinie (2005/29/EG), ABl. L Nr. 149 S. 22 ff. vom 11.6.2005, für das EnWG Richtlinie 2003/54/EG, ABl. L Nr. 176, S. 37 ff. vom 15.7.2003 zum Elektrizitätsbinnenmarkt.

D. Legitimationsverschiebungen?

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Das Urteil ist ein Beispiel unter vielen zur richtlinienkonformen Auslegung. Es illustriert auf nachdrückliche Weise, wie der Rechtsanwender inzwischen nicht einmal mehr dem nationalen Recht allein vertrauen kann, selbst wenn dies Umsetzungsrecht ist. Wer die OLG-Rechtsprechung konsequent weiterdenkt, muss zu der Auffassung gelangen, dass nationale Akzente in vielen Bereichen des Privatrechts gar nicht mehr gesetzt werden können und nationale Umsetzungsakte bestenfalls Fehlerquellen sind. Weniger ausgeprägt ist der Einfluss des europäischen Rechts im Bereich der Rechtsdurchsetzung. Das Prozessrecht ist weiterhin überwiegend national geprägt.321 Bislang hat der EuGH aber beispielsweise im Kartellrecht durch die Urteile in den Sachen Courage322 und Manfredi323 für eine gewisse Harmonisierung der privaten Rechtsdurchsetzung gesorgt, indem er die Effektivität privater Kartellrechtsklagen, die auf europäisches Recht gestützt sind, angemahnt hat. Im Bereich der Immaterialgüterrechte hat die sog. EnforcementRichtlinie wichtige Akzente gesetzt.324 Hinzu treten die Regelungen zum Internationalen Privatrecht, etwa in den Verordnungen Rom I325 und Rom II.326 Diese enthalten zwar keine Regelungen, die unmittelbar das Prozessrecht verändern, sie führen jedoch durch die Bestimmung der Anknüpfungspunkte für die Bestimmung des anwendbaren Rechts bei grenzüberschreitenden Sachverhalten zu einer mittelbaren Beeinflussung. Durch die EuGVVO327 kommt es in Fällen grenzüberschreitender Sachverhalte zu einem – bislang freilich erst in Ansätzen spürbaren – Wettbewerb der Prozessrechte.

2. Dogmatische Konsequenzen Für die Legitimation des Urteils lassen sich aus der hier kursorisch dargestellten Europäisierung drei Erkenntnisse ziehen. Erstens ist festzustellen, dass das europäische Recht keine klare Differenzierung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht vornimmt. Regelungen in Richtlinien enthalten meist keine Festlegung der Domäne, der die Regelungen zuzuordnen sind. Entsprechend divers ist die Umsetzung in den Mitgliedsstaaten. Das europäische Recht forciert dadurch ein Zusammenwachsen von 321 322

Vgl. Säcker in: MüKo-BGB, 2012, Einl. Rn. 283 ff. m.w.N. EuGH, 20.9.2001, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297 = GRUR 2002, 367 – Courage/Cre-

han. 323

EuGH, 13.7.2006, Rs. C-295/04, Slg. 2006, I-06619 = EuZW 2006, 529 – Manfredi. Richtlinie 2004/48/EG, ABl. L Nr. 195, S. 16 ff. vom 2.6.2004. 325 VO Nr. 593/2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. L Nr. 177 S. 6 vom 4.7.2008, ber. ABl. L Nr. 307 S. 28 vom 24.11.2001. 326 VO Nr. 864/2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II), ABl. L Nr. 199 S. 40 vom 31.7.2007. 327 VO Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. L Nr. 12 S. 1 vom 16.1.2001, ber. ABl. L Nr. 307 S. 28 vom 24.11.2001. 324

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öffentlichem und privatem Recht, das die zuvor identifizierten Trennlinien verwischt. Zweitens lässt das europäisch initiierte Privatrecht die Kohärenz eines dogmatisch durchdrungenen, systematisch vereinheitlichten Zugriffs (noch) vermissen.328 Regelungen sind geprägt durch Kompetenzgrundlagen und Zuständigkeitszuweisungen. So ist für (möglicherweise) zivilrechtliche Rechtsakte nicht immer die Generaldirektion Justiz innerhalb der Kommission zuständig, sondern es können auch die Generaldirektionen Binnenmarkt oder Verbraucherschutz & Gesundheit Regelungen vorbereiten, die in Deutschland dann in den Kanon des Zivilrechts integriert werden. Diese institutionelle Zerrissenheit führt zu Verwerfungen, da Regelungen bruchstückhaft bleiben oder einseitig vorgeprägt sind. Überdies erhalten Regelungen häufig ein Gepräge durch die Zielbestimmungen der EU, insbesondere das Ziel der Integration. Die Förderung der Binnenmarktverwirklichung und der europäischen Integration bringt dabei einen Aspekt in das Recht, der nationalen Regelungen naturgemäß fremd ist.329 Drittens neigt die europäische Rechtsetzung – möglicherweise aus Gründen der politischen Durchsetzbarkeit gegenüber den 27 Mitgliedsstaaten – nicht zur Einführung substantieller Mindeststandards, sondern zu einem Informationsmodell. Statt bestimmte inhaltliche Vorgaben an die Parteien zu richten, werden diesen zahlreiche Informationspflichten auferlegt.330 Transparenz und daraus folgende Entscheidungsmöglichkeiten sollen dazu führen, dass sich am Markt regelt, was andernfalls der Gesetzgeber direkt zu entscheiden hätte. Die bereits zitierte Stromkennzeichnungspflicht ist ein Beispiel dafür: Gefordert wird vom Gesetz nicht, dass Strom in bestimmter umweltfreundlicher Weise zusammengesetzt wird, sondern dass der Verbraucher so informiert wird, dass dieser durch seine Kaufentscheidung über seinen ökologischen „footprint“ und den Erfolg der jeweiligen Produkte am Markt entscheiden kann. Dass dieses Informationsmodell inzwischen längst an seine Grenzen geraten ist und die Informationsflut für die meisten Auswahlentscheidungen unüberblickbar geworden ist, kann hier nur am Rande bemerkt werden.331 Die Frage stellt sich, welche Konsequenzen diese drei Impulse für das Legitimationsmodell haben, das hier entwickelt wurde. Zunächst ist festzustellen, dass bei der Begründung des Legitimationsmodells bereits auf europäische 328

Kritisch Coing/Honsell in: Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts, 2011, S. 84 f. Schmid spricht daher von einer „Instrumentalisierung des Privatrechts“, allerdings sieht er diese Instrumentalisierung nicht nur in Bezug auf die politische Integration, sondern auch in Bezug auf eine Marktideologie, vgl. Schmid, Die Instrumentalisierung des Privatrechts durch die Europäische Union, 2010, S. 820 ff. 330 Vgl. Schmid, Die Instrumentalisierung des Privatrechts durch die Europäische Union, 2010, S. 823; Ackermann, ZEuP 2009, 230, 257 ff. – Anknüpfen ließe sich interessanterweise an die Gründungszeit der großen privatrechtlichen Kodifikationen im 19. Jahrhundert die ein nationales Integrationsziel verfolgten. 331 Vgl. Schön in: FS Canaris, Band 1, 2007, S. 1191. 329

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Normen und Vorgaben abgestellt wurde. Hinzu kommt, dass die Systematik des Zivilrechts trotz der europäischen Impulse vom nationalen Gesetzgeber determiniert bleibt, solange dieser die Umsetzungsprärogative hat. Durch die Form der Umsetzung kann der Gesetzgeber zumindest teilweise noch entscheiden, wie er systematisch und dogmatisch die Neuregelungen einpasst. Sollte das Zivilrecht einer europäischen Gesamtsystematik unterworfen werden, wie es sich für ein europäisches Zivilgesetzbuch ergeben würde, müsste dies adressiert werden. Derzeit jedoch besteht dazu noch kein Anlass. So ergeben sich bestenfalls kleinere Akzentverschiebungen. Aus funktionalinstitutioneller Perspektive ist zu berücksichtigen, dass der Gerichtshof ggf. Teil des Verfahrens wird, wenn diesem eine auf europäischem Recht fußende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt wird (Art. 267 AEUV). Das muss bei Untersuchung von Dauer und Aufwand des Verfahrens beachtet werden. Bei der Prüfung der Zugänglichkeit des Rechtsschutzes ist darauf zu achten, dass in Einklang mit den Ansprüchen des europäischen Rechts auch Rechtssuchende aus anderen Mitgliedsstaaten die Möglichkeit haben, ohne erhebliche Zugangshürden die Gerichte anzurufen. Die funktional-individuelle Perspektive mag in dieser Hinsicht auch von einem Rechtssuchenden gedacht sein, der aus dem Ausland kommt. Das Leitbild des Zivilrechts, das für die legitimen Erwartungen des Rechtssuchenden in materiell-individueller Hinsicht steht, hat sich durch das europäische Recht geringfügig verschoben. Für die (normativ gedachten) Streitparteien bleibt die Erwartung prägend, dass ihre Interessen getreu einem Referenzsystem koordiniert werden, das eben diesen Interessen und der zukünftigen sozialen Kooperation größtmöglichen Vorrang zuweist. Das europäische Recht hat durch die besondere Stärkung des Verbraucherschutzes in einem bis dahin im deutschen Recht unbekannten Maße die Erwartung in Bezug auf die rechtliche Gleichordnung erhöht. Zwar stellen die europäisch geprägten Normen den Verbraucher in der Regel nur informationell besser. Die Informationspflichten gegenüber Verbrauchern ermöglichen heutzutage aufgrund eines „information overload“ und mangelnden Wettbewerbs nicht einmal mehr eine informiertere Entscheidung.332 Die Regeln lassen sich aber als Versuch werten, die formale Gleichordnung der Vertragsparteien (Unternehmer und Verbraucher) herzustellen. Hier lässt sich vorsichtig feststellen, dass im Leitbild dank des europäischen Einflusses eine leichte Verschiebung vom liberalen Paradigma zum Paradigma personaler Gleichordnung stattgefunden hat. Das Denken in Kategorien der Systemrelevanz, wie es aus materiell-institutioneller Perspektive für die Legitimation eines Urteils zu fordern ist, kann nicht ausblenden, dass die Markt- und Rechtsordnung inzwischen europäi332

Vgl. zum „information overload“ Kroeber-Riel/Weinberg/Groeppel-Klein, Konsumentenverhalten, 2009, S. 421; Jacoby, 10 JCR 432 ff. (1984).

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siert ist. Das bedeutet, dass die Systemerhaltung im wirtschaftsrechtlichen Urteil auch die Grundbedingungen für das Funktionieren des Binnenmarktes einschließen muss. Der Erhalt der marktwirtschaftlichen Ordnung ist demnach um eine Unions-Dimension zu erweitern, erfährt aber keinen grundlegenden Wandel, da sich das Bild der marktwirtschaftlichen Ordnung auf deutscher und europäischer Ebene entspricht.

II. Publifizierung Ein zivilrechtliches Leitbild muss sich in der Frage positionieren, wie weitgehend Bindungen an öffentliche Interessen zugelassen werden. Das Spektrum reicht hier von einem zivilrechtlichen Verständnis, das die Entscheidungsbefugnis des Einzelnen ganz in den Vordergrund rückt und nur in Extremsituationen Grenzen setzt, bis zu einem zivilrechtlichen Verständnis, für das individuelle Freiheit nur noch einer von mehreren Ausgangswerten ist. Hier wurde ein Modell entworfen, in dem nur solche öffentlich-rechtlichen Interessen anerkannt werden können, die systemrelevant für den Erhalt der privatrechtlichen Ordnung bzw. im Wirtschaftsrecht der marktwirtschaftlichen Ordnung sind. Es fragt sich, ob diese relativ strikte Position angesichts immer neuer Publifizierungs-Maßnahmen seitens des Gesetzgebers mit dem Gesetz weiterhin in Einklang zu bringen ist. Ist das System überhaupt noch ein privatrechtliches? Oder ist die Berücksichtigung von Dritt- und öffentlichen Interessen inzwischen Kernbestandteil eines Privatrechts geworden, das nicht mehr unter dem klassischen liberalen Paradigma steht, sondern nur mehr eine Auffang- und Ergänzungsfunktion333 zum öffentlichen Recht hat und ganz im Dienst des Gemeinwohls steht? Hat also die „Publifizierung“ des Privatrechts Rückwirkungen auf das zivilrechtliche Leitbild? Verschieben sich die legitimen Erwartungen und sind dadurch neue Qualitätsmaßstäbe für die Rechtsprechung bedingt? An dieser Frage entscheidet sich, inwiefern ein gutes Urteil öffentliche, überindividuelle Interessen berücksichtigen muss.334

1. Elemente der Gemeinwohlberücksichtigung im Zivilprozess Die klassisch liberale Lehre vom Zivilprozess, die sich auf die individuelle Rechtsdurchsetzung als Prozesszweck festgelegt hat, tut sich außerordentlich schwer mit der Einordnung von Phänomenen wie der Verbandsklage, der zunehmenden Anreizsetzung für private Rechtsdurchsetzung mit öffentlichem 333 Vgl. Schmid, Die Instrumentalisierung des Privatrechts durch die Europäische Union, 2010, S. 57 f. 334 Grundlegend Thiere, Die Wahrung überindividueller Interessen im Zivilprozeß, 1980; Westermann, AcP 208 (2008), 141 ff.

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Hintergrund (etwa im Lauterkeits- und Kartellrecht) oder der durch Allgemeininteressen motivierten Sanktionierung im Privatrecht (z.B. beim Schadensersatz mit präventiver Wirkung). So schreibt Gottwald, nachdem er den Prozesszweck in der individuellen Rechtsdurchsetzung verortet hat, lediglich lapidar: „Der Zivilprozess kann auch dazu dienen, allgemeine öffentliche Interessen zu verfolgen.“335 Das ist als Diktum überraschend prägnant. Möglicherweise existieren noch Schwierigkeiten, das Phänomen dogmatisch einzuordnen.336 Dies wird verständlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, mit welcher Offenheit inzwischen Interessen der Allgemeinheit auf privatrechtliche Weise durchgesetzt werden sollen. Mastronardi etwa schreibt, Recht sei ein Steuerungsmedium, das funktional-final eingesetzt werde und nicht mehr konditional-prozessual.337 Wagner bejaht gleichfalls die Steuerungsaufgabe des Rechts und legt dar, dass in jedem Rechtsgebiet nach den jeweiligen Möglichkeiten des Gebiets solche Steuerungsaufgaben verankert werden können.338 Das Zivilrecht wird hier in einem Instrumentenmix – in Anknüpfung an die Lehre von den wechselseitigen Auffangordnungen – neben dem öffentlichen Recht eingesetzt. Der Unterschied zwischen öffentlichem Recht und Zivilrecht scheint reduziert auf die Frage, ob die Verhaltenssteuerung ex ante – durch Verwaltungsakt – oder ex post – durch zivilgerichtliches Urteil – erfolgt.339 Zivilrecht ist so nichts anderes als die Fortsetzung des öffentlichen Rechts mit anderen Mitteln. Auch ein Kritiker der Publifizierung des Zivilrechts wie Westermann kommt zu dem Schluss, dass „man [die Einbeziehung von Dritt- und Allgemeininteressen] wohl nicht mehr als Ausnahme vom Prinzip der bloßen inter-partes-Wirkung des Schuldverhältnisses bezeichnen“ kann – zu häufig müssten solche Interessen aus verschiedenen Gründen und auf verschiedenen Wegen mittlerweile berücksichtigt werden.340 Er differenziert verschiedene Formen der Einbeziehung von Dritt- und Allgemeinwohlinteressen: von einer Einbeziehung aufgrund Parteiwillens (wie beim Vertrag zu Gunsten Dritter) über die Einbeziehung aufgrund des Inhalts des Rechtsverhältnisses (etwa bei Erfüllung einer Gesamtschuld) bis hin zu Fällen, in denen tatsächlich ein Allgemeininteresse verwirklicht wird. Dies sieht Westermann insbesondere bei AGB-Fällen gegeben.341 Schließlich sieht er zwei Fälle der Gemeinwohl-Verwirklichung besonders kritisch, nämlich die private Rechtsdurchsetzung im

335

Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 2010, § 1 Rn. 8. Vgl. Saenger in: Hk-ZPO, 2011, Einführung Rn. 4; Brehm in: Stein/Jonas, ZPO, 2003, Vor § 1 Rn. 11. 337 Mastronardi in: Meier-Schatz, Die Zukunft des Rechts, 1999, S. 163 ff. 338 Wagner, AcP 206 (2006), 352, 360, 434 ff. 339 Vgl. Wagner, AcP 206 (2006), 352, 438; Engel, JZ 1995, 213, 214 f. 340 Westermann, AcP 208 (2008), 141, 180. 341 Vgl. Westermann, AcP 208 (2008), 141, 168 ff. 336

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Kartellrecht342 und die denkbare, aber bislang wohl nicht praxisrelevante Konstellation der Rettung einer Gesellschaft gegen den Willen der zerstrittenen Gesellschafter.343 Während der letztgenannte Fall eher theoretisch ist und die – nach Westermann richtige – Lösung eine Einbeziehung der Allgemeininteressen versagen müsste, ist der Fall der privaten Rechtsdurchsetzung im Kartellrecht eher ein solcher, in dem private Kläger für die Durchsetzung des Gemeinwohls eingebunden werden. Allerdings ist die durch das Kartellrecht geschützte Wettbewerbsfreiheit gerade ein systemrelevantes Interesse, berufen sich doch alle hier zitierten Ansichten auf die Sicherung der Handlungsfreiheit und die Bekämpfung von Marktmacht als wichtige Elemente einer privatrechtlichen Ordnung. In diesen Fällen geht es um den „ordre public économique“, wie der von Westermann zitierte Esser diesen systemkonformen Rahmen nannte.344 Die Tendenz ist aber im materiellen Recht zutreffend erkannt, auch wenn andere Beispiele – Gleichstellung und Verbraucherschutz – erheblicheren Begründungsaufwand verursachen, wenn man sie noch als systemrelevant kennzeichnen will. Die bislang vor allem materiell-rechtlich betrachtete Publifizierung findet im Verfahrensrecht ihre Entsprechung. Elemente der kollektiven Rechtsdurchsetzung und Anreize zugunsten einer Wahrnehmung von Interessen, die nicht zwingend Individualinteressen sind, haben an Bedeutung gewonnen. Konkrete Beispiele finden sich etwa in der Verbandsklage nach UWG, GWB und UKlaG, bei der Verbände die Befugnis haben, Rechtsverletzungen durchzusetzen, bei denen den Mitgliedern der Verbände oder dem Verband selbst kein individueller Schaden entstanden ist. In diesen Bereich fallen auch Gewinnabschöpfungsansprüche von Verbänden oder die Sammelklage von Verbänden. Weitere Elemente einer Kollektivierung sind Gruppenklagen und Musterverfahren. Bei Gruppenklagen werden gleichartige Verfahren zusammengefasst, sodass sich die Beurteilung von der individuellen Interessensverfolgung löst und die Konfliktschlichtung für eine Gruppe von Interessenten angestrebt wird. Beim Musterverfahren, das in Deutschland für aktienrechtliche Streitigkeiten nach dem KapMuG normiert ist, wird anhand einer oder weniger Klagen über Streitpunkte in gleichartig gelagerten Konflikten entschieden.345 Auch in Bezug auf die Verfahrensfinanzierung und bei der Sanktionierung 342

Vgl. Westermann, AcP 208 (2008), 141, 173 ff. Vgl. Westermann, AcP 208 (2008), 141, 178 ff. 344 Esser, ZHR 135 (1971), 320, 335. Esser spricht sich in Anknüpfung an den französischen Begriff für ein Verständnis von privatrechtsimmanenten Schranken aus, die Rechtskonformität und Rechtsethos vereinen. Den Begriff „gute Sitten“, den Esser vorzieht, definiert er als „Vereinbarkeit mit den Voraussetzungen, von denen her Privatautonomie ihre Aufgabe in unserer Wirtschaftsordnung erfüllen kann.“ (S. 336) Das entspricht dem hier vorgeschlagenen Verständnis von „Systemrelevanz“. 345 Siehe dazu Kapitel 5, B.II.3. 343

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(Strafschadensersatz) deuten sich Entwicklungen an, die verfahrensrechtlich eine Geltendmachung öffentlicher Interessen absichern.

2. Dogmatische Konsequenzen Eva Kocher hat in ihrer Habilitationsschrift „Funktionen der Rechtsprechung“ aufgrund der Tendenz zur Geltendmachung allgemeiner Interessen im Zivilverfahren und der materiellen Entsprechungen, die sie als „regulierendes Privatrecht“ zusammenfasst, für das Verbraucherprozessrecht die hergebrachten Prozesszwecke in Frage gestellt.346 Als Prozesszweck bevorzugt sie die Ausrichtung auf eine Konfliktlösung durch Rechtsprechung, bei der dezidiert soziale und kollektive Aspekte von Konflikten thematisiert werden.347 Um diese Dimension der Konflikte handhabbar zu machen, schlägt sie vor, im Zivilverfahren überindividuelle Interessen zu isolieren und in den Prozess eigenständig einzuführen, indem ein „Kollektivgut verrechtlichten Verbraucherschutzes“ anerkannt wird.348 Würden, wie von Kocher für das Verbraucherrecht vorgeschlagen, solche Kollektivgüter im Zivilprozess formal anerkannt, würde sich der Zivilprozess endgültig von seiner ursprünglichen Bedeutung als Forum individueller Auseinandersetzungen lösen. Für eine solche Aufwertung allgemeiner Interessen besteht in der Lehre von der Legitimation des Urteils keine Notwendigkeit. Das hier vorgestellte Schema der vierfachen Legitimation von Urteilen kann die Entwicklungen rezipieren, ohne auf grundstürzende dogmatische Neuerungen angewiesen zu sein: Für die funktionale Legitimation gerichtlicher Konfliktschlichtung ist lediglich zu beachten, dass ggf. auf ein Kollektiv abzustellen ist (z.B. den Verbraucherverband), wenn die Interessendurchsetzung zu würdigen ist. Die hier sog. funktional-individuelle Perspektive kann im Einzelfall also eine funktional-kollektive Perspektive sein. Damit ändert sich in derartigen Fällen der Bezugspunkt, nicht aber die Grundidee der Legitimation. Im funktional-institutionellen Qualitätsraster ist die kollektive Geltendmachung in ähnlicher Weise integriert. Ob ein Urteil geeignet ist, künftige Rechtsstreitigkeiten zu verhindern, ob die Zugänglichkeit des Rechtssystems gewahrt bleibt, und ob Dauer und Aufwand in angemessenem Verhältnis stehen, ist gegebenenfalls für einen weiteren Adressatenkreis zu berücksichtigen. Damit spielen die Kollektivklageinstrumente der institutionellen Perspektive in die Hände, ja, machen die institutionellen Überlegungen im konkreten Fall sogar greifbarer, weil sie von einer Gruppe dezidiert ausformuliert werden. Wenn nicht nur ein einzelner 346 347 348

Kocher, Funktionen der Rechtsprechung, 2007, S. 310 ff., 476 ff. Kocher, Funktionen der Rechtsprechung, 2007, S. 489. Kocher, Funktionen der Rechtsprechung, 2007, S. 485.

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Verbraucher klagt, sondern eine Gruppe von Verbrauchern, wird sich das Interesse an der Gesamtregelung der Materie einfacher fassen lassen als bei einem möglicherweise speziellen Einzelfall. Für die materielle Legitimation des Urteils ist zu fragen, ob die Publifizierung inzwischen ein solches Ausmaß angenommen hat, dass sie auf das Leitbild zurückwirkt und systemkonstituierend wirkt. Im Grundsatz erzielt der Staat Steuerungseffekte über Gesetzgebung und Verwaltung, nicht über die dem Einzelfall verpflichtete Judikatur. Eine Verabsolutierung dieser Einschätzung würde jedoch der Komplexität des staatlichen Institutionenaufbaus nicht gerecht. Sie würde auch unterschätzen, welche faktischen Wirkungen von Urteilen ausgehen können. Aus diesem „Sein“ ist jedoch kein normatives „Sollen“ abzuleiten. Die Frage, die sich mit Blick auf die Publifizierung des Zivilrechts, seine Indienstnahme durch den Gesetzgeber stellt, für die Legitimation von Rechtsprechung stellt, bleibt damit eine rechtspolitische Frage: Welche öffentlichen Interessen dürfen in die zivilrechtliche Gesetzgebung Eingang finden? Der Vorwurf liberaler Dogmatiker ist, dass der Staat das Privatrecht benutzt, um Regelungsziele durchzusetzen, die nicht den Parteiinteressen entsprechen.349 Die Privatautonomie werde zugunsten heteronomer Regelungsziele abgewertet und privaten Klägern würden subjektive Rechte zugewiesen, deren Verfolgung ein politisches Programm durchsetzen soll.350 Im hier entwickelten Modell ist die Frage des Gemeinwohlinteresses in der materiell-individuellen Perspektive irrelevant: Der Kläger verfolgt seine Interessen und will auch nur diese durchgesetzt wissen. Ob es sich um einen individuellen Kläger handelt, oder ob ein Kollektiv klagt, macht dabei im Prinzip keinen Unterschied. Selbst wenn der Kläger durch entsprechende Anreizsetzung dazu verleitet wird, Dritt- oder Allgemeininteressen durchzusetzen, wird er ein Urteil nicht dann als gut empfinden, wenn diese verwirklicht werden, ohne dass sein individueller Anspruch durchgesetzt wird. Für die materiell-institutionelle Perspektive ist beim derzeitigen Rechtsstand zu bemerken, dass das Modell zum einen in der Lage ist, bestimmte Entwicklungen zu rezipieren, zum anderen aber gerade auch einen Damm gegen eine Überflutung mit Gemeinwohlinteressen bildet: Gemeinwohlinteressen können bereits jetzt in das materiell-institutionelle Legitimationsmuster integriert werden, soweit sie systemrelevant für den Erhalt der Privatrechtsordnung sind. Wie gesehen muss immer wieder neu ausgelotet werden, welche Regelungen und Urteile erforderlich sind, um die Privatrechtsordnung funkti349

Vgl. Picker, JZ 2003, 540; Säcker, ZeuP 2006, 1. Diesen Ansatz verfolgt die Europäische Kommission mit der Stärkung der privaten Rechtsdurchsetzung im Kartellrecht, vgl. dazu Westermann, AcP 208 (2008), 141, 173 ff.; Glöckner, WRP 2007, 490 ff.; Mackenrodt in: Mackenrodt/Conde/Enchelmaier, Abuse of Dominant Position, 2008, S. 165, 168; für die Entwürfe zum Europäischen Privatrecht siehe kritisch nur Eidenmüller/Faust/Grigoleit/Jansen/Wagner/Zimmermann, JZ 2008, 529 ff. 350

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onieren zu lassen. Mit einigem Begründungsaufwand ließe sich vertreten, dass die heftig kritisierten Gleichstellungsgebote erforderlich sind, um bestimmte Personen überhaupt in die Lage zu versetzen, am Wirtschaftsverkehr teilzunehmen. Dass diese Voraussetzungen im Fluss sind, ist ein natürliches Phänomen, handelt es sich doch um wandelbare Überzeugungen in der Gesellschaft, die sich im Evolutionsprozess der Wirtschaftsordnung manifestieren und über Richter Eingang in den Prozess finden. Diesen Zusammenhang illustriert die Rechtsprechung zur Haftung in finanzrechtlichen Fällen nach der Finanzkrise 2008 und den nachfolgenden Erschütterungen. Die Rechtsprechung wurde hier als plötzlich bankenkritischer und verbraucherfreundlicher wahrgenommen, es kam mitunter zu spektakulären Urteilen, die wenige Jahre zuvor so niemand erwartet hätte. Beispielhaft sei die Rechtsprechung zu Aufklärungspflichten von Bankberatern bei Vermittlung von Finanzprodukten gegen verdeckte Provision351 zu nennen sowie die Haftung eines Prominenten für Aussagen in einem Börsenprospekt.352 Mit diesen Urteilen wurde zum Teil explizit die bis dahin herrschende Meinung aufgegeben. Sie lassen sich aber auch so interpretieren, dass die Gerichte die Strukturen innovativ weiterformten. Indem sie das taten, erhöhten sie die materiell-institutionelle Legitimation ihrer Urteile, da sich inzwischen im Diskurs über die Voraussetzungen der Marktwirtschaft eine Entwicklung ergeben hatte: Eine stärkere Haftung im Finanzsektor wurde als Funktionsvoraussetzung der Marktwirtschaft entdeckt. Das Modell materiell-institutioneller Legitimation kann solche Entwicklungen integrieren, da es diskursoffen ist. Diese Integration von Gemeinwohlinteressen als systemrelevant für die Privatrechtsordnung deckt freilich nicht alle Fälle ab. Eine Positionierung gegenüber den übrigen Konstellationen der Publifizierung ist daher unausweichlich: Hat der Gesetzgeber mittlerweile so viele Allgemeininteressen in die privatrechtliche Durchsetzung geschoben, dass eine Beschränkung auf systemrelevante Gemeinwohlinteressen zu eng ist? Dies ist beim derzeitigen Stand der Rechtsetzung zu verneinen. Der Verfall staatlicher Steuerungsmöglichkeiten sollte nicht durch solche Maßnahmen aufgefangen werden, die dem Privaten die Durchsetzung des Gemeinwohls zuweisen. Das Zivilrecht bietet vielmehr die Chance, neue Freiheitsräume entstehen zu lassen, in denen sich der Steuerungseffekt aus dem Zusammenwirken der Einzelnen ergibt. Zivilgerichtliche Konfliktschlichtung bleibt damit in erster Linie der Auflösung von Spannungen vorbehalten, die im privaten Rechtsverkehr entstehen. Wenn dabei reflexartig öffentliche Interessen mitgeschützt werden, stört das nicht. Solche öffentlichen Interessen dürfen aber nicht überwiegen. Ein genuines Klageinteresse muss vom Kläger ausgehen, und das nicht nur, weil er sich über Anwaltsgebühren möglicherweise einen fi351 352

BGH, 27.9.2011, Az. XI ZR 182/10, NJW 2012, 66 ff. BGH, 17.11.2011, Az. III ZR 103/10, NJW 2012, 758 ff.

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nanziellen Vorteil aus seiner Dienstbarkeit gegenüber dem Gemeinwesen verspricht. Die Praxis der sog. „Abmahnanwälte“, die sich auf Urheberrecht und UWG stützen, um kleinlich Rechtsverstöße abzumahnen, an deren Beseitigung sie ein dem Kostenanspruch gegenüber untergeordnetes Interesse haben, ist abschreckendes Beispiel für eine fehlgeleitete Inzentivierung. Die kritische Reaktion von Rechtsprechung und Gesetzgeber auf diese Verhaltensweisen zeigt, dass hier offenbar unter dem Deckmantel der Durchsetzung eines Allgemeininteresses Private zu weit gegangen sind. Anders gewendet: Diese Vorgehensweise hatte keine materiell-institutionelle Legitimation (und eine materiell-individuelle schon gar nicht), sodass ihre Unterbindung systemkonsequent war. Wenn seitens der Rechtswissenschaft der enge Begriff der Systemrelevanz weiterhin als wesentliches Kriterium benannt wird, manifestiert sich darin ein kritisches Kontrollverständnis. Die Wissenschaft ist nämlich aufgerufen, wie es Franz Böhm formuliert hat, der „Gefahr der Systemverwahrlosung“ entgegenzutreten.353 Diese Systemverwahrlosung ist noch nicht derart weit gegangen, dass schon von einem Systemwandel gesprochen werden müsste. Dass es nicht so weit gekommen ist, ist aber gerade auch Verdienst derjenigen Rechtswissenschaftler, die gegen entsprechende Systembrüche – etwa bei Verbraucherschutz und AGG – vernehmbar ihre Stimmen erhoben haben. Sie haben dem Gesetzgeber aufgezeigt, welche systematischen Grundwertungen durch neue Regeln teilweise verletzt werden oder würden, und sie haben damit zugleich den Geltungsanspruch des hier angelegten Modells der Systemrelevanz bestärkt. Die Publifizierung führt somit bislang nicht zu einer Änderung des Modells der materiellen Wertordnung.

III. Ökonomisierung Eine dritte Tendenz, die sich in den vergangenen Jahren so massiv in Rechtswissenschaft und -praxis durchgesetzt hat, dass sich die Frage ihrer Einbindung in das Legitimationsschema stellt, ist die ökonomische Analyse des Rechts. Vor allem im Wirtschaftsrecht, aber nicht nur in diesem Bereich, wird analysiert, welche Anreize von rechtlichen Regelungen ausgehen und welche Effizienzgewinne oder -verluste bestimmte Normen zeitigen. Auf der Basis solcher Analysen werden die Steuerungswirkungen des Rechts erfasst. Zu fragen ist aber, ob es eine Legitimationsverschiebung in der Rechtsprechung dahingehend gegeben hat, dass ökonomische Erwägungen heute Kennzeichen guter Rechtsprechung sind. Dies ist zu bejahen – aber nur innerhalb des hier 353 Böhm, ORDO XVII (1952), 75, 151. Vgl. Mestmäcker in: Riesenhuber, Privatrechtsgesellschaft, 2007, S. 35, 36; für das europäische Recht ähnlich Herresthal in: FS Canaris, 2007, Band II, S. 1107, 1132.

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vorgelegten Legitimationsmodells. Ökonomische Aspekte sind nämlich kein eigenes normatives Programm, sondern sind in die rechtliche Begründung eingebunden.

1. Normatives Programm der Rechtsprechung Die Wirtschaftswissenschaften haben in den vergangenen Jahrzehnten erhebliche Fortschritte bei der ökonomischen Analyse des Rechts gemacht. Neue, zum Teil empirische Forschungsansätze, die bessere Berücksichtigung der eingeschränkten Rationalität und verhaltenswissenschaftliche Ansätze haben diese Fortschritte ermöglicht. Die in den USA im Vordringen begriffene sog. Post-Chicago-School, eine Denkrichtung der wirtschaftspolitischen Forschung, löst sich von den eindeutigen und oft zu einfachen Doktrinen der liberalen Chicago-School und setzt auf eine tiefgreifende Analyse von Auswirkungen im jeweiligen Einzelfall. So werden insbesondere die Steuerungswirkungen des Rechts offengelegt. Zugleich ist – auch in Deutschland – die ökonomische Analyse des Rechts in den Methodenkanon integriert worden. Nach den eher vereinzelten Bemühungen zum Ende des 20. Jahrhunderts ist nunmehr die ökonomische Analyse als Bestandteil der Forschung anerkannt.354 Möglicherweise hat die gestiegene Zahl von LL.M.-Abschlüssen deutscher Juristen diese Entwicklung beflügelt, sind doch die USA und England bevorzugte Ziele junger Juristen, die dort dann zwangsläufig mit ökonomischen Lehren konfrontiert werden. Effizienz oder Wohlfahrtssteigerung sind jedoch, entgegen einigen Vertretern der ökonomischen Analyse, wie dargelegt, weder Ziel noch Legitimationsgrund rechtlicher Regelungen und Entscheidungen. Die Ökonomisierung als normatives Programm ist abzulehnen – die Berücksichtigung ökonomischer Erkenntnisse in Gesetzgebung und Rechtsprechung steht unter dem Primat des Rechts: Eine Legitimation aus Effizienzerwägungen erhalten Urteile nicht. Dies würde voraussetzen, den ökonomischen Standard zu verabsolutieren und das Wirtschaftsrecht einseitig auf die Erzielung von Wohlfahrtsgewinnen auszurichten.355 Eine solche Einseitigkeit ist aber weder von der Intention des Gesetzgebers gedeckt, noch aus den Normen heraus zu lesen. Das von der rechtswissenschaftlichen Dogmatik entwickelte Leitbild geht ebenfalls weit über eine rein ökonomische Betrachtung hinaus. In der Judikative geht es um Konfliktschlichtung, nicht um präventive Steuerung; ihr Anliegen ist in erster Linie die rationale Überprüfung ex post.356 354 Zu einem anderen Befund kommt noch Lieth, Die ökonomische Analyse des Rechts, 2007, S. 16. 355 So aber Ott in: Ott/Schäfer, Allokationseffizienz in der Rechtsordnung, 1989, S. 25 ff.; dagegen Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2005, S. 466, 474; Stürner, AcP 210 (2010), 105, 130 f., 155. 356 Vgl. Wagner, AcP 206 (2006), 352, 425.

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In seiner Abrechnung mit dem großen US-amerikanischen Advokaten der ökonomischen Theorie, Richard Posner, hat Ernst-Joachim Mestmäcker den zentralen Aspekt der kritischen Ökonomie-Rezeption für das deutsche Recht in der „rule of law“ verortet: Ökonomische Kriterien können nur innerhalb eines rechtlichen Rahmens, einer Wirtschaftsordnung, verwirklicht, aber nicht dem Recht übergeordnet werden.357 Effizienz als ein „wichtiger juristischer Gerechtigkeitsmaßstab“358 lässt sich demnach nur eingebettet im rechtlichen Rahmen suchen. Erster Maßstab des Rechts bleibt die Verwirklichung der verfassungsmäßigen Wertordnung. In dieser ist für die Wirtschaftsordnung, wie gesehen, nicht das Kriterium der Wohlstandsmehrung an erste Stelle gesetzt, sondern sowohl im europäischen als auch im deutschen Recht die freie Entfaltung der rechtlich gleichgeordneten Individuen. Wie diese ihre Entscheidungsfreiheit einsetzen, ist ihnen überlassen. Seine normative Kraft bezieht das Wirtschaftsrecht aus der Freiheitsverwirklichung, nicht aus der Effizienz.359

2. Raum für ökonomische Folgenorientierung Der Gesetzgeber hat bei der Wende zum Privatrecht Effizienzüberlegungen zumindest auch als gesetzgeberisches Ziel angegeben. Es gibt in den Materialien zur Privatisierung und Deregulierung sowie zur Vereinfachung der Kooperation zwischen öffentlicher Hand und Privaten zahlreiche Hinweise auf diese gesetzgeberische Intention, sowohl seitens des europäischen Verordnungsgebers als auch des nationalen Gesetzgebers. Impliziert ist, dass in der Rechtsprechung Raum für eine effizienzorientierte Überprüfung der Fälle sein sollte. Dafür spricht zunächst der enge Zusammenhang zwischen der marktwirtschaftlichen Ordnung und der privatrechtlichen Verfasstheit der Wirtschaft: Der Zusammenhang von Recht und Ökonomie drängt sich im Wirtschaftsrecht geradezu auf.360 In dem vorgelegten Legitimationsmodell ist großer Raum für ökonomische Erwägungen vorgesehen. Wenn Effizienz kein Legitimationsgrund für Urteile ist, so kann ein gutes Urteil dennoch wichtige Aspekte berücksichtigen. Zunächst ist festzuhalten, dass Urteile eine fehlerfreie Sachverhaltserfassung, eine nachvollziehbare Begründung und eine eindeutige Entscheidung in der Sache aufweisen sollen. Schon dadurch werden viele ökonomische As357

Mestmäcker, A Legal Theory without Law, 2007, S. 40 und passim; zustimmend Ackermann, JZ 2008, 139 f. Ackermann weist darauf hin, dass Posner inzwischen selbst davon abgerückt ist, Wohlfahrtsmaximierung als normatives Ziel vorzugeben. 358 Stober, Deregulierung, 1990, S. 11. 359 Vgl. Ackermann, JZ 2008, 139, 140. 360 Früh schon Lehmann, Bürgerliches Recht und Handelsrecht, 1983, S. 20. Vgl. auch Grigoleit in: Jestaedt/Lepsius, Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S. 51, 64 f.

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pekte in wirtschaftsrechtlichen Streitigkeiten berücksichtigt werden können – schließlich sind die Tatbestandsmerkmale häufig abhängig von ökonomischen Zusammenhängen. Das gilt erst recht für die Interessen, um deren Durchsetzung es letztlich – wenn auch im Gewand subjektiver Rechte – geht. Ein Verstoß gegen ökonomische Denkgesetze oder Gegebenheiten ist ebenso wenig hinnehmbar wie ein Verstoß gegen Denkgesetze der Logik oder des Rechts; ein Urteil, das die wirtschaftlichen Interessen einer Partei nicht erkennt, würde einem hohen qualitativen Anspruch nicht genügen. Eine nachhaltige Konfliktlösung für die Parteien (funktional-individuelle Legitimation) macht es erforderlich, direkte ökonomische Folgen für die Parteien einzubeziehen.361 Andernfalls bricht der Konflikt bei nächster Gelegenheit neuerlich aus. Das gilt auch für die institutionelle Funktion des Urteils, ähnlich gelagerte Konfliktsituationen in der Gesellschaft zu befrieden. Nur eine ökonomische Analyse, die über den Einzelfall hinausgeht und z.B. die Branchenbedeutung der Rechtsprechung einbezieht, vermag schwelende oder künftige Streitigkeiten zu verhindern. Vertretbar erscheint darüber hinaus, Effizienz-Aspekte als Gesichtspunkte des wirtschaftsprivatrechtlichen Leitbilds anzunehmen, dem sich die Parteien unterwerfen (materiell-individuelle Legitimation). Die Parteierwartung an das Privatrecht richtet sich unter anderem darauf, dass die rechtlichen Regeln eine effiziente Koordination der Interessen ermöglichen. Besondere Bedeutung haben ökonomische Argumente im Rahmen der materiell-institutionellen Legitimation des Urteils. Ein gutes Urteil muss, wie erläutert, die systemrelevanten Grundlagen der Privatrechtsordnung schützen, was im Bereich des Wirtschaftsrechts bedeutet, dass das Funktionieren des Marktes gesichert werden muss. Was dazu erforderlich ist, ist in erster Linie aus ökonomischer Rationalität heraus zu bestimmen, nämlich unter Rückgriff auf die Überlegungen zum Marktversagen. Ein gutes Urteil berücksichtigt also, welche Auswirkungen die Entscheidung hat und ob im konkreten Fall eine Kompensation zugunsten des Funktionierens des Marktes erforderlich ist. Nicht zuletzt spielen ökonomische Aspekte für das Verfahren selbst eine Rolle. An dieses ist der Anspruch gestellt, dass es zügig abgeschlossen wird und der Aufwand nicht unangemessen zur Bedeutung der Sache ist. Die Effizienz richterlichen Entscheidens und gerichtlicher Organisation ist damit ebenfalls Bestandteil eines guten Urteils.

361

Vgl. aus prozessualer Sicht schon Rimmelspacher, Zur Prüfung von Amts wegen im Zivilprozess, 1966.

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Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

3. Praktikabilität der ökonomischen Analyse im Einzelfall Bei so vielen Anknüpfungspunkten an die Ökonomie für ein gutes Urteil stellt sich die Frage der Praktikabilität. Wie kann ein Gericht überhaupt ökonomische Analyse in der Praxis betreiben? Die Praktikabilität einer ökonomischen Analyse im gerichtlichen Einzelfall ist umstritten.362 Einige Vertreter der ökonomischen Analyse sehen in den Gerichten – ähnlich wie im US-Recht363 – die wichtigsten Adressaten einer ökonomischen Folgenorientierung im Recht.364 Eidenmüller steht einer gerichtlichen Anwendung des Effizienzkonzepts aus zwei Gründen skeptisch gegenüber:365 Zum einen erfordert seiner Ansicht nach das Effizienz-Konzept häufig Wertentscheidungen und Zielbestimmungen, die dem Gesetzgeber überlassen sein müssen. Zum anderen verlange die ökonomische Analyse häufig komplexe empirische Erhebungen, die im Rahmen eines Gerichtsverfahrens nicht zu leisten seien. Die US-amerikanische Rechtsfindungspraxis unterscheide sich von der des deutschen Richters. „Policy considerations“ hätten im richterrechtlich geprägten US-System ihren selbstverständlichen Platz, während in der deutschen Rechtsprechung eine striktere Gesetzesauslegung vorherrschend sei.366 Er weist die Verantwortung für eine ökonomische Analyse daher primär dem Gesetzgeber, nicht der Justiz zu.367 Damit kommt er dem traditionellen Selbstverständnis deutscher Richter entgegen, die sich grundsätzlich nicht als „Sozialingenieure“ verstehen und außerrechtlichen Wertungen oder Wirkungsanalysen ihrer Entscheidungen kritisch gegenüberstehen.368 Hinzu kommt eine erhebliche Unsicherheit im Umgang mit ökonomischen Aspekten, zumal wirtschaftswissenschaftliche Kenntnisse in der deutschen Juristenausbildung eine völlig untergeordnete Rolle spielen. Eine ökonomische Folgenorientierung im allgemeinen Wirtschaftsrecht wird vor diesem Hintergrund zumindest in der Praxis auf Schwierigkeiten stoßen. Die Reserviertheit eines wichtigen Vertreters der ökonomischen Analyse in Deutschland gegenüber ihrer Praktikabilität im Gerichtsverfahren ist eine wichtige Mahnung. 362 Vgl. Kirchner in: Hof/Schulte, Wirkungsforschung zum Recht III, 2001, S. 33 ff.; Coles, Folgenorientierung im richterlichen Entscheidungsprozess, 1991, m.w.N. Dazu auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2005, S. 393 ff. m.w.N.; Lieth, Die ökonomische Analyse des Rechts, 2007, S. 18 ff. Kritisch zur Folgenberücksichtigung Larenz/Wolf, BGB AT, 2004, § 4 Rn. 20 ff. 363 Dazu Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2005, S. 404 ff. 364 Vgl. Grundmann, RabelsZ 61 (1997), 423, 441 ff. 365 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2005, S. 393 ff. 366 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2005, S. 404 ff., 409. 367 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2005, S. 438 ff. 368 Fleischer/Zimmer in: Fleischer/Zimmer, Effizienz als Regelungsziel, 2008, S. 9, 22 f. Zur praktischen Bedeutung der ökonomischen Analyse in Deutschland vgl. Schäfer in: Schäfer/Ott, Allokationseffizienz in der Rechtsordnung, 1989, 1 ff.

E. Zusammenfassung

291

Allerdings besteht kein Anlass, die wirtschaftliche Analyse gänzlich auszuschließen. Gerade in Fällen, in denen das Gesetz keine eindeutige Antwort vorgibt, in den sog. „hard cases“369, können wirtschaftliche Erwägungen von großer Bedeutung sein, da sich in solchen Fällen die deutsche Spruchpraxis ohnehin der Rechtsprechungstätigkeit amerikanischer case law Richter annähern muss.370 Selbst innerhalb der klassischen Methodenlehre wäre für ökonomische Argumente jedenfalls Platz, insbesondere bei teleologischen Überlegungen.371 Drei Punkte sind zum Einwand der mangelnden Praktikabilität der ökonomischen Analyse anzumerken: Erstens findet eine Berücksichtigung ökonomischer Erwägungen schon weitgehend statt, wenn die Interessen der Parteien im Wirtschaftsrecht vom Gericht erfragt und gewichtet werden. Möglicherweise wird in diesem Vorgehen nicht immer die Komplexität ökonometrischer Modellberechnungen erreicht, der Ansatz zu einer ökonomischen Analyse ist damit aber gegeben. Zweitens ist die Einbindung der Ökonomie, wie hier dargestellt, keine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung, sondern Qualitätskriterium. Es wird also nicht erwartet, dass jedes Urteil von ökonomischer Expertise durchdrungen ist, aber ein gutes Urteil zeichnet sich dadurch eben aus. Unmöglich ist es für ein engagiertes Richtergremium nicht, auf ökonomische Expertise zurückzugreifen, der Qualitätsstandard ist also durchaus realistisch. Drittens kann die Konsequenz aus (tatsächlich vorhandenen) praktischen Schwierigkeiten nicht der Verzicht auf ein normatives Konzept bedeuten. Vielmehr ist der Herausforderung der Praxis zu begegnen, etwa durch entsprechende Fortbildungen, die Einbeziehung von Ökonomen in wichtigen Rechtssachen oder die Bereitstellung von Hilfsmitteln, etwa Checklisten zur ökonomischen Evaluation eines Falles. Eidenmüller weist selbst darauf hin, dass der Aufstieg der ökonomischen Analyse in den USA nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass wichtige Richterpersönlichkeiten sich damit befassten und zahlreiche Richter Fortbildungskurse besuchten.372 Es gibt keinen Grund, warum dies nicht auch in Deutschland und auf EU-Ebene möglich sein sollte.

E. Zusammenfassung Um die Qualität einzelner Urteile zu messen, sind Qualitätskriterien erforderlich. Ein solcher Maßstab geht über das grundlegende Rechtmäßigkeitserfordernis hinaus. Eine qualitätsgeleitete Analyse ist aus mehreren Gründen gebo369

Dazu schon Kapitel 2, B.V. So auch Lieth, Die ökonomische Analyse des Rechts, 2007, S. 20. 371 Vgl. Lieth, Die ökonomische Analyse des Rechts, 2007, S. 96 ff., 156. 372 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2005, S. 405. Als bedeutende Richterpersönlichkeiten in diesem Sinne nennt er Richard A. Posner, Frank Easterbrook, Stephen G. Breyer, Douglas H. Ginsburg. 370

292

Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

ten: Die Bewertung einzelner Urteile (etwa in Form von Urteilsanmerkungen) bedarf eines wissenschaftlichen Maßstabs. Eine Verbesserung von Rechtsprechung zugunsten der Rechtssuchenden kann aus solchen Analysen Anregungen ziehen. Schließlich ist nur so zu ermessen, ob das Programm einer Stärkung der privaten Rechtsdurchsetzung überhaupt sinnvoll ist. Eine Kanonisierung von Qualitätskriterien hat es bislang nicht gegeben, auch wenn Ansätze zu einer qualitätsgeleiteten Urteilskritik in verschiedenen Bereichen vorliegen. Ausgangspunkt ist, dass Urteile überhaupt der Kritik unterliegen können. In Ausbildungs- und Rechtsprechungspraxis sind Qualitätsmaßstäbe inhaltlicher Art unterentwickelt, rechtstheoretisch lassen sich aus verschiedenen Ansätzen Impulse generieren. Das hier entwickelte Modell knüpft an einer legitimationsbezogenen Analyse der Institution Urteil an. Das Urteil steht dabei mit Recht im Mittelpunkt, da es weiterhin die fokale Konkretisierung von Recht im Einzelfall darstellt. Seine Besonderheit ist die Legitimation, die mit dem Urteil verbunden ist: es hat einen inneren Geltungswert, der durch andere Dokumente oder Entscheidungen nicht erreicht wird. Hier muss die Urteilsanalyse ansetzen. Entwickelt wurde dazu ein Modell der vierfachen Legitimation von Urteilen. Dabei wird unterschieden zwischen der Funktion des Urteils als Institution im Verfahrensrecht einerseits und seinem materiellen Aussagegehalt andererseits. Die Legitimation des Urteils knüpft nämlich sowohl an den besonderen Wirkungen an, mit denen das Urteil seitens der Rechtsordnung versehen ist (funktional), als auch an seinem intrinsischen Gehalt, nämlich der Feststellung des Rechts (materiell). Diese Legitimationspfeiler orientieren sich an den Prozesszwecktheorien. Deren Monofinalität ist allerdings zugunsten einer pluralisierten Sicht zu überwinden. Eine Besonderheit der Legitimation des Urteils im Zivilprozess ist, dass dieses nicht nur seitens des Gemeinwesens (also institutionell) legitimiert ist, sondern auch durch die Wahl des Zivilrechtswegs durch die Parteien (individuell). Da die Parteien alternative Möglichkeiten hätten, ihre Rechte durchzusetzen, und da sie während des gesamten Prozesses die Verfügungsherrschaft über den Streitgegenstand nicht verlieren, ist das Urteil durch ihre Entscheidung legitimiert. Daraus folgt das Modell der vierfachen Legitimation des Zivilurteils: funktional-individuell, funktional-institutionell, materiell-individuell und materiell-institutionell. Diesen Aspekten ist jeweils ein überragendes Kriterium zugeordnet, dessen Erreichung die Qualität eines Urteils ausmacht: die Konfliktschlichtung als funktional-individuelles Kriterium, die Befriedung des Gemeinwesens als funktional-institutionelles Kriterium, die Durchsetzung der subjektiven Rechte aus materiell-individueller Sicht und die Durchsetzung der Wertordnung aus materiell-institutioneller Perspektive. Diese Kriterien wurden ausgestaltet und konkretisiert, wobei anzuerkennen ist, dass Prämissen und Ergebnisse nicht zwingend geteilt werden müssen. Was genau ein gu-

293

E. Zusammenfassung

tes Urteil ausmacht, ist immer wieder im Diskurs zu bestimmen. Die Konkretisierung stellt damit insbesondere eine Diskussionsgrundlage dar. Demnach sind – nach der Rechtmäßigkeit – folgende Kriterien für die Urteilsanalyse zu prüfen: Legitimation

Frage

Kurzformel

funktional-individuell (Konfliktschlichtung)

War das Verfahren, das zu dem Urteil geführt hat, fair?

faires Verfahren

Entscheidet das Gericht eindeutig den Streit der Parteien?

Entscheidung in der Sache

Ist eine Durchsetzung des Urteils möglich und im Interesse der Partei?

Durchsetzbarkeit

Erfolgt die Konfliktschlichtung zügig und mit vertretbarem Aufwand?

Dauer und Aufwand

Ist das Urteil geeignet, die Entstehung weiterer Rechtsstreitigkeiten zu verhindern?

Präventivfunktion

Wird durch das Urteil die Zugänglichkeit der gerichtlichen Konfliktschlichtung gewahrt?

Zugänglichkeit

Stehen Dauer und Aufwand der Urteilsgewinnung in einem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung des Streits?

Effizienz der Justiz

funktionalinstitutionell (Befriedung)

materiell-individuell (Durchsetzung subjektiver Rechte)

materiellinstitutionell (Wertordnung)

Basiert die Entscheidung auf einer Interessenanalyse Auseinandersetzung mit den relevanten Interessen der Parteien? Entspricht das Urteil dem materiellen Leitbild des Privatrechts?

Leitbildbindung

Schützt das Urteil die systemrelevanten Grundlagen der Privatrechtsordnung?

Systemrelevanz

Von besonderer Bedeutung sind die hier entwickelten materiellen Kriterien der Leitbildbindung und Systemrelevanz. Es ist davon auszugehen, dass individuelle Rechtssuchende, die sich für die gerichtliche Konfliktschlichtung entscheiden, die Durchsetzung ihrer subjektiven Rechte erwarten. Hierbei haben sie jedoch regelmäßig kein exaktes Bild der Rechtslage, sondern die legitime Erwartung, dass sich das gerichtliche Urteil im Rahmen eines Leitbilds des Privatrechts bewegt. Dieses Leitbild ist

294

Kapitel 3: Die vierfache Legitimation der Zivilrechtsprechung

gekennzeichnet von dem Primat der freien Interessenkoordination unter Gleichen. Das Gemeinwesen, das die gerichtliche Konfliktschlichtung als hoheitliche Gewalt zur Verfügung stellt, erwartet von dieser die Durchsetzung der materiellen Wertordnung. Umstritten ist die Frage, ob das Gemeinwesen auch die Berücksichtigung von Gemeinwohlinteressen von den Zivilgerichten verlangen kann. Diese sind jedoch nur zu berücksichtigen, soweit sie für die privatrechtliche Grundordnung systemrelevant sind. Das bedeutet, dass ein gutes Urteil die Grundlagen schützt, auf denen die freie Interessenkoordination unter Gleichen aufbaut. In diesem Kriterium der Systemrelevanz, dessen Details dem Diskurs unterworfen sind, liegt das entscheidende Abgrenzungsmerkmal zum öffentlichen Recht, mit dessen Hilfe sonstige Gemeinwohlinteressen durchgesetzt werden können. Schließlich wurde festgestellt, welchen Einfluss neuere Entwicklungen auf die Legitimation privatrechtlicher Urteile haben. Europäisierung, Publifizierung und Ökonomisierung sind solche Entwicklungen. Während die Europäisierung als selbstverständlicher Bestandteil der Rechtsordnung im Legitimationsraster Berücksichtigung findet, ist der immer stärkeren Aufladung des Zivilrechts mit öffentlichen Interessen seitens der Wissenschaft Einhalt zu gebieten. Das wesentliche Kriterium dafür stellt die Systemrelevanz dar. Ökonomische Erwägungen sind differenziert einzubeziehen: Sie spielen an mehreren Stellen für das Urteil eine wichtige Rolle, sind jedoch kein normatives Programm, das dem hier entwickelten Leitbild überzuordnen ist.

Kapitel 4

Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten In diesem Kapitel werden exemplarisch drei Konfliktkonstellationen analysiert und ausgewertet. Diese Analyse führt zur Beantwortung der Forschungsfragen, die für diese Arbeit gestellt wurden: Mit Hilfe der in Kapitel 2 vorgestellten evolutionären Methodik wird der Blick für die Funktionsweise der Rechtsprechung geschärft, die vor der Herausforderung steht, „new cases“ zivilrechtlich durchdringen zu müssen. Bewertet wird die Rechtsprechung in post-deregulativen Streitigkeiten mit Hilfe des in Kapitel 3 entwickelten Legitimationsmodells. Sowohl die evolutionäre Rechtsprechungsanalyse als auch die Bewertungsmatrix werden damit zugleich einem Anwendungstest unterzogen. Nach einer methodischen Einordnung (A) werden in diesem Kapitel drei Konfliktkonstellationen untersucht: die lauterkeitsrechtliche Auseinandersetzung um eine Form des Direktmarketings in der Telekommunikationsbranche (B), der markenrechtliche Konflikt um die Nutzung des Begriffs „Post“ (C) und die vertragsrechtliche Kontrolle von Energiepreisen im Verhältnis von Energieverbrauchern und Energieversorgungsunternehmen (D). Die Ergebnisse der drei Studien werden in einem Quervergleich zusammengefasst (E).

A. Methodische Vorbemerkungen In den vorangehenden zwei Kapiteln wurde dargestellt, welche Methodik eingesetzt wird, um die in Kapitel 1 herausgearbeitete Wende zum Privatrecht anhand konkreter Gerichtsentscheidungen darzustellen und zu bewerten. Die Darstellung erfolgt nach der Methodik einer evolutionären Rechtsprechungsanalyse. Das bedeutet, dass eine historische Verlaufsschilderung der Rechtsprechung erfolgt. Dabei wird der Pfad nachgezeichnet, den die Rechtsprechung geht, unter besonderer Berücksichtigung der Frage, welche Dynamik die Rechtsprechung entwickelt (Wissensproblematik) und welche Strukturen die Selektion beeinflussen (Ordnungsproblematik). Anhand der ersten untersuchten Fallkonstellation werden Hypothesen gebildet, die für die beiden weiteren Fallkonstellationen überprüft werden. Die Bewertung erfolgt anhand der Legitimationsmatrix, die nach funktionaler und materieller Legitimation sowie nach individueller und institutioneller Perspektive unterscheidet. Es ergeben sich als Schwerpunkte der Bewer-

296

Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

tung Konfliktschlichtung, Befriedung, Durchsetzung subjektiver Rechte und Schutz des privatrechtlichen Systems. Die ausgewählten Entscheidungen betreffen post-deregulative Konflikte vor Zivilgerichten. Als solche werden Konflikte bezeichnet, die vor Deregulierungs-, Privatisierungs- oder Liberalisierungsmaßnahmen gar nicht entstehen konnten oder öffentlich-rechtlich aufgefangen wurden. Zu den besprochenen Konstellationen gibt es daher zivilgerichtliche Prägungen erst ab der Deregulierung. Es handelt sich um „new cases“1. Diese Neuartigkeit macht den zu analysierenden Zeitraum greifbar. Aufgrund der Annahme der Evolutionslehre, dass Urteile pfadabhängig sind, ist die historische Entwicklung stets im Blick zu behalten. In der vorliegenden Untersuchung wird der Fokus auf die Dynamik der Rechtsprechung nach der Deregulierung bis zu einer ersten Verfestigung von Strukturen und Erwartungen gelegt. Dieser Zeitraum ist auf etwa zehn Jahre festgelegt. Die untersuchten Fälle entstammen weitgehend den Jahren 2000–2010. Für die konkrete Auswahl der Konflikte waren drei Merkmale entscheidend: Der Konflikt sollte sich erstens um eine rechtlich und volkswirtschaftlich relevante Frage drehen. Zweitens konnte eine Untersuchung nur dann zu repräsentativen Ergebnissen führen, wenn eine ausreichende Anzahl gleich gelagerter Fälle die Gerichte erreicht hatte. Drittens sollten die ausgewählten Materien genügend Gemeinsamkeiten, aber auch genügend Unterschiede aufweisen, um einen sinnvollen Quervergleich zu ermöglichen, der Rückschlüsse auf die Wirtschaftsordnung durch Privatrecht zulässt. Vor diesem Hintergrund wurden drei wirtschaftsrechtliche Konflikte ausgewählt, die drei unterschiedliche Materien des Privatrechts betreffen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie aus den großen, volkswirtschaftlich besonders relevanten Sektoren stammen, die in den 1990er Jahren liberalisiert wurden, Telekommunikation, Post und Energiewirtschaft. In allen Fällen steht auf einer Seite des Konflikts ein sog. „Incumbent“, also ein ehemaliges, staatliches Monopolunternehmen, das privatisiert wurde oder sich zumindest in einem deregulierten Umfeld dem Wettbewerb stellen muss. Erstens wird der Konflikt um das Geschäftsmodell der „Billigvorwahl“ bei Festnetztelefonen dargestellt. Dieser Konflikt entzündete sich insbesondere an neuen Werbeformen der Preselection-Anbieter, die von der Deutschen Telekom AG als dem Festnetz-Monopolisten angegriffen wurden. Zweitens geht es um die Frage, wer in welcher Form den Begriff „Post“ als Marke nutzen darf. Hier waren die Deutsche Post AG als sog. „Incumbent“ und neu in den Markt eintretende Postunternehmen markenrechtlich in Streit geraten. Während diese beiden Konstellationen Streitigkeiten zwischen Wettbewerbern betreffen, geht es in der dritten Konstellation um ein verbraucherrechtli1

Dazu Kapitel 2.B.V.

A. Methodische Vorbemerkungen

297

ches Verhältnis, die Überprüfung der Gaspreis-Höhe durch Zivilgerichte. Hier stehen sich Energieverbraucher und Energieunternehmen gegenüber. Die post-deregulativen Konflikte, die hier untersucht werden, weisen einige charakteristische Merkmale auf: Sie betreffen Sachverhaltskonstellationen, die neuartig sind und bislang nicht oder nicht so den Gerichten zur Entscheidung vorlagen. Die Rechtsfragen sind dadurch ebenfalls neuartig und zumindest noch nicht in diesem Umfeld entschieden worden. Die Zivilrechtsanwendung muss sich gegen Fortwirkungen des öffentlichen Rechts und Überschneidungen mit Regulierungsrecht behaupten. In den Streitigkeiten ist häufig ein Ungleichgewicht zwischen den Parteien gegeben, da sich ein etablierter Betreiber (der Incumbent) und Verbraucher oder neu in den Markt eintretende Wettbewerber gegenüberstehen. Die Fälle sind wirtschaftlich komplex, sodass öffentliche Interessen und wirtschaftliche Erwägungen eine Rolle spielen können. Die Einzelfall-Entscheidungen der Gerichte können zum Teil folgenreich sein, da zumindest oberinstanzliche Urteile eine Art Regulierungswirkung für die betroffene Branche entfalten können. Dass im Folgenden der Fokus auf höchstinstanzliche Urteile gelegt wird, ist eine Beschränkung, die dazu führt, dass nicht der gesamte Prozess der Rechtsentwicklung abgebildet wird.2 Problematisch ist insbesondere, dass nicht das gesamte Spektrum der Streitigkeiten um Energiepreise erfasst wird. Außer Betracht bleiben solche Auseinandersetzungen, die erst gar nicht das gerichtliche Stadium erreicht haben, sowie solche, die nach Klageerhebung anderweitig gelöst wurden, etwa durch Vergleich. Die Zunahme von Vergleichslösungen bei Gerichten, die gleichfalls institutionell bedingt ist, erschwert eine Abbildung des Rechts. Dennoch ist die Beschränkung auf höchstinstanzliche Urteile zu rechtfertigen. Trotz der gestiegenen Bedeutung von Verhandlungslösungen bleibt das Urteil nämlich die wichtigste rechtsetzende Institution im Einzelfall. Urteile sind der Ausgangspunkt sowohl für die Rechtswissenschaftler, die durch ihre Forschungen und Publikationen die Rechtsgebiete durchdringen und fortentwickeln, als auch für die Praktiker: bei der Vertragsgestaltung und bei der außergerichtlichen Verhandlung von Streitigkeiten werden die Vorgaben der Gerichte in Ansatz gebracht. Die Urteile definieren den zulässigen Rechtsrahmen, nehmen eine Interessenbewertung vor und geben Anhaltspunkte für das Prozessrisiko. Folglich ist die Fokussierung auf die Rechtsprechung als wichtigster Quelle der Gesetzesinterpretation angemessen. Die BGH-Rechtsprechung hat hier leitende Funktion. Inwieweit die Erkenntnisse aus der Auswertung dieser spezifischen Konstellationen übertragbar sind auf weitere wirtschaftsrechtliche oder gar allgemein privatrechtliche Fälle, wird im Schlusskapitel der Arbeit erörtert.

2

Vgl. Rehbinder, Rechtssoziologie, 2009, S. 56.

298

Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

Die jeweilige Untersuchung der drei Komplexe folgt einem einheitlichen Darstellungsschema. Zunächst wird die sachliche Problematik des Konflikts dargestellt. Dabei wird auf das Branchenumfeld und die Interessen der Parteien eingegangen. Es folgt eine rechtliche Einordnung des Konflikts, bei der die Signifikanz des Rechtsstreits, die wesentlichen Normen und die rechtlichen Schwerpunkte identifiziert werden. Darauf baut die Darstellung der Rechtsprechungsentwicklung auf, der sich eine evolutionstheoretische Analyse und eine legitimationsbezogene Bewertung anschließen.

B. Marktzutritt und Lauterkeit: Das Geschäftsmodell „Billigvorwahl“ Gegenstand der ersten Untersuchung sind Auseinandersetzungen der Deutschen Telekom AG mit neuen Telekommunikationsunternehmen, welche die Dienstleistung „Preselection“ anbieten wollen. Der Fokus liegt auf Abmahnungen wegen der direkten Ansprache von Kunden auf Straßen und Plätzen. Diese Streitigkeiten bewegen sich im Bereich des Lauterkeitsrechts.

I. Sachliche Problematik Die hier diskutierten Streitigkeiten um Billigvorwahlen betreffen Marketingmaßnahmen zur Kundengewinnung für Call-by-Call- und PreselectionDienste. Rechtliche Auseinandersetzungen um diese Thematik entstanden nach der Liberalisierung des Telefongeschäfts.

1. Die Öffnung der Telekommunikationsmärkte Die Öffnung des Telekommunikationssektors gilt als eine der großen wirtschaftspolitischen „Erfolgsgeschichten“3 der letzten Jahrzehnte. Der Weg zu einer solchen Öffnung war jedoch lang.4 Die technische Entwicklung neuer Möglichkeiten der Telekommunikation sowie der politische und wirtschaftliche Erfolg der Deregulierungsmaßnahmen in den USA unter Ronald Reagan ließen zum Ende der 1980er Jahre auch in Europa die bis dahin staatlichen 3

So zitiert die FAZ Justus Haucap, vgl. FAZ, 14.1.2008, S. 17. Sektorenspezifische Darstellungen der Telekommunikationsliberalisierung Immenga/ Lübben/Schwintowski, Telekommunikation, 1998; Kühling/Elbracht, Telekommunikationsrecht, 2008, Rn. 1 ff.; Kühling, Sektorspezifische Regulierung, 2004, S. 67 ff.; Baier, Telekommunikationsmarkt in Deutschland, 2005, S. 29; Lüdemann in: Lüdemann, Telekommunikation, Energie, Eisenbahn, 2008, S. 69 ff.; Schneider in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 8; überblicksartig Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 2008, S. 260; Lange/Pries, Kartellrecht, 2011, Rn. 442 ff. 4

B. Marktzutritt und Lauterkeit: Das Geschäftsmodell „Billigvorwahl“

299

Fernmeldemonopole unzeitgemäß erscheinen.5 Motor der Liberalisierungsbemühungen wurde die Europäische Kommission, die mit einem Grünbuch 1987 die Entwicklung eines Gemeinsamen Marktes für Telekommunikationsdienstleistungen und Telekommunikationsgeräte ins Rollen gebracht hatte.6 Erste Schritte zur Umsetzung waren Richtlinien von 1988 bezüglich der Endgeräte und von 1990 bezüglich der Dienste, mit denen Wettbewerb im Telekommunikationssektor ermöglicht werden sollte.7 Dazu wurden die Märkte für Telekommunikationsendgeräte (etwa Telefonapparate oder Modems) geöffnet und bestehende Monopolrechte aufgehoben (Art. 2 RL 88/301/EWG). Im Bereich der Dienste, also bezüglich der Übertragung und Weiterleitung von Signalen im Telekommunikationsnetz (Art. 1 Abs. 1 RL 90/388/EWG), wurde die Aufhebung von Monopolrechten verlangt, soweit nicht Sprach-Telefonie betroffen war (Art. 2 RL 90/388/EWG). Hier ging es insbesondere um paket- oder leitungsvermittelte Datendienste. Dazu wurden parallel Regelungen für einen offenen Netzzugang getroffen (RL 90/387/EWG). Ein zweiter Liberalisierungsschub folgte Mitte der neunziger Jahre durch weitere Richtlinien, indem zunächst die Datenkommunikation über Satellitentechnik, Kabelfernsehnetze und Mobilfunk für den Wettbewerb geöffnet wurde.8 1996 wurde den Mitgliedsstaaten der EG eine vollständige Öffnung der Telekommunikation für den Wettbewerb bis 1.1.1998 aufgegeben einschließlich der Öffnung von Sprachtelefondiensten.9 2002 erfolgte die Anpassung der Liberalisierungsmaßnahmen im Hinblick auf neuere technologische Entwicklungen, sodass die früheren Richtlinien weitgehend in einer Fassung aufgingen, welche ohne größere Kautelen die Gewährung von ausschließlichen oder besonderen Rechten für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste untersagte.10 Die Kompetenz der Kommission zur Öff5 Vgl. Schwintowski in: Immenga/Lübben/Schwintowski, Telekommunikation, 1998, S. 16 ff. 6 KOM, Grünbuch, 30.6.1987, KOM(1987) 290 endg. 7 Richtlinie 88/301/EWG über den Wettbewerb auf dem Markt für TelekommunikationsEndgeräte, ABl. Nr. L 131 vom 27.5.1988, S. 73 ff.; Richtlinie 90/387/EWG zur Verwirklichung des Binnenmarktes für Telekommunikationsdienste durch Einführung eines offenen Netzzugangs, ABl. Nr. L 192 vom 24.7.1990, S. 1 ff.; Richtlinie 90/388/EWG über den Wettbewerb auf dem Markt für Telekommunikationsdienste, ABl. Nr. L 192 vom 24.7.1990, S. 10 ff. 8 Richtlinie 94/46/EG zur Änderung der Richtlinien 88/301/EWG und 90/388/EWG, insbesondere betreffend die Satelliten-Kommunikation, ABl. Nr. L 268 vom 19.10.1994, S. 15 ff.; Richtlinie 95/51/EG zur Änderung der Richtlinie 90/388/EWG hinsichtlich der Aufhebung der Einschränkungen bei der Nutzung von Kabelfernsehnetzen für die Erbringung bereits liberalisierter Telekommunikationsdienste, ABl. Nr. L 256 vom 26.10.1995, S. 49 ff.; Richtlinie 96/ 2/EG zur Änderung der Richtlinie 90/388/EWG betreffend die mobile Kommunikation und Personal Communications, ABl. Nr. L 20 vom 26.1.1996, S. 59 ff. 9 Richtlinie 96/19/EG zur Änderung der Richtlinie 90/388/EWG hinsichtlich der Einführung des vollständigen Wettbewerbs auf den Telekommunikationsmärkten, ABl. Nr. L 74 vom 22.3.1996, S. 13 ff. 10 Art. 2 Richtlinie 2002/77/EG über den Wettbewerb auf den Märkten für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste, ABl. Nr. L 249 vom 17.9.2002, S. 21 ff.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

nung der Märkte leitete diese aus der damaligen Entsprechung des heutigen Art. 106 Abs. 3 AEUV ab.11 Die Norm ermächtigt die Kommission, den Mitgliedsstaaten Grenzen bei der Privilegierung bestimmter Unternehmen zu setzen. Solche staatlichen Eingriffe können den Wettbewerb beeinträchtigen, weshalb der Kommission eine besondere Überwachungsfunktion zugeordnet wurde. Ein neuer EU-Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste wurde 2009 verabschiedet, inzwischen gestützt auf die allgemeine Binnenmarktkompetenz aus Art. 95 EG (heute Art. 114 AEUV).12 Nachdem seit Beginn des 20. Jahrhundert die Telekommunikation fast überall auf der Erde staatlich monopolisiert war, trat zum Ende des Jahrhunderts ein grundlegender Wandel ein. Auch für Deutschland brachten die Liberalisierungspakete einschneidende Änderungen mit sich:13 Die Deutsche Bundespost, die in staatlicher Verwaltung Post- und Telekommunikationsdienste erbracht hatte, wurde zum 1.1.1995 in drei privatrechtlich organisierte Aktiengesellschaften (Deutsche Telekom AG, Deutsche Post AG, Deutsche Postbank AG) aufgespalten (Postreform II), an denen der Staat freilich Anteilseigner blieb.14 Entsprechende Monopolrechte dieser Nachfolgeorganisationen wurden beschnitten. Die Regulierungsbehörde für Post und Telekommunikation (aufgegangen in der Bundesnetzagentur) wurde als Aufsichtsbehörde eingesetzt. Die Richtlinien wurden vor allem im Telekommunikationsgesetz (TKG) umgesetzt, dem schon in der ersten Fassung 1996 als Zweck die Wettbewerbsorientierung eingeschrieben war: „Zweck dieses Gesetzes ist es, durch Regulierung im Bereich der Telekommunikation den Wettbewerb zu fördern und flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen zu gewährleisten sowie eine Frequenzordnung festzulegen“ (§ 1 TKG 1996, vgl. auch § 2 Abs. 2 Nr. 2 TKG 1996).15 Eine Regulierung blieb wegen des Engpasses bei der Infrastruktur (Ineffizienz der Duplizierung eines Telefonleitungsnetzes) und der Fortwirkungen aus Monopol-Zeiten zunächst erforderlich.16 Mit der Öffnung der Märkte wurde die Tür für konkurrierende Unternehmen geöffnet und damit – trotz des fort-

11

Art. 106 AEUV entspricht Art. 86 EG bzw. Art. 90 EGV. Richtlinie 2009/140/EG zur Änderung der Richtlinie 2002/21/EG über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste, ABl. Nr. L 337 vom 18.12.2009, S. 37 ff. 13 Vgl. Schwintowski in: Immenga/Lübben/Schwintowski, Telekommunikation, 1998, S. 11, 23 ff. 14 Vgl. Schebstadt, WuW 2005, 6 f. 15 Vgl. Engel, MMR-Beilage 3/1999, 7 f. 16 Vgl. Schalast/Abrar, ZWeR 2009, 85, 87 f. Die Notwendigkeit der Fortdauer der Regulierung ist gerade im dynamischen Telekommunikationssektor, in dem sich Wettbewerbspositionen zum Teil schnell ändern, umstritten. Erster Schritt ist jedenfalls die Umstellung auf eine Anreizregulierung, vgl. Berndt, Anreizregulierung in den Netzwirtschaften, 2011. 12

B. Marktzutritt und Lauterkeit: Das Geschäftsmodell „Billigvorwahl“

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bestehenden Einflusses des Regulierungsrechts – die Wende zu einer privatrechtlichen Verfasstheit des Telekommunikationssektors eingeleitet.17 Das Telefonieren über Festnetz blieb bis 1.1.1998 die alleinige Domäne des früheren Monopolisten. Danach entwickelte sich dieses besonders wichtige Marktsegment der Sprachtelefonie nur langsam weiter. Quasi parallel zur Öffnung des Telefonnetzes entstand das Mobilfunknetz, das gleichfalls für Sprachtelefonie geeignet ist, bei dem die Datensignale aber über Funk, nicht über ein „fest“ verlegtes Kabelnetz zum Endkunden transportiert werden.

2. Call-by-Call und Preselection Da eine Duplizierung des Kabelnetzes mit den Teilnehmeranschlussleitungen ineffizient wäre, betreiben die meisten Unternehmen, die bei der Vermittlung von Festnetzgesprächen in Wettbewerb mit der Deutschen Telekom AG treten wollen, keine eigenen Teilnehmeranschlussnetze (von ganz wenigen Ausnahmen, etwa Netcologne im Bereich der Stadt Köln, abgesehen). Sie etablieren lediglich sog. Verbindungsnetze, welche die Vermittlungsknoten, zu denen die Anschlüsse der einzelnen Telefonteilnehmer laufen, miteinander verbinden. Um Zugang zum Endkunden zu erhalten, muss ein in den Markt eintretendes Unternehmen Zugang zur „letzten Meile“ vom etablierten Netzbetreiber erhalten. Das durch dieses „bottleneck“ bestehende Missbrauchspotential des etablierten Netzbetreibers, der mit einer Zugangsverweigerung oder überhöhten Leitungsentgelten seine Konkurrenten in wirtschaftliche Probleme bringen könnte, wird durch Zugangsregulierung (§§ 16 ff. TKG) und Entgeltregulierung (§§ 27 ff. TKG) aufgefangen. Alle Telefonate müssen demnach über das Netz des früheren Monopolisten, die Deutsche Telekom AG (im Folgenden: Telekom), abgewickelt werden. Nach der Liberalisierung wurde jedoch mit sogenannten „Billigvorwahlen“ eine Wettbewerbsmöglichkeit im Festnetz-Bereich eröffnet: Durch die vorgeschaltete Wahl einer spezifischen Anbieternummer kann der Telefonteilnehmer signalisieren, dass er die Verbindung über einen alternativen Betreiber herstellen möchte, der die Verbindung günstiger anbietet als der etablierte Netzbetreiber. Dieses System kann für jeden einzelnen Anruf extra gewählt werden (Call-by-Call)18 oder voreingestellt werden, sodass alle Gespräche über den alternativen Betreiber verbunden werden (Preselection)19. Es entstand damit ein Dreiecksverhältnis mit verschiedenen Rechtsbeziehungen zwischen etabliertem Betreiber, neuem Betreiber und Endkunden: Im 17 Vgl. zu den fortwirkenden Pflichten des Staates in der Telekommunikation Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, 2001, S. 140 ff. 18 Vgl. Neitzel in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 2008, § 40 TKG Rn. 28. 19 Vgl. Neitzel in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 2008, § 40 TKG Rn. 27.

302

Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

Verhältnis von etabliertem Betreiber und neuem Betreiber mussten das Problem des technischen Zugangs sowie des damit verbundenen Rechtsverhältnisses, welches die Netznutzung sowie die vom etablierten Netzbetreiber übernommenen Rechnungskosten umfasst, geklärt werden. Im Verhältnis von neuem Betreiber und Endkunden kommt es zum Vertrag über die Nutzung der Dienstleistung. Das Rechtsverhältnis zwischen etabliertem Betreiber und Endkunden bleibt für den Telefonanschluss bestehen, muss aber für die Verbindungen auf den neuen Betreiber umgestellt werden. Im Verhältnis zwischen den Betreibern, das Monopol Teilnehmeranschlussnetz betreffend, greift das Regulierungsrecht, das von der Regulierungsbehörde durchgesetzt wird. In § 43 Abs. 6 TKG 1996 bzw. § 40 TKG 2004 wird die Pflicht des etablierten Netzbetreibers statuiert, seinen Teilnehmern eine Betreiberauswahl im Einzelwahlverfahren oder eine Betreibervorauswahl für Orts- wie Ferngespräche zu ermöglichen. Im Verhältnis zum Endkunden gilt normales Vertragsrecht, das insbesondere zu Beginn der Telefonmarkt-Liberalisierung durch verbraucherschützende Vorschriften aus dem TKG ergänzt wurde.20

3. Gerichtliche Durchsetzung der Betreiber(vor)auswahl Die Betreiber(vor)auswahl durch Call-by-Call und Preselection war Gegenstand zahlreicher Gerichtsverfahren. Die Verpflichtung des etablierten Betreibers, eine Betreiber(vor)auswahl zu ermöglichen, also die Verpflichtung aus § 43 Abs. 6 TKG 1996 und § 40 TKG 2004, die wiederum auf Art. 19 der Universaldiensterichtlinie (2002/22/EG) zurückgeht, wurde von den Verwaltungsgerichten bestätigt und durchgesetzt.21 Die Deutsche Telekom hatte gegen eine Verfügung der Bundesnetzagentur von 2006 geklagt, in der sie zur Betreiberauswahl verpflichtet wurde. Die Telekom hatte argumentiert, die Voraussetzungen des § 40 Abs. 1 TKG lägen nicht vor. Es sei insbesondere unverhältnismäßig, diese Verpflichtung bei kundenindividuellen Gesamtverträgen (z.B. Business-Verträgen) und für Auslandsverbindungen vorzusehen. Bei Auslandsverbindungen, so die Telekom, sei sie nicht einmal mehr marktmächtig, da hier große Marktanteile durch Betreibervorauswahl erzielt würden. Das Bundesverwaltungsgericht ließ die Marktmacht der Deutschen Telekom auf dem Inlandsmarkt für die Bestätigung der BNetzA-Verfügung genügen, zumal der Wettbewerb bei Auslandsverbindungen gerade auf der Betreiber(vor)auswahl beruhe.22 Nach der Öffnung des Telekommunikationssektors kam es auch zu zahllosen zivilrechtlichen Streitigkeiten zwischen der Telekom und ihren Wettbe20 Vgl. Heßler, Verbraucherschutz im Telekommunikationsrecht, 2003; Keßler/Micklitz, Kundenschutz auf liberalisierten Märkten, 2008; Zagouras, NJW 2007, 1914 ff. 21 BVerwG, 29.10.2008, Az. 6 C 38/07, BeckRS 2009, 30118; vorgehend ebenso VG Köln, 5.9.2007, Az. VG 21 K 3395/06, CR 2008, 25. 22 BVerwG, 29.10.2008, Az. 6 C 38/07, BeckRS 2009, 30118, Rz. 43 ff.

B. Marktzutritt und Lauterkeit: Das Geschäftsmodell „Billigvorwahl“

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werbern. Immer wieder wehrte sich der Incumbent gegen den Markteintritt neuer Anbieter. Nur beispielhaft erwähnt seien Streitigkeiten um die Nutzung von Telefonbuchdaten23, Rufumleitungen aufs Mobiltelefon24, Markenrechte am Begriff CityPlus25, den gebündelten Vertrieb von Strom und Telekommunikationsdienstleistungen26 sowie Entgeltstreitigkeiten für verschiedene Dienstleistungen, soweit diese dem Zugriff des Zivilrechts trotz Regulierung unterliegen27. Schon diese kurze Aufzählung belegt, mit wie vielen zivilrechtlichen Folgestreitigkeiten die Deregulierung verbunden sein kann, wenn es nicht zu einvernehmlichen Lösungen zwischen Incumbent und Newcomer kommt. In dieses Spektrum sind auch die Streitigkeiten zwischen Telekom und neuen Anbietern um Umsetzungs- und Werbemaßnahmen einzuordnen, die Call-by-Call und Preselection betrafen. In einem Untersuchungszeitraum von 1998 bis 2011 waren in diesem Marktsegment insbesondere drei Fallgruppen erkennbar, von denen die dritte Fallgruppe im Fokus der Untersuchung stehen wird. Eine erste Gruppe von Urteilen betrifft Fälle, in denen die Telekom den Wechsel auf Preselection oder Call-by-Call laut Vortrag der Antragsteller erschwert, verhindert oder verzögert. Vorgeworfen wird der Deutschen Telekom AG also, dass diese ihre Position als einziges Unternehmen mit direktem Zugriff auf die Endkunden benutzt, um den Marktzutritt für Anbieter mit Billigvorwahlen unangemessen zu behindern. In diesen Fällen versuchten Wettbewerber der Deutschen Telekom mit Hilfe des Lauterkeitsrechts diese Verhaltensweisen zu unterbinden. Diese Verhaltensweisen waren, was ihre Vergleichbarkeit etwas mindert, unterschiedlicher Natur, hatten aber alle dasselbe Ergebnis, nämlich den Kundenverlust für Preselection-Anbieter. In einer frühen Entscheidung zu dieser Thematik hatte das OLG Düsseldorf in einem Schreiben der Telekom an Kunden einen Boykottaufruf gesehen, der gegen § 1 UWG a.F. verstoße.28 Die Deutsche Telekom hatte Kunden mit Telefonanlagen, die mehrere Nebenstellen haben (z.B. Hotels), eine Sperre für Call-byCall-Telefonate angeboten, da diese sonst keine Kontrolle über die auf Nebenstellen anlaufenden Kosten hätten. Interessanterweise hatte in dieser Entscheidung von 1998 das OLG eine Zurückhaltungspflicht der Deutschen Telekom gegenüber dem neuen Wettbewerb als Wertung aus TKG und GWB angenom23

BGH, 5.11.2009, Az. III ZR 224/08, CR 2010, 91. BGH, 7.10.2009, Az. I ZR 150/07, GRUR 2010, 346. 25 BGH, 13.3.2003, Az. I ZR 122/00, GRUR 2003, 880. 26 BGH, 4.11.2003, Az. KZR 38/02, GRUR 2004, 259; vgl. BGH, 30.3.2004, Az. KZR 1/03, NJW 2004, 2375 – Der Oberhammer. 27 BGH, 10.2.2004, Az. KZR 6/02 und 7/02, MMR 2004, 471 m. Anm. Schuster; BGH, 13.10.2009, Az. KZR 41/07, MMR 2010, 429 – Teilnehmerdaten II. 28 OLG Düsseldorf, 17.11.1998, Az. U Kart 22/98, NJWE-WettbR 1999, 123; dazu aus Telekom-Sicht Grote, K&R 1998, 61. 24

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

men.29 2005 sah das LG Bielefeld in einem ähnlichen Fall dazu keine Veranlassung und lehnte einen Antrag ab, der sich gegen eine „Kündigungshilfe“ der Deutschen Telekom wandte. Diese stellte ihre eigenen Preselection-Dienste ein, die sie für Teilnehmeranschlüsse anbot, die auf einen lokal aktiven Netzbetreiber liefen. Mit der Information über den Wegfall dieser Voreinstellungsmöglichkeit verband die Telekom die Aufforderung, den Teilnehmeranschluss bei dem lokalen Konkurrenten zu kündigen und zu ihr zu wechseln. Das LG hielt dies für wettbewerbsrechtlich zulässig.30 Eine weitere Fallgestaltung (die allerdings nach TKG gelöst wurde) betraf das Verlangen der Deutschen Telekom, die Umstellung auf Preselection von einem schriftlich erklärten Kundenwunsch abhängig zu machen, während sie für die Rückstellung auf ein Telekom-eigenes Netz keine schriftliche Erklärung verlangte. Der BGH bejahte hier eine Diskriminierung der Wettbewerber.31 Häufig waren Fälle, in denen Kunden und Wettbewerber den Eindruck hatten, dass die Deutsche Telekom trotz eines entsprechenden Kundenauftrags die Umstellung auf einen alternativen Anbieter verzögerte oder ignorierte. Der Versuch einer Klägerin, in einer Art zusammenfassender Klage diese Fälle abschließend zu klären, schlug 2007 beim BGH fehl. Der feinziselierte Hauptantrag der Klägerin war nach Auffassung des Senats zu weit, da auch nicht-wettbewerbswidrige Handlungen einbezogen gewesen wären, zwei Hilfsanträge blieben aus ähnlichen Gründen ohne Erfolg.32 Zwei Jahre später milderte der BGH diese Entscheidung teilweise ab, nachdem der Deutschen Telekom vorgeworfen worden war, die Änderung der Voreinstellung eines Telefons entgegen dem Kundenwunsch so vorgenommen zu haben, dass praktisch nur die eigenen Dienste der Telekom, nicht aber (auch) die Dienstleistungen eines anderen Anbieters in Anspruch genommen wurden. Der BGH verurteilte die Deutsche Telekom wegen Verstoß gegen §§ 3, 4 Nr. 10 UWG nun auf Unterlassung.33 Ebenso verurteilte das OLG Köln die Deutsche Telekom wegen eines Software-Fehlers, der in ähnlicher Weise die Möglichkeiten zur Voreinstellung eines anderen Betreibers behinderte.34 Hierin sah das Gericht einen Organisationsmangel, der zu einer gezielten Mitbewerberbehinderung führt. Diese nicht abschließende Liste genügt, um die Schwierigkeiten zu illustrieren, die sich bei den Versuchen ergaben, der Deutschen Telekom im Endkundengeschäft Wettbewerb zu machen. Das Lauterkeitsrecht, nach dem die meisten dieser Fälle gelöst wurden, wurde in mühsamer Einzelfalljudikatur durchgesetzt.

29 30 31 32 33 34

OLG Düsseldorf, 17.11.1998, Az. U Kart 22/98, NJWE-WettbR 1999, 123, 125. LG Bielefeld, 4.7.2005, Az. 15 O 120/05, BeckRS 2006, 07138. BGH, 10.10.2006, Az. KZR 26/05, WuW/E DE-R 1913 – Preselection. BGH, 29.3.2007, Az. I ZR 164/04, K&R 2007, 579 – Änderung der Voreinstellung I. BGH, 5.2.2009, Az. I ZR 119/06, K&R 2009, 641 – Änderung der Voreinstellung II. OLG Köln, 8.1.2010, Az. 6 U 106/09, MMR 2010, 253.

B. Marktzutritt und Lauterkeit: Das Geschäftsmodell „Billigvorwahl“

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Fragen lässt sich, warum die Parteien und Gerichte die Fälle lauterkeitsrechtlich gelöst haben, obwohl auch kartellrechtliche Normen nahe gelegen hätten (insbesondere §§ 19, 20 GWB). Über die Antwort kann spekuliert werden. Vermutlich hat sich hier eine institutionelle Prägung zugunsten des lauterkeitsrechtlichen Verfahrens durchgesetzt. Dieses ist als schnell und effizient bekannt. Die gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 5 GVG zuständigen Kammern für Handelssachen entscheiden im einstweiligen Verfahren dauernd über Ansprüche aus UWG. Die Durchsetzung des UWG gilt als praktisch sehr effektiv. Zwar ließe sich auch das Kartellrecht mit einstweiligen Verfügungen seitens dieser Kammern durchsetzen, doch ist die Praxis der privaten Rechtsdurchsetzung im Kartellrecht unterentwickelt. Dadurch entsteht bei Klägern und Gerichten eine institutionelle Erfahrung zugunsten einer lauterkeitsrechtlichen Behandlung von Konkurrenzfällen, obwohl eine kartellrechtliche Lösung zumindest nicht ausgeschlossen wäre. Vom traditionellen Telos der Rechtsgebiete aus gesehen läge sie möglicherweise sogar näher. Ob sich die (hier angenommene) verfahrensrechtliche Hoffnung der Beteiligten auf eine effiziente Konfliktlösung erfüllt, wird die Untersuchung ergeben müssen, denn auch die beiden anderen Fallgruppen wurden im einstweiligen Verfahren des Lauterkeitsrechts behandelt. Die zweite Gruppe von Urteilen betrifft Fälle, in denen um die Zulässigkeit bestimmter Werbeangaben für Call-by-Call oder Preselection-Dienste gestritten wurde. In mehreren Urteilen ging es um die Frage, ob in der Werbung offengelegt werden muss, dass bei Nutzung einer bestimmten Leistung Preselection- und Call-by-Call-Dienste nicht möglich sind.35 Mehrfach Thema war, ob die korrekte Vergleichsgruppe für Preisvergleiche zwischen Preselection-Anbietern und Telekom ausgewählt worden war. So hatte 1998 beispielsweise die Telekom ein Urteil gegen einen Call-by-Call-Anbieter erstritten, der mit dem Hinweis geworben hatte „ohne Wechselgebühr“. Das LG Köln sah dies, kurz nach der Marktliberalisierung, als eine irreführende Werbung mit Selbstverständlichkeiten.36 Der BGH sah hingegen keine Irreführung in einer Werbung für eine Netzvorwahl mit dem Slogan „Sparvorwahl“ und ließ es genügen, dass der Tarif günstiger war als der des etablierten Betreibers.37 Preisvergleiche mit der Telekom waren bei den Gerichten auch für andere Dienste ein regel35 Vgl. OLG Stuttgart, 19.4.2007, Az. 2 U 135/06, BeckRS 2010, 4065 (bejaht); OLG Oldenburg, 22.5.2008, Az. 1 U 116/07, MMR 2008, 539 (verneint); BGH, 22.10.2009, Az. I ZR 124/ 08, MMR 2010, 184 (verneint bei Flatrate-Angebot); BGH, 20.1.2011, Az. I ZR 28/09, GRUR 2011, 846 – Kein Telekomanschluss nötig (bejaht); BGH, 9.2.2012, Az. I ZR 178/10, WRP 2012, 1083 (bejaht), teilweise abweichend die Vorinstanz OLG München, 29.7.2010, Az. 29 U 1589/ 10, MMR 2011, 98 (anders als noch in OLG München, 5.2.2009, Az. 29 U 3255/08, MMR 2009, 562)). 36 Vgl. LG Köln, 31.3.1998, Az. 31 O 18/98, CR 1998, 410 = K&R 1998, 306 m. Anm. Ikas. 37 BGH, 24.10.2002, Az. I ZR 100/00, GRUR 2003, 361 – Sparvorwahl. Vgl. hingegen OLG Hamburg, 26.6.2003, Az. 3 U 193/02, NJOZ 2003, 2886 – Get more.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

mäßiges Thema.38 Während anfangs die Telekom stets Antragstellerin war, wendeten später die Wettbewerber das Instrumentarium der lauterkeitsrechtlichen Abmahnung erfolgreich gegen Werbungen der Telekom an.39 In diesen Entscheidungen ist von Bedeutung, welche Anforderungen an Werbeaussagen in einem Umfeld zu stellen sind, das neuartig ist und in dem über die Irreführungseignung einzelner Angaben noch keine Gewissheit besteht. Während die Gerichte zu Beginn das Gefälle zwischen Marktbeherrscher und Newcomer thematisierten und daraus einen gewissen Schutz der Newcomer folgerten,40 differenzierte sich die Rechtsprechung mit zunehmender Fallhäufung und verbesserter Wettbewerbsdurchdringung des Marktes stark aus.41 Wurde in diesen Fällen der zweiten Gruppe ausgelotet, welche Angaben im Detail in der Werbung zu machen sind, betrifft die dritte Gruppe von Urteilen, die im Folgenden intensiv beleuchtet wird, eine spezielle Werbeform, das sog. „Anreißen“. Gegenstand dieser Streitigkeiten ist ein Verhalten, das offenbar erstmals mit Telefondienstleistungen als systematisches Werbe-Phänomen aufgetreten ist, nämlich das Ansprechen potentieller Kunden im öffentlichen Raum (Direktmarketing). Diese Form der Kundenwerbung war für Wettbewerber der Telekom typisch. Hier wurde von der Telekom in mehreren Verfahren eine unzumutbare Belästigung der Passanten geltend gemacht. Nur diese letzte Fallgruppe wird, der Überschaubarkeit wegen, im Folgenden analysiert, auch wenn sie erst in der Gesamtschau mit den anderen Fällen das zivilrechtliche Panorama post-deregulativer Streitigkeiten in der Telekommunikationsbranche ergibt. Die dritte Fallgruppe ist für die Analyse besonders gut geeignet, da sie paradigmatisch den Wandel thematisiert, den Werbung und Branche durchlaufen haben. Zudem ist Ausgangspunkt der Rechtsprechungsanalyse der Konflikt zwischen zwei landgerichtlichen Entscheidungen, die sich im Ergebnis diametral widersprechen – was für die Obergerichte und die wissenschaftliche Analyse eine interessante Herausforderung darstellt. Die Fälle wurden nach UWG gelöst. Gemäß § 3 Abs. 1 UWG muss es sich um unlautere geschäftliche Handlungen handeln, die „geeignet sind, die Interessen von Mitbewerbern, Verbrauchern oder sonstigen Marktteilnehmern spürbar zu beeinträchtigen“. Damit signalisiert schon die 38 Vgl. LG Frankfurt, 22.4.1998, Az. 2/6 O 213/98, CR 1998, 483; OLG Hamburg, 25.3.2004, Az. 3 U 151/03, GRUR-RR 2005, 129; OLG Oldenburg, 22.5.2008, Az. 1 U 116/07, MMR 2008, 539. 39 Vgl. BGH, 17.7.2008, Az. I ZR 139/05, GRUR 2009, 73 – Telefonieren für 0 Cent!; BGH, 20.12.2007, Az. I ZR 51/05, GRUR 2008, 729 – Werbung für Telefondienstleistungen; OLG Düsseldorf, 20.4.2004, Az. 20 U 166/03, GRUR-RR 2005, 87. 40 BGH, 24.10.2002, Az. I ZR 100/00, GRUR 2003, 361 – Sparvorwahl; OLG Oldenburg, 22.5.2008, Az. 1 U 116/07, MMR 2008, 539. 41 Vgl. etwa einerseits BGH, 22.10.2009, Az. I ZR 124/08, MMR 2010, 184 und andererseits BGH, 20.1.2011, Az. I ZR 28/09, GRUR 2011, 846.

B. Marktzutritt und Lauterkeit: Das Geschäftsmodell „Billigvorwahl“

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Grundnorm des UWG, dass es sich im Lauterkeitsrecht stets um eine Abwägung zwischen verschiedenen Interessen handelt.

II. Dogmatische Herausforderungen Die Kernproblematik in den Fällen des Direktmarketings ist der Interessenausgleich zwischen den Beteiligten, die vom UWG gemäß § 1 geschützt sind, also Mitbewerber, Verbraucher, sonstige Marktteilnehmer und die Allgemeinheit. Dieser Interessenausgleich wird konturiert durch das das Rechtsgebiet überwölbende Merkmal der Lauterkeit sowie durch die heute dank EURichtlinien überwiegend speziell geregelten Tatbestände. Das Ansprechen zu Werbezwecken in der Öffentlichkeit wird nach § 7 Abs. 1 UWG geprüft, bis zur UWG-Reform 2004 wurden entsprechende Handlungen in der Fallgruppe des „Anreißens“ systematisiert und der Generalklausel des § 1 UWG a.F. unterworfen. In dogmatischer Hinsicht stellen sich bei der grundlegenden Neu-Entscheidung solcher Fälle drei große Herausforderungen für die Justiz. Erstens ist, wie stets im Lauterkeitsrecht, zu prüfen, welches das die Unlauterkeit auslösende Moment ist. Zweitens ist die Frage zu entscheiden, was moderne Verbraucher als „Belästigung“ empfinden. Drittens ist die Rolle des Lauterkeitsrechts für den Marktzutritt von Unternehmen zu berücksichtigen.

1. Das Unlauterkeitsmoment Das Lauterkeitsrecht basiert auf der Vorstellung, dass dem geschäftlichen Handeln Grenzen gezogen werden müssen. Diese Grenzziehung erfolgt für das deutsche UWG grundlegend in § 3 Abs. 1 UWG, in dem die Unzulässigkeit solcher Handlungen statuiert wird, die erstens unlauter sind und zweitens die Interessen von Mitbewerbern, Verbrauchern oder sonstigen Marktteilnehmern spürbar beeinträchtigen. Der Systematik des UWG ist zu entnehmen, dass die spezielleren Vorschriften, so etwa in § 7 UWG, Ausfluss dieses Grundgedankens sind.42 Für die in einigen der hier besprochenen Fälle noch relevante frühere Rechtslage vor der UWG-Reform 2004 stellte sich dieses Einordnungsproblem nicht, da speziellere Bestimmungen zur damaligen großen Generalklausel schlichtweg fehlten. Was als unlauter bzw. in der früheren Fassung des UWG als sittenwidrig zu verstehen ist, ist seit jeher Gegenstand heftiger Kontroversen und Element kontinuierlichen Wandels. Die Geschichte dieses Begriffs braucht hier nicht nachgezeichnet zu werden.43 Entscheidend ist nur, die dogmatische Herausforderung für die Rechtsprechung zu skizzieren, mit der diese im Untersuchungszeitraum (2000 bis 2007) konfrontiert war. 42 43

Ubber in: Harte/Henning, UWG, 2009, § 7 Rn. 8. Vgl. die Darstellung bei Beater, Unlauterer Wettbewerb, 2011, § 3 Rn. 305 ff.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

Parallel zur Deregulierung in vielen Wirtschaftssektoren hatte in den 1990er Jahren auch eine Liberalisierung des Lauterkeitsrechts begonnen. Triebfeder dieser Liberalisierung war wiederum die europäische Rechtsentwicklung. Das Szenario, das sich der Rechtsprechung um das Jahr 2000 bot, war das eines Lauterkeitsrechts im Aufbruch: aus einem strengen Ordnungsrecht, das noch der wilhelminischen Fassung von 1909 ähnelte, und dessen Umsetzung von den Ehrvorstellungen des sog. Rheinischen Kapitalismus geprägt war, wurde ein europäisch verankertes, liberal geprägtes Wirtschaftsrecht. Besondere Wegmarken dieser Entwicklung waren die gesetzgeberischen Initiativen: 1994 hatte eine UWG-Novelle das UWG liberalisiert und einige besonders einschneidende Normen aufgehoben, die der Wettbewerbsfreiheit von Unternehmen enge Grenzen setzten.44 Ein weiterer wesentlicher Liberalisierungsschritt waren die Erlaubnis der vergleichenden Werbung im Jahr 2000 durch Umsetzung einer Richtlinie45 sowie die ersatzlose Streichung von Zugabeverordnung und Rabattgesetz im Jahr 200146. Mit diesen legislativen Schritten war der Grundstein für eine neue Ausrichtung des UWG gelegt. In Literatur und Praxis bedurfte es freilich der Durchsetzung solch neuer Maßstäbe. So stellte der BGH ausdrücklich fest, dass sich die Auslegung von § 1 UWG (und damit des Lauterkeitsbegriffs) an die gesetzgeberischen Änderungen anpassen müsse. Der Wille des Gesetzgebers, einen Liberalisierungsgewinn zu realisieren, „kann nicht dadurch unterlaufen werden, dass die Sachverhalte, die in der Vergangenheit unter die Zugabeverordnung fielen, unverändert – nunmehr als Wettbewerbsverstöße nach § 1 UWG – verfolgt werden können.“47 Auch in der Literatur setzte eine Diskussion ein.48 Bei der Liberalisierung des Lauterkeitsrechts spielte die deutsche Rechtsprechung, nicht zuletzt unter dem Eindruck der Entwicklungen auf europäischer Ebene,49 eine wichtige Rolle, indem sie frühzeitig Bastionen des als streng geltenden deutschen Lauterkeitsrechts schleifte. So hatte die Rechtsprechung beispielsweise das strikte Verbot vergleichender Werbung schon vorab aufgehoben50 und 44

Dazu Borck, WRP 1994, 349; Loschelder, GRUR 1994, 535; Kisseler, WRP 1994, 1. Gesetz zur vergleichenden Werbung und zur Änderung wettbewerbsrechtlicher Vorschriften vom 1.9.2000 (Umsetzung der Richtlinie 97/55/EWG). 46 Gesetz zur Aufhebung des Rabattgesetzes und zur Anpassung weiterer Vorschriften sowie Gesetz zur Aufhebung der Zugabeverordnung und zur Anpassung weiterer Vorschriften, beide vom 23.7.2001. 47 BGH, 13.6.2002, Az. I ZR 71/01, GRUR 2002, 979, Rz. 23 m.w.N. – Kopplungsangebot II. 48 Vgl. eher progressiv Köhler, GRUR 2001, 1067; Steinbeck, ZIP 2001, 1741; eher zurückhaltend Cordes, WRP 2001, 867; Berneke, WRP 2001, 615. 49 Insbesondere Richtlinie 97/55/EWG zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG über irreführende Werbung zwecks Einbeziehung der vergleichenden Werbung vom 6.10.1997; EuGH, 16.7.1998, Rs. C-210/96, Slg. 1998, I-4657 = NJW 1998, 3183 – Gut Springenheide. 50 BGH, 5.2.1998, Az. I ZR 211/95, GRUR 1998, 824 – Testpreisangebot; BGH, 23.4.1998, Az. I ZR 2/96, GRUR 1999, 69 – Preisvergleichsliste II; BGH, 15.10.1998, Az. I ZR 69/96, GRUR 1999, 501 – Vergleichen Sie. 45

B. Marktzutritt und Lauterkeit: Das Geschäftsmodell „Billigvorwahl“

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das Verbraucherleitbild modernisiert51. Die einzelnen Schritte verdichteten sich zu einer Öffnung des geschäftlichen Verkehrs für Vorstöße, die es zuvor im Geschäftsleben nicht gegeben hatte, was die Literatur entsprechend würdigte.52 Der stärkste Einschnitt innerhalb des Untersuchungszeitraums war die UWG-Reform 2004, mit der u.a. das Merkmal der Unlauterkeit eingeführt wurde (anstelle des Verstoßes gegen die guten Sitten) und der Verbraucherschutzaspekt des Lauterkeitsrechts erstmals hervorgehoben wurde. Diese beiden Änderungen, welche die Paradigmen des Rechtsgebiets verschoben, dienten zusammen mit der Einführung einer Bagatellgrenze und der Abschaffung von Sonderregeln (etwa über Räumungsverkäufe) der Modernisierung des UWG.53 Zu dem hier besonders interessierenden Merkmal der Unlauterkeit, das die Intervention des Gemeinwesens in die freien Marktaktivitäten legitimieren muss, heißt es in der Gesetzesbegründung: „Der Begriff der Unlauterkeit löst den bisher in § 1 UWG verwandten Begriff der guten Sitten ab. Ein Grund hierfür ist, dass der Maßstab der guten Sitten antiquiert wirkt, weil er den Wettbewerber unnötig mit dem Makel der Unsittlichkeit belastet. Durch die Verwendung des Begriffs der Unlauterkeit wird zudem die Kompatibilität mit dem Gemeinschaftsrecht verbessert, welches diesen Begriff in vielen Vorschriften verwendet. Unlauter sind alle Handlungen, die den anständigen Gepflogenheiten in Handel, Gewerbe, Handwerk oder selbständiger beruflicher Tätigkeit zuwiderlaufen.“54

In der englischen Fassung der europäischen Rechtstexte entspricht „unfair“ meist dem, was nach der Neuregelung mit „unlauter“ übersetzt wird, so etwa in der UGP-Richtlinie.55 Als unlauter wird also ein den „anständigen Gepflogenheiten“ zuwiderlaufendes Verhalten angesehen.56 Ob diese Begrifflichkeiten und Definitionen weniger antiquiert und weniger mit einem moralischen Vorwurf aufgeladen sind als die frühere Version, mag dahinstehen. Offenbar verspricht sich der Gesetzgeber der UWG-Novelle aus dem Jahr 2004 von seiner Reform eine Modernisierung dieses Rechtsgebiets. Modernisierung ist dabei zu übersetzen als eine Anpassung an die tatsächlichen Verhältnisse unter Berücksichtigung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse. In dieser, dem Duden entlehnten Definition57, greifen zwei Aspekte ineinander: das Nachvollziehen der wirtschaftlichen Praxis und die Verbindlichmachung systematisch geschöpfter Wertungen. Letztere hatte der Gesetzgeber für das UWG in Form von Gutachten renommierter Lauterkeitsrechtler zum Ausgangspunkt 51 BGH, 20.10.1999, Az. I ZR 167/97, GRUR 2000, 619, v.a. 621 – Orient-Teppichmuster. Vgl. Köhler/Bornkamm, UWG, 2012, § 1 Rn. 29 ff. m.w.N. 52 Beater, JZ 2000, 973; Ullmann, GRUR 2003, 817. 53 Vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 15/1487, S. 1. 54 Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 15/1487, S. 16. 55 Vgl. Beater, Unlauterer Wettbewerb, 2011, § 1 Rn. 3. 56 Kritisch Schünemann in: Harte/Henning, UWG, 2009, § 3 Rn. 135 ff. 57 Vgl. Duden, Fremdwörterbuch, 1997, Eintrag „modernisieren“.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

der Reform gemacht.58 Mit der Umstellung 2004 war den Gerichten schon die Neuinterpretation des UWG-Konzepts aufgegeben. Nun war zu entscheiden, was unlauter ist, Wertungen mussten damit zwangsläufig auf den Prüfstand gestellt werden. 2008 reformierte der Gesetzgeber das UWG erneut, um die UGP-Richtlinie umzusetzen.59 Die hier analysierten Fälle waren noch nach alter Rechtslage zu lösen. Die UGP-Richtlinie stellt konsequent auf Verbraucherschutz durch Schutz vor irreführenden und aggressiven Geschäftspraktiken ab, die im Einzelnen spezifiziert werden. Eine substantielle Änderung der hier relevanten Normen (§§ 1, 3 Abs. 1 und 7 Abs. 1 UWG) war nicht zu verzeichnen. Die Rolle der Generalklausel ist jedoch stark zurückgedrängt worden. Das Lauterkeitsrecht enthält nun zahlreiche Tatbestände, die das Unlauterkeitsmoment konkretisieren. Angesichts eines legislativen Exzesses wie im Anhang zu § 3 Abs. 3 UWG ist beinahe umgekehrt zum eingangs formulierten Ansatz zu formulieren: Es ist nicht mehr so, dass die Tatbestände die Generalklausel konkretisieren. Vielmehr interpoliert die Generalklausel in § 3 Abs. 1 UWG die detaillierten Tatbestände, sodass eine innere Logik (bei gutem Willen) erkennbar wird, weshalb diese Regelungen erlassen wurden und in einem Gesetz zusammengefasst sind. Mit der UGP-Richtlinie wird laut Erwägungsgrund 6 eine Vollharmonisierung des verbraucherbezogenen Lauterkeitsrechts (B2C) angestrebt. Für das Ansprechen von Personen in der Öffentlichkeit ergibt sich die Notwendigkeit einer Vollharmonisierung allerdings nicht zwingend aus dem Richtlinientext.60 Die Europäische Kommission hat 2011 Bedenken gegen die deutsche Umsetzung der UGP-Richtlinie geäußert und dabei u.a. die Anknüpfung an die Interessenbeeinträchtigung in § 3 Abs. 1 UWG hervorgehoben, aber auch den hier einschlägigen § 7 Abs. 1 UWG gerügt, da dieser – in Abweichung von Art. 8 und 9 UGP-Richtlinie – die Belästigung allgemeiner formuliert (Unzumutbarkeitskriterium).61 In dieser Ausgestaltung des Unlauterkeitsmoments und des Belästigungstatbestands liege eine Festlegung, die durch die Richtlinie nicht gedeckt sei. Die Vollharmonisierung sei dadurch gefährdet. Gefährdet scheint durch diese Linie der Kommission allerdings auch der Zusammenhang dieses Rechtsgebiets als eines konsistenten wirtschaftsrechtlichen Werks, das von einem einheitlichen Regelungsgrund getragen ist. So wirft die Interven58 Köhler/Bornkamm/Henning-Bodewig, WRP 2002, 1317 sowie vorgehend Schricker/ Henning-Bodewig, WRP 2001, 1367 und Fezer, WRP 2001, 989. Vgl. Gesetzesbegründung, BTDrucks. 15/1487, S. 12. 59 Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr, ABl. L Nr. 149, S. 22 ff. vom 11.6.2005 (UGP-Richtlinie). 60 Vgl. Erwägungsgrund 7 der UGP-Richtlinie, dazu Ackermann in: Gsell/Herresthal, Vollharmonisierung im Privatrecht, 2009, S. 288, 295 f.; Apetz, Verbot aggressiver Geschäftspraktiken, 2011, S. 216, 248 m.w.N. 61 Schreiben der Europäischen Kommission vom 12.12.2011, EU-Pilot 2508/2011/JUST; das Schreiben liegt dem Verf. vor.

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tion der Kommission die Diskussion auf die Frage zurück, warum es überhaupt Regelungen wie die im UWG gibt. Einer Rechtfertigung bedarf der Eingriff durch UWG in die Freiheit der Handelnden in jedem Einzelfall. Die Gerichte sind aufgerufen, ihr Einschreiten zu legitimieren. Das gilt insbesondere, wenn der zu beurteilende Sachverhalt (z.B. eine Werbeform) neuartig ist. Für diese Legitimation erhielt die Justiz zu Beginn des 21. Jahrhunderts durch die nachgezeichnete Entwicklung neue Impulse: Der Gesetzgeber zielte im Untersuchungszeitraum auf eine Modernisierung des Lauterkeitsrechts und auf seine Kompatibilität mit dem europäischen Recht. Das bedeutete eine Lösung von überkommenen Sittlichkeitsvorstellungen und eine Anpassung an wirtschaftliche Realitäten („Gepflogenheiten“). Zugleich blieb ein starkes Wertungselement erhalten („unlauter“, „unzumutbar“). Dadurch wird trotz aller legislativen Kasuistik für nicht ausdrücklich erfasste Fälle weiterhin den Gerichten eine Lösung übertragen. Offen bleibt, wie ökonomische Realitäten und Nachweise zu berücksichtigen sind. Der Fortfall des Unsittlichkeitsvorwurfs macht das Lauterkeitsrecht zu einem Marktrecht. Ein Marktrecht ist in ökonomischen Positionen darstellbar oder kann sich an einer normativen Auffassung von Markt und Wirtschaft orientieren. Der deutsche Gesetzgeber enthält sich einer eindeutigen Positionierung zum Grundgedanken des Lauterkeitsrechts, stellt aber durch die Regelung in §§ 1 und 3 Abs. 1 klar, dass durch eine Interessenabwägung den verschiedenen Belangen in der Marktwirtschaft Rechnung zu tragen ist. In der Gesetzesbegründung wird der gleichberechtigte Schutz der Interessen der Mitbewerber, der Verbraucher und der Allgemeinheit als „eigentlicher Zweck des UWG“ benannt.62 Die Norm des § 1 UWG eröffnet eine Offenlegung der Interessen im richterlichen Abwägungsvorgang.63 Der europäische Gesetzgeber legt den Akzent auf den Verbraucherschutz.64 Die Schutzzwecktrias des deutschen Rechts scheint damit schwer vereinbar.65 Einen einigenden Grundgedanken des Lauterkeitsrechts formuliert der europäische Gesetzgeber aber ohnehin nicht. Damit lässt sich die Auslegung zurückführen auf das in Kapitel 3 dargestellte Leitbild des Privatrechts. Die Rechtsprechung muss sich angesichts einer offenen Rechtslage entscheiden, welche Interessen sie akzeptieren will. Klargestellt wird vom deutschen Gesetzgeber: „Der Schutz sonstiger Allge-

62

Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 14/1487, S. 15 f. Vgl. Köhler/Bornkamm, UWG, 2012, § 1 Rn. 6. 64 Kritisch Drexl in: Hilty/Henning-Bodewig, Lauterkeitsrecht und Acquis Communautaire, 2009, S. 227, 251. 65 Vgl. Ackermann in: Gsell/Herresthal, Vollharmonisierung im Privatrecht, 2009, S. 288, 292 ff. 63

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

meininteressen ist weiterhin nicht Aufgabe des Wettbewerbsrechts.“66 Doch in der Interessenabwägung spielen auch solche der Allgemeinheit eine Rolle. Welche sind das? Was bedeuten sie für das Freiheitsmoment, das für den Handelnden an erster Stelle steht? Welche weitergehenden Bindungen der Freiheit akzeptiert sie? Bleiben diese dem Schutz der systemrelevanten Grundlagen der Marktwirtschaft verpflichtet, wie es teilweise ja gerade für Fairness vertreten wird,67 oder geraten andere Aspekte in den Vordergrund, die möglicherweise einen Lauterkeitsbegriff implizieren, der sonstige öffentliche Interessen in die Verfahren trägt? Die Antworten in nicht ausdrücklich geregelten Einzelfällen, wie den hier zu besprechenden, liefern die Mosaiksteine, um das Bild zusammenzufügen, das die Rechtsprechung von der Dogmatik eines privatrechtlichen Gesetzes hat. Das Bild kristallisiert sich im Unlauterkeitsmoment.

2. Belästigung und modernes Verbraucherleitbild In der lauterkeitsrechtlichen Judikatur hatte sich zur Jahrtausendwende das „neue Verbraucherleitbild“ etabliert. Die deutsche Rechtsprechung hatte zur Beurteilung einer Wettbewerbshandlung die Wirkung auf besonders schutzbedürftige oder flüchtige Verbraucher zum Maßstab gemacht. Die europäische Rechtsprechung68, der sich die deutsche sodann anschloss,69 stellte hingegen auf den durchschnittlich informierten und verständigen Konsumenten ab, also auf den mündigen Verbraucher. Dieser Wandel, der nur einige Monate vor den ersten hier besprochenen Entscheidungen vollzogen wurde, bedeutete eine Erhöhung der Interventionsschwelle. Die Neuorientierung im Verbraucherleitbild ist häufig dargestellt worden, sodass auf ausführliche Darlegungen verzichtet werden kann.70 Bei der Entscheidung über neuartige Werbeformen war die Rechtsprechung gefordert, im jeweiligen Einzelfall die Grundentscheidung über das Verbraucherleitbild nachzuvollziehen und damit die höchstrichterliche Vorgabe im konkreten Fall umzusetzen. Der Tatbestand der Belästigung bzw. die Fallgruppe des Anreißens bieten dafür besonders geeignetes Anschauungsmaterial, da sie eine Konzeption des Verbrauchers voraussetzen, die dessen Empfindungen betrifft, also einen Kernbereich der Persönlichkeit. In den sonst häufig zum Verbraucherleitbild diskutierten Fällen der irreführenden Werbung spielen die Aufmerksamkeit 66

Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 14/1487, S. 16. Fikentscher/Hacker/Podszun, FairEconomy, 2013, Kapitel 2. 68 Zum Beispiel durch EuGH, 16.7.1998, Rs. C-210/96, Slg. 1998, I-4657 = NJW 1998, 3183 – Gut Springenheide; EuGH, 28.1.1999, Rs. C-303/97, Slg. 1999, I-513 = NJW 1999, 2430 – Sektkellerei Kessler. 69 Zum Beispiel durch BGH, 20.10.1999, Az. I ZR 167/99, WRP 2000, 517 – Orientteppichmuster, BGH, 17.5.2001, Az. I ZR 216/99, NJW 2001, 3262 – mitwohnzentrale.de. 70 Vgl. Beater, Unlauterer Wettbewerb, 2011, § 14 Rn. 1106 ff.; Niemöller, Das Verbraucherleitbild in der deutschen und europäischen Rechtsprechung, 1999; grundlegend Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 414 ff. 67

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des Verbrauchers im jeweils relevanten Moment eine Rolle sowie seine Verständnisfähigkeit. Das sind theoretisch objektiv messbare Eigenschaften, was für Empfindungen jedoch nicht gilt. Was ein Mensch als Belästigung empfindet, entzieht sich einer Generalisierung. Sowohl in der nach altem Recht einschlägigen Fallgruppe des Anreißens als auch in § 7 Abs. 1 UWG steht als geschäftliche Handlung ein Verhalten zur Debatte, das innere Eigenschaften der angesprochenen Person zum Ziel hat. Der Sachverhalt, das zur Erinnerung, ist durch das individuelle Ansprechen eines Passanten in der Öffentlichkeit durch einen Werbetreibenden definiert. Wie der Angesprochene darauf reagiert, ist individuell verschieden und hängt von Faktoren wie seinen Umgangsformen, seiner Souveränität, dem Grad seiner Introvertiertheit oder seiner aktuellen Gemütsverfassung ab. Die dogmatische Herausforderung für die Gerichte besteht darin, die höchst individuelle Empfindung zu einem rechtlich nachvollziehbaren Kriterium auszugestalten. In der früheren Rechtsprechung zum Ansprechen in der Öffentlichkeit hatte der BGH darauf abgestellt, dass der Verbraucher überrumpelt und verstrickt werde und aufgrund seiner Verlegenheit, nicht aber aufgrund einer freien Entscheidung zum Vertragsschluss geführt werde. Zudem sei das Eindringen in die Individualsphäre des Verbrauchers als belästigend abzulehnen.71 Die Konzeption des Verbrauchers thematisierte der BGH in dieser frühen Leitentscheidung von 1964 nicht näher. Hinsichtlich des mit der UWG-Reform 2004 neu eingeführten § 7 Abs. 1 UWG führt der Gesetzgeber aus, erfasst werden sollten Handlungen, die nicht aufgrund des Inhalts, sondern wegen der Art und Weise des Handelns als Belästigung empfunden würden. Die Belästigung bestehe darin, dass die Wettbewerbshandlung den Empfängern aufgedrängt wird.72 Die Schwelle der Unzumutbarkeit, die nach Meinung des Gesetzgebers „nicht zu hoch anzusetzen“ sein soll,73 wurde geschaffen, um geringfügige Vorkommnisse aus dem Anwendungsbereich zu halten. In der Gesetzesbegründung heißt es sodann: „Erfasst werden sollen die Fälle, in denen sich die Belästigung zu einer solchen Intensität verdichtet hat, dass sie von einem großen Teil der Verbraucher als unerträglich empfunden wird.“74 Verdichtung der Intensität – Empfinden der Unerträglichkeit, das ist die gesetzgeberische Definition der Belästigung. Dieses Prinzip des Gesetzgebers, einen unscharfen Begriff durch einen anderen zu ersetzen, ist von der Definition der Unlauterkeit (Verstoß gegen die anständigen Gepflogenheiten) bereits bekannt, aber in beiden Fällen gibt der Gesetzgeber einen Hinweis auf die Methodik: Ist es bei der Lauterkeit der Hinweis auf die Gepflogenheiten, der ein 71 72 73 74

BGH, 4.12.1964, Az. Ib ZR 38/63, GRUR 1965, 315, 316 – Werbewagen. Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 14/1487, S. 20. Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 14/1487, S. 21. Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 14/1487, S. 21.

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empirisch-faktisches Element enthält, so ist es bei der Belästigung die Maßgabe, ein großer Teil der Verbraucher müsse die Empfindung teilen. Damit verabschiedet sich der Gesetzgeber zum einen von einem paternalistischen Schwächstenschutz. Zum anderen ist der Raum für eine empirische Erhebung eröffnet: im Mehrheitsbegriff steckt eine Objektivierung der Empfindungen. Die dogmatische Herausforderung, ein Bild des Marktteilnehmers im Zivilrecht zu konzipieren, wird so vom Gesetzgeber in die Richtung eines typisierten Durchschnittsverbrauchers gelenkt. Die Konkretisierung obliegt im Einzelfall weiter den Gerichten.

3. Absicherung des Marktzutritts durch UWG Den verschiedenen lauterkeitsrechtlichen Urteilen zur Betreiber(vor)auswahl ist gemein, dass die Parteien um die Etablierung eines Geschäftsmodells kämpfen. Mangels eigener Teilnehmeranschlussleitungen der neuen Unternehmen stellt die Betreiberauswahl die einzige Möglichkeit dar, um Wettbewerb auf der „letzten Meile“ der Festnetztelefonie zu entfachen. Vergegenwärtigt man sich die wirtschaftlichen Interessen, die sich in diesem Bereich gegenüberstehen, wird das Konfliktpotential rasch deutlich: Für die neuen Anbieter ist die möglichst reibungslose und erfolgreiche Umsetzung der Betreiberauswahl notwendig für den Markteintritt. Nur über dieses Modell können sie Zugang zum Markt für Festnetztelefonie erhalten. Das Interesse richtet sich dabei zum einen auf die schlichte Umsetzung der technischen Notwendigkeiten durch den etablierten Betreiber, zum anderen auf die erforderliche Kundenakquise. Die Telekom, die aus infrastrukturellen Gründen die Festnetztelefonie quasi monopolisiert, hat das wirtschaftliche Interesse, das Modell scheitern zu lassen, schließlich bedrohen Preselection und Call-by-Call grundlegend ihr einträgliches Festnetzgeschäft. Auf den Punkt gebracht geht es den Parteien demnach um die Absicherung respektive die Erschwerung der Marktdurchsetzung des neuen Geschäftsmodells. Diese wirtschaftlichen Interessen, die sich dann in rechtlichen Streitigkeiten niederschlagen, lassen sich mit Zahlen untermauern, die die Bundesnetzagentur erhoben hat. Demnach werden im Festnetz-Segment jährlich seit 1999 Umsätze von über 20 Mrd. Euro erzielt.75 Die Wettbewerber der Telekom konnten ihre Marktanteile im Festnetzbereich für Inlandsverbindungen kontinuierlich erhöhen von 23 Prozent im Jahr 2002 auf 39 Prozent im Jahr 2004 und 47 Prozent im Jahr 2008.76 In dieser Höhe steht der Marktanteil der alternativen Anbieter seit 2006.77 Die Umsätze wurden anfangs vor allem mit Preselection und Call-by-Call-Verfahren erzielt (Anteil 2000: 45 Prozent Call75 76 77

Bundesnetzagentur, Tätigkeitsbericht 2008/2009, 2009, S. 320. Bundesnetzagentur, Tätigkeitsbericht 2008/2009, 2009, S. 68. Bundesnetzagentur, Tätigkeitsbericht 2010/2011, 2011, S. 45.

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by-Call, 42 Prozent Preselection, 13 Prozent Direktverbindungen). 2008 wurden mit Betreiber(vor)auswahl nur noch 26 Prozent der Umsätze erzielt, 74 Prozent entfallen auf Direktverbindungen, insbesondere über Kabel.78 2010 war die Bedeutung der Betreibervorauswahl auf 10 Prozent der über alternative Anbieter abgehenden Gesprächsminuten gesunken.79 Die Nutzerzahlen für Preselection erreichten ihren Höhepunkt 2005 (6,3 Mio. Nutzer), während 2000 und 2008 jeweils 3,6 Mio. Teilnehmer Preselection nutzten.80 2010 sind es 1,7 Mio. Teilnehmer.81 Aus diesen Zahlen gehen drei Aspekte hervor: erstens handelt es sich um ein volkswirtschaftliches bedeutsames Marktsegment, in dem hohe Umsätze generiert werden. Zweitens ist der etablierte Betreiber, die Telekom, durch alternative Anbieter unter Druck geraten, da die Marktanteile erhebliche Sprünge aufweisen. Die Telekom muss auf immer neue Vorstöße der Newcomer reagieren – Wettbewerb! Die Bundesnetzagentur konstatierte „massiven Preisdruck“82, der den Verbrauchern durch die Etablierung von Angeboten zur Betreiberauswahl zugutekam. Die Bedeutung der Betreiber(vor)auswahl für die Schaffung von Wettbewerb ist aber, und das ist der dritte interessante Aspekt, seit 2005 kontinuierlich zurückgegangen, da eine alternative Technologielösung an Bedeutung gewann. Die Telefonunternehmen gingen nämlich zunehmend dazu über, eigene Teilnehmeranschlussleitungen zu etablieren, insbesondere über das Kabelnetz. Sie machten sich damit vom etablierten Betreiber unabhängig. Dies erscheint nur konsequent. Die Abhängigkeit vom Anschluss des wichtigsten Konkurrenten hätte dauerhaft Konfliktpotenzial geboten. Die Markt-Lösung (etwa ab 2005), nämlich eigene Teilnehmeranschlussleitungen über Kabel zu etablieren, beseitigt die Abhängigkeit. Damit entstand Infrastruktur-Wettbewerb auf der „letzten Meile“, sodass das bottleneck beseitigt werden konnte.83 Die Entwicklung im Telefonfestnetz-Bereich ist ein Beispiel für die durch eine Deregulierungsmaßnahme ausgelöste Dynamik, die einer deregulierten Branche innerhalb der ersten Dekade innewohnt. Diese Dynamik verflacht nach zehn Jahren allerdings. Die Bundesnetzagentur spricht selbst von „gefestigtem Wettbewerb“84, was wohl einerseits bedeutet, dass sich Wettbewerber mit ihren Marktanteilen neben der Telekom etablieren konnten, andererseits wettbewerbliche Vorstöße nicht mehr von grundstürzender Bedeutung sind.

78 Bundesnetzagentur, Tätigkeitsbericht 2008/2009, 2009, S. 45; Bundesnetzagentur, Ortsnetzwettbewerb 2000, 2001, S. 32. 79 Bundesnetzagentur, Tätigkeitsbericht 2010/2011, 2011, S. 45. 80 Bundesnetzagentur, Tätigkeitsbericht 2008/2009, 2009, S. 323. 81 Bundesnetzagentur, Tätigkeitsbericht 2010/2011, 2011, S. 62. 82 Bundesnetzagentur, Tätigkeitsbericht 2010/2011, 2011, S. 62. 83 Vgl. Schalast/Abrar, ZWeR 2009, 85, 88 f. 84 Bundesnetzagentur, Tätigkeitsbericht 2010/2011, 2011, S. 62 f.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

Angesichts der Dynamik in der Branche war die Kundengewinnung eine essentielle Herausforderung für die Wettbewerber, sodass erhebliche Marketinganstrengungen zu unternehmen waren. Wer in einer dem Kunden bislang nur monopolistisch vertrauten Branche ein neues Angebot durchsetzen will, muss die Möglichkeit dieses Angebots erklären und Widerstände überwinden. Werbung und Information dienen also nicht nur dazu, die Vorzüge des eigenen Angebots hervorzuheben, wie bei etablierten Produkten oder Dienstleistungen. Vielmehr muss das Angebot als solches vermittelt werden. Das Marketing in einer liberalisierten Branche wie der Telekommunikation, die jahrzehntelang von einem staatlichen Monopolisten dominiert wurde, ist besonders schwierig, da die Adressaten des Marketings langjährige Gewöhnungseffekte haben. Zudem wirkt die staatliche Autorität des BundespostNachfolgeunternehmens mit hohem Bekanntheitsgrad im Kundenbewusstsein weiter. Die Telekom konnte, was noch wichtiger war, auf den Kundenbestand zugreifen, den neue Wettbewerber ihr erst streitig machen mussten. Die Wechselwilligkeit von Telekommunikationskunden ist schließlich durch technische Hürden und Sorgen bezüglich der Systemstabilität neuer Anbieter gemindert. Diese Bedenken fallen besonders stark ins Gewicht, da die Leistungen unverzichtbarer Bestandteil der persönlichen Lebensführung sind (hier: telefonische Kommunikation). Das Durchsetzen von Billigvorwahlen im Markt war folglich mitentscheidend für die Überwindung des infrastrukturellen bottlenecks im Bereich der Festnetztelefonie. Rechtliche Auseinandersetzungen darüber konnten eine hohe Wirkung für die Branche insgesamt erzielen. Das gilt insbesondere angesichts der Forschungen, die den first-mover-advantage im Bereich der Telekommunikation als relativ hoch einschätzen.85 First-mover-advantage bedeutet, dass der erste Anbieter eines Produkts oder einer Dienstleistung höhere Marktdurchsetzungschancen hat als ein später hinzutretender Marktteilnehmer. Auf die Festnetztelefonie gewendet erhärten diese, am Gewöhnungseffekt ansetzenden Forschungen die Annahme, dass die Telekom einen außerordentlich hohen Vorteil durch den existierenden Kundenstamm hat. Eine Verzögerungsstrategie des ehemaligen Monopolisten ergibt aus dieser Warte Sinn. Zugleich steigt für neue Anbieter die Bedeutung einer möglichst raschen Positionierung im Markt. Damit liegen die wesentlichen wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen auf der Hand: Der etablierte Netzbetreiber hat kein Interesse an Billigvorwahl-Angeboten. Seine geschäftliche Strategie kann auf Verzögerung und Unterbindung von Werbung für solche Angebote ausgerichtet sein. Die neuen Anbieter müssen hingegen darauf abzielen, möglichst rasch und unkompliziert in den Markt zu kommen und offensiv werben zu können, um Kunden akquirieren zu können. 85

Vgl. Haucap/Dewenter, First-Mover Vorteile, 2006, S. 28 ziehen diesen Schluss aus einer Studie über den Schweizer Mobilfunkmarkt.

B. Marktzutritt und Lauterkeit: Das Geschäftsmodell „Billigvorwahl“

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Für den Erfolg im Wettbewerb wurde damit die Endkundenakquise entscheidend, welche ganz überwiegend nicht eine Werbung von Neukunden war (wie etwa im entstehenden Mobilfunk), sondern ein Kampf um Bestandskunden des etablierten Betreibers. Diese Kunden aber hatten ein jahrzehntelang wettbewerbslos vorgeprägtes Verständnis von Telekommunikationsdienstleistungen. Call-by-Call und Preselection erschienen in einem solchen Markt als relativ gut darstellbare Möglichkeiten, den Kunden überhaupt Verbindungsdienstleistungen zu erbringen, die nicht auf Rechnung der Telekom durchgeführt werden.86 Dafür sprach, dass ein relativ verständlicher Preiswettbewerb geführt werden konnte (Vergleich der Tarife von etablierten und neuen Betreibern, daher die Streitigkeiten um irreführende Werbung), kundenseits keine technischen Umrüstungen erforderlich waren (wohl aber seitens der Telekom, daher die Streitigkeiten um die Ausführung dieser Umstellungen) und die Gesprächsqualität und andere Parameter identisch blieben. Doch blieb für das Gewinnen von Kunden und damit für den Erfolg am Markt, ja, den Zutritt zum Markt entscheidend, dass jede Werbung eine Werbung gegen die Telekom um einen Kunden dieses Unternehmens sein musste. Das Direktmarketing ist für solche Zwecke besonders geeignet. Es wird definiert als individuelle Ansprache eines potentiellen Kunden durch einen Werber.87 Das Besondere ist die unmittelbare Antwortmöglichkeit (ResponseElement) für den Kunden.88 Diese Art der Kundenansprache wird überwiegend eingesetzt, um Interessenten für komplexe Produkte über eine Vertrauensbeziehung zu gewinnen, sodass sich die Kunden für eine langfristige Bindung öffnen.89 Es geht also nicht, wie beim Massenmarketing, um die Ermunterung zu einer einzelnen Transaktion. Das in Deutschland bekannteste Beispiel einer Direktmarketing-Strategie ist das des Staubsauger-Unternehmens Vorwerk, das ausschließlich mit Haustürvertretern operiert. Moderne technologische Entwicklungen lassen ein individualisiertes Direktmarketing über Telefon, E-Mail, SMS oder soziale Netzwerke zu. In diesen Foren ist die persönliche Ansprache des Kunden mit unmittelbarer Antwortmöglichkeit entscheidend für die Gewinnung des Kundeninteresses und ggf. seiner langfristigen Bindung. Werden solche Werbemaßnahmen Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen im Lauterkeitsrecht, stellt sich für Zivilgerichte die dogmatische Herausforderung, ob den Interessen am Wettbewerb Rechnung getragen werden kann. Die Anspruchstellerin (in der Regel die Telekom) beruft sich auf das Lauterkeitsrecht, um den Marktzutritt der Newcomer praktisch zu verhin86 Vgl. Beuchler in: Keßler/Micklitz, Kundenschutz auf liberalisierten Märkten, 2008, S. 69; zu ökonomischen und weiteren Aspekten Baier, Telekommunikationsmarkt in Deutschland, 2005. 87 Vgl. Roßnagel/Jandt, MMR 2011, 86 m.w.N. 88 Ebd. 89 Vgl. Roßnagel/Jandt, MMR 2011, 86, 87.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

dern. Das Lauterkeitsrecht wird damit die Arena, in der über marktzutrittsrelevante Fragen gestritten wird. Dies mag den wettbewerbsrechtlichen Dogmatiker zunächst überraschen, gilt doch das Lauterkeitsrecht in Abgrenzung zum Kartellrecht gemäß traditioneller Definition als das Recht des „wie“, nicht des „ob“:90 Ob Wettbewerb stattfindet, entscheidet sich demnach an der Offenheit der Märkte, die vom Kartellrecht gesichert wird. Als lauterkeitsrechtliche Domäne gilt hingegen die Frage, wie der Wettbewerb praktiziert wird, welche Gepflogenheiten auf den Märkten herrschen. In den Fallgestaltungen, die hier diskutiert werden, schlägt jedoch das „wie“ in ein „ob“ um. Das liegt an der bottleneck-Position, welche der etablierte Netzbetreiber einnimmt: aufgrund seiner technischen Position sind seine Konkurrenten auf seine Vorleistungen und seine Zusammenarbeit angewiesen. Eine solche marktmächtige Stellung eröffnet das Potenzial, aus einem unlauteren Verhalten ein marktgefährdendes Verhalten zu machen. Die Schwelle der unternehmerischen Marktmacht, die für das UWG keine tatbestandliche Bedeutung hat, ist im Kartellrecht für die Missbrauchstatbestände essentiell. So kann die rechtliche Problematik zwischen beiden Gebieten eng geführt werden. Lauterkeitsrechtliche Fälle, in denen eine der Parteien gegenüber der anderen marktmächtig ist, sind also wertungsmäßig sehr nah am Kartellrecht – auch dann, wenn sie im Gewand einer Auseinandersetzung über Werbemaßnahmen verkleidet sind. Dies gilt insbesondere für den Fall, dass das Lauterkeitsrecht als Rechtsgebiet gesehen wird, das primär die autonome Entscheidung des Marktteilnehmers vor unzulässiger Beeinflussung schützen soll. In diesem Schutz der „wirtschaftlichen Selbstbestimmung des Verbrauchers“91 (Drexl) treffen sich Lauterkeits-, Kartell- und Privatrecht. Eine starke Literatur-Meinung interpretiert das Lauterkeitsrecht ohnehin als Zwilling des Kartellrechts, als ein Rechtsgebiet, das ebenso wie dieses dem Schutz des Wettbewerbs dient.92 Zum Teil löst sich die Lehre damit von der gesetzgeberischen Erklärung, unlauter bedeute unanständig, und setzt unlauter mit wettbewerbswidrig gleich.93 Vorgeschlagen wurde etwa eine ökonomischere Fundierung des Lauterkeitsrechts, bei der Ausgangspunkt der Lauterkeits-Prüfung die Diagnose einer Marktunvollkommenheit wäre.94 Das Lauterkeitsrecht wettbewerbsfunktional zu verstehen, findet sowohl normative Gründe in der Wirtschafts-

90

Fezer in: Fezer, Lauterkeitsrecht, 2010, Einl. E Rn. 215. Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 547 ff. 92 Vgl. Schünemann in: Harte/Henning, UWG, 2009, § 3 Rn. 199 ff.; Glöckner, Europäisches Lauterkeitsrecht, 2006, passim; Micklitz/Keßler, WPR 2003, 919, 921; Köhler, WRP 2005, 645, 646; Podszun, WRP 2009, 509 ff., jeweils m.w.N. Siehe auch Beater, Unlauterer Wettbewerb, 2011, § 1 Rn. 90 ff.; Henning-Bodewig, Unfair Competition Law, 2006, S. 7. 93 Am deutlichsten wohl Schünemann in: Harte/Henning, UWG, 2009, § 3 Rn. 202. 94 Podszun, WRP 2009, 509, 511. 91

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verfassung95 als auch ökonomische Gründe in der Funktionsweise der Marktwirtschaft96. Die Justiz hat sich diese Konzeption eines einheitlichen kartell- und lauterkeitsrechtlichen Wettbewerbsschutzes (noch) nicht zu Eigen gemacht. Allerdings hat sich der BGH in der Entscheidung Probeabonnement mit der Konkurrenz von Kartellrecht und Lauterkeitsrecht befasst.97 Zu entscheiden war über die lauterkeitsrechtliche Durchsetzung (§ 4 Nr. 11 UWG) eines Verstoßes gegen Kartellrecht (§ 30 GWB). Dies lehnte der BGH wegen der Sperrwirkung des Kartellrechts ab. Damit billigte er materiell aber zugleich einen Wettbewerbsvorstoß. Als Kartellrechtsverstoß war nämlich das Unterlaufen der Preisbindung für Zeitschriften gerügt worden. Die Entscheidung ist daher in materieller Hinsicht als Annäherung an ein wettbewerbsfunktionales UWG interpretiert worden.98 Wenn, wie in den Fällen des Ansprechens in der Öffentlichkeit, der Marktzutritt, und damit das eröffnende Kernelement des Wettbewerbs, auf dem Spiel steht, ist von der Rechtsprechung zumindest ein Erkennen der wettbewerbsfunktionalen Komponente zu verlangen. Nur wenn die Problematik der Kundenakquise von einem Monopolisten zutreffend im Urteil erkannt wird, wird die Komplexität der post-deregulativen Konflikte abgebildet. Nur am Rande sei bemerkt, dass selbst Fälle, die auf den ersten Blick nicht unmittelbar wettbewerbsrelevant wirken, Ausfluss von Marktunvollkommenheiten sein können oder wettbewerbliche Auswirkungen haben.99 Die Rechtsprechung muss sich vor diesem Hintergrund positionieren, wie sie das nach Literaturmeinung besonders starke Element des Wettbewerbsschutzes in die Prüfung integriert. Dass die Rechtsprechung zum Lauterkeitsrecht selbst wettbewerbsbeschränkende Wirkungen entfalten kann, hat Olaf Sosnitza nachgewiesen.100

III. Rechtsprechungsentwicklung Die Analyse der Rechtsprechung zum Ansprechen in der Öffentlichkeit zwecks Werbung für eine Betreibervorauswahl verfolgt damit drei Ziele. Erstens soll geklärt werden, wie Rechtsprechung sich einer neuartigen Problematik in einem post-deregulativen Konflikt nähert. Zweitens ist darauf zu achten, wie die Rechtsprechung die dogmatischen Herausforderungen (Unlauterkeit, 95

Vgl. Erwägungsgrund 3 der UGP-Richtlinie und der Richtlinie über unlautere Werbung. Vgl. Podszun, WRP 2009, 509, 510 f. 97 BGH, 7.2.2006, Az. KZR 33/04, NJW 2006, 2627 – Probeabonnement. 98 Vgl. Podszun, WRP 2009, 509, 512; Alexander, ZWeR 2007, 239; Glöckner, GRUR 2008, 960 (mit dem Beispiel Telefonmarketing). 99 Vgl. Glöckner, Europäisches Lauterkeitsrecht, 2006, S. 469 f.; Podszun, WRP 2009, 509, 515 f. 100 Sosnitza, Wettbewerbsbeschränkungen durch die Rechtsprechung, 1995. 96

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

Verbraucherempfinden, Marktzutritt) bewältigt. Drittens ist die Rechtsprechungslinie mit Hilfe des Legitimationsrasters zu bewerten. In zwei Fällen hat das Vorgehen der Telekom gegen alternative Betreiber wegen sogenannten Direktmarketings für Preselection-Aufträge den BGH erreicht. Diese Urteile sind in der Entwicklungsperspektive interessant wegen des obergerichtlichen Instanzenzuges. Das UWG bringt es mit sich, dass aufgrund des ausgefeilten Verfahrenszuges zahlreiche Entscheidungen in derselben Sache vorliegen können. Dies ergibt sich daraus, dass üblicherweise Antrag auf eine einstweilige Verfügung gestellt wird (vgl. § 12 Abs. 2 UWG), auf den hin der Verfügungsbeschluss gefällt wird. Gegen diesen kann Widerspruch eingelegt werden (§ 936 Abs. 1 i.V.m. § 924 ZPO), was zur Entscheidung in Form eines Endurteils nach mündlicher Verhandlung führt (Verfügungsurteil, §§ 936 Ab. 1, 925 ZPO). Gegen dieses Urteil kann, da es sich um ein Endurteil handelt, Berufung eingelegt werden (§ 511 Abs. 1 ZPO). Gegen die Entscheidung der Berufungsinstanz allerdings, gibt es keinen Rechtsschutz mehr (§ 542 Abs. 2 ZPO). Parallel dazu kann das Hauptsacheverfahren durchgeführt werden (ggf. auf Anordnung hin, § 926 Abs. 1 ZPO), in dem nicht nur – wie im Verfügungsverfahren – eine summarische Prüfung erfolgt. Im Hauptsacheverfahren ergeht ein Urteil erster Instanz, gegen das Berufung (§ 511 Abs. 1 ZPO) und ggf. Revision (§ 542 Abs. 1 ZPO) eingelegt werden können. In einem der zwei behandelten Fälle kam es vom Revisionsgericht noch zur teilweisen Aufhebung und Zurückverweisung des Falls an das Oberlandesgericht (§ 563 Abs. 1 ZPO). In den zwei Fällen liegen daher sieben bzw. sechs Entscheidungen zur selben Sache vor.101 Die folgende Übersicht bildet ab, welche Entscheidungen zu der Thematik vorliegen: 102 103 104 105 106 107 Köln

Frankfurt am Main

Verfügungsbeschluss

LG Köln, 18.5.2000102

LG Frankfurt, 27.6.2000103

Verfügungsurteil

LG Köln, 7.7.2000104

LG Frankfurt, 21.7.2000105

Hauptsacheurteil

LG Köln, 21.12.2000106

LG Frankfurt, 22.12.2000107

101 Genau genommen liegen im Kölner Fall auch sieben Entscheidungen vor, da in erster Instanz eine weitere Entscheidung in derselben Sache gegen eine Vertriebstochter der Antragsgegnerin gefällt wurde, die aber inhaltsgleich mit der anderen Erstentscheidung ist, vgl. Schwab, GRUR 2002, 579 Fn. 1. 102 LG Köln, 18.5.2000, berichtet von Schwab, GRUR 2002, 579 Fn. 1. 103 LG Frankfurt am Main, 27.6.2000, berichtet von Schwab, GRUR 2002, 579 Fn. 1. 104 LG Köln, 7.7.2000, Az. 81 O 105/00, berichtet von Schwab, GRUR 2002, 579 Fn. 1. 105 LG Frankfurt am Main, 21.7.2000, Az. 3/11 O 83/00, berichtet von Schwab, GRUR 2002, 579 Fn. 1. 106 LG Köln, 21.12.2000, Az. 84 O 81/00 (nicht veröffentlicht). 107 LG Frankfurt am Main, 22.12.2000, Az. 3/11 O 109/00 (nicht veröffentlicht).

B. Marktzutritt und Lauterkeit: Das Geschäftsmodell „Billigvorwahl“ 108 109 110 111 112 113 114

Köln

Frankfurt am Main

Berufung Verfügung

OLG Köln, 2.2.2001108

OLG Frankfurt, 8.2.2001109

Berufung Hauptsache

OLG Köln, 27.7.2001110

OLG Frankfurt, 7.2.2002111

Revision Hauptsache

BGH, 1.4.2004112

BGH, 9.9.2004113

Urteil nach Zurückverweisung

321

OLG Frankfurt, 14.6.2007114

Die BGH-Rechtsprechung in den Preselection-Fällen zur Frage, was eine unlautere „Belästigung“ darstellt, wurde in ihrem rechtlichen Gehalt für andere Bereiche, außerhalb der Werbung für Preselection-Verträge, durch zahlreiche weitere Urteile rezipiert.115

1. Sachverhalt Der Tatbestand beider Urteilslinien bezieht sich auf denselben Lebensvorgang: Die Antragsgegnerin116, ein neuer Anbieter von Preselection-Verträgen, hatte vor einem Warenhaus einen Werbestand aufgebaut und Passanten individuell und gezielt angesprochen, um bei diesen für den Abschluss eines Preselection-Vertrags zu werben. Zur sachverhaltlichen Einordnung schreibt das OLG Köln: „Soweit ersichtlich ist die gezielte individuelle Ansprache von Passanten u.a. auf öffentlichen Straßen als systematische und bundesweit vertriebene Werbeform erstmals im Zusammenhang mit den hier betroffenen Verträgen der Telekommunikationsbranche aufgetreten.“117 108

OLG Köln, 2.2.2001, Az. 6 U 112/00, CR 2001, 313. OLG Frankfurt, 8.2.2001, Az. 6 U 182/00, GRUR 2002, 639. 110 OLG Köln, 27.7.2001, Az. 6 U 20/01, GRUR 2002, 641. 111 OLG Frankfurt, 7.2.2002, Az. 6 U 24/01 (nicht veröffentlicht). 112 BGH, 1.4.2004, Az. I ZR 227/01, GRUR 2004, 699 – Ansprechen in der Öffentlichkeit. 113 BGH, 9.9.2004, Az. I ZR 93/02, GRUR 2005, 443 – Ansprechen in der Öffentlichkeit II. 114 OLG Frankfurt, 14.6.2007, Az. 6 U 24/01, GRUR 2008, 353. 115 Vgl. OLG Bremen, 22.7.2005, Az. 2 W 54/2005 (Juris) (Ansprechen in Kfz-Zulassungsstelle); LG Kiel, 30.11.2004, Az. 16 O 51/04, GRUR 2005, 446 (Ansprechen an roten Ampeln); OLG München, 17.1.2008, Az. 29 U 4576/07, GRUR-RR 2008, 355 (LKW mit Werbung für ein Bestattungsunternehmen auf Friedhof); OLG Hamm, 14.1.2010, Az. 4 U 199/09, BeckRS 2010, 03257 (Werbestand für Nachhilfe-Club in der Nähe des Konkurrenten); BGH, 9.2.2006, Az. I ZR 73/02, NJW 2006, 1665 (Direktansprache am Arbeitsplatz II); OLG München, 5.12.2005, Az. 29 W 2745/05, NJW 2006, 517 (Verteilung von Werbeflyern in Gesellschafterversammlung an geschädigte Kapitalanleger); OLG Frankfurt, 29.1.2009, Az. 6 U 90/08 (Juris) (Werbeschreiben für Grabstein unmittelbar nach Todesfall). 116 Aus Gründen der Klarheit bleibt die Terminologie hier einheitlich beim Ausgangsverfahren, auch wenn im Laufe des Verfahrenswegs von Klägern, Berufungsklägerin, Revision usw. die Rede sein müsste. Die Rede ist hier stets von Antragstellerin (etablierter Betreiber) und Antragsgegnerin (neuer Anbieter von Preselection). 117 OLG Köln, 27.7.2001, Az. 6 U 20/01, GRUR 2002, 641, Rz. 156 ff. 109

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

Es handelt sich damit um eine post-deregulative Streitigkeit, also einen Konflikt zwischen etabliertem Betreiber und neuen Wettbewerbern, der erstmalig nach der Deregulierung aufgetreten ist.

2. Anträge und Entscheidungen Die Antragstellerin hatte in beiden Fällen wortgleich eine Unterlassungsverfügung beantragt, die „im Rahmen der Akquise von Pre-Selection-Verträgen“ das „gezielte und individuelle Ansprechen“ von „Passanten auf öffentlichen Straßen, Plätzen, Märkten, Bahnhöfen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, Einkaufszentren, Warenhäusern oder Geschäftspassagen“ umfasste. Das LG Köln und das LG Frankfurt am Main gaben dem Antrag unverändert statt. Im Kölner OLG-Verfügungsverfahren gab das OLG dem Antrag statt, allerdings nicht bezüglich Bahnhöfen und öffentlichen Verkehrsmitteln. Hierfür sei keine Begehungsgefahr gegeben. Im Kölner OLG-Hauptsache-Verfahren wurde der Antrag dahingehend modifiziert, dass die Werber die Passanten nicht nur ansprechen, sondern auch auf diese „zugehen“. In dieser Form wurde dem Antrag stattgegeben. Die Antragsgegnerin hatte eine Zurückweisung des Antrags jedenfalls bei der Ansprache in Warenhäusern, Einkaufspassagen, Geschäftspassagen und Märkten gefordert. Die Revision der Antragsgegnerin blieb erfolglos. Diese wurde im Ergebnis folglich verurteilt, „es zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs im Rahmen der Akquise von Pre-Selection-Kunden auf öffentlichen Straßen, Plätzen, Märkten, in Einkaufszentren, Warenhäusern, Geschäftspassagen auf Passanten zuzugehen oder zugehen zu lassen und sie individuell anzusprechen oder ansprechen zu lassen.“ Das OLG Frankfurt hat den Antrag, unter ausdrücklicher Abgrenzung vom Kölner OLG-Urteil, das wenige Tage zuvor ergangen war, abgelehnt. Der BGH hat die Revision zurückgewiesen, soweit es sich um Werbemaßnahmen in öffentlichen Verkehrsmitteln handelt, da keine Anhaltspunkte vorlägen, dass die Antragsgegnerin auch in öffentlichen Verkehrsmitteln werben wolle. Im Übrigen aber hat der BGH die Entscheidung des OLG Frankfurt aufgehoben und zurückverwiesen. Das OLG Frankfurt hat in seiner 2007Entscheidung die BGH-Entscheidung dahingehend umgesetzt, dass dem Antrag in modifizierter Form stattgegeben wurde. Demnach hat es die Antragsgegnerin zu unterlassen, „im Rahmen der Akquise von Pre-Selection-Kunden Passanten auf öffentlichen Straßen, Plätzen, Märkten, Bahnhöfen oder in Einkaufszentren oder Geschäftspassagen gezielt und individuell anzusprechen und/oder ansprechen zu lassen, die weder ausdrücklich noch konkludent ein Interesse an dem Angebot der Beklagten zum Ausdruck gebracht haben, es sei denn, dass die insoweit tätigen Werber für die Passanten von vornherein als solche eindeutig erkennbar sind.“

B. Marktzutritt und Lauterkeit: Das Geschäftsmodell „Billigvorwahl“

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Betrachtet man das Endergebnis beider Fälle, so gewinnt in beiden Fällen die Antragstellerin. In beiden Fällen wird auch das tatbestandliche Ansprechen der Kunden für grundsätzlich unzulässig erklärt. Das Ergebnis des Kölner Falls unterscheidet sich vom (sachverhaltlich identischen) Frankfurter Fall jedoch in vier Punkten: Erstens ist das ausdrückliche oder konkludente Kundeninteresse im Frankfurter Fall maßgeblich, im Kölner hingegen spielt es keine Rolle. Zweitens ist nach Frankfurter Rechtsprechung eine Ausnahme von der grundsätzlichen Unzulässigkeit zu machen, wenn die Werbenden eindeutig als solche erkennbar sind. Drittens bezieht sich die Kölner Unterlassungsverfügung nicht auf Bahnhöfe. Viertens ist das Merkmal des Zugehens auf den Passanten nur im Kölner Urteil enthalten. Der Bedeutungsunterschied dieser vier Abweichungen lässt sich möglicherweise den Kostenentscheidungen entnehmen: Während im Kölner Fall die Antragsgegnerin die Kosten tragen muss, werden die Kosten im Frankfurter Fall gegeneinander aufgehoben. Das OLG Frankfurt hat damit eine Entscheidung getroffen, die sich im Ergebnis erheblich von der ersten BGH-Entscheidung absetzt. Das Kölner Verfahren dauerte vom Verfügungsbeschluss bis zur Entscheidung des BGH etwa vier Jahre, das Frankfurter Verfahren, in dem an das OLG zurückverwiesen wurde, dauerte etwa sieben Jahre.

3. Unlauterkeitsauslösendes Element Die erste Frage, welche die Gerichte zu beurteilen haben, ist diejenige, welches unlauterkeitsbegründende Element sie in den Vordergrund ihrer Argumentation stellen. a) Darstellung Das OLG Köln, das die Unlauterkeit bejahte, ordnete unter § 1 UWG a.F. Direktmarketing als Belästigung ein und führte aus: „Viele Betroffene werden durch die persönliche Ansprache in eine mit einem Gefühl erheblicher Unbehaglichkeit verbundene subjektive Zwangslage versetzt, der sie sich häufig nur dadurch zu entziehen können glauben, dass sie auf das Angebot eingehen.“118

Die direkte Ansprache, das Eindringen in die Individualsphäre, werde also als so unangenehm empfunden, dass keine freie Entscheidung mehr stattfindet, ob sich die Passanten mit dem Angebot befassen. Hinzu tritt der vom OLG Köln sogenannte „Summeneffekt“119: Mit der Freigabe dieser Werbeform würden sämtliche Wettbewerber dazu greifen und damit die Belästigung ins118 OLG Köln, 27.7.2001, Az. 6 U 20/01, GRUR 2002, 641, Rz. 48, zitierend OLG Köln, 2.2.2001, Az. 6 U 112/00, CR 2001, 313, II. 119 OLG Köln, 27.7.2001, Az. 6 U 20/01, GRUR 2002, 641, Rz. 173.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

gesamt steigern.120 In der Begründung des OLG Köln werden (spezifisch zur Frage des „Summeneffekts“) Urteile zur Werbung am Unfallort zitiert, dessen jüngstes aus dem Jahr 1980 stammt.121 In diesen Fällen geht es um die Gestaltung, dass Abschleppunternehmen aus eigener Initiative an den Ort eines Autounfalls fahren und den gerade Verunfallten ansprechen, um ihre Dienste anzubieten. Das OLG Frankfurt, das keine Unlauterkeit annimmt, referiert zu diesem Punkt im Wesentlichen die frühere Rechtsprechung. Diese habe angenommen, dass „die durch ein derartiges Ansprechen hervorgerufenen Gefühle von Verlegenheit, Hemmung, Unbehagen oder Unlust sowie der Beschränkung der Entscheidungsfreiheit“ sich zu einer Zwangslage verdichtet hätten.122 Das Schaffen einer derartigen Lage sei als Eindringen in die Individualsphäre unlauter gewesen. Die Zwangslage habe wesentlich darin bestanden, „dass der Passant gezwungen werde, gegen seinen Willen sein Augenmerk auf eine wirtschaftliche Maßnahme zu richten und sich zu entscheiden, ob er der Aufforderung, das Geschäftslokal zu betreten, folgen oder sie abweisen soll.“123 Dieser Beurteilung könne man sich heute jedoch nicht mehr anschließen, da sich die Gepflogenheiten geändert hätten. Nur noch bei Hinzutreten zusätzlicher Unlauterkeitselemente sei eine Unlauterkeit zu bejahen. Zur Begründung dieser Meinung differenziert das OLG Frankfurt seine Auffassung von früheren Fällen, in denen ein grundsätzliches Verbot des Ansprechens in der Öffentlichkeit statuiert war. Die älteren Fälle, etwa den Fall, in dem Passanten angesprochen werden, um sie zum Betreten eines Werbewagens zu bewegen,124 hält das OLG Frankfurt für überholt. Die Rechtsprechung zur Werbung am Unfallort differenziert das OLG von der Preselection-Fallgestaltung, da in diesen Fällen weitere, eine Zwangslage begründende Umstände hinzutreten würden („Aufdringlichkeit der Ansprache, Ansprache durch mehrere Werber gleichzeitig, Ansprache an einem Ort, an dem der Angesprochene dem Werber nicht oder nur schwer ausweichen kann“125). Als Beleg für geänderte Gepflogenheiten bringt die Antragsgegnerin das Argument vor, § 1 Abs. 1 Nr. 3 HaustürWG (heute § 312 Abs. 1 Nr. 3 BGB) enthalte die gesetzgeberische Wertung, dass das Ansprechen in der Öffentlichkeit zu Werbezwecken jedenfalls nicht per se unzulässig ist. Dieses Argument macht sich das OLG Frankfurt zu Eigen.126 Die Norm räumt einem überra120 Ebenso BGH, 1.4.2004, Az. I ZR 227/01, GRUR 2004, 699, Rz. 19. Leistner, Richtiger Vertrag und lauterer Wettbewerb, 2007, S. 689 f. tritt dieser Überlegung mit dem Argument entgegen, ökonomisch sei eine Ausweitung dieser kostenintensiven und unfokussierten Werbeform ineffizient. 121 Vgl. OLG Köln, 27.7.2001, Az. 6 U 20/01, GRUR 2002, 641, Rz. 47. 122 OLG Frankfurt, 8.2.2001, Az. 6 U 182/00, GRUR 2002, 639, 640. 123 Ebd. 124 BGH, 4.12.1964, Az. Ib ZR 38/63, GRUR 1965, 315 – Werbewagen. 125 OLG Frankfurt, 8.2.2001, Az. 6 U 182/00, GRUR 2002, 639, 640 a.E. 126 OLG Frankfurt, 8.2.2001, Az. 6 U 182/00, GRUR 2002, 639, 640.

B. Marktzutritt und Lauterkeit: Das Geschäftsmodell „Billigvorwahl“

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schend auf öffentlichen Verkehrsflächen angesprochenen Verbraucher ein Widerrufsrecht bei Vertragsabschluss ein. Der BGH rückt in seinen zwei Entscheidungen zu der Thematik von dem Aspekt der Entscheidungsfreiheit ab und tritt dem OLG Frankfurt bei, dass heute ein psychische Zwangslage durch das Ansprechen nicht mehr entstehe (vom BGH notabene verbunden mit dem Seufzer, die beteiligten Verkehrskreise seien „heute stärker als früher auf die Wahrung eigener Interessen und weniger auf die Einhaltung bestimmter Umgangsformen bedacht“.127) Stattdessen, so der BGH, liege das Unlauterkeitsmoment „in dem belästigenden Eingriff in die Individualsphäre des Umworbenen und in dessen Recht, auch im öffentlichen Raum weitgehend ungestört zu bleiben.“128 Der BGH selbst stützte seine Auffassung, dass diese Werbeform grundsätzlich unzulässig ist, auf BGH-Entscheidungen aus den Jahren 1960129, 1974130 sowie die Fortsetzung der Entscheidungsreihe Werbung am Unfallort aus dem Jahr 1999131.132 Dem Argument aus dem Haustürwiderrufsgesetz tritt der BGH entgegen, indem er auf die unterschiedlichen Ansatzpunkte und Rechtsfolgen verweist: Während nach Haustürwiderrufsrecht ein Widerruf eingeräumt wird, der die zivilrechtlichen Folgen des Vertragsabschlusses beseitigt, sanktioniert das UWG die wettbewerbliche Handlung als solche.133 Das OLG Köln hatte zu diesem Punkt darauf hingewiesen, dass nach Haustürwiderrufsrecht das Rechtsgeschäft in Frage gestellt werde, während das UWG hauptsächlich auf Unterlassung, evtl. auch auf Schadensersatz abziele.134 Derselbe BGH-Senat verschob in seiner 2. Entscheidung zu der Thematik, die nur fünf Monate nach der ersten Entscheidung erging, die Begründung erneut. Nunmehr wurde nicht mehr eine grundsätzliche Unzulässigkeit des Ansprechens wegen Eindringens in die Individualsphäre geltend gemacht, sondern der Aspekt der Erkennbarkeit des Werbenden für den Passanten als maßgeblich erachtet. Dieser war in der ersten BGH-Entscheidung zwar bereits im Leitsatz genannt (wettbewerbswidrig, insbesondere wenn der Werbende nicht erkennbar ist).135 Allerdings hatte die Erkennbarkeit im Fall dann keine weitere Rolle gespielt. Diese Rechtsprechungsänderung wurde begründet mit der zwischenzeitlich in Kraft getretenen UWG-Reform. Das Verhalten der Antragsgegnerin war nun nicht mehr nach der Generalklausel in § 1 UWG a.F. zu 127

BGH, 1.4.2004, Az. I ZR 227/01, GRUR 2004, 699, Rz. 17. BGH, 1.4.2004, Az. I ZR 227/01, GRUR 2004, 699, Rz. 18; ähnlich BGH, 9.9.2004, Az. I ZR 93/02, GRUR 2005, 443, Rz. 24. 129 BGH, 8.4.1960, Az. I ZR 24/59, GRUR 1960, 431, 432 – Kfz-Nummernschilder. 130 BGH, 22.11.1974, Az. I ZR 23/74, GRUR 1975, 264, 265 – Werbung am Unfallort I. 131 BGH, 8.7.1999, Az. I ZR 118/97, GRUR 2000, 235, 236 – Werbung am Unfallort IV. 132 BGH, 1.4.2004, Az. I ZR 227/01, GRUR 2004, 699, Rz. 16. 133 BGH, 1.4.2004, Az. I ZR 227/01, GRUR 2004, 699, Rz. 21. Anders wohl Drexl in: Hilty/ Henning-Bodewig, Lauterkeitsrecht und Acquis Communautaire, 2009, S. 227, 255. 134 OLG Köln, 27.7.2001, Az. 6 U 20/01, GRUR 2002, 641, Rz. 221 ff. 135 Vgl. Rott, LMK 2004, 211, 212. 128

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

beurteilen, sondern an § 7 Abs. 1 UWG zu messen, der unzumutbare Belästigungen zum Gegenstand hat. Unzumutbare Belästigungen sind demnach weiterhin unzulässig. Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 UWG ist eine Belästigung durch Werbung insbesondere dann unzumutbar, wenn „erkennbar ist, dass der angesprochene Marktteilnehmer diese Werbung nicht wünscht.“ Der BGH, der nicht mehr die psychische Zwangslage des Angesprochenen in den Vordergrund stellt, sondern dessen Recht auf Ungestörtheit in der Öffentlichkeit, folgert offenbar aus dem Halbsatz, dass erforderlich ist, dass der Passant sofort merkt, dass er zu Werbezwecken angesprochen wird und nicht etwa nach dem Weg gefragt wird.136 Das ist freilich nicht das gesetzlich vorgeschriebene Merkmal „erkennbares Desinteresse des Verbrauchers“, sondern ein anderes Merkmal, nämlich „Erkennbarkeit des werbenden Charakters“, das sich bestenfalls aus dem neuen gesetzlichen Merkmal schließen lassen würde, wenn man davon ausgeht, dass Interesse/Desinteresse Erkennbarkeit voraussetzt. Damit folgt der BGH der Auslegung der UGP-Richtlinie, für die die Beeinflussung der Entscheidungsfreiheit nur noch ein Merkmal unter mehreren ist.137 Durch das Merkmal der Erkennbarkeit definiert der BGH für das deutsche Recht ein neues Tatbestandsmerkmal, das den Streit zwischen den Parteien um die grundsätzliche Zulässigkeit der Werbeform verlagert auf die Frage, wie innerhalb der Werbeform geworben wird. Da es sich um Sachverhaltsfragen handelt, verschiebt der BGH die Auseinandersetzung zurück in die Domäne der Untergerichte, welche nun von Fall zu Fall die besonderen Umstände der Unzumutbarkeit und der Erkennbarkeit zu eruieren haben. Die Umsetzung dieser neuen Linie des BGH blieb dem nachfolgenden Urteil des OLG Frankfurt, an das zurückverwiesen worden war, vorbehalten. Das OLG interpretiert die zweite BGH-Entscheidung dahingehend, dass das Unlauterkeitsmoment in der „Irreführung über den Grund der Ansprache“ liege.138 Das nun entscheidende Unlauterkeitsmerkmal, die „eindeutige Erkennbarkeit“ (BGH), wird als „sofortige Erkennbarkeit auch für einen wenig aufmerksamen Passanten“ (OLG Frankfurt) ausgelegt. Eine solche sei nur gegeben, wenn ein klares optisches Signal gesetzt werde, etwa in Form eines „besonders auffälligen Kleidungsstücks“, eine komplexe Einzelfallbetrachtung zur Feststellung der Erkennbarkeit dürfe dazu nicht stattfinden.139

136

Vgl. BGH, 9.9.2004, Az. I ZR 93/02, GRUR 2005, 443, Rz. 17 ff. Vgl. Apetz, Verbot aggressiver Geschäftspraktiken, 2011, S. 224 ff. 138 OLG Frankfurt, 14.6.2007, Az. 6 U 24/01, GRUR 2008, 353, Rz. 36 f. Burmeister, Belästigung als Wettbewerbsverstoß, 2006, S. 40 f. meint daher, die richtige Norm wäre § 4 Nr. 3 UWG (Verbot getarnter Werbung) gewesen. Dass der BGH nicht auf § 4 Nr. 3 umschwenkt, belegt das Weiterwirken der bisherigen Rechtsprechungslinie. 139 OLG Frankfurt, 14.6.2007, Az. 6 U 24/01, GRUR 2008, 353, Rz. 50. 137

B. Marktzutritt und Lauterkeit: Das Geschäftsmodell „Billigvorwahl“

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b) Interpretation Die Entwicklung der Rechtsprechung zum Direktmarketing bei der Akquise von Preselection-Kunden ist sowohl vom tatsächlichen Anlass des Konflikts her als auch in dessen rechtlicher Einordnung von Dynamik geprägt und lässt sich evolutionär analysieren. Die Rechtsprechung thematisiert ausdrücklich, dass es sich um einen „new case“ handelt, da die Werbeform zumindest als systematisch und weit verbreitet eingesetztes Instrument neuartig ist und erstmals post-deregulativ auftrat. Die zentrale Auseinandersetzung um das, was eigentlich den Unlauterkeitsvorwurf begründet, entwickelt sich von Urteil zu Urteil weiter. Zunächst finden die Überlegungen ihren Fokalpunkt in der Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers, die das OLG Köln bedroht sieht, das OLG Frankfurt hingegen nicht. Belästigung und Unbehagen sind also nur insoweit relevant, als sie sich auf die Entscheidungsautonomie im Wirtschaftsverkehr auswirken. Damit knüpfen die Gerichte an dem Merkmal an, das auch in dieser Arbeit als Drehund Angelpunkt der wirtschaftlichen Aktivität herausgearbeitet wurde. Es steht, wenn man diese Fälle auswertet, im Zentrum des zunächst von der Rechtsprechung verwendeten Unlauterkeitsbegriffs, was konsequent ist, wenn dieses Rechtsgebiet als Marktrecht eingeordnet wird. Der BGH verschiebt in seiner ersten Entscheidung die Fallgruppe weg von diesem zentralen Kriterium und begründet die Unlauterkeit nicht mehr mit der Einschränkung der Entscheidungsfreiheit, sondern mit dem (im Übrigen nicht näher ausgeführten) Recht auf Schutz der Individualsphäre in der Öffentlichkeit.140 Nicht mehr die Zwangslage, in die ein Verbraucher gebracht wird, ist der Grund für ein Zurückweisen des „Anreißens“, sondern das „Recht, auch im öffentlichen Raum weitestgehend ungestört zu bleiben“, was insbesondere bei Nachahmung des tatbestandlichen Verhaltens zu befürchten sei.141 Damit wird ein Interesse geschützt, das nicht Kernbestandteil des privatrechtlichen Leitbilds ist, aber bei weitergehender Betrachtung noch ein privatrechtliches, nicht öffentlich-rechtliches Interesse darstellt, geht es doch um ein Persönlichkeitsrecht. Auch die UGP-Richtlinie geht nicht davon aus, dass nur die Entscheidungsfreiheit durch die Unfairness-Regeln geschützt werde.142 Nicht mehr Teil des privatrechtlichen Leitbilds wäre es, wenn beispielsweise der BGH abgestellt hätte auf den Schutz vor einer „Verschandelung“ der Innenstädte durch Reklamestände. Das Persönlichkeitsrecht wird – inzwischen traditionell – ja im Wesentlichen deliktsrechtlich, also privatrechtlich geschützt. 140 Vgl. Burmeister, Belästigung als Wettbewerbsverstoß, 2006, S. 40 f.; Apetz, Verbot aggressiver Geschäftspraktiken, 2011, S. 224 ff. m.w.N. 141 BGH, 1.4.2004, Az. I ZR 227/01, GRUR 2004, 699, Rz. 17 f. Vgl. Isele, GRUR 2008, 1061, 1062. 142 Vgl. Burmeister, Belästigung als Wettbewerbsverstoß, 2006, S. 45.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

Die zweite BGH-Entscheidung hält diese Begründung aufrecht, modifiziert sie aber mit praktisch erheblichen Auswirkungen143, indem eine Öffnung eingezogen wird (Erkennbarkeit). Das Merkmal der Erkennbarkeit war erstmals im ersten BGH-Urteil explizit angesprochen worden und steigt nun zum entscheidungsrelevanten Faktor auf. Um die Ordnung zu wahren, wird die Veränderung der Rechtsprechungslinie durch eine neue Norm (also eine Institution) (§ 7 UWG) legitimiert, die den entscheidenden Aspekt der Erkennbarkeit des Werbenden bestenfalls mittelbar in sich trägt. Damit erhebt der BGH ein bislang gar nicht beachtetes Sachverhaltselement in den Rang der Entscheidungserheblichkeit, was eine Zurückverweisung nach sich ziehen muss. Mit dem veränderten Blick auf die Institutionen wird damit auch ein neuer Blick auf den Sachverhalt möglich, was die Komplexität eines Ordnungsmodells wunderbar illustriert. So war eine Zurückverweisung nötig geworden, da der Klageantrag entsprechend anzupassen144 und der Sachverhaltsvortrag zu diesem Punkt nachzuholen war.145 Das wiederum bedeutete eine Verlängerung und Verteuerung des Rechtsstreits aufgrund einer Rechtsprechungsänderung – die Kehrseite der gewünschten Evolution auf BGH-Ebene. Diese Modifikation wiederum wird vom OLG Frankfurt ausjudiziert. Ein interessantes Phänomen ist, dass die Bestätigung der früheren Rechtsprechung mit ausgewechselter Begründung auf der Kölner Urteilslinie erfolgt, die ohnehin konservativ geprägt war, während die Öffnung des Falles auf einer im Ergebnis radikaleren Vorlage des OLG Frankfurt basiert. Möglicherweise ist Pfadabhängigkeit die Ursache für diesen Wandel. Hätte es eine zweite Revision nicht gegeben, wären wesentliche Neuerungen unentdeckt geblieben, was belegt, wie sehr Innovationen von Häufigkeiten abhängig sind. Für das Variationsschema lässt sich feststellen, dass die Sprünge anfangs groß sind, sich dann aber einpegeln: Das OLG Köln vertritt eine traditionelle Linie, von der sich das OLG Frankfurt massiv absetzt. Der BGH findet im ersten Urteil eine vermittelnde Lösung (Ergebnis wie Köln, Begründung eher wie Frankfurt), die im zweiten Urteil erhalten bleibt, aber gravierend modifiziert wird, während seitens des OLG Frankfurt 2007 nur noch eine geringfügige Modifikation stattfindet. Dieser Selektionspfad entspricht typischen Entwicklungen auch in biologischen Zusammenhängen. Eine weitere evolutionär relevante Komponente ist die Offenheit, mit der die Grundsatzentscheidungen geendet haben. Die zweite BGH-Entscheidung korrigiert das noch relativ strikte Verbot, das in der ersten BGH-Entscheidung wenige Monate zuvor ergangen war und öffnet die Rechtsprechung für weitere Entwicklungen. Durchgesetzt hat sich eine Position, welche die 143 Vgl. zurückhaltender Teplitzky, LMK 2005, 60, 61, der allerdings zu Recht darauf hinweist, dass sich aus der sich entwickelnden Praxis ein Überdenken der Rechtsprechungslinie ergeben könnte. 144 Vgl. Isele, GRUR 2008, 1061, 1063. 145 Letzteres sieht Teplitzky, LMK 2005, 60, 61 anders.

B. Marktzutritt und Lauterkeit: Das Geschäftsmodell „Billigvorwahl“

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Chance wahrt, den Wandel der Werbeformen im Einzelfall rechtlich zu bewerten und in das Gesamtgefüge einzupassen, sodass zukünftig noch „Entdeckungen“ möglich sind. Zugleich haben die Gerichte in diesen Verfahren nach immerhin sieben Jahren Rechtsunsicherheit eine gewisse Stabilität geschaffen: Die grundsätzliche Unzulässigkeit des Anreißens bleibt erhalten, wird aber ergänzt um die in § 7 UWG genannte Voraussetzung (kein erkennbar entgegenstehendes Interesse des Verbrauchers) und um die Ausnahme der Erkennbarkeit des werbenden Charakters. Diese beiden Ergänzungen sind stark sachverhaltsabhängig und lassen damit den unterinstanzlichen Gerichten Spielraum für die Beurteilung des Einzelfalls, die allerdings – der Rechtssicherheit zuliebe – nach Auffassung des OLG Frankfurt nicht zu komplex ausfallen darf. So wie schon das OLG Frankfurt in seiner Berufungsentscheidung eine Hintertür zum Verbot offen gelassen hatte (bei Hinzutreten weiterer Umstände), so hält derselbe Senat nunmehr die Pforten weit geöffnet für eine Einzelfallentscheidung gegen das Verbot. Die zur Frage der Erkennbarkeit vom OLG durchgeführte Beweisaufnahme, die in der Entscheidung geschildert wird,146 fällt streng zu Lasten der Antragsgegnerin aus, zumal als wichtige Zeugin auch noch eine Mitarbeiterin der Antragstellerin befragt wird.147 Hier wäre eine weniger rigide Auslegung des BGH-Erfordernisses der Erkennbarkeit in Zukunft denkbar, sodass die Rechtsprechung entwicklungsoffen bleibt. Um die Funktionsweise der Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten zu verstehen, bleibt die Frage, welche Prägungen sich in der Entscheidung zum Unlauterkeitsgrund durchsetzen. Während auf landgerichtlicher Ebene noch völlig in Einklang mit der überkommenen Rechtsauffassung judiziert wird, entsteht auf OLG-Ebene eine Dynamik aus einem offenbaren Widerspruch zwischen Rechtslage (also der Institution „Verbot des Anreißens“) einerseits und Werbepraxis andererseits (versinnbildlicht durch die Zunahme der Werbung als Gepflogenheit im Verkehr). Welche Selektionskriterien für die Auswahl der schlagenden Argumente sodann erfolgversprechend sind, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Die Gerichte setzen hier unterschiedliche Schwerpunkte. Der BGH legitimiert seine zweite Entscheidung relativ knapp mit der UWG-Reform, also einer neuen Gesetzesnorm. Eine wichtige Rolle spielt in allen Entscheidungen die Auseinandersetzung mit § 312 BGB bzw. der Vorgängernorm im HaustürWG. Seine erste Entscheidung lehnt der BGH besonders stark an die bislang herrschende Meinung an, also an Präzedenzfälle und Kommentarliteratur.148 Die OLG-Entscheidungen sind hingegen weniger stark an rechtlichen Selektionskriterien orientiert als an den tatsächlichen Entwicklungen und deren divergierenden Interpretationen. In der Beweisaufnahme wird den Zeugenaussagen in hohem Maße vertraut, obwohl das OLG 146 147 148

OLG Frankfurt, 14.6.2007, Az. 6 U 24/01, GRUR 2008, 353, Rz. 14, 22, 23, 49–60. Vgl. OLG Frankfurt, 14.6.2007, Az. 6 U 24/01, GRUR 2008, 353, Rz. 58. Vgl. BGH, 1.4.2004, Az. I ZR 227/01, GRUR 2004, 699, Rz. 16.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

Frankfurt etwa die Nähe einer Zeugin zur Antragstellerin ausdrücklich benennt. Aus dieser Nähe werden aber keine Konsequenzen abgeleitet, der bias der Befragten bleibt ohne Relativierung. Dass sich die Berufungsgerichte und das Revisionsgericht auf unterschiedliche Aspekte stützen – faktische Entwicklungen hier, rechtliche dort – ist vor dem Hintergrund ihrer unterschiedlich zugeschnittenen Kompetenzen (vollständige Prüfung/reine Rechtsprüfung) verständlich. So prägt die Institution des Verfahrensrechts die Innovationskraft und Selektionskriterien der Gerichte.

4. Feststellung der Belästigung Zur Feststellung der Unlauterkeit ist zu klären, auf welchen Personenkreis abzustellen ist, da Belästigungen unterschiedlich empfunden werden. a) Darstellung Nach Auffassung des OLG Köln ist von einer Zwangslage oder einer Einschränkung der Entscheidungsfreiheit zumindest für einen erheblichen Teil von Personen auszugehen, die aufgrund mangelnden Selbstbewusstseins oder mangelnder Reaktionsschnelligkeit nicht in der Lage seien, sich der Kontaktaufnahme rasch zu entziehen.149 Die zentrale Überlegung des OLG Frankfurt, das den Antrag abgelehnt hat, liegt in der Ansicht, dass das angesprochene Publikum der Werbung selbstbewusster entgegentritt: „Die Passanten können ihr [der gewissen Belästigung] aber, solange nicht besondere Umstände vorliegen, durch Nichtbeachtung oder eine kurze abweisende Bemerkung ausweichen und tun dies tatsächlich in aller Regel.“150

Der belästigenden Ansprache wird damit also das Modell eines selbstbewussteren, mündigeren Verbrauchers gegenüber gestellt. Das OLG beruft sich auf die geänderten Gewohnheiten des Verkehrs, „zu dem auch die Mitglieder des erkennenden Senats gehören“151, und geht vom „Alltagsbild in den Geschäftszonen der Städte“152 aus, das durch solche Werbeformen geprägt sei. Eine besondere Belästigung gehe angesichts dieser Prägung nicht mehr von der direkten Ansprache aus. Hier wird tatbestandlich offenbar an die gesetzgeberische Definition der Gepflogenheiten, also eine faktische Entwicklung, angeknüpft. Dieser Wahrnehmung des sozialen Wandels hält das OLG Köln eine weitere Entwicklung der Wahrnehmung von Werbung entgegen, die zunehmende 149 OLG Köln, 27.7.2001, Az. 6 U 20/01, GRUR 2002, 641, Rz. 53 ff., zitierend OLG Köln, 2.2.2001, Az. 6 U 112/00, CR 2001, 313, II. 150 OLG Frankfurt, 8.2.2001, Az. 6 U 182/00, GRUR 2002, 639, 640. 151 OLG Frankfurt, 8.2.2001, Az. 6 U 182/00, GRUR 2002, 639, 640. 152 OLG Frankfurt, 8.2.2001, Az. 6 U 182/00, GRUR 2002, 639, 640.

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„Sensibilisierung eines nicht unerheblichen Teils der Verbraucher gegenüber Werbemaßnahmen“153. In dieser Gruppe steige der Wunsch nach werbefreien Zonen, das immer weitere Vordringen von kommerzieller Werbung in bisher werbefreie Bereiche werde als besonders belästigend wahrgenommen. Bei konsequenter Betrachtung geht der Streit zwischen OLG Köln und OLG Frankfurt nur um die – in den Urteilen nur implizit thematisierte – Frage, welches Verbraucherleitbild die Gerichte anlegen. Der BGH ging erst kurz vor den Entscheidungen der OLGs von einem durchschnittlich informierten und verständigen Verbraucher aus, nicht mehr von einem besonders schutzbedürftigen, wie noch ausdrücklich das OLG Köln in seiner hier besprochenen Entscheidung154. Der BGH folgt im ersten Urteil der Feststellung des OLG Frankfurt, dass der mündige Verbraucher solchen Werbeformen souverän entgegentritt.155 Daraus zieht der BGH allerdings, wie gesehen, eine andere Konsequenz als das OLG Frankfurt und findet auch eine andere Begründung als das OLG Köln. Statt von seiner Bewertung abzulassen oder – wie das OLG Köln – an dieser mit Hilfe mehrerer Begründungen (Schutz weniger starker Konsumenten vor Zwangslage, Einpassung in soziale Bewegung gegen Kommerzialisierung) festzuhalten, bleibt der BGH (zunächst) bei seinem Ergebnis, wechselt aber die rechtliche Begründung aus. In seinem zweiten Urteil legt sich der BGH in der Frage der Rezeption von Werbung kaum mehr fest. Es wird die rechtliche Begründung nur noch behauptend wiederholt und sodann der Fokus auf den Aspekt der Erkennbarkeit des Werbenden gelegt; dieses Argument wird tatbestandlich konturiert. Die Veränderung seiner Rechtsprechungslinie stützt der BGH auf die neu vorgegebene Institution des § 7 UWG. b) Interpretation In den Jahren der Entscheidungen hatte sich diese Werbeform in der Praxis bereits etabliert, wie aus Bemerkungen in den Urteilen gelegentlich herauszulesen ist. Die Gerichte müssen damit entscheiden, ob sie sich der „normativen Kraft des Faktischen“ beugen und den Wandel der Werbeformen akzeptieren, oder ob sie sich der mit der Belästigung entgegenstellen, die mit der direkten Ansprache ausgelöst wird. Doch die Rechtsprechung rezipiert nicht nur die Tatsache der geänderten Werbeform, sondern befasst sich auch ausdrücklich mit der gesellschaftlichen Rezeption dieser Werbeform. Die Gerichte lassen ohne Zweifel, dass sich das Recht der geänderten Realität eventuell anpassen muss. Die Offenheit mit der in den obergerichtlichen Entscheidungen der soziale Wandel thematisiert wird, ist keineswegs selbstverständlich, zumal damit 153 154 155

OLG Köln, 27.7.2001, Az. 6 U 20/01, GRUR 2002, 641, Rz. 136 ff. OLG Köln, 27.7.2001, Az. 6 U 20/01, GRUR 2002, 641, Rz. 56 ff. Vgl. BGH, 1.4.2004, Az. I ZR 227/01, GRUR 2004, 699, Rz. 17.

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anerkannt wird, dass in der Praxis die normativen Vorgaben durch die Kraft des Faktischen überwunden werden. So hat sich die Werbeform schon so weit durchgesetzt, dass das Phänomen überhaupt als systematisches erkennbar ist. Das bedeutet zugleich, dass die frühere Rechtsprechungslinie in der Praxis nicht mehr befolgt wird. In evolutionärer Perspektive bedeutet die Zunahme an solchen Werbeformen, dass ein neues Element in die Ordnung eingeführt wird, das eine solche faktische Bedeutung erlangt, dass eine formal gültige Institution überkommen erscheint und in ihrer Bedeutung zur Erwartungsstrukturierung der Marktteilnehmer absinkt. Die Strukturen der wirtschaftlichen Aktivität werden damit neu konfiguriert, und die Rechtsprechung wird in diesen Prozess einbezogen: Das neue Element „Direktmarketing“ lässt sich in das sich ständige wandelnde Umfeld offenbar widerspruchsfreier einfügen, als es die formal gültige Institution (Verbot des Anreißens) zulassen würde. Damit wird die Institution in Frage gestellt und es kommt zu einem Konflikt zwischen denen, die von der Institution profitieren, und denen, die diese Institution ablehnen. Die Rechtsprechung wird in den Prozess einbezogen, da ihre Autorität die in Frage gestellte Institution – und die Erfüllung der Erwartungen der Antragstellerin – sichern soll. Während zwischen den Gerichten noch Einigkeit besteht, dass solche Werbeformen an Bedeutung gewonnen haben, wird das Element des sozialen Wandels in der Rezeption von Werbung jedoch von den Gerichten unterschiedlich wahrgenommen und berücksichtigt. Das OLG Frankfurt geht von einem selbstbewussteren Umgang der Marktteilnehmer mit Werbung aus und folgert daraus, dass die Institution „Verbot des Anreißens“ abzuschaffen ist – jedenfalls soweit nicht weitere Umstände hinzutreten. Darin liegt die Abkehr von einer richterrechtlich begründeten Institution. Würde das OLG eine solche Kehrtwende ohne weiteres als neue Institution einsetzen, würde dies die Ordnung insgesamt in Frage stellen: jeder richterliche Entscheid könnte eine Institution umkehren. Das würde Erwartungsunsicherheit bei den Marktteilnehmern bzw. juristisch: Rechtsunsicherheit schüren und damit die Hauptfunktion der Ordnung, nämlich die Planung von Entscheidungen zu erleichtern, erschüttern. Das OLG zieht daraus drei Konsequenzen: Erstens lässt es durch den Hinweis auf Unzumutbarkeit bei Hinzutreten zusätzlicher Umstände eine Möglichkeit offen, die Institution teilweise fortleben zu lassen. Zweitens begründet das OLG die Kehrtwende besonders sorgfältig, indem es sich ausführlich mit Präzedenzentscheidungen auseinander setzt. Drittens findet es im Haustürwiderrufsgesetz eine gesetzgeberische Wertung (die freilich schon seit 1986 in Kraft war), die im System der gesetzgeberischen Institutionen einen Wertungswiderspruch anlegt. Die Strukturen, so insinuiert das OLG damit, waren schon bislang nicht widerspruchsfrei. Mit Hilfe dieses Aufwands wird also die Änderung in der Struktur auf Gründe zurückgeführt, die innerhalb des üblichen Erwartungshorizonts liegen (die drastischen Fälle werden weiterhin erfasst, ältere Fälle sind

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entweder überkommen oder anders gelagert, die bisherige widersprüchlich Konfiguration ist aufzulösen). Das OLG Köln nimmt den sozialen Wandel in der Rezeption der Werbung ebenfalls wahr, allerdings nicht mit der gleichen Konsequenz. Vielmehr stellt das OLG Köln weiterhin auf Verbrauchergruppen ab, die weniger selbstbewusst mit Werbung umgehen. Hier offenbart sich, wie gesehen, ein divergierendes Verbraucherleitbild. Der Mündigkeitskonzeption des OLG Frankfurt wird eine eher paternalistische Konzeption entgegengestellt. Allerdings verharrt das OLG Köln nicht einfach in einer solchen, eher konservativen Position, sondern überholt gewissermaßen das OLG Frankfurt noch in seiner Rezeption des aktuellen Geschehens. Bei den mündigen Verbrauchern, die auch dem OLG Köln bekannt sind, nimmt das OLG eine werbe- und kommerzialisierungskritische Tendenz wahr. Damit geht das OLG nicht nur von einem souveränen, sondern sogar von einem kritischen Konsumenten aus. Hintergrund dürfte die soziale Bewegung sein, die kurz vor der OLG-Entscheidung Fuß fasste mit der Forderung, die Kommerzialisierung der Innenstädte und Bahnhöfe zu stoppen.156 Auf diese Bewegung spielt das OLG Köln an und nimmt damit ein weiteres Element der dynamischen Entwicklung in seine Erwägungen auf. Diese Differenzen legen die die Frage nahe, woher die Gerichte ihre Kompetenz zur Bemessung des sozialen Wandels beziehen. Worauf stützen die OLG-Senate ihre Einschätzungen hinsichtlich des sozialen Wandels? Wie stellen die Gerichte fest, wie ein Ansprechen in der Öffentlichkeit von den betroffenen Personen wahrgenommen wird? Denkbar wäre, eine demoskopische oder soziologische Untersuchung in Auftrag zu geben. Die praktische Lösung ist jedoch wesentlich weniger aufwändig. Die Antwort auf die Fragen kommt in der Formel von den „Mitgliedern des erkennenden Senats“ zum Ausdruck, die von beiden OLG-Senaten verwendet wird: Im Frankfurter Fall zählen sich die Mitglieder des Senats zum Verkehr, der das Angesprochenwerden nicht mehr als erhebliche Störung ansieht157, in Köln wissen die Senatsmitglieder aus eigener Lebenserfahrung, dass Kunden in Warenhäusern und Lebensmittelmärkten angesprochen werden, ob sie nicht probehalber etwas verkosten möchten158. Für sämtliche Erwägungen zum sozialen Wandel werden keine Belege angeführt, es handelt sich, so legen die Urteile nahe, um eigene Wahrnehmungen und Beobachtungen der Richter. Jedenfalls ist dies der einzige Schluss, der aus den Darlegungen gezogen werden kann. Damit handelt es sich um einen richterlichen Erfahrungssatz.159 Konkret werden Alltagserfahrungen der Richterschaft zu objektiven, 156 Vgl. die kurz zuvor erschienene programmatische Streitschrift von Klein, No Logo!, 2000, die sich v.a. gegen die Kommerzialisierung der Innenstädte durch Werbung richtete. 157 OLG Frankfurt, 8.2.2001, Az. 6 U 182/00, GRUR 2002, 639, 640. 158 OLG Köln, 2.2.2001, Az. 6 U 112/00, GRUR 2001, 313, S. 7 (des Umdrucks). 159 Dazu umfassend Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze, 2011.

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rechtlich relevanten Wahrnehmungen stilisiert. Eine wissenschaftliche Absicherung findet nicht statt.160 Auch eine sonstige Beweiserhebung über die Empfindungen der Belästigung wird nicht vorgenommen. Damit behandelt der Richter die Wahrnehmung der Belästigung im Prinzip wie eine Rechtsfrage, obwohl es sich um eine Tatfrage handeln müsste, bei welcher im Zivilprozess der Sachverhaltsvortrag der Parteien ausschlaggebend ist. Zwar ist strittig, ob die Verkehrsauffassung im Lauterkeitsrecht normativ oder empirisch zu bestimmen ist.161 Für das Verbraucherleitbild wird von Erwägungsgrund 18 der UGP-Richtlinie ein rein empirischer Ansatz jedenfalls abgelehnt:162 „Der Begriff des Durchschnittsverbrauchers beruht dabei nicht auf einer statistischen Grundlage. Die nationalen Gerichte und Verwaltungsbehörden müssen sich bei der Beurteilung der Frage, wie der Durchschnittsverbraucher in einem gegebenen Fall typischerweise reagieren würde, auf ihre eigene Urteilsfähigkeit unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs verlassen.“

Das schließt freilich nicht aus, die eigene Urteilsfähigkeit durch Heranziehung empirischer Daten zu erhöhen oder jedenfalls darzulegen, auf welcher Basis Annahmen über die Reaktionen des Durchschnittsverbrauchers angestellt werden.163 In den vorliegenden Fällen beziehen sich die OLG-Senate explizit auf ihre eigene Verkehrsauffassung. Sind schon die hier nur angerissenen rechtlichen Fragen höchst brisant, wenn man sie durchdenkt,164 drängt sich mit der institutionellen Brille betrachtet das Problem der „bounded rationality“ geradezu auf. Auch Richter sind Akteure innerhalb der Wirtschaftsordnung, und sie unterliegen den Wahrnehmungs- und Entscheidungseinschränkungen, auf welche die Evolutionslehre hinweist. Dass die Richter ihre eigenen Wahrnehmungen verabsolutieren oder jedenfalls von relativ einheitlichen Wahrnehmungen ausgehen, zeugt von einer unreflektierten Position gegenüber der Erkenntnis- und Wahrnehmungsanalyse. In den vorliegenden Fällen schließen die Richter von ihrer eigenen Wahrnehmung auf die gesellschaftliche Akzeptanz. Die Frankfurter Richter tun dies expressis verbis im wichtigsten Punkt ihrer Argumentation, während die Kölner Richter etwas weniger absolut von verschiedenen Verbrauchergruppen und Empfindungen gegenüber Werbung ausgehen. 160 Vgl. Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze, 2011, S. 63 ff. Siehe dort, S. 154 ff., zur Frage, unter welchen Bedingungen solche Erfahrungssätze überhaupt rechtmäßig aufgestellt werden können. Vgl. die Diskussion bei Glöckner in: Hilty/Henning-Bodewig, Lauterkeitsrecht und Acquis Communautaire, 2009, S. 263, 280 ff. (einschl. Diskussion). 161 Vgl. Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze, 2011, S. 251 f. m.w.N. 162 Vgl. Apetz, Verbot aggressiver Geschäftspraktiken, 2011, S. 391 ff. m.w.N. 163 Vgl. Köhler/Bornkamm, UWG, 2012, § 1 Rn. 38. 164 Siehe Beutel, Wahrnehmungsbezogene richterliche Erfahrungssätze, 2011, S. 79 ff. u. passim.

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Für die Beobachtung der Rezeption gesellschaftlichen Wandels in der Rechtsprechung indiziert die hier vorgenommene Argumentation, dass gesellschaftlicher Wandel sich dann in Richterrecht niederschlägt, wenn dieser Wandel für die Richter spürbar ist. Gesellschaftliche Entwicklungen außerhalb der Lebenserfahrung der Richter werden hingegen weniger intensiv rezipiert. Zumindest der vorliegende Fall indiziert, dass die Konfliktschlichtung, also die Auflösung von Widersprüchen, an den Strukturen ausgerichtet wird, welche die Richter selbst wahrnehmen. Der sog. bias wird in den hier vorliegenden OLG-Urteilen relativ unreflektiert in das Urteil hineingetragen. Dieser bias muss nicht zwingend falsch sein, aber er wird der Diversität und Heterogenität der Akteure selten gerecht. Die Forderung der Evolutionslehre, Wirtschaft als komplexes Phänomen zu begreifen, wird damit nicht erfüllt. Bei allen praktischen Schwierigkeiten, die eine fundiertere Darlegung des sozialen Wandels mit sich bringen mag, sollte sich ein Gericht jedenfalls im Ansatz dieser Einschränkungen bewusst sein. Die rechtspolitische Folgerung, die aus einer derart manifesten Einschränkung der richterlichen Wahrnehmung zu ziehen ist, hat auch Hayek schon benannt:165 Auswahl und Ausbildung der Richter müssen so gestaltet sein, dass solche Einschränkungen relativiert werden können.166 Andere Erkenntnisquellen und damit Ansatzpunkte für rechtliche Innovationen sind neben der eigenen Wahrnehmung durch die Richterschaft geänderte Gesetze oder der Parteivortrag, der in Widerspruch zur herrschenden Auffassung steht. Weitere Einflüsse, die Neuerungen mit sich bringen, sind nicht zu entdecken. Fachkommentierungen und Rechtsprechung werden lediglich affirmativ, nicht aber innovativ zitiert. Damit werden als wesentliche Triebfedern von Innovation neben dem eigenen Erleben von Widersprüchen in der Ordnung seitens der Richterschaft die Vorgaben des Gesetzgebers sowie der Parteivortrag identifiziert. Die UWGReform hat dabei weniger zu einer klaren Gesetzeslage geführt. Wie gesehen ist § 7 Abs. 1 UWG längst nicht so eindeutig, wie der BGH glauben machen will. Eine Rechtsprechungsänderung wie die im zweiten BGH-Urteil vorgenommene ist nicht zwingend aus § 7 zu lesen. So scheint eher der Grundgedanke der Reform (Liberalisierung) als eine Reflektion des gesellschaftlichen Wandels zu dienen. Auch der Gesetzgeber handelt ja letztlich nicht anders als die Rechtsprechung, wenn er legislativ versucht, die Strukturen zu verändern. Der Parteivortrag schließlich führte in den hier besprochenen Fällen, soweit erkennbar, zur Befassung der Gerichte mit dem Haustürwiderrufsgesetz und verstärkte den Eindruck des sozialen Wandels. Hier lässt sich ablesen, wie 165 Vgl. Drobak/North, 26 Washington University Journal of Law & Policy 131, 137 f. (2008). 166 Dies gilt bei jeder Rechtstheorie, die die Stellung des Richters akzentuiert. Ein neueres Beispiel liefert Herbst, JZ 2012, 891, 900, der eine „subjektiv richtige Entscheidung“ des Richters postuliert.

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wichtig die Parteien in grundsätzlichen Fragen für die Rechtsfindung sind. Nur sie haben die Chance, Erfahrungen in den Prozess einzubringen, die über das eigene Erleben der Mitglieder des erkennenden Senats hinausgehen. Die von der Richterschaft wahrgenommenen strukturellen Spannungen können die Parteien verstärken oder in der Wahrnehmung abmildern. Wenn die Rechtsprechung in den Direktmarketing-Fällen als Entdeckungsverfahren angesehen wird, in dem sich wie in einem Trial-and-Error-Prozess die Gerichte immer wieder bemühen, eine konsistente Ordnung durch ihre Strukturen zu bilden, so fällt ins Auge, dass die Auseinandersetzung produktiv war: – Die Rechtsprechung hat den Wandel in der Werbung und den Wandel des Umgangs mit Werbung explizit thematisiert. – Der gesellschaftliche Wandel wurde auf verschiedene Arten gewürdigt, sodass eine Auslese möglich wurde. – Die Gerichte haben die Überprüfung einer überkommenen herrschenden Meinung vorgenommen und diese für obsolet erklärt. – Von den drei Gerichten wurden mindestens drei unterschiedliche rechtliche Positionen entdeckt, wie auf den Wandel zu reagieren ist. – Zur Rechtfertigung dieser Positionen wurden eine Vielzahl von Elementen (neue Gesetzgebung, Abgrenzung von Präzedenzfällen, unterschiedliches Verbraucherleitbild u.a.) erwogen. Diese Mehrzahl unterschiedlicher Positionen und Aspekte bereichert die Rechtsprechung.

5. Berücksichtigung von Marktzutrittsschranken § 1 UWG a.F., nach dem die ersten Entscheidungen ergangen sind, verlangte eine Interessenabwägung, welche die wesentlichen Fragen besonders transparent werden ließ.167 Auch in § 7 UWG ist wegen der auslegungsoffenen Begriffe der Belästigung und der Unzumutbarkeit ein Einstellen der betroffenen Interessen möglich. Wie gesehen ist das Interesse der Antragsgegnerin auf Werbung zwecks persönlicher Kundenakquise gerichtet, die für den Marktzutritt wesentlich ist. Auf dieses Interesse wird jedoch so gut wie nicht eingegangen. Im ersten Urteil erwähnt der BGH den Abwägungsvorgang auf Vortrag der Revision hin. Recht lapidar weist der Senat darauf hin, die Berufsausübung werde der Antragsgegnerin nicht verwehrt, zumal es in der Öffentlichkeit weitere Werbemöglichkeiten gebe.168 Die Besonderheiten des Direktmarketings (direkter Kundenkontakt, Beratungs- und Abschlussmöglichkeit) und deren Wichtig167 168

Ohly/Sosnitza, UWG, 2010, § 3 Rn. 31. BGH, 1.4.2004, Az. I ZR 227/01, GRUR 2004, 699, Rz. 22.

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keit für die deregulierte Branche werden nicht erörtert. In allen Urteilen wird ganz überwiegend auf das Interesse der Passanten eingegangen, das identifiziert wird mit dem Interesse, nicht angesprochen zu werden. Ausgeblendet wird, dass die Adressaten von Werbung möglicherweise auch ein Informationsinteresse haben. Noch stärker fällt allerdings auf, dass die Interessen der übrigen Marktbeteiligten nicht erwähnt oder nur am Rande erwähnt werden. Das ist umso erstaunlicher, als an den konkreten Verfahren keine Verbraucher beteiligt waren, sondern Wettbewerber gestritten haben. Doch weder das Interesse der Antragsgegnerin, Kunden in einem monopolistisch geprägten Markt zu gewinnen, was ohne deren direkte Ansprache schwierig ist, noch das Interesse der Antragstellerin, unlautere Vorsprünge von Wettbewerbern einzugrenzen, werden thematisiert. Ein diesbezüglicher Abwägungsvorgang ist in den OLG-Entscheidungen bestenfalls zu erahnen, obwohl genau dies vom UWG verlangt wird. Es ist verfahrensmäßig eine Anomalie des Lauterkeitsrechts, dass ausgerechnet der etablierte Betreiber, der auf die Rettung seines Monopols bedacht ist, sich in der gerichtlichen Arena anschickt, die Verbraucherinteressen zu schützen. Die Telekom ist also hier Sachwalterin des Verbrauchers, den sie vor der Beeinträchtigung seiner Entscheidungsfreiheit bzw. in seiner Individualsphäre schützt. Die typischen vom UWG geschützten Mitbewerber-Interessen (Schutz der eigenen wettbewerblichen Entfaltungsfreiheit)169 spielen in den Verfahren keine Rolle. Dieses erstaunliche Ungleichgewicht in der Darlegung der Abwägungselemente lässt sich aus evolutionärer Perspektive wiederum mit Hinweis auf die Prägung des Handelnden und seine eingeschränkte Rationalität erklären. Die Richter können zwar relativ einfach eine Verbraucherperspektive in den Gerichtssaal tragen („consumers, by definition, include us all“170), eine unternehmerische Perspektive einzunehmen, dürfte jedoch beträchtlich schwerer fallen. Eine Entwicklung findet in dieser wettbewerbsfunktionalen Hinsicht nicht statt.

6. Rezeption als Fortsetzung des Entdeckungsverfahrens Die bisherige, evolutionär angelegte Analyse der Urteile zum Direktmarketing für Preselection-Verträge hat die Dynamik der Rechtsprechung und die prägenden Einflüsse bei der Bearbeitung der dogmatischen Herausforderungen offen gelegt. Das vorläufige Ergebnis dieses siebenjährigen Suchprozesses der Rechtsprechung ist eine Öffnung der Fallgruppe des Ansprechens in der Öffentlich169 170

Köhler/Bornkamm, UWG, 2012, § 1 Rn. 10. John F. Kennedy, zitiert nach Trstenjak, euvr 2012, 3.

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keit. Das gezielte und individuelle Ansprechen in der Öffentlichkeit zu werblichen Zwecken ist grundsätzlich unzulässig, es sei denn, die Werbeabsicht ist sofort erkennbar. Aktuell wird der Schwerpunkt der Unlauterkeit von den Gerichten im Eindringen in die Individualsphäre gesehen. Die Souveränität des Verbrauchers wird anerkannt, verliert aber an Bedeutung, da es nicht mehr um seine Entscheidungsfreiheit geht. In der Interessenabwägung spielen die Interessen des handelnden Unternehmens an Kundenakquise und Marktzutritt derzeit keine Rolle. Mit der BGH-Entscheidung ist, entgegen landläufiger Auffassung, keine „Klärung“ oder „Entscheidung“ der Thematik erfolgt. Vielmehr zeigen die zwei kurz aufeinander folgenden BGH-Entscheidungen, dass die Häufung von Fällen ein Mittel ist, um eine stetige Weiterentwicklung der Rechtsprechung zu garantieren. Auch die Entscheidung des OLG Frankfurt von 2007 entwickelt den Gedanken des BGH weiter fort. Doch selbst damit ist die Evolution der Rechtsprechungslinie nicht abgeschlossen. Denkbar ist, dass mit einem weiteren, neuen Fall die Grenzen wiederum verschoben werden. Erst die Rezeption durch Untergerichte, Wissenschaft und Praxis (etwa in Form der Beratungspraxis der Anwälte) fügt das Urteil als ein erwartungskonfigurierendes Strukturelement in die Wirtschaftsordnung ein. Man könnte bildlich formulieren, dass die Rechtsprechung einen Baustein geliefert hat, der nun in das Gebäude eingefügt werden muss, was die Handwerker des Rechts schaffen, aber nicht ohne kleinere Modifikationen, Glättungen oder Veränderungen am Baustein selbst vorzunehmen. Dieser weitere Interpretationsprozess lässt Spielraum für das Aufzeigen neuer Entwicklungsmöglichkeiten. Da Wahrnehmungsverzerrungen und unterschiedliche Interpretationen auch im Recht selbstverständlich sind, wird die Erwartung der Rechtsgemeinschaft also erst nach einem grundlegenden BGH-Entscheid konturiert. Dass dabei interessegeleitete Auslegungen und Interpretationen vorgenommen werden, versteht sich von selbst. Sie fließen in die Erwartungsprägung der Akteure ein. Die Entscheidungen zur Direktansprache für Preselection-Verträge wurden rezipiert. Diese Rezeption stellt einen weiterführenden evolutiven Prozess dar. Folgeurteile, die das Ansprechen in der Öffentlichkeit zum Gegenstand hatten (wenn auch nicht für Preselection-Verträge), zitieren regelmäßig, beinahe formelhaft die BGH-Entscheidungen.171 Es hat sich allerdings bereits ein 171 Vgl. OLG Bremen, 22.7.2005, Az. 2 W 54/2005 (Juris) (Ansprechen in Kfz-Zulassungsstelle); LG Kiel, 30.11.2004, Az. 16 O 51/04, GRUR 2005, 446 (Ansprechen an roten Ampeln); OLG München, 17.1.2008, Az. 29 U 4576/07, GRUR-RR 2008, 355 (LKW mit Werbung für ein Bestattungsunternehmen auf Friedhof); OLG Hamm, 14.1.2010, Az. 4 U 199/09, BeckRS 2010, 03257 (Werbestand für Nachhilfe-Club in der Nähe des Konkurrenten); BGH, 9.2.2006, Az. I ZR 73/02, NJW 2006, 1665 (Direktansprache am Arbeitsplatz II); OLG München, 5.12.2005, Az. 29 W 2745/05, NJW 2006, 517 (Verteilung von Werbeflyern in Gesellschafterversammlung an geschädigte Kapitalanleger); OLG Frankfurt, 29.1.2009, Az. 6 U 90/08 (Juris) (Werbeschreiben für Grabstein unmittelbar nach Todesfall).

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neuer Entscheidungsgesichtspunkt ergeben, der in den BGH-Entscheidungen nur am Rande eine Rolle spielte. Auch bei sofortiger Erkennbarkeit des Werbers ist das Ansprechen nach Auffassung einzelner Gerichte dann unzulässig, wenn die Angesprochenen der Werbung nicht ausweichen können. Das OLG Bremen bejahte daher einen Unterlassungsanspruch für das Werben im Warteraum einer Kfz-Zulassungsstelle, da nicht erwartet werden könne, dass sich die Angesprochenen durch Verlassen des Warteraums der Werbung entziehen.172 Die Vorinstanz hatte noch allein auf die Erkennbarkeit, nicht das Ausweichenkönnen abgestellt. Das OLG Hamm ging in einem Urteil zur Werbung für Nachhilfe vor den Türen eines Konkurrenten ebenfalls auf entsprechenden Sachverhaltsvortrag ein, demzufolge Passanten nicht ohne weiteres an den Werbetischen vorbeigehen konnten (wenn auch dieser als unglaubhaft nicht berücksichtigt wurde).173 Dieses Kriterium des Ausweichen-Könnens ist zwar im Merkmal der Erkennbarkeit angelegt, die Erkennbarkeit soll den Angesprochenen ja gerade in die Lage versetzen, der Werbung zu entgehen. Indem es ausdrücklich thematisiert wird, ergeben sich aber weitere Differenzierungsmöglichkeiten auf Tatbestandsebene im Einzelfall. Der Begriff des Ausweichenkönnens (verneint im Warteraum, bejaht beim Werbetisch auf der Straße) ist wiederum auslegungsfähig und damit Quell unterschiedlicher Beurteilungen. Dies illustriert ein Urteil des LG Kiel zum Ansprechen an roten Ampeln. Das Landgericht hatte eine „Frühstücksaktion“ für zulässig gehalten, bei der Werbende Autofahrer an roten Ampeln ansprachen und ihnen ein Werbegeschenk überreichten. Die Zulässigkeit ergebe sich daraus, dass die Werbenden jeweils eine erkennbare Annahme-Bereitschaft der Kfz-Insassen abwarteten.174 Hier hätte vertreten werden können, dass es den Autofahrern nicht möglich war, dem Werbeansinnen auszuweichen. Die untergerichtliche Rechtsprechung entwickelt also die Leitlinien des BGH weiter fort. Hinzu tritt die Rezeption durch die Literatur, in der sich wiederum neue Akzente ergeben. In der Literatur wird die Rechtsprechung teilweise so interpretiert, dass das Ansprechen in der Öffentlichkeit grundsätzlich zulässig ist, wenn es offen und erkennbar erfolgt.175 Damit wird der Grundsatz des BGH bereits umgekehrt („grundsätzlich unzulässig, es sei denn …“). Richtig ist zumindest, dass nach den letzten Entscheidungen Direktmarketing in der Öffentlichkeit besonders auffällig sein muss. Je eindeutiger die ausgesendeten optischen Signale sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Rechtsprechung die Unzumutbarkeit verneint. Das Ergebnis mag paradox wirken für diejenigen, die Werbung in der Öffentlichkeit nicht wünschen. Die letzten zwei Urteile stehen in diametralem Gegensatz zu dem vom OLG Köln 172

OLG Bremen, 22.7.2005, Az. 2 W 54/2005 (Juris). OLG Hamm, 14.1.2010, Az. 4 U 199/09, BeckRS 2010, 03257, Rz. 24. 174 LG Kiel, 30.11.2004, Az. 16 O 51/04, GRUR 2005, 446 – Frühstücksaktion. 175 Vgl. Burmeister, Belästigung als Wettbewerbsverstoß, 2006, S. 82; noch weitergehend Ubber in: Harte/Henning, UWG, 2009, § 7 Rn. 29. 173

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eingebrachten wachsenden Interesse an werbefreien Zonen. Obwohl sich der BGH also rechtlich stärker an der Kölner Entscheidung als an dem wagemutigeren Frankfurter Entscheid ausrichtet, wird der von Köln angestrebte Schutz eines bestimmten Interesses völlig verfehlt. Zur Erkennbarkeit schreibt Köhler, diese sei durch „entsprechende Bekleidung oder Abzeichen oder Stehen hinter einem als solchem erkennbaren Werbestand“ sicherzustellen.176 Er eröffnet eine weitergehende Möglichkeit, trotz Erkennbarkeit einen Unterlassungsanspruch zu bejahen, nämlich wenn nachhaltig auf den Angesprochenen eingewirkt werde, z.B. durch Verfolgen des Angesprochenen.177 Bezüglich des Ansprechens in Geschäftsräumen, etwa Einkaufszentren oder Geschäftspassagen, vertritt Köhler eine Auffassung, welche die BGH-Rechtsprechung fortentwickelt. Diese sei zulässig, „soweit es das dort typischerweise anzutreffende Waren- und Dienstleistungsangebot betrifft“178. Die Bewertung der Rechtsprechung fällt unterschiedlich aus. Teilweise wird dem BGH von der Literatur zugestimmt.179 Teilweise wird die Rechtsprechung als zu restriktiv kritisiert, insbesondere als nicht vereinbar mit einem modernen Verbraucherleitbild.180 Teilweise wird hingegen die Rechtsprechung als zu liberal kritisiert: durch die geringen Anforderungen werde der Einkaufsbummel zum „Spießrutenlauf“.181 Dieser kurze Überblick über die Rezeption der Urteile in späterer Rechtsprechung und in der für die Praxis besonders wichtigen Kommentarliteratur belegt, dass selbst mit einem höchstinstanzlichen Urteil keineswegs Klärung eintritt, sondern der Kampf um die Deutung des Spruchs erst einsetzt. Dabei werden, was angesichts wahrnehmungstheoretischer Erkenntnisse nur natürlich ist, unterschiedliche Aspekte der Urteile betont. Neben die Auslegung des Urteils (z.B. was gilt als erkennbar?) tritt auch immer noch das grundsätzliche Infragestellen des Urteils. Das Entdeckungsverfahren bleibt also offen.

IV. Hypothesen zum gerichtlichen Vorgehen Aus der Analyse dieses Rechtsprechungsausschnitts lassen sich mehrere Erkenntnisse ziehen, die sich – mit aller gebotenen Vorsicht – zu Hypothesen zur ersten Forschungsfrage (Vorgehensweise der Zivilgerichte bei post-deregulati176 Vgl. Köhler/Bornkamm, UWG, 2012, § 7 Rn. 65. Im Detail abweichend beim Werbestand Ohly/Sosnitza, UWG, 2010, § 7 Rn. 76. Vgl. Mankowski in Fezer, Lauterkeitsrecht, 2010, § 7 Rn. 285 f. 177 Ähnlich Leible in: MüKo-Lauterkeitsrecht, 2006, § 7 UWG Rn. 194. 178 Köhler/Bornkamm, UWG, 2012, § 7 Rn. 72. Ebenso Ohly/Sosnitza, UWG, 2010, § 7 Rn. 76. 179 Leible in: MüKo-Lauterkeitsrecht, 2006, § 7 UWG Rn. 194. 180 Ohly/Sosnitza, UWG, 2010, § 7 Rn. 75; Hartwig, CR 2005, 338, 340 ff.; mit zahlreichen weiteren Kritikpunkten Schwab, GRUR 2002, 579, 581 ff. 181 Mankowski in: Fezer, Lauterkeitsrecht, 2010, § 7 Rn. 284.

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ven Konflikten) verdichten lassen. Die Hypothesen dienen als Prüfungsraster für weitere Fallgestaltungen. (1) Die höchstrichterliche Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten neigt – auch in new cases – im Verlauf zu differenzierten Mittellösungen, die in Folgeprozessen auf Tatbestandsebene ausjudiziert werden müssen. Diese These drückt aus, dass nicht eine Partei vollumfänglich recht erhält und eine per se-Lösung gewählt wird. Häufiger ist die Tendenz, beide Parteien teilweise zu ihrem Recht kommen zu lassen. Das ist in new cases, anders als in hard cases nicht unbedingt erforderlich, da die Interessenbewertung in der neuartigen Konstellation ja erst durch die Gerichte vorgenommen wird. Eindeutige Festlegungen werden aber vom BGH vermieden, stattdessen sucht die Rechtsprechung vermittelnde Ansichten, die aber überwiegend auf Tatbestandsebene gefunden werden müssen.182 In der vorliegenden Konstellation zeigt sich dies an einer stetigen Aufweichung des Verbots des Ansprechens bis hin zur Quasi-Erlaubnis im zweiten BGH-Urteil, welche das tatsachenabhängige Merkmal der Erkennbarkeit eingebracht hat. (2) Differenzierte Mittellösungen sind häufigkeitsabhängig. Je öfter ein Gericht mit einer Thematik befasst wird, desto detailgenauer wird die Analyse. Erst der zweite, dem BGH vorgelegte Fall hat in der vorliegenden Konstellation den Durchbruch hinsichtlich des gesellschaftlichen Wandels erbracht. Die Rechtslage wird damit von Fall zu Fall komplexer und differenzierter, auch wenn sich die Sachverhalte nicht ändern. Damit wird durch eine evolutionäre Betrachtung die Auffassung erschüttert, dass auf einen bestimmten Sachverhalt eine bestimmte rechtliche Lösung passt. In dieser Hinsicht lohnt es möglicherweise, eine „Klageflut“ anzustrengen, um immer differenziertere Lösungen der Gerichte zu produzieren. (3) Die Tendenz der Entscheidung ist pfadabhängig. Die Entscheidungstendenz der Vorinstanz wird zumindest teilweise aufgenommen, sodass disruptive Fortentwicklungen vermieden werden und inkrementelle Lösungen bevorzugt werden. Diese Hypothese nimmt die Beobachtung auf, dass der BGH binnen kurzer Zeit zwei unterschiedliche Entscheidungen gefällt hat, die von ihm in Formulierungen nur unterschiedlich nuanciert wurden, aber im Ergebnis erhebliche Divergenzen brachten183 und zwei diametral entgegenstehende Vorinstanzen zu Ausgangspunkten hatten. Die Verpflichtung für Gerichte, sich mit der Vorinstanz auseinanderzusetzen, führt dazu, dass die Überlegungen der Vorin182 Kritisch zu der Lösung über die Tatbestandsebene Mankowski in: Fezer, Lauterkeitsrecht, 2010, § 7 Rn. 284. 183 Vgl. Leible in: MüKo-Lauterkeitsrecht, 2006, § 7 UWG Rn. 193.

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stanz auch die nachfolgende Entscheidung prägen. Dies kann, wie die Fälle belegen, zu zum Teil gravierenden Unterschieden in den Entscheidungen eines einzelnen Gerichts führen. (4) Gegner des Incumbents geraten auch dann in eine Rechtfertigungsposition, wenn sie sich auf eine Freiheitsposition berufen. Der etablierte Betreiber hat eine Position, die von einem Newcomer angegriffen wird. Grundsätzlich könnte erwartet werden, dass der Newcomer die Unterstützung der Rechtsordnung erhält, wenn er sich anschickt, Monopole aufzubrechen. Die Grundstruktur der untersuchten Fälle ist aber anders: der Newcomer, der sich auf seine Freiheitsrechte beruft, gerät in eine Rechtfertigungsposition. Interventionsstrukturen setzen sich damit gegenüber Freiheitselementen durch, obwohl letztere von der Wirtschaftsordnung primär geschützt sein sollten. Dies wird zudem argumentativ verankert: In den vorliegenden Fällen ging aus der Argumentation in allen Urteilen der Schutz von Passanteninteressen als Ausgangspunkt hervor, obwohl zunächst die Freiheit des Handelnden hätte gewürdigt werden müssen. (5) Tragende Institutionen für die Lösung des Konflikts sind andere Gesetze und Präzedenzfälle, deren Wirkung für die konkreten Verfahren jedoch nicht prognostizierbar ist. Die Gerichte müssen für die Konfliktentscheidung diejenigen Institutionen selektieren, die sie für streitentscheidend halten. Das sind zunächst die einschlägigen Gesetze, also in den hier vorliegenden Fällen das UWG in richtlinienkonformer Auslegung. Es gibt jedoch Fragen, die auch bei Heranziehung des Gesetzes offen bleiben. Um diese Fragen zu entscheiden, ziehen die Richter sonstige gesetzliche Vorgaben und Präzedenzfälle als Selektionskriterien für die richtige Rechtsauffassung heran. Dabei lässt sich allerdings nicht prognostizieren, mit welcher Entscheidungsrichtung diese Kriterien eingesetzt werden. Dies zeigte sich in den Fällen an der Behandlung von Präzedenzentscheidungen, aber vor allem dem Umgang mit dem damaligen HTWG, zu dem zwei verschiedene Ansichten vertreten wurden, und § 7 Abs. 1 UWG, dessen Auslegung nicht zwingend in dieser Form geboten war. (6) In der Selektion der Argumente werden solche bevorzugt, welche die Richter aus eigenem Erleben nachvollziehen können. Die wesentliche Frage, welche Aspekte des Sachverhalts und welche Argumente als entscheidend angesehen werden, wird von den Gerichten mit einer Hervorhebung solcher Aspekte und Argumente beantwortet, die der Sachkunde des Gerichts besonders zugänglich sind. Hier manifestiert sich eine eingeschränkte Rationalität. In den untersuchten Fällen war die Interessenabwägung auf – die für Richter aus eigener Anschauung nachvollziehbaren – Verbraucherinteres-

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sen fokussiert. Die übrigen vom UWG geschützten Interessen (Mitbewerber, Wettbewerb) wurden nicht thematisiert. (7) Ökonomische Argumente, insbesondere zur besonderen Situation in postderegulativen Branchen, spielen für die Entscheidungsfindung keine Rolle. Die Hypothese stellt einen negativen Befund zur Integration ökonomischer Erwägungen in die Anwendung des Marktrechts dar. In den untersuchten Entscheidungen wurden die defizitäre Wettbewerbssituation, das Erfordernis der Kundengewinnung und die ökonomischen Aspekte von Werbung nicht gewürdigt. (8) Höchstrichterliche Rechtsprechung klärt einen Fall nicht abschließend, sondern ist nur ein Element der Wirtschaftsordnung, das in der Folge durch weitere Gerichtsurteile und die Rezeption in der Fachliteratur weiter entwickelt wird. Diese Hypothese ist gegen die verbreitete Auffassung gerichtet, der BGH „kläre“ mit seinen Entscheidungen Konflikte. Tatsächlich entfalten BGHEntscheidungen eine gewisse Bindungswirkung und strahlen stärker aus als andere Präzedenzfälle. Wie bereits in Hypothese 5 angesprochen, sind aber Präzedenzfälle keineswegs die sichere Basis für die Entscheidung oder gar Vermeidung künftiger Konflikte. Vielmehr handelt es sich – auch bei BGH-Entscheidungen – lediglich um Momentaufnahmen, die rechtliche Einschätzungen zu einem bestimmten Zeitpunkt vermitteln. Die nachfolgenden Entscheidungen und auch die Rezeption in der Fachliteratur können sich aus den höchstrichterlichen Entscheidungen wieder bestimmte Aspekte wählen, die besonders betont werden. Dies zeigt sich in den vorliegenden Fällen etwa am Element der Erkennbarkeit oder an den Ausweichmöglichkeiten der Passanten oder der Entscheidungsbeeinflussung. Je nach Wahrnehmungsraster und rechtlicher Positionierung werden diese Aspekte als besonders richtig oder wichtig oder als vernachlässigungsfähig dargestellt. Die unterschiedliche Fortentwicklung und Auslegung, welche die hier besprochenen BGH-Urteile in Fachliteratur und Rechtsprechung erfahren haben, belegen, dass es sich bei der zivilgerichtlichen Rechtsprechung um ein dynamisches Entdeckungsverfahren handelt, in dem der nächste Konflikt bereits wieder mit anderen Ergebnissen aufgelöst werden könnte. (9) Eine Reflektion der eigenen Rechtsprechungstätigkeit findet, insbesondere bezogen auf Verfahrensfragen, nicht statt. Die Gerichte neigen nicht zur Selbstreflektion. Dies entspringt möglicherweise einem Autoritätsverständnis, demzufolge die Anerkennung der gerichtlichen Autorität wesentlich von der Richtigkeit der Entscheidungen und also ihrer Alternativlosigkeit abhängt. Während in inhaltlicher Hinsicht eine gewisse Reflektion noch in der Auseinandersetzung mit Ge-

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genargumenten gesehen werden mag, findet eine institutionelle Reflektion nicht statt. Insbesondere ist es unüblich, das Verfahrensrecht sowie den Gesamtkomplex der Konfliktschlichtung zu überblicken. So unterlassen die Gerichte in diesen Fällen jeden Hinweis darauf, dass aus den im einstweiligen Rechtsschutz gestarteten Verfahren mittlerweile zahllose Entscheidungen hervorgegangen sind, die eine Zeitdauer von 4 bis 7 Jahren in Anspruch genommen haben. Dass das letzte Urteil in dieser Sache des OLG Frankfurt zu einem Zeitpunkt ergeht, zu dem Direktmarketing für Preselection-Verträge in der Praxis gar kein wichtiges Thema mehr darstellt, geht aus der Entscheidung nicht selbstkritisch hervor.

V. Bewertung Sind die Zivilgerichte in der Lage, die post-deregulativ auftretenden wirtschaftsrechtlichen Streitigkeiten in funktionaler und materieller Hinsicht befriedigend zu lösen? Diese Frage eröffnet die Bewertungsmöglichkeit nach dem Legitimationsraster. Die Bundesnetzagentur hat zu dem hier berührten Themenkomplex eine Bewertung veröffentlicht, die auf ein Grundproblem hinweist. Aus einer Umfrage unter alternativen Anbietern, also Wettbewerbern der Deutschen Telekom AG (DT AG), wurde wie folgt referiert: „Neben den speziellen Problemen […] wurde im Rahmen der Stellungnahmen auch das allgemeine Verhalten der DT AG kritisch betrachtet. 17 Unternehmen (43 Prozent) beklagen einen Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung. U.a. wird dabei bemängelt, dass kaum eine Möglichkeit bestehe, Vertragsverletzungen zu ahnden (keine Vertragsstrafen). In einer Vielzahl von Beschwerdeanlässen (Netzausfälle, Abschaltungen, Streichung aus Auskunftsverzeichnissen) hätten die Wettbewerber aus praktischen Erwägungen keine Möglichkeit, gerichtliche Auseinandersetzungen durchzufechten, weil sie dadurch das akute Problem einer Kundengewinnung nicht lösen könnten. Die Wettbewerber erlitten dadurch wesentliche Nachteile, die nicht ausgeglichen werden könnten.“184

Dieses Statement ist in drei Hinsichten signifikant: Erstens wird bestätigt, dass die Kundengewinnung die wesentliche wirtschaftliche Herausforderung in der Telekommunikationsbranche ist. Das unterstreicht die Bedeutung der Werbung und der damit verbundenen Auseinandersetzungen und erklärt noch einmal, warum die alternativen Betreiber meinen, auf neue Werbeformen angewiesen zu sein. Zweitens belegt die Umfrage die Missbrauchsmöglichkeiten der Telekom in einer infrastrukturell abgesicherten Position mit Marktmacht. Dabei geht es ersichtlich um zahlreiche Positionen, um welche die etablierten Betreiber zusätzlich kämpfen müssen. Der hier vorgelegte Vorgang ist also nur 184

Bundesnetzagentur, Ortsnetzwettbewerb 2000, 2001, S. 38.

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ein kleiner Ausschnitt aus dem großen Spektrum post-deregulativer Streitigkeiten. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der eigentlich angestrebte Leistungswettbewerb erschwert wird durch Ablenkungen im geschäftlichen Umfeld. Gestritten wird mit einem Wettbewerber, aber nicht um Kunden. Drittens, und das ist der gravierendste Punkt, artikuliert fast die Hälfte der befragten Unternehmen, dass eine gerichtliche Konfliktentscheidung ihnen nicht hilft. Abhilfemaßnahmen für die Konflikte stehen nach dieser Aussage nicht zur Verfügung. Das ist ein harter Vorwurf gegen die Zivilgerichtsbarkeit. Würde die Auffassung der Marktteilnehmer zutreffen, wäre nicht nur ein Marktversagen zu konstatieren, sondern auch ein Justizversagen. Dieser Vorwurf steht im Hintergrund einer legitimationsorientierten Bewertung der post-deregulativen Rechtsprechung im hier untersuchten Fall.

1. Konfliktschlichtung In funktional-individueller Sicht ist zu beurteilen, ob die Rechtsprechung den Konflikt geschlichtet hat. Wesentliche Aspekte sind faires Verfahren, Entscheidung in der Sache, Durchsetzbarkeit des Anspruchs und Dauer/Aufwand der Konfliktschlichtung. Aus Sicht der Parteien ist es schwierig zu beurteilen, ob eine Konfliktentscheidung eigentlich erfolgt ist. Selbst nach der letzten Entscheidung des OLG Frankfurt sind die Grenzen der Zulässigkeit des Ansprechens in der Öffentlichkeit nicht völlig klar gezogen, da über das Merkmal der Erkennbarkeit, möglicherweise gekoppelt mit der Möglichkeit des Passanten, dem Werbenden auszuweichen, weiterhin gestritten werden kann (und auch andere Zumutbarkeitskriterien noch denkbar sind). Rechtssicherheit wurde hier nur teilweise erlangt. Das gilt erst recht für die Phase des Hauptsacheverfahrens. War das einstweilige Verfahren noch eindeutig und relativ schnell in beiden Fällen zugunsten der Deutschen Telekom AG entschieden worden, so setzte mit dem Hauptsacheverfahren eine Auseinandersetzung ein, in der über mehrere Jahre hinweg Rechtsunsicherheit bestand. Eine Abschlusserklärung des Verfügungsgläubigers steht bei derartigen Kontroversen, in denen sich Wettbewerber letztlich um ein Geschäftsmodell streiten und zudem die Rechtsprechung Ausschläge zeigt, nicht zu erwarten. So zieht sich über Jahre eine rechtlich unbefriedigende Situation hin. Diese Problematik wird verschärft durch die Aufforderung der Rechtsprechung, Anträge abzuändern. Das OLG Köln und der BGH haben hier aufgrund ihrer Rechtsansichten die Antragstellerin dazu gebracht, die gestellten Anträge zu modifizieren, wobei es vor allem im zweiten BGH-Fall insoweit zu einer gravierenden Änderung kam. Das Prinzip, mit richterlichen Hinweisen das Verfahren effizient zu leiten (§ 139 Abs. 1 ZPO), stößt hier an das Prinzip der Bindung an die Anträge (§ 308 ZPO). Mit dem zweiten BGH-Urteil und der Nachfolge-Entscheidung des OLG Frankfurt erhält die Antragstellerin, obwohl sie formal sogar teilweise Recht be-

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kommt, einen Anspruch, den sie nicht wollte. Sie müsste jetzt bei Durchsetzung ihrer Rechte die Antragsgegnerin zwingen, offensiver, mit erkennbareren optischen Signalen Werbung zu treiben als bisher. Die Antragsgegnerin kann die bisherige Form der Werbung nur unter der Sorge weiterbetreiben, möglicherweise schwer zu definierende Grenzen von Erkennbarkeit und Ausweichenkönnen zu verletzen. Hier lässt sich fragen, ob nicht mit den eindeutigen Entscheidungen der OLGs und des ersten BGH-Urteils den Parteien, auch der jeweils unterliegenden Partei, für die Ausrichtung ihrer geschäftlichen Verhaltensweisen besser gedient gewesen wäre. All diese Überlegungen werden aber ohnehin überschattet durch die Verfahrensdauer. Wie gesehen war das Ansprechen von Kunden in erster Linie eine Werbeform, die für den wettbewerbslos vorgeprägten Bereich der Telekommunikation in den ersten Jahren virulent wurde, als es darum ging, Kunden von einer Wechselmöglichkeit mit Hilfe von Preselection-Verträgen zu überzeugen. Mit zunehmender Marktdurchdringung wurde diese relativ ungezielte und personalintensive Werbeform weniger interessant und wichtig, zumal die Konkurrenten der Deutschen Telekom, die sich im Markt durchsetzten, sich nunmehr auch stationäre Ladenlokale leisteten. Wie gesehen spielt Preselection seit 2005 eine immer geringere Rolle im Wettbewerb um Festnetztelefonie. Mit einer endgültigen Entscheidung über einen Vorfall aus dem Jahr 2000 im Jahr 2007 konnte der Konflikt nicht mehr geschlichtet werden – der Konflikt wird sich in der Zwischenzeit erübrigt haben. Die Parteien erwirkten mithin vierzehn gerichtliche Entscheidungen, deren Ertrag für die Praxis der Parteien nach den oberlandesgerichtlichen Entscheidungen 2002 gering gewesen sein dürfte. Hier stellt sich die Frage, warum die Parteien die Rechtsstreitigkeiten weiterbetrieben haben. Diese Erklärung kann nur vermutet werden in der Auseinandersetzung um das Geschäftsmodell, die grundsätzlich geführt wurde und auf zahlreichen Ebenen ausgefochten wurde. Möglicherweise stand hier weniger der konkrete Erfolg in der Werbefrage als vielmehr die Erschwerung der geschäftlichen Tätigkeit als solches als Prozessziel im Vordergrund. Das freilich bleibt Spekulation. Unabhängig von der Motivation des Rechtsstreits sind jedenfalls eine siebenjährige und selbst eine vierjährige Verfahrensdauer in einer überschaubaren UWG-Sache wirtschaftlich unvertretbar und in funktional-individueller Hinsicht nicht mehr legitimierbar. Die Aussicht für ein Unternehmen, in einer normalen Streitigkeit um ein geschäftliches Verhalten in einer dynamischen Branche, in der sich Verhaltensweisen beständig ändern, erst nach vier oder sieben Jahren eine gültige Entscheidung zu bekommen, bedroht auch die Zugänglichkeit der Justiz. Auf eine derart langwierige Auseinandersetzung können sich nur Unternehmen einlassen, die überhaupt einen derart langen Atem in ihrer betriebswirtschaftlichen Planung haben. Ressourcen einschließlich Gerichts- und Anwaltskosten werden dafür in erheblichem Maße verbraucht.

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2. Befriedung In funktional-institutioneller Hinsicht ist die Verfahrensdauer gleichfalls ein wesentlicher Faktor. Für das Funktionieren der Justiz ist es abträglich, wenn eine rechtlich überschaubare Streitsache über sieben Jahre hinweg Gerichte beschäftigt. Hier ist die Effizienz der Justizorganisation nicht mehr gegeben. Damit wird die Funktion der Justiz in institutioneller Hinsicht, nämlich die Gesellschaft zu befrieden, in Frage gestellt. Das Gesamtsystem kann nämlich nur funktionieren, wenn es effizient geregelt ist. Teil des funktional-institutionellen Anspruchs ist, dass die Gerichte den Streit nicht nur zwischen den Parteien erledigen, sondern auch die Entstehung weiterer Streitigkeiten in der Gesellschaft oder Folgestreitigkeiten zwischen den Parteien verhindern. Ein gutes Urteil entwickelt eine Konfliktpräventionswirkung. Dieses Ziel wird hier durch die BGH-Entscheidungen nicht erreicht. In beiden Urteilen sind Folgestreitigkeiten auf instanzgerichtlicher Ebene angelegt, da es nicht zu einer eindeutigen Regelung kommt, sondern nur zu einer „grundsätzlichen“ Klärung mit Ausnahmemöglichkeiten, deren Voraussetzungen im Einzelnen nicht festgelegt sind. Wird eine Streitigkeit nicht mit einer per-se-Regelung entschieden, sondern auf Tatbestandsebene differenziert, erschwert dies die Rechtsdurchsetzung.185 Verbandskläger und Konkurrenten, die gegen eine bestimmte geschäftliche „Unsitte“ vorgehen wollen, sind bei der Antragsformulierung vor große Probleme gestellt. Es gilt einerseits, möglichst viele konkrete Ausgestaltungen zu erfassen, ansonsten könnte eine einstweilige Verfügung einfach umgangen werden. Andererseits darf der Antrag aber nicht so weitgehend formuliert sein, dass auch beanstandungsfreie, wettbewerbskonforme geschäftliche Handlungen erfasst werden. Zudem müssen die Antragsteller damit rechnen, dass bei Einbeziehung weiterer, durchaus nicht fernliegender Umgehungsformen auf Tatbestandsebene die Begehungsgefahr verneint wird.186 Diese Antragsproblematik bei Einzelfall-Regulierung wird illustriert durch die Antragsschwierigkeiten im hier relevanten Fall. In der zweiten BGH-Entscheidung hat der Senat explizit das hier thematisierte Durchsetzungsproblem gesehen. Wird der Antrag zu genau konkretisiert, droht die einfache Umgehung und damit die Unwirksamkeit des Schutzes vor Belästigungen. Wird der Antrag weiter gefasst, droht die Zurückweisung als zu unbestimmt. Der BGH könnte dieser Problematik durch eine konsequente Grenzziehung Einhalt ge185

Vgl. Mankowski in: Fezer, Lauterkeitsrecht, 2010, § 7 Rn. 284. Zur Problematik der materiell-rechtlichen Ergebnisvorprägung durch Besonderheiten im Wettbewerbsprozess siehe schon Oppermann, Unterlassungsanspruch und materielle Gerechtigkeit im Wettbewerbsprozeß, 1993, S. 100 ff., 271 ff., der die Merkmale des Unterlassungsanspruchs auf ihre Prägekraft prüft. Im Ergebnis spricht er sich für eine „aktionenbezogene Betrachtung“ aus, d.h. ein Vorgehen, das die prozessuale Geltendmachung (einschließlich Vollstreckung) und die materielle Seite als Einheit sieht. 186

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bieten, entscheidet sich jedoch gegen eine eindeutige rechtliche Aussage in der Sache und meint lapidar, die Wertungen des Verbots im Einzelfall habe das Vollstreckungsgericht zu erbringen. In „besonders gelagerten Fällen“ sei nämlich das Erfordernis des bestimmten Antrags mit dem Erfordernis der Gewährung wirksamen Rechtsschutzes abzuwägen.187 Ob der Fall des Ansprechens in der Öffentlichkeit ein „besonderer“ Fall ist, mag dahinstehen, der Senat scheint eher sämtliche lauterkeitsrechtlichen Fälle für solche „besonderen“ Fälle zu halten, was die Geltung des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO im Lauterkeitsrecht erheblich einschränkt. Für den Senat scheint es unproblematisch, dass Parteien damit mangels erkennbarer Grenzen des Lauterkeitsrechts geradezu in Streitigkeiten vor Gericht getrieben werden: „Die Rechtsverteidigung des Beklagten und sein schützenswertes Interesse an Rechtsklarheit und Rechtssicherheit hinsichtlich der Entscheidungswirkungen werden dadurch nicht unzumutbar beeinträchtigt.“188 Was das konkret bedeutet, exemplifiziert der BGH direkt im Anschluss selbst, indem er die Begehungsgefahr bezüglich des Ansprechens in öffentlichen Verkehrsmitteln verneint. Dabei handele es sich um eine intensivere Belästigung, für deren Begehung durch die Antragsgegnerin keine Anhaltspunkte gegeben seien. In welchen Details sich die Antragstellung verlieren kann, belegt der Kölner Parallelfall, in dem öffentliche Verkehrsmittel und Bahnhöfe aus der Antragstellung gestrichen wurden und das Zugehen auf Passanten als Merkmal aufgenommen wurde. Hier die jeweiligen Vorlieben des erkennenden Gerichts zu treffen, scheint unmöglich, solange nicht alle Details vorläufig ausjudiziert wurden. Die Präventivfunktion eines guten Urteils, also die Klärung von Streitfragen und die Verhinderung künftiger Streitigkeiten, wird nicht erreicht.

3. Durchsetzung subjektiver Rechte Aus materiell-individueller Perspektive geht es um die Durchsetzung der subjektiven Rechte der Parteien. Hier ist zunächst auffällig, dass eine Interessenanalyse der den Rechtsstreit führenden Parteien in allen Urteilen fehlt. Die eigenen Interessen der Antragstellerin, der Deutschen Telekom AG, insbesondere die wirtschaftlichen Interessen, werden nicht gewürdigt. Auch die Interessen des Antragsgegners werden nicht gewürdigt. Untersucht werden allein die Auswirkungen des Verhaltens auf die Passanten, als handele es sich beim Lauterkeitsrecht um reines Verbraucherschutzrecht. Das entspricht jedoch ausweislich der eindeutigen gesetzlichen Regelung weder der Rechtslage vor 187 BGH, 9.9.2004, Az. I ZR 93/02, GRUR 2005, 443, Rz. 36 – Ansprechen in der Öffentlichkeit II. 188 BGH, 9.9.2004, Az. I ZR 93/02, GRUR 2005, 443, Rz. 37 – Ansprechen in der Öffentlichkeit II.

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noch nach der UWG-Reform, wenn auch im europäischen Lauterkeitsrecht dies angelegt ist.189 Lauterkeitsrecht wird damit zu einem Interventionsrecht mit freiheitsbeschränkender Tendenz, da in der Interessenabwägung einseitig Interessen des Schutzbedürftigen keine Abwägung mit entgegenstehenden, ebenfalls legitimen Interessen vorgenommen wird. Hier kommt es zu einer dem Privatrecht wesensfremden Verkehrung der Freiheitsrechte: Das privatautonome Handeln des etablierten Betreibers, das sich in einer innovativen Werbeform äußert, wird weniger stark gewichtet als die staatliche Intervention zugunsten eines grundsätzlich als mündig angesehenen Passanten. Dass die Verbraucherinteressen ohne weitere Reflexion dem Antragsteller attribuiert werden, liegt zwar in der Logik der lauterkeitsrechtlichen Durchsetzungsmechanismen, bedürfte aber eigentlich eines Zweifelns: Immerhin ist Ausgangspunkt des Urteils im Privatrecht der individuelle Konflikt der Parteien, die zwar auch öffentliche Interessen durchsetzen können, aber sich in der privatrechtlichen Auseinandersetzung in erster Linie selbst gegenüberstehen. Ein gutes Urteil würde die Interessen der Parteien in materieller Hinsicht offen legen, insbesondere wenn dies in der gesetzlichen Norm so vorgesehen ist. Das ist hier in allen Urteilen unterblieben. Die Konfliktlösung müsste – soweit rechtlich vertretbar – auch in Einklang mit dem privatrechtlichen Leitbild stehen, in dessen Rahmen die Parteien die Konfliktschlichtung erwarten. In diesem Leitbild sind die wesentlichen Parameter die Privatautonomie der Privatrechtssubjekte, ihre Interessenkoordination, sowie die rechtliche Gleichordnung. Hier ist auffällig, dass der BGH eine Verschiebung des Unlauterkeitsmoments weg von der Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit des Konsumenten, hin zum Schutz seiner Individualsphäre in der Öffentlichkeit vornimmt. Damit bewegt sich der BGH in der Linie des verbraucherorientierten europäischen Lauterkeitsrechts, entwickelt gegenüber dem Passanten aber eine eher paternalistische Begründung weiter. Der Schutz der Individualsphäre in der Öffentlichkeit ist kein Interesse, das sich für die Parteien unmittelbar ergeben würde. Weder die privatautonome Interessenkoordination, noch die Gleichordnung der Privatrechtssubjekte ist hier unmittelbar getroffen. Allerdings bekennt sich der BGH auch nicht eindeutig zum Schutz eines öffentlichen Interesses, sondern bemüht sich, den Schutz der Individualsphäre des Passanten zivilrechtlich zu verankern. Das ist mit Blick auf den auch ansonsten in der Rechtsordnung zivilrechtlich verorteten Schutz der Persönlichkeitsrechte vertretbar. Hier wahrt der BGH also die Distanz zu öffentlichen Bindungen, obwohl diese sich als naheliegend angeboten hätten. Möglicherweise findet aus diesem privatrechtlichen Bewusstsein heraus auch das Argu189 Vgl. kritisch daher Drexl in: Hilty/Henning-Bodewig, Lauterkeitsrecht und Acquis Communautaire, 2009, S. 227, 234 f., 251, dazu auch Henning-Bodewig in der sich anschließenden Diskussion (S. 253).

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ment des OLG Köln, es gebe eine Bewegung, die sich werbefreie Zonen wünsche, keinen Widerhall in den BGH-Entscheidungen. Denn die Bewegung gegen eine Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes, auf welche das OLG Köln anspielt, repräsentiert ein öffentliches Interesse, kein privates Interesse im Wirtschaftsverkehr. Hier wahrt der BGH also die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Recht. In der materiell-rechtlichen Würdigung fehlt auch ein Hinweis auf das Kräftegewicht zwischen den Parteien, von denen eine den betroffenen Bereich zum Zeitpunkt der Antragstellung weitgehend monopolisiert hielt. Allerdings gibt es auch keine erkennbare Bevorzugung des Ex-Monopolisten.

4. Wertordnung und Systemgrundlagen Aus materiell-institutioneller Perspektive ist nach der Durchsetzung einer bestimmten Wertordnung zu fragen, also ob die systemrelevanten Grundlagen der Privatrechtsordnung gedeckt sind. Hier lassen alle Entscheidungen einen Blick auf die relevante Branche und den in dieser entstehenden Wettbewerb als Basis einer privatrechtlichen Interessenkoordination vermissen. Der Einfluss der Entscheidung auf den geschäftlichen Erfolg der Newcomer wird nicht thematisiert. Ohnehin spielen ökonomische Betrachtungen in den Entscheidungen keine Rolle. Allerdings lässt der BGH, in Einklang mit dem OLG Köln, den Aspekt der Systemrelevanz nicht außer Acht. Denn ausdrücklich wird der sog. „Summeneffekt“ zur Begründung herangezogen. Damit ist die Wirkung von Nachahmern für den Fall angesprochen, dass der BGH solche Werbung erlaubt. Wenn ein solches Argument zugelassen wird, ist das Bewusstsein erkennbar, dass das Gericht eben nicht nur einen Einzelfall entscheidet, sondern eine ganze Branche bzw. in diesem Fall die Werbung prägt. Die Gerichte abstrahieren damit vom konkreten Rechtsstreit. Umso erstaunlicher ist es, dass ausschließlich Belästigungswirkungen (in zudem recht schlichter Vervielfachung) in den Blick genommen werden, aber nicht sonstige Effekte der Rechtsprechung berücksichtigt werden.

5. Zusammenfassung Die Rechtsprechung der Obergerichte zum Ansprechen in der Öffentlichkeit zu Werbezwecken ist insbesondere in funktionaler Hinsicht problematisch: Die Verfahren dauern zu lange für eine derart dynamische Branche und ein derart schnelllebiges Thema. Das als besonders effektiv geltende Lauterkeitsrecht mit seinen bewährten Verfügungsverfahren entpuppt sich als ebenso langwierig, wenn der Verfügungsgläubiger nicht einlenkt und eine Abschlusserklärung abgibt. Die Ergebnisse leisten keinen Beitrag zu einer Konfliktschlichtung oder einer Vermeidung zukünftiger gerichtlicher Auseinandersetzungen. In materieller Hinsicht sind die Bedenken ebenso durchgreifend, da

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das Lauterkeitsrecht nicht als Marktordnungsrecht, sondern als Interventionsrecht zugunsten eines besonders starken Wettbewerbs eingesetzt wird. Die Interessen der Verfahrensbeteiligten werden ebenso wenig gewürdigt wie Interessen der Allgemeinheit. Ökonomische Erwägungen, Ausführungen zur Branchensituation und zu den Spezifika von Werbung fehlen. Der (vom Marktbeherrscher geltend gemachte!) Verbraucherschutz wird einseitig in den Vordergrund gerückt und zudem nicht mit einer Begründung unterfüttert, welche die autonome Entscheidung des Verbrauchers zum Ziel hat. Würde man den Parteien die Frage stellen, ob sich künftige Streitigkeiten um der Sache Willen in ähnlicher Form lohnen würden, müsste die Bewertung kritisch ausfallen: zu einer relativ überschaubaren Thematik ergehen jeweils sieben Entscheidungen, für welche die Gerichte bis zu sieben Jahre brauchen, und in diesen Entscheidungen werden die Interessen derjenigen, die die Verfahren angestrengt haben, nicht gewürdigt, sondern einseitig Interessen von nicht-beteiligten Dritten eruiert. Für die Newcomer als Antragsgegner, die zudem weitgehend unterlegen waren und entsprechend die Kosten tragen mussten, kann die Konsequenz aus einem solchen Verfahren nur der Verzicht auf Rechtsdurchsetzung sein. Im Wesentlichen dürften solche Streitigkeiten vor allem Ressourcen binden, die in der wichtigen Phase der Marktdurchdringung anderweitig besser gebunden wären. Genau so fällt die zu Beginn dieses Punktes zitierte Bewertung laut der Erhebung der Bundesnetzagentur aus: Gerichtliche Streitigkeiten gegen den früheren Monopolisten auszufechten, lohnt sich für die neuen Anbieter im Telekommunikationsmarkt nicht. In den hier besprochenen Konstellationen hat in einer Phase, die für die Etablierung besonders sensibel war, die Telekom die Gerichte angerufen. Die Gerichte wurden, beispielsweise in der Direktmarketing-Konstellation, mit dem Ziel befasst, neu aufkommenden Wettbewerb in die Schranken zu weisen. Selbstverständlich ist es dem früheren Monopolisten freigestellt, seine Rechte gerichtlich durchzusetzen. Dennoch bleibt ein „juristisches Störgefühl“ vorhanden, wenn der Eindruck entsteht, dass Gerichte sich instrumentalisieren lassen, um neu eintretenden Wettbewerbern des übermächtigen Ex-Monopolisten den Markteintritt zu erschweren. Die Monopolkommission hat in ihrem Sondergutachten zur Telekommunikation 2011 die Forderung erhoben, die Regulierung des Festnetzmarktes aufzugeben, da dieser nachhaltig wettbewerbsorientiert sei.190 Die Monopolkommission fährt fort: „Sollte das eingesessene Unternehmen versuchen, seine Marktposition mit missbräuchlichen Verhaltensweisen zu verteidigen, kann dem mit den Mitteln des Wettbewerbsrechts wirksam begegnet werden.“191

190 191

Monopolkommission, Telekommunikation 2011, 2011, S. 104. Ebd.

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Das bedeutet, dass sich die Wettbewerber der Deutschen Telekom gegen diese gerichtlich durchsetzen könnten. Diese Einschätzung darf angesichts der langen Verfahrensdauer selbst im UWG und der problematischen Interessenabwägungen nach den hier gesammelten Erkenntnissen als sehr optimistisch gelten.

C. Rechtezuordnung und Verfahren: Die Marke „Post“ Gegenstand der zweiten Untersuchung sind Auseinandersetzungen um den Begriff „Post“ als Marke. In diesem Streit stehen sich die Deutsche Post AG (DPAG) als Incumbent und deren Wettbewerber als Newcomer gegenüber. Die Newcomer wollten nach der Deregulierung der Post-Märkte den Begriff „Post“ für ihre Dienstleistungen verwenden, was DPAG markenrechtlich zu verhindern versuchte.

I. Sachliche Problematik Das Postwesen ist einer der großen, in den 1990er Jahren liberalisierten Sektoren. Umfasst ist die Beförderung und Verteilung schriftlicher Nachrichten in Form von Briefen, Päckchen oder Paketen.

1. Öffnung der Post-Märkte Die Öffnung des Postsektors verlief parallel zu der des Telekommunikationssektors und wurde ebenso angetrieben von europäischen Initiativen. In Art. 87 des Grundgesetzes war von 1949 bis zum 3.9.1994 festgeschrieben, die Bundespost werde in bundeseigener Verwaltung geführt. Heute heißt es in Art. 87f GG: „(1) Nach Maßgabe eines Bundesgesetzes, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, gewährleistet der Bund im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen. (2) Dienstleistungen im Sinne des Absatzes 1 werden als privatwirtschaftliche Tätigkeiten durch die aus dem Sondervermögen Deutsche Bundespost hervorgegangenen Unternehmen und durch andere private Anbieter erbracht. Hoheitsaufgaben im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation werden in bundeseigener Verwaltung ausgeführt. (3) (…)“

Diese verfassungsrechtliche Vorgabe kennzeichnet den Wandel, dem das Postwesen unterliegt, und die Spannungen, die bis heute nachwirken. Das Monopol der Bundespost ist ersetzt, verfassungsrechtlichen Schutz genießen nunmehr nach Absatz 2 sogar die „privaten Anbieter“ von Postdienstleistungen.

C. Rechtezuordnung und Verfahren: Die Marke „Post“

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Allerdings stellt die verfassungsrechtliche Vorgabe auch klar, dass es weiterhin hoheitlichen Regelungsbedarf gibt. Ergänzt wurde diese Vorgabe durch Art. 143b GG: „(1) Das Sondervermögen Deutsche Bundespost wird nach Maßgabe eines Bundesgesetzes in Unternehmen privater Rechtsform umgewandelt. Der Bund hat die ausschließliche Gesetzgebung über alle sich hieraus ergebenden Angelegenheiten. (2) Die vor der Umwandlung bestehenden ausschließlichen Rechte des Bundes können durch Bundesgesetz für eine Übergangszeit den aus der Deutschen Bundespost POSTDIENST und der Deutschen Bundespost TELEKOM hervorgegangenen Unternehmen verliehen werden. (…).“

Damit normierte der Verfassungsgeber die Privatisierung der Bundespost (vgl. § 1 PostUmwG), die Rechtsnachfolgerstellung der jeweiligen Nachfolgeunternehmen, u.a. der DPAG (vgl. § 2 PostUmwG), sowie die Verpflichtung, Ausschließlichkeitsrechte auf die Nachfolgeunternehmen per Gesetz zu übertragen. Der wesentliche Schritt zur Deregulierung erfolgte im Postsektor mit dem Postneuordnungsgesetz zum 1.1.1995. Damit und mit den entsprechenden Grundgesetzänderungen wurden die Grundlagen für eine Privatisierung der Bundespost sowie für die Öffnung der Postmärkte gelegt.192 Das Unternehmen DPAG, das aus der Deutschen Bundespost als gelbe Post (zuständig für das eigentliche Postwesen) hervorgegangen war, war bis 2005 mehrheitlich im Staatsbesitz. Im Geschäftsbericht 2011 wird der Anteil der staatlichen KfW-Bankengruppe an der DPAG noch mit 30,5 Prozent der Anteile angegeben, die übrigen Anteile befinden sich in Streubesitz.193 Die DPAG erzielte 2011 einen Umsatz von etwa 52 Mrd. Euro, einen Gewinn von 2,436 Mrd. Euro (Umsatzrendite 4,6 Prozent) und beschäftigte etwa 423 000 Mitarbeiter.194 Europarechtlich lag der Deregulierung des Postwesens ein Grünbuch von 1992 über die Entwicklung des Binnenmarkts für Postdienstleistungen zugrunde. Zudem hatte die Europäische Kommission schon frühzeitig Verfahren nach Art. 86 EG a.F. (Art. 106 AEUV) gegen Mitgliedsstaaten geführt, in denen die Regelungen für Unternehmen Gegenstand des Verfahrens waren, die mit Postdienstleistungen betraut waren.195 Rechtsgrundlage der europarechtli192 Zur Deregulierung im Postsektor vgl. überblicksartig Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 2008, S. 256; aus ökonomischer Sicht Christmann, Liberalisierung von Monopolmärkten, 2004, S. 31 ff.; Sherman, Market Regulation, 2008, S. 439. 193 DPAG, Geschäftsbericht 2011, abrufbar unter http://www.dp-dhl.com/reports/2011/ geschaeftsbericht/konzernlagebericht/aktionaersstruktur.html. 194 Ebd. 195 Vgl. die Entscheidungen der KOM gegen die Niederlande vom 20.12.1989 (90/16/EWG, aufgehoben wegen Verfahrensverstoßes vom EuGH, 12.2.1992, Rs. C-48/90 und C-66/90, Slg. 1992, I-565) und gegen Spanien vom 1.8.1990 (90/456/EWG) wegen Privilegien für die staatlichen Postunternehmen bei internationalen Eilkurierdiensten; gegen Italien vom 20.12.2000

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

chen Liberalisierungsinitiativen war die Richtlinie 97/67/EG über gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung des Binnenmarktes der Postdienste und die Verbesserung der Dienstequalität196, die 2002197 und 2008198 angepasst wurde. Mit der letzten der drei genannten Richtlinien wird die vollständige Marktöffnung angestrebt, die zum 1.1.2013 in der EU verwirklicht sein soll. Das deutsche Postgesetz beseitigte zum 1.1.2008 die letzten Ausschließlichkeitsrechte, die der DPAG bis dahin noch zugestanden worden waren. Während der Wettbewerb um Paketdienstleistungen bereits früh vollständig geöffnet worden war, war die Briefbeförderung länger monopolistisch geregelt. Das Briefmonopol resultiert im Postwesen aus der in Art 87f Abs. 1 GG statuierten Verpflichtung zu einem flächendeckenden Angebot von Postdienstleistungen (sog. Universaldienstverpflichtung). Diesen Universaldienst, der häufig verstanden wird als die Beförderung von Briefen über Nacht von Oberstdorf nach Rügen,199 erbringt derzeit ausschließlich die DPAG. Bis 1.1.2008 hatte die DPAG dafür eine gesetzliche Exklusivlizenz in § 51 des Postgesetzes. Die Norm besagt: „Bis zum 31. Dezember 2007 steht der Deutschen Post AG das ausschließliche Recht zu, Briefsendungen und adressierte Kataloge, deren Einzelgewicht bis 50 Gramm und deren Einzelpreis weniger als das Zweieinhalbfache des Preises für entsprechende Postsendungen der untersten Gewichtsklasse beträgt, gewerbsmäßig zu befördern (gesetzliche Exklusivlizenz).“

Das exklusiv lizenzierte Gewicht war von ursprünglich 200 Gramm (bis 2002) auf 100 Gramm (bis 2005) und schließlich auf 50 Gramm gesenkt worden. Das Briefmonopol sollte sicherstellen, dass alternative Anbieter nicht die lukrativen Zustellverbindungen übernehmen und dadurch den Universaldienst gefährden, der eine bestimmte Qualität der Post-Infrastruktur sicherstellt

196 (2001/176/EG) wegen Privilegien für das staatliche Postunternehmen bei der termingenauen Zustellung von Hybrid-Postdienstleistungen; gegen Frankreich vom 23.10.2001 (2002/344/ EG) wegen der Diskriminierung von Postvorbereitungs-Dienstleistungen. 196 RL 97/67/EG über gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung des Binnenmarktes der Postdienste der Gemeinschaft und die Verbesserung der Dienstequalität, ABl. 1998 L 15 vom 21.1.1998, S. 14. 197 RL 2002/39/EG vom 10.6.2002 zur Änderung der Richtlinie 97/67/EG im Hinblick auf die weitere Liberalisierung des Marktes für Postdienste in der Gemeinschaft, ABl. L 176 vom 5.7.2002, S. 21. 198 RL 2008/6/EG vom 20. Februar 2008 zur Änderung der Richtlinie 97/67/EG im Hinblick auf die Vollendung des Binnenmarktes der Postdienste der Gemeinschaft, ABl. L 52 vom 27.2.2008, S. 3. 199 Genauer handelt es sich um bestimmte qualitative Vorgaben, die erreicht werden müssen, vgl. § 2 Post-Universaldienstleistungsverordnung vom 15.12.1999, welche die Vorgaben der RL 97/67/EG umsetzt und beispielsweise eine Zustellungsquote von 80 Prozent am nächsten Tag vorsieht. Grundidee des Universaldienstes ist gemäß § 11 Abs. 1 PostG die flächendeckende Zustellung in einer bestimmten Qualität zu einem erschwinglichen Preis.

C. Rechtezuordnung und Verfahren: Die Marke „Post“

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(§§ 52, 11 PostG i.V.m. Post-Universaldienstleistungsverordnung vom 15.12.1999).200 Die Bundesnetzagentur als Regulierungsbehörde für das Postwesen,201 das wegen der Zustell-Infrastruktur als regulierungsbedürftig gilt, erteilt Lizenzen zur Briefbeförderung. Lizenzpflichtig ist gemäß § 5 Abs. 1 PostG die gewerbsmäßige Beförderung von Briefen (also adressierten schriftlichen Mitteilungen) mit einem Gewicht bis zu 1000 Gramm. Bis 2008 konnten diese Lizenzen an alternative Anbieter nur für Leistungen vergeben werden, die nicht dem Briefmonopol entsprachen, also entweder höhergewichtig waren oder bei denen eine qualitativ höherwertige Leistung erbracht wurde (beispielsweise Zustellung am selben Tag).202 Heute, ohne gesetzliche Exklusivlizenz, wird die Erbringung der Universaldienstleistung dem Markt überlassen. Soweit dieser eine Erbringung nicht sicherstellt, greift die Bundesnetzagentur gemäß §§ 11– 17 PostG ein. Dies wird über eine Umsatzsteuerbefreiung für diejenigen Unternehmen gelöst, die den Universaldienst erbringen. Um eine solche Umsatzsteuerbefreiung können sich theoretisch alle Unternehmen bewerben, die Postdienstleistungen erbringen. De facto kommt angesichts der hohen Anforderungen aber nur die DPAG dafür in Frage, weshalb auch dieses Modell der Universaldienstgewährleistung kritisch gesehen wird.203 Das Volumen des Gesamtmarkts für lizenzpflichtige Postdienstleistungen gibt die Bundesnetzagentur für 2008 mit 9,8 Mrd. Euro an.204 Der Umsatz der alternativen Anbieter mit Postdienstleistungen ist von 75 Mio. Euro 1998, 387 Mio. Euro 2003, 745 Mio. Euro 2005 auf etwa 1 Mrd. Euro 2008 gewachsen. Die alternativen Anbieter befördern etwa 1,5 Mrd. Sendungen pro Jahr. Damit ist der mengenmäßige Marktanteil der alternativen Anbieter am Gesamtsendungsgeschäft von 1,2 Prozent 1999 auf etwa 9 Prozent in den Jahren ab 2006 gewachsen, der umsatzmäßige Marktanteil liegt geringfügig höher. Die übrigen Anteile hält die DPAG, die also etwa 90 Prozent des Postsektors weiterhin beherrscht.205 Im Postwesen hat die Bundesnetzagentur zwischen 1998 und 2008 2500 Lizenzen erteilt. Im gleichen Zeitraum hat es 1047 Marktaustritte von Lizenznehmern gegeben. 2007 hat die Zahl der Marktaustritte (188) diejenige der Neu-Lizenzen (128) erstmals deutlich überstiegen, was die BNetzA auf die schwierige Marktsituation, also Insolvenzen, zurückführt.206 Für die 200 Vgl. zur Entwicklung Bundesnetzagentur, 12. Marktuntersuchung, 2009, S. 6 ff. Vgl. Kühling, Sektorspezifische Regulierung, 2004, S. 579 ff. 201 Zur Regulierung im Postsektor Kühling, Sektorspezifische Regulierung, 2004, S. 97 ff.; Ruffert in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, S. 565 ff. 202 Vgl. Bundesnetzagentur, Telekommunikations- und Postmarkt im Jahre 1999, 1999, S. 28 ff. Kritisch Monopolkommission, Telekommunikation und Post 2001, 2002, S. 183 ff. 203 Vgl. Monopolkommission, Post 2011, 2011, S. 15 f.; dies., Post 2009, 2010, S. 66 ff., 117 f.; Bundeskartellamt, Tätigkeitsbericht 2009/2010, 2011, S. 33. 204 Bundesnetzagentur, 12. Marktuntersuchung, 2009, S. 10. 205 Bundesnetzagentur, 12. Marktuntersuchung, 2009, S. 26 ff. 206 Bundesnetzagentur, 12. Marktuntersuchung, 2009, S. 35.

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Preisentwicklung in diesem Zeitraum lässt sich kein eindeutiger Trend ausmachen. Allerdings liegen die Preise von etwa 95 Prozent der alternativen Anbieter bei Sendungen bis 1000 Gramm unter den Preisen der DPAG.207 Das Preisniveau für Einzelbriefsendungen liegt im europäischen Vergleich im Mittelfeld.208 Die Bundesnetzagentur kommt 2009 zu dem Ergebnis, dass kein funktionierender Wettbewerb auf den Märkten stattfindet und die DPAG weiterhin mit einem Marktanteil von etwa 90 Prozent die Briefmärkte dominiert.209 Die Zukunftsprognose fiel 2009 gleichermaßen nüchtern aus: Die Rahmenbedingungen und Vorteiles seien zugunsten der DPAG so stark, dass sie weiterhin Marktzutrittsbarrieren bildeten.210 Die Monopolkommission kommt 2011, also 15 Jahre nach der Marktöffnung, zu einem ebenso eindeutigen Fazit bezüglich der Deregulierungserfolge im Postsektor. Diese bleiben deutlich hinter denen des Telekommunikationssektors zurück. Die Monopolkommission schreibt: „Die Wettbewerbsentwicklung ist insgesamt stagnierend und es besteht noch kein funktionierender Wettbewerb auf den Briefmärkten.“211

2. Gerichtliche Auseinandersetzungen im Postsektor Die von der Bundesnetzagentur angesprochenen Rahmenbedingungen, die Marktzutrittsbarrieren für alternative Anbieter darstellen, waren verschiedentlich Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen. Ein Ausschnitt dieser Auseinandersetzungen, die markenrechtlichen Streitigkeiten, wird im Folgenden analysiert. Die übrigen Streitigkeiten beleuchten das Spektrum dieser Auseinandersetzung und werfen ein Schlaglicht auf den Umgang der Justiz mit post-deregulativen Konflikten. Strittig war die Verlängerung der exklusiven Lizenz zugunsten der DPAG. Das Briefmonopol, das eigentlich zum Jahr 2005 fallen sollte, wurde vom Gesetzgeber bis Ende 2007 verlängert. Das Bundesverfassungsgericht, angerufen von sechs Wettbewerbern der DPAG, lehnte eine Verfassungsbeschwerde gegen diese Verlängerung im PostG ab.212 In seiner Auslegung von Art. 87f GG und Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG kam das BVerfG zu dem Schluss, der Verfassungsgeber habe die Postwirtschaft nicht ausschließlich auf das Wettbewerbsprinzip festgelegt; denkbar sei auch eine privatwirtschaftliche Organisation ohne Wettbewerb.213 Der Infrastruktursicherungsauftrag bedinge jedenfalls 207 208 209 210 211 212 213

Bundesnetzagentur, 12. Marktuntersuchung, 2009, S. 40–45. Bundesnetzagentur, 12. Marktuntersuchung, 2009, S. 71. Bundesnetzagentur, 12. Marktuntersuchung, 2009, S. 75. Bundesnetzagentur, 12. Marktuntersuchung, 2009, S. 75. Monopolkommission, Post 2011, 2011, S. 11. BVerfG, 7.10.2003, Az. 1 BvR 1712/01, BVerfGE 108, 370 = K&R 2004, 81. BVerfG, 7.10.2003, Az. 1 BvR 1712/01, BVerfGE 108, 370 = K&R 2004, 81, Rz. 78 ff.

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ein Eingreifen des Staates in die Marktwirtschaft, das durch die Exklusivlizenz in zulässiger Form erfolgt sei.214 Die DPAG ging gegen Lizenzen für Wettbewerber mit der Begründung vor, die gesetzliche Exklusivlizenz zugunsten der DPAG werde verletzt.215 Streitpunkt in diesen Fällen war, ob die Wettbewerber Leistungen erbringen, die qualitativ höherwertig sind als die von der DPAG im Rahmen der Exklusivlizenz erbrachten Leistungen. Diese Streitigkeiten wurden, nicht untypisch für post-deregulative Konflikte, teilweise in der Arena des Verwaltungsrechts ausgetragen mit Hilfe von Klagen der DPAG gegen die Bundesnetzagentur,216 teilweise in der Arena des Zivilrechts. So hatte das OLG Düsseldorf, wie zuvor das OLG Stuttgart,217 über den Vorwurf zu entscheiden, dass ein Wettbewerber der DPAG nicht die in der Lizenz genannten Bedingungen erfülle und dadurch die gesetzliche Exklusivlizenz der DPAG gefährde, indem man sich die „Rosinen aus dem postalischen Kuchen herauspicke“.218 Die DPAG hatte darin einen Verstoß gegen § 1 UWG a.F. in der Fallgruppe Vorsprung durch Rechtsbruch gesehen.219 Sowohl OLG Stuttgart als auch OLG Düsseldorf hatten diese Ansicht zurückgewiesen. In einem ähnlich gelagerten, aber prozessual umgekehrten Fall hatte das LG Bonn die DPAG verurteilt, Briefe weiterzubefördern, die von einem Konkurrenzunternehmen bei ihr eingeliefert werden, wenn eigene Zustellbemühungen des Konkurrenzunternehmens scheitern.220 Die DPAG hatte sich geweigert, diese Lieferungen anzunehmen, da die Annahme solcher Sendungen durch das Konkurrenzunternehmen bereits gegen deren Lizenz verstoße. Der Unterlassungsanspruch war auf einen Vertrag zwischen DPAG und Konkurrenzunternehmen sowie auf § 1 UWG a.F. gestützt. Das LG Bonn bejahte beide Anspruchsgrundlagen und sah in der Annahmeverweigerung einen systematischen Vertragsbruch der DPAG zu Wettbewerbszwecken, der sittenwidrig sei. Der BGH entschied anders als die beiden Vorinstanzen,221 dass Konkurrenten der DPAG (hier: Brief24) Briefkästen in der Nähe von Filialen der DPAG 214 Kritisch Schwintowski in: FS Immenga, 2004, S. 363 ff.; Haucap/Kühling, EWS 2007, I f.; Scholz vertritt in einem Gutachten für die DPAG-Konkurrenten die Auffassung, die Monopolstellung der DPAG werde perpetuiert, vgl. Scholz, Rechtsgutachten Postwesen, 2001, S. 100 ff. 215 Laut Monopolkommission hat die DPAG bis 2001 über 600 Anfechtungsklagen gegen Lizenzerteilungen erhoben, vgl. Monopolkommission, Telekommunikation und Post 2001, 2002, S. 184. 216 BVerwG, 27.6.2007, Az. 6 C 8/06 und 6 C 9/06, WuW/E DE-R 2262. 217 OLG Stuttgart, 10.7.1998, Az. 2 U 70/98 (Juris), Archiv PT 1998, 386 m. Anm. Offermann. 218 OLG Düsseldorf, 19.9.2000, Az. 20 U 110/99, NJW 2001, 686. 219 Vgl. OLG Düsseldorf, 19.9.2000, Az. 20 U 110/99, NJW 2001, 686, 687. 220 LG Bonn, 4.9.2003, Az. 14 O 110/03 (Juris). 221 OLG Nürnberg, 27.11.2007, Az. 3 U 965/07, BeckRS 2010, 29352 sowie LG NürnbergFürth, 4.4.2007, Az. 3 O 4832/06, BeckRS 2010, 29354, vgl. Monopolkommission, Post 2007, 2008, S. 61 f.

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aufstellen dürfen.222 Die DPAG hatte darin einen Verstoß gegen § 4 Nr. 9 und 10 UWG sowie § 5 Abs. 1 und 2 Nr. 1 UWG gesehen. Der BGH stellte in der Interessenabwägung klar, dass eventuelle Fehlvorstellungen der Verbraucher nur auf die jahrelange Monopolgewöhnung zurückzuführen seien. Solche Fehlgewöhnungen seien wegen der Liberalisierung aber unbeachtlich.223 Auch das Umsatzsteuerbefreiungsmodell war Gegenstand lauterkeitsrechtlicher Streitigkeiten. Das LG Hamburg hatte über den Antrag eines Postunternehmens zu entscheiden, das die DPAG auf Unterlassung des Anbietens von Postzustellungsaufträgen ohne Umsatzsteuer in Anspruch genommen hatte. In der – aus ihrer Sicht – ungerechtfertigten Berufung auf die Umsatzsteuerbefreiung sah die Antragstellerin, einzige Konkurrentin der DPAG für Postzustellungsaufträge, einen Verstoß gegen § 4 Nr. 10 und 11 UWG. Das LG lehnte diesen Anspruch ab.224 Bei der Umsatzsteuerbefreiung handele es sich nicht um eine Marktverhaltensregelung, zudem sei die Umsatzsteuerbefreiung auch bei Postzustellungsaufträgen wegen der Erbringung von Universaldienstleistungen gerechtfertigt. Adressat einer eventuellen Ungleichbehandlung in Steuersachen sei jedenfalls die Finanzverwaltung, die Zivilgerichte könnten hier nicht über den Hebel des UWG eingreifen. Ein weiterer Streit, der insbesondere auf politischer Ebene mit Heftigkeit ausgetragen wurde, betraf die Einführung eines Mindestlohns für Postzustellleistungen. Die ökonomische Sinnhaftigkeit der Einführung von Mindestlöhnen ist strittig. Im Briefbereich kommt die Problematik hinzu, dass höhere Löhne nur von der DPAG gezahlt werden könnten, während Wettbewerber, die nur durch Preiswettbewerb Marktanteile von der DPAG erobern könnten, die erhöhten Löhne nicht zahlen könnten. Die Einführung des Mindestlohns hätte wohl zum Marktaustritt zahlreicher DPAG-Konkurrenten geführt. Die Monopolkommission attestierte der Mindestlohnvereinbarung wettbewerbsbeschränkende Wirkung.225 Der von der DPAG dominierte Arbeitgeberverband Postdienste und die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi schlossen einen Tarifvertrag, der einen Mindestlohn vorsah. Dieser Tarifvertrag wurde mit der Postmindestlohnverordnung vom 28.12.2007 für allgemein verbindlich erklärt und ein entsprechender Passus in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen. Die Folge war, dass auch die Konkurrenten der DPAG an die Vereinbarungen zwischen dem DPAG-Arbeitgeberverband und Verdi gebunden gewesen wären. Das Bundesverwaltungsgericht erklärte auf eine Klage von Konkurrenzunternehmen hin die Postmindestlohnverordnung wegen evidenter Verletzung von Beteiligungsrechten dieser Konkurrenten jedoch für 222 BGH, 12.5.2010, Az. I ZR 214/07, GRUR 2011, 166 – Rote Briefkästen. Vgl. Monopolkommission, Post 2011, 2011, Ziff. 162 ff. 223 BGH, 12.5.2010, Az. I ZR 214/07, GRUR 2011, 166, 168 – Rote Briefkästen. 224 LG Hamburg, 16.9.2010, Az. 327 O 507/10, GRUR Prax 2010, 494 m. Anm. Podszun. 225 Monopolkommission, Post 2007, 2008, S. 35 ff.

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rechtswidrig.226 Der Versuch, der Post-Konkurrenten, mit Hilfe eines eigenen Arbeitgeberverbandes Neue Brief- und Zustelldienste und einer eigenen Gewerkschaft Neue Brief- und Zustelldienste Tariffähigkeit zu erlangen und damit von den Verhandlungen zwischen dem DPAG-Verband und Verdi unabhängig zu werden, scheiterte. Das Landesarbeitsgericht Köln hat der neu gegründeten Gewerkschaft die Tariffähigkeit abgesprochen, da ihr der satzungsmäßige Zweck als Arbeitnehmervertretung, die soziale Mächtigkeit, die Gegnerunabhängigkeit und der organisatorische Aufbau fehlten.227 Mehrere Wettbewerbsprobleme sind schließlich Gegenstand kartellrechtlicher Streitigkeiten. So entschieden sowohl Europäische Kommission als auch Bundeskartellamt, dass die DPAG ihre marktbeherrschende Stellung gegenüber Anbietern von post-vorbereitenden Leistungen, den sog. Konsolidierern, missbraucht.228 In der Frühphase der Marktöffnung entzündeten sich zahlreiche Streitigkeiten am Remailing, bei dem Briefsendungen ins Ausland geschafft werden und von dort ins Inland verschickt werden, sodass die Absender in den Genuss günstigerer Versandentgelte im Ausland kommen, die DPAG aber dennoch die wesentliche Zustell-Leistung übernimmt.229 Ende 2011 entschied das OLG Düsseldorf, dass die DPAG nicht aus kartellrechtlichen Gründen verpflichtet ist, ihr Identifizierungsprogramm Postident Anbietern zur Verfügung zu stellen, mit denen sie beim Versand sicherer E-Mails konkurriert.230 All diesen Streitigkeiten, ob um Lizenzen, Umsatzsteuerbefreiung oder Mindestlohn gefochten wird, ist gemein, dass die Gerichte eine Spannung zwischen Infrastruktursicherung und Wettbewerb erkennen. Die DPAG bemüht sich, ihr Geschäft gegen Konkurrenten abzusichern. Dazu, so entsteht der Eindruck, setzt die DPAG auch Gerichtsverfahren ein. Während die DPAG mit ihrer Marktmacht und einem guten finanziellen Polster alle Möglichkeiten hat, Verfahren über Jahre hinweg fortzusetzen, gleicht ein entsprechender Rechtsstreit für die neuen Anbieter häufig einem Kampf um das Überleben. Die hohe Zahl von Marktaustritten von neuen Postunternehmen könnte mit den rechtlichen Schwierigkeiten zusammenhängen. Der die Newcomer vertretende Bundesverband Internationaler Express- und Kurierdienste beklagt 226

BVerwG, 28.1.2010, Az. 8 C 19/09, NVwZ 2010, 1300. LAG Köln, 20.5.2009, Az. 9 TaBV 105/08, BeckRS 2009, 64528. 228 EG-Kommission, 20.10.2004, Az. COMP/38.745, WuW/E EU-V 1035; Bundeskartellamt, 11.2.2005, Az. B9–55/03, WuW/E DE-V 1025, im einstweiligen Verfahren bestätigt von OLG Düsseldorf, 13.4.2005, Az. VI-Kart 3/05 (V), WuW/E DE-R 1473, zum Schadensersatzprozess in dieser Sache siehe OLG Düsseldorf, 30.9.2009, Az. VI-U (Kart) 17/08 (V), WuW/E DE-R 2763. 229 EuGH, 10.2.2000, Rs. C-147/97 und C-148/97, Slg. 2000, I-825 = WuW/E EU-R 275; BGH, 8.12.1998, Az. KZR 26/97, WuW/E DE-R 217; BGH, 7.10.1997, Az. KZR 17/96, 19/96, 27/96, 35/96 u. 36/96, WuW/E DE-R 1. 230 OLG Düsseldorf, 30.11.2011, Az. VI-U (Kart) 14/11, BeckRS 2012, 01666. Vgl. Monopolkommission, Post 2011, 2011, Ziff. 166 ff. 227

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„unsinnige Klagen der Post“ und eine gezielte Strategie der DPAG, die neuen Konkurrenten mit Hilfe von Gerichtsverfahren zu verunsichern und auszuhungern, da die Privatfirmen kein Geld für lange Rechtsstreitigkeiten hätten.231 Die DPAG hält dem entgegen, sie verteidige lediglich ihre Rechte.232 Die Monopolkommission hat ihr Sondergutachten 2007 über das Postwesen betitelt mit „Monopolkampf mit allen Mitteln“ und der DPAG vorgeworfen, sie setze alle Instrumente ein, um ihre angestammte Position zu halten, lasse sich aber nicht fair auf den Wettbewerb ein.233 Auch wenn die Monopolkommission nicht ausdrücklich die Nutzung von Gerichtsstreitigkeiten im Monopolkampf thematisiert, liegt es nahe, mit den Konkurrenten der DPAG eine solche Tendenz wahrzunehmen. In dem Spektrum der vorgestellten Entscheidungen ist eine eindeutige Positionierung der Gerichte nicht zu erkennen. Sie entscheiden die Fälle stets unter Berücksichtigung der Spannungen des Sektors zwischen Wettbewerb und Universaldienstverpflichtung. Auffällig ist jedoch, dass die Verfahren häufig durch mehrere Instanzen und damit über einen langen Zeitraum hinweg getrieben werden.

3. Marken als Wettbewerbsparameter im Postsektor Im vorliegenden Streit kämpfen die Parteien um Markenrechte an dem Begriff „Post“. Die DPAG hat, wie jedes große Unternehmen, ein weit gestecktes Markenportfolio und hat Hunderte von Marken registrieren lassen.234 Sie verfolgt eine ausgefeilte Markenstrategie.235 Im Geschäftsbericht 2011 schreibt die DPAG: „Ein hoher Bekanntheitsgrad und ein positiv besetztes Markenimage sind für unseren Erfolg als weltweit tätiges Dienstleistungsunternehmen von großer Bedeutung. Deshalb arbeiten wir kontinuierlich an einer professionellen Markenführung und optimieren ganz im Sinne der „Strategie 2015“ unsere Position als „Die Post für Deutschland“ und „Das Logistikunternehmen für die Welt“.“236

Damit definiert die DPAG das Ziel ihrer Markenstrategie: Sie will durch die Markenführung ihre Position als alleiniges oder führendes Post-Unternehmen betonen. Schon die Markenstrategie ist also nicht primär auf ein qualitativ besetztes Merkmal im Leistungswettbewerb ausgerichtet, sondern auf die Hervorhebung der Alleinstellung. Dazu passt die im Markenrecht verfolgte Ten231

Berliner Zeitung, 2.8.2001, „Wettbewerber attackieren Post wegen Zustelldauer“. Ebd. 233 Monopolkommission, Post 2007, 2008, S. 65. 234 Eine Markenrecherche beim Deutschen Patent- und Markenamt am 15.3.2012 ergibt 1015 Treffer für Marken, die auf die DPAG registriert sind. Prüfer, GRUR 2008, 103, 104 gibt für den Stichtag 1.6.2007 644 Markeneintragungen für die DPAG an. 235 Vgl. kritisch dazu Kunz-Hallstein, GRUR Int 2004, 751; Prüfer, GRUR 2008, 103, 104 f. 236 Hervorhebungen im Original. Siehe http://www.dp-dhl.com/reports/2011/geschaeftsbericht/konzernlagebericht/markenwert.html. 232

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denz, Wettbewerber von der Nutzung jeglicher Marken auszuschließen, die den Begriff Post beinhalten. Die Markenstrategie der DPAG hat großen Erfolg, wie ökonomische Studien über den Markenwert von Unternehmen ergeben. „Unabhängige Studien bestätigen unseren Kurs: Für die Deutsche Post ermittelte das Beratungsunternehmen Semion Brand-Broker 2011 einen Markenwert von 12 946 Mio. €. Mit einem Wertzuwachs von 2 Prozent erreicht unsere Marke wie im Vorjahr Platz sechs im Ranking der wertvollsten deutschen Marken. Analysiert wurden unter anderem Finanzwert, Markenschutz, Markenimage und Markenstärke.“237

Die DPAG hält demnach mit einem „Markenwert“ von 12,9 Mrd. Euro eine Spitzenposition in Deutschland. Diese Position der DPAG hat sich in Zeiten (wenn auch schwach) zunehmenden Wettbewerbs nicht etwa verschlechtert, sondern verbessert. 2003 wurde der Markenwert der DPAG mit 8,791 Mrd. Euro angegeben, was damals Platz 10 in Deutschland bedeutete.238 Marken werden auch in Bilanzen dargestellt. Zwar ist umstritten, wie der Wert von Immaterialgüterrechten bilanziert werden kann.239 Es handelt sich aber um reale wirtschaftliche Größen. Die konkreten Ergebnisse für die DPAG spiegeln zum Teil den immensen Aufwand der Marketing-Anstrengungen der DPAG. Erhebungen über die Bedeutung von Marken für neue Marktzutritte im Postsektor sind, soweit ersichtlich, nicht vorhanden. Es können allerdings aus allgemeinen Erkenntnissen über Marken einige wichtige Punkte abgeleitet werden. Newcomer müssen um den Marktzutritt kämpfen. Ihre wichtigste Aufgabe im Wettbewerb ist es, Kunden zu gewinnen. Dazu ist nach heutigen Marketingmaßstäben die Markenbildung ein wichtiges Instrument, da eine Marke wesentliche Aussagen transportieren kann und über Werbe- und Wiedererkennungseffekte die Identifikation des Anbieters durch potenzielle Kunden erhöhen kann.240 Eine gute Marke in einem neu entstehenden Markt kann das Produkt oder die Dienstleistung erklären, dieses Angebot mit einem bestimmten Anbieter verknüpfen und die wesentlichen Parameter setzen, mit denen das neue Unternehmen den Marktzutritt schaffen will. Es handelt sich bei der Markeneinführung um einen Diffusionsprozess, bei dem es darauf ankommt, die Marke möglichst bekannt zu machen, mit der Innovation (hier: alternative Postdienstleistungen) zu verknüpfen und zugleich positiv zu besetzen.241

237

Siehe http://www.dp-dhl.com/reports/2011/geschaeftsbericht/konzernlagebericht/markenwert.html. 238 Studie der Unternehmensberatung BBDO, zitiert nach http://www.gilthserano.de/tow/ worldwide/markenwert-d.html. 239 Vgl. Esch, Markenführung, 2010, S. 645 ff. 240 Vgl. Esch, Markenführung, 2010, S. 4 ff. 241 Vgl. Esch, Markenführung, 2010, S. 71, 79 ff.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

Für die mittelfristig erfolgreiche Markeneinführung ist die kontinuierliche Nutzung der Marke wesentlich.242 Diskontinuitäten verwirren die Erwartungen des Kunden und bestätigen das gegenüber neuen Unternehmen gelegentlich gehegte Gefühl der Instabilität. Die Einführung von Marken ist regelmäßig mit erheblichen Investitionen verbunden (Markenentwicklung, Werbung, Markenführung, Rechtskosten usw.). Kann die Marke nicht oder nur kurze Zeit genutzt werden, sind diese Investitionen verloren. Wie im Telekommunikationssektor ist eine wesentliche Herausforderung, die Kunden überhaupt von der Liberalisierung des Marktes in Kenntnis zu setzen und Wechselwilligkeit in einer wettbewerbslos vorgeprägten Branche zu erzeugen, bei der zudem Vertrauen, Zuverlässigkeit und Systemstabilität von besonderer Bedeutung sind. Geschäftskunden, die von neuen Postdienstleistern angefragt werden, können sich einen Ausfall der Postzustellung nicht leisten. Sie müssen also von einem Newcomer überzeugt sein. Die Seriosität und Kontinuität der Marke ist bei der entsprechenden Bewusstseinsbildung des potentiellen Kunden ein wichtiger Faktor. Sowohl für die DPAG als Konzern mit internationalen Ambitionen als auch für die Newcomer im Briefzustelldienst in Deutschland ist die Marke daher von erheblicher wirtschaftlicher und wettbewerblicher Bedeutung.

II. Dogmatische Herausforderungen In den Fällen, die im Folgenden untersucht werden, geht es um die Frage, wer den Begriff „Post“ zur Bezeichnung seiner Dienstleistungen benutzen darf. Dabei muss die Rechtsprechung drei dogmatische Herausforderungen meistern.

1. Güterzuordnung durch Markenrecht Wenn grundsätzliche Fragen des Markenrechts aufgeworfen werden, lassen sich die Ergebnisse abgleichen mit dem eigentlichen Regelungsziel des Markenrechts. Dass der Gesetzgeber Marken einen besonderen Schutz als Immaterialgüterrecht einräumt, ist keine Selbstverständlichkeit, findet aber Unterstützung in normativen ebenso wie ökonomischen Überlegungen. Zugleich lässt sich einwenden, dass der markenrechtliche Schutz (wie der Schutz anderer Immaterialgüterrechte) möglicherweise in den vergangenen Jahren zu weit ausgedehnt wurde. Die Legitimation der Marke, die Feststellung, warum Marken schutzwürdig sein sollen, muss daher erneut thematisiert werden, auch vor dem Hintergrund einer wettbewerblichen Durchdringung des Markenrechts. Die deutsche Rechtsprechung thematisiert selten explizit solche Über242

Vgl. Esch, Markenführung, 2010, S. 28, 54.

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legungen, ist jedoch den sich wandelnden Elementen der Ordnung gegenüber aufgeschlossen und prägt diese mit. a) Markenfunktionen Die Marke wird definiert als kommerzielles Kommunikationszeichen im Markt.243 Es handelt sich also um ein Zeichen, das dezidiert einen wirtschaftlich-wettbewerblichen Zweck hat, da es im Markt eingesetzt wird, um bestimmte Botschaften zu transportieren. Dieser Zweck wird durch die sog. Markenfunktionen konkretisiert, die traditioneller Ausgangspunkt der markenrechtlichen Dogmatik waren. Als Markenfunktionen sind anerkannt:244 Unterscheidungsfunktion: Die Marke ordnet einem Produkt oder einer Dienstleistung ein Zeichen zu, sodass das Produkt/die Dienstleistung von anderen mit Hilfe dieses Zeichens differenziert werden kann. Herkunftsfunktion: Die Marke ordnet das Produkt oder die Dienstleistung einer bestimmten Herkunft zu, macht also den Anbieter erkennbar, zumindest recherchierbar. Garantiefunktion: Die Marke weckt die Erwartung, dass bestimmte Leistungsmerkmale erfüllt werden, die typischerweise mit dem Anbieter, der Produktfamilie oder dem in dem Zeichen zum Ausdruck kommenden Anspruch assoziiert werden. Für den Abnehmer garantiert die Marke das Erreichen dieser Leistungsmerkmale. Werbefunktion: Die Marke hat darüber hinaus eine Werbefunktion, verknüpft also schon aus sich heraus oder in Folge des Wiedererkennungseffekts positive Eigenschaften mit dem Produkt oder der Dienstleistung, die einen Kaufanreiz auslösen sollen. Kommunikationsfunktion: Teilweise wird eine Funktion der Marke angenommen, Inhalte zu kommunizieren, die über Herkunft, Garantie und Werbung hinausgehen, indem die Marke einen eigenen Informationswert entwickelt und als Kommunikationskanal verwendet wird. Diese Funktionen der Marke, die deutlich machen, dass die Marke ein essentielles Wirtschaftsgut sein kann, das zudem unabhängig vom Geschäftsbetrieb übertragen werden kann, anerkennt die Rechtsordnung durch den Schutz der Marke, der in Deutschland vom Markengesetz gewährleistet wird, auf Ebene der EU durch die Markenrichtlinie245 und die Gemeinschaftsmar243

Vgl. Fezer, Markenrecht, 2009, § 3 Rn. 13. Vgl. Fezer, Markenrecht, 2009, § 3 Rn. 15 ff.; Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2010, Einl., Rn. 72 f.; Klippel in: Ekey/Klippel, Markenrecht, 2009, E2 Rn. 3 ff.; Schultz in: Schultz, Kommentar zum Markenrecht, 2007, A Rn. 1; Sambuc, WRP 2000, 985 ff. (mit kritischem Unterton); Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 596 ff.; Prüfer-Kruse, Interessenschwerpunkte im Markenrecht, 2010, S. 21 ff. m.w.N. Aus Marketing-Sicht siehe Boldt, Markenführung, 2010, S. 34 ff. 245 RL 2008/95/EG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken, ersetzend die RL 89/104/EWG, ABl. L Nr. 299, S. 25 ff. vom 8.11.2008. 244

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kenverordnung246 sowie auf internationaler Ebene durch das von der WIPO verwaltete Madrider Markenabkommen von 1891. b) Einordnung des Markenrechts Der grundlegende Ansatz dieser Markenrechtskodifikationen ist, Marken zu registrieren, die mit erfolgreicher Registrierung dem Anmelder für bestimmte Waren oder Dienstleistungen exklusiv zugewiesen sind. Beeinträchtigt ein Dritter diese Ausschließlichkeitsrechte, indem er die Marke für seine Produkte verwendet oder ein verwechselbar ähnliches Zeichen nutzt, stehen dem Markenrechtsinhaber Unterlassungs-, ggf. auch Schadensersatzansprüche zu (vgl. § 14 MarkenG). Der Gesetzgeber hat dem Markenrechtsschutz Grenzen gezogen. So ist nicht jede Marke eintragungsfähig (vgl. § 8 MarkenG), zudem hat der Schutz, der aus dem Markenrecht folgt, Grenzen (§§ 20 ff. MarkenG). Bekannte Marken bedürfen nicht der Eintragung, um den Schutz des Markenrechts zu genießen. Das Markenrecht gilt als Teil des Zivilrechts,247 da es dem autonom handelnden Individuum zur Entfaltung im wirtschaftlichen Verkehr bestimmte Güter zuordnet. Das Markenrecht ist aufgrund dieser eindeutigen Zuweisung zum Privatrecht „Ausdruck personaler Freiheit und subjektivrechtlicher Handlungsalternativen“248, und die Auslegung des Markenrechts ist damit der Privatautonomie verpflichtet: der Markenanmelder und -inhaber erhält ein Handlungsrecht, das er im Wettbewerb einsetzen kann. Diese Zuordnung erinnert, bei allen Unterschieden zwischen Sacheigentum und Immaterialgüterrechten,249 an die Eigentumsordnung, die neben der Privatautonomie als ein Grundpfeiler des Zivilrechts gilt. So geht die herrschende Lehre davon aus, dass das Markenrecht grundgesetzlich dem Schutz des Art. 14 GG unterfällt.250 Vom Begriff des geistigen Eigentums hat sich die deutsche Rechtslehre allerdings schon seit Josef Kohler gelöst und für Marken, Patente, Urheberrechte und ähnliche Schutzgüter die Theorie der Immaterialgüterrechte entwickelt, welche den besonderen, vom Sacheigentum abweichenden Charakter dieser Güter zum Ausdruck brachte.251 Die Konstruktion der Marke als Freiheitsrecht kann wiederum nicht gedacht werden ohne das Freiheitsparadoxon und also die Systembindung der 246 VO 207/2009 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. L Nr. 78 S. 1 ff. vom 24.3.2009, zuvor VO 40/94 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. L Nr. 11 S. 1 ff. vom 14.1.1994. 247 Vgl. Klippel in: Ekey/Klippel, Markenrecht, 2009, E2 Rn. 5 f. 248 Fezer, Markenrecht, 2009, Einl C Rn. 8. 249 Vgl. statt aller Peukert, Güterzuordnung als Rechtsprinzip, 2008, S. 109 m.w.N. 250 Vgl. BVerfG, 22.5.1979, Az. 1 BvL 9/75, BVerfGE 51, 193 = NJW 1980, 383 – Weinbergrolle; BVerfG, 8.3.1988, Az. 1 BvR 1092/84, BVerfGE 78, 58 = NJW 1988, 2594 – Esslinger Neckarhalde II; Fezer, Markenrecht, 2009, § 14 Rn. 11. 251 Vgl. Kohler, Warenzeichenrecht, 1910, S. 6 ff.; Klippel in: Ekey/Klippel, Markenrecht, 2009, E1 Rn. 9 ff.

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Marke. Ordnungspolitisch stellt sich die Frage, welche Freiheitsräume das Markenrecht eröffnen kann, ohne das System der freien und offenen Interessenkoordination zwischen rechtlich gleich gestellten Individuen zu beeinträchtigen. Aus dieser Bindung folgen die Beschränkungen, die das Immaterialgüterrecht erfahren muss, damit das System insgesamt gesichert werden kann. Eine einseitige Betonung der Rechte des Markeninhabers, ohne Rücksichtnahme auf andere Marktteilnehmer oder das systemrelevante Interesse am Erhalt einer privatrechtlichen Ordnung, ist verfehlt. Die hier besprochenen Fälle eröffnen also ein weiteres privatrechtliches Feld der evolutionär-legitimatorischen Betrachtung: Stand zunächst die Privatautonomie als Zentralbegriff im Mittelpunkt der Betrachtungen, kam mit den werberechtlichen Streitigkeiten in der Telekommunikationsbranche die Grenzziehung für privatautonomes Handeln aus bestimmten, systemerhaltenden Bindungen (Fairness) heraus zum Tragen. In den vorliegenden Streitigkeiten nun geht es um den Kampf um die Güterzuordnung in einer Privatrechtsordnung.252 Damit muss die Rechtsprechung entscheiden, welche Ausgangsposition die Rechtsgemeinschaft ihren Mitgliedern in der Wirtschaftsordnung zur Verfügung stellt. Der besondere Schutz, den das Markenrecht einer Position gibt, entscheidet über die Vermögensverhältnisse in der Marktwirtschaft und eröffnet demjenigen, der unter dem Schutz der Rechtsordnung steht, verbesserte Chancen.253 c) Legitimation des Markenrechts Diese Überlegung weist auf die Begründung des Markenrechts und ihre aktuelle Kritik seitens der Wettbewerbstheoretiker hin. Kohler hatte – aufbauend auf den entstehenden Theorien zu Persönlichkeitsrechten – die Ansicht vertreten, das Markenrecht sei Ausfluss der schöpferischen Persönlichkeit, die Marke sei immaterieller Ausdruck der individuellen Verwirklichung, die sich auch im Wirtschaftsleben entfalte.254 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als das moderne Unternehmertum erst entstand und das Marketing noch rudimentärer entwickelt war, mag dieser Ansatz treffender gewesen sein als in Zeiten globaler Großkonzerne, in denen Marken am Fließband entstehen und das Markenwesen vollständig durchkommerzialisiert ist. Allerdings öffnet Kohlers Begründung den Blick für die nach wie vor aktuelle Grundidee der Wirtschaftsordnung: dass Individuen mit Hilfe ihrer eigenen Entscheidungen und Leistungen ihre Interessen zwecks Bedürfnisbefriedi252

Dazu grundlegend Peukert, Güterzuordnung als Rechtsprinzip, 2008. Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 596, sieht im Markenrecht „konstitutives Verbraucherschutzrecht“, das die Funktionsfähigkeit der Marktmechanismen gewährleistet. 254 Vgl. Kohler, Warenzeichenrecht, 1910, S. 6 ff.; Prüfer-Kruse, Interessenschwerpunkte im Markenrecht, 2010, S. 38 f. 253

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gung koordinieren, wofür eine Güterzuordnung wie die des Markenrechts bloß eine dienende Funktion hat. Die Besinnung darauf mag manche Auswüchse erkennbar machen. Teilweise wird die Begründung des Markenrechts in der Anerkennung der damit verbundenen Investitionen und Leistungen gesehen. Das Markenrecht wäre damit die Belohnung für den Aufbau eines Zeichens, das die oben genannten Funktionen erfüllt, und das damit eine Leistung darstellt, die von der Rechtsgemeinschaft honoriert wird.255 Noch heute wird aber auch die Position vertreten, das Markenrecht sei Teil der Eigentumsordnung. Seine Ausgestaltung als absolutes Recht durch den Gesetzgeber sei nur der rechtliche Vollzug einer natürlichen Zuweisung.256 Die Marke wird so mit dem Sacheigentum in engen Bezug gesetzt und erfährt eine naturrechtliche Grundierung. Ökonomische Begründungstheorien aus dem Forschungsfeld „law and economics“ wägen den Nutzen der Zuweisung eines Exklusivrechts mit den Nachteilen ab. Anerkannt ist, dass der Schutz vor Herkunftstäuschung bei nachgeahmten Produkten eine wichtige verbraucherschützende und wettbewerbsbefreiende Legitimation des Markenrechts ist.257 Auch die Ausbeutung des von einem anderen Unternehmen aufgebauten Rufs stellt eine Wettbewerbsverzerrung dar. Trittbrettfahrer, die so den Ruf der Marke ausbeuten, werden vom Markenrecht in die Schranken gewiesen. Die Marke erspart dem Verbraucher zudem Suchkosten, indem sie Orientierung bietet. Wenn der Verbraucher sich auf eine ihm bekannte Marke verlässt, erleichtert dies die Koordination der Interessen im Wirtschaftsverkehr. Zugleich geht von Marken ein Signal (signalling) zur Qualität des unter dem Markennamen vertriebenen Produkts aus, das Qualität als Wettbewerbsparameter etabliert und damit vor Qualitätsverfall schützt.258 Das Eingreifen des Gesetzgebers zugunsten eines Markenschutzes wird von den Vertretern einer „property-rights-Lehre“ wesentlich legitimiert mit der Anreizsetzung für Investitionen im wirtschaftlichen Wettbewerb, wenn durch die Eröffnung eines property rights die Gewinne die Kosten übersteigen.259 Nach dieser Ansicht wird nur der Unternehmer investieren, der auf Amortisation seiner Investitionen hoffen kann. Investitionen und Innovationen, die daraus folgen, seien aber gerade der Motor der Volkswirtschaft. Marken erlaubten es ihrem Inhaber, ein Produkt optimal zu vermarkten, damit kommerziell erfolgreich zu machen und die Investitionen zu amortisieren. Dies gelte insbesondere für die von der Volkswirtschaft gewünschten Qualitätsprodukte. 255 256 257 258 259

Vgl. MPI, Trade Mark Study, 2011, Ziff. 1.31; Fezer, Markenrecht, 2009, Einl C Rn. 14 ff. Fezer, Markenrecht, 2009, Einl C Rn. 8 ff. Vgl. MPI, Trade Mark Study, 2011, Ziff. 1.25. Vgl. Prüfer-Kruse, Interessenschwerpunkte im Markenrecht, 2010, S. 33. Vgl. Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 607 m.w.N.

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Das mit einer Marke erarbeitete Image bedürfe dann des Schutzes gegen Nachahmung, Verwässerung oder Trittbrettfahrer. Mit einem anderen Akzent ordnen Vertreter der Innovationsökonomik die Amortisation ein, indem sie die Marke als Möglichkeit sehen, Innovationen im dynamischen Prozess der Wirtschaft abzusichern. Marken erlauben es demnach, wie andere Immaterialgüterrechte, eine Investition gegen schnelle Nachahmung zu schützen und setzen einen Anreiz zur Innovation. Der „first-mover-advantage“, der Teil der Innovationslehre ist, wird damit geschützt.260 Diesem Ansatz kann sich die Evolutionsökonomik anschließen, welche die Wirtschaft ohnehin als andauernden Prozess der Innovation ansieht. In der evolutionären Terminologie stellen Marken Strukturen dar, die Nachfragererwartungen prägen, aus denen dann wiederum die wirtschaftlichen Entscheidungen des Einzelnen fließen. d) Kritik aus wettbewerblicher Sicht Das Bild von der Marke als Struktur verdeutlicht das wettbewerbsbeschränkende Potential der Marke, das in dieser als einem Ausschließlichkeitsrecht angelegt ist. Markenrecht muss daher immer das Ringen um die Monopolisierung eines Zeichens einerseits und die Freiheitsordnung andererseits bedeuten.261 Die Orientierungsfunktion und all die anderen positiven Funktionen, die der Marke zugeschrieben werden, haben zwar positive Effekte für die Interessenkoordination. Die Strukturen werden jedoch durch den Schutz, den das Markenrecht verleiht, dauerhaft perpetuiert. Das Verallgemeinernde des Rechts spricht einen Schutz zu, der über die als positiv anzuerkennenden Funktionen und Legitimationen des Schutzrechts hinausgehen kann. Der Gefahr des Überschutzes versucht der Gesetzgeber mit Eintragungshindernissen und Schutzschranken Rechnung zu tragen, also Einfallstoren, die dem markenrechtlichen Schutz Grenzen ziehen. Wie in der evolutionären Methodik herausgearbeitet, ist es die Aufgabe der Rechtsprechung, rechtliche Strukturen (Institutionen) so anzupassen, dass sie der freien Entscheidung des Einzelnen und der Dynamik der Wirtschaftsordnung nicht hinderlich sind. Auf genau diese Aufgabe der Rechtsprechung wird in der Analyse der Rechtsprechungsentwicklung zu „Post“ als Marke zu achten sein. Die Kritik, die hier an einem markenrechtlichen Überschutz anklingt, entspringt der Auffassung, dass privatrechtliche Regelungen, selbst dann wenn sie Güterzuordnungen betreffen, nicht den Grundprinzipien der privatrechtlich-marktwirtschaftlichen Ordnung entgegenstehen dürfen. Das zivilrechtliche Leitbild, das freie Entscheidung, rechtliche Gleichordnung, Ermöglichung der Interessenkoordination und Schutz der Systemgrundlagen beinhaltet, hat 260 261

Vgl. Prüfer-Kruse, Interessenschwerpunkte im Markenrecht, 2010, S. 37. Vgl. Klippel in: Ekey/Klippel, Markenrecht, 2009, E1 Rn. 10, E2 Rn. 5.

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auch gegenüber privatrechtlichen Spezialnormen wie dem Markenrecht Geltungsanspruch. Häufig wird in jüngerer Zeit ein wichtiges Element dieses Leitbilds, das die Marktwirtschaft kennzeichnende Wettbewerbsprinzip, ins Verhältnis zum Markenrecht gesetzt. Der EuGH hat in seiner Entscheidung HAG II festgestellt, das Markenrecht sei „wesentlicher Bestandteil des Systems eines unverfälschten Wettbewerbs“262. In der Entscheidung wird diese Aussage noch als Ansatzpunkt interpretiert, um den Markeninhaber bei der Entfaltung der Markenfunktionen zu unterstützen, auf dass nicht durch Nachahmungen Verfälschungen im Kampf um den Kunden auftreten. Doch der mit HAG II etablierte Satz des EuGH birgt eine Sprengkraft im Hinblick auf die Rechte anderer Marktteilnehmer. In einer im Auftrag der EU-Kommission vom Max-Planck-Institut für Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht durchgeführten Markenrechtsstudie heißt es unter Berufung auf den EuGH ebenfalls, das Markenrecht sei „anchored in the fundamental principle of undistorted competition.“263 Gefolgert wird jedoch, das Markenrecht sei stets wettbewerbsfreundlich auszulegen. Damit wird der Wandel dokumentiert, den die Interpretation von HAG II mittlerweile genommen hat: Nicht mehr nur der Schutz des Markeninhabers vor verfälschend agierenden Mitbewerbern, sondern auch die Chancen der Mitbewerber und das Interesse der Allgemeinheit an einem funktionierenden und freien Wettbewerb werden nunmehr als Grundprinzipien des Markenrechts anerkannt. So betont die Studie des Max-Planck-Instituts folgerichtig, dass Markenrechte nicht nur in die Prinzipien unverfälschten Wettbewerbs, sondern gerade auch diejenigen einer freien Wettbewerbsordnung integriert werden müssen.264 Eine solche, das Markenrecht in die Wirtschafts- und Wettbewerbsordnung einordnende Sicht ist in seinen Konsequenzen möglicherweise noch nicht vollständig in der juristischen Teildisziplin des Markenrechts umgesetzt worden. Aus der Perspektive einer wettbewerblichen Durchdringung des Markenrechts wird kritisiert, dass Exklusivrechte bestimmte Leistungen dem Wettbewerb entziehen und Folgeinnovationen erschweren. Im Markenrecht können sich, wenn eine Marke geschützt ist, nachfolgende Unternehmen nicht mehr auf die Zeichen stützen, die damit besetzt sind. Dies stellt insbesondere bei beschreibenden Angaben und solchen Zeichen, die nur in limitierter Zahl vorhanden sind (z.B. Farbmarken), eine Hürde dar, die zu einer Marktzutrittsbarriere führen kann.265 Eine starke markenrechtliche Ausgestaltung kann zudem zu einer Einschränkung des Wettbewerbs dadurch führen, dass tatsächlich miteinander 262 263 264 265

EuGH, 17.10.1990, Rs. C-10/89, Slg. 1990, I-3711 = GRUR Int 1990, 960, 961 – HAG II. MPI, Trade Mark Study, 2011, Ziff. 1.24. Vgl. MPI, Trade Mark Study, 2011, Ziff. 1.29 ff. Vgl. MPI, Trade Mark Study, 2011, Ziff. 1.26 und 1.30.

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austauschbare Produkte nicht mehr von der Nachfrageseite als austauschbar angesehen werden. Dann würden Preisstellungen ermöglicht, die bei stärkerer Vergleichbarkeit nicht möglich wären. Dieses Argument geht einher mit der Überlegung, dass Marken als Teil der Werbung nicht auf rationale Entscheidungen abzielen, sondern häufig die emotionale Seite des Nachfragers ansprechen und nicht immer in ihrem Aussagegehalt wahrhaftig-sachlich sind. Indem der Gesetzgeber Marken schützt, fördert der Gesetzgeber, dass Verbraucher nicht mehr die eigentlichen Produkteigenschaften, sondern die Werbung für das Produkt und sein Image als wesentlich ansehen. Gerade diesem letzten Punkt sind jedoch die positiven Markenfunktionen entgegenzuhalten. Überdies ist Werbung inzwischen ein eigener Faktor von großer volkswirtschaftlicher Relevanz, in dem Werte geschaffen werden. Schließlich sind als weitere Kosten eines markenrechtlichen Schutzregimes die Kosten dieses Regimes selbst einzupreisen. In dieser Hinsicht hat die Markenrechtsstudie des MPI die problematische Tendenz der Verstopfung des Marken-Markts thematisiert. Durch die Vielzahl inzwischen registrierter Marken, die zum Teil nicht einmal genutzt würden, werde das System insgesamt immer weniger zugänglich und in seiner Funktionalität bedroht.266 Es bleibt zu prüfen, ob die Rechtsprechung erkennen lässt, welche Legitimation sie für den Schutz von Marken anerkennt, und ob sie neuere Überlegungen zur kritischen Würdigung dieser Legitimationsgründe, etwa aus wettbewerblicher Sicht, reflektiert. Dies wäre möglicherweise in der Auslegung bestimmter Termini, etwa den Eintragungshindernissen,267 oder in Form von Interessenabwägungen, welche die verschiedenen berührten Belange auch ökonomisch einordnet,268 zu erwarten. e) Verhältnis zu kartell- und lauterkeitsrechtlichen Regeln Der Schutz von Marken ist selbstverständliche Domäne des Markenrechts, jedoch berühren auch Lauterkeits- und Kartellrecht, diese beiden Teilgebiete des Wettbewerbsschutzes, den Markenschutz. Aus ihrer Anwendung ergeben sich wiederum Wertungen für die Schutzwürdigkeit der Marke. Überschneidungspunkte mit dem Lauterkeitsrecht ergeben sich beim Leistungsschutz. § 4 Nr. 9 UWG enthält ein Verbot der Nachahmung, wenn mit der Nachahmung Täuschungsgefahr oder Rufausbeutung verbunden sein können oder wenn die Nachahmung nur aufgrund unredlich erlangter Kennt266

Vgl. MPI, Trade Mark Study 2011, Ziff. 1.32. Einfallstore für wettbewerbliche Überlegungen werden vor allem bei den Eintragungshindernissen (Art. 3 MarkenRL, Art. 7 GMVO) gesehen, vgl. MPI, Trade Mark Study, 2001, Ziff. 1.24. Siehe konkret in den hier besprochenen Fällen unten. 268 So vor allem Prüfer-Kruse, Interessenschwerpunkte im Markenrecht, 2010, S. 42 ff. Für eine Wettbewerbsorientierung am Beispiel des Merkmals der Markenbenutzung Chronopolous, IIC 2011, 535, 569 f. 267

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nisse möglich wird. Die für das Markenrecht und die hier interessierenden Fälle besonders relevante Konstellation ist die der Täuschung über die betriebliche Herkunft. Fraglich ist damit, ob einem Markenrechtsinhaber, etwa der DPAG, ein Anspruch auch aus UWG zustehen kann, wenn ein Konkurrent unter einem ähnlichen Zeichen seine Postdienstleistungen anbietet. Lauterkeitsrechtliche Regelungen, insbesondere zur Rufausbeutung oder zur Nachahmung, galten früher als subsidiär, soweit markenrechtliche Regelungen einschlägig waren. Diese Position des Vorrangs des speziellen Schutzgesetzes ist mit dem Einfluss des europäischen Rechts freilich nicht mehr aufrecht zu halten.269 Da das UWG durch die Richtlinien eine eigenständige europarechtliche Grundlage erhalten hat, steht es auf einer Ebene mit dem Markenrecht und ist ggf. parallel anzuwenden. Hier besteht zum einen die mögliche Gefahr, dass über Lauterkeitsrecht ein Zeichen geschützt wird, das markenrechtlich keinen Schutz genießt.270 Aber selbst wenn UWG und Markenrecht zu denselben Ergebnissen kommen, werden durch die Anwendung des UWG möglicherweise andere Rechtsfolgen ausgelöst, die sich aus den unterschiedlichen Verfahrens- und Sanktionsmöglichkeiten beider Rechtsgebiete ergeben. Das UWG könnte hier einen weitergehenden Schutz als das Markenrecht ermöglichen. Eine gegenteilige Tendenz könnte sich aus § 4 Nr. 10 UWG ergeben, wenn in der Geltendmachung markenrechtlicher Ansprüche eine gezielte Mitbewerberbehinderung liegt. Dies könnte von der Rechtsprechung etwa dann anzunehmen sein, wenn Mitbewerber mit markenrechtlichen Abmahnverfahren überzogen werden, die sich im Ergebnis als unberechtigt herausstellen, aber zunächst eine gewisse Behinderungswirkung entfalten.271 Zum Teil werden auch kartellrechtliche Schranken für die Ausübung des Markenrechts erwogen.272 Die Nutzung von Immaterialgüterrechten gab in den vergangenen Jahren verstärkt Anlass zu kartellrechtlichen Verfahren. So wurde etwa die Erschleichung von Patentschutz für ein Blockbuster-Medikament als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 102 AEUV) gewertet.273 Anlässlich einer Sektoruntersuchung im Pharma-Markt thematisierte die Kommission zahlreiche Wettbewerbsprobleme, die sich aus Immaterialgüterrechten ergeben.274 Eingeleitet wurden Verfahren wegen kartellrechts269 Vgl. Ohly in: Hilty/Henning-Bodewig, Lauterkeitsrecht und Acquis Communautaire, 2009, S. 181, Bornkamm, GRUR 2011, 1 ff.; Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2010, § 2 Rn. 1 ff. m.w.N.; grundlegend schon Fikentscher, Wettbewerb und gewerblicher Rechtsschutz, 1958, S. 269 ff. 270 Vgl. Ohly in: Hilty/Henning-Bodewig, Lauterkeitsrecht und Acquis Communautaire, 2009, S. 181, 185 f. 271 Vgl. Jänich/Schrader, WRP 2006, 656, 663 m.w.N. 272 Vgl. Jänich/Schrader, WRP 2006, 656, 662 f. 273 EuGH, 6.12.2012, Rs. C-457/10 P, EuZW 2013 400 – AstraZeneca. Vgl. Conde/Podszun, sic! 2011, 126, 130 f. 274 KOM, 8.7.2009, Pharmaceutical Sector Inquiry, Final Report.

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widriger „pay-for-delay“-Vereinbarungen, bei denen Hersteller von Originalpräparaten und Generika sich über einen verzögerten Markteintritt der Generika gegen Zahlung einer Geldsumme einigen.275 Große Aufmerksamkeit hat zudem die Diskussion über kartellrechtliche Zwangslizenzen erfahren.276 Im Microsoft-Fall beispielsweise wurde der Software-Hersteller verpflichtet, konkurrierenden Software-Entwicklern Schnittstellen offen zu legen, sodass diese Produkte entwickeln konnten, die mit den Betriebssystemen von Microsoft kompatibel sind.277 In Patentverletzungsverfahren wurde der Einwand der kartellrechtlichen Zwangslizenz grundsätzlich zugelassen.278 In den Fällen Duales System Deutschland 279 und Soda Club280 wurden missbräuchliche Verhaltensweisen festgestellt (Art. 102 AEUV, § 19 GWB), die teilweise mit Hilfe von markenrechtlichen Ansprüchen umgesetzt wurden. Auch wenn die „Entdeckung“ solcher Schnittpunkte eine Tendenz suggeriert, das Immaterialgüterrecht an den Maßstäben des Kartellrechts zu messen, lassen sich auch Ansatzpunkte dafür finden, dass diese Entwicklung noch nicht zu einer Durchdringung des Immaterialgüterrechts durch das Kartellrecht führt. So wurden Verfahren gegen die Anmelder von Sperrpatenten – wenn auch gegen Auflagen – eingestellt.281 Der BGH erkannte im ersten großen Urteil seit Jahrzehnten zu einer Markenabgrenzungsvereinbarung keine Wettbewerbsbeschränkungen.282 Die Anforderungen an eine kartellrechtliche Zwangslizenz bleiben nach den Entscheidungen zu Microsoft und Orange Book sowohl materiell als auch verfahrensrechtlich so hoch, dass nur in Einzelfällen das Kartellrecht durchgreifen wird. So scheint zumindest zum derzeitigen Zeitpunkt das Kartellrecht weniger geeignet, alle immaterialgüterrechtlichen Fehlentwicklungen zu stoppen. Gerichte sind aber weder gehindert, in Einzelfällen kartell- und lauterkeitsrechtliche Regeln anzuwenden, noch grundsätzlich die Wertungen des Wettbewerbs ins Immaterialgüterrecht einfließen zu lassen.

275

Vgl. Conde/Podszun, sic! 2011, 126, 134 f.; Drexl, IIC 2009, 751 ff. Vgl. Wilhelmi, WRP 2009, 1431 ff.; Ensthaler/Bock, GRUR 2009, 1 ff., jeweils m.w.N. 277 EuG, 17.9.2007, Rs. T-201/04, Slg. 2007, II-3601 – Microsoft. 278 Vgl. BGH, 13.7.2004, Az. 40/02, BGHZ 160, 67 = GRUR 2004, 966 – Standard-Spundfass; siehe später BGH, 6.5.2009, Az. KZR 39/06, BGHZ 180, 312 = GRUR 2009, 694 – Orange Book. 279 EuGH, 16.7.2009, Rs. C-385/07 P, Slg. 2009, I-6155 = WuW/E EU-R 1596 – Duales System Deutschland. (Das Unternehmen hatte Lizenzzahlungen für sein Zeichen „Grüner Punkt“ verlangt, selbst wenn das Entsorgungssystem des Unternehmens nicht genutzt wurde.). 280 BGH, 4.3.2008, Az. KVR 21/07, BGHZ 176, 1 = BB 2008, 970 – Soda Club II. (Das marktbeherrschende Unternehmen hatte sich auf Eigentums- (zuvor Marken-)Rechte gestützt, um Wettbewerber von der Wiederbefüllung leerer Gaspatronen auszuschließen. 281 KOM, 6.7.2011, Verfahrenseinstellung im Fall COMP/39246 – Boehringer, vgl. Drexl, IIC 2009, 751, 755. 282 BGH, 7.12.2010, Az. KZR 71/08, GRUR 2011, 641 – Jette Joop. 276

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2. Wettbewerbliche Durchdringung markenrechtlicher Tatbestandsmerkmale Post-deregulative Konflikte illustrieren besonders gut den möglichen Wettbewerbsbezug einzelner Prüfungsmerkmale des Markenrechts, da in den betroffenen Branchen die Immaterialgüterzuordnung erst noch stattfinden muss und somit noch um die Güterzuordnung und also Eröffnung von gleichen Chancen im Wettbewerb gerungen wird. In den hier analysierten Entscheidungen muss sich die Rechtsprechung mit den Merkmalen Verkehrsdurchsetzung und beschreibende Angaben besonders befassen. Zudem kann der Gleichheitsgrundsatz bei der Markeneintragung betroffen sein. a) Verkehrsdurchsetzung Die DPAG beruft sich darauf, dass ihr Markenschutz für die Wortmarke „Post“ zustehe. Sie mahnt daher Wettbewerber ab, die – etwa durch Bezeichnungen wie Citypost – aus Sicht der DPAG ein verwechselbares Zeichen verwenden. Dem wird entgegengehalten, der Begriff „Post“ sei eine Angabe, die im allgemeinen Sprachgebrauch zur Bezeichnung der Dienstleistung üblich geworden sei. Es handele sich zudem um eine die Dienstleistung lediglich beschreibende Angabe, der die Unterscheidungskraft fehle. Post sei schlicht ein Ausdruck für Briefzustellung. Falls diese Auffassung zutrifft, könnte der Begriff „Post“ nicht als Marke eingetragen werden, da ein absolutes Schutzhindernis des § 8 Abs. 2 Nr. 1–3 MarkenG vorläge. Dieses Schutzhindernis könnte durch § 8 Abs. 3 MarkenG allerdings überwunden werden, wenn sich die Marke „infolge ihrer Benutzung für die Waren oder Dienstleistungen, für die sie angemeldet worden ist, in den beteiligten Verkehrskreisen durchgesetzt hat.“ Die in § 8 Abs. 2 Nr. 1–3 genannten Schutzhindernisse, fehlende Unterscheidungskraft (Nr. 1), Freihaltebedürfnis (Nr. 2) und Gattungsbezeichnung (Nr. 3), könnten also durch Verkehrsdurchsetzung nach § 8 Abs. 3 gekontert werden. Dazu muss die Rechtsprechung zunächst ein Freihaltebedürfnis am Begriff „Post“ bejahen oder darin eine Gattungsbezeichnung sehen und sodann Verkehrsdurchsetzung der Marke „Post“ annehmen. Im Sprachgebrauch wird „Post“ verwendet als Begriff für verschiedene Aspekte des Briefbeförderungswesens: Erstens bezeichnet Post eine Gesamtheit von adressierten Schriftstücken, zweitens das Unternehmen, welches Beförderungsdienstleistungen erbringt, und drittens die stationären Lokale, in denen Unternehmen diese Dienstleistung anbieten. Mit diesen Hinweisen auf den allgemeinen Sprachgebrauch lässt sich ein Freihaltebedürfnis rechtfertigen. Hintergrund ist das Ziel, das Zeichen zugunsten der Allgemeinheit zu schützen. Einer Monopolisierung durch einen einzelnen Marktteilnehmer wird damit aus Gründen der Verkehrsfähigkeit entgegengetreten. Verkehrsschutz überwindet dieses Eintragungshindernis, wenn ein Marktteilnehmer es bereits geschafft hat, das Zeichen derart zu belegen, dass es mit

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seinen Produkten oder Dienstleistungen identifiziert wird. Diese Leistung, die üblicherweise mit Investitionen verbunden ist, erkennt die Rechtsordnung an. Belohnt wird also der Bedeutungswandel, den das Unternehmen für den Begriff erreicht hat, dessen allgemeine Bedeutung verengt wurde auf die spezifische Unternehmenszuordnung.283 Zu einer Verbraucherverwirrung zwischen allgemeinem Sprachgebrauch und markenmäßiger Zuordnung zu einem Berechtigten kommt es nicht, da gerade auf die Geltung in den betroffenen Verkehrskreisen abgestellt wird. Mit dem Merkmal der Verkehrsdurchsetzung stellen sich Fragen, zu denen sich die Rechtsprechung positionieren muss. In jedem derartigen Fall ist zu fragen, wann sich eine Marke durchgesetzt hat. Verkehrsdurchsetzung wird definiert als allgemeine Bekanntheit des Hinweises auf eine betriebliche Herkunft in der relevanten Zielgruppe der Marke, also den beteiligten Verkehrskreisen. Ob die Marke in dieser Gruppe Unterscheidungskraft besitzt und Produkte oder Dienstleistungen dem Unternehmen zugeordnet werden, welche das Markenrecht in Anspruch nehmen, wird notfalls durch Verkehrsbefragungen ermittelt, wenn das Unternehmen glaubhaft gemacht hat, dass es in die Markenbildung entsprechend investiert hat.284 Ab welchem Prozentsatz der Herkunftshinweis einer Marke im Verkehr als durchgesetzt zu gelten hat, ist streitig. Der BGH hat in der wegweisenden Entscheidung Lotto, ebenso wie der EuGH in Windsurfing Chiemsee zu Art. 3 Abs. 3 MarkenRL,285 das Festlegen eindeutiger Prozentsätze abgelehnt und auf die Umstände des Einzelfalls verwiesen, zu denen auch der Grad des Freihaltebedürfnisses zählt.286 Bei einer Zuordnung von unter 50 Prozent dürfte allerdings die Verkehrsdurchsetzung, insbesondere bei sog. „glatt beschreibenden Begriffen“, kaum zu bejahen sein.287 In diesem ersten Punkt muss die Rechtsprechung sich also zu den quantitativen und qualitativen Faktoren bekennen, die Verkehrsdurchsetzung ausmachen.288 Strittig ist, ob in einer solchen Abwägung die wettbewerbliche Position des Unternehmens eine Rolle spielt. Vertreten wird teilweise, dass ein ohnehin marktbeherrschendes Unternehmen nicht noch eine Verstärkung seiner Marktstärke durch die Monopolisierung von Begriffen erfahren sollte, die ei283

Vgl. EuGH, 4.5.1999, Verb. Rs. C-108/97 u. 109/97, Slg. 1999, I-2779 = GRUR 1999, 723, 727 – Windsurfing Chiemsee; BGH, 19.1.2006, Az. I ZB 11/04, WRP 2006, 1030, 1031 – Lotto. 284 Vgl. Berlit, Markenrecht, 2010, Rn. 29; Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2010, § 8 Rn. 337. Vgl. teilweise kritisch zur Praxis Prüfer, GRUR 2008, 103, 107 ff. 285 EuGH, 4.5.1999, Verb. Rs. C-108/97 u. 109/97, Slg. 1999, I-2779 = GRUR 1999, 723 – Windsurfing Chiemsee. Vgl. Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2010, § 8 Rn. 341 f. 286 BGH, 19.1.2006, Az. I ZB 11/04, WRP 2006, 1030, 1031 f. – Lotto. Dazu Risthaus, WRP 2006, 1299 ff. Vgl. Marx, Markenrecht, 2007, Rn. 487 ff. 287 Vgl. BGH, 1.3.2001, Az. I ZB 54/98, GRUR 2001, 1042, 1043 – REICH UND SCHOEN. 288 Vgl. Marx, Markenrecht, 2007, Rn. 491.

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gentlich frei gehalten sein sollten. Dem wird entgegengehalten, die markenrechtliche Betrachtung erfolge unabhängig von der Marktsituation, der Marktanteil sei gerade ein Indiz für die Bekanntheit des Herkunftshinweises.289 Noch stärker auf die vorliegenden Fälle zielt die Frage, welche Bedeutung es hat, dass die DPAG aus einem ehemaligen staatlichen Monopolunternehmen hervorgegangen ist. Die Meinungen in der Literatur gehen stark auseinander. Ausgangspunkt ist die frühere Rechtsprechung, nach der kein Markenrecht an einem Zeichen entsteht, das zu Monopolzeiten verwendet wurde.290 Diese Linie wurde 2002 vom EuGH in der Entscheidung Philips/Remington geöffnet.291 In der Entscheidung ging es um die dreigliedrige Form der Scherköpfe bei Philips-Rasierapparaten, für die markenrechtlicher Schutz beansprucht wurde. Das vorlegende Gericht wollte wissen, ob dieser markenrechtliche Schutz daran scheitern könne, dass Philips alleiniger Lieferant dieses Produkts gewesen sei. Der EuGH hielt dies für unschädlich, forderte das nationale Gericht aber zur genauen Prüfung auf, ob tatsächlich ein Herkunftshinweis mit der Form assoziiert werde und ob die Durchsetzung der Form als Marke wirklich auf einer markenmäßigen Benutzung beruhe.292 Nach dieser Entscheidung stellte sich der Rechtsprechung die Frage, ob der Monopoleinwand damit auch für Wortmarken und solche Monopole gefallen sei, die auf einer staatlichen Monopolisierung beruhten. Ein Teil der Literatur macht einen „Monopoleinwand“ geltend, der besagt, dass die Identifikation der DPAG mit dem Begriff „Post“ keine Leistung im Wettbewerb gewesen sei, sondern die Fortwirkung aus Zeiten wettbewerbsloser Leistungserbringung durch ein Staatsunternehmen.293 Eine Durchsetzung im Verkehr habe die Marke dann nicht erfahren, es sei lediglich eine gedankliche Verknüpfung zwischen der Tätigkeit der DPAG (bzw. ihrer Vorgängerin) und der Tätigkeiten im Postwesen erfolgt. Die rechtliche Monopolstellung der ehemaligen Bundespost und deren Fortwirkung in der Exklusivlizenz, die tatsächliche Marktbeherrschung durch die DPAG und der staatliche Einfluss seien als qualitative Faktoren zu berücksichtigen. Entgegengesetzt wird in der Literatur vorgebracht, die Markendurchsetzung sei unabhängig von der Wettbewerbssituation.294 Einer vermittelnden Ansicht zufolge ist denkbar, dass bei ehemaligen Monopolunternehmen eine markenmäßige Benutzung erfolgt und ein von dem 289

Fezer, Markenrecht, 2009, § 8 Rn. 731 ff. BGH, 30.6.1959, Az. I ZR 31/58, GRUR 1960, 83 – Nährbier; BGH, 25.10.1967, Az. Ib ZR 62/65, GRUR 1968, 419 – feuerfest I; Fezer, WRP 2005, 1, 3 ff. Vgl. Prüfer, GRUR 2008, 103, 105; Kunz-Hallstein, GRUR Int 2004, 751, 753 m.w.N. 291 EuGH, 18.6.2002, Rs. C-299/99, Slg. 2002, I-5475 = GRUR 2002, 804 – Philips/Remington. 292 Ebd. Rz. 65. 293 Vgl. Jänich/Schrader, WRP 2006, 656, 659 f., 661; Kunz-Hallstein, GRUR Int 2004, 751, 753. 294 Vgl. Fezer, Markenrecht, 2009, § 8 Rn. 734 ff. 290

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Unternehmen herbeigeführter Bedeutungswandel möglich ist. Dann bestehe jedoch weiterhin ein besonders hohes Freihaltebedürfnis, das nicht ohne weiteres überwunden werden könne, sondern einhellige Verkehrsdurchsetzung der Marke verlange.295 Als Kompromisslösung wird die Auffassung vertreten, eine Marke könne zwar durchgesetzt sein im Sinne des § 8 Abs. 3 MarkenG, habe in bestimmten Fällen aber nur einen sehr engen Schutzumfang.296 So könne schon beim Hinzutreten kleiner Ergänzungen zum geschützten Zeichen die Gattungsbezeichnung wieder frei verwendet werden.297 Die Rechtsprechung ist also zunächst gefordert, einen Bedeutungswandel beim Zeichen festzustellen und muss sodann mit Blick auf den „Monopoleinwand“ und die Wettbewerbssituation Stellung beziehen, inwiefern dieser Bedeutungswandel schutzwürdig ist. Auf zwei Seitenaspekte dieser Problematik kann hier nur hingewiesen werden: Erstens wird zuweilen vorgetragen, eine verkehrsdurchgesetzte Marke genieße Eigentumsschutz, Vertrauensschutz oder eine Art Bestandsgarantie. Zur Rechtfertigung wird nicht nur Art. 14 GG herangezogen, der im Markenrecht insofern relativiert ist, als das Markenrecht als Schranke erst Inhalt und Grenzen des Eigentums bestimmt (vgl. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG), sondern etwa auch eine Regelung wie die in § 22 Abs. 2 MarkenG. In dieser Norm kommt eine Bestandsgarantie zum Ausdruck, indem festgelegt ist, dass der Inhaber einer eingetragenen Marke jüngeren Zeitrangs die Benutzung einer älteren Marke, die bei Eintragung der jüngeren nicht bekannt war oder hätte gelöscht werden können, nicht untersagen kann. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass der Bedeutungswandel, auf den § 8 Abs. 3 MarkenG maßgeblich abstellt, bei Wortmarken ein sprachabhängiges und damit häufig nationales Phänomen ist. Das kann in der Verknüpfung mit der Problematik ehemaliger staatlicher Betriebe, deren Tätigkeit aufgrund rechtlicher Monopole im Wesentlichen auf das Hoheitsgebiet ihres Staates beschränkt war, zu einem Weiterwirken der früheren Monopolsituation jedenfalls im markenrechtlichen Bereich führen. Bei konsequenter Handhabung in der EU könnten so in 27 Mitgliedsstaaten die jeweiligen Gattungsbezeichnungen für die frühere Monopoltätigkeit zu im Verkehr durchgesetzten Marken werden. Damit wäre die EU wieder in 27 Einzelmärkte geteilt. Sollte eine Marktöffnung angestrebt worden sein, würde das Markenrecht hier quasi entgegensteuern.298 Wettbewerblich besonders misslich wird dies, wenn Mark295

Vgl. Risthaus, WRP 2006, 1299, 1306. Vgl. Berlit, Markenrecht 2010, Rn. 30a. 297 Vgl. Risthaus, WRP 2006, 1299, 1306. 298 Vgl. Kunz-Hallstein, GRUR Int 2004, 751, 755. Noch deutlicher als beim Begriff „Post“ zeigen sich die internationalen Komplikationen bei der Farbmarke Gelb, vgl. Prüfer, GRUR 2008, 103, 104. 296

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teintritte von etablierten Betreibern aus anderen deutschsprachigen Ländern versucht würden. Gerade von den starken Marktteilnehmern aus anderen Ländern gehen die wichtigsten Wettbewerbsimpulse nach Marktöffnungen in komplexen Märkten aus. Diese internationalen Implikationen wurden, das kann hier vorweggenommen werden, in den deutschen markenrechtlichen Streitigkeiten um den Begriff „Post“ bislang nicht thematisiert. Das ist insofern verwunderlich, als der EuGH schon 2004 ein Vorabentscheidungsverfahren führte, in dem es um den Begriff „Postkantoor“ (niederländisch für Postamt) als Marke ging.299 Dieses Verfahren, in dem insbesondere beschreibende Angaben geprüft wurden, fand keinen Niederschlag in der deutschen Rechtsprechung. Der EuGH hatte hier eine eher kritische Position zur Markeneintragung von Begriffen wie „Postkantoor“ eingenommen. Das Schweizer Bundesgericht hatte – wie die deutschen Gerichte – über die Schutzfähigkeit des Begriffs „Post“ zu entscheiden.300 Das Bundesgericht bejahte (anders als der BGH) ein absolutes Freihaltebedürfnis für ZustellDienstleistungen und verneinte daher die Schutzfähigkeit des Begriffs. Wettbewerber der Schweizerischen Post seien auf die Nutzung des Begriffs angewiesen. Die Inkonsistenz mit der später hier noch darzustellenden deutschen Rechtsprechung ist augenfällig: Bei grenzüberschreitendem Tätigwerden würden die Schweizerische und die Deutsche Post im jeweiligen Nachbarland unterschiedliche Schutzbedingungen vorfinden. b) Beschreibende Angaben Die nächste Herausforderung für Zivilgerichte in den markenrechtlichen Streitigkeiten liegt in der Prüfung von § 23 Nr. 2 MarkenG. Wenn der DPAG ein Markenrecht zugesprochen wird und die DPAG als Inhaberin also grundsätzlich gegen Unternehmen vorgehen könnte, welche ähnliche Begriffe markenmäßig301 benutzen, so wären die Schrankenbestimmungen des Markenrechts zu achten. § 23 Nr. 2 MarkenG setzt der Ausübung des Unterlassungsanspruchs eine Grenze mit dem Hinweis auf beschreibende Begriffe. „Post“ könnte dem Wortsinn nach ein Begriff sein, der mit der Marke identisch ist, aber zugleich eine Bezeichnung für die Art der Dienstleistung ist, die erbracht wird. Eine Grenze wird dieser Schranke wiederum durch die Sittenwidrigkeit der Begriffsbenutzung gezogen. Die Schranke des § 23 Nr. 2 MarkenG wird 299 EuGH, 12.2.2004, Rs. C-363/99, Slg. 2004, I-1619 = GRUR 2004, 674 – Postkantoor. Vgl. auch den Fall EuGH, 12.4.2011, Rs. C-235/09, noch nicht in der Slg. veröffentlicht, GRUR 2011, 518 – DHL/Chronopost, dazu Sosnitza, GRUR 2011, 465 ff.; Kur, CMLR, 49 (2012) 753 ff. In diesem Fall wurde der Grundsatz der Einheitlichkeit der Gemeinschaftsmarke (Art. 1 Abs. 2 GMV) anhand eines Post-Falles thematisiert. 300 SchweizBGer, 1.12.2008, Akten-Nr. 4A_370/2008, sic! 2009, 167 m. krit. Anm. Ritscher. 301 Vgl. Fezer, Markenrecht, 2009, § 23 Rn. 17; Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2010, § 23 Rn. 56.

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auch von Vertretern der DPAG anerkannt und von diesen als der eigentliche Kampfplatz der markenrechtlichen Auseinandersetzung identifiziert.302 Das Gefüge, wie es sich in den hier diskutierten Fällen als Pfad darstellt, repräsentiert das Bedürfnis des Gesetzgebers nach stetigem Interessenausgleich zwischen den Marktteilnehmern im Markenrecht: Grundsätzlich sind für Marken keine besonderen Rechte vorgesehen. Markenrechte können allerdings durch Eintragung in ein Register oder durch Erlangung von Verkehrsgeltung oder durch notorische Bekanntheit erworben werden (§ 4 MarkenG). Keinen Markenschutz können beschreibende Angaben erhalten, die für den Wettbewerb freizuhalten sind (§ 8 Abs. 1 Nr. 1–3). Markenschutz kann dennoch entstehen, wenn sich die Marke im Verkehr als Herkunftsnachweis durchsetzt (§ 8 Abs. 3). Dann können die Markeninhaber ihr Recht gegen Dritte ausüben, allerdings nicht gegen die Nutzung von beschreibenden Angaben (§ 23 Nr. 2). Etwas anderes gilt nur, wenn der die Angabe nutzende Dritte sittenwidrig handelt (§ 23 a.E.). Diese Auswahlmöglichkeiten, typische Pfaderöffnung eines auf Interessenausgleich im Einzelfall bedachten Gesetzgebers, geben den Gerichten große Spielräume. Der Gesetzgeber, der eine eindeutige Festlegung scheut, nutzt hier das Prinzip der Regulierungsbegrenzung durch Einzelfallentscheidung. Der Ansatz, das Markenrecht als ein für eine Interessenabwägung offenes Rechtsgebiet zu verstehen,303 gewinnt an Plausibilität, wenn man sich die Möglichkeiten der Rechtsprechung bei der Auslegung solcher Begriffe vergegenwärtigt. Das systematische Vorgehen nach Regel-Ausnahme-Prinzip, das zu einer engen Auslegung der jeweiligen Ausnahmevorschrift führen müsste, ist hier eher unpassend, greift doch das gesamte markenrechtliche System derart ineinander.304 Auch im Rahmen des § 23 stellt sich die Frage, welche Wertungen einzubeziehen und welche Interessen abzuwägen sind. Schon bei der Festlegung, was eine beschreibende Angabe ist, gibt es einen Auslegungsspielraum. Erst recht ergibt sich für die Rechtsprechung ein Auslegungsspielraum für die Frage der Sittenwidrigkeit, die eine „Gesamtwürdigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls“ verlangt.305 Diese von EuGH306 und BGH307 ausgesprochene Formel verschiebt den Entscheidungsschwerpunkt auf die Tatbestandsebene der

302

Vgl. Jonas/Hamacher, MarkenR 2004, 443 f. Vgl. Prüfer-Kruse, Interessenschwerpunkte im Markenrecht, 2010, S. 46; Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2010, § 23 Rn. 4. 304 Vgl. Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2010, § 23 Rn. 1. 305 Fezer, Markenrecht, 2009, § 23 Rn. 24, 26; Kaiser in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 2009, § 23 MarkenG Rn. 8; Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2010, § 23 Rn. 15, 87 jeweils m.w.N. 306 EuGH, 7.1.2004, Rs. C-100/02, Slg. 2004, I-691 = GRUR 2004, 234, 235 – Gerolsteiner Brunnen; EuGH, 16.11.2004, Rs. C-245/02, Slg. 2004, I-10989 = GRUR 2005, 153, 157 – Budvar. 307 BGH, 2.1.2005, Az. 1 ZR 34/02, GRUR 2005, 423, 425 – Staubsaugerfiltertüten. 303

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Instanzgerichte. Das ist, wie gesehen, eine beliebte Technik der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Sittenwidrig handelt – wie es in Art. 6 Abs. 1 a.E. MarkenRL heißt – wessen Verhalten nicht „den anständigen Gepflogenheiten in Gewerbe oder Handel entspricht“. Hier muss ein Gericht offen legen, welche Interessen es überhaupt berücksichtigt und welchen Interessen sie den Vorzug gibt. Zu differenzieren sind Interessen des Markeninhabers, des Wettbewerbers bzw. Verletzers, der Verbraucher und der Allgemeinheit.308 Die MarkenRL 2008/95/EG lässt, anders als sonst in der europäischen Gesetzgebung nicht unüblich, kaum erkennen, welche Interessen für schutzwürdig gehalten werden. In der europäischen Judikatur werden aber öffentliche Interessen durchaus anerkannt, insbesondere bei der Thematik beschreibender Angaben,309 allerdings ist eine konsequente Beachtung aller berührten Interessen in der Rechtsprechung noch Desiderat.310 Zum Teil wird davon ausgegangen, primär seien die Individualinteressen der um die Marke Streitenden zu berücksichtigen.311 Darüber hinaus zeigt das Markenrecht aber auch eine Offenheit für die im Leitbild des Privatrechts dargestellten systemrelevanten Interessen. Gerade diese Offenheit und Stellung im System macht die Anwendung von § 23 zu einer dogmatischen Herausforderung. Noch weitergehend eine allgemeine und umfassende Interessenabwägung zu fordern, die sämtliche Interessen, ohne Rücksicht auf deren Systemverankerung im Privatrecht, zum Gegenstand hätte, ginge jedoch auch in § 23 MarkenG wohl zu weit.312 Das Bedürfnis, der Verwendung der beschreibenden Angabe durch einen Einzelnen Grenzen zu setzen, kann in Grad und Intensität von der Branche und den Marktverhältnissen abhängen.313 Hier hat § 23 Nr. 2 durchaus die Funktion, das Freihaltebedürfnis, das bei den Eintragungshindernissen bereits ausgedrückt wird, abzusichern.314 Der Schutz einer beschreibenden Angabe vor dem Zugriff eines einzelnen Unternehmens wäre demnach umso wichtiger, wenn dieses Unternehmen marktbeherrschend ist und wenige Ausweichbegriffe zur Verfügung stehen.315 Das Interesse der Newcomer am Marktzutritt, also eine wettbewerbsfreundliche Interpretation, könnte in § 23 von den Gerichten sowohl bei der Feststellung der beschreibenden Angabe als auch im 308

Vgl. Prüfer-Kruse, Interessenschwerpunkte im Markenrecht, 2010, S. 42 ff. Vgl. EuGH, 4.5.1999, Verb. Rs. C-108/97 u. 109/97, Slg. 1999, I-2779 = GRUR 1999, 723, 725 – Windsurfing Chiemsee. 310 Vgl. MPI, Trade Mark Study, 2011, Ziff. 1.51. 311 Vgl. Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2010, § 23 Rn. 4. 312 Vgl. ähnlich Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2010, § 23 Rn. 16; möglicherweise weitergehend Fezer, Markenrecht, 2009, § 23 Rn. 26. 313 Vgl. Rohnke/Thiering, GRUR 2011, 93. 314 Vgl. Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2010, § 23 Rn. 52. 315 Vgl. Kunz-Hallstein, GRUR Int 2004, 751, 754 f. 309

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Rahmen der Sittenwidrigkeit gewürdigt werden.316 Gerade hier zeigt sich die im europäischen Recht angelegte Verankerung des Markenrechts im Gedanken des unverfälschten Wettbewerbs und der Marktfreiheiten.317 Sittenwidrig könnte hingegen eine enge Anlehnung des Verletzers an das Markenumfeld der Markeninhaberin sein, wenn also der Eindruck entsteht, dass eine bewusste Anlehnung an deren Marke erfolgt und nicht bloß eine notwendige wegen des beschreibenden Charakters des Grund-Zeichens.318 Einschätzungen können sich in Abhängigkeit zu der Art der markenmäßigen Verwendung verschieben, sodass teilweise von einem „Abstandsgebot“ gesprochen wird.319 Bloße Verwechselungsgefahr genügt hierzu allerdings nicht.320 In der Literatur werden Rufausbeutung, Rufschädigung, gezielte Verwässerung und Trittbrettfahrerei oder gezielte Behinderung als wichtigste Aspekte der Sittenwidrigkeit benannt.321 c) Gleichheitsgrundsatz und Markeneintragung Eine weitere grundsätzliche Thematik, die in den Post-Fällen wettbewerblich von den Gerichten thematisiert werden kann, ist die Frage, inwiefern der Gleichheitssatz (Art. 3 GG) Relevanz im markenrechtlichen Eintragungsverfahren entfaltet. Der Gleichheitsgrundsatz, der – wie gesehen – auch im privatrechtlichen Leitbild starke Anerkennung findet und der ein Grundprinzip des Wettbewerbs ist,322 bestimmt, dass in der Wirtschaftsordnung den Unternehmen rechtlich gleiche Startchancen eingeräumt werden müssen. Kein Unternehmen darf vom Staat eine individuelle Bevorzugung erhalten. Was im Beihilferecht insbesondere für finanzielle Hilfen gesondert ausgeformt ist, entfaltet auch in der übrigen behördlichen Regulierung seine Wirkung. Die Eintragung von Marken, also die Zuweisung besonderer Handlungsmöglichkeiten auf Basis immaterieller Schutzgüter, stellt einen staatlichen Eingriff in die Wirtschaftsordnung dar, mit dem rechtliche Privilegierungen verbunden sind. Würde ein Markenrechtsregime willkürlich, also ohne Berücksichtigung sachlicher Kriterien, Markenrechte zuweisen, würde dies gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen und den Wettbewerb verzerren. Dieses Gebot der Nichtdiskriminierung soll nicht den Blick verstellen für den engen Freiheitsbezug von Ausschließlichkeitsrechten – eine Fehlvorstellung, die aus dem gelegentlichen 316

Kritisch: Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2010, § 23 Rn. 99. Vgl. Kaiser in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 2009, § 23 MarkenG Rn. 1; Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2010, § 23 Rn. 5 m.w.N. 318 Vgl. Rohnke/Thiering, GRUR 2011, 93. 319 Vgl. Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2010, § 23 Rn. 90 (kritisch). 320 Vgl. Fezer, Markenrecht, 2009, § 23 Rn. 17. 321 Vgl. Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2010, § 23 Rn. 88; Kaiser in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 2009, § 23 MarkenG Rn. 9; Fezer, Markenrecht, 2009, § 23 Rn. 28 ff. 322 Vgl. Drexl in: FS FIW, 2010, S. 175, 188. 317

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Ausspielen von Freiheit gegen Gleichordnung resultieren kann. Die subjektiven Rechte, die etwa durch das Markenrecht eröffnet werden, sind Freiheitsrechte, auf denen die privatrechtliche Ordnung basiert, da so die rechtlichen Grundlagen für freie unternehmerische Entscheidungen gelegt werden.323 Das schließt aber nicht aus, die Verteilung dieser Freiheitsrechte dem rechtsstaatlichen Prinzip des Willkürverbots zu unterwerfen. Ein Gleichbehandlungsproblem stellt sich für den Postsektor in zweierlei Hinsicht. Erstens ist bei einem Sektor, der neu für den Wettbewerb geöffnet wird, darauf zu achten, dass nicht der erste in den Markt eintretende Wettbewerber (regelmäßig der Incumbent) sämtliche naheliegenden Zeichen für sich monopolisiert. Dem ist mit den Normen, die das Freihaltebedürfnis zum Gegenstand haben, entgegenzuwirken. Dennoch ist denkbar, dass ein Unternehmen, das frühzeitig Marken registriert, einen großen Vorteil gegenüber später in den Markt eintretenden Unternehmen hat. Hier ist insbesondere an die Probleme von Sperrmarken und Verstopfung zu denken. Als Sperrmarken werden solche Markenanmeldungen bezeichnet, die „zweckwidrig als Mittel des Wettbewerbskampfes gegen einen Mitbewerber“324 eingesetzt werden. Da das Ausschlussrecht gerade der Kern des markenrechtlichen Schutzes ist, fällt eine Abgrenzung zwischen „zweckwidriger“ und zulässiger Markenverwendung allerdings sehr schwer. Indizien für das Vorliegen einer bloßen Sperrmarke können etwa sein, wenn das Zeichen nicht benutzt wird, aber eine bestimmte existierende Marke durch das Zeichen weiter abgesichert wird oder Zeichen blockiert werden, die für Mitbewerber von besonderem Interesse sind.325 Hinzu tritt das Problem der „Verstopfung“ (engl. „cluttering“), das in der markenrechtlichen Literatur ebenfalls anerkannt ist.326 Durch die großzügige Praxis der Markenregistrierung kann ein Sektor daran kranken, dass zu viele Marken registriert worden sind und neue Marken sich in der Darstellung immer weiter von den Produkten und Dienstleistungen entfernen müssen. Dies kann die Chancengleichheit minimieren. Bei der Entscheidung über Eintragungen können Zivilgerichte diese Thematik berücksichtigen. Zweitens müssen später in den Markt eintretende Unternehmen noch die Chance haben, zu gleichen Bedingungen wie der First Mover Zeichen registrieren zu können. Hat der First Mover (der Incumbent) ein wichtiges Grundzeichen (z.B. „Post“) für sich anmelden können, wird die Registrierung von Zeichen, die dieses Grund-Zeichen verwenden, erschwert, da der Verdacht der Verwechslungsgefahr nahe liegt. Zugleich besteht für später anmeldende Unternehmen die Gefahr, dass die zuvor beschriebenen „cluttering“-Verhältnisse 323

Vgl. Peukert, Güterzuordnung als Rechtsprinzip, 2008, S. 896 ff. BGH, 26.6.2008, Az. I ZR 190/05, GRUR 2008, 917 – EROS; BGH, 10.1.2008, Az. I ZR 38/05, GRUR 2008, 621 – AKADEMIKS. 325 Vgl. Füllkrug, WRP 2006, 664 ff. 326 Vgl. MPI, Trade Mark Study, 2011, Ziff. 1.32 ff. 324

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vom Markenamt erkannt werden und zu einer restriktiveren Registrierungspraxis führen. Auch dies würde eine Ungleichbehandlung darstellen, wenn später hinzutretende Marktteilnehmer höhere Registrierungshürden zu überwinden hätten.

3. Verfahrensrechtliche Aspekte Ein dritter Aspekt, der in der Judikatur eine dogmatische Herausforderung darstellt, entstammt dem Verfahrensrecht. a) Verfahrensvielfalt als Problem Grundsätzlich sind drei markenrechtliche Verfahrensarten zu differenzieren: Zum ersten gibt es das Verletzungsverfahren, gestützt auf einen Anspruch aus § 14 MarkenG, das gem. § 140 Abs. 1 MarkenG den Landgerichten zugewiesen ist, und das über den Instanzenzug zum Oberlandesgericht und zum Bundesgerichtshof geht. Zum zweiten gibt es das Eintragungsverfahren beim Deutschen Patent- und Markenamt (DPMA) (§§ 32, 56 MarkenG), gegen das die Erinnerung (§ 64) oder der Widerspruch (§ 42) möglich sind. Gegen die Entscheidungen des DPMA ist sodann Beschwerde zum Bundespatentgericht zu erheben (§ 66), darauf folgend ist Rechtsbeschwerde zum BGH unter bestimmten Voraussetzungen möglich (§ 83). Ergänzt wird das Instrumentarium durch die Eintragungsbewilligungsklage nach § 44 MarkenG. Zum dritten gibt es das Löschungsverfahren, das zunächst beim DPMA stattfindet, sodann vor das Landgericht geht (§ 55). Nicht auszuschließen wäre im Übrigen, auch wenn es in den Post-Fällen, soweit ersichtlich, keine Rolle spielte, dass in Lizenzstreitigkeiten inzident das Bestehen markenrechtlicher Ansprüche geprüft würde. Es lässt sich leicht vorstellen, dass bei einer umstrittenen markenrechtlichen Konstellation die verschiedenen Klagemöglichkeiten jeweils mehrzügig von den Parteien voll ausgeschöpft werden und zu einer Vielzahl von Entscheidungen führen können. Zudem hatte das DPMA in seiner „Richtlinie Markenanmeldungen“ von 2005 auf die Einheitlichkeit seiner Spruchpraxis als Verfahrensgrundsatz verzichtet, sodass also auch innerhalb des DPMA unterschiedliche Entscheidungen möglich wurden.327 Auch wenn die Streitgegenstände im Detail unterschiedlich ausfallen, lässt sich die Entstehung einer markenrechtlichen Wirtschaftsordnung für diese Branche nur bei einheitlicher Betrachtung aller entsprechend angestrengter Verfahren würdigen. Wer profitiert davon, wenn es in der Praxis zu divergie327 Vgl. Fezer, Markenrecht, 2009, § 37 Rn. 32 f. In der Revision dieser Richtlinie 2009 wurde in die Vorbemerkung ein Hinweis auf die einheitliche Durchführung aufgenommen, vgl. Richtlinie Markenanmeldungen 2009, S. 2, abrufbar unter http://www.dpma.de/docs/service/ formulare/marke/w7735.pdf.

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renden Entscheidungen der verschiedenen Spruchkörper kommt? Ein Teilaspekt ist die Dauer der Verfahren bis zu einer endgültigen Klärung. Sehen die Gerichte einstweilige Regelungen vor? Die Verfahrenskomplexität wird zu einer Herausforderung im Markenrechtsschutz, wenn das Markenrecht zum Austragungsort grundsätzlicher Konkurrentenstreitigkeiten wird. b) Abschreckungswirkung Ein brisantes Thema ist die Abschreckungswirkung, die das markenrechtliche Verfahren an sich entfalten kann und deren Rückwirkung auf die Verkehrsdurchsetzung. Denkbar ist, dass ein starker Markeninhaber durch Abmahnung und Klagedrohung bereits ein solches Drohpotential ausüben kann, dass kleinere Wettbewerber von einer Klärung im streitigen Verfahren Abstand nehmen. Auf diese Weise könnte eventuell auch ein rechtlich nicht existenter Anspruch faktisch durchgesetzt werden. Solche Praktiken haben Rückwirkungen auf die Verkehrsdurchsetzung einer Marke: wenn ein Unternehmen es schafft, mit möglicherweise unberechtigten Schutzrechtsverwarnungen Wettbewerber davon abzuhalten, eine bestimmte Marke zu benutzen, so erleichtert dies die Durchsetzung des Herkunftshinweises auf das Unternehmen, das sich der Marke berühmt. Eine Rolle spielt dabei der Streitwert, der in markenrechtlichen Verfahren angesetzt wird und nach dem sich Gerichts- und Anwaltskosten bemessen. Der Streitwert in markenrechtlichen Verfahren liegt üblicherweise zwischen 50 000 und 250 000 Euro.328 Das Durchfechten eines entsprechenden Verfahrens kann dementsprechend zu erheblichen Kosten führen, die selbst bei späterem Obsiegen zunächst vorzufinanzieren sind. Das stellt finanzschwächere Unternehmen, etwa Newcomer, vor Probleme: Manch ein Newcomer wird abwägen, dass das streitige Verfahren nicht lohnt. Die Streitigkeiten, von denen hier die Rede ist, könnten noch erheblich höhere Streitwerte gehabt haben. Eine in dieser Sache tätig gewordene Rechtsanwaltskanzlei berichtet: „Viele Wettbewerber haben sich gegen derartige Angriffe nicht gewehrt, weil sie die hohen Kosten wegen des von der DP AG häufig angesetzten Gegenstandswerts von € 500 000,00 nicht tragen wollten oder konnten.“329 Der Gesetzgeber hat das Problem hoher Streitwerte im markenrechtlichen Verfahren gesehen. Neben der Prozesskostenhilfe hat er daher in § 142 MarkenG eine Möglichkeit der Streitwertbegünstigung zugunsten von Parteien 328

Vgl. Hacker in: Ströbele/Hacker, Markengesetz, 2012, § 142 Rn. 2. Heuking Kühl Lüer Wojtek, „Newsletter IP, IT, Media“, Januar 2006, S. 11, abrufbar unter www.heuking.de/fileadmin/user_upload/Newsletter/Deutsch/IT-IT-Media/IP-IT-Media2006–01_D.pdf. Im Verfahren Blaue Post ist der Streitwert vom OLG Köln tatsächlich mit 500 000 Euro angegeben, vgl. OLG Köln, 28.1.2005, Az. 6 U 131/04, GRUR-RR 2005, 155, Rz. 38 – Blaue Post. 329

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vorgesehen, deren wirtschaftliche Lage ansonsten erheblich gefährdet wäre. Diese Voraussetzung, die bereits im Gesetz eng formuliert ist („erheblich gefährdet“) wird in der Praxis strikt ausgelegt.330 Ob sie eine echte Abhilfe gegenüber der Abschreckungswirkung markenrechtlicher Verfahren darstellen kann, ist daher zweifelhaft.

III. Rechtsprechungsentwicklung Die post-deregulativen Streitigkeiten um Markenrechte im Postsektor betreffen verschiedene Fall-Konstellationen, welche ein breites Spektrum markenrechtlicher Verfahrensarten abbilden.

1. Sachverhalte und Verfahren Die erste Konstellation umfasst Fälle, in denen die DPAG gegen Wettbewerber vorgegangen ist, um diesen die Verwendung von Zeichen zu untersagen, die mit dem Begriff „Post“ im Zusammenhang standen. Hier konnten für den Zeitraum 2000 bis 2009 25 Fälle ermittelt werden, die zum Teil über mehrere Instanzen gingen. In neun dieser Fälle hat der BGH eine Entscheidung gefällt. Diese bereits beachtliche Anzahl von Entscheidungen repräsentiert vermutlich nur einen Ausschnitt der Fälle, in denen die DPAG gegen Wettbewerber vorgegangen ist. Die gerichtliche Arena erreichten Fälle nicht, in denen Wettbewerber frühzeitig auf ihre bis dahin geführten Namen verzichteten (ganz zu schweigen von denen, die quasi präventiv andere Bezeichnungen wählten).331 Hinzu kommen Verfahren in den Jahren 2005 bis 2009, in denen Wettbewerber der DPAG sich um die Eintragung ihrer Marken beim DPMA bemühten und eine Eintragung bereits vom DPMA abgelehnt wurde, so etwa im Fall Schwabenpost, oder die DPAG als Beschwerdeführerin die Löschung von eingetragenen Marken beim DPMA beantragte, so in den Fällen Europost und dCP. Schließlich gab es, quasi mit vertauschten Rollen, Streit um die Eintragung der Wortmarke Post zugunsten der DPAG, der sich von 2005 bis 2010 erstreckte. Insgesamt liegen somit über 50 Entscheidungen verschiedener Instanzen, von DPMA, BPatG, LG, OLG, BGH und EuGH, in der Sache „Post als Marke“ vor.

330 Vgl. Hacker in: Ströbele/Hacker, Markengesetz, 2012, § 142 Rn. 9; Fezer, Markenrecht, 2009, § 142 Rn. 8, jeweils m.w.N. 331 Vgl. Heuking Kühl Lüer Wojtek, „Newsletter IP, IT, Media“, Januar 2006, S. 11, abrufbar unter www.heuking.de/fileadmin/user_upload/Newsletter/Deutsch/IT-IT-Media/IP-ITMedia-2006–01_D.pdf.

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2. Anträge und Entscheidungen In den Fällen der ersten Kategorie strengte die DPAG Unterlassungsklagen gegen Wettbewerber an, die Zeichen benutzten, in denen „Post“ ein Bestandteil war oder die eine Nähe zu Marken aufwiesen, die die DPAG für sich hatte anmelden lassen. Wie gesehen hat die DPAG zahlreiche Begrifflichkeiten auch im Umfeld des Begriffs „Post“ für sich eintragen lassen. Verfahren wegen Verwechselungsgefahr richteten sich etwa gegen „Regional Post“ oder „TNT Post“. Die DPAG als Klägerin beantragte in diesen Verfahren jeweils Unterlassung, Einwilligung zur Löschung, Auskunft und Feststellung der Schadensersatzpflicht. Diese Ansprüche waren gestützt auf § 14 Abs. 2 Nr. 2 MarkenG. Die Verletzungsgerichte hatten folgende Voraussetzungen zu prüfen: Die Voraussetzungen für einen Anspruch nach § 14 Abs. 2 Nr. 2 ergeben sich aus dem folgenden Prüfungsschema: – Die Klägerin ist Inhaberin einer Marke. – Die Beklagte benutzt ein identisches oder ähnliches Zeichen markenmäßig im geschäftlichen Verkehr. – Die Beklagte nutzt das Zeichen für identische oder ähnliche Dienstleistungen. – Es liegt Verwechslungsgefahr der Zeichen vor. Im Rahmen des ersten Prüfungspunkts (Inhaberschaft einer Marke) ist von den Gerichten zu prüfen, ob eine Marke zugunsten der Klägerin besteht. Hier ist der Verletzungsrichter an die Eintragung gebunden, soweit eine solche vorliegt. Für die DPAG war am 3.11.2003 als durchgesetztes Zeichen mit Priorität zum 22.2.2000 unter anderem für die Beförderung von Gütern, Briefen, Paketen und Päckchen die Wortmarke „POST“ (Az. 300 12 966.1) eingetragen worden. In Fällen, die vor diesem Datum entschieden worden waren, lag keine Eintragung vor. Die DPAG berief sich vor dem 3.11.2003 auf die Verkehrsgeltung der Wortmarke „POST“ nach § 4 Nr. 2 MarkenG sowie auf eingetragene Wortmarken wie „Deutsche Post“ und die Wort-Bild-Marke „Post“ mit Posthorn.332 Nach der Eintragung berief sich die DPAG auf die eingetragene Marke. Gegen die Eintragung dieser Marke „Post“ wurde ein Löschungsantrag gestellt, dem das DPMA am 14.12.2005 stattgab. Diese Entscheidung wurde vom BPatG am 10.4.2007 bestätigt. Der BGH hob die Löschung am 23.10.2008 auf und verwies zurück an das BPatG, das am 29.10.2010 die Löschung aufhob. Die Wortmarke „Post“ ist somit zugunsten der DPAG in Kraft für „Briefdienst-, Frachtdienst-, Expressdienst-, Paketdienst- und Kurierdienstleistungen; Beförderung und Zustellung von Gütern, Briefen, Paketen, Päckchen; Einsammeln, Weiterleiten und Ausliefern von Sendungen mit schriftlichen 332

Vgl. Felchner, MarkenR 2004, 262, 264.

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Mitteilungen und sonstigen Nachrichten, insbesondere Briefen, Drucksachen, Warensendungen, Wurfsendungen, adressierten und unadressierten Werbesendungen, Büchersendungen, Blindensendungen, Zeitungen, Zeitschriften, Druckschriften.“333 Verwechslungsgefahr liegt vor, wenn die angesprochenen Verkehrskreise, wobei hier auf den mündigen Verbraucher abzustellen ist, davon ausgehen, dass die Dienstleistungen dieselbe Herkunft haben, der Herkunftshinweis beider Marken also nicht differenziert wird. Kriterien für Verwechslungsgefahr sind die Kennzeichnungskraft der Klagemarke, die Dienstleistungsähnlichkeit und die Zeichenähnlichkeit. Die Kriterien stehen zueinander in Wechselwirkung. Wird ein solcher Anspruch aus § 14 Abs. 2 Nr. 2 bejaht, ist die Schranke des § 23 Nr. 2 zu prüfen, derzufolge die legitime Benutzung eines beschreibenden Zeichens nicht untersagt werden kann, es sei denn, dass ein Verstoß gegen die guten Sitten in der Benutzung liegt. Derartige Prüfungen wurden von den Gerichten in den meisten Fällen durchgeführt. a) Entscheidungen in den Verletzungsverfahren Die erste überlieferte Entscheidung in einem Verletzungsverfahren thematisierte die Verwechslungsgefahr der Marke „postMODERN“ mit Zeichen der DPAG im Jahr 2000. LG Leipzig334 und OLG Dresden335 verneinten einen Anspruch der DPAG. Die DPAG hatte sich auf die Verwechslung mit Marken wie „Deutsche Post“ und die Wort-Bild-Marke „Post“ mit Posthorn gestützt sowie auf die verkehrsdurchgesetzte Wortmarke „Post“. Das OLG führte aus, eine Verwechslungsgefahr von „postMODERN“ sei mangels Zeichenähnlichkeit mit „Deutsche Post“ und der Wort-Bild-Marke nicht gegeben. „Post“ wiederum habe keine Verkehrsdurchsetzung erlangt. Da es sich um eine beschreibende Angabe handele und zudem der Herkunftsnachweis aus der Monopolgeltung fortwirke, sei Einhelligkeit erforderlich. Das sei bei einer Zuordnung von „Post“ zum Unternehmen DPAG von 70,6 Prozent nicht gegeben. Dieser Rechtsstreit wurde in Köln erneut ausgetragen bzw. teilweise fortgesetzt (als Hauptsacheverfahren zu den sächsischen Entscheidungen). Das LG Köln bejahte Verwechslungsgefahr.336 Das OLG Köln hob dieses Urteil auf und orientierte sich an der Entscheidung des OLG Dresden.337 Es führte aus, erst die Kombination von „Deutsche“ und „Post“ verleihe der 333

Vgl. Internetrecherche zur Registernummer 30012966 beim DPMA, Stand: 21.3.2012. LG Leipzig, 23.3.2000, Az. 5 O 483/00 – postMODERN, siehe Felchner, MarkenR 2004, 262, 264. 335 OLG Leipzig, 25.7.2000, Az. 14 U 1054/00 – postMODERN, siehe Felchner, MarkenR 2004, 262, 264 f. 336 LG Köln, 30.11.2000, Az. 31 O 442/00 – postMODERN (nicht veröffentlicht). 337 OLG Köln, 26.10.2001, Az. 6 U 32/01 – postMODERN (nicht veröffentlicht). 334

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DPAG das Güteverständnis des Verkehrs, dass es sich um das etablierte Traditionsunternehmen handele. Das OLG verneinte auch einen Anspruch mit Blick auf ein mögliches Serienzeichen. Der Begriff „Post“ tauge als beschreibender Begriff nicht als Stammbestandteil eines Serienzeichens, zudem wiesen die übrigen Bestandteile der Serienzeichen der DPAG rund um den Stamm „Post“ gerade die entscheidende Prägekraft auf. 2001 entschied das LG Köln zugunsten der DPAG zur Verwechslungsgefahr von „Regional Post“ mit dem Zeichen „Deutsche Post“ der DPAG.338 „Deutsche“ stelle in der Marke der DPAG lediglich eine beschreibende Angabe dar, sodass „Post“ dominiere. Der Verkehr setze „Post“ auch mit der DPAG gleich. Der Begriff „Regional“ der Beklagten sei gleichfalls nur beschreibend, sodass der prägende Bestandteil „Post“ ausschlaggebend sei. Das OLG Köln hob diese Entscheidung 2001 auf.339 Es verneinte die Zeichenähnlichkeit und wandte sich insbesondere dagegen, die Bestandteile „Deutsche“ und „Post“ getrennt zu betrachten. Einen Herkunftshinweis vermochte das OLG in „Post“ allein nicht erkennen (trotz eines entsprechenden Gutachtens), da dieser angesichts der anlaufenden Liberalisierung des Postmarktes bestenfalls vorübergehend sei. Der BGH hob diese Entscheidung des OLG Köln aus formalen Gründen teilweise auf, da eine Begründung fehlte, warum sich das OLG nicht mit der Verwechslungsgefahr mit einem weiteren Zeichen der DPAG („Regiopost“, eingetragen allerdings für andere Dienstleistungen/Waren) auseinander gesetzt habe.340 In der Zurückverweisung weist der BGH ausdrücklich auf § 23 MarkenG und eine mögliche Sittenwidrigkeit der Verwendung von „Regional Post“ durch den Konkurrenten hin. In den Jahren 2003/2004 ergingen mehrere landgerichtliche Urteile, die allesamt zugunsten der DPAG entschieden wurden. Betroffen waren folgende Zeichen von Wettbewerbern: „CityPost Pforzheim“341, „PIN (die Post) AG“342, „Ulmer Post“343, „smartpost“344, „Optimail … alles andere ist nur Post“345, „Der Postbote“346, „Die Postkutscher“347, „CityPost Am338 LG Köln, 21.12.2000, Az. 31 O 473/00 – Regional Post, siehe Bericht in OLG Köln, 2.11.2001, Az. 6 U 42/01, MMR 2002, 700, Rz. 11 – Regional Post. 339 OLG Köln, 2.11.2001, Az. 6 U 42/01, MMR 2002, 700 – Regional Post. 340 BGH, 24.6.2004, Az. I ZR 308/01, GRUR 2004, 949 – Regiopost/Regional Post. Das nachfolgende Urteil des OLG konnte nicht ermittelt werden. 341 LG Köln, Az. 31 O 761/03, berichtet von Jonas/Hamacher, MarkenR 2004, 443. 342 LG Leipzig, Az. 05 O 7873/03, berichtet von Jonas/Hamacher, MarkenR 2004, 443. 343 LG Stuttgart, Az. 41 O 14/04, berichtet von Jonas/Hamacher, MarkenR 2004, 443. 344 LG Köln, Az. 31 O 37/04, berichtet von Jonas/Hamacher, MarkenR 2004, 443. 345 LG Bochum, Az. 12 O 25/04, berichtet von Jonas/Hamacher, MarkenR 2004, 443. 346 LG Erfurt, 14.4.2004, Az. 3 O 767/04, berichtet von Jonas/Hamacher, MarkenR 2004, 443, 444. 347 LG Erfurt, 21.10.2004, Az. 3 O 1453/04, berichtet von Jonas/Hamacher, MarkenR 2004, 443, 444.

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berg“348, „DBP-Deutsche Brief-Post“349. Das LG Düsseldorf begründet seine entsprechende Entscheidung zugunsten der DPAG gegen die Marke „Stadtpost“ mit der mittlerweile erfolgten Eintragung der Marke „Post“ zugunsten der DPAG.350 Die Marke „Post“ habe normale Kennzeichnungskraft. Die Bezeichnung „Stadt“ in der Marke „Stadtpost“ hingegen sei nicht prägend, es drohe zumindest mittelbare Verwechslungsgefahr. Zudem schreibt das LG: „Die bestehende Verwechslungsgefahr wird noch dadurch verstärkt, dass die Klägerin Inhaberin einer Vielzahl weiterer Marken ist, die den Bestandteil „Post“ enthalten.“351 Damit interpretierte das LG Düsseldorf die Markenstrategie der DPAG nicht etwa als wettbewerblich problematische Monopolisierung von Zeichen, sondern als schützenswerten Aufbau einer Markenfamilie. Nur in einem weiteren Fall obsiegte die Klägerin anschließend vor LG und OLG, nämlich gegen die Marke „Die Neue Post“. Das LG Magdeburg bejahte die Verwechslungsgefahr mit „Post“, da der Bestandteile „Neue“ nicht prägend sei.352 Das Publikum würde eher eine neue, innovative Tochtergesellschaft der DPAG hinter „Die Neue Post“ erwarten als ein eigenständiges Unternehmen. Gestützt wurde diese Auffassung auch auf die gelbe Farbe, die im Internetauftritt der Beklagten benutzt wurde. Das OLG Naumburg bestätigte die landgerichtliche Entscheidung.353 Das OLG erwähnte, dass die Eintragung von „Post“ zugunsten der DPAG möglicherweise fehlerhaft sei, sah sich aber an die Eintragung gebunden. Es prüfte, anders als das LG, zusätzlich § 23 mit dem Ergebnis, dass die Beklagte sittenwidrig gehandelt habe. Sie habe sich bewusst stark an die Marken der DPAG angelehnt. Der DPAG war damit ein Anspruch zuzusprechen. Diese Entscheidung wurde vom BGH aufgehoben (dazu sogleich).354 In der Zwischenzeit war die Erfolgsserie der DPAG in einigen anderen landgerichtlichen Verfahren gerissen. Das erste, später mehrfach zitierte Urteil traf das LG Köln in der Sache „Die Blaue Post“.355 Die Kammer verneinte einen Unterlassungsanspruch und gab zu erkennen, dass sie die Eintragung der Wortmarke „Post“ für zweifelhaft hält. Der Begriff „Post“ habe keine gesteigerte Kennzeichnungskraft. Der Bestandteil „Post“ könne wegen seiner allgemeinen Verwendung im Sprachgebrauch jedenfalls nicht prägend sein. Eine 348 LG Nürnberg-Fürth, 5.7.2004, Az. 3 O 6482/04, berichtet von Jonas/Hamacher, MarkenR 2004, 443, 444. 349 LG Nürnberg-Fürth, 29.9.2004, Az. 3 O 9539/04, berichtet von Jonas/Hamacher, MarkenR 2004, 443, 444. 350 LG Düsseldorf, 3.11.2004, Az. 2a O 126/04, GRUR-RR 2005, 49 – Stadtpost. 351 Ebd. 352 LG Magdeburg, 20.1.2005, Az. 7 O 2369/04, GRUR-RR 2005, 158 – Die Neue Post. 353 OLG Naumburg, 19.8.2005, Az. 10 U 9/05, GRUR-RR 2006, 256 – Die Neue Post. 354 BGH, 5.6.2008, Az. I ZR 169/05, NJW 2008, 2653 – Die Neue Post. 355 LG Köln, 1.6.2004, Az. 33 O 23/04, GRUR-RR 2004, 248 – Blaue Post.

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Verwechslungsgefahr bestehe bei dem Zusatz „Blaue“ nicht, zumal sich die DPAG stets als „Gelbe Post“ abgrenze. Dem durchschnittlich informierten Verbraucher sei die Liberalisierung des Postmarkts nicht entgangen, er sei daher gewohnt, auf unterscheidungskräftige Zusätze zu achten. Diese Entscheidung bestätigte das OLG Köln.356 Ausführlich begründet das OLG, dass die Marke „Post“ „allenfalls“ mittlere Kennzeichnungskraft habe und die DPAG auch nicht nachweisen könne, gerade diesen Begriff als Marke etabliert zu haben. Verwechslungsgefahr bestehe nicht, da „Die Blaue“ prägend für die Marke der Beklagten sei. In der Sache „TNT Post“ hat das LG Hamburg einen Anspruch der DPAG mangels Verwechslungsgefahr verneint.357 Das OLG Hamburg hat diese Entscheidung bestätigt.358 Das OLG geht für die Marke „Post“ wegen rein beschreibender Bedeutung nur von schwacher Kennzeichnungskraft aus. Der Begriff werde vom Publikum für die Dienstleistung der Briefbeförderung verwendet, ein Bedeutungswandel sei insoweit nicht eingetreten. Ausführlich befasst sich das OLG sodann mit wettbewerblichen Fragen und stellt fest, dass das Zeichen „Post“ jahrelang im Monopol verwandt wurde und noch zum Zeitpunkt der Entscheidung wegen der Exklusivlizenz monopolartige Strukturen vorlagen, ein Marktpionier (bzw. Monopolist) dürfe bei beschreibenden Angaben keine Hinweisfunktion zugeschrieben bekommen, der sog. „Monopoleinwand“ beanspruche damit Geltung auch für die Frage der Kennzeichenkraft. Die Anerkennung eines Zeichens als normativer Akt folge aus der darin verkörperten wettbewerblichen Leistung, bei einem Unternehmen, das sich auf ein staatliches Monopol gestützt habe, sei aber gerade keine wettbewerbliche Leistung erbracht worden. Der Senat geht auch auf das Bedürfnis der Newcomer an der Nutzung des Begriffs Post ein, das aufgrund der Liberalisierungsbemühungen anerkannt sei. Darüber hinaus sieht das OLG weder die Werbeaufwendungen zugunsten der Marke „Post“ glaubhaft gemacht, noch gesteigerte Verkehrsdurchsetzung in Umfragen, in denen bis zu 82,4 Prozent der Befragten „Post“ der DPAG zuordneten, da bei beschreibenden Angaben für die Steigerung der Kennzeichnungskraft Einhelligkeit zu fordern sei. Das OLG sieht aber nicht nur geringe Kennzeichnungskraft, sondern auch keine Zeichenähnlichkeit zwischen „Post“ und „TNT Post“. Auch vor dem Gesichtspunkt der Serienzeichen erkennt der Senat keine Verwechslungsgefahr. In der Abwägung zur Sittenwidrigkeit nach § 23, die der Senat verneint, stellt der Senat Interessen des Markeninhabers, der Allgemeinheit (Freihaltungsbedürfnisse) und des vermeintlichen Verletzers (Angewiesensein auf die Angabe) gegenüber. Auch hier berücksichtigt das OLG Hamburg den Liberalisie356

OLG Köln, 28.1.2005, Az. 6 U 131/04, GRUR-RR 2005, 155 – Blaue Post. LG Hamburg, 4.6.2004, Az. 312 O 469/04 – TNT Post, berichtet von Risthaus, MarkenR 2004, 392. 358 OLG Hamburg, 17.2.2005, Az. 3 U 117/04, GRUR-RR 2005, 149 – TNT Post. 357

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rungsimpuls und schreibt ausdrücklich: „Das Interesse der [DPAG] besteht im Kern lediglich darin, das auslaufende staatliche Monopol mittels des Kennzeichenrechts zu manifestieren.“359 Dieses Interesse sei markenrechtlich gerade nicht schutzwürdig. Ganz ähnlich argumentierte das OLG Hamburg im Fall „Die grüne Post“.360 Der Fall „CityPost“, entschieden vom LG Köln361 und OLG Köln362 jeweils gegen die DPAG, führte zu einem BGH-Urteil363, das der Senat mit der bereits erwähnten Revision in Sachen „Die Neue Post“364 entschied. Zwischenzeitlich hatte das Bundespatentgericht die die Löschung der Marke „Post“ bestätigt, wogegen die DPAG Rechtsbeschwerde eingelegt hatte. Der BGH hielt mangels Rechtskraft die Löschungsanordnung jedoch für unbeachtlich.365 Der Senat entschied damit eine strittige Rechtsfrage.366 Zur Begründung führte der BGH die aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels, die Kompetenzverteilung zwischen Eintragungs- und Verletzungsgericht sowie die ansonsten bestehende Gefahr widersprechender Entscheidungen an. Im Übrigen äußerte sich der BGH nur zu § 23 Nr. 2 MarkenG, den der Senat hier für einschlägig hielt. In der Interessenabwägung sieht der BGH keine Sittenwidrigkeit in der Nutzung von möglicherweise verwechslungsfähigen Zeichen und greift dazu auf das Monopolargument zurück. Zugunsten des neu entstehenden Wettbewerbs müsse das besondere Interesse neuer Wettbewerber an dem beschreibenden Begriff „POST“ respektiert werden. „Ohne eine entsprechende Beschränkung des Schutzumfangs der Klagemarke würden die erst später auf den Markt eintretenden privaten Wettbewerber von vornherein von der Benutzung des Wortes „POST“ ausgeschlossen und ausschließlich auf andere (Fantasie-)Bezeichnungen verwiesen.“367 Eine solche Benachteiligung der neuen Wettbewerber sei mit der Verankerung des Markenrechts im System der Grundfreiheiten und des unverfälschten Wettbewerbs nicht vereinbar. Allerdings, so fügt der BGH an, müssten sich die neuen Wettbewerber durch Zusätze von dem Markenwort abgrenzen und dürften sich nicht an weitere Kennzeichen

359

OLG Hamburg, 17.2.2005, Az. 3 U 117/04, GRUR-RR 2005, 149, 154 – TNT Post. OLG Hamburg, 23.9.2005, Az. 5 U 178/04, GRUR-RR 2006, 52 – Die grüne Post; vorgehend ebenfalls klageabweisend LG Hamburg, 19.10.2004, Az. 312 O 468/04 (Jurion.de) – Die grüne Post. 361 LG Köln, 9.9.2004, Az. 31 O 246/04 (Juris) – CityPost. 362 OLG Köln, 27.5.2005, Az. 6 U 196/04 (Juris) – CityPost. 363 BGH, 5.6.2008, Az. I ZR 108/05, MarkenR 2008, 363 – CityPost. 364 BGH, 5.6.2008, Az. I ZR 169/05, NJW 2008, 2653 – Die Neue Post. 365 Vgl. BGH, 5.6.2008, Az. I ZR 108/05, Rz. 16, MarkenR 2008, 363 – CityPost. 366 Kritisch zur Auffassung des BGH Rohnke, GRUR 2001, 696 ff.; Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2010, § 13 Rn. 16; zustimmend hingegen Ströbele in: Ströbele/Hacker, Markengesetz, 2012, § 14 Rn. 21, beide jeweils m.w.N. 367 BGH, 5.6.2008, Az. I ZR 108/05, Rz. 25, MarkenR 2008, 363 – CityPost. 360

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der DPAG anlehnen. Diesen Abstand sah der BGH sowohl für „Die Neue Post“ als auch für „City Post“ hinreichend gewährleistet. Obwohl die Beklagten zunehmend erfolgreicher waren, fielen im Jahr 2005 weitere landgerichtliche Urteile, in denen die DPAG mit entsprechenden Anträgen obsiegte, wobei die insoweit bekannt gewordenen Fälle durch Anerkenntnis- oder Versäumnisurteil entschieden wurden, was auf die mangelnde Verteidigungsbereitschaft der Beklagten hinweist. Betroffen waren die Zeichen „neuepost“368, „Regio Post Logistik“369 und „City Post Mosbach“370. 2006/2007 ergingen Entscheidungen zur Marke „dCP deutsche City Post“.371 Das landgerichtliche Urteil stützte sich vollumfänglich auf lauterkeitsrechtliche Ansprüche und verbeschied die markenrechtlichen Ansprüche nicht. Die DPAG erhielt Recht auf Basis von §§ 3, 5 Abs. 2 Nr. 3 UWG wegen Irreführung über den Vertrieb, da die Beklagte nur regional, nicht aber deutschlandweit tätig war. Die Marke „dCP deutsche City Post“ erwecke aber den Eindruck, die Beklagte sei deutschlandweit tätig oder zumindest entsprechend ausgestattet, während der Beklagte de facto nur in zwei Städten tätig wurde. Markenrechtlich verneinte der Senat die Verwechslungsgefahr zwischen „dCP deutsche City Post“ und Zeichen der DPAG. Der Senat stellte fest, dass der lauterkeitsrechtliche Vorwurf der Irreführung und der markenrechtliche Vorwurf der Verwechslungsgefahr zwei verschiedene Streitgegenstände begründeten, sodass das LG die markenrechtliche Frage nicht hätte offen lassen dürfen. Denn der lauterkeitsrechtliche Anspruch sei nicht allein auf eine Markenrechtsverletzung gestützt worden, sondern habe ein weiteres Element der Sittenwidrigkeit enthalten. So unterlag die DPAG zwar markenrechtlich, obsiegte aber lauterkeitsrechtlich gegen „dCP deutsche City Post“. Der BGH entschied am 2.4.2009 erneut in mehreren Verletzungsverfahren zur Verwechslungsgefahr mit den Marken „Ostseepost“372, „Europost“373, 368 LG Leipzig, 1.2.2005, zitiert in OLG Hamburg, 23.9.2005, Az. 5 U 178/04, GRUR-RR 2006, 52, Rz. 21 – Die grüne Post. 369 LG Stuttgart, 3.5.2005, zitiert in OLG Hamburg, 23.9.2005, Az. 5 U 178/04, GRUR-RR 2006, 52, Rz. 21 – Die grüne Post. 370 LG Düsseldorf, 11.5.2005, zitiert in OLG Hamburg, 23.9.2005, Az. 5 U 178/04, GRURRR 2006, 52, Rz. 21 – Die grüne Post. 371 OLG Nürnberg, 17.9.2007, Az. 3 U 196/07, GRUR-RR 2008, 55, dazugehöriger Prozesskostenhilfe-Beschluss siehe OLG Nürnberg, 17.7.2007, Az. 3 U 196/07, MDR 2007, 1337 – dCP deutsche City Post. 372 BGH, 2.4.2009, Az. I ZR 78/06, GRUR 2009, 672 – Ostseepost, vorgehend OLG Hamburg, 4.4.2006, Az. 3 U 10/05, WRP 2007, 446 sowie LG Hamburg, 16.12.2004, Az. 315 O 533/ 04 (nicht veröffentlicht). 373 BGH, 2.4.2009, Az. I ZR 79/06, BeckRS 2009, 12968 – Europost, vorgehend OLG Hamburg, 4.4.2006, Az. 3 U 5/05 sowie LG Hamburg, 26.10.2004, Az. 312 O 487/04 (nicht veröffentlicht).

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„Turbo P.O.S.T.“374, „Regionalpost Delmenhorst“375 und „RegioPost“376. Zugrunde lagen den BGH-Entscheidungen landgerichtliche und oberlandesgerichtliche Entscheidungen, in denen jeweils die Beklagte obsiegt hatte.377 Auch der BGH wies die Klagen der DPAG zurück. Die Urteile vom selben Tag unterscheiden sich in der rechtlichen Substanz – trotz teilweise divergierenden Formulierungen – nicht. Der BGH ging wiederum vom Bestand der Marke „Post“ aus. Der Senat hatte selbst ein halbes Jahr zuvor die Entscheidung des BPatG aufgehoben, mit der die Löschung bestätigt worden war. Der BGH verneinte jedoch Verwechslungsgefahr nach § 14 Abs. 2 Nr. 2 MarkenG. Es handele sich bei „Post“ um eine rein beschreibende Angabe (§ 8 Abs. 2 Nr. 2), die nur aufgrund von Verkehrsdurchsetzung (§ 8 Abs. 3) schutzfähig sei. Der BGH ging – anders als etwa die Vorinstanz im Fall Ostseepost – von normaler Kennzeichnungskraft der Marke „Post“ aus. Marken, die aufgrund von Verkehrsdurchsetzung schutzfähig würden, hätten gewöhnlich durchschnittliche Kennzeichnungskraft. Die Kennzeichnungskraft werde nicht durch die frühere Monopol-Tätigkeit der DPAG gemindert. Denn das Freihalteinteresse der Wettbewerber werde nicht über Annahmen zur Kennzeichnungskraft geschützt, sondern durch § 23 MarkenG. Allerdings sei die frühere Monopoltätigkeit bei der für die Kennzeichnungskraft relevanten Frage zu berücksichtigen, ob das Publikum lediglich den Gattungsbegriff „Post“ versteht, oder ob dezidiert ein Herkunftshinweis damit assoziiert wird. Mangels Feststellungen des Berufungsgerichts geht der BGH zugunsten der Klägerin davon aus, „dass der Umstand, dass das Publikum die in Rede stehenden mit der Bezeichnung „POST“ gekennzeichneten Dienstleistungen als von der Klägerin stammend erkennt, auf der Benutzung der Bezeichnung „POST“ als Marke durch die Klägerin und ihre Rechtsvorgängerin beruht.“378 Die Tätigkeit der Deutschen Bundespost, dem staatlichen Monopolunternehmen, wird der Klägerin damit in markenrechtlicher Hinsicht gut geschrieben. Für eine gesteigerte Kennzeichnungskraft bestehe allerdings auch kein Hinweis, so der BGH. Der Senat erörtert dazu die Werbeaufwendungen der DPAG und verschiedene Gutach-

374 BGH, 2.4.2009, Az. I ZR 110/06, MMR 2009, 553 – Turbo P.O.S.T., vorgehend OLG Düsseldorf, 30.5.2006, Az. 20 U 205/05, BeckRS 2009, 13143, sowie LG Düsseldorf, 21.09.2005, 2a O 104/05, GRUR-RR 2006, 187. 375 BGH, 2.4.2009, Az. I ZR 111/06 (Juris) – Regionalpost Delmenhorst, vorgehend OLG Düsseldorf, 30.5.2006, Az. I-20 U 225/05, BeckRS 2009, 13146, sowie LG Düsseldorf, 19.10.2005, Az. 2a O 47/05, BeckRS 2005, 12382. 376 BGH, 2.4.2009, I ZR 209/06, GRUR 2009, 678 – RegioPost, vorgehend OLG Zweibrücken, 2.11.2006, Az. 4 U 140/05, GRUR-RR 2007, 89, sowie LG Frankenthal, 13.9.2005, Az. 6 O 152/04 (nicht veröffentlicht). 377 Das OLG Zweibrücken hatte im Fall RegioPost allerdings die Verwendung des Begriffs „Deutschland“ im Zeichen „RegioPost Deutschland“ für unzulässig erklärt und der DPAG insoweit Recht gegeben. 378 BGH, 2.4.2009, Az. I ZR 78/06, Rz. 28, GRUR 2009, 672 – Ostseepost.

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ten zum Durchsetzungsgrad. Der Senat verlangt bei einem glatt beschreibenden Begriff eine nahezu „einhellige“ Durchsetzung.379 Zur Verwechslungsgefahr meint der BGH, die Beurteilung liege weitgehend in den Händen des Tatrichters und schließt sich der Würdigung des Fehlens einer Verwechslungsgefahr an. Auch als Serienzeichen seien „Ostseepost“ und „Europost“ nicht verwechselbar, da der Bestandteil „Post“ nicht als einzelner Bestandteil, quasi als Stammbestandteil, erkennbar werde. Der BGH wendet auch § 23 Nr. 2 MarkenG an, sieht „Post“ weiterhin als eine Angabe im Sinne dieser Norm und betont erneut das Erfordernis, dass sich Wettbewerber mit Zusätzen von „Post“ abgrenzen. Ausführlich setzt sich der Senat mit der möglichen Sittenwidrigkeit auseinander.380 Gegen die Revision hält der Senat fest, § 23 Nr. 2 sei nach der Systematik nicht eng auszulegen. Berücksichtigungsfähig seien auch die Interessen des Wirtschaftsverkehrs an einer Freihaltung der Begriffe. Der BGH hält auch die Auffassung aufrecht, dass frühere Monopolstellung und Exklusivlizenz der Klägerin Möglichkeiten verschafft habe, sich im Verkehr durchzusetzen, die ausgeglichen werden müssten.381 Einer solchen Beschränkung des Schutzumfangs des Zeichens der Klägerin stehe auch nicht deren Eigentumsrecht entgegen, da dieses erst durch das Markenrecht konkretisiert wird.382 Schließlich erörtert der BGH lauterkeitsrechtliche Ansprüche. Diese waren allerdings in den betroffenen Fällen erst in der Revisionsinstanz geltend gemacht worden. Da der BGH unterschiedliche Streitgegenstände erkennt, sieht er das Vorbringen zum Lauterkeitsrecht als nicht berücksichtigungsfähig an.383 b) Entscheidungen im Eintragungsverfahren „Post“ In den Verletzungsverfahren stützte sich die DPAG vor allem auf ihre Wortmarke „Post“, die mit Priorität zum 22.2.2000 am 3.11.2003 eingetragen worden war (Az. 300 12 966.1) (siehe schon oben). Gegen diese Eintragung hatten Wettbewerber einen Löschungsantrag gestellt. Es folgte, wie bereits dargestellt, ein Hin und Her: Das DPMA gab dem Löschungsantrag am 14.12.2005 statt.384 Diese Entscheidung wurde vom BPatG bestätigt.385 Nach Ansicht des BPatG handelt es sich bei der angegriffenen Marke, also „Post“, um eine beschreibende Angabe, die zur Bezeichnung der Art der Dienstleistungen dient, für die sie beansprucht und eingetragen wurde, sodass ein Eintragungshindernis gem. § 8 Abs. 2 Nr. 2 MarkenG vorliegt. Das BPatG geht dabei vom allge379

BGH, 2.4.2009, Az. I ZR 78/06, Rz. 31, GRUR 2009, 672 – Ostseepost. Vgl. BGH, 2.4.2009, Az. I ZR 209/06, Rz. 21 ff., GRUR 2009, 678 – RegioPost. 381 Ebd. Rz. 28. 382 Ebd. Rz. 32. 383 BGH, 2.4.2009, Az. I ZR 78/06, Rz. 57, GRUR 2009, 672 – Ostseepost. 384 Vgl. BPatG, 10.4.2007, Az. 26 W (pat) 24/06, GRUR 2007, 714, 715 – POST. 385 BPatG, 10.4.2007, Az. 26 W (pat) 24/06, GRUR 2007, 714 – POST. Zustimmend Prüfer, GRUR 2008, 103, 109. 380

C. Rechtezuordnung und Verfahren: Die Marke „Post“

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meinen Sprachgebrauch aus, in dem der Begriff Post nicht primär dem Unternehmen zugeordnet ist, sondern der zentrale Sachbegriff für die gesamte Branche ist. Durch Verkehrsdurchsetzung im Sinne von § 8 Abs. 3 MarkenG sei das Hindernis nicht überwunden worden. Zwar verweigert das BPatG der DPAG nicht grundsätzlich den Nachweis von Verkehrsdurchsetzung trotz der früheren Monopolstellung, aber auch nach den Urteilen des BGH in Lotto386 und des EuGH in Philips/Remington387, so das BPatG, seien bei ExMonopolisten besonders strenge Erfordernisse an die Überwindung des § 8 Abs. 2 Nr. 2 MarkenG zu stellen. Das Gericht bezweifelt, dass „Post“ überhaupt markenmäßig vor dem Eintragungszeitraum verwendet wurde. Jedenfalls genügten aber die Ergebnisse der Verkehrsbefragungen nicht. Bei glatt beschreibenden Angaben wie „Post“ müsse mit der Rechtsprechung des BGH388 von einer „nahezu einhelligen Verkehrsdurchsetzung“389 ausgegangen werden. Insbesondere sei bei Ex-Monopolisten kurz nach Auslaufen des Monopols aber zu beachten, ob es tatsächlich einen Bedeutungswandel gegeben habe, oder ob nicht das Publikum schlicht weiterhin die Dienstleistung mit dem ehemaligen Monopolisten in Verbindung bringt, ohne darin einen Herkunftsnachweis zu sehen. Zuordnungswerte von 71,1 Prozent bzw. 84,6 Prozent ließ der Senat des BPatG nicht genügen, zumal er erhebliche methodische Zweifel an den Befragungen äußerte. Der BGH hob diese Entscheidung des BPatG auf.390 In seiner Entscheidung bestätigt der BGH, dass es sich bei „Post“ um eine beschreibende Angabe handele, die bloß durch Verkehrsdurchsetzung eintragungsfähig werden könne. Auch der Ansatz des BPatG, bei einem ehemaligen Monopolisten genau zu prüfen, ob der Gattungsbegriff tatsächlich als Herkunftshinweise verstanden wird, wird vom BGH gebilligt. Der BGH meint aber, das BPatG habe die Anforderungen an die DPAG überspannt, wenn es eine Verkehrsdurchsetzung von 85 Prozent nicht genügen lasse.391 Der BGH schreibt: „Die Voraussetzungen für eine Verkehrsdurchsetzung eines glatt beschreibenden Begriffs dürfen nicht so hoch angesiedelt werden, dass eine Verkehrsdurchsetzung in der Praxis von vornherein ausgeschlossen wird.“392

Die Anforderungen müssten auch deshalb nicht so hoch sein, so der BGH, weil § 23 Nr. 2 MarkenG eine Schranke in der Nutzung des Begriffs „Post“ 386 387

BGH, 19.1.2006, Az. I ZB 11/04, WRP 2006, 1030 – Lotto. EuGH, 18.6.2002, Rs. C-299/99, Slg. 2002, I-5475 = GRUR 2002, 804 – Philips/Reming-

ton. 388

BGH, 28.8.2003, Az. I ZR 257/00, GRUR 2003, 1040 – Kinder; BGH, 19.1.2006, Az. I ZB 11/04, WRP 2006, 1030 – Lotto. 389 BPatG, 10.4.2007, Az. 26 W (pat) 24/06, GRUR 2007, 714, 717 – POST. 390 BGH, 23.10.2008, Az. I ZB 48/07, GRUR 2009, 669 – POST II. 391 Ebenso Prüfer, GRUR 2008, 103, 110. Wie das BPatG Kunz-Hallstein, GRUR Int 2004, 751, 753 mit dem zusätzlichen Hinweis auf die erforderliche markenmäßige Benutzung. 392 BGH, 23.10.2008, Az. I ZB 48/07, GRUR 2009, 669, 671 – POST II.

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bildeten. Er verweist hier auf seine Rechtsprechung aus den Verletzungsverfahren393, dass Wettbewerber den Begriff mit Zusätzen weiter nutzen können und sich gegen Abmahnungen erfolgreich zur Wehr setzen könnten. Die Zweifel an den demoskopischen Befragungen hätte das BPatG wegen des Amtsermittlungsgrundsatzes (§§ 59 Abs. 1, 73 Abs. 1 MarkenG) im Löschungsverfahren selbst beseitigen müssen, verbleibende Zweifel würden zu Lasten des Antragstellers im Löschungsverfahren gehen, nicht zu Lasten des Markeninhabers. Der BGH verwies die Entscheidung daher zurück. Das BPatG hat 2010 die Sache erneut entschieden und die Löschungsanordnung aufgehoben.394 Der Senat, wiederum der 26., führte eine erneute Beweisaufnahme durch und bezog sich insbesondere auf die Ausführungen des BGH zu den Beweispflichten des Antragstellers im Löschungsverfahren. Der Senat kommt nunmehr zu dem Schluss, dass sich die Marke „Post“ zum relevanten Zeitpunkt durchgesetzt habe. Die Antragstellerin, welche die Feststellungslast trägt, konnte keine entgegenstehenden Anhaltspunkte liefern, etwa für den Zeitpunkt des Löschungsantrags relevante Gutachten. Der Senat bejahte auch die markenmäßige Benutzung, etwa in Filialen oder auf Lieferwagen der DPAG einschließlich einer Verwendung im Gesamtzusammenhang „Deutsche Post“. Das BPatG schreibt hierzu: „wenn durch ein Verkehrsgutachten nachgewiesen worden ist, dass eine Marke – hier: „POST“ – als solche Durchsetzungswerte erlangt hat, die ganz erheblich über 50 Prozent liegen, so indiziert dies auch, dass diese Marke innerhalb einer mit weiteren Bestandteilen versehenen Gesamtbezeichnung maßgebliche Bedeutung hat und für den Verkehr als herkunftshinweisend erscheint.“395 Damit wird dem Begriff „Post“ also Prägekraft zugeschrieben, die in Entscheidungen anderer Gerichte gerade verneint worden war. Schließlich prüft der Senat, ob die DPAG bei der Anmeldung von Post bösgläubig im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 10 MarkenG gehandelt habe. Zwar hätten zum Zeitpunkt der Beantragung auch Konkurrenten der DPAG bereits Zeichen mit dem Bestandteil „Post“ genutzt, aber die DPAG habe bereits einen „erheblichen Besitzstand an dem angemeldeten Begriff“ gehabt. Zudem hätten die Gutachten ja die Verkehrsdurchsetzung belegt. Der Senat folgert: „Bei dieser Sachlage kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Antragsgegnerin ohne berechtigten Anlass ein Ausschließlichkeitsrecht verschaffen wollte, um es zweckfremd als Mittel des Wettbewerbskampfes einzusetzen“396. Im Übrigen sei es jedem Markenerwerb immanent, möglicherweise gegen Wettbewerber aus Markenrecht vorzugehen. 393

Konkret beruft sich der BGH auf BGH, 5.6.2008, Az. I ZR 108/05, MarkenR 2008, 363 – CityPost sowie BGH, 5.6.2008, Az. I ZR 169/05, NJW 2008, 2653 – Die Neue Post. 394 BPatG, 29.10.2010, Az. 26 W (pat) 24–27/06, 29/06, 115/06. 395 BPatG, 29.10.2010, Az. 26 W (pat) 24–27/06, 29/06, 115/06, BeckRS 2010, 26993 (S. 19 Urteilsumdruck). 396 BPatG, 29.10.2010, Az. 26 W (pat) 24–27/06, 29/06, 115/06, BeckRS 2010, 26993 (S. 21 Urteilsumdruck).

C. Rechtezuordnung und Verfahren: Die Marke „Post“

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Hinzuweisen ist schließlich auf einen Parallelfall, mit dem ebenfalls der 26. Senat des BPatG befasst war. 2001 war zugunsten der DPAG eine Bildmarke eingetragen worden, die das Klischee eines runden Post-Stempels (sog. „Tagesstempel“) zum Gegenstand hat (DPMA-Registernummer 30116929). Gegen diese Marke hatten Wettbewerber die Löschung beantragt, die vom DPMA am 2.4.2004 gewährt wurde. Dieser Beschluss wurde vom BPatG am 13.3.2008 aufgehoben, die Marke hatte damit Bestand.397 Die Wettbewerber hatten ihren Löschungsantrag auf Bösgläubigkeit der Anmelderin gestützt. Diese habe mit dem Stempel eine bloße „Sperrmarke“ eintragen wollen. In diesem Fall, entschieden zwischen der Entscheidung des Senats gegen die Eintragung von „Post“ und vor der entsprechenden Aufhebung durch den BGH, verneint das BPatG einen Löschungsanspruch. Für die Annahme von Bösgläubigkeit postuliert das BPatG zwei Möglichkeiten: erstens hätte die DPAG in den schutzwürdigen Bestand eines Wettbewerbers eingreifen müssen. Dies sei nicht der Fall, vielmehr habe das Vorgängerunternehmen der DPAG diesen Stempel seit 1962 in Gebrauch gehabt und also selbst einen schützenswerten Bestand erworben. Zweitens habe die DPAG die Stempel-Marke nicht als „zweckfremdes Mittel des Wettbewerbskampfes“ im Sinne einer reinen Sperrmarke angemeldet. Sie habe vielmehr redlich gehandelt. In diesem Fall wird ohne besonders beeindruckenden Begründungsaufwand die Monopolzeit der DPAG positiv angerechnet. War in anderen Fällen die frühere Monopolstellung ein Malus, erweist sie sich nun als Rechtfertigung für die Eintragung. Entgegenstehende Überlegungen, die dem Wettbewerbsgedanken verpflichtet sind (Stichwort: Sperrmarke) werden knapp abgehandelt. Gegen den Beschluss des BPatG hatte der Wettbewerber TNT Post noch einmal (zulassungsfreie, vgl. § 321a ZPO) Beschwerde wegen Verletzung rechtlichen Gehörs zum BGH erhoben.398 Diese Gehörsrüge wurde vom BGH zurückgewiesen.399 Der BGH verneinte eine Verletzung rechtlichen Gehörs und ersparte durch eigenes Urteil in der Sache den Beteiligten eine weitere Verhandlung. Die von der Beschwerdeführerin gerügten Punkte seien entweder als Einwände der Beschwerdeführerin bereits vom BPatG gewürdigt worden (so die Kritik an einer Fragestellung im demoskopischen Gutachten und die Kritik an der Verwendung eines Gutachtens), oder vom BGH bereits in der Vorentscheidung so thematisiert worden, dass die Verfahrensbeteiligten im Nachfolgeprozess dazu hätten vortragen müssen, ohne dass es eines weiteren richterlichen Hinweises bedurfte (so zur markenmäßigen Benutzung im Rahmen der Verkehrsdurchsetzung). 397 BPatG, 13.3.2008, Az. 26 W (pat) 153/04, BeckRS 2008, 08222 – Tagesstempel. Kritisch zu dieser Eintragung Monopolkommission, Post 2005, 2006, Ziff. 71. 398 Vgl. die Meldung „Markenrecht: BGH bestätigt ‚Post‘-Marke“, Juve, 23.3.2012, abrufbar unter http://www.juve.de/nachrichten/verfahren/2012/03/markenrecht-bgh-bestatigt-postmarke. 399 BGH, 19.10.2011, Az. I ZB 91/10, Lexetius.com/2011,7153.

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c) Entscheidungen in anderen Eintragungsverfahren Eine letzte Fallkonstellation, die hier nur kursorisch gestreift werden soll, betrifft Eintragungen von Marken zugunsten von Wettbewerbern der DPAG und die Verfahren, welche die DPAG gegen die Eintragung anstrengte. So entschied das BPatG, dass keine Verwechslungsgefahr für die Marke „dCP deutsche CityPost“ mit der für die DPAG eingetragenen Marken „Post“ oder „Deutsche Post“ besteht.400 Ebenso besteht nach Ansicht des BPatG keine Verwechslungsgefahr zwischen den Zeichen „EUROPOSTCOM“ und „Post“.401 In beiden Fällen hat die DPAG Widerspruch und Beschwerde eingelegt. In beiden Fällen prüfte das BPatG die Verwechselbarkeit einschließlich der Gefahr, dass die Marken gedanklich miteinander in Verbindung gebracht werden, nach § 9 Abs. 1 Nr. 2 MarkenG anhand des Gesamteindrucks. Den Marken der DPAG wurde insofern durchschnittliche Kennzeichnungskraft zugesprochen, eine Verwechslungsgefahr aber verneint. Dass in diesen Fällen die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen wurde, zeigte, dass aus Sicht des BPatG zwei alltägliche Fälle abgeurteilt wurden. Umso überraschender ist, dass der ein Jahr zuvor zu entscheidende Fall Schwabenpost für erhebliches Aufsehen bis hin zu einer EuGH-Entscheidung sorgte. In diesem Fall war zwar die DPAG nicht unmittelbar beteiligt, die Thematik berührt aber die Eintragung von Marken, die mit dem Begriff „Post“ in Verbindung stehen. Die ZVS Zeitungsvertrieb Stuttgart GmbH hatte einen Antrag auf Eintragung der Wortmarke „Schwabenpost“ gestellt. Diesen Antrag wies eine Markenstelle des DPMA u.a. für die Dienstleistungsgruppe „Zustellung/Auslieferung von Druckereierzeugnissen, Briefen und Paketen“ mit der Begründung zurück, „dem Verkehr erschließe sich unmittelbar der Bedeutungsgehalt von „Schwabenpost“ im Sinn von postspezifische Serviceleistungen im Raum Schwaben“402. Dagegen trug die Beschwerdeführerin vor, die Eintragungspraxis erscheine willkürlich, da zahlreiche andere Zeichen wie die Marken der DPAG, z.B. „World Post“, „Deutsche Post“ und „Post“, eingetragen worden seien. Der Branche privater Zustelldienste werde die neueste Eintragungspraxis in Sachen „Schwabenpost“ nicht gerecht. Die Beschwerdeführerin trug vor, es dränge sich der Eindruck auf, dass für die DPAG eher beschreibende Zeichen eingetragen würden als für Wettbewerber. Hierin liege eine willkürliche Ungleichbehandlung, also ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG.403 Der 29. Senat des BPatG machte sich diese Bedenken zu Eigen und vermochte nicht zu erkennen, in welchen Fällen geographische Zusätze zu dem 400

BPatG, 4.10.2007, Az. 26 W (pat) 175/05, GRUR 2008, 179 – dCP deutsche CityPost. BPatG, 4.10.2007, Az. 26 W (pat) 88/02, GRUR 2008, 174 – EUROPOSTCOM. 402 DPMA-Markenstelle, Beschluss vom 25.7.2005, zitiert nach BPatG, 18.10.2006, Az. 29 W (pat) 13/06, BeckRS 2007, 01705. 403 Wiedergegeben in BPatG, 18.10.2006, Az. 29 W (pat) 13/06, BeckRS 2007, 01705. 401

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Begriff „Post“ als Marke genügen würden und wann nicht. Die Bindung der Markenstellen an Gesetz und Recht binde diese auch an Rechtsstaats- und Gleichbehandlungsgebot, sodass eine einheitliche Anwendung des Gesetzes zu gewährleisten sei, etwa durch Verwaltungsvorschriften oder amtsinterne Abstimmung. Problematisch schien dem Senat die Ersetzung einer amtsinternen Richtlinie für die Prüfung von Markenanmeldungen, in der das Hinwirken auf eine einheitliche Prüfungspraxis anders als in der Vorgängerversion nicht mehr thematisiert wurde, sondern vielmehr jeder Einzelfall für sich entschieden werden sollte.404 Für den vorliegenden Zusammenhang ist relevant, dass der Senat die Praxis im Zusammenhang mit der Eintragung von Marken für neue Zustelldienste für problematisch, weil uneinheitlich hält. Hingewiesen wird auch auf die Verkehrsdurchsetzung der Marke „Deutsche Post“, woraus eine Gewöhnung des Verkehrs an Markenzusammensetzungen mit geographischen Bestandteilen und dem Begriff Post gefolgert werden könnte. Das Fazit des BPatG ist jedenfalls von erheblicher Brisanz: Eine einheitliche Spruchpraxis zu Marken im Zustellwesen gibt es nicht, ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG scheint denkbar. Das BPatG gab daher in dem hier zitierten Beschluss dem Präsidenten des DPMA Gelegenheit, dem Verfahren wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung beizutreten, § 68 Abs. 2 MarkenG.405 Der Präsident trat dem Verfahren bei und trug vor, der Begriff der Unterscheidungskraft lasse eine einheitliche Handhabungspraxis nicht zu. Bei 80 000 nationalen und internationalen Verfahren in 45 Waren- und Dienstleistungsklassen sei eine Selbstbindung des DPMA an Voreintragungen nicht zu leisten.406 Das BPatG legte dem EuGH daraufhin vier Fragen vor, welche die Wettbewerbsverzerrung durch uneinheitliche Handhabung von Markenanmeldungen zum Gegenstand hatten.407 Das Gericht wollte insbesondere vom EuGH wissen, ob Wettbewerber nach der MarkenRL gleichbehandelt werden müssen, ob das Gericht verpflichtet ist, wettbewerbsverzerrenden Ungleichbehandlungen nachzugehen und Vorentscheidungen der Behörde zu prüfen, ob eine eventuelle Diskriminierung in der Entscheidung des Gerichts zu berücksichtigen ist und ob es eine nationale Möglichkeit geben muss, ein Nichtigkeitsverfahren gegen früher zu Unrecht eingetragene Marken einzuleiten. Der EuGH hat auf die entscheidende Vorlagefrage mit dem Satz geantwortet: „Die für die Eintragung zuständige nationale Behörde muss zwar im Rahmen der Prüfung einer solchen Anmeldung, soweit sie in dieser Hinsicht über 404 Richtlinie für die Prüfung von Markenanmeldungen vom 13.6.2005 einerseits (BIPMZ 1995, 378), vom 27.10.1995 andererseits (BIPMZ 2005, 245). Kritisch auch Fezer, Markenrecht, 2009, § 37 Rn. 30 ff. 405 BPatG, 18.10.2006, Az. 29 W (pat) 13/06, BeckRS 2007, 01705. 406 Zitiert nach BPatG Vorlagebeschluss, 19.12.2007, Az. 29 W (pat) 13/06, GRUR 2008, 164, 165 – Schwabenpost II m. Anm. Eisenführ. 407 BPatG Vorlagebeschluss, 19.12.2007, Az. 29 W (pat) 13/06, GRUR 2008, 164 – Schwabenpost II m. Anm. Eisenführ.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

Informationen verfügt, die zu ähnlichen Anmeldungen ergangenen Entscheidungen berücksichtigen und besonderes Augenmerk auf die Frage richten, ob im gleichen Sinne zu entscheiden ist oder nicht, doch ist sie keinesfalls an diese Entscheidungen gebunden.“408 Dem EuGH zufolge muss das DPMA also vorangegangene Entscheidungen in Betracht ziehen, ist an diese aber nicht gebunden. Die wettbewerblichen Folgen seien kein Entscheidungskriterium für das DPMA. Der Spruch des EuGH wurde unterschiedlich rezipiert. Einige Beobachter409 und das DPMA410 verstanden den EuGH so, dass dieser kein Problem in der Uneinheitlichkeit der DPMA-Spruchpraxis sieht und die Einzelfallbeurteilung, unabhängig von Vorentscheidungen, zugelassen hat. Andere Beobachter411 und der 29. Senat des BPatG hingegen interpretierte den EuGH dahingehen, dass durchaus eine Pflicht für das DPMA besteht, frühere Entscheidungen zu berücksichtigen, auch wenn eine Bindung daraus nicht entstehe.412 Umgesetzt wurde dies vom BPatG in Form einer genauen Begründungspflicht für das DPMA, wenn es von bisheriger Praxis abweichen will. Den Anmelder treffe diesbezüglich allerdings auch eine Mitwirkungspflicht. Das BPatG hob die Entscheidung des DPMA gegen die Eintragung von „Schwabenpost“ auf, verwies aber zur Neuentscheidung zurück unter der Maßgabe mit genauerer Begründung und unter Berücksichtigung der Vorgaben von BPatG und EuGH zu entscheiden. Das DPMA wies die Anmeldung wegen fehlender Unterscheidungskraft zurück.413 Das DPMA meinte, die Zusammensetzung von zwei beschreibenden Begriffen (Schwaben und Post) führe in diesem Fall nicht über eine reine Sachinformation hinaus.414 Der beschreibende Begriffsinhalt stehe ganz im Vordergrund. Das Allgemeininteresse, vor ungerechtfertigten Rechtsmonopolen zu schützen, überwiege daher. Die Entscheidungen von BPatG und EuGH interpretiert die Markenstelle dahingehend, dass sie sich insbesondere mit den von der Anmelderin vorgetragenen Marken zu beschäftigen habe. Ein Rechtsanspruch auf Eintragung ergebe sich aber aus Vorentscheidungen ohnehin nicht. Die Markenstelle meinte, dass die Eintragung der Marken „Schwaben408

EuGH, 12.2.2009, Verb. Rs. C-39/08 und C-43/08, Slg. 2009, I-20. Vgl. z.B. die Zusammenfassung auf der Website der Kanzlei Prof. Schweitzer, Aktuelle Meldung vom 7.5.2009, http://www.kanzlei-prof-schweizer.de/bibliothek/neu/index.html?datum=2009–05–07. 410 DPMA, Jahresbericht 2009, 2010, S. 27 f. 411 Vgl. Töbelmann, GRUR 2009, 1007, 1009. 412 Vgl. BPatG, 1.4.2009, 29 W (pat) 13/06, GRUR 2009, 683, 684 – Schwabenpost. Andere BPatG-Senate rezipierten die EuGH-Entscheidung anders, vgl. Grabrucker, GRUR-Prax 2009, 25; Raab/Ahmann, GRUR-Prax 2011, 93 ff., jeweils m.w.N. Siehe auch BGH, 17.8.2010, Az. I ZB 59/09, GRUR 2011, 230 – SUPERgirl. 413 DPMA, 23.2.2010, Az. 305 31 326.6/38. 414 Ebenso EuGH, 12.2.2004, Rs. C-363/99, Slg. 2004, I-1619 = GRUR 2004, 674, 678 f., Rz. 98 ff. – Postkantoor. 409

C. Rechtezuordnung und Verfahren: Die Marke „Post“

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strom“ und „Schwabenwärme“ vom vorliegenden Fall zu differenzieren sei. Zudem seien „Schwaben Magazin“, „Vogtlandpost“, „Schwaben Bibel“ und „Südhessische Post“ nicht eingetragen worden. Der Fall Schwabenpost ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen.415 Die Wortmarke „Schwabenpost“ wurde wegen fehlender Unterscheidungskraft nicht eingetragen, die Anmeldungen für die Wortmarken „Schwabenpost Services“ und „Schwabenpost Logistik“ wurden zurückgenommen. Gegen eine Wort-Bild-Marke „Schwabenpost“ wurde Widerspruch erhoben, das Widerspruchsverfahren läuft noch. Gegen die Anmeldung von „Schwabenpost“ als Gemeinschaftsmarke wurde ebenfalls Widerspruch erhoben – von der DPAG. Das Unternehmen, das seit 2005 unter dem Namen Schwabenpost Briefdienstleistungen erbrachte, firmiert seit 1.3.2009 unter BWPost.416 d) Zusammenfassung Die Entscheidungen der Gerichte zwischen 2000 und 2010 lassen sich wie folgt zusammenfassen: Für die DPAG wurde vor allem das Zeichen „Post“ 2003 eingetragen. Diese Eintragung geriet zwischen 2004 und 2008 in Kritik. Mit dem BGH-Urteil von 2008 und dem Urteil des BPatG von 2010 wurde aber die Marke für die DPAG gesichert. Wettbewerber stießen bei der Registrierung von Marken hingegen auf Schwierigkeiten. In den Verletzungsverfahren, welche die DPAG gegen Wettbewerber anstrengte, unterlag die DPAG auf OLG- und BGH-Ebene im Ergebnis in fast allen Fällen. Der BGH entschied im Wesentlichen drei Mal zu der Verletzungs-Thematik, 2004 im Fall Regional Post, 2008 in den Parallelfällen Neue Post/City Post und 2009 zu den Parallel-Fällen RegioPost, Europost, Ostseepost und Regionalpost Delmenhorst. Auf Ebene der Eingangsinstanz hingegen gingen die Entscheide zwischen 2000 und 2006, soweit sie hier ermittelt werden konnten, zur Hälfte zugunsten der DPAG, zur Hälfte zugunsten der Wettbewerber aus.

3. Güterzuordnung durch Markenrecht Die markenrechtlichen Streitigkeiten im Postsektor stellen nach hier vertretener Auffassung ein Entdeckungsverfahren dar, das sich von 2000 bis 2010 verfolgen lässt, und dessen Ergebnisse die Erwartungen der Akteure im Wirtschaftsleben strukturieren und einen Teil der privatrechtlichen Wirtschaftsordnung bilden. Die erste Frage ist, welches Verständnis von den Grundideen des Markenrechts die Gerichte im Verlauf der Zeit offenbaren. Hier geht es um die Markenfunktionen und die Zuordnung von Immaterialgüterrechten zu einzelnen Marktteilnehmern. 415 416

DPMA, Internet-Rechercheauszug zu „Schwabenpost“, Stand: 22.3.2012. Vgl. http://www.bwpost.net/unternehmen/historie.php, abgerufen am 25.3.2012.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

In erster Linie sind es die Eintragungsverfahren und die dagegen gerichteten Widersprüche, die unmittelbar die Rechtezuordnung in der Marktgesellschaft betreffen. Hier hat das Bundespatentgericht seine Auffassung erheblich gewandelt. In seinen ersten Entscheidungen zu „Post“ (2007) und „Schwabenpost“ (2007) argumentiert das BPatG auf einer grundsätzlichen Ebene und hinterfragt die staatliche Zuteilung des Markenrechts systematisch. Im Fall „Post“ greift das BPatG die frühere Monopolsituation auf und hält eine Güterverteilung in der Gesellschaft für problematisch, die an einer Rechte-Zuweisung festhält, die nach Auffassung der Richter überkommen ist. Das BPatG erkennt also einen Ordnungswiderspruch zwischen Liberalisierung einerseits und Absicherung von Monopolrechten andererseits. Diesen Widerspruch löst das BPatG durch einen Rückgriff auf den primären privatrechtlichen Parameter auf, die Freiheit der Handelnden im Wettbewerb. Diese will es für einen Großteil der Marktteilnehmer sichern, indem es die Monopolisierung eines Begriffs verhindert. In der Argumentation des BPatG wird das Bemühen erkennbar, den Liberalisierungsimpetus des Gesetzgebers nicht schon im Wege der Güterzuordnung zu bremsen. Auch in der zweiten 2007-Entscheidung, dem Vorlagebeschluss zum EuGH in der Sache Schwabenpost, überprüft das BPatG die durch das Markenrecht ausgelöste Güterzuordnung grundsätzlich und erkennt zwei Widersprüche: zum einen stellt das Gericht widersprüchliche Entscheidungen des DPMA gegenüber („World Post“ versus „Schwabenpost“). Zum anderen sieht das Gericht in solchen Inkonsistenzen einen fundamentalen Ordnungswiderspruch zu dem zweiten großen Parameter des Privatrechts, der rechtlichen Gleichordnung. Mit beiden Entscheidungen verfolgt das BPatG einen unmittelbar wirtschaftsordnenden Anspruch, um das aus seiner Sicht bedrohte Verhältnis zwischen Entscheidungspraxis und Grundpfeilern der Ordnung zurechtzurücken. Überwiegend für die Erwartungsstrukturierung der Marktteilnehmer sind aus Sicht des BPatG gerade die privatrechtlichen Prinzipien, denen in der neuartigen post-deregulativen Konstellation der betroffenen Branche aufs Neue Geltung verschafft werden muss. Diese institutionelle Entscheidung wird jedoch durch die EuGH-Entscheidung zu Schwabenpost (2009) und die BGH-Entscheidung zu Post (2008) erheblich relativiert. Indem der EuGH eine reine Einzelfall-Entscheidung der Markenämter zulässt, ohne Bindung an Präzedenzien, wird das Gleichbehandlungsgebot bei der Güterzuordnung zurückgestellt. Der BGH relativiert das Freihaltebedürfnis auf Eintragungsebene und verweist stattdessen auf die Möglichkeit, im Verletzungsverfahren § 23 MarkenG geltend zu machen. In beiden Fällen verschieben die Gerichtshöfe die Verantwortung für die Wirtschaftsordnung von staatlichen Instanzen weg, hin zu den Marktteilnehmern, welche nun im Eintragungsverfahren eine stärkere Verantwortung haben (nämlich sogleich Widerspruch einzulegen) oder im Kampf untereinander (Verletzungsverfahren) die Güterzuordnung

C. Rechtezuordnung und Verfahren: Die Marke „Post“

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ausfechten müssen. Die Fälle zeigen freilich, dass eine solche grundsätzlich freiheitseröffnende Verschiebung der Ordnungselemente die starken Marktteilnehmer (hier die DPAG) bevorteilt: Die DPAG ist rein ressourcenmäßig eher in der Lage, ihre Rechte im Eintragungs- und Verletzungsverfahren durchzusetzen. Die Weiterentwicklung der EuGH-Entscheidung durch das BPatG engt den Spruch des EuGH erheblich ein und betont darin die gleichheitsbestärkenden Elemente etwas einseitig. Der 29. Senat löst die im Vorlagebeschluss erkannte Spannung nun durch eine erhöhte Begründungspflicht für das DPMA (also eine in erster Linie formale Lösung) und durch eine erhöhte Mitwirkungspflicht der Wirtschaftsteilnehmer. Der Senat nimmt also die Akteursverschiebung in der Wirtschaftsordnung auf, hält an dem als defizitär umgesetzt erkannten Prinzip fest und gleicht die entstehende Spannung durch erhöhte Anforderungen aus. Der Entscheid mahnt damit zur Verantwortungsübernahme sowohl des Zivilgerichts als auch der privaten Marktteilnehmer. Dies nutzt dem Anmelder im konkreten Fall freilich nicht, da dem DPMA genügend Spielraum verblieb, die Anmeldung zurückzuweisen. Das Urteil des 26. BPatG-Senats zu „Post“ als Folge des BGH-Entscheids könnte kaum unterschiedlicher ausfallen. Alle zuvor geäußerten Bedenken werden zurückgestellt, die von einem Ordnungsmodell ausgehende Sensibilität gegenüber den in Einklang zu bringenden Interessen wird nicht mehr erkennbar. Der Senat geht über die Anforderungen des BGH sogar hinaus, indem er dem Begriff „Post“ quasi prägende Wirkung attestiert. Der Tonfall des Urteils wirkt beinahe beißend in seiner konsequenten Umsetzung eines DPAG-freundlichen Kurses. Was sich an der unterschiedlichen Behandlung der höchstinstanzlichen Vorgaben an das BPatG zeigt, ist die Auswahlmöglichkeit. Selbst bei relativ eindeutig scheinenden Vorgaben einer Vorlageentscheidung oder eines Revisionsverfahrens hat das nachfolgende Gericht Selektionsmöglichkeiten. Im Schwabenpost-Fall lässt sich das BPatG von Parametern der privatrechtlichen Ordnung und seinem Anspruch einer wirtschaftsordnenden Kontrolle des Marken-Marktes leiten. Im Post-Fall hingegen wird diese Kontrollfunktion in Berufung auf den BGH aufgegeben. Das BPatG stützt sich mit der Formel „für den Senat insoweit bindend“ auf die Autorität eines anderen Akteurs der Wirtschaftsordnung. Eine ersichtliche Grenze findet die von den Akteuren primär zu übernehmende Güterzuordnung nunmehr vor allem in einem Merkmal, dessen erstmaliges Auftauchen in der BPatG-Entscheidung überraschend ist, nämlich der Grenze der Bösgläubigkeit (§ 8 Abs. 2 Nr. 10 MarkenG). Damit grenzt das BPatG die an die Akteure übertragene Gestaltungsmacht durch Verweis auf die Unlauterkeit wieder ein. Damit setzt das BPatG einen Fokus auf eine Interessenabwägung, die sich von der dem Markenrecht eigenen Interessenabwägung etwas löst und eher das geschäftliche Verhalten als die formale Güterzuordnung betrifft.

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Hier eröffnet sich eine bemerkenswerte Parallele zu den letzten BGH-Entscheidungen vom 2.4.2009 im Verletzungsverfahren. Auch in diesen wird Lauterkeitsrecht geprüft (was zuvor nur das OLG Nürnberg 2007 getan hatte), auch hier schlägt Lauterkeitsrecht nicht durch. Den Marktakteuren wird aber durch die explizite Thematisierung deutlich gemacht, dass es lohnt, zu einer Interessenabwägung nach UWG verstärkt vorzutragen. Aus evolutionärer Sicht wird damit der Keim der Fortentwicklung der Rechtsprechung gesät. Würde sich diese Tendenz bestätigen, würde sie versinnbildlichen, wie die Rechtsprechung die Wende zum Privatrecht rezipiert: weg von ordnenden Eingriffen durch hoheitliche Instanzen, die eine an Ordnungsprinzipien ausgerichtete Güterzuordnung vornehmen, hin zu einer verstärkten Regulierung durch private Marktteilnehmer, deren Verhalten im Gegenzug aber an Lauterkeitsmaßstäben gemessen wird. Dies bedeutet auch einen Wechsel in der Fallabwägung von den im Markenrecht positivierten Interessen, die der Gesetzgeber vorgibt, zu den von Richtern je im Einzelfall zu ermessenden Interessen der Handelnden. Die Tendenz der Gerichte, genuin markenrechtliche Voraussetzungen durch allgemeine Interessenabwägungen zu unterlaufen, wird in der Literatur kritisch gesehen und als problematischer Aspekt dieser Rechtsprechung rezipiert.417 Die Interessenabwägung ersetzt auch eine unmittelbar kartellrechtliche Prüfung der Fälle, die in der Literatur angeregt worden war.418 In den Entscheidungen werden kartellrechtliche Abhilfemaßnahmen an keiner Stelle diskutiert. Die Markenrechtsrichter bleiben also auch insoweit ihrer angestammten Materie gänzlich verpflichtet. Hinsichtlich des Schutzgrunds des Markenrechts, der normativen oder ökonomischen Begründung, lassen die Urteile keine Ausführungen erkennen. Insbesondere ökonomische Erwägungen werden von den Gerichten nicht angestellt. Von den Markenfunktionen wird nur die Herkunftsfunktion als den Markenschutz legitimierend in verschiedenen Urteilen erwähnt, insbesondere zur Frage der Verkehrsdurchsetzung, ob also ein Bedeutungswandel erreicht wurde. Die im Übrigen entwickelten Markenfunktionen klingen in den Urteilen nicht an.

4. Wettbewerbliche Durchdringung markenrechtlicher Tatbestandsmerkmale Der wettbewerbliche Bezug ist den Streitigkeiten um die Markenrechte in einer neu entstehenden Branche, post-deregulativ, geradezu eingeschrieben. 417 Vgl. Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2010, § 23 Rn. 99 („Unterminierung des Kennzeichenschutzes“, „Kennzeichenschutz zweiter Klasse nach bloßen Lauterkeitskriterien“). 418 Vgl. Jänich/Schrader, WRP 2006, 656, 662 f.

C. Rechtezuordnung und Verfahren: Die Marke „Post“

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Dies haben im Verlauf der Zeit die meisten Gerichte auch anerkannt. Sie hatten hierbei „new cases“ zu entscheiden. Gerade zu der Problematik des Markenschutzes zugunsten eines ehemaligen Monopolunternehmens lag keine gesicherte Rechtsprechung vor. Die von den Gerichten zum Teil zitierten Präzedenzfälle stammten aus den 1960er Jahren.419 Hier musste also teilweise rechtliches Neuland betreten werden. Das Urteil des OLG Dresden, das erste berichtete Urteil in dieser Sache, repräsentiert den traditionellen Erwartungshorizont der Akteure vor Eintragung der Marke „Post“: Verkehrsgeltung gilt als nicht nachgewiesen, da es sich um einen glatt beschreibenden Begriff handelt, sodass ein erheblicher Durchsetzungsgrad erforderlich sei, bei ehemaligen Monopolunternehmen sogar Einhelligkeit. Auch das OLG Köln geht in seiner Entscheidung 2001 stark vom Liberalisierungserfolg aus. Unmittelbar nach der Öffnung des Briefmarktes sind die Obergerichte also darauf bedacht, schon im Ansatz eine Monopolisierung von Zeichen rund um den Gattungsbegriff Post für die DPAG zu unterbinden. Der BGH (2004) hat in der Revisionsentscheidung diesen Punkt nicht aufgegriffen und somit in der ersten „Post“-Entscheidung keine Strukturierung zum Monopoleinwand vorgenommen, obwohl dies denkbar gewesen wäre. Alle späteren Entscheidungen stehen unter dem Eindruck der Eintragung des Begriffs „Post“ zugunsten der DPAG und deren Bestehen auch bei aufhebenden, aber noch nicht rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen. Mit der Geltung der Marke „Post“ verschiebt sich die Erörterung der Verkehrsdurchsetzung zunächst in die Frage der Kennzeichnungskraft im Rahmen der Verwechslungsgefahr. Die obergerichtlichen Urteile schwächen die Kennzeichnungskraft regelmäßig mit Hinweis auf die wettbewerbliche Durchdringung des Postmarkts, die unter Monopolumständen erlangte besondere Stellung der DPAG und das Entstehen neuer Dienste mit dem Begriff „Post“ im Firmenzeichen ab.420 Besonders deutlich wird das OLG Hamburg im Fall TNT Post. Es wird sehr viel häufiger von anderen Gerichten zitiert (13 mal) als das zeitgleich ergangene und nach diesem in der GRUR-RR veröffentlichte Urteil des OLG Köln zu „Blaue Post“ (6 mal), in dem das Gericht wesentlich weniger deutlich auf die Wettbewerbssituation Bezug nimmt. Das so besonders energische OLG Hamburg hält an dieser Linie auch im Fall Ostseepost fest. Das ist insofern bemerkenswert, als zwischenzeitlich der BGHBeschluss in Sachen Lotto erging, in dem der BGH die Frage des Monopoleinwands thematisierte. Ausführlich prüft das OLG Hamburg die Maßgeblichkeit des Monopoleinwands anhand der Entscheidungen Philips/Remington421, 419 BGH, 30.6.1959, Az. I ZR 31/58, GRUR 1960, 83 – Nährbier; BGH, 25.10.1967, Az. Ib ZR 62/65, GRUR 1968, 419 – feuerfest I. 420 Zustimmend Jänich/Schrader, WRP 2006, 656, 661. 421 EuGH, 18.6.2002, Rs. C-299/99, Slg. 2002, I-5475 = GRUR 2002, 804 – Philips/Remington.

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Klemmbausteine III422 und Lotto423. Dies ist insofern erstaunlich, als die wegweisende EuGH-Entscheidung dazu mit Philips/Remington bereits seit 2002 vorlag. Erst die „Übersetzung“ dieses Urteils in die deutschen Instanzen durch Lotto sowie ein öfter zitiertes Gutachten424 des Professors Karl-Heinz Fezer scheinen hier die Überprüfung veranlasst zu haben. Ebenso wie das OLG Hamburg hält das OLG Zweibrücken an dem Monopoleinwand in entsprechender Lesart des Lotto-Beschlusses fest. Die Urteile, in denen die DPAG sich durchsetzen kann, thematisieren den Monopoleinwand regelmäßig gar nicht. Das OLG Naumburg, einziges Obergericht, das in einem Verletzungsprozess die DPAG obsiegen lässt (Neue Post), erwähnt nur knapp die ökonomische Seite des Monopoleinwands, geht aber davon aus, dass gerade aus der früheren Monopolsituation eine Verwechslungsgefahr zwischen DPAG und Neuer Post resultieren könne, da die DPAG sich ja gleichfalls als eine Art „neue“ Post zu erfinden habe. Mit der BGH-Entscheidung 2008 rückt der Monopoleinwand im Rahmen der Verkehrsdurchsetzung und Kennzeichnungskraft ganz in den Hintergrund. Diese ökonomische Betrachtung, die der post-deregulativen Konstellation besonders ersichtlich Rechnung trägt, bleibt beim BGH außer Betracht, da dieser auf § 23 MarkenG abstellt statt den Schwerpunkt der Auseinandersetzung in § 8 oder § 14 zu suchen.425 Ob ein Fall seinen Schwerpunkt in der Verwechslungsgefahr findet (§ 14) oder ob das Kernproblem im Bereich der Schrankenbestimmungen (§ 23) gelöst wird, kann zumindest Unterschiede in der Darlegungs- und Beweislast bedeuten: Die Verwechslungsgefahr muss der Kläger nachweisen, der die Verletzung seines Zeichens rügt. Für das Eingreifen der Schranke hingegen ist der Beklagte beweisbelastet, für die Unterausnahme der Unlauterkeit in § 23 wiederum der Kläger. Indem der Schwerpunkt des Falles durch die BGH-Rechtsprechung zu § 23 wandert, verschieben sich also die diesbezüglichen Anforderungen. Erst 2009 wird das Thema Monopoleinwand beim BGH noch einmal aufgegriffen. Nun erst kristallisiert sich heraus, in welchem Umfang der Verkehr damit rechnen kann, dass die BGH-Rechtsprechung auf die Wettbewerbsproblematik im Markenrecht abstellt: Nicht berücksichtigungsfähig ist das Freihaltebedürfnis der Wettbewerber im Rahmen der Kennzeichnungskraft. Sehr wohl ist aber zu prüfen, ob der Herkunftshinweis ausschließlich auf der früheren Monopolstellung beruht. Damit verschiebt der BGH die Berücksichtigung des Monopoleinwands von einer abstrakten normativen Frage auf die 422

BGH, 2.12.2004, Az. I ZR 30/02, BGHZ 161, 204 = GRUR 2005, 349 – Klemmbausteine

III. 423

BGH, 19.1.2006, Az. I ZB 11/04, WRP 2006, 1030 – Lotto. Das Gutachten wurde in die jeweiligen Prozesse eingeführt und ist teilweise abgedruckt unter Fezer, WRP 2005, 1. 425 Kunz-Hallstein, GRUR Int 2004, 751, 754, meint ausdrücklich, die Fälle seien sachgerecht beim Merkmal der Verwechslungsgefahr zu lösen. 424

C. Rechtezuordnung und Verfahren: Die Marke „Post“

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Tatbestandsebene, in den Bereich der demoskopischen Gutachten, die für den jeweilig relevanten Entscheidungszeitpunkt einzuholen wären. Der BGH distanziert sich 2009 in Ansätzen von seiner Entscheidung zur Markeneintragung von „Post“ aus dem Vorjahr, da sehr fein differenziert wird zwischen Kennzeichnungskraft (nur gesteigert, wenn einhellige Bekanntheit) und Verkehrsdurchsetzung (80 Prozent Durchsetzungsgrad genügt). Der Monopoleinwand wird vom BGH aber seit 2008 im Rahmen der Sittenwidrigkeit ausführlich angesprochen und in die Abwägung eingestellt. Zu erkennen ist also eine „Wanderung“ des Elements des Monopoleinwands: Galt es ursprünglich als Einwand gegen eine Verkehrsdurchsetzung der Marke, verschob es sich sodann in den Bereich der Kennzeichnungskraft. Im Rahmen der Prüfung von Kennzeichnungskraft wurden wettbewerbliche Aspekte zunächst wegen der allgemeinen Bedürfnisse der Wettbewerber berücksichtigt, sodann reduziert auf einen Maßstab zur Auswertung von Verkehrsbefragungen. Parallel zur schwindenden Bedeutung im eigentlichen Verletzungstatbestand stieg die Bedeutung des Monopoleinwands im Rahmen des § 23 Nr. 2 MarkenG (Merkmal der Sittenwidrigkeit). Hier sah insbesondere der BGH die wettbewerblichen Fragen besser aufgehoben. Der BGH hatte im Urteil 2004 selbst erstmals § 23 ins Spiel gebracht, die Akzentuierung lag damals aber nicht auf einer möglichen Sittenwidrigkeit seitens der DPAG wegen der fortwirkenden Monopolstellung. Der BGH erwog vielmehr ein unlauteres Verhalten der Beklagten, so wie es das OLG Naumburg später bejaht hatte. Das LG Düsseldorf, das in Kenntnis der BGH-Entscheidung von 2004 einen Anspruch der DPAG bejaht hatte, hatte die Schranke des § 23 MarkenG gar nicht angesprochen. Nachdem die Obergerichte im Rahmen der Sittenwidrigkeitsprüfung eine uneingeschränkte Würdigung der wettbewerblichen Umstände bejaht hatten und – mit Ausnahme des OLG Naumburg – stets zugunsten der Beklagten entschieden, schränkte der BGH die durch den Monopoleinwand erzeugte Schutzumfangsbeschränkung ein. Der Senat legte Wert auf das Einhalten eines Abstands zu den Zeichen der DPAG (keine Anlehnung an Farbe oder Symbole). Diesen Aspekt entwickelte der BGH anhand der Entscheidung des OLG Naumburg. Das OLG hatte gerade wegen einer farblichen Anlehnung des Beklagten an die gelbe Farbgestaltung der DPAG die Sittenwidrigkeit bejaht. In späteren Entscheidungen wie Ostseepost, in denen es gar keinen Anlass zu derartigen Äußerungen gab, wurde dieses „Abstandsgebot“ formelhaft wiederholt – hier zeigt sich eindrücklich die Pfadabhängigkeit richterlicher Grundsätze: Ohne den Naumburger Fall wäre dieses Kriterium wohl nicht zum festen Bestandteil der Schrankenprüfung in § 23 MarkenG geworden. Es hätte daher auch die Erwartungen der Marktteilnehmer, etwa bei Überlegungen zu neuen Marken, nicht entsprechend strukturiert. In der Zusammenschau der Merkmale Verkehrsdurchsetzung, Kennzeichnungskraft und Schranke des § 23 MarkenG stellt sich heraus, dass die Bezug-

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nahme auf die Liberalisierung des Postsektors und wettbewerbliche Interessen kontinuierlich beachtet wurde. Auf Ebene der Landgerichte gab es zwar unterschiedliche Entscheidungen. Hier sind allerdings auch die Entscheidungsbedingungen zu würdigen. Die Landgerichte entscheiden, zumal in einstweiligen Verfahren, unter erheblichem Zeitdruck und auf schwächerer Aktenbasis als die OLG und der BGH. Auf Ebene der OLG und des BGH ist die Ordnung des markenrechtlichen Rahmens hingegen relativ stabil und ausgerichtet auf eine wettbewerbliche Durchdringung. Interessen der Newcomer wird weitgehend Rechnung getragen. Die herausragende Ausnahme ist das BGHUrteil zur Eintragungsfähigkeit der Marke „Post“. Das BPatG hatte die Forderung nach „einhelliger“ Verkehrsdurchsetzung auf die BGH-Rechtsprechung in Kinder I426 und Lotto427 ab, in denen sich der BGH wiederum auf den EuGH428 berufen hatte. Einhelligkeit hatte das BPatG bei nahezu 85 Prozent Verkehrsdurchsetzung verneint. Dass der BGH die entsprechende Anforderung für „überspannt“ hielt, überrascht, da „nahezu einhellig“ nach dem Sprachgebrauch eher im Bereich von über 90 Prozent anzusiedeln ist und der BGH sich ja gerade für die wettbewerblichen Argumente aufgeschlossen gezeigt hatte. Zudem setzte er sich mit der Entscheidung zugunsten der Eintragung von „Post“ in Opposition zu DPMA, BPatG und den OLG, die zu erkennen gegeben hatten, dass sie sich nur widerwillig an die Eintragung der Marke gebunden fühlten. Aus evolutionärer Perspektive ist die neue Auslegung von „einhellig“ eine Innovation. Der BGH lässt jedoch kaum erkennen, was ihn zu dieser Innovation leitete. Da der Impuls nicht von den Gerichten ausgeht, richtet sich der Blick auf die Literatur. Soweit ersichtlich hatte der vom BGH zitierte Roland Knaak erstmalig das Merkmal „einhellig“ 1995 in einem Aufsatz zwischen 70 Prozent und 80 Prozent verortet.429 Durchschlagend mag die ebenfalls vom BGH angeführte Kritik von Paul Ströbele gewesen sein, der in einem Aufsatz nach den Entscheidungen Kinder I und Lotto die „100 Prozent minus x“-Linie für nicht mehr mit der EuGH-Linie in Windsurfing Chiemsee vereinbar erklärte.430 Ströbele wies dem BGH zugleich den Ausweg, indem er vorschlug, das rechtspolitische Anliegen, unersetzliche Zeichen freizuhalten auf anderem Wege zu erreichen. Doch während er hier beim Eintragungsverfahren ansetzt (Unterscheidungseignung und markenmäßige Benutzung),431 wählt der BGH den Ausweg über das Verletzungsverfahren und die Schranke des § 23 MarkenG, der schon in anderem Zusammenhang

426

BGH, 28.8.2003, Az. I ZR 257/00, BGHZ 156, 112 = GRUR 2003, 1040 – Kinder I. BGH, 19.1.2006, Az. I ZB 11/04, WRP 2006, 1030 – Lotto. 428 EuGH, 4.5.1999, Verb. Rs. C-108/97 u. 109/97, Slg. 1999, I-2779 = GRUR 1999, 723 – Windsurfing Chiemsee. 429 Knaak, GRUR 1995, 103, 109. 430 Ströbele, GRUR 2008, 569, 572. 431 Vgl. Ströbele, GRUR 2008, 569, 573. 427

C. Rechtezuordnung und Verfahren: Die Marke „Post“

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einmal von Richtern als „Notbremse“432 bezeichnet worden war. Die Innovation scheint damit wesentlich von der Literatur gestützt zu sein. Inhaltlich wird sie getragen durch eine Anpassung an die EuGH-Rechtsprechung und eine systematische Akzentverschiebung von Konflikten aus dem Eintragungsverfahren hin zum Verletzungsverfahren. Dies bedeutet immer auch eine Schwächung des staatlichen Ordnungszugriffs (und eine Entlastung des DPMA) zugunsten einer stärker parteidominierten Ordnung (und einer Belastung der Zivilgerichte). Die Eintragungspraxis berührt auch die Frage des Gleichheitsgrundsatzes bei der Eröffnung wettbewerblicher Handlungsmöglichkeiten als weiteren Topos der wettbewerblichen Durchdringung des Markenrechts. Die Gerichte haben in den Verletzungsprozessen den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 GG nicht herangezogen, um den früheren Monopolisten in die Schranken zu weisen. Immer wieder wurde aber die Einordnung von Verletzungsmarken in eine Reihe von Serienzeichen der DPAG verneint, so schon vom OLG Köln 2001 in postModern und Regional Post. Die DPAG konnte sich daher nicht damit durchsetzen, quasi sämtliche Zeichen mit dem Begriff „Post“ in ein einheitliches Serienschema einzugliedern, bei dem Verwechslungsgefahr aus der schlichten Verwendung des Begriffs „Post“ resultiert. Dadurch wurde der Begriff „Post“ für Wettbewerber abgesichert und die Entstehung von Sperrmarken ansatzweise verhindert. Diese rechtliche Strukturierung des Markenportfolios der DPAG entspricht der Erwartung der übrigen Marktteilnehmer an ein im Privatrecht verankertes markenrechtliches Schutzsystem, das also gleiche Chancen an der Nutzung beschreibender Begriffe eröffnet und diese Chancen auch nicht durch die Hintertür des Serienzeichens aushöhlen lässt. Dass der BGH den Begriff „Post“ für eintragungsfähig hielt, konterkarierte diese Erwartungen freilich und leistete der Möglichkeit der Post Vorschub, eine Markenstrategie zu fahren, die teilweise als bewusste „Sperrmarken“-Taktik angesehen wird.433 Wie schwer sich die Gerichte mit dem Begriff der Sperrmarke tun, dokumentierte auch das BPatG in seiner Entscheidung Tagesstempel, die rechtspolitisch entgegen der bis dahin gefahrenen eigenen Linie des Senats in der Sache Post liegt. In Tagesstempel war der Löschungsantrag allerdings unmittelbar auf Bösgläubigkeit der Anmelderin und deren Sperrmarken-Strategie gestützt. Damit zielten die Steller des Löschungsantrags auf ein Kernproblem des Verhaltens der DPAG und des Markenrechts im Allgemeinen. Das LG Düsseldorf hatte in seiner Entscheidung 2004 die Markenstrategie der DPAG gerade belohnt, indem es aus der reichhaltigen Markenfamilie mit Begriffsbildungen zu „Post“ eine besonders rasche Verwechslungsmöglichkeit schloss. Das BPatG stand nun vor der Frage, geradezu die gegenteilige Interpretation vor432 433

Vgl. Albrecht, MarkenR 2003, 449. Vgl. Prüfer, GRUR 2008, 103, 104; Kunz-Hallstein, GRUR Int 2004, 751.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

zunehmen: Eine Entscheidung gegen die DPAG wegen sittenwidriger Anmeldung in einem nicht glasklaren Fall wäre potentiell für das System markenrechtlichen Schutzes von ganz anderer Tragweite gewesen, als eine Abwägung im letzten Prüfungspunkt eines Verletzungsprozesses. Wäre die Bösgläubigkeit des Anmelders nach § 8 Abs. 2 Nr. 10 MarkenG bejaht worden, hätte dies die Schaffung einer neuen Fallgruppe bedeutet.434 Die Sperrmarke, die nicht unmittelbar in den Besitzstand eines so behinderten Dritten eingreift, sondern die allgemein den Wettbewerb hindert, ist bislang nicht als Fall der Bösgläubigkeit anerkannt. Hätte das BPatG hier die Tore geöffnet, wäre womöglich die grundsätzliche Infragestellung zahlreicher Anmeldungen die Folge gewesen. Vor einer solch sprunghaften Evolution des Markenrechts scheute das BPatG offenkundig zurück. Es hätte auch die komplette Umwertung der Interpretation des LG Düsseldorfs bedeutet. Auch wenn das LG damit eine zumindest auf obergerichtlicher Ebene nicht geteilte Meinung vertrat, zeigt das Urteil doch eine immerhin rechtskräftig gewordene Lesart der DPAG-Markenstrategie, die das BPatG vollkommen hätte umwerfen müssen. Dass es dennoch gravierende Schwierigkeiten gibt, Begriffe zu besetzen, die noch nicht von der DPAG genutzt werden, hat der BGH 2008 anerkannt, indem er § 23 MarkenG als notwendig erachtete, damit nicht immer entferntere „Fantasie-Bezeichnungen“ gewählt werden müssen. Damit entwickelt der BGH für das in der Praxis erkannte Problem eine ansatzweise Lösung, die allerdings an einem denkbar späten Punkt ansetzt. § 23 Nr. 2 MarkenG ist eben eine „Notbremse“, nicht aber die eigentliche Lenkungsnorm. Ohne das Besetzen von Schlüsselbegriffen und das „cluttering“ rund um diesen Begriff wäre das Ziehen der Notbremse nicht erforderlich. DPMA und Gerichte kapitulieren hier vor den Auswüchsen eines anmelderfreundlichen Markenrechtsregimes. Das wird nirgends deutlicher als in der Sache Schwabenpost, in der die Ungleichbehandlung verschiedener Anmelder vom DPMA nicht einmal mehr geleugnet wird. Die Erklärung des Präsidenten des DPMA, bei einem Anmeldevolumen von 80 000 nationalen und internationalen Verfahren in 45 Markenklassen sei anderes nicht zu leisten,435 ist ein Eingeständnis, dass die Markenstellen quasi zu Registrierstellen, nicht aber Prüfstellen degeneriert sind. Das schwächt die Sicherungsmechanismen der Eintragungshindernisse aus dem MarkenG und bevorteilt den schnellen und besonders offensiven Markenanmelder. Hier hat der finanzstarke erste Marktteilnehmer, der Incumbent, einen natürlichen Vorteil. Das Unternehmen Schwabenpost ist ein signifikantes Opfer der Ungleichbehandlung geworden. Während das BPatG hier noch einen Ordnungsanspruch erhebt, beschränkt sich der EuGH auf eine zurückgezogene Rolle. Das schwächt die Erwartungen an das Eintragungsver434

Vgl. Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2010, § 8 Rn. 302 ff. Zit. nach dem Vorlagebeschluss des BPatG, vgl. BPatG, 19.12.2007, Az. 29 W (pat) 13/ 06, GRUR 2008, 164, 165. 435

C. Rechtezuordnung und Verfahren: Die Marke „Post“

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fahren. Die praktische Umsetzung belegt dies durch die schwerlich nachvollziehbaren Differenzierungen zwischen „Schwabenstrom“ (eintragungsfähig) und „Schwabenpost“ (nicht eintragungsfähig). Gesichert ist für die Akteure nur mehr, dass Newcomer höchstwahrscheinlich in einem Verletzungsprozess obsiegen. Weder der EuGH noch der BGH thematisieren die Problematik dieses Ausweichens auf den Schutz im Verletzungsverfahren, nämlich die Bevorzugung desjenigen, der sich eine teure Rechtsverfolgung leisten kann: Für die DPAG ist die Überprüfung von Verletzungen im Verletzungsverfahren keine besonders große Bürde, zumal sie als Klägerin nicht zu gewärtigen hat, dass ihr ein essentielles Handlungsrecht genommen wird. Newcomer hingegen, die potentiellen Beklagten, können nur hoffen, dass ihnen das teure und langwierige Durchfechten ihres Zeichens erspart bleibt. Das faktische Ungleichgewicht der Parteien wird in keinem der Prozesse thematisiert. Das überrascht insofern als die Monopolkommission in ihren Sondergutachten zum Postsektor schon 2003 und erneut mit drastischen Worten 2005 und 2007 auf den „Missbrauch des Markenrechts“ durch die DPAG hingewiesen hatte.436 Ohne Widerhall bleibt auch das von Hans Peter Kunz-Hallstein vorgebrachte verfassungsrechtliche Argument, Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG verlange ein Bundesgesetz zur Übertragung von Ausschließlichkeitsrechten, was nach dem eindeutigen Wortlaut auch Kennzeichenrechte der früheren Bundespost erfasse.437 Die Übernahme von Kennzeichen der Bundespost (etwa des Tagesstempels) oder die Zuordnung der Nutzung zur DPAG hätte nach KunzHallstein aus verfassungsrechtlichen Gründen gestoppt werden müssen. In der Tat sollte das Erfordernis nach einem Bundesgesetz wohl vor der leichtfertigen Perpetuierung der Monopolsituation schützen, indem die Übertragung von Ausschließlichkeitsrechten in die politische Diskussion gegeben wurde. Genauso ist es bezüglich der Exklusivlizenzen auch gekommen. Dass der Gedanke nicht aufgegriffen wurde, dies auch für andere Ausschließlichkeitsrechte zu verlangen, zeigt das Bestreben der Rechtsprechung innerhalb des hergebrachten markenrechtlichen Systems zu bleiben. Die Verfahren zeigen so eine durchaus konstante wettbewerbliche Durchdringung des Markenrechts, bei der die Gerichte jedoch ständig bemüht sind, wettbewerbliche Wertungen in einem geradezu schonenden evolutiven Prozess in die markenrechtliche Systematik zu integrieren. Wettbewerbliche Probleme, die ein grundsätzliches Umsteuern erfordern würden, wie die problematische Ungleichbehandlung bei der Zuteilung der Eigentumsrechte oder die Verstopfung mit fragwürdigen Markenanmeldungen, werden dementsprechend nicht grundlegend angegangen.

436 Vgl. Monopolkommission, Telekommunikation und Post 2003, 2004, Ziff. 301 f.; dies. Post 2005, 2006, S. 44 f.; dies. Post 2007, 2008, S. 61. 437 Kunz-Hallstein, GRUR Int 2004, 751, 754.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

5. Verfahrensrechtliche Aspekte In verfahrensrechtlicher Hinsicht spielt für die zivilgerichtliche Ordnung der post-deregulativen Branche das Verfahrensrecht auch selbst eine Rolle. Damit werden nicht nur die Inhalte, sondern auch die Vorgehensweisen zu einem Thema der Ordnung. Denn mit der Wende zum Privatrecht sind eben nicht nur inhaltliche Veränderungen zu erwarten, sondern auch eine geänderte Durchsetzung. Das Markenrecht mit seiner Verfahrensvielfalt stellt hier eine besondere, aber nicht völlig untypische Herausforderung dar. Im Gesamtbild der Entwicklung der Rechtsprechung zu markenrechtlichen Themen in der Post-Branche fällt die Durchsetzung als eigene prägende Institution innerhalb der Wirtschaftsordnung besonders auf. Das Grundproblem der Wettbewerber hat die Monopolkommission so auf den Punkt gebracht: „Konfrontiert mit einer Unterlassungsklage der Deutschen Post AG haben die Wettbewerber dann die Wahl, auf die Führung eines attraktiven Markennamens mit hohem Wiedererkennungswert zu verzichten oder ein kostspieliges Gerichtsverfahren anzustrengen.“438

Die Darstellung der Entscheidungen offenbart die Berechtigung dieser Aussage für die Erwartungsstrukturierung der Newcomer. Die Entscheidungen sind mit einen kontinuierlich hohen Streitwert belastet, der von den Gerichten zwischen 250 000 D-Mark (ca. 125 000 Euro) im Fall Regional Post und 500 000 Euro (z.B. Blaue Post und City Post) angesetzt wird. Der Streitwert variiert im Laufe der Jahre, es lässt sich aber keine Tendenz ausmachen, da es beispielsweise auch noch in der späten Entscheidung Turbo P.O.S.T. mit 150 000 Euro einen relativ geringen Streitwert gibt. Der Streitwert bringt hohe Gerichts- und Anwaltsgebühren mit sich. Da die Erfolgsaussichten eines Verletzungsprozesses auch nach Jahren noch nicht mit Sicherheit prognostiziert werden können, wie noch der BGH-Entscheid RegioPost 2009 belegt, ist das Kostenrisiko für Newcomer also immer noch ein erheblicher Faktor. Bei solchen Kostenfragen ist stets zu berücksichtigen, dass sich in der typischen Konstellation die DPAG als Dax-Konzern mit hohen Gewinnen und einem erklecklichen Budget für die Markenstrategie und neue Marktteilnehmer gegenüberstehen. Letztere haben ganz überwiegend eine geringe Finanzkraft und benötigen ihre finanziellen Mittel für die unmittelbare Kundengewinnung, nicht für Rechtsstreitigkeiten. Dass im Fall deutsche CityPost die Beklagte Prozesskostenhilfe beantragte, spricht für sich. Das Kostenrisiko wird verschärft durch die Bereitschaft der DPAG, den Instanzenzug auszuschöpfen. Die (vermeintliche) Opferbereitschaft der DPAG sich OLG- und BGH-Entscheidungen zu erstreiten, in denen sie vollumfänglich unterliegt, ist beachtlich und nährt den Verdacht, dass das Opfer hier von 438

Monopolkommission, Post 2005, 2006, Ziff. 73 (S. 45).

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der formal obsiegenden Seite gebracht wird bzw. eine Abschreckungswirkung von der DPAG angestrebt wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass beim Unterliegen in letzter Instanz der Unterlegene nicht nur die prozessualen Kosten zu tragen hat, sondern auch seine Investitionen in die Marke verliert, die er bis dahin über mehrere Jahre aufgebaut hat. Vom landgerichtlichen Endurteil bis zum BGH-Entscheid vergingen in den hier betrachteten Fällen zwischen dreieinhalb und viereinhalb Jahren. Diese Erwägungen müssen in die Abwägung des Akteurs hinsichtlich seiner Rechtsdurchsetzung einfließen. Die verfahrensrechtliche Situation wird durch die Parallelität von Eintragungs- und Verletzungsverfahren verkompliziert. Insbesondere das Eintragungsverfahren Post hatte erhebliche Rückwirkungen auf die Verletzungsverfahren. Parteien mussten zur Absicherung ihrer Verhaltensweisen im Markt somit nicht nur die wechselnde Rechtsprechung in Verletzungsverfahren mit Akzentverschiebungen von Urteil zu Urteil, sondern auch noch das langwierige Löschungsverfahren samt den überraschenden Wendungen bei BGH und zweiter BPatG-Entscheidung verfolgen. Der Charakter der Rechtsprechung als Entdeckungsverfahren bringt es dabei mit sich, dass sich die Rechtslage beständig weiterentwickelt. Bei der Gesamtwürdigung der Verfahrenszüge sollte nicht verkannt werden, dass zahlreiche Verfahren auf landgerichtlicher Ebene mit Entscheidungen zugunsten der DPAG endeten. Die Vielfalt der Verfahren und die mit den Verfahren verbundene Einschüchterung von Newcomern wurden in den Entscheidungen nur vereinzelt thematisiert und nicht in der Gesamtkomplexität gesehen. Das BPatG hat die Komplexität der Eintragungsverfahren und der Ungleichbehandlung im Vorlagebeschluss Schwabenpost erkannt und thematisiert. Verschiedentlich haben die Gerichte ihre Bindung an die Entscheidungen im Eintragungsverfahren thematisiert und zu erkennen gegeben, dass sie eine andere Entscheidung als die Eintragung des Begriffs „Post“ zugunsten der DPAG für richtig gehalten hätten. Die Bindung des Verletzungsgerichts an den Bestand der Klagemarke akzeptieren jedoch alle Gerichte, obwohl es sich „lediglich“ um eine richterrechtliche Institution handelt. Obwohl die konkrete Konstellation eine rechtliche Innovation nahegelegt hätte, verzichten alle Gerichte auf einen derartigen Richtungswechsel. Der BGH sieht sich allerdings im Fall City Post 2008 offenbar gezwungen, dies noch einmal im Detail zu begründen. Die erkennbare Distanzierung der Instanzgerichte von der Eintragung der Marke „Post“ in einigen Urteilen und die manifeste Distanzierung durch die 2005 und 2007 erfolgten Entscheidungen von DPMA und BPatG gegen die Eintragung sowie die zunehmende Kritik in der Literatur an dem Grundsatz439 erzwangen hier eine erneute Selektion durch den BGH. 439

Vgl. Rohnke, GRUR 2001, 696 ff.; Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2010, § 13 Rn. 16; siehe auch Albrecht, MarkenR 2003, 449.

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Dies belegt, dass ein Widerspruch in der Ordnung ersichtlich wurde. Dieser Widerspruch liegt, auch wenn das die Gerichte nicht so deutlich formuliert haben, in der Diskrepanz zwischen rechtlicher und faktischer Wirkung des Löschungsverfahrens. Angenommen, das Löschungsverfahren wäre erfolgreich verlaufen, so hätte die Marke trotz Nichtigkeit über Jahre hinweg doch faktische Wirkungen erzielt, also prägenden Einfluss auf die Erwartungen der Akteure gehabt. Für Newcomer war das Zeichen „Post“ in einer besonders wichtigen Marktphase, nämlich ab 2003, mit großen rechtlichen Risiken behaftet, sodass es wirtschaftlich eventuell sinnvoller war, von vornherein auf einen Ausweichbegriff zuzugreifen. Da sich aus Sicht der OLG eine Löschung andeutete, insbesondere nach dem DPMA-Entscheid von 2005, wurde der Widerspruch zwischen rechtlicher Nichtigkeit und faktischen Wirkungen immer unerträglicher. Die lange Verfahrensdauer (BGH-Entscheidung: 2008) trug dazu wesentlich bei. So ist es fast tröstlich, dass der BGH die Marke „Post“ aufrecht erhielt – die dementsprechend ausgerichteten Markenbildungsentscheidungen von anderen Unternehmen wurden damit als vorausschauend geadelt, und der Sinn der Bindung an das Eintragungsverfahren bis zur Rechtskraft nachträglich legitimiert: es konnte ja immer noch anders kommen, und es kam eben auch anders. Für seine Entscheidung zugunsten der Bindungswirkung in City Post zieht der BGH diesen Überlegungen entsprechend übergreifende rechtssystematische Argumente heran (aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels, Kompetenzverteilung) und entscheidet damit gegen eine inhaltliche Prüfung im Einzelfall, die zu einem Auseinanderfallen von Entscheidungen geführt hätte. Die rechtliche Systematik, das Formale im Verfahrensrecht, hat damit Bestand trotz unbefriedigender Ergebnisse im Einzelfall. Möglicherweise handelt der Senat aber auch bereits im Vorgriff auf sein vier Monate später ergehendes Urteil, das die Löschungsanordnung aufhebt und sich damit von der Neigung der Rechtsprechung in den Verletzungsprozessen absetzt und den Wert des Eintragungsverfahrens als eigenständiges Verfahren bekräftigt. Dass hier derselbe Senat innerhalb von zehn Monaten an drei Terminen sechs Entscheidungen (fünf Verletzungsverfahren sowie das Eintragungsverfahren) trifft, ist Ausdruck der Verfahrenskomplexität, die auch im Verlauf der offensiven Nutzung des Markenrechts durch die DPAG nicht von den Gerichten reduziert wird. Es lässt sich eher noch eine gegenteilige Tendenz erkennen: Der BGH selbst thematisiert das Zusammenspiel der Verfahren ausdrücklich, indem er im Eintragungsprozess auf den Verletzungsprozess und die darin zu prüfende Schranke des § 23 MarkenG verweist. Wie bereits dargelegt vollzieht der BGH hiermit eine Wende zum Privatrecht, da das Verletzungsverfahren stärker parteiendominiert ist als das hoheitlich durchgeführte Eintragungsverfahren. Er stärkt zugleich die Position desjenigen Unternehmens, das sich „kostspielige Gerichtsverfahren“ (Monopolkommission) leisten kann. Sein Verweis auf den Schutz im Verletzungsverfahren durch § 23 MarkenG, der ja zudem

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von einer im Einzelfall unberechenbaren Interessenabwägung abhängt, verkennt die Abschreckungswirkung der von der DPAG angestrengten Verfahren vollständig oder nimmt diese bewusst in Kauf. Die Entlastung der DPAGKonkurrenten, die sich im Verlauf der Rechtsprechung seit 2000 als gerichtliches Ziel andeutet, wird damit torpediert. Es setzt sich damit allerdings auch die Möglichkeit durch, eine Interessenabwägung im Markenrecht einzuführen, die wiederum ergebnisoffener ist als die eher formalen Prüfkriterien, die sonst im Markenrecht gelten. So wird mit den letzten Entscheidungen des BGH und des EuGH die hier aufgeworfene verfahrensrechtliche Problematik weiter entwickelt in Richtung einer Verfahrensvielfalt ohne einheitliche Entscheidungslinien und ohne erkennbare Sensibilität für die Problematik der Rechtsdurchsetzung unter ungleichen Parteien.

6. Rezeption als Fortsetzung des Entdeckungsverfahrens Die Rechtsprechung zu den Markenrechtsfällen im Postsektor wurde auch für andere Themenbereiche rezipiert. Unmittelbar betrifft dies Fälle, in denen gleichfalls frühere Monopolunternehmen betroffen sind. Hier sind die Verfahren Bundesdruckerei440 und Gelbe Seiten441 sowie das Domain-Namen-Verfahren Euro Telekom442 und das Verletzungsverfahren Telekom/01051 Telekom443 zu nennen. Schon diese kurze Auswahl belegt, dass ein Marken-Fall mit Beteiligung eines ehemaligen Monopolunternehmens nicht ein „Extremfall“444 oder ein „Sonderfall“445 ist, der nur sehr begrenzte Aussagekraft hat, zumal die volkswirtschaftliche Bedeutung bei Fällen, in denen es um beschreibende Angaben geht, regelmäßig besonders hoch ist. Über die post-deregulativen Konstellationen hinaus haben sich zudem weitere rechtliche Entwicklungen in den Fällen im Postsektor ergeben. Der Beschluss des BPatG zu Gelbe Seiten setzt die liberale Eintragungspraxis fort, die mit dem Post-Urteil des BGH eingesetzt hatte: Der Begriff „Gelbe Seiten“ für ein Branchenverzeichnis sei keine Gattungsbezeichnung und habe Verkehrsdurchsetzung erlangt. Die Anmeldung sei auch nicht bösgläubig, etwa in Form einer Sperrmarke, erfolgt. Die Argumentation zur Bösgläubigkeit ist relativ ausführlich, verweist auf Widersprüche in der Argumentation 440

BGH, 29.3.2007, Az. I ZR 122/04, GRUR 2007, 1079 – Bundesdruckerei. BPatG, 9.3.2010, Az. 27 W (pat) 211/09, BeckRS 2010, 16918 – Gelbe Seiten. 442 BGH, 19.7.2007, Az. I ZR 137/04, GRUR 2007, 888 – Euro Telekom. 443 BGH, 27.11.2003, Az. I ZR 79/01, GRUR 2004, 514 – Telekom/01051 Telekom. 444 So Ritscher zum schweizerischen Parallelfall, siehe seine Anm. zu SchweizBGer, 1.12.2008, Akten-Nr. 4A_370/2008, sic! 2009, 167, 172. Ritscher irrt, wenn er von einem hard case spricht – es liegt eher ein new case vor. 445 Prüfer, GRUR 2008, 103, 110 zur BPatG-Entscheidung Post. 441

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und ähnelt der Argumentation in Tagesstempel. Das DPMA hatte im Fall Gelbe Seiten Bösgläubigkeit der Anmelderin bejaht. Ersichtlich ist es bislang jedoch offenbar nicht gelungen, Merkmale der Bösgläubigkeit herauszuarbeiten, welche die übereifrige Nutzung von Verletzungsverfahren durch die DPAG und ihre Tochtergesellschaften abgrenzbar machen vom „markenrechtlichen Alltag“446. Auch in diesem Urteil zeigt sich, dass die bisher etablierten Fallgruppen der Bösgläubigkeit nach § 8 Abs. 2 Nr. 10 MarkenG auf das hier beanstandete Verhalten nicht passen. Zugleich zeigt die ausführliche Befassung mit der Thematik, dass auch das BPatG hier einen gewissen Handlungsbedarf erkennt. Aus evolutionärer Perspektive ist dies zu lesen als die Andeutung eines immer stärker drängenden Widerspruchs, der jedoch mit inkrementellen Innovationen noch nicht aufzulösen ist und daher weiter einer Lösung harrt. Der Widerspruch liegt darin, dass die aggressive Nutzung von „Sperrmarken“ im Wettbewerbskampf keine vom Markenrecht ursprünglich belohnte Funktion darstellt. Mit jeder weiteren Entscheidung ist hier aber eine rechtliche Innovation gut vorstellbar, was wiederum die Häufigkeitsabhängigkeit von Innovationen belegt. Die Antragstellerin hatte in Gelbe Seiten auch vorgetragen, die Verkehrsdurchsetzung scheitere daran, dass diese durch eine frühere Monopolstellung erlangt worden sei. Im amtlichen Leitsatz hält das BPatG die frühere Monopolstellung der Bundespost (in deren Konzern die Gelben Seiten herausgegeben wurden) für grundsätzlich unbeachtlich, was der Rechtsprechung in Ostseepost und Tagesstempel entsprechen würde. In der Begründung reduziert das BPatG dies jedoch auf das Faktum, dass für Branchenverzeichnisse nie eine Monopolstellung existiert habe. Auch im Fall TÜV II wurde auf die Post-Entscheidungen Bezug genommen.447 Thema der Entscheidung war die Verwendung der Bezeichnung „privater TÜV“ durch ein Konkurrenzunternehmen zu dem Unternehmen TÜV Süd. Der Senat differenzierte den Fall dahingehend, dass es sich bei TÜV – anders als bei Post – nicht um eine glatt beschreibende Angabe handele. Daher komme es auf frühere Monopolsituationen, auf die der Senat mit Referenz zur Post-Rechtsprechung hinweist, nicht an. In anderen Verfahren wurden Aspekte wie Kennzeichnungskraft bei verkehrsdurchgesetzten Marken, Freihaltebedürfnis bei beschreibenden Angaben, Bindung des Verletzungsgerichts an die Eintragung, Begründungspflicht der DPMA-Markenstellen oder Grad der Bekanntheit zur Annahme von Verkehrsdurchsetzung aus den hier besprochenen Urteilen zitiert. Die Fälle, die unter den besonderen Bedingungen post-deregulativer Konflikte entschieden wurden, wirken also auf ein breites Spektrum anderer markenrechtlicher Entscheidungen. 446 447

BPatG, 9.3.2010, Az. 27 W (pat) 211/09, BeckRS 2010, 16918 – Gelbe Seiten. BGH, 17.8.2011, Az. I ZR 108/09, GRUR 2011, 1043 – TÜV II.

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IV. Hypothesen zum gerichtlichen Vorgehen Aus den Streitigkeiten im Telekommunikationssektor waren Hypothesen zum gerichtlichen Vorgehen in post-deregulativen Konflikten formuliert worden. Diese können nunmehr überprüft und ergänzt werden. Die Verfeinerung der Hypothesen dient dem Ziel, ein methodisches Raster zur Analyse der Zivilrechtsprechung in post-deregulativen Konflikten (und möglicherweise darüber hinaus) zu entwickeln. (1) Die höchstrichterliche Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten neigt – auch in new cases – im Verlauf zu differenzierten Mittellösungen, die in Folgeprozessen auf Tatbestandsebene ausjudiziert werden müssen. Die Rechtsprechung der OLG und des BGH tendierte in den Verletzungsfällen einheitlich, denn die Ansprüche der DPAG wurden in fast allen Fällen zurückgewiesen. Diese Ergebnisauswertung täuscht jedoch über zwei Aspekte hinweg, welche die erste Hypothese stützen: Erstens wird der Ausgang der Verletzungsprozesse relativiert durch den Ausgang des Eintragungsprozesses zu „Post“, in dem eine eindeutige Klärung der Gesamtproblematik durch Löschung hätte durchgesetzt werden können. Diese Chance hat der BGH verstreichen lassen und damit den Interessen der DPAG Rechnung getragen. Zweitens müssen die Ergebnisse in den Verletzungsprozessen und bei der Eintragung von Zeichen der Wettbewerber jeweils im Einzelfall auf Tatbestandsebene durchgesetzt werden. Eine perse-Regelung hat der BGH durch seine Urteile in Verletzungsverfahren nicht etabliert. Ausgerechnet eine seiner letzten Entscheidungen (RegioPost) belegt das fortbestehende Risiko des Teil-Unterliegens von Wettbewerbern. Das gilt für die Eintragungsverfahren für Marken von Wettbewerbern, in denen eine einheitliche Tendenz nicht feststellbar, ja, nicht einmal angestrebt wird, in noch gravierenderem Maße. Die Lösung auf Tatbestandsebene kann als eine differenzierte Mittel-Lösung angesehen werden, da die Gerichte immer wieder Abwägungen vornehmen, in denen differenzierte Überlegungen anzustellen sind. Die Schwerpunkte der Fallprüfung verschoben sich zwar im Verlauf der Zeit, eigen blieb aber allen Fällen, dass die Parteien stets aufs Neue Beweis antreten mussten. Die Beweishürden wurden, wie das Beispiel der Absenkung der Schwelle für „Einhelligkeit“ im Rahmen der Verkehrsdurchsetzung belegt, so gestaltet, dass starke beide Parteien eine Chance haben, mit ihrem jeweiligen Argument und Sachvortrag durchzudringen. Gegenteilige Tendenzen, nämlich die Lösung der Fälle über starke Rechtsgrundsätze, die vom Sachvortrag abstrahieren, wurden oberinstanzlich und vom BGH nicht bestätigt. (2) Differenzierte Mittellösungen sind häufigkeitsabhängig. Obwohl alle Verletzungsfälle einen in der Grundform identischen Sachverhalt haben, verschoben sich die Akzente der Prüfung im Laufe der Zeit er-

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heblich. So spielt die Lösung des BGH in seiner 2004-Entscheidung noch wesentlich im Bereich der Verwechslungsgefahr eine Rolle, ohne dass der Senat auf die Kennzeichnungskraft oder die frühere Monopolsituation für den nachfolgenden Beschluss hingewiesen hätte. Als innovative Elemente, die in späteren Entscheidungen große Bedeutung erlangten, sind beispielhaft das Erfordernis der markenmäßigen Benutzung oder die Prüfung der Anlehnung als Kriterium der Sittenwidrigkeit im Rahmen des § 23 zu nennen. Die Rechtslage wird somit immer differenzierter und komplexer, obwohl sich die zugrundeliegenden Sachverhalte kaum unterscheiden. (3) Die Tendenz der Entscheidung ist pfadabhängig. Auch in den Post-Fällen wird die Kontinuität des Pfads ganz überwiegend aufgenommen. Diese Kontinuität muss sich nicht unbedingt im Ergebnis eines Falles spiegeln, wohl aber in den tragenden Erwägungen. Beispielhaft hierfür ist die Auseinandersetzung mit dem Erfordernis der Bindung an die Entscheidung des Eintragungsgerichts im Verletzungsverfahren durch den BGH 2008, die Aufnahme des Anlehnungskriteriums in § 23 MarkenG durch den BGH, nachdem sich das OLG Naumburg darauf gestützt hatte, oder die Thematisierung von lauterkeitsrechtlichen Ansprüchen durch den BGH nur in den Fällen, in denen auch die Vorinstanz damit konfrontiert war. Gerade im letztgenannten Beispiel hätte der BGH zumindest solche Überlegungen andeuten können, etwa in seinen Hinweisen 2004, auch wenn man in Markenrecht und Lauterkeitsrecht unterschiedliche Streitgegenstände sieht. Im Eintragungsverfahren weicht der BGH zwar diametral im Ergebnis von der Vorinstanz ab, setzt sich aber mit den Argumenten dieser ausführlich auseinander und bleibt insoweit auf dem Pfad. Anders ist es in den Eintragungsverfahren für die übrigen Marken der Newcomer (Beispiel Schwabenpost). Der EuGH folgt dem vom BPatG vorgezeichneten Pfad kaum (bis hin zu einem Missverstehen der Vorlagefrage), ebenso wie sich das DPMA der Entscheidungstendenz des BPatG verweigert und die ihm vorgegebene rechtliche Aufgabe nur knapp erfüllt. Das korrespondiert mit der inhaltlichen Frage dieser Fälle, nämlich inwiefern die Markenstellen an Voreintragungen gebunden sind. Die Hypothese wird in Bezug auf das Markeneintragungsverfahren insofern wenig gestützt, die Pfadabhängigkeit erschöpft sich sozusagen in dem, was innerhalb eines Instanzenzuges automatisch an Pfadbildung vorgegeben ist. Diese Ausnahme lässt sich möglicherweise interpretieren durch den Unterschied zwischen der ordentlichen Gerichtsbarkeit und den DPMAMarkenstellen, die ja im Wesentlichen eine Registerfunktion ausüben und ihrer Tätigkeit nach stark an typische Funktionen öffentlich-rechtlich handelnder Stellen erinnern. Zivilgerichte versuchen, eine Konsistenz der Wirtschaftsordnung für die Akteure herzustellen, welche die gerichtliche Arena für ihre Auseinandersetzung wählen. Öffentlich-rechtlich entschei-

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dende Stellen haben andere Parameter, die ihre Entscheidungen vorgeben, insbesondere die Berücksichtigung öffentlicher Interessen. Ihre Entscheidungen sind nicht in gleicher Weise notwendig darauf ausgerichtet, die Erwartungen der Akteure zu erfüllen und ihre Rechtsansichten zu integrieren. Die starke Steuerung zivilrechtlicher Verfahren durch die Parteien unterscheidet sich also erheblich von dem Richtigkeitsanspruch des öffentlich-rechtlichen Verfahrens. In dieser Diskrepanz mag eine geringer ausgeprägte Pfadabhängigkeit öffentlich-rechtlicher Entscheidungen liegen. In diesen kann es daher eher zu Diskontinuitäten kommen als in zivilrechtlichen Entscheidungen. (4) Gegner des Incumbents geraten auch dann in eine Rechtfertigungsposition, wenn sie sich auf eine Freiheitsposition berufen. Diese Hypothese bestätigt sich in mehrfacher Hinsicht. Zunächst ist festzuhalten, dass nach zutreffender Interpretation Kennzeichenrechte als Eigentumsrechte freiheitsermöglichend und daher Ausfluss einer Freiheitsposition sind. Die zivilrechtliche Deutung des Rechtsgebiets impliziert, in der Güterzuordnung die Voraussetzung für die privatautonome Gestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse zu erkennen. Sodann ist festzustellen, dass durch die Verfahrensarten die Newcomer ganz überwiegend in defensive Positionen gedrängt werden und also ihre Ausübung von Rechten rechtfertigen müssen, etwa wenn sie als Verletzer beklagt sind oder der Eintragung eines Zeichens für Newcomer widersprochen wird. Der für Newcomer ungünstige „bias“ geht aber über die durch Klageart und Beweislastverteilung rechtlich vorgegebene Rechtfertigungssituation in den Verletzungsverfahren nicht hinaus. Dies zeigt sich etwa an der Interessenabwägung, die der BGH 2008 vornahm, als er ausdrücklich das Benutzungsinteresse der Newcomer thematisierte, die nicht gezwungen sein sollten, auf Fantasiebezeichnungen auszuweichen. Allerdings stellt das Recht auch keine Abhilfe für die hier häufigen Fälle bereit, in denen die Newcomer durch die DPAG in die Defensivposition gezwungen werden. In den Eintragungsverfahren scheint es für Newcomer tendenziell schwieriger als für den Incumbent, Zeichen zu registrieren. Der frühere Marktzutritt des Incumbents hat diesen in die Situation versetzt, mehr Zeichen zu registrieren und insbesondere Markenfamilien rund um den Begriff „Post“ für sich zu monopolisieren. Zudem werden dem Incumbent die Positionen gutgeschrieben, die die Rechtsvorgängerin Deutsche Bundespost erreicht hatte. Auch hieraus resultiert ein Nachteil der Newcomer, die sich auf ein demgegenüber von ihnen neu eingeführtes Zeichen berufen wollen. (5) Tragende Institutionen für die Lösung des Konflikts sind andere Gesetze und Präzedenzfälle, deren Wirkung für die konkreten Verfahren jedoch nicht prognostizierbar ist.

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Auch in den Post-Fällen wurde, wenn auch in geringerem Maße als in den Direktmarketing-Fällen, auf Wertungen des Gesetzgebers in anderen Gesetzen und Präzedenzfälle zurückgegriffen. So diente das Argument, der Gesetzgeber habe mit der Postreform den Markt liberalisieren wollen, immer wieder zur Rechtfertigung des Monopoleinwands. Zuweilen formelhaft wurden auch andere Gerichtsentscheidungen, vor allem des EuGH (Windsurfing Chiemsee, Philips/Remington) bemüht, um bestimmte Annahmen zu rechtfertigen. Auch eine genaue Analyse dieser Entscheidungen hätte aber die Prognosesicherheit nicht erhöht. Die Gründe, weshalb ein Fall als andersgelagert abgegrenzt wird oder als vergleichbar herangezogen wird, sind nicht immer nachvollziehbar. Dies zeigt sich am deutlichsten im Schwabenpost-Verfahren, in dem die DPMA-Markenstellen ja ohnehin eine Selbstbindung ablehnen. Aber auch der Umgang mit der neueren Rechtsprechung zum Monopoleinwand ist dafür ein Beleg: Teilweise wurde die Entscheidung Philips/Remington des EuGH gewertet als eine Entscheidung, die den Monopoleinwand zurückweist,448 teilweise wurde diese Auslegung als zu pauschal bestritten.449 Der Einfluss von gesetzgeberischen Wertungen und Präzedenzfällen ist demnach hoch, aber nicht inhaltlich vorhersehbar. (6) In der Selektion der Argumente werden solche bevorzugt, welche die Richter aus eigenem Erleben nachvollziehen können. Auch in den Markenrechts-Fällen greifen die Richter immer wieder auf eigene Sachkenntnis und Einschätzungen zurück, um zu entscheiden, welcher Sachvortrag und welche Argumente durchgreifend sind. So wird etwa in mehreren Urteilen die Deregulierung des Postwesens als Entwicklung angeführt, das den Verkehrskreisen „aus der Medienberichterstattung“ bekannt ist. Hier wäre beispielsweise fraglich, ob dem Publikum die Details der Exklusivlizenzen bekannt waren, oder ob es sich hier nicht doch vielmehr um Sonderwissen juristisch vorgebildeter Kreise handelt. Auch das Auftreten der DPAG (z.B. Werbung mit den Gottschalk-Brüdern, Nutzung des Begriffs „Deutsche Post AG“) wird immer wieder aus der Sachkunde des Gerichts heraus beurteilt. Bei der Verwechslungsgefahr wird meist allein aus dem Empfinden des Gerichts hergeleitet, ob eine solche besteht. Eine deutliche Ausnahme zu dieser Entscheidungspraxis auf Basis eigener Vorerfahrungen bildet die Verkehrsbefragung, die eingesetzt wird, um den Herkunftshinweis bzw. die Verkehrsdurchsetzung zu einem bestimmten Zeitpunkt zu bestimmen. Hierbei handelt es sich um ein methodisch ausgereiftes Instrument, dessen sich die Gerichte bedienen. Die Überprüfung der entsprechenden Gutachten, etwa dahingehend, ob die 448 449

Vgl. Fezer, WRP 2005, 1, 10 f. m.w.N. Vgl. Risthaus, WRP 2006, 1299 ff. m.w.N.

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Fragen neutral formuliert waren, nehmen die Gerichte wiederum völlig aus eigener Kenntnis vor. Damit soll nicht gesagt werden, dass die entsprechenden Bewertungen fehlerhaft sind. Problematisch sind regelmäßig nicht die Wertungen, die vorgenommen werden, sondern diejenigen, die mangels genauerer Kenntnis unterbleiben. Die Gefahr richterlicher Ausblendung besteht insbesondere für Aspekte, die den Erfahrungshorizont der Richter überschreiten, sowie für solche Interessen, die nicht von den Parteien in den Prozess eingeführt werden, zum Beispiel die im Zivilprozess durchaus berücksichtigungsfähigen systemrelevanten Interessen. Ein Beispiel für die erste Kategorie sind die spezifischen Bedingungen einer betriebswirtschaftlichen Markenbildung und Markenführung, die regelmäßig keine Erwähnung finden. Ein Beispiel für die zweite Kategorie ist die fallübergreifende Systemproblematik des „cluttering“. (7) Ökonomische Argumente, insbesondere zur besonderen Situation in postderegulativen Branchen, spielen für die Entscheidungsfindung keine Rolle. Diese Hypothese aus den Direktmarketing-Fällen kann in dieser Eindeutigkeit für das Markenrecht nicht aufrecht erhalten werden, da die post-deregulative Konstellation durch den sog. Monopoleinwand eine prominente Rolle in den Entscheidungen hatte. Die aktuelle post-deregulative Konstellation wird von den Gerichten, auch dem BGH, teilweise erwähnt, insbesondere wird mehrfach das Argument in die Abwägung eingestellt, der Marktzutritt müsse für Newcomer möglich sein. Das ökonomische Ungleichgewicht der DPAG und insbesondere deren Durchsetzungsmacht im Verfahren werden nicht thematisiert. Ökonomische Ausführungen bewegen sich regelmäßig auf dem Niveau von allgemeinem Erfahrungswissen. Substantiierte volkswirtschaftliche Überlegungen oder Berechnungen fehlen auch an den Stellen, an denen explizit darauf hingewiesen wird, das Markenrecht sei verankert im Wettbewerbssystem. (8) Höchstrichterliche Rechtsprechung klärt einen Fall nicht abschließend, sondern ist nur ein Element der Wirtschaftsordnung, das in der Folge durch weitere Gerichtsurteile und die Rezeption in der Fachliteratur weiter entwickelt wird. Auch in den hier besprochenen Fällen werden Aspekte der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf unterschiedliche Arten weiterentwickelt. Die Rezeption der EuGH-Entscheidung Schwabenpost legt davon ebenso beredt Zeugnis ab wie die Auslegung des Begriffs „Einhelligkeit“ im Rahmen der Verkehrsdurchsetzung. Noch augenfälliger ist in der Gesamtschau von Verletzungsverfahren und Eintragungsverfahren jedoch, dass es auch mit sieben Entscheidungen des BGH in neun Jahren in gleichgelagerten Verletzungsverfahren, einer BGH- und einer EuGH-Entscheidung zur Eintragung von Marken mit

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„Post“ nicht gelungen ist, die Konflikte zu klären. Zumindest nach der ersten BGH-Entscheidung wurden noch zahlreiche Verletzungsprozesse angestrengt. Erstinstanzliche Verletzungsverfahren nach den BGH-Urteilen 2008 und 2009 wurden allerdings nicht mehr berichtet. Ob dies auf die BGH-Rechtsprechung, einen Strategie-Wechsel der DPAG oder eine Anpassung der übrigen Marktteilnehmer zurückzuführen ist, muss dahingestellt bleiben. Durch die Eintragung des Zeichens „Post“ zugunsten der DPAG bleibt aber eine wesentliche Quelle möglicher Konflikte auch zukünftig erhalten. Die Weiterentwicklung durch Untergerichte und Fachliteratur besteht häufig darin, dass bestimmte Aspekte betont oder vernachlässigt werden. Dies zeigt sich etwa in der Auswertung des EuGH-Beschlusses durch das BPatG oder in den unterschiedlichen Akzentuierungen zur Prüfung der Sittenwidrigkeit im Rahmen des § 23 MarkenG. (9) Eine Reflektion der eigenen Rechtsprechungstätigkeit findet, insbesondere bezogen auf Verfahrensfragen, nicht statt. Auch in den Post-Fällen, wie in den Fällen zum Direktmarketing für Preselection-Verträge, reflektieren die Gerichte die eigene Tätigkeit nicht. Insbesondere fehlt jede Stellungnahme zur langen Verfahrensdauer in einzelnen Verfahren, die den Marktzutritt unter einer bestimmten Marke im kritischen Stadium blockiert. Auch der Gesamtkomplex der Konfliktlösung wird nicht reflektiert. Sonst wäre möglicherweise die ans missbräuchliche grenzende Klageflut der DPAG kritischer gewürdigt worden. Lediglich bezogen auf die Bindungswirkung des Eintragungsverfahren für das Verletzungsverfahren findet eine gewisse institutionelle Vergewisserung statt, die im Ergebnis aber auch ohne Wirkung bleibt, da der BGH die Bindung derart betont.

V. Bewertung Zur Bewertung der Qualität der Rechtsprechung in diesen post-deregulativen Streitigkeiten wird wiederum das Legitimationsraster herangezogen. Die Bewertung soll eine Würdigung ermöglichen, ob die durch die Wende zum Privatrecht gestärkte Rolle der Zivilgerichte von diesen in einer Weise ausgefüllt wird, welche die Wende zum Privatrecht als Gewinn für die Rechtsordnung erscheinen lässt. Bisherige Bewertungen des Komplexes „Post als Marke“ liegen nur vereinzelt vor – die Überhöhung einzelner Urteile verstellt gelegentlich den Blick dafür, dass nicht einzelne Urteile, sondern nur die Gesamtentwicklung die Erwartungen der Akteure strukturieren und gemeinsam die Ordnung des jeweiligen Bereiches bilden. Zudem fehlt es für eine Bewertung häufig an Maßstäben.

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Die Monopolkommission hat jedoch bereits in ihrem Gutachten 2005 einen „Missbrauch des Markenrechts“ durch die Eintragungs- und Verletzungsverfahren der DPAG festgestellt. Die Monopolkommission schreibt: „Die Bereitschaft der Deutschen Post AG, andere Marktteilnehmer mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln im Wettbewerb zu behindern, macht auch vor einem Missbrauch des Markenrechts nicht Halt. Die Deutsche Post AG hatte im Jahr 2002 den Tagesstempel als Bildmarke beim Deutschen Patent- und Markenamt eintragen lassen und ist anschließend mit Unterlassungsklagen gegen mehr als 200 Wettbewerber vorgegangen, auf deren Frankiermaschinen das Klischee des Tagesstempels eingesetzt war. (…) Nach Ansicht der Monopolkommission belegen die Auseinandersetzungen um die Eintragungen des Tagesstempels als Bildmarke und die Eintragung des Wortes „Post“ als Wortmarke in sehr drastischer Weise, dass die Deutsche Post AG auch das Markenrecht zu Wettbewerbsbehinderungen benutzt. (…) Konfrontiert mit einer Unterlassungsklage der Deutschen Post AG haben die Wettbewerber dann die Wahl, auf die Führung eines attraktiven Markennamens mit hohem Wiedererkennungswert zu verzichten oder ein kostspieliges Gerichtsverfahren anzustrengen.“450

Die Monopolkommission weist damit auf das Zusammenspiel von Eintragungs- und Verletzungsverfahren hin sowie auf die Verfahrensdauer und -kosten, die sich für Newcomer als besonders problematisch darstellen. Auch wenn die Monopolkommission ihren Vorwurf an die DPAG adressiert, der sie eine Sperrmarken-Strategie vorhält, so richtet sich die Kritik doch genauso an Gesetzgeber und vor allem die Gerichte, die einem solchen „Missbrauch des Markenrechts“ keinen Einhalt gebieten.451 Die DPAG schätzt die Verfahren naturgemäß völlig anders ein. In einer Pressemitteilung nach Zurückweisung eines Löschungsantrags, den Wettbewerber gegen die Wortmarke „Die Post“ gestellt hatten, lässt das Unternehmen verlautbaren: „Wirtschaftliche Bedeutung erlangt die Auseinandersetzung [um die Markenrechte an „Post“] durch das Risiko, dass bei fehlendem Markenschutz Wettbewerber der Post sich als Trittbrettfahrer unter entsprechenden Namen, aber ohne die dazugehörige Qualität und Zuverlässigkeit einen unberechtigten Wettbewerbsvorteil verschaffen können.“452

Ein Verband von Wettbewerbern der DPAG, der Bundesverband der KurierExpress-Post-Dienste e.V. (BdKEP), zog nach der Entscheidung des BPatG, die Löschung der Marke „Post“ wieder aufzuheben, ein gemischtes Fazit: 450

Monopolkommission, Post 2005, 2006, Ziff. 71–73. Weniger kritisch aber Monopolkommission, Post 2011, 2011, Ziff. 161. 451 Ähnlich die Kritik von Jänich/Schrader, WRP 2006, 656: „Die ehemaligen staatlichen Monopolbetriebe versuchen nunmehr, auch im Wettbewerb ihre herausragende Marktposition zu erhalten. Um dieses Ziel zu verwirklichen wird unter anderem das Markenrecht bemüht.“. 452 Deutsche Post AG, „Nur die Deutsche Post ist „Die Post““, Pressemitteilung vom 4.9.2006, abrufbar unter http://www.pressrelations.de/new/standard/dereferrer.cfm?r=246326.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

„Gleichwohl hat der lange Rechtsstreit den Wettbewerbern der Deutsche Post AG das eigentlich angestrebte Ziel eingebracht und die Deutsche Post AG deshalb nur einen Pyrrhus-Sieg davongetragen. Denn der Bundesgerichtshof hatte klargestellt, dass die Wortmarke POST nicht gegen Wettbewerber eingesetzt werden kann, die das Wort POST beschreibend in ihren eigenen Kennzeichen verwendet, z.B. als „Blaue Post“ „Regio-Post“, „Regional-Post“, „Turbo-Post“ u.s.w. Der Bundesgerichtshof hatte nämlich parallel zum Löschungsverfahren in der Vergangenheit über sog. Verletzungsverfahren zu entscheiden, in denen die Deutsche Post AG ihre Wettbewerber wegen der Verwendung des Wortes Post in ihren Firmenkennzeichen angegriffen hatte. (…) Dieser Rechtsprechung [der Oberlandesgerichte, die Ansprüche in Verletzungsverfahren verneint hatten] hat sich schließlich der BGH mit einer umfassenden „KoexistenzRechtsprechung“ angeschlossen und damit der Wortmarke POST die Spitze gebrochen, gegen Wettbewerber als Verbotsmarke eingesetzt zu werden, die das Wort beschreibend verwenden.“453

Der BdKEP folgert, die Rechtsprechung sei „unbefriedigend“, aber auch „im Ergebnis unabwendbar“.454 Bei einer Gesamtbewertung ist die vom BdKEP in den Mittelpunkt gestellte „Koexistenz-Rechtsprechung“ in der Tat ein wesentlicher Faktor: In den Eintragungsverfahren obsiegt die DPAG, sie kann aber nur in Ausnahmefällen Ansprüche wegen Verwechslungsgefahr geltend machen.

1. Konfliktschlichtung Die Verfahren haben für die Beteiligten die Funktion der Zivilrechtsprechung, nämlich den Konflikt zu schlichten, formal jeweils erfüllt. Es erging in allen Verfahren letztlich eine eindeutige Entscheidung, welche die Rechtssicherheit vermittelt hat, die Akteure brauchen, um ihre unternehmerischen Entscheidungen treffen zu können. Dies gilt sowohl für die Verletzungsverfahren, in denen relativ einheitlich zugunsten der Wettbewerber der DPAG entschieden wurde, als auch für die Eintragungsverfahren, in denen die DPAG öfter erfolgreich war. Im Lauf der Zeit hat sich in den Verletzungsverfahren auch eine relativ kontinuierliche Praxis herausgebildet, welche die Grenzen zulässiger Verwendung von „Post“ als Bestandteil eines Zeichens erkennbar werden lässt. Der Begriff darf demnach für Marken verwendet werden, wenn diese zusätzliche Bestandteile aufweisen und keine weitergehende Anlehnung an den Markenauftritt der DPAG erfolgt. Diese Linie hat sich mit einer Eindeutigkeit kristallisiert, die abweichende Urteile zu „Ausreißern“ macht. Auch im Eintragungsverfahren wurden eindeutige Entscheidungen in den jeweiligen individuellen Konflikten getroffen, was angesichts der Entscheidungsnotwendig453 BdKEP, „Wortmarke „POST“ für die Deutsche Post AG wieder in Kraft – Ein PyrrhusSieg der DPAG“ (Autor: Axel G. Günther), abrufbar unter http://bdkep.de/pdf/Kommentar_ G%C3%%BCnther.pdf. 454 Ebd.

C. Rechtezuordnung und Verfahren: Die Marke „Post“

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keit (Löschung ja oder nein) allerdings auch erforderlich ist. Eindeutige Linien lassen sich in den Eintragungsverfahren allerdings schwerer erkennen. In beiden Verfahrensarten ist mit der jeweiligen Festlegung ein Aufflammen desselben Streits in der Zukunft nicht zu erwarten. Diese positive Konfliktschlichtung steht jedoch unter einem erheblichen Vorbehalt, nämlich der Zeitdauer der Verfahren und den damit verbundenen Kosten. Eine überlange Verfahrensdauer ist insbesondere bei BGH-Entscheidungen zu konstatieren. Während die Oberlandesgerichte ihre Entscheidungen über Berufungsverfahren regelmäßig in weniger als einem Jahr nach der Entscheidung des Landgerichts trafen, brauchte der BGH für die Revisionsverfahren trotz Wegfalls der Beweiserhebung in den Verletzungsverfahren zweieinhalb bis drei Jahre ab Entscheidung des OLG. Dieser Zeitraum gilt sowohl für die BGH-Entscheidung 2004 (31 Monate), als auch für die BGHEntscheidungen 2008 (33–36 Monate) und 2009 (29–36 Monate). Es hat sich hier also in den Jahren bis 2009 keine positive Entwicklung im Sinne einer Verfahrensverkürzung feststellen lassen. Das Eintragungsverfahren für die Marke „Post“ zog sich vom Anmeldetag (22.2.2000) bis zur BGH-Entscheidung (23.10.2008) über mehr als achteinhalb Jahre hin und endete erst am 29.10.2010 mit der Entscheidung des BPatG bzw. noch später mit der Zurückweisung der Gehörsrüge durch den BGH am 19.10.2011. Solch lange Verfahrensdauern bedeuten für das Ziel der Konfliktschlichtung zunächst, dass der Konflikt über Jahre hinweg zwar in den geordneten Bahnen des Verfahrensrechts gehalten wird, aber eben weiterhin andauert. Seiner primären Funktion kommen die Zivilgerichte also nur mit erheblichen Verzögerungen nach. Bis zur Rechtskraft besteht für die Parteien in diesen Konflikten keine ausreichende Investitionssicherheit. Die Investition in Markenstrategien kann je nach Ausgang des Verfahrens verloren sein. Hinzu kommen erhebliche Rechtsverfolgungskosten, die insbesondere angesichts der hohen Streitwerte von bis zu 500 000 Euro gerade für kleinere Unternehmen die zivilgerichtliche Arena als Austragungsort des Konflikts zu teuer machen und die einen Verzicht auf Rechtsdurchsetzung aus wirtschaftlichen Gründen vorzugswürdig erscheinen lassen. Konsequent bedeutet dies, dass die zivilgerichtliche Rechtsdurchsetzung nur für jene sinnvoll erscheint, die sich eine teure Rechtsdurchsetzung leisten können, und die von einer langen Verfahrensdauer profitieren. Das ist diejenige Partei, die finanzstark ist und sich bereits mit eingeführten Zeichen am Markt behaupten kann. Dies trifft auf den – zeitweilig sogar durch eine Exklusivlizenz abgesicherten – etablierten Betreiber zu, dessen Versuch der Monopolisierung des Zeichens „Post“ mit fortdauernder Erschwernis von Wettbewerbern immer erfolgversprechender ist. Das Fernhalten des Wettbewerbs festigt den Bedeutungswandel von Gattungsbeschreibung zu Herkunftshinweis und ermöglicht die Einführung von Serienzeichen und anderen Marken der Markenfamilie, sodass erhöhtes Verwechslungspotential gezielt

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

aufgebaut werden kann. Die Verfahrensdauer trägt damit zur Stärkung der Position des ehemaligen Monopolisten bei. Rechtschutz in der Güterzuordnung wird geradezu pervertiert: nicht der Schwächere profitiert von der Einhaltung des gesellschaftlich zur Konfliktentscheidung vorgegebenen Verfahrens, sondern der Stärkere nutzt dieses Verfahren zur Durchsetzung seiner Zwecke. Die funktional-individuelle Legitimation hängt auch von der Einhaltung der Verfahrensregeln und dem Fairness-Gedanken ab. Es gibt kein Anzeichen dafür, dass es hier bei den ordentlichen Gerichten zu problematischen Verhaltensweisen gekommen ist. Die Markenstellen des DPMA allerdings unterlaufen mit ihrer vorsätzlichen Strategie der mangelnden Selbstbindung Erwartungen, die an die Gleichheit des Verfahrens für alle Rechtssuchenden gestellt werden.

2. Befriedung In funktional-institutioneller Hinsicht zeigt die Zivilrechtsprechung erhebliche Defizite bei der Erfüllung des Anspruchs, Konflikte in der Gesellschaft bzw. unter den Wirtschaftsteilnehmern zu verhindern und zu befrieden, sowie die Systemgrundlagen des Verfahrens zu wahren. Erst nach etwa zehn Jahren scheint es nun der Zivilrechtsprechung geglückt zu sein, den Konflikt um die Nutzung von Marken im Postsektor so zu entschärfen, dass nicht ständig neue Verfahren angestrengt werden. Wie groß der Beitrag der Rechtsprechung zu dieser Befriedung tatsächlich ist, muss dahingestellt bleiben, es ist ihr aber jedenfalls nicht früher geglückt. Offenkundig hat es die Zivilrechtsprechung nicht vermocht, die Entstehung zahlloser Parallelverfahren auf landgerichtlicher Ebene zu blockieren. Dass noch 2006, sechs Jahre nach dem ersten OLGUrteil in dieser Sache, die DPAG in erster Instanz Verfahren gegen vermeintliche Verletzer angestrengt hat, belegt die Erfolglosigkeit der Gerichte bei der Prävention der Konfliktentstehung in der Gesellschaft, da die Fälle in ihrem Ausgangspunkt identisch sind. Die Vorstellung, möglicherweise mit einem einzigen BGH-Urteil die Rechtslage derart zu klären, dass weitere Verfahren sich von vornherein erledigen, erfüllt sich nicht. Das belastet nicht nur die jeweils individuell betroffenen Parteien, sondern auch das Gerichtssystem als solches, konsumiert doch jedes neue Verfahren neue Ressourcen. In dieser Hinsicht ist ein regelrechtes Versagen der Justiz zu konstatieren. Auch an anderer Stelle wären Effizienz-Steigerungen denkbar, etwa für den Fall, dass der BGH mehrere gleichgelagerte Verfahren zu entscheiden hat. Dass der BGH in gleichgelagerten Post-Verletzungsfällen, wie am 2.4.2009 geschehen, an einem Tag fünf Entscheidungen trifft, die allesamt große Übereinstimmungen, aber auch Abweichungen im Detail aufweisen, wirft Zweifel auf, ob nicht eine Zusammenfassung in einem Urteil sinnvoller gewesen wäre. Das gilt erst recht, wenn schon zehn Monate zuvor zwei gleichartige Verfahren entschieden wurden. § 147 ZPO, der die Verbindung von Prozessen zum Ge-

C. Rechtezuordnung und Verfahren: Die Marke „Post“

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genstand hat, ermöglicht eine Verbindung freilich nur, wenn die Klagen „in rechtlichem Zusammenhang stehen oder in einer Klage hätten geltend gemacht werden können.“ Nach derzeitiger Auslegung des Begriffs vom „rechtlichen Zusammenhang“ wäre eine formelle Verbindung der Prozesse allerdings nach den Regeln der ZPO nicht zulässig gewesen.455 Ineffizienzen zeigen sich auch im Markeneintragungsverfahren. Wenn ein Markenanmelder fürchten muss, dass seine Marke nach Anmeldung über Jahre hinweg nach unklaren Kriterien geprüft wird, möglicherweise auf Betreiben eines ressourcenstarken Konkurrenten, sinkt der Anreiz, sich an einer derart langjährigen Lotterie der Güterzuordnung zu beteiligen. Das stellt aber die Zugänglichkeit des Markenanmeldungssystems in Frage.

3. Durchsetzung subjektiver Rechte In materiell-individueller Hinsicht überzeugen die Ergebnisse der Rechtsprechung weitgehend, insbesondere in den Verletzungsprozessen. Die Erwartungen der Rechtssuchenden an eine gleichberechtigte Güterzuordnung werden weitgehend erfüllt, da die Zivilrechtsprechung das durch die frühere Monopolisierung bedingte Ungleichgewicht der Parteien berücksichtigt. Auffällig ist jedoch, dass das Ungleichgewicht sich in erster Linie auf die frühere Monopolsituation bezieht, nicht aber aus der aktuellen Marktstärke gefolgert wird. Die Verschiebung der markenrechtlichen Wertungen in eine unmittelbarere Interessenabwägung wurde als Tendenz erkannt, die aber als grundsätzlich positiv zu werten ist. Immerhin ist eine offene Interessenabwägung sehr gut geeignet, um den wahren Interessen der Parteien, die ja das Verfahren initiiert haben, Rechnung zu tragen. Allerdings macht die Interessenabwägung das Verfahren wiederum abhängiger von verständigen und unvoreingenommenen Richtern sowie einer guten (und damit auch oft teuren) Vertretung vor Gericht. Auch bei der offenen Interessenabwägung, die der BGH ermöglicht, spielen ökonomische Interessen der Parteien in der Begründung eine geringe Rolle. Da sie im Wirtschaftsrecht aber faktisch die Triebfeder für die Anrufung der Zivilgerichte sind, verfehlen die Gerichte teilweise das Ziel, die wahren Interessen der Parteien zu erforschen und zumindest in der Abwägung zu berücksichtigen. Die Entscheidung des BGH im Eintragungsverfahren „Post“ konterkariert die privatrechtsfreundliche Entwicklung in den Verletzungsprozessen. Möglicherweise handelt es sich sogar um eine gezielte Differenzierung, welche die von der Rechtsprechung häufig angestrebte mittlere Lösung im Ergebnis herbeiführen soll. Das Ergebnis dieses Prozesses – erst recht vor dem Hintergrund eines Kampfes um die Eintragung wie im Fall Schwabenpost –, 455

Vgl. Heinrich in: Musielak, ZPO Kommentar, 2012, § 33 Rn. 2.

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entspricht den Vorstellung einer offenen Interessenkoordination mit gleichberechtigter Güterzuordnung nicht, da einem Marktteilnehmer ein Rechtsvorteil gewährt wird, der für andere kaum einholbar ist. Der Verweis auf die mangelnden Erfolgsaussichten in Verletzungsverfahren ist angesichts der dargestellten tatsächlichen Auswirkungen einer solchen Klage ein schwacher Trost.

4. Wertordnung und Systemgrundlagen Aus materiell-institutioneller Hinsicht stellt sich die Frage, ob die Zivilrechtsprechung in den Markenrechtsstreitigkeiten die Wertordnung verwirklicht hat, die dem Zivilrecht zugrunde liegt und ob es die systemrelevanten Interessen des Rechtsgebiets in der Eigenlogik der Begründungen berücksichtigt hat. Hier ist zunächst auffällig, dass bei einigen erstinstanzlichen Gerichten die Ausbildung eines wettbewerbsbezogenen Markenrechts noch Desiderat war. Dies scheint sich aber im Lauf der Zeit deutlich geändert zu haben, die privatrechtliche Grundierung war in den Verletzungsprozessen zuletzt stark spürbar. Das privatrechtliche System impliziert eine Güterzuordnung nach dem Prinzip der Chancengleichheit, aber auch der Freiheitsausübung: wer zuerst kommt, „markt“ zuerst. Die Einschränkung der Chancengleichheit durch die frühere Monopolsituation wird durch Berücksichtigung des Monopoleinwands relativiert. Dennoch können die Zivilgerichte nicht verhindern, dass das Markenrecht über die übliche Nutzung hinaus, „zweckfremd“456 benutzt wird und die DPAG mit Hilfe der langen und aufwändigen Verfahren Wettbewerber in die Defensive drängen kann. Wird aber das Markenrecht, das – wie immer wieder von den Gerichten betont wird – im Wettbewerbsprinzip verankert ist, zur Wettbewerbsbehinderung genutzt, liegt eine Systemverwahrlosung vor – die Urteile sind nicht mehr als gut zu bezeichnen. In diese Wertung fügt sich ein, dass volkswirtschaftliche Überlegungen oder auch nur Hinweise zur grundsätzlichen Schutzwürdigkeit von Marken in den Prozessen keine Rolle spielen. Die Gerichte bemühen sich um eine konforme Entscheidung des jeweiligen konkreten Sachverhalts, reflektieren aber weder in wirtschaftlicher noch sonstiger Weise ihre Entscheidungen öffentlich. So ist es möglich, dass kein einziges Gericht die umstrittene Marken-Strategie der DPAG überhaupt thematisiert. Für systematische Fehlentwicklungen ist bei einer solch strikten Fokussierung auf den jeweils konkreten Fall kein Platz. Anlass zur Überprüfung bieten insbesondere die sog. „Sperrmarken“-Problematik und die Verstopfung des Markenregisters. In der EU-Trade Mark Study wird für das Gemeinschaftsmarkensystem angegeben, dass zumindest ein signifikanter Teil der Anmelder hier ein Problem sieht, auch wenn dies 456

Monopolkommission, Post 2005, 2006, Ziff. 71.

C. Rechtezuordnung und Verfahren: Die Marke „Post“

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vom Harmonisierungsamt und großen Unternehmensvereinigungen bestritten wird.457 Die Autoren der Studie konstatieren Regelungsbedarf.458 Die vorliegenden Fälle lassen sich in diesen Kategorien einordnen: Selbst der BGH hat das Problem gesehen, dass Unternehmen nur noch reine Fantasie-Bezeichnungen wählen können, wenn die DPAG sämtliche „Post“-bezogenen Namen besetzt. Die Konsequenz dieser BGH-Erkenntnis blieb aber blass: es wurde nicht etwa die Eintragung der Marke „Post“ verhindert, die dieser Monopolisierung von naheliegenden Zeichen weiter Vorschub leistet, sondern lediglich der Schutzumfang über § 23 MarkenG eingeschränkt, was im Ergebnis zu einer (offenen) Interessenabwägung führt. Damit freilich wird das systematische Problem nicht gelöst, sondern auf die Ebene aufwändiger gerichtlicher Einzelfall-Klärung verschoben. Die Post-Fälle zeigen einen interessanten Wirkmechanismus im System der Rechtsdurchsetzung auf: Die Argumentation mit der Funktionsfähigkeit eines Systems setzt normalerweise das Agieren einer großen Zahl von Akteuren in ähnlicher Weise voraus. Eine einzelne Durchbrechung der Systemlogik wird nicht hingenommen, da die Nachahmung dieser Durchbrechung durch andere Akteure dazu führen könnte, das System insgesamt zum Scheitern zu bringen. Das ist das sog. Dammbruch-Argument: Ist der Damm erst einmal an einer Stelle eingerissen, lässt sich die Flut über kurz oder lang nicht mehr kontrollieren. Die Verstopfungs-Problematik des Markenrechts kann mit einer solchen Denkart strukturiert werden: Ein Kriterium zum Ausschluss bestimmter Marken muss im Einzelfall angewendet werden, damit nicht Präzedenzien geschaffen werden, die ansonsten dazu führen, dass keine freien Marken mehr gefunden werden können – was das markenrechtliche Schutzsystem sinnlos werden ließe. Die Systemgefahr entsteht durch das Wirken vieler unterschiedlicher Akteure, die sich auf einen Vorgängerfall berufen können. Was sich nun an den Post-Fällen zeigt, ist eine Reduzierung dieses Vorgangs auf ein Unternehmen: für den Sektor des Postwesens, und also für die entsprechende markenrechtliche Dienstleistungsgruppe, vermag der frühere Monopolist eine Kraft zu entfalten, so dass es gar keiner Nachahmungsvorgänge durch andere Unternehmen braucht. Bricht der frühere Monopolist mit seiner „Flut“ von Markenanmeldungen und Verletzungsverfahren durch den Damm, ist der Schaden bereits eingetreten. So wie im Bankensektor von Unternehmen gesprochen wird, die „too big to fail“ sind, lässt sich hier von einem Unternehmen sprechen, das groß genug ist, um das System scheitern zu lassen.

457 458

Vgl. MPI, Trade Mark Study, 2011, Ziff. 1.36 f. Ebd., Ziff. 1.39, 4.65.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

5. Zusammenfassung Die Rechtsprechung von OLG und BGH in den hier diskutierten markenrechtlichen Fällen stellt sich in dreierlei Hinsicht als besonders problematisch dar: Erstens führt die überlange Verfahrensdauer zu einer Bevorteilung der DPAG. Zweitens schafft es die Rechtsprechung nicht, die Entstehung immer neuer, gleichgelagerter, die Beklagten belastenden Verfahren zu verhindern. Drittens fehlt jegliche Sicherung des markenrechtlichen Schutzsystems und der privatrechtlichen Güterzuordnung vor Systembedrohungen. In den Verletzungsverfahren zeigen die Gerichte allerdings einen grundsätzlich begrüßenswerten Lösungsweg, der die Wende zum Privatrecht vollzieht, wenn von der überlangen Verfahrensdauer und der noch immer defizitären Berücksichtigung ökonomischer Aspekte abgesehen wird. In den Eintragungsverfahren muss den Gerichten ein Gütesiegel verwahrt bleiben: EuGH (in Schwabenpost) und BGH (in Post II) treffen Entscheidungen, die noch vertretbar sein mögen, aber jegliches Systemverständnis, insbesondere für die problematische post-deregulative Konstellation vermissen lassen, und die weiteres Potenzial bieten, den Incumbent gegenüber dem Newcomer zu bevorzugen. Der Vorwurf der Monopolkommission, die DPAG missbrauche das Markenrecht als bloßes Mittel im Wettbewerbskampf, also zur schlichten Zermürbung von Wettbewerbern, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Zivilgerichte machen der DPAG – aus welchen Gründen mag hier dahingestellt bleiben – den Missbrauch aber auch sehr einfach.

D. Vertragsfreiheit und Ungleichgewichtslagen: Richterliche Gaspreiskontrolle Der dritte Untersuchungskomplex betrifft Streitigkeiten zwischen Verbrauchern und Energieversorgungsunternehmen (EVU) über die Höhe des Gaspreises. Zu dieser Frage hat der Bundesgerichtshof binnen weniger Jahre über 20 Entscheidungen gefällt.

I. Sachliche Problematik Die Konstellation, in welcher der BGH zwischen 2003 und 2012 derart fleißig zu entscheiden hatte, ist die der Energiepreiskontrolle in Streitigkeiten zwischen Energieversorgungsunternehmen und Verbrauchern. Verbraucher weigerten sich, Entgelte für Gaslieferungen zu zahlen, welche sie als unangemessen hoch ansahen. Aus der schieren Zahl der Fälle allein auf BGH-Ebene lassen sich bereits vorab drei Schlüsse ziehen: Erstens scheint die Thematik eine hohe praktische und volkswirtschaftliche Relevanz zu haben. Zweitens gelingt es den Instanzgerichten und dem BGH offenbar nicht, die Fälle so zu ent-

D. Vertragsfreiheit und Ungleichgewichtslagen: Gaspreiskontrolle

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scheiden, dass sich immer weitere Verfahren durch alle Instanzen erübrigen würden. Das bedeutet drittens, dass auch hier offenbar Herausforderungen gegeben sind, die eine wissenschaftliche Betrachtung besonders lohnenswert machen. Die Preiskontrolle wurde nach der Öffnung der Energiemärkte ein Thema für die Zivilgerichte und beleuchtet – anders als die beiden zuvor analysierten post-deregulativen Streitigkeiten – eine post-deregulative Konfliktlage mit Verbraucherbeteiligung. Anders als die vorgenannten Streitigkeiten ist die zivilgerichtliche Energiepreiskontrolle nicht nur in Einzelfällen Gegenstand der rechtswissenschaftlichen Analyse geworden, sondern zum Dauerthema in Zeitschriften, Kommentierungen und Büchern geworden.459 Die hier vorgenommene Analyse ergänzt dieses weite Spektrum in methodischer Hinsicht durch die evolutionäre Betrachtungsweise und die legitimationsorientierte Bewertung.460 Die praktische Relevanz schlägt sich nicht nur in der hohen Anzahl der BGH-Verfahren nieder. Noch eindrucksvoller sind die Zahlen der unterinstanzlichen Gerichte. So wurde im März 2011 berichtet, allein in Hamburg seien 400 Verfahren vor den Gerichten anhängig, in denen Gaspreise überprüft würden.461 Beim Versorger Eon Hanse, so heißt es, hätten 30 000 Kunden den Preisen widersprochen.462 Es handelt sich damit um ein justizielles Massenphänomen: Flächendeckend wurden die Zivilgerichte post-deregulativ mit derartigen Klagen geflutet. Martini formuliert plastisch, es wirke geradezu so, als sei ein „Kampf um jede Heizung und jeden Stromzähler“ und dementsprechend ein „Glaubenskrieg“ um § 315 BGB entbrannt.463 Es gibt keine Hinweise darauf, dass der Gesetzgeber vor der Deregulierung diese Klagewelle antizipiert hätte. Gesetzgeberische Aussagen zur zivilgerichtlichen Preiskontrolle liegen jedenfalls nicht vor. Die Gerichte sind somit nicht nur mit einer materiell diffizilen Thematik konfrontiert, sondern müssen diese auch verfahrensmäßig bewältigen. Dabei spielt es möglicherweise eine Rolle, dass sich Endverbraucher und Energieversorger gegenüberstehen. Auf den ersten Blick könnte hier eine David-gegen-Goliath-Situation erkannt werden, in der eine mit wenigen Ressourcen ausgestattete Kleinstpartei gegen mächtige ehemalige Monopolunternehmen vor Gericht zieht. So wirkt es zunächst als handle es sich um einen für den Verbraucher aussichtslosen Kampf, in dem es zudem 459 Vgl. nur Hirsch in: FS Baudenbacher, 2007, S. 405 ff.; Metzger, ZHR 172 (2008), 458 ff.; Wielsch, JZ 2008, 68 ff.; Zenke/Wollschläger, § 315 BGB: Streit um Versorgerpreise, 2007; Stannek, Anwendung des § 315 BGB auf Gaslieferverträge, 2008; Ehricke, JZ 2005, 599 ff.; Derleder/Rott, WuM 2005, 423 ff.; Büdenbender, NJW 2007, 2945 ff.; Dreher, ZNER 2007, 103 ff. 460 Die Thematik ist skizziert in Podszun in: GJZ, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2011, 2012, S. 305 ff. 461 beck-aktuell, 21.3.2011, unter Berufung auf dpa, becklink 1011414. 462 Der Spiegel, „Verbraucher: Klauseln statt Klartext?“ (Nils Klawitter), Ausgabe 43/2010, S. 58. 463 Martini, DVBl. 2008, 21, 28.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

nur um Streitwerte geht, die für den Verbraucher existentiell, für das EVU jedoch vernachlässigbar scheinen. Dieser Eindruck täuscht jedoch, wie zu zeigen sein wird. Die davidsche Steinschleuder, also die Waffe, mit der eine auch für das EVU beträchtliche Gefahr herbeigeführt werden kann, ist die Außerkraftsetzung des Prinzips der Regulierungsbegrenzung durch Einzelfallentscheidung. Ein einzelnes Kleinstverfahren kann sich für das EVU im Fall des Unterliegens zu einer teuren Präzedenzentscheidung ausweiten, auf die sich zahlreiche Folgeklagen stützen könnten. Hinzu kommen mögliche Reputationsverluste der EVU für den Fall gescheiterter Abwicklungen.

1. Öffnung der Energiemärkte In Deutschland werden pro Jahr ca. 1000 TWh Erdgas für Heizzwecke und zur Stromerzeugung ausgespeist.464 Das entspricht einem Anteil am gesamten Energieverbrauch von etwa 20 Prozent.465 Erdgasförderung findet teilweise in Deutschland statt (vor allem in Niedersachsen), ein Großteil des benötigten Erdgases, etwa 85 Prozent, wird allerdings importiert.466 Erzeuger und Importeure sind angewiesen auf den Transport von Erdgas durch Leitungsnetze. Ziel dieser Transporte sind Erdgasspeicher in Form unterirdischer Hohlräume oder kleinerer Gastürme und Kugelgasbehälter. Von diesen Speichern aus wird das Erdgas weiterverteilt an die Abnehmer von Erdgas, also Industriekunden, private Haushalte, Gewerbe und Handel sowie Kraftwerke. Die Weiterleitung an den Endverbraucher erfolgt ganz überwiegend durch Regional- und Ortsgasverteiler. Hierbei handelt es sich um EVU, meist kommunale Stadtwerke, welche die Gasleitungen auf regionaler und lokaler Ebene verwalten und mit Anschlussleitungen Gas in die jeweiligen Haushalte transportieren. Diese EVU sind klassischerweise Querverbundunternehmen, die auch Strom- und Wasserversorgung übernehmen. Großkunden, etwa energieintensive Industrieunternehmen, verfügen teilweise über eigene Zugangsnetze und verhandeln individuelle Gaslieferungsverträge. Gegenstand der Betrachtung in diesem Kapitel sind vor allem Gaslieferverträge mit privaten Haushalten, soweit nicht die Rechtsprechung zu Sonderkundenverträgen die Rechtslage für Haushaltskunden (sog. Tarifkunden) beeinflusst hat. Rechtliche Grundlage der Gasversorgung in Deutschland ist das 1935 erstmals in Kraft getretene EnWG, das zum Entstehungszeitpunkt von dem Motiv der Daseinsvorsorge geleitet wurde, und das bis 1998 in wesentlichen Teilen unverändert in Kraft blieb. In der 1935 verabschiedeten (später gestrichenen) Präambel wurden die Grundvorstellungen des Gesetzgebers niedergelegt: 464 465 466

Vgl. Bundesnetzagentur, Monitoringbericht 2011, 2011, S. 188. Vgl. Monopolkommission, Energie 2011, 2011, Ziff. 99. Monopolkommission, Energie 2011, 2011, Ziff. 114.

D. Vertragsfreiheit und Ungleichgewichtslagen: Gaspreiskontrolle

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„Um die Energiewirtschaft als wichtige Grundlage des wirtschaftlichen und sozialen Lebens im Zusammenwirken aller beteiligten Kräfte der Wirtschaft und der öffentlichen Gebietskörperschaften einheitlich zu führen und im Interesse des Gemeinwohls die Energiearten wirtschaftlich einzusetzen, den notwendigen öffentlichen Einfluss in allen Angelegenheiten der Energieversorgung zu sichern, volkswirtschaftlich schädliche Auswirkungen des Wettbewerbs zu verhindern, einen zweckmäßigen Ausgleich durch Verbundwirtschaft zu fördern und durch all dies die Energieversorgung so sicher und billig wie möglich zu gestalten, hat die Reichsregierung das folgende Gesetz beschlossen, das hiermit verkündet wird.“467

Einheitliche Steuerung, Vermeidung von Wettbewerb, Gemeinwohlinteresse und Verbundwirtschaft sind Topoi, die in der Energiewirtschaft bis heute nachwirken. Die Regelungen waren darauf ausgerichtet, mit Hilfe von ausschließlichen Konzessionen und Demarkationsabreden geschlossene Versorgungsgebiete mit Anschluss- und Versorgungspflicht für die EVU zu schaffen. Das Verhältnis zwischen EVU und Endkunde war Gegenstand staatlicher Aufsicht und Kontrolle. Insbesondere hatte der Wirtschaftsminister gemäß § 7 EnWG a.F. das Recht, die Tarifpreise und die Versorgungsbedingungen zu gestalten. Dem war der Gesetzgeber durch Erlass der Bundestarifordnung Gas (BTOGas) nachgekommen. Die quasi wettbewerbslose Situation änderte sich auch durch das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen ab 1958 nicht, da in dessen § 103 a.F. eine Bereichsausnahme für die Energiewirtschaft vorgesehen war. Die leitungsgebundene Energieversorgung mit Elektrizität und Gas wurde erst durch die Elektrizitätsbinnenmarkt-Richtlinie 96/92/EG468 und die 1998 folgende Reform des EnWG liberalisiert.469 Spätere europäische Vorgaben waren enthalten in den Richtlinien 98/30/EG über den Erdgasbinnenmarkt470, abgelöst durch RL 2003/55/EG471, die wiederum ersetzt wurde durch die RL 2009/73/EG472.473 RL 2008/92/EG474 ist dezidiert der Preistransparenz gewidmet. Verordnungen betreffen technische Fragen der Gasweiterleitung und

467

Gesetz zur Förderung der Energiewirtschaft vom 13.12.1935, RGBl. I S. 1451. Richtlinie 96/92/EG betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt, ABl. L Nr. 27 S. 20 ff. vom 30.1.1997. 469 Vgl. Büdenbender, RdE 1999, 1 ff. 470 Richtlinie 98/30/EG betreffend gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt, ABl. L Nr. 204 S. 1 ff. vom 21.7.1998. 471 Richtlinie 2003/55/EG über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30/EG, ABl. L Nr. 176 S. 57 ff. vom 15.7.2003. 472 Richtlinie 2009/73/EG über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG, ABl. L Nr. 211 S. 94 ff. vom 14.8.2009. 473 Vgl. Däuper in: Zenke/Wollschläger, § 315 BGB: Streit um Versorgerpreise, 2007, S. 144 ff. 474 Richtlinie 2008/92/EG zur Einführung eines gemeinschaftlichen Verfahrens zur Gewährleistung der Transparenz der vom industriellen Endverbraucher zu zahlenden Gas- und Strompreise, ABl. L Nr. 298 S. 9 ff. vom 7.11.2008. 468

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

Versorgungssicherheit475 sowie die Gründung einer Agentur für die Kooperation der nationalen Regulierungsbehörden476. Das Ziel der Liberalisierungsbemühungen war die Stärkung des Wettbewerbs, mit der die Hoffnung auf eine Steigerung der Effizienz in diesem wichtigen volkswirtschaftlichen Sektor und eine Senkung der Verbraucherpreise verknüpft war. Vision der europäischen Deregulierungsbemühungen ist der „Energiebinnenmarkt“ (Erwägungsgrund 2 der RL 96/92/EG), auf dem der Endverbraucher die Auswahl zwischen verschiedenen Energieanbietern aus ganz Europa hat. Wegen der nicht ohne unverhältnismäßige Kosten duplizierbaren Infrastruktur der Gasnetze stellen sich vor allem zwei Herausforderungen: Erstens ist die Einspeisung in das jeweilige Gasnetz auch für Anbieter aus dem Ausland zu ermöglichen. Hierzu müssen die Grenzkuppelstellen zwischen verschiedenen nationalen Netzen angepasst werden. Zweitens ist sicherzustellen, dass die Netzbetreiber ihre Hoheit über das Transportsystem nicht ausnutzen, um die Durchleitung des Gases von Wettbewerbern zu erschweren. Für die Bewältigung dieser Herausforderungen sorgen nationale Regulierungsbehörden, also in Deutschland die Bundesnetzagentur. Die Richtlinie 96/92/EG ließ getreu dem Subsidiaritätsprinzip den Mitgliedsstaaten erheblichen Spielraum bei der Umsetzung des Energiebinnenmarkts. Als Deutschland das EnWG 1998 zur Umsetzung schuf, wurde der Zweck des Gesetzes in § 1 EnWG eindeutig öffentlich-rechtlich und mit klaren Schwerpunkten definiert: „Zweck des Gesetzes ist eine möglichst sichere, preisgünstige und umweltverträgliche leitungsgebundene Versorgung mit Elektrizität und Gas im Interesse der Allgemeinheit.“

Sicherheit, Günstigkeit und Umweltverträglichkeit, jeweils abgestimmt auf die Interessen der Allgemeinheit, waren demnach die Leitmotive des Gesetzgebers für die Energieversorgung. Bezüglich der Durchleitung setzt der Gesetzgeber in § 6 EnWG 1998 auf den sog. verhandelten Netzzugang, also ein Modell, das auf Vereinbarungen der Netzbetreiber und Netznutzer basieren sollte und mit Hilfe einer sog. Verbändevereinbarung umgesetzt wurde.477 Die BTOGas wurde – anders übrigens als die parallele Bundestarifordnung Elektrizität für den Strom-Bereich (Rechtsgrundlage: § 11 Abs. 1 EnWG 1998) – 475 Vgl. VO 715/2009 über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungen und zur Aufhebung der VO 1775/2005, ABl. L Nr. 211 S. 36 vom 14.8.2009, sowie VO 994/ 2010 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Erdgasversorgung und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/67/EG, ABl. L Nr. 295 S. 1 ff. vom 12.11.2010. 476 VO 713/2009 zur Gründung einer Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden, ABl. L Nr. 211 S. 1 ff. vom 14.8.2009. 477 Vgl. Däuper in: Zenke/Wollschläger, § 315 BGB: Streit um Versorgerpreise, 2007, S. 144 f.

D. Vertragsfreiheit und Ungleichgewichtslagen: Gaspreiskontrolle

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1998 außer Kraft gesetzt. Versorgungsbedingungen unterlagen, auch für den Gassektor, gemäß § 11 Abs. 2 EnWG 1998 weiterhin der staatlichen Kontrolle, die Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Gasversorgung von Tarifkunden (AVBGasV) vom 21. Juni 1979 galt fort. Die Ausnahmeregelung des § 103 GWB wurde aufgehoben. Die nächste bedeutende Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen erfolgte 2005.478 Der Zweck des EnWG wurde in § 1 nunmehr mit anderen Akzenten als sieben Jahre zuvor definiert: „(1) Zweck des Gesetzes ist eine möglichst sichere, preisgünstige, verbraucherfreundliche, effiziente und umweltverträgliche leitungsgebundene Versorgung der Allgemeinheit mit Elektrizität und Gas, die zunehmend auf erneuerbaren Energien beruht. (2) Die Regulierung der Elektrizitäts- und Gasversorgungsnetze dient den Zielen der Sicherstellung eines wirksamen und unverfälschten Wettbewerbs bei der Versorgung mit Elektrizität und Gas und der Sicherung eines langfristig angelegten leistungsfähigen und zuverlässigen Betriebs von Energieversorgungsnetzen. (3) Zweck dieses Gesetzes ist ferner die Umsetzung und Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet der leitungsgebundenen Energieversorgung.“

Effizienz und Verbraucherfreundlichkeit traten als Parameter nun ebenso neben die bereits aus dem EnWG 1998 bekannten Ziele wie auch die Bezugnahme auf wirksamen und unverfälschten Wettbewerb sowie den europäischen Rechtsrahmen. Von dieser Novellierung sollte ein weiterer Liberalisierungsschub ausgehen. Insbesondere wurde der verhandelte Netzzugang, der auf die Mitwirkung des etablierten Betreibers gesetzt hatte, aufgegeben und durch staatliche Regulierung und Netzentgeltgenehmigungspflichten ersetzt. Der Zugang zum Gasnetz wurde erleichtert. Größere Unternehmen unterliegen Unbundling-Verpflichtungen. Die AVBGasV wurde durch die Gasgrundversorgungs-Verordnung (GasGVV) vom 26.10.2006 ersetzt. Die StrompreisRegulierung wurde aufgegeben. Auch das Messwesen wurde dereguliert. 2011 erfolgten weitere Änderungen im EnWG. An dieser Stelle sind nur zwei Neuerungen erwähnenswert: § 41 Abs. 1 Satz 1 EnWG statuiert die Pflicht, dass Energielieferverträge mit Haushaltskunden „einfach und verständlich“ sein müssen, eine Pflicht, die angesichts der bereits im nächsten Satz aufgeführten Mindestinhalte Juristen zumindest einige Reduktions- und Redaktionskunst abverlangen dürfte.479 Die Norm ist aber Ausdruck eines gesetzgeberischen Bemühens, Verbraucherinteressen in der Energie-Regulierung besser zu berücksichtigen. Neu ist zudem, dass Verbraucherbeschwerden gemäß § 111a EnWG von einer nach § 111b EnWG einzurichtenden Schlich-

478 Vgl. Stumpf/Gabler, NJW 2005, 3174 ff.; Kühne/Brodowski, NVwZ 2005, 849 ff.; Däuper in: Zenke/Wollschläger, § 315 BGB: Streit um Versorgerpreise, 2007, S. 148 ff. 479 Kritisch auch Lange, RdE 2012, 41, 44 f. und 47: „unreflektiert“.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

tungsstelle entschieden werden können.480 Die 2011 eingerichtete Schlichtungsstelle Energie, deren erster Ombudsmann Dieter Wolst ist, ehemaliger Richter im VIII. Senat des BGH, soll Beschwerden von Verbrauchern gegen EVU schnell (= innerhalb von drei Monaten), kostenlos und unbürokratisch lösen. Die Anerkennung der Schlichtungsstelle Energie erfolgte gemäß der Empfehlung der Kommission zu Einrichtungen für die außergerichtliche Beilegung von Verbraucherstreitigkeiten.481 Die Schlichtungsstelle kann Fälle bearbeiten, in denen sich Verbraucher i.S.d. § 13 BGB erfolglos an Unternehmen gewendet haben, und welche „den Anschluss an das Versorgungsnetz, die Belieferung mit Energie sowie die Messung der Energie betreffen“ (§ 111a EnWG). Umfasst sind damit auch Streitigkeiten über die Energiepreise.482 Nach Auskunft der am 1.11.2011 konstituierten Schlichtungsstelle wird die Möglichkeit, Streitigkeiten statt vor Gericht über den Schlichtungsweg auszutragen, von Verbrauchern wie Unternehmen sehr offen angenommen.483 Inzwischen liegen eine Verfahrens- und eine Kostenordnung vor.484 Eine erste formelle Empfehlung (zur Auszahlung von Boni an Verbraucher trotz Vertragsende) sprach der Ombudsmann am 30.12.2011 aus.485 Dass der Wettbewerb sich nur sehr langsam im Energiesektor Bahn brach, ist allgemein bekannt. Ein wesentlicher Faktor dafür ist die historisch gewachsene, starke Stellung der EVU. Ihre vertikale Integration ist eine Spätfolge der früheren Marktverhältnisse, in denen die großen Ferngasunternehmen nicht nur sämtliche Leistungen aus einer Hand anboten, sondern ihre Marktstellung zudem durch ausschließliche Konzessionen und Demarkationsabreden absicherten. Bis 1998 waren dadurch Ferngasunternehmen wie die Ruhrgas AG auf fast allen Marktstufen tätig. Insbesondere Förderung und Import sowie Transport und Speicherung lagen in den Händen dieser Unternehmen, die zum Teil gemischt-wirtschaftlich organisiert waren (also als frühe Public Private Partnerships). Privatisierungen fanden allerdings früher als in den Bereichen Post und Telekommunikation statt. So wurde die 1923 gegründete VIAG, in der Industriebeteiligungen des Deutschen Reichs gebündelt wurden, 1988 vollständig privatisiert. Die lokalen Weiterverteiler, die Stadtwerke, sind hingegen heute noch zu einem Großteil in städtischem Eigentum. Allein480

Dazu Lange, RdE 2012, 41, 42 f.; Theobald/Gey-Kern, EuZW 2011, 896, 898; Brändle, VW-Online, Dok.-Nr. 11001050, S. 17 ff. 481 KOM, 30.3.1998, Empfehlung betreffend die Grundsätze für Einrichtungen, die für die außergerichtliche Beilegung von Verbraucherrechtsstreitigkeiten zuständig sind, 98/257/EG. 482 Vgl. Theobald/Gey-Kern, EuZW 2011, 896, 898. 483 Vgl. Schlichtungsstelle Energie, Tätigkeitsbericht 2011, 2011, S. 6. 484 Abrufbar unter http://www.schlichtungsstelle-energie.de/fileadmin/Download/Verfahrensordnung.pdf; http://www.schlichtungsstelle-energie.de/fileadmin/Download/Kostenordnung_Schlichtungsstelle_19.09.2011-Gruendung-.pdf. 485 Vgl. Empfehlung vom 30.12.2011, abrufbar unter http://www.schlichtungsstelle-energie.de/fileadmin/Download/30.12.2011-Empfehlung_des_Ombudsmannes_zur_ Wirksamkeit_allgemeiner_Gesch%C3%%A4ftsbedingungen.pdf.

D. Vertragsfreiheit und Ungleichgewichtslagen: Gaspreiskontrolle

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gesellschafterin der Stadtwerke München GmbH, die u.a. die Gasversorgung in München übernimmt, ist beispielsweise die Stadt München. An vielen anderen kommunalen EVU haben die großen Energiekonzerne allerdings Beteiligungen erworben. Eine gegenläufige Tendenz leitete erst ein Strategiewechsel der Eon ein, die sich – auch unter dem Eindruck kartellamtlicher Entscheidungen486 – von Stadtwerksbeteiligungen trennte und ihre Tochter Thüga an ein Konsortium verkaufte, das die Rekommunalisierung betreibt.487 Erst in den letzten Jahren ist es, nicht zuletzt auf Druck der Wettbewerbsbehörden, zu einer Auflösung der vertikalen Integration im Energiesektor gekommen.488 Eine Vorstufe zur Entflechtung im Energiesektor ist das „Unbundling“, das seit der Reform des EnWG 2005 die Energiekonzerne zwang, ihre Geschäftsfelder innerhalb des Konzerns voneinander zu trennen, sodass Geschäftsdaten nicht mehr zwischen Erzeugungs-, Netz- und Vertriebsbereich ausgetauscht werden können.489 So soll ohne eine komplette Desinvestition die Unabhängigkeit der Geschäftsfelder hergestellt werden, sodass im Geschäftsverhalten die Integration nicht mehr spürbar ist. Die Öffnung der Geschäftsfelder wurde teilweise torpediert durch die Genehmigung von Zusammenschlüssen zwischen nationalen Energieunternehmen, die zu erheblicher Marktmacht führten. So erlaubte die Europäische Kommission 2000 die Fusion von VEBA und VIAG zu Eon. Mit Hilfe einer Ministererlaubnis nach § 42 GWB konnte Eon 2003 die Ruhrgas AG übernehmen und damit auch die erste Marktstufe voll in den Konzern integrieren. Wettbewerbsimpulse gehen von Energiehändlern aus, die sich auf Handelsgeschäfte an Energiebörsen spezialisiert haben. Das Bundeskartellamt unterscheidet die verschiedenen Märkte im Gassektor nach Handelsstufen (Großhandel und Einzelhandel) sowie auf diesen Stufen wiederum nach unterschiedlichen Abnehmern (auf Großhandelsstufe: Lieferung an andere Ferngasgesellschaften sowie Lieferung an regionale und lokale Weiterverteiler; auf Einzelhandelsstufe: Lieferung an Industriekunden sowie an Haushalts- und Kleingewerbekunden).490 Räumlich wird nach den Netzgebieten der nach § 36 Abs. 2 EnWG bestimmten Grund-

486 Insbesondere die Untersagung der Beteiligung von Eon an den Stadtwerken Eschwege markierte die weiterhin kritische Einstellung von BKartA, OLG Düsseldorf und BGH zu der Beteiligung der großen Energiekonzerne an Stadtwerken, vgl. BGH, 11.11.2008, Az. KVR 60/ 07, WUW/E DE-R 2451 – Eon/Eschwege, sowie nachfolgend BKartA, 6.7.2009, Az. B8–96/08, WuW/E DE-V 1780 – EnBW/EWE. 487 Vgl. BKartA, 30.11.2009, Az. B8–107/09, abrufbar unter www.bundeskartellamt.de/ wDeutsch/download/pdf/Fusion/Fusion09/B8–107–09.pdf; vgl. Monopolkommission, Energie 2011, 2011, Ziff. 29 ff. 488 Zum Verhältnis von Energiewirtschafts- und Kartellrecht siehe Kühne in: FS Salje, 2013, S. 295 ff. 489 Vgl. Säcker, RdE 2005, 85 ff. 490 Vgl. Monopolkommission, Energie 2009, 2009, Ziff. 127 m.w.N.; dies., Energie 2011, 2011, Ziff. 144 ff.

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versorger abgegrenzt.491 Obwohl die Gasmärkte aus verschiedenen Gründen etwas wettbewerbsorientierter sind als der Strom-Markt,492 ist die Branche vermachtet und noch kein Musterbeispiel für einen Wettbewerbsmarkt. Die Monopolkommission schreibt in ihrem Gutachten zur Gasbranche 2009: „Im wettbewerbsökonomischen Sinne weisen die Marktverhältnisse aktuell nach wie vor keinen funktionsfähigen Wettbewerb auf.“493 Ihre Hoffnung setzt sie auf den Druck, der von Verbrauchern durch Wechsel des Gasanbieters ausgeübt werden kann. Verbraucher können ihren Gaslieferanten wechseln. Aufgrund der Durchleitungsverpflichtungen der Netzbetreiber wird es so möglich, unter den Angeboten der verschiedenen Gasversorger zu wählen. Von dieser Möglichkeit machen die Haushaltskunden allerdings nur zurückhaltend Gebrauch, weshalb der Gesetzgeber in § 20a EnWG eine Drei-WochenFrist vorgesehen hat, innerhalb derer die Unternehmen einen Lieferantenwechsel des Kunden vollzogen haben müssen. Für das Jahr 2010 hat die Bundesnetzagentur etwa 900 000 Lieferantenwechsel-Fälle festgestellt, was bei einer Gesamtzahl von 13,5 Mio. Letztverbrauchern eine Wechselquote von 6,7 Prozent ergibt, die wiederum etwa 10,8 Prozent der Gesamtausspeisemenge an Erdgas entspricht.494 Das bedeutet, dass in erster Linie Kunden mit überdurchschnittlichem Gasverbrauch den Lieferanten wechseln. Trotz dieser relativ geringen Wechselzahlen setzt die Monopolkommission für die künftige Entwicklung der Märkte nicht etwa auf eine durch hoheitliche Eingriffe veranlasste Verbesserung der Marktstruktur, sondern auf den Letztverbraucher: „Der Konzentration des Gasangebots auf wenige Unternehmen ist nur schwer entgegenzutreten. Die Monopolkommission sieht daher die Endkundenmärkte als besonders wichtige Impulsgeber für einen wettbewerblich orientierten Gasmarkt an.“495

Die Nachfrager, sprich: die Verbraucher, sollen also den Wettbewerbsdruck erzeugen, der nach über einer Dekade Deregulierung noch nicht im wünschenswerten Maß eingetreten ist. Was ist das anderes, als das Eingeständnis, dass die Gesetzgeber, die Europäische Kommission, Bundeskartellamt und Bundesnetzagentur mit ihren Mitteln die Vermachtung der Energiemärkte nicht aufheben können? Es hängt an den individuellen Entscheidungen der Akteure. Die Monopolkommission setzt damit konsequent auf die Wende zum Privatrecht. 491

Vgl. Monopolkommission, Energie 2009, 2009, Ziff. 128., dies., Energie 2011, 2011, Ziff.

147. 492

Vgl. Vossebein, Energierechtsreform, 2004, S. 88 ff. Monopolkommission, Energie 2009, 2009, Ziff. 128. 494 Vgl. Bundesnetzagentur, Monitoringbericht 2011, 2011, S. 199 f. Die hier angegebenen Prozentzahlen sind immerhin erheblich höher als früher gemessene. So wurde für das Jahr 2007 nur von 1 Prozent aller Letztverbraucher ein Lieferantenwechsel vorgenommen, vgl. Monopolkommission, Energie 2009, 2009, Ziff. 142. 495 Monopolkommission, Energie 2011, 2011, Ziff. 19. 493

D. Vertragsfreiheit und Ungleichgewichtslagen: Gaspreiskontrolle

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2. Preisbildung und Preiskontrolle Wesentlicher Parameter für das Nachfrageverhalten des Kunden ist der Preis. Dies gilt in doppelter Hinsicht: Zum einen ist der günstige Preis sichtbares Ergebnis effizienter Marktstrukturen und primäres Interesse des Verbrauchers. Zum anderen ist ein überhöhter Preis der Anlass für Lieferantenwechsel und damit für die Entfachung von Wettbewerb in der Weise, die sich die Monopolkommission vorstellt. Der Gaspreis betrug laut Bundesnetzagentur zum 1.4.2011 für Haushaltskunden mit Tarif in der Grundversorgung im Durchschnitt 6,64 Cent/kWh. Haushaltskunden, die bei ihrem bisherigen Anbieter verblieben waren, aber bei diesem den Tarif gewechselt hatten, konnten den Preis auf 6,11 Cent/kWh senken. Wechselten sie den Lieferanten komplett, zahlten sie im Durchschnitt nur 6,06 Cent/kWh. Bei einem Durchschnittsverbrauch von 20 000 kw im Jahr hat ein Haushaltskunde im Jahr 2011 also etwa Kosten in Höhe von 1.328 Euro im Grundversorgungstarif zu tragen. Der Gaspreis setzt sich zusammen aus verschiedenen Bestandteilen. Am Beispiel des Grundversorgungstarifs gibt die BNetzA folgende Bestandteile (in Cent/kWh) an:496 Energiebeschaffung und –vertrieb: Steuern (Gas- und Umsatzsteuer): Konzessionsabgabe: Abrechnung, Messung und Messstellenbetrieb: Nettonetzentgelt:

3,34 (= 50,3 Prozent) 1,64 (= 24,7 Prozent) 0,24 (= 3,61 Prozent) 0,13 (= 1,96 Prozent) 1,29 (= 19,42 Prozent)

Zwischen 2006 und 2009 waren die Preise kontinuierlich angestiegen, 2010 kam es zu einem erheblichen Preisrückgang. 2011 stieg der Gaspreis wieder, erreichte aber nicht das Niveau des Jahres 2009.497 Zu diesem Gaspreis (Arbeitspreis) kommt ein regelmäßig geringer Grundpreis, der die Fixkosten des Gasanbieters abdecken soll. Während die Netzentgelte von der Bundesnetzagentur genehmigt werden, werden die Konzessionsabgabe an die Gemeinde abgeführt. Die Steuern (Erdgassteuer (auf Basis der Mineralölsteuer) einschließlich Ökosteuer und Umsatzsteuer in voller Höhe) werden vom Gesetzgeber erhoben. Eine Besonderheit des größten Teils des Gaspreises ist die jahrzehntelange Bindung des Gaspreises an den Ölpreis, die sog. Gas-ÖlpreisKopplung. Danach folgte der Gaspreis im Abstand von drei bis sechs Monaten der Entwicklung des Preises für Erdöl. Diese in den AGB der Versorger enthaltene Bindung wurde 2010 vom BGH für unzulässig, weil den Kunden einseitig benachteiligend (§ 307 Abs. 1 BGB), erklärt.498 Die Verbraucherendpreise für leitungsgebundene Energie wurden vor der Deregulierung der Energiewirtschaft öffentlich-rechtlich überprüft. Verfahren 496 497 498

Bundesnetzagentur, Monitoringbericht 2011, 2011, S. 67 f. Vgl. ebd. BGH, 24.3.2010, Az. VIII ZR 178/08, NJW 2010, 2789 ff.

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wie die hier untersuchten zivilgerichtlichen Konfliktlösungen entstanden vor 1998 kaum, da es eine gesetzlich geregelte behördliche Kontrolle der Gaspreise gab. Bis 1998 (für Gas) bzw. 2007 (für Strom) segneten die zuständigen Landesbehörden ex ante die Tarifwerke der Energieversorger ab, basierend auf dem Energiewirtschaftsrecht samt entsprechender Verordnungen.499 Neben der in diesem Kapitel thematisierten Preiskontrolle durch Zivilgerichte mit Hilfe von § 315 BGB auf Betreiben von Verbrauchern gibt es noch weitere Kontrollen des Gaspreises. Die Bundesnetzagentur überprüft die Netznutzungsentgelte gemäß §§ 21, 21a, 23a, 24, 29 EnWG. Netznutzungsentgelte sind die Durchleitungsentgelte, die der Inhaber einer Pipeline einem Gas-Anbieter in Rechnung stellt, dessen Energie durch die Pipeline geleitet wird.500 Bei der Netznutzung stellen sich in ganzer Tiefe die Probleme des Regulierungsrechts: Es liegt mit dem Netz eine nicht in wirtschaftlicher Form duplizierbare Infrastruktur vor, auf dessen Nutzung die Anbieter von Energielieferungen angewiesen sind. Häufig sind die Netzbetreiber vertikal integriert und somit Wettbewerber der Lieferanten. Schließlich stellt sich die Frage, an welchen Maßstäben sich eine Regulierung solcher Preise orientieren soll – eine Gretchenfrage der Marktordnung. Immerhin basiert die gesamte Marktwirtschaft auf dem Prinzip, dass sich der Preis in Angebot und Nachfrage selbständig bildet. Liegt – wie im Fall der Pipeline – eine Monopolsituation vor, sind diese Mechanismen außer Kraft gesetzt. Wie der Staat sie ersetzen kann, ist umstritten, da aufgrund von Informationsdefiziten und angemessener Zurückhaltung des Staates bei der Preissetzung unklar ist, welche Kosten und Vergleichsmaßstäbe berücksichtigt werden sollen. In letzter Zeit hat die Anreizregulierung an Boden gewonnen, vgl. § 21a EnWG. Deren Ziel ist es, durch Regulierungsmaßnahmen Anreize für eine effiziente Leistungserbringung zu setzen.501 Diese Entgeltkontrolle entfaltet für die Verbraucheranfechtung von Preisen in zweifacher Hinsicht Relevanz. Zum einen fließt das Netzentgelt in den Gesamtpreis ein. Zum anderen sind die durch die Regulierungsbehörde entwickelten Maßstäbe ein denkbares Vorbild für eine zivilgerichtliche Preiskontrolle. Immerhin ist die BNetzA mit ökonomischem Sachverstand gerüstet und zielt auf eine wettbewerbliche Orientierung des Gasmarktes.

499 Vgl. zum alten Recht Danner in: Danner/Theobald, Energierecht, 2010, Einführung, Rn. 62; Salje, NVwZ 1998, 915, 922; Kühne/Scholtka, NJW 1998, 1902; Baur/Herrmann, BB 2000, Beil. 6, 10; Ebel, Preisgestaltung im neuen Energiewirtschaftsrecht, BB 2000, Beil. 6, 15, 18; kritisch zur damaligen Monopolpreisrechtsprechung nach § 315 BGB: Röhl, VerwArch 86 (1995), 531, 550. 500 Vgl. die Überblicksdarstellungen bei Martini, DVBl. 2008, 21 ff.; Metzger, ZHR 172 (2008), 458, 460 ff.; Theobald in: Zenke/Wollschläger, § 315 BGB: Streit um Versorgerpreise, 2007, S. 167 ff.; Bausch/Rufin, ZUR 2005, 471, 475; Scholtka, NJW 2005, 2421, 2425. 501 Vgl. umfassend Berndt, Anreizregulierung in den Netzwirtschaften, 2011.

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Neben der regulierungsbehördlichen Entgeltkontrolle, die sich ausschließlich auf die Durchleitungsentgelte bezieht, also den Teil an Kosten, der durch das natürliche Monopol nicht in einem wettbewerblichen Rahmen gefunden werden kann, kann auch Kartellrecht mit Bezug auf die Preissetzung eingreifen. Das Kartellrecht ist auf jene Preisbestandteile anwendbar, die sich im Wettbewerb bilden können, also die Kosten für Energiebeschaffung und -vertrieb sowie für das Abrechnungs- und Messwesen.502 Kommt es zu Preisabsprachen oder zu Missbräuchen von marktbeherrschenden Stellungen, etwa durch die Diskriminierung von Abnehmern, greifen die kartellrechtlichen Regeln (Art. 101, 102 AEUV bzw. §§ 1, 19, 20 GWB). Seit 2007 enthält § 29 GWB zudem eine verschärfte Kontrollnorm, die das Preisstellungsverhalten von EVU einer besonders strengen kartellbehördlichen Aufsicht unterwirft. Als eine spezielle Ausgestaltung des Missbrauchsverbots erleichtert diese Norm das Vorgehen gegen EVU, die ihre marktbeherrschende Stellung ausnutzen und von Abnehmern überhöhte Preise verlangen. Das Bundeskartellamt hat mehrere Verfahren nach § 29 GWB durchgeführt und EVU zu Preissenkungen bzw. Rückzahlungen an Verbraucher verpflichtet.503 Private Kläger können sich zwar theoretisch auf § 29 GWB stützen, die Norm verschafft ihnen aber nicht die erwünschten Beweiserleichterungen, sodass privat initiierte Verfahren nach § 29 GWB bislang nicht bekannt geworden sind.504 Die Norm war schon bei ihrer Einführung wirtschaftspolitisch heftig umstritten.505 Gegner des § 29 GWB befürchten insbesondere, dass das kartellamtliche Eingreifen quasi zu staatliche Preissetzungen in Bereichen führt, die eigentlich schon wettbewerblich organisiert sind. Eine starke Rechtsdurchsetzung könne zudem die dringend benötigten Markteintritte von Newcomern erschweren, denen die Chance genommen wird, sich gegen überteuerte Incumbents im Markt zu positionieren. Die heftigen Diskussionen um die Preisbildung im Wettbewerb und die Möglichkeit staatlicher Eingriffe zeigt, in welches Minenfeld sich die Zivilgerichte begeben, wenn sie auf Klagen hin die Höhe des Gaspreises überprüfen müssen.

3. Konflikte mit Energieverbrauchern In den in diesem Kapitel analysierten Konflikten stehen sich nicht Wettbewerber, ja nicht einmal Unternehmen gegenüber, sondern Verbraucher und Unternehmen. Diese Konstellation weitet den Blick dafür, dass die Wirtschafts502 Vgl. Metzger, ZHR 172 (2008), 458, 463 ff.; zur Anwendung des europäischen Kartellrechts auf die Energiemärkte Scholz/Purps, 1 JECLP 37 ff. (2010). 503 Vgl. Lücke in: Langen/Bunte, Kartellrecht, Band 1, 2011, § 29 Rn. 2. 504 Die Beweislastkehr in § 29 Abs. 1 Nr. 1 GWB gilt ausdrücklich nur für behördliche Verfahren. 505 Vgl. Homann/Balzer/Pohlmann, ZRP 2008, 31.

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ordnung nicht nur die Marktentscheidungen von unternehmerisch tätigen Personen strukturiert, sondern auch die der Endverbraucher. Gerade sie sollen von der Deregulierung durch Preissenkungen, besseren Service, höhere Kundenorientierung und Innovationen profitieren. Die Gesetzgeber haben im Energiesektor den Verbraucherschutz als wichtigen Maßstab der Gesetzgebung entdeckt. Mit dem EnWG 2005 wurde die verbraucherfreundliche Energieversorgung als Gesetzeszweck nach § 1 EnWG aufgenommen. Wurde der Verbraucherschutz in RL 96/92/EG und RL 98/30/EG noch als Randthema behandelt, erhielt er in der RL 2003/55/EG bereits Erwähnung in Erwägungsgrund 4 und mit Art. 3 dieser RL eine eigene Norm, welche die Mitgliedsstaaten verpflichtet, „geeignete Maßnahmen zum Schutz der Endkunden und zur Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzes zu ergreifen“ (Art. 3 Abs. 3 Satz 1 RL 2003/55/EG). In RL 2009/73/EG steht die Wahlfreiheit des Verbrauchers an erster Stelle in Erwägungsgrund 1, und in Erwägungsgrund 48 heißt es: „Im Mittelpunkt dieser Richtlinie sollten die Belange der Verbraucher stehen“. Gemäß Art. 3 der RL und ihres Anhangs I sieht die Kommission für die Verwirklichung eines solchen Verbraucherschutzniveaus in erster Linie erhöhte Transparenzpflichten und Informationsangebote sowie einen wirksamen und unkomplizierten Streitbeilegungsmechanismus vor. Drei Fragen stellen sich, will man die sachliche Problematik und die Besonderheit der Energiepreiskontrollfälle für die Analyse erfassen: Was kennzeichnet den Verbraucher? Nach welchem Konzept wird seinem Status Rechnung getragen? Welche Spezifika haben sich für den Verbraucherschutz im Energiesektor etabliert? a) Die Stellung des Verbrauchers Die Entdeckung des Verbraucherschutzes als Motiv der Energierechtsgesetzgebung hebt eine der Parteien in einen besonderen Status. Der Ausgangspunkt, dass zivilrechtliche Beziehungen „unter Gleichen“ gelten, wird damit relativiert, andernfalls wäre die Ausweisung einer besonderen Bezeichnung nicht erforderlich. Endkunde oder Endverbraucher ist nach den Richtlinien eine Person, die Erdgas für den Eigenbedarf bezieht (Art. 2 Ziff. 27 RL 2009/ 73/EG). Im deutschen Recht ist der Verbraucher in § 13 BGB legaldefiniert. Für die im Folgenden zu prüfenden Fälle werden nicht als solche deklarierte Verbraucherschutznormen angewendet, sondern allgemeines Zivilrecht (§ 315 BGB). Dennoch strahlt die Verbrauchereigenschaft in die Sachproblematik aus, denn zum einen hängen die Charakteristika der Verbraucherstellung nicht von einer normativen Bestimmung ab, sondern sind lebenstatsächlich vorhanden. Zum anderen kann mit Hilfe einer allgemeinen zivilrechtlichen Streitigkeit unter Beteiligung von Verbrauchern das Verständnis für die verbraucherbezogenen Aspekte der Wirtschaftsordnung vertieft werden. Dieses ist

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angesichts der immer weiter greifenden europäischen Verbraucherrechtsgesetzgebung von hohem Interesse. Das Bundesverfassungsgericht hat durch seine Bürgschaftsentscheidung 1993 vorgegeben, dass die Zivilgerichte die Pflicht haben, Verträge auch inhaltlich zu prüfen, wenn diese das Ergebnis strukturell ungleicher Verhandlungsstärke sind.506 Damit formulierte das BVerfG den Auftrag, die Gewährleistung der Privatautonomie gerichtlich zu sichern, insbesondere über die Generalklauseln des BGB. Das BVerfG folgerte die verfassungsrechtliche Verpflichtung sowohl aus Art. 2 Abs. 1 GG, also der allgemeinen Handlungsfreiheit, als auch aus dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) und berücksichtigte damit sowohl liberale als auch soziale Elemente.507 Die Vertragsfreiheit wurde mit dieser Entscheidung materiell aufgeladen. In der Wissenschaft hat Drexl diese Rechtsprechung so interpretiert, dass die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers Ziel korrektiver Maßnahmen sei.508 Überkommene Polarisierungen im Verbraucherrecht könnten durch Identifizierung regelungsbedürftiger Ungleichgewichtslagen überwunden werden, wobei Drexl das Vertrags- und Marktversagen vor Augen hatte509. Damit blieb ein der liberalen Tradition verpflichtetes Beharren auf dem Zentralwert der Privatautonomie möglich, ohne für tatsächliche Einschränkungen dieser Selbstbestimmung blind zu werden. Auch Vertreter eines eher sozial geprägten Zivilrechtsmodells gehen heute davon aus, dass Verbraucherschutz nur situativ bedingt ist,510 während Vertreter eines eher liberalen Zivilrechtsmodells Verbraucherrecht als Teil eines „Marktrechts“ einordnen, in dem stets die besonderen Fakten herauszuarbeiten sind, um eine Sonderregel zu rechtfertigen.511 In den Energielieferungsverträgen ist ein solches situatives Versagen der freien Aushandlung angelegt. Sie binden den Kunden langfristig an das Energieversorgungsunternehmen, ohne dass – nach erfolgter Bindung – noch ein Kräftegleichgewicht bei der Ausübung der Rechte und Pflichten gegeben wäre. Korrekturbedürfnisse können entstehen, da Situationen struktureller Ungleichheit vorliegen, die mit dem hier vertretenen Modell eines Zivilrechts, das sich durch Freiheit und Gleichordnung auszeichnet, schwer vereinbar sind. Dies setzt eine Analyse voraus (ökonomisches Element), ob ein strukturelles Ungleichgewicht vorliegt. Das Ergebnis der Analyse ist dahingehend zu bewerten, ob rechtlicher Handlungsbedarf besteht (normatives Element). Die Analyse verlangt einen differenzierten Blick, denn der Verbraucher ist nicht in 506

Dazu schon oben, Kapitel 3, C.III.1. BVerfG, 19.10.1993, Az. 1 BvR 567/89, BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36. 507 BVerfG, 19.10.1993, Az. 1 BvR 567/89, BVerfGE 89, 214 = NJW 1994, 36, 38. 508 Drexl, Wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998. 509 Drexl in: Schlechtriem, Wandlungen des Schuldrechts, 2002, S. 97, 120 ff. 510 Micklitz in: MüKo-BGB, 2012, § 13 Rn. 67, 71. 511 Grundmann, AcP 202 (2002), 40, 68 f.

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jeder Konstellation seiner Eigenbedarfsbefriedigung ein strukturell unterlegener Verhandlungspartner. In der ersten Auswahlentscheidung ist der Verbraucher typischerweise frei und dem Unternehmer überlegen, wenn es sich um einen wettbewerblich strukturierten Markt mit verschiedenen Angeboten handelt. Diese Freiheit der Auswahl schlägt sich auch auf die wichtigsten Parameter des Vertrags nieder. So wird ein preissensitiver Verbraucher, der die Möglichkeit hat, zwischen verschiedenen Angeboten auszuwählen, dem Unternehmer den Vorzug geben, der ihm das beste Preis-Leistungsverhältnis anbietet. Der Verbraucher ist dann nicht strukturell unterlegen, solange um das Preis-Leistungsverhältnis im Wettbewerb gerungen wird. Verbraucherschutz ist dann nicht erforderlich. Etwas anderes kann sich ergeben, wenn die Anbahnung des Vertragsschlusses in einer Form verläuft, die den Verbraucher unmittelbar in eine schlechtere Position zwingt. So wurde ja beispielsweise beim Direktmarketing auf der Straße argumentiert, wo möglicherweise die Höflichkeit des in der Öffentlichkeit angesprochenen Verbrauchers ausgenutzt wird. Problematisch kann auch der Vertragsschluss bei solchen Parametern sein, die nicht Teil des Preis-Leistungswettbewerbs sind. Zu denken ist an Konditionen: Diese spielen für den Wettbewerb um den Verbraucher, also im Moment der gleichen Stärke, praktisch keine Rolle, da sie für einen rational handelnden Verbraucher in ihrem Wert zu unbedeutend sind, oder weil sie dem Wettbewerb durch Gleichförmigkeit entzogen sind (wie beispielsweise im Kreditwesen). Hier wird der Verbraucher daher in einen Vertrag gezwungen, dessen Nichtabschluss aus Gründen des mangelnden Einverständnisses mit Konditionen für den Verbraucher nicht rational und für die Volkswirtschaft ineffizient wäre. Um dennoch die Parität zu gewährleisten und auch um die Vertragssituation von der aufwändigen Aushandlung solcher Konditionen zu befreien, ist mit den Regelungen zur AGB-Kontrolle eine gesetzgeberische Korrektur erfolgt, die ökonomisch und normativ gerechtfertigt werden kann. Die Situation in den vorliegenden Fällen ist anders: Während bei Vertragsschluss grundsätzlich noch Parität herrscht, verschieben sich die Gewichte bei Vertragsdurchführung und -abwicklung zu Lasten des Kunden, wie sogleich gezeigt wird. Hinzuweisen ist an dieser Stelle noch auf die prozessuale Abwicklung von Streitigkeiten, die sich aus Vertragsbeziehungen mit Verbraucherbeteiligung ergeben. Ökonomisch betrachtet zählen Rechtsdurchsetzungskosten nur selten zu den Parametern, die Verbraucher bei ihrer Auswahl-Entscheidung, in der sie dem Unternehmer regelmäßig gleichwertig oder sogar überlegen gegenüberstehen, berücksichtigen. Lediglich in Bezug auf ausländische Anbieter mag es hier gelegentlich zu der Abwägung kommen, ob der möglicherweise günstige Preis nicht durch die eventuell entstehenden Kosten bei Problemen aufgewogen wird. Für inländische Anbieter stellt sich diese Frage nicht, da die Rechtsverfolgungskosten, zumindest soweit keine Sonderregeln vereinbart werden, regelmäßig identisch, also dem Wettbewerb entzogen sind. Die Ge-

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richts- und Anwaltskosten unterscheiden sich bei inländischen Anbietern grundsätzlich nicht, von Nebenkosten wie Anfahrtswegen zum Gericht abgesehen. Damit liegt eine Situation vor, in der der Verbraucher nicht von seiner ursprünglichen Verhandlungsmacht profitiert. In der prozessualen Situation selbst ist er also auf seine normale Verhandlungsmacht reduziert. Fraglich ist damit, ob sich ein Ungleichgewicht in der Prozesssituation ergibt, auf das die Rechtsordnung reagieren muss. Denn wie das Zivilrecht ist auch das Zivilverfahrensrecht von einem Leitbild aus Freiheit und Gleichordnung bestimmt, das leer bleibt, wenn sich Gleichordnung in einer formalen Rechtsposition erschöpft. Eine typisierte Unterlegenheit des Verbrauchers im Prozess lässt sich allerdings nicht begründen. Wer das Konzept der situativen Bedingtheit der Unterlegenheit zugunsten eines allgemein von der strukturellen Unterlegenheit des Verbrauchers ausgehenden Konzepts bevorzugt, muss auf die konkrete Situation abstellen. Ein Verbraucher ist nicht per se schwächer als das Unternehmen, mit dem er vor Gericht streitet. Verklagt beispielsweise eine vermögende Privatperson ein kleines Einzelhandelsgeschäft oder einen mäßig erfolgreichen selbständigen Handwerker, so lässt sich wohl kaum eine prozessuale Unterlegenheit des Verbrauchers annehmen. Nicht einmal in typisierter Form lässt sich von einer Unterlegenheit des Verbrauchers ausgehen. Selbst wenn ein Verbraucher eine geringere Finanzkraft hat als ein Unternehmer, so ist nicht sicher gesagt, dass der Unternehmer sich problemlos auf den Prozess einlassen kann. Für ihn stehen beispielsweise Reputationskosten im Raum, die ihn veranlassen, Streitigkeiten ohne öffentliches Aufsehen, also vorprozessual, zu erledigen. Dass es Streitigkeiten geben kann, in denen der Verbraucher dem Unternehmer erheblich unterlegen ist, was sich dann auch in seiner prozessualen Stellung spiegelt, nämlich vor allem in seiner Neigung, überhaupt Rechtsschutz zu suchen, diesen über mehrere Instanzen auszufechten und dafür gute Rechtsanwälte zu engagieren, steht außer Frage. Hierbei handelt es sich jedoch um ein grundsätzliches Ungleichgewichtsproblem, das nicht der Verbrauchersituation als solcher eigen ist. b) Konzepte des Verbraucherschutzes Abhängig von der situativen Schutzbedürftigkeit des Verbrauchers oder – ökonomisch gewendet – einem ausgleichsbedürftigen Marktversagen bei Verbrauchergeschäften stellt sich die Frage, auf welche Art das Recht reagiert. Hier haben sich, nach Überwindung von Extrempositionen, zwei in der Praxis verfolgte Modelle herausgebildet. Nach dem Informationsmodell leitet der Gesetzgeber die Marktteilnehmer an, für Transparenz und Information zu sorgen. Der Ausgleich von Informationsdefiziten dient der Ermöglichung einer informierten Verbraucherentscheidung. Dahinter steht die ordnungspolitische Idee, dass strukturelle Ungleichgewichte im Wesentlichen durch Informationsasymmetrien verursacht sind, deren Ausgleich dazu führt, dass in-

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dividuelle Entscheidungen unter bewusster Inkaufnahme von Vor- und Nachteilen getroffen werden können. Das Schutzmodell hingegen postuliert bestimmte substantielle Mindeststandards, die zum Schutz von Verbrauchern eingehalten werden müssen. Hier wird demnach mit Ge- und Verbotsnormen interveniert, die sich nicht nur auf die Information der Marktgegenseite beziehen, sondern die bestimmte Verhaltensweisen sanktionieren, etwa indem Vertragsinhalte korrigiert oder bestimmte Schutzvorstellungen verwirklicht werden. Die beiden sich unterscheidenden Interventionsmuster sind übrigens analog in der UWG-Rechtsprechung zum Direktmarketing bereits sichtbar geworden. Gerichte, die den Verbraucher situativ bedingt für schützenswert ansahen, konnten einerseits argumentieren, dass die überraschende Ansprache in der Öffentlichkeit eine freie und informierte Entscheidung nicht zulässt. Sie folgten dann einem Verbraucherschutzkonzept, das auf dem Informationsmodell gründet. Andererseits konnte die Kritik am Direktmarketing auch damit gerechtfertigt werden, dass in belästigender Weise in die Individualsphäre des Verbrauchers eingegriffen wurde, wodurch ein Mindeststandard an Schutz unterlaufen worden sei. Bei einer solchen Argumentation wurde nicht die freie Entscheidung des Angesprochenen in den Mittelpunkt gestellt, sondern ein substantielles Schutzniveau, das durch allgemeine Verbote abgesichert wird. Es ist leicht zu erkennen, dass ein auf das Informationsmodell gegründetes Verbraucherprogramm liberaler ausfällt als ein solches, das substantielle Schutzmechanismen vorschreibt, was sich gleichfalls an den unterschiedlichen Ergebnissen der oben zitierten UWG-Entscheidungen ablesen lässt. Nach hier vertretener Auffassung ist für den Zivilprozess nicht generell von einer situativ bedingten Verbraucherunterlegenheit im Verfahren auszugehen. Dies sieht auch der Gesetzgeber offenbar so, der nur einige wenige Regelungen vorgesehen hat, die Verbrauchern die Rechtsdurchsetzung erleichtern. Zu nennen sind die Vertretungsbefugnis der Verbraucherverbände (§ 79 Abs. 2 Nr. 2 ZPO), der Schutz vor Gerichtsstandsvereinbarungen (§ 38 ZPO) und das Schriftformerfordernis bei Schiedsvereinbarungen (§ 1031 Abs. 5 S. 1 ZPO) sowie die Begrenzung der Rechtsanwaltsberatungsgebühren (wohlgemerkt außergerichtlich) in § 34 RVG. Hinzu treten Regelungen in EuGVÜ und EuGVVO über die Zuständigkeit. Das UKlaG stellt für verbraucherschützende Vorschriften das besondere Instrument der Unterlassungsklage zur Verfügung. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um ein zivilverfahrensrechtliches Instrument, auf das der individuelle Verbraucher zugreifen kann, sondern um eine Regelung, mit deren Hilfe Verbände die Durchsetzung des Verbraucherschutzes geltend machen können. Hier ist also nicht die situativ bedingte Unterlegenheit eines individuellen Verbrauchers der Anknüpfungspunkt, sondern das Interesse des Gesetzgebers, einen allgemein hohen Verbraucherschutzstandard in der Gesellschaft durchzusetzen. Der ökonomisch nachvollziehbaren Diskriminierung ausländischer Anbieter, die in der EU

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dem Binnenmarktkonzept entgegensteht, versucht die EU abzuhelfen, indem sie mit Regelungen wie denen in Art. 15–17 EuGVVO Gerichtsstände im Inland begründet, die dem Verbraucher zugutekommen. Für Haustürgeschäfte wird ein besonderer Gerichtsstand nach § 29c ZPO begründet.512 In Spezialgesetzen sind zum Teil prozessuale Regeln vorgesehen, etwa die Verbraucherverbandsklage nach § 8 Abs. 3 Nr. 3 UWG. Zusammenfassend lassen sich zwei Folgerungen ziehen: Erstens wird im allgemeinen Zivilprozessrecht nach alledem eine besondere Schutzbedürftigkeit des Verbrauchers aus seiner strukturellen Stellung heraus negiert. Zweitens erfolgt jedoch in Situationen, in denen von einer Verbraucherunterlegenheit auszugehen ist, gelegentlich eine gesetzgeberische Intervention auch im Verfahrensrecht. Ansatzpunkte dafür sind Möglichkeiten zum kollektiven Rechtsschutz durch Verbraucherverbände, Warnfunktionen vor alternativer Streitbeilegung, Kostenbegrenzung und ein Gerichtsstand in Verbrauchernähe. c) Der Energieverbraucher im Besonderen Was bedeuten nun diese Grundlagen zur Stellung des Verbrauchers und den unterschiedlichen Schutzkonzepten für Rechtsstreitigkeiten, in die Energieverbraucher verwickelt sind? Bezieher von Erdgas haben bei Abschluss eines Gaslieferungsvertrags heute grundsätzlich eine Auswahlmöglichkeit und Abschlussfreiheit. Das ist der Erfolg der Aufhebung von ausschließlichen Liefergebieten. Die Liberalisierung hat den Verbraucher damit in die Lage versetzt, eine Auswahl zu treffen und also seiner eigenen Entscheidung einen Sinn zu geben. Dass die Verbraucher von der Auswahl- und Anbieterwechselmöglichkeit nur zurückhaltend Gebrauch machen, wie Monopolkommission und Bundesnetzagentur unisono bedauern, kann normativ nicht anerkannt werden – es fehlt eben schon an der vorgelagerten ökonomischen Diagnose, dass Wettbewerb nicht stattfindet. Zumindest heutzutage ist eine Berücksichtigung der Trägheit von Verbrauchern beim Wechsel des Gasanbieters nicht mehr vorzunehmen. Das mag für die Anfangszeit des Wettbewerbs, als noch keine Erfahrungen mit alternativen Gasanbietern vorlagen, anders zu werten sein. Es sind allerdings mehrere Caveats zu machen: Erstens bringt die Entscheidung für einen Energieträger eine langfristige Bindung mit sich. Hohe Wechselkosten zu einem alternativen Energieträger, etwa eine Umstellung von Erdgas auf Fernwärme oder Strom, wäre in den meisten Fällen unrentabel, da die hohen Kosten für die Anlaufinvestition verloren wären. Zweitens ist der Wettbewerb innerhalb des Gasmarktes noch immer beschränkt durch Marktzutrittshürden, etwa für ausländische Anbieter, die Gas nach Deutschland exportieren möchten, sowie durch Faktoren wie die (früher wirksame) Ölpreis-Kopplung. Drittens betrifft die 512

Vgl. auch § 28 EGZPO (kein Mahnverfahren bei überhöhter Zinsbelastung in Verbraucherkreditverträgen).

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große Mehrheit der hier untersuchten Fälle Tarifstreitigkeiten, die auf der Übertragung von Kundenbeziehungen aus der Monopolzeit in die post-deregulative Phase basieren. Die bestehenden Kundenbeziehungen wurden auch nach der Öffnung der Energiemärkte fortgesetzt, ohne dass es zu einer Aushandlung von Verträgen gekommen wäre. Stattdessen wurde getreu den einst meist nicht einmal vereinbarten Konditionen schlicht weiterbeliefert. Die frühere Monopolsituation wirkt demnach fort. Das lässt sich an der marktbeherrschenden Stellung ablesen, die nach kartellrechtlichen Maßstäben (§ 19 GWB) den Unternehmen attestiert werden muss, die auf der Gegenseite stehen. Damit wirkt in den Fällen, die als „übertragene Altfälle“ zu apostrophieren sind, die Monopolsituation auch in der prozessualen Situation fort, und es ist zumindest vertretbar, eine situativ unterlegene Stellung des auf den etablierten Betreiber angewiesenen Verbrauchers zu diagnostizieren. Dieser war nämlich zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses (den es in der prä-deregulativen Zeit so gar nicht gab) auf die Versorgung durch den Monopolisten angewiesen und konnte also keine Verhandlungsmacht aus Auswahlmöglichkeiten schöpfen. In gewisser Weise wirkt diese Konstellation in der Prozesssituation fort, auch wenn diese zu Zeiten stattfindet, in denen der Verbraucher Auswahlmöglichkeiten hat. Der Verbraucher steht einem marktbeherrschenden Unternehmen gegenüber, das per definitionem ohne Rücksicht auf die Belange der Marktgegenseite agieren kann.513 Die bereits erwähnten Normen in EnWG und Richtlinien machen deutlich, dass die Gesetzgeber auch weiterhin von einem Ungleichgewicht ausgehen, das sie an der Verbraucherstellung festmachen. Dabei findet eine Differenzierung nach dem Zeitpunkt der Begründung der Geschäftsbeziehung nicht statt. Die Normen, insbesondere Art. 3 RL 2009/73/EG, verdeutlichen zudem das Schutzmodell, das der Kommission vorschwebt: Nicht substantieller Mindestschutz, sondern der Ausgleich von Informationsdefiziten steht im Vordergrund der Ausgestaltung des Verbraucherschutzes im Energiesektor. Wenn Verbraucher eine tatsächliche Auswahl – etwa zwischen verschiedenen Gaslieferanten – haben, sollen sie so in die Lage versetzt werden, eigene Entscheidungen zu treffen. In die gleiche Richtung gehen die Ideen der Kommission für die (bislang nicht in Kraft getretene) Charta der Rechte der Energieverbraucher.514 Eine solche Charta, die kein bindendes rechtliches Dokument sein 513 Vgl. EuGH, 13.2.1972, Rs. 85/76, Slg. 1979, 461, Rz. 38 – Hoffmann-La Roche, Definition von Marktbeherrschung: „wenn ein Unternehmen eine wirtschaftliche Machtstellung besitzt, die es in die Lage versetzt, die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs auf dem relevanten Markt zu verhindern, indem sie ihm die Möglichkeit verschafft, sich seinen Wettbewerbern, seinen Abnehmern und letztlich dem Verbraucher gegenüber in einem wesentlichen Umfang unabhängig zu verhalten.“. 514 Vgl. KOM, Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Auf dem Weg zu einer Charta der Rechte der Energieverbraucher KOM(2007) 386 endg., Anhang I. Vgl. Gundel/Germelmann, EuZW 2009, 763, 768 f.

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soll, stellt Rechte und Pflichten im Energiesektor dar. Sie soll der Transparenz dienen und in der Öffentlichkeit verbreitet werden, aber gerade keine eigenen Ansprüche begründen. Die im vorliegenden Entwurf der Charta genannten Rechte sind aus dem geltenden Recht kompiliert und spiegeln in zahlreichen Punkten das Informationsmodell. In Richtlinien, die über die Charta hinausweisen, werden allerdings für einzelne Probleme Mindeststandards vorgesehen. Diese betreffen das Ob der Versorgung und den Lieferantenwechsel, nicht aber die vertragliche Ausgestaltung. Eine Besonderheit ist für den Rechtsschutz vorgesehen. Der europäische Energieverbraucher soll nämlich transparente, einfache und kostengünstige Verfahren in Anspruch nehmen können, um seine Beschwerden gegen EVU geltend machen zu können. Eine solche Verpflichtung folgt aus Anhang A lit. f) der Erdgasrichtlinie. Die Vorstellungen der Kommission von solchen Verfahren werden in den Empfehlungen 98/257/ EG und 2001/310/EG über die Beilegung von Verbraucherrechtsstreitigkeiten konkretisiert. Zudem sollen, soweit missbräuchliche Vertragsklauseln oder unlautere Geschäftspraktiken betroffen sind, Verbraucherverbände die Vertretung von Verbraucherinteressen im gerichtlichen Verfahren mit Unterlassungsklagen geltend machen können. Auch in einem 2010 vorgelegten Staff Working Paper bekennt sich die Kommission für den Bereich von Verbraucherstreitigkeiten im Erdgassektor zu außergerichtlichen Streitbeilegungsmechanismen.515 In Deutschland ist mit der bereits erwähnten Schlichtungsstelle Energie ein solcher Mechanismus installiert worden.516 Hier zeichnet sich ab, dass Verbraucherschutz im jeweiligen Branchenumfeld etabliert wird und auf die spezifischen Besonderheiten abgestimmt wird.517 Offenbar sieht die Kommission in der Energiebranche hier Regelungsbedarf zugunsten des Verbrauchers, obwohl angesichts der bestehenden Ansätze von Wettbewerb nicht zwingend eine strukturelle Unterlegenheit konstruierbar ist.

II. Dogmatische Herausforderungen Die Kernproblematik in den Fällen der Gaspreisüberprüfung liegt darin, dass die Parteien einer Austauschbeziehung einen wesentlichen Bestandteil dieser Beziehung offen gelassen haben, nämlich die Preisgestaltung. In den GaspreisFällen wird nun über § 315 Abs. 3 BGB das Gericht eingesetzt, um die offen gelassene Frage zu beantworten. Dieser Weg stellt die Zivilgerichte vor dogmatische Herausforderungen.

515 KOM, Staff Working Paper: An Energy Policy for Consumers, 11.11.2010, SEC(2010) 1407 final. 516 Vgl. Theobald/Gey-Kern, EuZW 2011, 896, 898. 517 Vgl. Micklitz in: MüKo-BGB, 2012, § 13 Rn. 10.

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1. Einordnung des § 315 BGB Zentrale Norm für die Gaspreis-Fälle ist § 315 BGB („Bestimmung der Leistung durch eine Partei“). Diese Norm ist seit 1900 unverändert Bestandteil des BGB. Sie lautet: „(1) Soll die Leistung durch einen der Vertragschließenden bestimmt werden, so ist im Zweifel anzunehmen, dass die Bestimmung nach billigem Ermessen zu treffen ist. (2) Die Bestimmung erfolgt durch Erklärung gegenüber dem anderen Teil. (3) Soll die Bestimmung nach billigem Ermessen erfolgen, so ist die getroffene Bestimmung für den anderen Teil nur verbindlich, wenn sie der Billigkeit entspricht. Entspricht sie nicht der Billigkeit, so wird die Bestimmung durch Urteil getroffen; das Gleiche gilt, wenn die Bestimmung verzögert wird.“

Die Bedeutung dieser Norm für das Zivilrecht wird von höchster Stelle hervorgehoben: Das Bundesverfassungsgericht sah in seiner HandelsvertreterEntscheidung von 1990 § 315 BGB als wesentlichen Baustein des Zivilrechts in einer Reihe mit §§ 138 und 242 BGB.518 In der Entscheidung hatte das BVerfG zu würdigen, ob ein entschädigungsloses nachvertragliches Wettbewerbsverbot von zwei Jahren für einen gekündigten Handelsvertreter wirksam ist. Privatautonomie, so das BVerfG in der Entscheidung, setze voraus, dass die Bedingungen freier Selbstbestimmung auch gegeben seien: „Wo es an einem annähernden Kräftegleichgewicht der Beteiligten fehlt, ist mit den Mitteln des Vertragsrechts allein kein sachgerechter Ausgleich der Interessen zu gewährleisten.“519

Ein solcher Ausgleich in einer Situation des Ungleichgewichts sei vielmehr aus den grundgesetzlichen Wertungen herzustellen, welche über die Generalklauseln des BGB in die zivilrechtlichen Verhältnisse hineinwirken. Als Generalklauseln, die für grundrechtliche Wertungen offen sind, benannte das BVerfG das Verbot sittenwidriger Geschäfte in § 138 BGB, die Verpflichtung zur Leistung nach Treu und Glauben aus § 242 sowie die Billigkeitskontrolle nach § 315.520 In diesen grundlegenden Normen sieht das BVerfG Einfallstore für eine Korrektur von Vertragsergebnissen mit Hilfe übergeordneter Rechtsprinzipien. Der mächtige Wirkmechanismus des Privatrechts, die Privatautonomie, wird mit Hilfe dieser Normen in die Wirtschaftsordnung eingebunden. Im privatrechtlichen Leitbild von Freiheit und Bindung stellen §§ 138, 242 und 315 BGB Ankerpunkte der Bindung dar, die einen Systemkollaps durch ungezügelte Freiheitsausübung verhindern. Institutionell wird so der Widerspruch in der Wirtschaftsordnung zwischen dem Grundwert der freien Entfal518

BVerfG, 7.2.1990, Az. 1 BvR 26/84, BVerfGE 81, 242 – Handelsvertreter. BVerfG, 7.2.1990, Az. 1 BvR 26/84, BVerfGE 81, 242, 255 – Handelsvertreter. 520 BVerfG, 7.2.1990, Az. 1 BvR 26/84, BVerfGE 81, 242, 256 – Handelsvertreter; kritisch Rieble in: Staudinger, BGB, 2009, § 315 Rn. 36. 519

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tung der Akteure einerseits und dem Systemerhaltungsinteresse der Gemeinschaft andererseits entschieden. Es spricht für das Vertrauen des Gesetzgebers in das Prinzip der Regulierungsbegrenzung durch Einzelfallentscheidung, dass dieser Ausgleich den Gerichten aufgetragen wird, die vage Formulierungen in rechtlich bindende Regelungen übersetzen müssen. In § 315 BGB steht konkret die Sorge des Gesetzgebers um die Vertragsgerechtigkeit im Mittelpunkt, die durch billiges Ermessen auszufüllen ist. Der dramatische Konflikt zwischen der Notwendigkeit des freien Vertragsschlusses einerseits und dem möglicherweise skrupellosen Missbrauch andererseits wird damit aufgelöst. Letztlich geht es dem Bundesverfassungsgericht um einen „sachgerechten Ausgleich der Interessen“, was bezeichnend für das Idealbild des BVerfG vom Zivilrecht im Allgemeinen (Interessenjurisprudenz?) und vom Vertrag im Besonderen (Sachgerechtigkeit durch Ausgleich?) ist.521 Auch Sibylle Hofer ordnet die Norm in einer historischen Perspektive entsprechend ein, als eine solche, die die „prinzipielle Gestaltung des Privatrechts“ durch den Gesetzgeber zum Ausdruck bringt.522 Diese rechtstheoretische Bedeutung des § 315 BGB steht in auffälliger Diskrepanz zu seiner praktischen Anwendung, die bis zu den Preisbestimmungsfällen in der Energiewirtschaft auf wenige Spezialfälle beschränkt war, sodass etwa der Studienkommentar von Kropholler auf eine Kommentierung gänzlich verzichtet,523 und der Palandt 2003 noch mit knapp zweieinhalb Seiten auskommt – acht Auflagen später ist der Umfang im Palandt immerhin um eine halbe Seite gewachsen524. Typische Anwendungsfälle waren früher vertragliche Anpassungsklauseln für langfristige Verträge, mit denen sich die Parteien für wirtschaftliche Veränderungen absicherten, etwa Zinsanpassungsklauseln in Bank-Verträgen oder bei Honorarvereinbarungen für Freiberufler. Auch das Direktionsrecht des Arbeitgebers und die Kontrolle allgemeiner Geschäftsbedingungen wurden vor der Spezialregelung in § 106 GewO bzw. im AGB-Recht teilweise über § 315 BGB konstruiert.525 Die Grundidee der Norm ist folgende:526 Ein Vertrag setzt die Bestimmtheit bzw. Bestimmbarkeit der wesentlichen Vertragsinhalte, der sog. essentialia ne521 Das BVerfG bleibt dieser Linie auch in neueren Entscheidungen treu, etwa bei der Überschussverteilung bei Lebensversicherungen, vgl. BVerfG, 26.7.2005, 1 BvR 80/95, BVerfGE 114, 73. 522 Hofer in: HKK-BGB, 2007, §§ 315–319 Rn. 23. Zur historischen Genese der Preiskontrolle siehe auch Bürge, JBl. 1989, 687 ff. 523 Kropholler, BGB, Studienkommentar, 2010. 524 Vgl. Palandt/Grüneberg, BGB, 2003 und 2011, § 315. 525 Vgl. Medicus in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, 2009, § 315, Rn. 2; Hofer in: HKKBGB, 2007, § 315 Rn. 9; Kronke, AcP 183 (1983), 113, 114 ff. Eine interessante Konstellation unter Aufzeigen der praktischen Schwierigkeiten des § 315 BGB und seiner Umgehung thematisieren Raitz von Frentz/Becker, ZUM 2001, 382, 385. 526 Vgl. Rieble in: Staudinger, BGB, 2009, § 315 Rn. 3 ff.; Röckrath/Linsmeier, Zivilrechtliche Billigkeitskontrolle nach § 315 BGB, 2010, S. 36 ff.

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gotii, voraus.527 In der Praxis kann jedoch ein Bedürfnis der Parteien bestehen, sich zu binden, ohne schon alle Details des Vertrags festlegen zu können. Diese mangelnde Konkretisierung kann auch die essentialia betreffen. § 315 BGB lockert daher das Bestimmtheitserfordernis und erkennt an, dass die Leistungsbestimmung einer Partei überlassen werden kann. Damit wird ein eigentlich unzulässiger Vertrag, dem es nämlich an der Bestimmtheit des wesentlichen Vertragsinhalts gebricht, durch eine „dynamische Verweisung“528 in die Zukunft gerettet. Das ist insofern konsequent, als der privatautonomen Entscheidung der Parteien damit Rechnung getragen wird – diese wollen ja den Vertrag und haben sich grundsätzlich geeinigt.529 Problematisch sind aber die Folgeerscheinungen dieser Verlagerung der Leistungsbestimmung in die Zukunft: Indem einer Partei das Leistungsbestimmungsrecht für einen bereits abgeschlossenen und gültigen Vertrag in die Hand gegeben wird, ist die andere Partei möglicherweise der Willkür dieser Partei ausgesetzt. Die Übermacht muss sich dann gar nicht unbedingt in einer überhöhten Preisforderung niederschlagen. Das Leistungsbestimmungsrecht kann auch als „bargaining chip“, etwa bei Vertragsverlängerungen oder Konditionenbestimmungen, eingesetzt werden: ein günstiger Preis etwa könnte davon abhängig gemacht werden, dass die Laufzeit des Vertrags erheblich verlängert wird. Schaden nehmen könnte dadurch die § 311 Abs. 1 BGB zugrundeliegende Vorstellung eines gerechten Vertrags. Dass der Vertrag als wesentliches Organisationsprinzip des Privatrechts anerkannt wird, liegt eben auch an der durch ihn verkörperten Gerechtigkeitsvorstellung:530 Wenn sich zwei Parteien frei einigen, wird das Ergebnis schon für die Beteiligten „passen“. Diesen Gedanken hat Schmidt-Rimpler als „Richtigkeitsgewähr“ des Vertragsprinzips bezeichnet.531 Er liegt auch anderen rechtsphilosophischen Vorstellungen zugrunde, etwa der Gerechtigkeitstheorie von Rawls oder der Diskurstheorie von Habermas. An den Gedanken knüpft das BVerfG an, wenn es die Vertragsparität, also ein Kräftegleichgewicht der Parteien, zur Voraussetzung des Vertragsschlusses macht. Ein Kräfteungleichgewicht liegt, wie gesehen, nicht zwingend bei Streitigkeiten zwischen Verbrauchern und Unternehmen vor. Die Konstellation von marktbeherrschendem Energieversorger und privatem Haushaltskunden wird jedoch häufig für Kräfteungleichgewichte anfällig sein. Der Gesetzgeber hat in § 315 Abs. 1 BGB die Auslegungsregel formuliert, dass eine einseitige Leistungsbestimmung regelmäßig nach billigem Ermessen zu erfolgen hat. Die Ausfüllung des Begriffs des billigen Ermessens mag vor527 528 529 530 531

Vgl. Jung, JuS 1999, 28 ff. Rieble in: Staudinger, BGB, 2009, § 315 Rn. 10, 30. Gottwald in: MüKo-BGB, 2007, § 315, Rn. 1 f. Vgl. aus dem neueren Schrifttum nur Zöllner, NZA-Beil. 2006, 99, 101 ff. Schmidt-Rimpler in: FS Raiser, 1974, S. 1, 3, 5 f.

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erst dahinstehen, eindeutig wird hier aber ein Maßstab angelegt, der einer willkürlichen Entscheidung des Leistungsbestimmers entgegenwirken soll. § 315 Abs. 2 BGB stellt sicher, dass der Vertragspartner die Möglichkeit erhält, die Leistungsbestimmung überhaupt zu überprüfen, da eine solche ihm gegenüber erklärt werden muss, um wirksam zu sein. So sichert der Gesetzgeber wenigstens die Transparenz zu, die andernfalls möglicherweise weggefallen wäre. § 315 Abs. 3 BGB schließlich nimmt sich eines praktischen Problems an. Als Sanktion für die unbillige Bestimmung einer Leistung sieht Satz 1 die Unverbindlichkeit der Leistungsbestimmung vor. Wie aber geht es dann weiter, wenn eine Partei die Leistung bestimmt hat und die andere diese für unbillig hält? Zu beantragen bei Gericht wäre die Bestimmung einer billigen Leistung durch eine Partei. Das wäre umständlich, würde sogar eventuell in der Beugehaftnahme einer die Bestimmung verweigernden Partei gipfeln müssen. Stattdessen setzt der Gesetzgeber mit Satz 2 kurzerhand das Gericht ein, um abschließend den Fall zu entscheiden, indem das Gericht die Gestaltungsmacht erhält, die Leistung zu bestimmen. Das ist der Clou dieser Norm: Das Gericht wird zum Beteiligten der Vertragsgestaltung und legt anstelle der zerstrittenen Parteien einen wesentlichen Vertragsbestandteil fest. Rieble bezeichnet dies als „Vertragsrettung“.532 Vor der richterlichen Entscheidung steht freilich, das ist immer zu berücksichtigen, zuerst das Parteiermessen, sodann die richterliche Nachprüfung.533 Gelegentlich wird in der Deutung von § 315 Abs. 3 BGB übersehen, dass die Norm eine dreifache Legitimation hat: Überwiegend anerkannt wird der zivilgerichtliche Eingriff als Durchsetzung eines staatlichen Gerechtigkeitsanspruchs in Konstellationen, in denen die Vertragsparität, die sonst zur „Richtigkeitsgewähr des Vertrages“ führt, gestört ist. Unerträgliche Vertragsergebnisse will die Rechtsordnung nicht hinnehmen, wie sich an der gleichfalls für grundrechtliche Wertungen offenen Norm des § 138 BGB ablesen lässt. Daneben stehen für den Gesetzgeber aber zwei weitere Motivationen: Zum einen wird dem ursprünglich geäußerten Wunsch der Parteien, den Vertrag zu schließen, zur Durchsetzung verholfen. Genau dies meint Rieble mit Vertragsrettung. Dahinter steht nicht zuletzt der Grundsatz des pacta sunt servanda, der Bindung an die eigene Willenserklärung. Zum anderen wird durch den Mechanismus des Abs. 3 aber auch eine Durchsetzungsverstrickung aufgelöst, die ohne den beherzten Zugriff des Gerichts für alle Beteiligten nur aufwändig zu entwirren wäre. Vergegenwärtigt man sich diesen zuletzt genannten Aspekt der Norm, wird der verfassungsgerichtlichen Überhöhung von § 315 BGB ein verfahrensrechtlicher Pragmatismus an die Seite gestellt. Man könnte – ganz im Sinne des 532 533

Rieble in: Staudinger BGB, 2009, § 315 Rn. 16. Vgl. schon Neumann-Duesberg, JZ 1952, 705, 707 f.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

Prinzips der Regulierungsbegrenzung durch Einzelfallentscheidung – folgern, dass der zuweilen sehr engagiert geführte Kampf um die Auslegung von § 315 BGB angesichts seiner praktischen Bedeutung übertrieben ist. Das Interesse an einer Lösung des konkreten Falles aus einer vertrackten Prozesssituation relativiert dann die grundsätzlichen Erwägungen zum Verhältnis von hoheitlicher Ordnung und privater Freiheitsentfaltung. In der vorliegenden konkreten Situation allerdings handelt es sich nicht mehr um Einzelfälle, sondern um ein Massenphänomen, sodass vom Ausgang der hoheitlichen Entscheidung eine gesamte Branche und eine Vielzahl von Verbrauchern betroffen sind. Bei einer solchen Häufung geht es nicht mehr um die Lösung von Einzelfällen, sondern doch um zivilrechtliche Weichenstellungen, in denen die Gerichte Farbe bekennen müssen, welche Ordnung sie sich vorstellen. Als Maßstab erhält das Gericht dafür vom Gesetzgeber nichts weiter als den schon auf den ersten Blick sehr offenen Begriff des „billigen Ermessens“. Die präventive Richtigkeitsgewähr durch Vertrag wird, wenn sie im Einzelfall nicht funktioniert, ersetzt durch eine repressive Richtigkeitskontrolle in Form eines richterlichen Gestaltungsakts. Neben die Parteien tritt als Dritter das Gericht, das gesetzlich legitimiert die Hauptleistungspflichten des Vertrags bestimmen kann. Das ist eine delikate Lösung, da der richterliche Gestaltungseingriff diametral in Spannung steht zum Grundmechanismus des Zivilrechts, der freien Interessenkoordination der Marktteilnehmer ohne hoheitliche Einflussnahme. Wenn Hoheitsträger tätig werden, sind sie eingebunden in das Korsett ihrer Befugnisse und der Grundsätze hoheitlichen Handelns im Rechtsstaat. Die Gerichte können nicht mit der „Willkür“, die Parteien sich erlauben dürfen, in einem Rechtsstreit eingreifen, sondern müssen auch bei einer transferierten Aufgabe wie der des § 315 Abs. 3 BGB im Rahmen der hoheitlichen Ordnungsvorstellung bleiben. Das bedeutet, dass § 315 BGB als Einbruch allgemeiner Vertragsgerechtigkeitsvorstellungen, so wie sie sich für die Gerichte in ihrer rechtsstaatlichen Bindung an Gesetz und Recht darstellen, in Konstellationen überlegener Verhandlungsmacht angesehen werden kann. Diese Gestaltungsmacht, die der Gesetzgeber der Justiz zuweist, ist für die privatautonome Klärung von Beziehungen zwischen Personen ungewöhnlich: In den üblichen Fällen schreibt das Gericht den Vertrag nicht neu, sondern erklärt bestenfalls seine Unwirksamkeit. Die Aushandlung des Vertrags ist immer Sache der Parteien. Die Energiepreisfälle verlangen somit von den Gerichten eine Gestaltung, die Erwartungen der privaten Akteure durchkreuzen kann, aber auch für die Gerichte eine Aufgabe enthält, die diesen im Übrigen fremd ist. Die Anwendung dieser Norm und insbesondere die Ausfüllung des Begriffs des „billigen Ermessens“ durch die Gerichte lässt daher Rückschlüsse auf deren Selbstverständnis und ihre Würdigung der wesentlichen Prinzipien des Zivilrechts zu. Als dogmatische Schwierigkeit lässt sich dies auf die Frage brin-

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gen, welches grundlegende zivilrechtliche Ordnungsverständnis die Zivilgerichte bei eigenen Eingriffen an Stelle der Parteien in Vertragssituationen offenbaren, in denen ein Kräfteungleichgewicht und eine daraus resultierende Verfahrenskalamität dazu führen, dass der Rechtsordnung eine zivilgerichtliche Lösung einer rein privaten Lösung vorzugswürdig erscheint.

2. Schwierigkeiten der Preisbestimmung Die zweite dogmatische Herausforderung stellt sich für die Zivilgerichte mit der konkreten Handhabung der durch § 315 Abs. 3 BGB an sie gerichteten Frage: Mit welchem Wert füllt das Gericht die Leerstelle aus, die die Parteien gelassen haben? Welcher konkrete Preis ist „billig“ im Sinne von billigenswert? Welche Kriterien legt das Gericht an, um den vom Bundesverfassungsgericht angemahnten sachgerechten Interessenausgleich ausformulieren zu können? Die Frage nach dem „iustum pretium“534, dem gerechten Preis, ist eine Schlüsselfrage, die sich in der Rechtsgeschichte immer wieder gestellt hat, die aber in Zeiten marktwirtschaftlicher Ordnung nicht mehr hoheitlich beantwortet wird. Der Preis, das Entgelt, wird üblicherweise im Wechselspiel von Angebot und Nachfrage vom Markt ermittelt. Gerecht ist nach dieser Vorstellung der Preis, auf den sich Nachfrager und Anbieter auf einem wettbewerblich strukturierten Markt einigen. Das stark subjektive Element, nämlich die Abhängigkeit von der Zahlungsbereitschaft des konkreten Nachfragers und dem Wert, den der konkrete Anbieter seinem Gut zuschreibt, prägt diese Preisfindung, sodass eine objektivierte Preisbestimmung nur eine Annäherung sein kann. Eine staatliche Preisfestsetzung, die zudem den Anspruch hat, „billig“ im Sinne von „gerecht“ zu sein, ist in einem wettbewerblich geprägten Wirtschaftssystem völlig untypisch. Es ist gerade der Kern der Marktwirtschaft, dass der Preis nicht von einer staatlichen Instanz festgesetzt wird, sondern im freien Spiel der Marktkräfte ermittelt wird. Sowohl ökonomisch als auch in der juristischen Übersetzung stellt § 315 BGB einen hohen Anspruch an die Gerichte, denen zudem – anders etwa als Regulierungs- und Kartellbehörden – wirtschaftswissenschaftlicher Sachverstand regelmäßig nur zufällig eigen ist. Das Bundesverfassungsgericht hatte § 315 BGB, wie gesehen, als Einfallstor für eine Drittwirkung der Grundrechte angesehen. Demnach wäre der Begriff der Billigkeit in erster Linie durch die grundrechtliche Wertordnung auszufüllen. Wie schon bei der Erörterung des Verbraucherrechts gesehen gibt es für eine grundrechtliche Ausfüllung solcher Merkmale unterschiedliche Ansatzpunkte in der Verfassung. Denkbar wäre eine Betonung der Handlungsfreiheit oder des Sozialstaatsgebots. Je nach Sachverhalt könnten aber auch andere Er-

534

Zu dieser Figur der Vertragsgerechtigkeit vgl. Martini, DVBl. 2008, 21 ff. m.w.N.

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wägungen eine Rolle spielen, etwa das Diskriminierungsverbot, die Sozialpflichtigkeit des Eigentums oder Argumente der Berufsfreiheit. Die zivilrechtswissenschaftliche Erörterung setzt anders an. Ein genuin zivilrechtlicher Zugang zum Begriff des „billigen Ermessens“ muss von der Privatautonomie der Parteien, also dem Willen der Vertragsparteien ausgehen. Von den Kommentatoren in der Literatur verfolgt Rieble diesen Ansatz am konsequentesten.535 Für ihn ist die „Richtschnur“ der Vertrag. Das Gericht könne lediglich fortschreiben, was in dem Vertrag von den Parteien angelegt ist und müsse die von den Parteien im Vertrag angelegten Interessen respektieren. Entsprechend seien Eingriffe der Gerichte auf ein Minimum zu beschränken. An erster Stelle stehe nämlich nach dem Parteiwillen bei Vertragsschluss die einseitige Leistungsbestimmung durch eine Partei, deren Diktum daher im Wesentlichen anzuerkennen wäre. Dezidiert lehnt Rieble es selbst bei Ausfüllung des Begriffs des billigen Ermessens durch das Gericht ab, etwa verfassungsrechtliche Wertungen oder Aspekte des Allgemeininteresses in die Abwägung zur Billigkeitskontrolle einzustellen536. Die wohl vorherrschende Auffassung in der Literatur versucht, den Begriff der Billigkeit zu objektivieren. Auch sie geht vom Vertrag aus und sieht dessen Zweck, die Umstände des Vertragsschlusses und der Vertragsinhalte und die beiderseitigen Interessen als Ausgangspunkt. In einer Abwägung, was als billig anzusehen ist, seien sodann als weitere Kriterien aber auch parteifernere Kriterien einzustellen. Gottwald benennt als Leitschnur für das Gericht mit Larenz, dieses habe sich bei der Preisbestimmung „tunlich in der Mitte“ zu halten.537 In Gottwalds Kommentierung lässt sich hervorragend nachvollziehen, wie sich die Literatur primär müht, an den Parteiwillen anzuknüpfen, bevor allgemeinere Kriterien eine Rolle spielen. So benennt er in seinem umfassenden Katalog die folgenden Aspekte als Kriterien der Billigkeit: „Geschäftszweck, günstige bzw. ungünstige vertragliche Regelungen, Vorteile aus dem Vertrag, die Risikoverteilung zwischen den Vertragspartnern, die beiderseitigen Bedürfnisse der Vertragspartner, die Dauer des Rechtsverhältnisses, Art und Umfang der Gegenleistung, die Herstellungs- und Gestehungskosten sowie der Verkaufspreis (Preiskalkulation), die aufgewendete Zeit und Mühe für die vertraglichen Verpflichtungen, außervertragliche Vor- und Nachteile, später eintretende Umstände, Vermögensund Einkommensverhältnisse der Parteien, wirtschaftliche Interessen oder Belastungen der Parteien, soziale Gesichtspunkte (Lebensverhältnisse, Familie, Kinder etc.), persönliche Umstände […], Verschulden, Arglist, Art und Ausmaß der Nachteile bzw. des Schadens […], (soweit mit den Einzelinteressen vereinbar) Interessen der Allgemeinheit (z.B. volkswirtschaftliche Gesichtspunkte, Preise konkurrierender Anbieter, Verteuerung der Lebenshaltungskosten, Belange des Betriebs (im Arbeitsrecht).“538 535 536 537 538

Rieble in: Staudinger BGB, 2009, § 315 Rn. 38, 124. Rieble in: Staudinger BGB, 2009, § 315 Rn. 127 f. Gottwald in: MüKo-BGB, 2007, § 315 Rn. 30. Gottwald in: MüKo-BGB, 2007, § 315 Rn. 31.

D. Vertragsfreiheit und Ungleichgewichtslagen: Gaspreiskontrolle

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Zu erkennen ist darin eine immer weitergehende Entfernung vom Vertragswillen, der aber, wie Gottwalds Vorbehalt in Klammern „(soweit mit den Einzelinteressen vereinbar)“ zeigt, zentral bleibt. Diese Bindung an den Vertrag verliert sich bei anderen Autoren in stärkerem Maße. Grüneberg fasst den Rechtsstand im Palandt wie folgt zusammen: „Was billigem Ermessen entspricht, ist unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien und des in vergleichbaren Fällen Üblichen im Zeitpunkt der Ausübung des Bestimmungsrechts festzustellen“539.

Hager thematisiert explizit, ob neben den vertragsgebundenen Interessen und den relativ naheliegenden Kriterien wie „Üblichkeit“ auch das Gemeinwohl berücksichtigt werden darf, ohne dass das Caveat von Gottwald berücksichtigt werden müsste540. Hager schreibt dies der herrschenden Meinung zu. Der Begriff des Gemeinwohls wird nicht näher spezifiziert, öffnet aber das Tor zu politischen und öffentlich-rechtlichen Erwägungen. Gemeinwohlerwägungen müssen nicht auf Grundrechte beschränkt sein. Denkbar wäre es etwa, in einem Gaspreisfall auch die sichere Energieversorgung Deutschlands541 als einen Gemeinwohlumstand anzuerkennen, der sich dann möglicherweise auf die individuelle Gestaltung des Gaspreises auswirkt. Martini, ein Verwaltungswissenschaftler, verweist auf die Konkretisierung des Gesetzgebers zur Angemessenheit von Preisen, etwa in den kartellrechtlichen, wettbewerbsorientierten Normen §§ 19, 20 GWB.542 Hoyningen-Huene greift als Kriterium die „verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen“ auf, will aber auch sonstige gesetzliche Wertungen oder etwa „Kulturanschauungen der Rechtsgemeinschaft“ einbeziehen543. In solchen Ansätzen ist eine zivilrechtsdogmatische Grundierung der Billigkeitskontrolle nicht mehr erkennbar, allerdings ist dem Autor zugute zu halten, dass er als Arbeitsrechtler argumentiert, sodass die spezifischen Wertungen dieses Rechtsgebiets, das sich dem Zivilrecht in Teilen entfernt hat, in seiner Betrachtung durchschlagen. Drei weitere Argumentationsstränge sollen an dieser Stelle noch Erwähnung finden, auch wenn sie in der Literatur eine untergeordnete Rolle spielen: Erstens wäre es möglich, im Sinne einer ökonomischen Analyse den Begriff der Billigkeit rein ökonomisch zu bestimmen. Dass dies in der vorherrschenden Literatur eine untergeordnete Rolle spielt, vielleicht am ehesten im Ansatz 539 Palandt/Grüneberg, BGB, 2011, § 315 Rn. 10; Üblichkeit nennt unkommentiert als Kriterium auch Medicus in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, 2009, § 315 Rn. 6. 540 Hager in: Erman, BGB, 2008, § 315 Rn. 21. 541 So etwa der Bundeswirtschaftsminister in seiner Erlaubnis für Eon/Ruhrgas, BMWi 5.7.2002, WuW/E DE-V 573 ff. 542 Martini, DVBl. 2008, 21, 28. Ähnlich Mankowski/Schreier, AcP 208 (2008), 725, 767 f. Vgl. Säcker, ZWeR 2008, 348 ff.; sowie schon Köhler, ZHR 137 (1973), 237, 251 f. 543 Hoyningen-Huene, Billigkeit im Arbeitsrecht, 1978, S. 122 f.

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von Martini, dem Verwaltungsrechtler, aufscheint, belegt die Schwierigkeiten, die sich den Zivilrechtlern immer noch mit der ökonomischen Analyse stellen. Denkbar wäre beispielsweise, wie im Regulierungs- und Kartellrecht erprobt, auf Vergleichspreise aus wettbewerblich strukturierten Verhandlungssituationen zuzugreifen, ein Gewinnbegrenzungskonzept zu verfolgen oder kostenorientierte Berechnungen anzustellen. Möglicherweise ließen sich gerade bei Endverbraucherpreisen in der Energiewirtschaft auch volkswirtschaftliche Effizienzerwägungen anstellen. Unbestritten ist dabei, dass diese Konzepte auch in den Feldern, in denen sie häufiger genutzt werden, nicht als unproblematisch gelten. Dennoch erstaunt, dass die ökonomische Analyse bei einem solch manifest ökonomischen Thema wie dem der Preisgestaltung, über die in jedem Unternehmen ständig nachgedacht wird, für die Privatrechtsdogmatik quasi irrelevant bleibt. Dieser Befund verdeutlicht, dass es bislang nicht gelungen ist, ökonomische Erwägungen mit den zentralen Parametern des Zivilrechts in Einklang zu bringen. Die freie Entscheidung des Individuums wird jedenfalls offenbar nicht mit der Entscheidung des rational handelnden homo oeconomicus gleichgesetzt – hier wirkt es beinahe so, als sei die Rechtswissenschaft der Wirtschaftslehre, die einige Zeit brauchte, um zu erkennen, dass Menschen nicht wie Computer entscheiden, voraus. Weniger optimistisch ließe sich konstatieren, dass die juristische Vorprägung in der Zivilrechtsdogmatik so stark ist, dass Impulse aus anderen Lebensbereichen wie den Wirtschaftswissenschaften nur zögerlich rezipiert werden. Ein zweiter Argumentationsstrang, der sich nicht durchgesetzt hat, ist Herbert Kronkes Forderung, auf „apodiktische Stellungnahmen“ zu verzichten und auf die jeweilige Funktion des § 315 BGB abzustellen, sodass bei Preisanpassungen die allgemeine Marktlage wesentlich sei.544 Denn das Leistungsbestimmungsrecht sei bei Preisanpassungsklauseln gerade bezüglich dieser Funktionalität vereinbart worden. Das Argument könnte für einige Vertragskonstellationen gelten, aber nicht für alle, da nicht zwingend für die Anwendung des § 315 BGB eine Anpassungssituation vorausgesetzt wurde, der sich die Parteien öffnen wollten. Immerhin weist Kronke aber in die Richtung verobjektivierter ökonomischer Erkenntnisse. Schließlich kann an dieser Stelle auch auf das in Kapitel 3 entwickelte Leitbild des Privatrechts zurückgegriffen werden, aus dem die Wertungen zu schöpfen wären. Dieses Leitbild vereint dabei zahlreiche Aspekte, die in der Literatur genannt werden, bietet aber einen Bezugsrahmen, um die freie Interessenkoordination der Parteien, die der Ausgangspunkt sein muss, mit den Bindungen in Einklang zu bringen, denen die Gerichte aufgrund ihrer hoheitlichen Position unterworfen sind. Zentrale Parameter wären die Privatautonomie einerseits, die Gleichordnung der Parteien andererseits und die systemerhaltenden Interessen als Querschnittsverpflichtung. Dieses Modell bietet zu544

Vgl. Kronke, AcP 183 (1983), 113, 140.

D. Vertragsfreiheit und Ungleichgewichtslagen: Gaspreiskontrolle

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dem den Vorteil, dass ökonomische Aspekte im Rahmen der Erforschung der Parteiinteressen und im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit des marktwirtschaftlichen Bezugssystems berücksichtigt werden könnten. Auch wenn eine dezidiert liberale Position, die den Parteiinteressen ganz den Vorzug gibt, großen intellektuellen Charme hat, so übersieht sie doch die Einbindung der Gerichte, die sich nicht aus ihrer staatlichen Verpflichtung auf eine bestimmte Ordnung lösen können. Dieser Ordnung zum Durchbruch zu verhelfen, ist wiederum legitim, da die Parteien selbst sich entschieden haben, Gerichte zur Klärung ihres Konflikts anzurufen. Gegenüber den dargestellten weitergehenden Positionen, die Offenheit zeigen für Aspekte bis hin zu Kulturanschauungen der Rechtsgemeinschaft hat das Modell eines privatrechtlichen Leitbilds den Vorzug, dass nicht wahllos Aspekte berücksichtigt werden, sondern sonstige Interessen nur im engen Rahmen der privatrechtlichen Systemerhaltung berücksichtigungsfähig sind. Würde man dem hier skizzierten Modell folgen, müssten die Gerichte zunächst den vertraglich manifestierten Willen der Parteien sowie die Interessen herausfinden, welche diese koordinieren wollten, aber nicht geschafft haben zu koordinieren. Dabei wären ökonomische Interessen in einer wirtschaftsrechtlichen Auseinandersetzung von großer Bedeutung. Bei dem sodann vorzunehmenden Interessenausgleich wäre zu berücksichtigen, ob sich die Parteien in einer rechtlichen Gleichordnung gegenüber getreten sind und ob es normativ Anlass gibt, faktische Ungleichgewichte zu relativieren. Schließlich müsste geprüft werden, ob das Ergebnis einer Systemlogik standhält, ob also die berücksichtigten Interessen und das gefundene Ergebnis dem Funktionieren der privatrechtlichen Ordnung und der marktwirtschaftlichen Mechanismen entsprechen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass für die Ausfüllung des Begriffs der „Billigkeit“ in § 315 BGB die Zivilgerichtsbarkeit zahlreiche Angebote aus der Wissenschaft erhält. Die Auswahl, die die Gerichte treffen, lässt Rückschlüsse auf ihr zivilrechtliches Grundverständnis zu, das entweder stark am Parteiinteresse haften kann oder sich öffentlich-rechtlichen bzw. allgemeinpolitischen Erwägungen öffnet.

3. „Gegriffene Größen“ Bei der richterlichen Bestimmung des Leistungsentgelts wird von der die Unbilligkeit rügenden Partei letztlich ein in Euro und Cent ausgewiesener Preis angestrebt. Zivilgerichte müssen also einen Wert konkretisieren, der ihnen nicht von den Parteien vorgegeben wird, da nach der Norm die billige Ausfüllung der Leerstelle im Vertrag verlangt wird. Typisch ist im Zivilrecht eine andere Entscheidungskonstellation, nämlich der von den Parteien konkret bezifferte Antrag, dem die Richter entweder stattgeben, teilweise stattgeben oder gar nicht stattgeben. Dennoch ist die Konkretisierung von Werten den Zivilgerichten nicht völlig fremd. Es drängen sich Parallelen zu anderen Konstella-

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

tionen auf, etwa zur Bestimmung von Grenzwerten und der Schadensersatzbezifferung.545 In diesen Fällen stellt sich gleichermaßen die Frage, wie ökonomisch sinnvolle Lösungen aussehen können, die mit dem Gesetz vereinbar sind. Auf der Hand liegt, dass jeder Zahl, die von den Gerichten in solchen Fällen genannt wird, ein gewisses Zufalls-, oder gar Willkürelement eigen ist. Die Vorstellung, dass es beispielsweise einen einzigen „richtigen“ Wert für die Höhe von Schmerzensgeld in einem spezifischen Fall gibt, ist abwegig. Ob es fünf, ja, fünfhundert oder fünftausend Euro mehr oder weniger sind, die ein Geschädigter für einen immateriellen Schaden zugesprochen bekommt, ist ohne rechtlichen Mehrwert. Hinterfragt werden können nur die Kriterien anhand derer ein Gericht zu seiner konkreten Bezifferung gelangt. Wer sich dies vergegenwärtigt, gewinnt auch noch einmal Zutrauen in das in diesen Ausführungen zugrunde gelegte Bild vom richterlichen Entscheiden, das eben nur als ein unvollkommener Suchprozess angelegt sein kann, in dem sich Richter an bestimmten Vorgaben orientieren, aber letztlich nur aufgrund der ihnen zugeschrieben Autorität „Recht“ haben. Vor der Aufgabe, konkrete Werte zu beziffern, stehen Gerichte täglich. Trotz der enormen Bedeutung für die Parteien (denn um den konkreten Wert geht es ihnen ja) und trotz der erheblichen Unsicherheiten, die damit verknüpft sind, sind Reflektionen dieser Herausforderung selten. Der frühere BGH-Richter Beyer hat das Problem der Grenzwertbestimmung der Gerichte reflektiert.546 Als Beispiel wählt er die Prüfung, ab wann der Kraftstoff-Mehrverbrauch eines Autos einen Mangel darstellt. Der BGH hatte in einem nach altem Schuldrecht zu entscheidenden Fall, in dem der Verbrauch um 9,66 Prozent über den Verbrauchsangaben des Herstellers lag, entschieden, dass unterhalb von 10 Prozent ein Mangel nicht vorliege.547 Beyer fragt sich: „Wie rechtfertigt sich diese Grenze, was sind ihre Grundlagen und inwieweit ist sie verallgemeinerungsfähig?“548 Eine Antwort muss er letztlich schuldig bleiben, und er belässt es bei der Feststellung, die Grenzziehung müsse „sachgerecht, plausibel und praktikabel sein. Ob ein Grenzwert von 5 Prozent noch gerecht und von 10 Prozent schon ungerecht ist (oder umgekehrt) dürfte mit dogmatischen Erwägungen kaum zwingend zu begründen sein.“549 Das ist ein Eingeständnis, dem hier vollumfänglich zugestimmt werden kann. Die Bescheidenheit, die dieses Eingeständnis ausdrückt, ist aber weder in der Justiz noch in den Rechtswissenschaften häufig zu spüren. Für die Problematik, dass es einer gerichtlichen Festlegung eines Grenzwerts oder Inhaltswerts bedarf, hat sich der Terminus „gegriffene Größen“ 545

Vgl. Mankowski/Schreier, AcP 208 (2008), 725 ff. Beyer, NJW 2010, 1025. 547 BGH, 18.6.1997, Az. VIII ZR 52/96, NJW 1997, 2590. Vgl. die Messung der Unerheblichkeit in § 323 Abs. 5 S. 2 BGB, dazu BGH, 29.6.2011, Az. VIII, ZR 202/10, ZIP 2011, 1824. 548 Beyer, NJW 2010, 1025. 549 Beyer, NJW 2010, 1025, 1030. 546

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eingebürgert, der das Willkürliche des Feststellungsvorgangs sprachlich abbildet. Ähnliche Schwierigkeiten stellen sich etwa bei der Schadensersatzbezifferung. Mit welchem Betrag das Schmerzensgeld für eine bestimmte Verletzung anzusetzen ist, oder wie hoch der durch ein unzulässiges Kartell verursachte Schaden beim Abnehmer des Kartells anzusetzen ist, kann kaum berechnet werden. Das Urteil bedarf aber einer klaren Bezifferung. Die Gerichte verfallen hier auf ähnliche Kriterien wie sie für § 315 BGB oben genannt sind, ohne dass die gefunden Zahlen und die dahinterstehenden Argumente dogmatisch zwingend wären. Zu erwähnen ist in diesem Kontext das parallel gelagerte Problem für den Gesetzgeber bei der Bezifferung von Grenzwerten oder Leistungen. Das Grenzwert-Problem stellt sich dem Gesetzgeber etwa bei umweltschutzrechtlichen oder lebensmittelrechtlichen Problemen. Wissenschaftliche Untersuchungen können hierzu zwar Anhaltspunkte liefern, häufig wird es aber eine normative Entscheidung des Gesetzgebers bleiben müssen, welche Vorgaben im Gesetz niedergelegt werden. Ähnliches gilt für die Vorgaben zu Eigenkapitalstandards und Leverage Ratio im Rahmen der Bankenregulierung, das Stammkapital der GmbH oder Verjährungsfristen: Wann immer dem Gesetzgeber eine konkrete Zahl abgefordert wird, enthält die Festlegung ein gewisses Maß an Zufälligkeit, sie ist „gegriffen“ aus einem Pool von rechtlich zulässigen Möglichkeiten. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem leistungsbezogenen Fall jedoch 2010 die Grenzen des rechtlich Zulässigen in solchen Fällen für den Gesetzgeber noch einmal nachgezogen, indem es die Hartz-4-Gesetzgebung teilweise verworfen hat. Das BVerfG hielt die Festlegung der Leistungssätze für willkürlich, da sie einer nachvollziehbaren Berechnungsgrundlage entbehrten.550 Der Gesetzgeber wurde verpflichtet, den Anspruchsumfang „in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen.“551 Nicht die konkreten Werte, sondern die Kriterien zu deren Ermittlung sind damit die über Recht und Unrecht entscheidenden Faktoren. Evolutionär gesprochen: es geht nicht um die Entdeckung, sondern um die Selektionskriterien. Das Zivilgericht muss bei der Bearbeitung der Gaspreisfälle eine Quantifikation vornehmen, die verschiedenen Anforderungen genügen muss, letztlich aber möglicherweise dogmatisch nicht zwingend begründbar ist. Welche Selektionskriterien das Gericht zur Legitimation seiner konkreten Entscheidung heranzieht, eröffnet Einblicke in die dem Gericht gängige Auffassung von sachgerechten Kriterien im Wirtschaftsrecht. 550 BVerfG, 9.2.2010, Az. 1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09, Tz. 126 ff., BVerfGE 125, 175 = NJW 2010, 505 ff. 551 BVerfG, 9.2.2010, Az. 1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09, BVerfGE 125, 175 = NJW 2010, 505, 3. amtlicher Leitsatz.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

Die Ausfüllung des den Gerichten eingeräumten Gestaltungsspielraums leistet einen Erkenntnisbeitrag zu der bereits angesprochenen Hirsch-RüthersDebatte um die Rolle von Gerichten und den Wert der Methodenlehre. Je nachdem wie zupackend die Gerichte ihre Größen greifen, lässt sich auch beurteilen ob sie, wie Rüthers ihnen vorwirft, ihre Kompetenzen überschreiten, oder ob sie sich mit Hilfe der klassischen Auslegungsmethodik in einem eher engen Rahmen bewegen. Um im berüchtigten Bild des Rüthers-Kontrahenten Hirsch zu bleiben, käme eine eher freie Wertbestimmung der Gerichte der Improvisation eines virtuosen Pianisten nahe, während eine eng am Parteiwillen bleibende Wertfindung der werktreuen Herangehensweise eines guten Klavierschülers entspräche. Eine solche Zurückhaltung, der „judicial self-restraint“, müsste sich in den Fällen des § 315 BGB freilich gegenüber dem für das Zivilrecht maßgeblichen Parteiwillen zeigen, nicht gegenüber dem Gesetzgeber, der von Hirsch als Komponist ins Feld geführt wurde. Sollte sich zeigen, dass die Gerichte sehr großzügig von § 315 BGB Gebrauch machen und ihre eigenen Bewertungen (möglicherweise unter einem Label wie „Kulturanschauungen der Rechtsgemeinschaft“) massiv einfließen lassen, spräche dies für Rüthers Sicht. Zuzugeben ist dabei freilich, dass die Parteien sich in diesen Fällen gerade an die Gerichte wenden, um deren (an die privatrechtliche Rechtsordnung gebundene) Entscheidung zu empfangen. § 315 BGB und die Schadensersatz- und Leistungsbezifferungsfälle sind nicht die einzigen zivilrechtlichen Themen, bei denen der Gesetzgeber den Gerichten eine Gestaltungsmacht zugewiesen hat, die über eine bloß binäre Entscheidung des wirksam/unwirksam hinausgeht. Diskutiert wird die „Vertragsrettung“ durch Zivilgerichte auch im Zusammenhang mit der sog. geltungserhaltenden Reduktion. Grundsätzlich gilt, dass Gerichte bei der Prüfung von Verträgen diese nicht in gesetzeskonformer Weise neu schreiben. Sie erklären vielmehr Verträge für wirksam oder unwirksam. Eine Zwischenlösung über eine geltungserhaltende Reduktion findet regelmäßig nicht statt.552 Eine geltungserhaltende Reduktion sähe vor, eine unzulässige Klausel auf das gerade noch gesetzeskonforme Maß zu reduzieren, um so ihre grundsätzliche Geltung zu erhalten. Das Verbot dieser Reduktion gilt jedoch nicht uneingeschränkt. Ein Beispiel einer geltungserhaltenden Reduktion findet sich bei der Beurteilung von Wettbewerbsverboten:553 Angenommen, der Pharmakonzern P vereinbart mit seinem selbständigen Handelsvertreter H, dass dieser nach Aufgabe der Tätigkeit für P für die Dauer von fünf Jahren nicht mit Produkten konkurrierender Pharmakonzerne an die ehemaligen Kunden des P herantreten darf (nachvertragliches Wettbewerbsverbot). Bei einer gerichtlichen Überprüfung würde der Bundesgerichtshof die zeitliche Geltungsdauer des der Sache und der geographischen 552 553

Vgl. Schlosser in: Staudinger, BGB, 2006, § 306 Rn. 22. Vgl. Topel in: Wiedemann, Handbuch des Kartellrechts, 2008, § 50 Rn. 24 ff.

D. Vertragsfreiheit und Ungleichgewichtslagen: Gaspreiskontrolle

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Reichweite nach zulässigen Wettbewerbsverbots auf das gerade noch gesetzeskonforme Maß (etwa zwei Jahre) reduzieren und die Klausel damit retten.554 Würde das Wettbewerbsverbot der Sache nach zu weit reichen (z.B. mit keinem einzigen Produkt an Kunden und Nicht-Kunden herantreten), würde sich die Rechtsprechung eine Vertragsrettung jedoch versagen. Dies hat seinen Grund in der vermeintlich einfachen Reduzierbarkeit der Zeit: Während die Zeitdauer dem Vertrag inhärent ist und einfach zu reduzieren ist, würde die Reduktion in der Sache ein Einsteigen des Gerichts in die Verhandlungspositionen und Interessen der Parteien bedeuten. Selbst die Reduktion der Zeitdauer ist allerdings ein Eingriff in das von den Parteien ausgearbeitete Verhandlungspaket, immerhin kann die lange Dauer ja Kompensation für einen Nachteil des Pharmaunternehmens in anderer Hinsicht gewesen sein. Die Vertragsrettung durch geltungserhaltende Reduktion wird daher nur zurückhaltend angewendet, da sie notwendigerweise die Interessenkoordination der Parteien durch eine eigene Bewertung seitens der Gerichte stört. Im Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen tritt an die Stelle unzulässiger Klauseln die gesetzlich vorgesehene dispositive Regelung (§ 306 Abs. 2 BGB). Gerade hier ist eine geltungserhaltende Reduktion der Klausel auf das gerade noch zulässige Maß ausgeschlossen. Allerdings findet der sog. blue pencil test zuweilen Anwendung: Lassen sich die unwirksamen Klauseln aus dem Vertragswerk streichen, ohne dass der Sinn des Vertrags in Frage gestellt wird, wird dies getan, um den Vertrag zu retten.555 Eine Vertragsrettung ist zudem über die ergänzende Vertragsauslegung in Einzelfällen möglich, wenn andernfalls den Interessen der Parteien nicht angemessen Rechnung getragen wird.556 Katharina Uffmann argumentiert vor dem Hintergrund dieser Ausnahmen bereits, das Verbot der geltungserhaltenden Reduktion sei bloß ein „Mythos“ des Zivilrechts.557 Eine dem § 315 BGB ähnliche Konstruktion findet sich bei Rechtsgeschäften Minderjähriger, die in Form eines Insichgeschäfts des Vertreters geschlossen werden sollen. Hier ist ein Ergänzungspfleger nach § 1909 BGB (also eine staatlich bestellte Instanz) zu bestellen, der die Interessen des Minderjährigen wahrt, der vom Kräfteungleichgewicht rechtlich und faktisch betroffen ist.558 Der grundsätzlich für den Minderjährigen gewollte Vertrag wird so durch

554 Vgl. BGH, 10.12.2008, Az. KZR 54/08, GRUR 2009, 698 – Subunternehmervertrag II; BGH, 18.7.2005, Az. II ZR 159/03, NJW 2005, 3061. 555 Thüsing in: Graf von Westphalen/Thüsing, Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke, 2012, „Klauselwerke“ Rn. 119. 556 Basedow in: MüKo-BGB, 2012, § 306, Rn. 23. Vgl. Uffmann, NJW 2012, 2225. 557 Uffmann, Das Verbot der geltungserhaltenden Reduktion, 2010, S. 289. Ähnlich schon Hager, JZ 1996, 175 ff. 558 BGH, 30.9.2010, Az. V ZB 206/10, NJW 2010, 3643 für den Fall der Schenkung einer Eigentumswohnung.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

staatliches Eingreifen gerettet (so der Minderjährige nicht ohnehin nur einen rechtlichen Vorteil erlangt, § 107 BGB). Schon diese wenigen Beispiele belegen, dass die Vertragsrettung für Zivilgerichte nicht völlig ungewöhnlich ist. Damit wird respektiert, dass beide Parteien grundsätzlich ihre Bereitschaft zum Vertragsschluss signalisiert haben. Es wäre verfehlt, könnte eine Partei sich davon lösen, weil sie die Unwirksamkeit einer nebensächlichen Klausel geltend macht. Zu den Fällen des § 315 BGB bestehen jedoch drei gravierende Unterschiede: erstens handelt es sich bei den hier im Streit befindlichen Abmachungen nicht etwa um nebensächliche Vertragsklauseln oder Folgefragen wie beim Schadensersatz, sondern um die essentialia negotii, die den Anspruch überhaupt erst begründen. Zweitens haben die Parteien schon bei Vertragsschluss ihren Willen bekundet, die Klärung der Fragen offen zu lassen. Drittens findet die Rettung hier durch eine gesetzlich eingesetzte Stelle, das Gericht, statt, das dazu mit besonderer Macht (nämlich dem Fortschreiben des Vertrags in einem essentiellen Punkt) ausgestattet wird. Während die Vertragsrettung durch Zivilgerichte als solche also noch eine Aufgabe ist, die diesen nicht vollkommen fremd ist, führt doch das Mittel, nämlich die Ausstattung mit Sachwaltermacht für die Vertragsparteien die Gerichte an die Grenzen ihres üblichen Amtsverständnisses, zumal konkrete Größen zu bestimmen sind.559 Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die Energiepreisfälle nicht nur durch ihre schiere Zahl, sondern auch durch ihre dogmatische Komplexität die Gerichte in Grenzsituationen bringen: Schon die anzuwendende Norm des § 315 BGB verkörpert den Widerspruch zwischen größtmöglicher Freiheit der Parteien und der gesetzgeberischen Sorge um die Vertragsgerechtigkeit.560 Das Dilemma der Parteien wird durch Übergabe an einen Dritten gelöst, der selbst eigenen Bindungen unterliegt, sodass die Freiheit der Interessenkoordination von systemrelevanten Bindungen ergänzt wird. Der Maßstab dafür ist so nichtssagend wie komplex: Die Ausfüllung des Begriffs der Billigkeit durch ein Zivilgericht ist auf vielfältige Weise möglich. An den Bezugspunkten, die Gerichte hier setzen, lässt sich ihre Einstellung zur ökonomischen Analyse ebenso ablesen wie zu anderen Schlüsselfragen des Zivilrechts, etwa der Drittwirkung der Grundrechte. Gerade in der Positionierung zu der in § 315 BGB angelegten dogmatischen Spannung sind die Zivilgerichte auch gezwungen, ihr eigenes Amtsverständnis zu reflektieren und den Bogen zwischen Gestaltungsmacht einerseits und Zurückhaltungsnotwendigkeit andererseits zu spannen. Was tut ein Gericht, wenn es sogar vom Gesetz ermächtigt ist, einen Vertrag weiterzuschreiben und mit Inhalt auszufüllen? 559 In anderen Rechtsordnungen scheinen entsprechende dogmatische Vorbehalte so nicht zu bestehen, vgl. für das UN-Kaufrecht Schmidt-Kessel in: Schlechtriem/Schwenzer, Kommentar UN Kaufrecht, 2008, Art. 8 CISG, Rn. 25 ff. 560 Vgl. Köhler, ZHR 137 (1973), 237, 245 ff.

D. Vertragsfreiheit und Ungleichgewichtslagen: Gaspreiskontrolle

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III. Rechtsprechungsentwicklung Das evolutionsorientierte Untersuchungsprogramm für die Gaspreiskontrollfälle kann damit zusammenfassend wie folgt skizziert werden: Geprüft wird auch hier, wie sich eine Herangehensweise der Zivilgerichte kristallisiert und welche Innovationen in der Rechtsprechung auf welche Selektionsparameter zurückzuführen sind. Die besondere materielle Relevanz liegt in der Anwendung von § 315 BGB, der Aufschluss über das Selbstverständnis und das privatrechtliche Leitbild der Zivilgerichte gibt, was für die übergreifende Fragestellung der Wirtschaftsordnung durch eben diese Akteure interessant ist. Erhebliche Bedeutung hat die Prüfung vor dem Hintergrund, dass es in der täglichen Gerichtspraxis geradezu zu einer Explosion von Energiepreiskontrollfällen gekommen ist. Aus der Vielzahl der Verfahren wird hier die BGH-Rechtsprechung in den Jahren zwischen 2003 und 2012 zur Gaspreiskontrolle im Verhältnis zwischen Energieversorgungsunternehmen (EVU) und Verbrauchern vorgestellt. In dieser Zeit hat der BGH 33 Entscheidungen getroffen, die hier analysiert werden. Unterinstanzliche Urteile werden nur insoweit ansatzweise berücksichtigt, als sie für das Verständnis der höchstrichterlichen Rechtsprechung wichtig sind. Die Rechtfertigung einer solchen Konzentration auf die BGH-Rechtsprechung wurde bereits dargelegt. Der Zeitraum rechtfertigt sich, da es um die erste Dekade der post-deregulativen Ära geht, in der besonders wichtige Weichen gestellt werden. Zugleich liegt in diesem Zeitraum aber auch ausreichend Fallmaterial vor, um Aussagen über die Entwicklung treffen zu können. Die zeitliche Beschränkung ergibt sich daraus, dass erst ab 2003 Entscheidungen zur Gaspreiskontrolle durch den BGH ergingen. Die zugrundeliegende Streitkonstellation konnte ja wegen der Novellierung des Energiewirtschaftsrechts erst ab 1998 entstehen. Es dauerte demnach also fünf Jahre, bis der BGH die Konsequenzen der Deregulierung spürte. Nur in Ausnahmefällen werden weitere Konstellationen, die nicht die Gaspreiskontrolle betreffen, herangezogen, soweit sie für die Herausbildung der Linie in den Gaspreis-Fällen relevant ist. Auch in anderen Versorgungsbranchen (z.B. Wasserversorgung oder Abfallentsorgung) stellen sich Probleme, die der Preiskontrolle im Gassektor ähneln. Das gilt erst recht für die der Sache nach verwandten Streitigkeiten um Strompreise und um Netznutzungsentgelte. Die Strompreis-Rechtsprechung weicht von der Gaspreis-Rechtsprechung kaum ab und ist dieser zeitlich nachgelagert, da der Strommarkt erst 2007 durch Auslaufen der BTOElt preislich dereguliert wurde. Eine Einbeziehung würde also eine Komplizierung ohne erheblichen Erkenntniszuwachs mit sich bringen. Die Netznutzungsentgelte unterscheiden sich in zwei wesentlichen Punkten von den Gaspreisen: Es geht in diesen um das Verhältnis von Verbraucher zu Unternehmen, während bei den Netzentgelten zwei Unternehmen, in der Regel Wettbewerber, vor Gericht streiten. Das anwendbare

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

Recht ist im einen Fall Zivilrecht (§ 315 BGB), im anderen Regulierungsrecht (§ 23a EnWG). Gleichwohl sind in Einzelfällen Rückgriffe auf solche Entscheidungen erforderlich.

1. Sachverhalt Beispielhaft kann für die Energiepreiskontrollfälle der Sachverhalt aus einem Heilbronner Verfahren dargestellt werden:561 Der Endverbraucher V, bekannt geworden als „Gaspreisrebell“, ist Tarifkunde562 des Energieversorgungsunternehmens U, der Stadtwerke Heilbronn, und bezieht von U Erdgas für seine Wohnung. Am 30.9.2004 gibt U durch Bekanntmachung im Heilbronner Stadtanzeiger eine Preiserhöhung für Gas und neue allgemeine Tarife zum 1.10.2004 bekannt. Eine spezifische vertragliche Regelung für Preiserhöhungen gibt es nicht, die Belieferung des V basiert vielmehr auf einem „tariflichen“ Anschluss, wie er zu Zeiten der monopolisierten Energieversorgung üblich war. Die Erhöhung wird mit den gestiegenen Bezugskosten für Erdgas begründet. Dieser Preisanstieg für Gas lässt sich auf dessen Kopplung an den Preis für leichtes Heizöl zurückführen (sog. Gas-Ölpreis-Kopplung)563. V ist empört und verweigert die Zahlung des erhöhten Preises. Er klagt auf Feststellung, dass die Preiserhöhung unwirksam ist und beantragt die Ermittlung eines billigen Preises durch das Gericht.564 Die Preiserhöhung, um die in entsprechenden Fällen gestritten wird, beträgt regelmäßig kaum mehr als wenige Cent pro Kilowattstunde, die vom Verbraucher bestrittene Entgeltforderung beläuft sich oft auf nicht mehr als ein paar Hundert Euro.

561 AG Heilbronn, 15.4.2005, Az. 15 C 4394/04, WuM 2005, 449 ff., nachgehend LG Heilbronn, 19.1.2006, Az. 6 S 16/05, WuW/E DE-R 1699 ff. sowie BGH, 13.6.2007, Az. VIII ZR 36/06, NJW 2007, 2540 ff. 562 Als Tarifkunden werden solche Verbraucher bezeichnet, die auf Basis eines einheitlich geltenden Preis- und Konditionenmodells Energie beziehen und – anders als sog. Sonderkunden – keine spezielle Vereinbarung mit dem Energieversorger abgeschlossen haben. Zur (im Einzelfall nicht überzeugenden) Abgrenzung vgl. BGH, 14.7.2010, Az.: VIII ZR 327/07, BB 2010, 2140 und Az.: VIII ZR 6/08, BeckRS 2010, 19645. Die Tarife waren bis 2006 durch die AVBGasV von 1979 reguliert, diese wurde durch die GasGVV ersetzt, die allgemeine Regelungen für Tarifkunden trifft. 563 Die sog. Gas-Ölpreis-Kopplung war eine jahrzehntelang praktizierte Preissetzung der Gasversorger, die vom BGH 2010 für unzulässig erklärt wurde, BGH, 24.3.2010, Az. VIII ZR 178/08, NJW 2010, 2789 ff. 564 Alternative prozessuale Einkleidungen sind die Klage des U auf Leistung oder des V auf Rückzahlung des bereits geleisteten Gaspreises.

D. Vertragsfreiheit und Ungleichgewichtslagen: Gaspreiskontrolle

465

2. Anträge und Entscheidungen Die folgenden 33 Entscheidungen sind Grundlage der Analyse: Datum

Az.

Fundstelle

Ausgangsort

Kernthema

NJW 2003, 1449

Berlin

Rückforderung, Beweislast § 812 BGB (Strom)

2003–04–30 VIII ZR 279/ NJW 2003, 02 u. 278/02 3131

Berlin

Beweislast (Wasser)

2005–07–05 X ZR 60/04 NJW 2005, u 99/04 2919

Berlin

Zahlungspflicht trotz Einwendung (Abfall)

2005–09–21 VIII ZR 38/05

NJW-RR 2005, 1717

Stuttgart

Preisanpassungsklausel (Flüssiggas)

2005–10–18 KZR 36/04

NJW 2006, 684

Mannheim

Anwendbarkeit 315 auf Stromnetznutzung vor 2003

2006–02–07 KZR 8/05

GRUR 2006, 699

Stuttgart

Stromnetznutzungsentgelt II (vor EnWG 2005)

2006–02–15 VIII ZR 138/05

NJW 2006, 1667

Frankfurt an der Oder

gleichartiger Versorgerpreis (Fernwärme)

2006–10–11 VIII ZR 270/05

NJW 2007, 210

Bad Schwalbach

automatische Preisgleitklausel (Fernwärme)

2006–12–13 VIII ZR 25/06

NJW 2007, 1054

Köln

Kündigungsrecht bei Preisanpassung (Flüssiggas)

2007–03–28 VIII ZR 144/06

NJW 2007, 1672

Potsdam

Anwendbarkeit 315 bei Wechselmöglichkeit (Strom)

2007–06–13 VIII ZR 36/06

NJW 2007, 2540

Heilbronn

Anwendbarkeit 315, Substitutionswettbewerb, Kostenweitergabe

2008–03–04 KZR 29/06

NJW 2008, 2175

Hildesheim

315 bei Netznutzung vor EnWG 2005

2008–04–29 KZR 2/07

NJW 2008, 2172

Dresden

Preisanpassungsklausel AGB

2008–11–19 VIII 138/07

NJW 2009, 502

Dinslaken

Nachweispflichten für Billigkeit bei Tariferhöhung, Geheimnisschutz

2008–12–10 KVR 2/08

NJW 2009, 1212

Celle

Kartellrechtliche Preiskontrolle durch LKB

2008–12–17 VIII ZR 274/06

NJW 2009, 578

Euskirchen

Preisanpassungsklausel nach AGB-Recht

2003–02–05 VIII ZR 111/02

466 Datum

Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

Fundstelle

Ausgangsort

Kernthema

2009–07–08 VIII ZR 314/07

Az.

NJW 2009, 2894

Oldenburg

Beweisanforderungen bei Billigkeit

2009–07–15 VIII ZR 225/07

NJW 2009, 2662

Berlin

AGB in Sondervertrag, Ölpreiskopplung

2009–07–15 VIII ZR 56/08

NJW 2009, 2667

Verden

AGB in Sondervertrag, Formelübernahme in AGB

2009–10–28 VIII ZR 320/07

NJW 2010, 993

Bremen

AGB in Sondervertrag

2010–01–13 VIII ZR 81/08

NJW-RR 2010, 1202

Essen

AGB bei Normsonderkunden

2010–01–27 VIII ZR 326/08

NJW-RR 2010, 1205

Potsdam

AGB-Kontrolle

2010–03–24 VIII ZR 178/08

NJW 2010, 2789

Köln

Ölpreisbindung

2010–03–24 VIII ZR 304/08

NJW 2010, 2793

Frankfurt am Main

Ölpreisbindung

2010–07–14 VIII ZR 246/08

NJW 2011, 50 Oldenburg

Preisanpassungsklausel wie in AVBGasV, konkludente Fortsetzung

2010–07–14 VIII ZR 327/07 u. 6/08

RdE 2010, 384 Oldenburg

wie zuvor, Prüfung der Billigkeit, Darlegungslast

2010–09–07 BVerfG, 1 NJW 2011, BvR 2160/09, 1339 1 BvR 851/10

Berlin u.a.

Preisanpassungsklausel und Grundgesetz

2011–02–09 VIII ZR 295/09

NJW 2011, 1342

Wiesbaden

Kein Preisänderungsrecht bei Sonderkunde (AGB)

2011–02–09 VIII ZR 162/09

NJW 2011, 1392

Dortmund

Vorlagebeschluss Sonderkundenverträge (anhängig, EuGH, Rs. C-92/11)

2011–04–06 VIII ZR 273/09

NJW 2011, 2501

DessauRoßlau

Preisanpassung (Fernwärme)

2011–05–18 VIII ZR 71/10

ZIP 2011, 1620 Ravensburg

Vorlagebeschluss Tarifkunden (anhängig, EuGH, Rs. C-359/11)

2012–02–28 VIII ZB 54/11 u.a.

lexetius.com/ Hamburg 2012,702

Aussetzung wegen Massenverfahren

2012–03–14 VIII ZR 113/ BB 2012, 1501 Wipperfürth, Ergänzende Vertragsaus11 u. 93/11 Hamburg legung für Beanstandung

D. Vertragsfreiheit und Ungleichgewichtslagen: Gaspreiskontrolle

467

Schon diese Übersicht lässt mehrere Punkte erkennen: Erstens ist die Gaspreiskontrolle die Domäne des VIII. Zivilsenats beim BGH, jedoch muss dieser immer wieder Entscheidungen anderer Senate zur Kenntnis nehmen, die sich auf seine Rechtsprechung auswirken. Zweitens zeigt die geographische Verteilung, dass die Fragen im ganzen Bundesgebiet von zahlreichen Amtsund Landgerichten entschieden worden sind. Das belegt auch, dass fast alle Entscheidungen, selbst in sehr kurzem Abstand, in der NJW veröffentlicht wurden, also der juristischen Zeitschrift, die sich an ein sehr breites, allgemeines Publikum richtet. Die Liste zeigt aber auch, dass sich die Rechtsprechung zunehmend spezialisierte. Waren am Anfang noch Entscheidung etwa aus den Bereichen der Wasserversorgung oder der Abfallentsorgung für die Rechtsprechung von Relevanz, reichte mit zunehmender Fallzahl die Energieversorgung als Bezugsrahmen. Das bedeutet auch, dass sich eine branchenspezifische, von der übrigen Rechtsentwicklung möglicherweise abgekoppelte Judikatur entwickelte. Hier zeigt sich erneut die Bedeutung der Häufigkeit der Klageerhebung für die Entwicklung der Rechtsprechung. Schließlich ist auffällig, dass das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof erst relativ spät in die Rechtsprechung einbezogen wurden. Die Vorlagefragen sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt vom EuGH noch nicht entschieden.565 Die oben genannten Fälle werden, der evolutionären Herangehensweise entsprechend, zunächst chronologisch knapp dargestellt, bevor drei Aspekte vertieft problematisiert werden, um die Innovationen herausarbeiten zu können.566 Die anschließende Analyse wird auf zwei Schlüsselfragen beschränkt: die Frage der Anwendungsvoraussetzungen von § 315 BGB und die Frage des Billigkeitsmaßstabs. In der Entscheidung VIII ZR 111/02567 entschied der BGH erstmals seit der Deregulierung der Energiemärkte 1998 über eine Berliner Verbraucherklage wegen überhöhter Preise. Der Kläger hatte hier eine Rückforderung in Höhe von 5752,50 DM auf ungerechtfertigte Bereicherung gestützt, da die in Rechnung gestellten Preise unbillig seien und damit die Preisbestimmung unverbindlich nach § 315 Abs. 3 BGB. Wesentlicher Gegenstand des 2003 ergangenen Urteils war die Befassung mit der Darlegungs- und Beweislast im Rückforderungsprozess. In einem solchen Verfahren müsse der Kläger beweisen, dass die ursprüngliche Forderung nicht bestand, sodass der Abnehmer in diesem Fall die Unbilligkeit nachzuweisen habe.568 Aufgrund fehlender Sach565 566

EuGH, Rs. C-92/11 und Rs. C-359/11, siehe dazu unten. Einen ähnlichen Zugriff bietet Büdenbender, Zulässigkeit der Preiskontrolle, 2005, S. 19–

48. 567 BGH, 5.2.2003, Az. VIII ZR 111/02, NJW 2003, 1449. Dazu Stappert, NJW 2003, 3177 ff. 568 Kritisch Hanau, ZIP 2006, 1281, 1288. Nach einer späteren Entscheidung trägt auch im Rückforderungsprozess das EVU die Beweislast, wenn der Kunde nur unter Vorbehalt gezahlt hat, vgl. BGH, 4.3.2008, Az. KZR 29/06, NJW 2008, 2175, 2177.

468

Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

kenntnis habe der Verbraucher zwar nur Zumutbares zu leisten, aber im konkreten Fall unterliege er dennoch, da das EVU substantiiert bestritten habe. In einem Zahlungsprozess, der die Wasserversorgung betraf, wendete der BGH kurz darauf wiederum Beweislastregeln an.569 Das Unternehmen der Daseinsvorsorge treffe im Zahlungsprozess (anders als im Rückforderungsprozess) die Darlegungs- und Beweislast für die Billigkeit der Ermessensausübung bei Festsetzung des Entgelts nach § 315 Abs. 3 BGB. Der BGH hob daher die Vorinstanz, die zugunsten des Versorgers entschieden hatte, auf und verwies zur Prüfung der Unbilligkeit zurück. Im nächsten Urteil des BGH, das über zwei Jahre später erging, prüfte der X. Senat AGB eines Abfallentsorgungsbetriebs und hielt fest, dass es „seit langem anerkannt“ sei, dass bei Versorgungsunternehmen die Entgeltkontrolle nach § 315 Abs. 3 BGB erfolge.570 Einwendungen könnten darauf gestützt werden, auch wenn Anschluss- und Benutzungszwang und eine Genehmigung der Tarife durch eine Aufsichtsbehörde vorlägen. Im konkreten Fall erklärte der BGH eine Klausel in den Geschäftsbedingungen für unwirksam nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB, die eine Zahlungspflicht trotz Einwendung vorsah und den Kläger auf den Rückforderungsprozess verwies. Der VIII. Senat prüfte 2005 eine Preisanpassungsklausel in einem Flüssiggasliefervertrag.571 Vorgesehen war, dass bei Änderung der Gestehungspreise, der Steuersätze oder sonstiger Kosten der Versorger den Gaspreis einseitig im Umfang der Veränderung ändern könne. Bei einem Absinken dieser Kosten könne der Verbraucher Neufestsetzung des Preises im Rahmen der Veränderungen verlangen. Der BGH erklärte diese Klausel aus drei Gründen für unwirksam nach § 307 Abs. 1 BGB. Der Verbraucher habe keinen Einblick in die Betriebskosten, es fehle an einer Gewichtung der Kosten für den Gaspreis insgesamt und nicht berücksichtigt werde, dass sich der Gesamtpreis auch ermäßigen könne. Der Kartellsenat des BGH entschied einen Durchleitungsfall, der das Stromnetz vor Geltung des EnWG 2005 betraf.572 Dadurch war nach Ansicht des Senats § 315 BGB noch anwendbar, sodass dem Unternehmen, dessen Strom durchgeleitet wurde gegen die Preisfestsetzung der Einwand der Unbilligkeit zustand. Der Billigkeitsmaßstab sei am Gesetzeszweck des EnWG auszurichten. Diese Linie setzte der Kartellsenat im nächsten Urteil fort, indem er wiederum in einem Stromnetznutzungsfall eine Anwendung von § 315 BGB bejahte, der durch das EnWG konkretisiert werde.573 569

BGH, 30.4.2003, Az. VIII ZR 279/02, NJW 2003, 3131. BGH, 5.7.2005, Az. X ZR 60/04, NJW 2005, 2919, 2920. 571 BGH, 21.9.2005, Az. VIII ZR 38/05, NJW-RR 2005, 1717. Dazu Rott, VuR 2006, 1 ff. 572 BGH, 18.10.2005, Az. KZR 36/04, NJW 2006, 684 = JZ 2006, 679 m. Anm. Bork. Kritisch Kühne, NJW 2006, 654 ff. 573 BGH, 7.2.2006, Az. KZR 8/05, GRUR 2006, 699 – Stromnetznutzungsentgelt II. 570

D. Vertragsfreiheit und Ungleichgewichtslagen: Gaspreiskontrolle

469

In einem Fall, der die Lieferung von Fernwärme betraf entschied der VIII. Senat über die Beanstandung des Preises durch die Beklagte.574 Eine ausdrückliche Preisvereinbarung fehlte hier, der BGH zog daher die Bedingungen der AVBFernwärmeV heran (und nicht § 315 BGB, aber mit Bezugnahme auf Fälle dieser Art). Der Versorger hatte demnach seine Preise an gleichartigen Versorgungsverhältnissen auszurichten und war dafür beweispflichtig. Eine Verweisung des Kunden auf einen Rückforderungsprozess nahm der Senat nicht hin. Der nächste Fall betraf wiederum Fernwärme.575 Der BGH verneinte die Anwendung von § 315 Abs. 3 BGB auf die Preisbestimmung nach einer automatischen Preisgleitklausel, da diese dem Versorger kein Ermessen lasse. § 315 BGB setze aber einen gewissen Ermessensspielraum voraus. Der Kläger hatte daher zu zahlen. Der Senat entschied sodann über die Klage eines Verbands i.S.d. § 4 Abs. 1 UKlaG gegen eine Kündigungsklausel bei Preisanpassungen bei Flüssiggasbelieferung.576 Preisanpassungsklauseln (sog. Kostenelementeklauseln) hält der BGH für grundsätzlich wirksam.577 Im konkreten Fall ermöglichte die Klausel bei kundenfeindlichster Auslegung allerdings eine Erhöhung über die Kostensteigerung hinaus. Im Gegenzug war den Verbrauchern ein Kündigungsrecht nach Preisanpassung eingeräumt, das aber so ausgestaltet war, dass der Versorger für einen gewissen Zeitraum nach der Preisanpassung einen sicheren Gewinn einstreichen konnte. Dies empfand der BGH als unangemessen im Sinne von § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB. Der Senat setzte sich im nächsten Urteil, das 2007 erging, wieder dezidiert mit § 315 BGB auseinander und verneinte dessen Anwendbarkeit.578 Der Beklagte hatte sich gegen die Zahlungsforderung für Strom auf den Einwand der Unbilligkeit gestützt. Der BGH ging jedoch davon aus, der Strompreis sei in Form des allgemeinen Tarifs vertraglich vereinbart worden, also stehe dem EVU kein Leistungsbestimmungsrecht zu. Auch eine analoge Anwendung, wie früher für Unternehmen der Daseinsvorsorge angenommen, scheide aus, da der Anbieter kein Monopol (mehr) innehabe. In der Entscheidung VIII ZR 36/06579 entschied der BGH 2007 über die eingangs geschilderte Heilbronner Auseinandersetzung, die nicht zuletzt wegen einer sehr verbraucherfreundlichen Entscheidung der Vorinstanz580 für Aufse574

BGH, 15.2.2006, Az. VIII ZR 138/05, NJW 2006, 1667. BGH, 11.10.2006, Az. VIII ZR 270/05, NJW 2007, 210. 576 BGH, 13.12.2006, Az. VIII ZR 25/06, NJW 2007, 1054. 577 Vgl. Hilber, BB 2011, 2691 ff. 578 BGH, 28.3.2007, Az. VIII ZR 144/06, NJW 2007, 1672. Dazu Strohe, NZM 2007, 871 ff.; Markert, Zur Kontrolle von Strom- und Gaspreiserhöhungen, 2007, S. 4 ff. 579 BGH, 13.7.2007, Az. VIII ZR 36/06, NJW 2007, 2540. Kritisch Markert, Zur Kontrolle von Strom- und Gaspreiserhöhungen, 2007, S. 4 ff. 580 LG Heilbronn, 19.01.2006, Az. 6 S 16/05, RdE 2006, 88 = WuW/E DE-R 1699. 575

470

Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

hen gesorgt hatte. In dieser umfassenden Auseinandersetzung mit der Gaspreiskontrolle bejahte der Senat die Anwendbarkeit von § 315 Abs. 3 BGB auf einseitige Tariferhöhungen, nicht aber auf den ursprünglich vereinbarten Tarif (Preissockel). Der Senat weigerte sich zudem, die Ölpreiskopplung im Rahmen der Billigkeit zu prüfen und sah ein konkludentes Einverständnis mit der Gaspreiserhöhung, wenn der Tarif über einen gewissen Zeitraum vom Kunden unbeanstandet bleibt. Zudem schloss er an die AGB-Rechtsprechung insoweit an, als die Kostenweitergabe möglich sein muss, aber ggf. durch rückläufige Kosten in anderen Bereichen ausgeglichen werden müsse. Eine analoge Anwendung von § 315 BGB scheide im Übrigen aus, da die Gasversorger im Substitutionswettbewerb mit anderen Energieanbietern stünden. In der nachfolgenden Entscheidung bejahte der Kartellsenat wiederum die volle Anwendung des § 315 BGB auf die Bestimmung des Netznutzungsentgelts für den Zeitraum vor Inkrafttreten der diesbezüglichen Regulierung wegen eines gesetzlich eingeräumten Leistungsbestimmungsrechts.581 Der Maßstab der Billigkeit ergebe sich aus der typischen Interessenlage des Netznutzungsverhältnisses und den gesetzlichen Vorgaben. Der Kartellsenat grenzte sich ausdrücklich auch von der Rechtsprechung des VIII. Senats bezüglich der Überprüfung des vertraglich vereinbarten Preissockels und der fehlenden Beanstandung einer Tariferhöhung durch den Abnehmer ab. Der Kartellsenat entschied auch den nächsten Fall gegen das Versorgungsunternehmen.582 150 sächsische Gaskunden hatten gegen eine Preiserhöhungsklausel geklagt, derzufolge das EVU Preisänderungen des Vorlieferanten weitergeben dürfe. Da nicht ausdrücklich klargestellt wurde, dass entsprechende Preissenkungen weiterzugeben seien, hielt der BGH diese Klausel für unangemessen. Das vertragliche Äquivalenzverhältnis sei nicht gewahrt. Dem stehe auch nicht entgegen, dass die Klausel dem Leitbild von Normen in der AVBGasV folge. Ein Kündigungsrecht könne angesichts einer marktbeherrschenden Stellung des EVU die Preisklausel nicht ausgleichen. Eine marktbeherrschende Stellung konnte der Kartellsenat annehmen, da er – im Gefolge der Entscheidung Fernwärme für Börnsen583 – keinen Substitutionswettbewerb von Erdgas und Fernwärme erkennen konnte. In der nächsten Entscheidung des VIII. Senats war über einen Fall vom AG Dinslaken zu entscheiden, der einen Streitwert von 594,84 hatte.584 Der Senat versagte sich eine umfassende Kontrolle nach § 315 BGB und stellte lediglich die Tariferhöhungen nach AVBGasV unter den Vorbehalt der Billigkeit, schränkte aber die Nachweispflichten des Versorgers für Kostensteigerungen erheblich ein und verneinte auch, dass die Preise einer Gesamtwürdigung mit 581 582 583 584

BGH, 4.3.2008, Az. KZR 29/06, NJW 2008, 2175 – Stromnetznutzungsentgelt III. BGH, 29.4.2008, Az. KZR 2/07, NJW 2008, 2172. BGH, 9.7.2002, Az. KZR 30/00, NJW 2002, 3779 – Fernwärme für Börnsen. BGH, 19.11.2008, Az. VIII ZR 138/07, NJW 2009, 502.

D. Vertragsfreiheit und Ungleichgewichtslagen: Gaspreiskontrolle

471

eventuellen Rückgängen in anderen Bereichen unterzogen würden. Ausdrücklich wurde auf das Geheimhaltungsinteresse des EVU an seiner Kalkulation verwiesen. Dieser Entscheidung setzte der Kartellsenat ein Urteil entgegen, in dem eine kartellbehördliche Preiskontrolle nach den Maßstäben des § 19 Abs. 1 GWB stattgefunden hatte.585 Er bestätigte – mangels Substituierbarkeit von Gas durch andere Wärmeenergieträger – die marktbeherrschende Stellung eines Stadtwerks in der Gasversorgung und nahm an, dass hier ein Missbrauch durch überhöhte Preise stattgefunden haben könnte. In einem obiter dictum stellte der Senat zudem fest, dass keine Bedenken gegen eine Anordnung seitens der Kartellbehörde bestünden, mit der die Stadtwerke verpflichtet würden, zuviel gezahlte Entgelte an die Gasverbraucher auszukehren.586 In der nächsten Entscheidung des VIII. Senats zu Gaspreisen wandte sich dieser wieder der AGB-Kontrolle zu und erklärte eine Preisanpassungsklausel für unwirksam, da diese nicht klar und verständlich formuliert sei.587 Da die Klausel bereits an ihrer Unverständlichkeit scheiterte, war auf die Anwendbarkeit von § 315 BGB nicht mehr einzugehen. In den folgenden Entscheidungen aus dem Jahr 2009 waren Beweisfragen bei der Billigkeit ausschlaggebend.588 Der VIII. Senat bejahte eine Anwendung von § 315 BGB auf tarifliche Gaspreiserhöhungen (unter Ausschluss der Prüfung des Sockels und hingenommener Erhöhungen), verwies den Fall aber zurück, da weitere Tatsachenfeststellungen zur Billigkeit hätten erfolgen müssen. Die Beweisanforderungen wurden nunmehr für das EVU verschärft. Dieses könne zwar Kostensteigerungen weitergeben, aber müsse genau darlegen, welche Schwierigkeiten sich bei Offenlegungen bestimmter Kalkulationen ergeben würden. In zwei Entscheidungen, die derselbe Senat nur eine Woche später fällte, ging es wieder um das AGB-Recht statt um § 315 BGB. Im Berliner Fall589 grenzte der Senat Tarifkunden und Sonderkunden voneinander ab. Sonderkunden würden nach allgemeinem Vertragsrecht behandelt, es entfällt daher die einseitige Leistungsbestimmung aus Gesetz, die bei Tarifanwendung bislang angenommen worden war. Dementsprechend prüfte der Senat eine Preisanpassungsklausel an AGB-Recht, die das gesetzliche Preisänderungsrecht nach den AVBGasV unverändert wiedergab, und stellte keine Unangemessenheit im Sinne von § 307 BGB fest. Die Vorinstanz hatte noch – in der Annahme, es handele sich um einen Tarifkunden – den Maßstab des § 315 BGB

585

BGH, 10.12.2008, Az. KVR 2/08, NJW 2009, 1212 – Stadtwerke Uelzen. Speziell zu diesem heftig umstrittenen Aspekt der Entscheidung siehe Fuchs, ZWeR 2009, 176 ff. sowie Podszun, ZWeR 2012, 48, 66. 587 BGH, 17.12.2008, Az. VIII ZR 274/06, NJW 2009, 578. 588 BGH, 8.7.2009, Az. VIII ZR 314/07, NJW 2009, 2894. 589 BGH, 15.7.2009, Az. VIII ZR 225/07, NJW 2009, 2662. 586

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

angelegt.590 Eine Preisanpassungsklausel, die auf die Ölpreiskopplung verwies, wurde aber wegen der Möglichkeit uneingeschränkter Kostenweitergabe für eine Abweichung vom Äquivalenzverhältnis gehalten. Eine Kündigungsmöglichkeit hebe dies angesichts der Monopolstellung des EVU nicht auf. Im parallel entschiedenen Verdener Fall591 nahm der Senat dieselbe Ausgangsposition ein und prüfte wiederum die AGB. Eine Klausel, die lediglich ein gesetzliches Preisänderungsrecht aus der GasGVV übernimmt, wurde für zulässig erachtet. Eine Klausel, die im Detail davon abwich und explizit eine einseitige Leistungsbestimmung nach billigem Ermessen zusagte, wurde als unangemessene Benachteiligung gewertet. Es fehlte bei kundenfeindlichster Auslegung die Verpflichtung, Kostensenkungen weiterzugeben. In der nächsten Entscheidung blieb der Senat bei der AGB-Kontrolle entsprechender Verträge und erklärte weitere Preisanpassungsklauseln für unwirksam, da wiederum eine Pflicht zur Weitergabe von Kostensenkungen nicht eindeutig festgelegt war.592 Der Senat betonte, wie bereits in anderen Entscheidungen zuvor, dass ein Kündigungsrecht zur Sicherung der Kundenrechte nicht genüge und dass eine ergänzende Vertragsauslegung nicht in Betracht komme. Im Jahr 2010 setzte der Senat diese Linie der AGB-Kontrolle in einer weiteren, ganz ähnlichen Entscheidung fort, in dem er 180 Gaskunden im Streit um eine Anpassungsklausel mit den Stadtwerke Essen Recht gab.593 Kurz darauf wurden mehrere Klauseln in einer Verbandsklage gegen die Stadtwerke Potsdam vom BGH für unangemessen erklärt.594 Gegenstand waren diesmal AGB, die sowohl für Kunden in der Grundversorgung (Tarif) als auch Sonderkunden galten und zahlreiche Themen betrafen. Keine der geprüften Klauseln hielt einer AGB-Kontrolle stand, da von gesetzlichen Vorgaben, insbesondere aus der GasGVV zum Nachteil des Kunden abgewichen wurde. Eine Differenzierung nach verschiedenen Kundengruppen fand nicht statt. In zwei Parallelentscheidungen befasste sich der VIII. Senat sodann wiederum mit derartigen Klauseln, aber auch mit der formularmäßig vereinbarten Kopplung des Gaspreises an den Preis für leichtes Heizöl (sog. Ölpreis-Kopplung). Im Kölner595 wie im Frankfurter596 Fall argumentierte der BGH, dass die Ölpreiskopplung zwar zu einer automatischen Preisanpassung führe, für welche das EVU kein Ermessen habe, aber die Klausel berücksichtige nicht entsprechend einen Rückgang der sonstigen Gestehungskosten des EVU. Die 590 LG Berlin, 28.6.2007, Az. 51 S 16/07, S. 8, abrufbar unter http://www.raepower.de/Dokumente/20070628_LG_Berlin.pdf. 591 BGH, 15.7.2009, Az. VIII ZR 56/08, NJW 2009, 2667 = BB 2009, 2278 m. Anm. Zabel. 592 BGH, 28.10.2009, Az. VIII ZR 320/07, NJW 2010, 993. 593 BGH, 13.1.2010, Az. VIII ZR 81/08, NJW-RR 2010, 1202. 594 BGH, 27.1.2010, Az. VIII ZR 326/08, NJW-RR 2010, 1205. 595 BGH, 24.3.2010, Az. VIII ZR 178/08, NJW 2010, 2789. 596 BGH, 24.3.2010, Az. VIII ZR 304/08, NJW 2010, 2793 m. Anm. Mehari/Rieth.

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grundsätzliche Pflicht, auch Kostensenkungen weiterzugeben, wenn Kostenerhöhungen weitergegeben werden können, wurde damit ausdrücklich auch in Zusammenhang mit der Ölpreisbindung thematisiert. Auch in der nächsten Entscheidung prüfte der BGH nach AGB-Recht und thematisierte erneut die wörtliche Übernahme des gesetzlichen Preisänderungsrechts in der Grundversorgung nach AVBGasV bzw. GasGVV in Gassonderverträge, von deren Bestehen der Senat hier ausging.597 Bei unveränderter Übernahme sei die Klausel nicht unangemessen. Eine weitere Preisanpassungs- und Kündigungsklausel erklärte der BGH allerdings für unangemessen. Der Senat übertrug die frühere Rechtsprechung zum konkludenten Einverständnis mit einer Erhöhung auf Sonderkundenverträge. Allerdings sei bei Nichtbeanstandung in angemessener Zeit nicht auch davon auszugehen, dass der Verbraucher das formularmäßig festgelegte einseitige Preisanpassungsrecht als solches akzeptiere. In einem am selben Tag entschiedenen Parallelverfahren wandte der BGH diese Grundsätze an.598 Für die noch prüfungsfähige, weil rechtzeitig beanstandete letzte Erhöhung wurde wiederum § 315 Abs. 3 BGB herangezogen. Der Senat wies darauf hin, dass es für die schlüssige Darlegung der Billigkeit genüge, wenn ein Wirtschaftsprüfer bestätige, dass die Bezugskosten gestiegen seien. Ein solches Testat sei aber wie ein Privatgutachten zu behandeln und könne vom Verbraucher pauschal bestritten werden. Damit entschied der Senat eine wichtige prozessuale Frage. Untergerichte hatten nämlich die Anforderungen, die an das Bestreiten durch den Verbraucher gestellt wurden, unterschiedlich hoch angesetzt.599 Ein substantiiertes Bestreiten wäre für Verbraucher eine starke Hürde im Prozess gewesen. Das Bundesverfassungsgericht entschied 2010 zu den Gaspreis-Fällen und nahm eine Verfassungsbeschwerde des Berliner Gasversorgungsunternehmens GASAG nicht zur Entscheidung an.600 Die Berufsfreiheit sei durch die AGBKontrolle nicht verletzt worden, die AGB-Kontrolle verhelfe vielmehr der Vertragsfreiheit der Parteien zur Wirksamkeit, da sie gerade das Äquivalenzverhältnis zwischen den Parteien sichere, also die mangelnde Verhandlungsmacht eines Vertragspartners kompensiere. Durch die Unwirksamkeit der Preisanpassungsklausel würden zwar aus variablen Preisen faktisch Fixpreise, dies sei aber nur die Reaktion auf die zuvor erfolgte, rechtswidrige Verschiebung der Preissetzungsfreiheit zugunsten des Energieversorgers. Eine ergän597

BGH, 14.7.2010, Az. VIII ZR 246/08, NJW 2011, 50. BGH, 14.7.2010, Az. VIII ZR 327/07, RdE 2010, 384. 599 Vgl. Däuper in: Zenke/Wollschläger, § 315 BGB: Streit um Versorgerpreise, 2007, S. 163 m.w.N. 600 BVerfG, 7.9.2010, Az. 1 BvR 2160/09 und 1 BvR 851/10, NJW 2011, 1339; die zugrunde liegenden Entscheidungen sind der o.g. Entscheid BGH, 15.7.2009, Az. VIII 225/07, NJW 2009, 2662, sowie ein hier nicht aufgeführter Beschluss des BGH vom 28.1.2010, Az. 312/08, NJW-RR 2010, 642, mit dem lediglich die Revision eines Berliner Verfahrens nicht zugelassen wurde. 598

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zende Vertragsauslegung sei bei einer solchen Konstellation nicht verfassungsrechtlich geboten. Die Linie des BGH in der Klauselkontrolle wurde damit als verfassungsgemäß eingeschätzt. Zu Beginn des Jahres 2011 knüpfte der BGH noch einmal an die Unterscheidung von Tarifkunden (mit Geltung der AVBGasV) und Sonderkunden (mit ausgehandelten Verträgen) an.601 Eine Preisänderung im Verhältnis zum Sonderkunden könne nicht auf das gesetzliche Preisänderungsrecht gestützt werden. Die Vorinstanz hatte sich auf die Feststellungen des BGH aus anderen Urteilen gestützt, dass dem Versorger ein Preisänderungsrecht zustehe und der Preissockel nicht mehr überprüfbar sei.602 Aus Sicht des Kunden liege ein Sondervertrag vor, sodass das EVU kein gesetzliches Preisänderungsrecht aus AVBGasV habe. Das OLG hatte den Vertrag so gedeutet, dass die Bestimmungen der AVBGasV unverändert übernommen worden seien. Dies sah der BGH anders. Mangels Preisänderungsrecht sei dann auch kein Raum für eine Überprüfung nach § 315 BGB, selbst bei beanstandungslosem Bezug. Am selben Tag entschied sich der BGH in einem weiteren Anpassungsklauselfall für eine Vorlage zum EuGH.603 Hier war eine unveränderte Übernahme der gesetzlichen Regelungen in einen Sonderkundenvertrag erfolgt. Vorgelegt wurden zwei Fragen: erstens will der BGH wissen, ob diese unveränderte Übernahme in Verträge von Sonderkunden unter die RL 93/13/EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen fällt. Zweitens soll der EuGH erklären, ob nach dieser RL sowie der RL 2003/55/EG über den Erdgasbinnenmarkt bestimmte Kündigungsmöglichkeiten für Gaskunden ausreichen, auch wenn die Regelungen zu Preisanpassungen im Übrigen nicht näher spezifiziert sind. Mit beiden Vorlagefragen, die sich in einer Klage der Verbraucherzentrale NRW ergaben, stellt der BGH seine eigene Rechtsprechung zur Einbeziehung der AVBGasV in Sonderkundenverträge und zu den Voraussetzungen von Kündigungsmöglichkeiten in Frage. In einer weiteren EuGH-Vorlage stellte der BGH wenige Monate später die gesetzliche Regelung für Tarifkunden in § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV auf den Prüfstand.604 Der Senat will nun wissen, ob diese Normen dem Transparenzgebot der RL 2003/55/EG standhalten, obwohl sie nicht die Voraussetzungen der Preisänderung genauer spezifizieren. In Zusammenfassung seiner Rechtsprechung legt der BGH im Vorlagebeschluss dar, dass derzeit eine Überprü601

BGH, 9.2.2011, Az. VIII ZR 295/05, NJW 2011, 1342. OLG Frankfurt, 13.10.2009, 11 U 28/09 (Kart), RdE 2010, 104. 603 BGH, 9.2.2011, Az. VIII ZR 162/09, NJW 2011, 1392 (ohne Gründe) = BB 2011, 719 (mit Gründen u. Anm. Zabel). Inzwischen entschieden, EuGH, 21.3.2013, Rs. C-92/11, NJW 2013, 2253 – RWE Vertrieb; Folgeentscheidung des BGH, 31.7.2013, Az. VIII ZR 162/09, NJW 2013, 3647. Dazu Säcker/Mengering, BB 2013, 1859 ff. 604 BGH, 18.5.2011, Az. VIII ZR 71/10, ZIP 2011, 1620. Das Verfahren ist beim EuGH als Rs. C-359/11 anhängig. Ebenso stellte der BGH die Frage für den Strombezug, vgl. BGH, 29.6.2011, Az. VIII ZR 211/10, ohne Gründe in ZIP 2011, 1622. Dieses Verfahren ist beim EuGH als Rs. C-400/11 anhängig. 602

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fung nach § 315 BGB erfolgen könne, wenn die Leistungsbestimmung gerügt werde. Zwischen den beiden EuGH-Vorlagen hatte der Senat seine Rechtsprechung zu Preisanpassungsklauseln in Gasverträgen auf Fernwärme-Verträge übertragen.605 In seiner jüngsten Entscheidung zu Preisanpassungsklauseln in ErdgasSonderkundenverträgen hat sich der VIII. Senat ausweislich der Pressemitteilung des BGH noch einmal um die Frage gekümmert, wann eine Beanstandung gegen eine Preiserhöhung erfolgen müsse.606 Der Senat nimmt nun an, dass ein Widerspruch vor dem Ablauf von drei Jahren zu erfolgen habe. Es liege in dieser Frage eine Regelungslücke vor, die die Parteien so geschlossen hätten (ergänzende Vertragsauslegung nach §§ 133, 157 BGB), dass nach Ablauf von drei Jahren die Preisanpassung als genehmigt gilt. Vor dieser Entscheidung hatte der BGH Beschlüsse in über 20 Parallelverfahren gefällt, die einen passenden Abschluss zu dieser Rechtsprechungsübersicht bilden.607 Gegenstand war die Beschwerde gegen Aussetzungsbeschlüsse des LG Hamburg in zahlreichen Gaspreis-Verfahren. Das LG hatte analog § 148 ZPO Verfahren ausgesetzt, bis der BGH in noch anhängigen GaspreisFällen (u.a. einem Fall, in dem der BGH den EuGH angerufen hatte) entschieden hat. Zwar seien, so das LG, diese Entscheidungen nicht unmittelbar vorgreiflich (wie in § 148 ZPO zur Voraussetzung der Aussetzung gemacht), aber nach Abschluss der gleichgelagerten BGH-Verfahren sei zu erwarten, dass die Klägerin die Berufung zurücknehme oder der Beklagte die Forderung anerkenne. Hintergrund ist, und hier schließt sich der Kreis zur anfangs dargestellten Klageflut, dass am LG Hamburg noch 280 Berufungsverfahren in gleichgelagerten Fällen anhängig sind. Eine angemessene Bearbeitung sei für das LG nicht zu schaffen, die Wirtschaftlichkeit gebiete daher die Aussetzung, auch wenn die „normale“ Prozessökonomie dies nicht trage. Der BGH hob die Aussetzungsbeschlüsse auf. § 148 ZPO verlange eine rechtliche Vorgreiflichkeit, keine möglicherweise faktische Beeinflussung des Verhaltens der Parteien. Die Einführung eines Musterverfahrens ohne gesetzgeberische Legitimation sei nicht möglich. Zudem würden die Ausführungen des Hamburger Landgerichts nicht ausreichend darlegen, wie die Mehrbelastung durch die Verfahrenszahl aussehe. Es werde nicht deutlich, dass die gerichtlichen Kapazitäten erschöpft würden oder die Verfahren schlechthin nicht zu bewältigen wären. Das Entdeckungsverfahren Gaspreiskontrolle ist also noch lange nicht abgeschlossen.

605 606 607

BGH, 6.4.2011, Az. VIII ZR 273/09, NJW 2011, 2501. BGH, 14.3.2012, Az. VIII ZR 113/11 und 93/11, BB 2012, 1501. BGH, 28.2.2012, Az. VIII ZB 54/11 u.a., abrufbar unter http://lexetius.com/2012,702.

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3. Anwendung von § 315 BGB in Gaspreisfällen Die erste Frage für Gerichte in Fällen der Gaspreiskontrolle, die ja, wie gesehen, als „new cases“ beim BGH ankommen, ist die, mit welcher Norm dem Interesse der Verbraucherpartei an einer Überprüfung der Gaspreiserhöhung überhaupt Rechnung getragen wird. Die Hinwendung zu § 315 BGB war hier nicht alternativlos. Es wäre zumindest nicht völlig ausgeschlossen gewesen, Normen wie § 154, § 138, § 242, § 305, § 313 BGB oder §§ 19, 20 GWB heranzuziehen.608 Mit der Anwendung von § 315 BGB im ersten entschiedenen Fall knüpfte der BGH jedoch an eine Rechtsprechungstradition an, die das Reichsgericht 1925 begründet hatte,609 und die seither in vereinzelten Entscheidungen fortgesetzt worden war.610 Das Reichsgericht hatte 1925 erstmals angedeutet, dass bei Monopolen der Daseinsvorsorge eine Preiskontrolle über § 315 BGB stattfinden könnte. Hinzuweisen ist darauf, dass es bis 1999 kein unmittelbar im privaten Rechtsverkehr durchsetzbares kartellrechtliches Instrument gab, das Verbraucher hätten nutzen können, um eine Preiskontrolle auszuüben. § 315 BGB war dadurch das einzige Mittel gewesen – möglicherweise erklärt dieser Pfad, warum auch nach 1999 in diesen Fragen § 315 BGB bemüht wurde, statt die Preiskontrolle ganz auf § 19 GWB zu stützen. In dem Ursprungsfall von 1925 hatte ein Großkunde der Elektrizitätswerke der Stadt Chemnitz sich geweigert, den vollen Preis für den Strombezug zu zahlen. Der Stromverbraucher hatte sich auf Wucher (§ 138 BGB) und Unbilligkeit nach § 315 BGB berufen. Die Anwendbarkeit des § 315 BGB wurde zwar vom Reichsgericht nicht weiter thematisiert, da die Preise jedenfalls nicht unbillig gewesen seien.611 Dennoch gilt das Urteil als Startpunkt einer Rechtsprechungslinie, die standardmäßig festhält: „In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist seit langem anerkannt, dass die Tarife von Unternehmen, die Leistungen der Daseinsvorsorge anbieten, auf deren Inanspruchnahme der andere Vertragsteil im Bedarfsfalle angewiesen ist, grundsätzlich der Billigkeitskontrolle nach § 315 Abs. 3 BGB unterworfen sind.“612

Diese angeblich so gefestigte Rechtsprechung ist schon terminologisch einer wirtschaftlichen Ordnung verhaftet, die von fehlendem Wettbewerb und einer hoheitlichen Verpflichtung zur Daseinsvorsorge geprägt ist. Mit der zunehmenden Aufgabe des staatlichen Anspruchs, die Daseinsvorsorge zu leisten, 608 Wielsch, JZ 2008, 68, 73 spricht sich für die Anwendung des § 19 GWB anstelle von § 315 BGB aus; Kunth/Tüngler, NJW 2005, 1313, 1315 lehnen eine Preiskontrolle gänzlich ab. 609 RG, 29.9.1925, Az. VI 182/25, RGZ 111, 310. 610 Vgl. BGH, 10.10.1991, Az. III ZR 100/90, NJW 1992, 171 (Kontrolle tariflicher Abwasserentgelte nach § 315 BGB); BGH, 2.7.1998, Az. III ZR 287/97, NJW 1998, 3188 (keine Kontrolle der Tarifreform der Deutschen Telekom 1996 nach § 315 BGB, da Genehmigung vorliegt). Vgl. Lukes, BB 1985, 2258 ff.; Futter, BB 1978, 935 ff. 611 RG, 29.9.1925, Az. VI 182/25, RGZ 111, 310, 313. 612 BGH, 2.7.1998, Az. III ZR 287/97, NJW 1998, 3188, 3191.

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und der Deregulierung zahlreicher Versorger-Branchen musste diese Begründung in Konflikt mit den neuen Strukturprinzipien geraten. So verwundert es nicht, dass dieser Widerspruch zur Ordnung bei seiner ersten großen Bewährungsprobe zu erheblichen Spannungen führt – die Explosion der Begehren nach Gaspreiskontrolle gab dem BGH Anlass, diese Linie innovativ weiter zu entwickeln. a) Darstellung der Rechtsprechungsentwicklung Dem Reichsgericht folgend wurde in der ersten hier benannten Entscheidung des BGH nach der Deregulierung im Jahr 2003 die Anwendbarkeit von § 315 BGB auf die entsprechende Sachverhaltskonstellation gar nicht erst problematisiert. Nach dieser Entscheidung hat die Anwendung von § 315 BGB auf die Energiepreisfälle jedoch nach und nach erhebliche Einschränkungen erfahren. Der VIII. Zivilsenat des BGH hat die Anwendungsvoraussetzungen des § 315 BGB, der wie in der dogmatischen Skizzierung gesehen ja erhebliche Anforderungen an die Gerichte stellt, von Urteil zu Urteil immer enger gezogen. Ablesen lässt sich das an der Zahl der vom BGH problematisierten Bedingungen für die Anwendung von § 315 BGB. Die ersten beiden Entscheidungen aus dem Jahr 2003 stellen die Anwendung des § 315 BGB überhaupt nicht in Frage. 2005 nimmt der X. Senat ausdrücklich Bezug auf die lange Rechtsprechungstradition zu Monopolen der Daseinsvorsorge und erweitert mit einem knappen Satz die Anwendbarkeit auf Fälle des Anschluss- und Benutzungszwangs.613 Der Kartellsenat nahm sodann in seinen Entscheidungen 2005 und 2006 die Anwendbarkeit von § 315 BGB auf Netznutzungsentgelte an, und zwar zunächst wegen eines vertraglich vereinbarten einseitigen Leistungsbestimmungsrechts, das sich an den Preisfindungsprinzipien der sog. Verbändevereinbarung orientieren sollte, sodann zur Schließung einer Regelungslücke im Netznutzungsvertrag, da dies regelmäßige Übung in Netznutzungsverträgen sei. Der Kartellsenat stützte also die Anwendung von § 315 BGB nicht mehr auf die Monopolrechtsprechung, die sich hier durchaus auch angeboten hätte, konstruierte aber weitere Anwendungsfälle für die Billigkeitskontrolle, u.a. bei der Kalkulation des Entgelts anhand von Preisfindungsprinzipien außerhalb der Reichweite des Abnehmers. Erst jetzt griff der VIII. Senat auf die Thematik zu. Parallel mehrten sich 2006 und 2007 die Verfahren zur Energiepreiskontrolle, die langsam auch den BGH erreichten. In der ersten derartigen Entscheidung des VIII. Senats stützt sich dieser auf die AVB, wendet aber implizit Maßstäbe an, die der Billigkeitskontrolle entsprechen. Im Oktober 2006 verneint der Senat dann erstmals die Anwendbarkeit von § 315 Abs. 3 BGB und problematisiert die Monopol613

BGH, 5.7.2005, Az. X ZR 60/04, NJW 2005, 2919, 2929.

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preisrechtsprechung im Hinblick auf ihre Anwendbarkeitsvoraussetzungen.614 Der Senat etablierte eine Voraussetzung, nämlich die, dass dem Versorgungsunternehmen ein Ermessensspielraum bei der Preisgestaltung zustehen muss. Dies wird bei einer automatischen Preisgleitklausel – hier war die Kopplung des Preises für Fernwärme an den Preis von Öl und Erdgas vorgesehen – verneint, sodass die Billigkeitskontrolle ausscheidet. Die Kopplung als solche wurde nicht thematisiert. Eine weitere Wendung enthält das im Dezember 2006 folgende Urteil des VIII. Senats, in dem die Klage eines Verbraucherverbands geprüft wird.615 Wieder ist eine Preisanpassungsklausel Gegenstand der Prüfung, aber nicht verknüpft mit einer konkreten Zahlungsforderung oder -rückforderung, sondern als Unterlassungsklage gegen die Verwendung der AGB. Folglich prüft der Senat – wie schon in dem ähnlich gelagerten Fall 2005616 – nicht die konkrete Billigkeit, sondern die abstrakte Angemessenheit. An dieser Stelle gabelt sich der Entscheidungspfad für künftige Fälle zwischen AGB-Kontrolle einerseits, geltend gemacht in Unterlassungsverfahren durch qualifizierte Einrichtungen im Sinne von § 4 Abs. 1 UKlaG, und Billigkeitskontrolle andererseits, geltend gemacht in Zahlungs- und Rückforderungsprozessen durch Kunden. Diese letztlich auf einer verfahrensrechtlichen Konstellation basierende Gabelung ist bemerkenswert, geht es doch der Sache nach in beiden Fällen um die Bedingungen der Preissetzung durch EVU. Verfolgt man die Rechtsprechung zu § 315 BGB weiter, so wird mit den zwei Folgeentscheidungen des BGH dessen neues Bewusstsein für die Widersprüchlichkeit der überkommenen Begründung zur Anwendbarkeit von § 315 BGB greifbar.617 Die Frage, ob § 315 BGB überhaupt anwendbar ist, nimmt nun erheblichen Raum ein, und es kommt zu deutlichen rechtlichen Innovationen, also einer neuen Herangehensweise. Im ersten Fall konkretisiert der VIII. Senat die Tatbestandsvoraussetzungen wie folgt: Ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht liege nicht vor, wenn sich die Parteien auf die Geltung eines Tarifs einigen, selbst wenn die Grundlagen dieses Tarifs, etwa die Berechnungsmethoden, dem Kunden verschlossen blieben. Dies hatte der Kartellsenat in dem Durchleitungsfall anders akzentuiert, soweit eine Preisfindung mit Hilfe der Verbändevereinbarung vorgesehen war. Die Erweiterung des Anwendungsbereichs von § 315 BGB durch den Kartellsenat wurde so wiederum eher zurückgenommen. Zudem verneinte der Senat die analoge Anwendung von § 315 BGB wegen einer monopolistischen Stellung des EVU. Hier erfolgt ein erster Bruch zu der hergebrachten Monopolpreisrechtsprechung, indem deren Anwendungsvoraussetzungen als nicht 614

BGH, 11.10.2006, Az. VIII ZR 270/05, NJW 2007, 210, 211. BGH, 13.12.2006, Az. VIII ZR 25/06, NJW 2007, 1054. 616 BGH, 21.9.2005, Az. VIII ZR 38/05, NJW-RR 2005, 1717. 617 BGH, 28.3.2007, Az. VIII ZR 144/06, NJW 2007, 1672; BGH, 13.6.2007, Az. VIII ZR 36/06, NJW 2007, 2540. 615

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gegeben angesehen werden. Weder habe ein Anschluss- und Benutzungszwang vorgelegen, noch habe das EVU in dem Fall ein Monopol innegehabt. So wahrt der BGH zwar formal das Argument und lässt lediglich die Subsumtion scheitern, darin ist aber bereits der Keim angelegt, die Monopolpreisrechtsprechung für obsolet zu erklären. Die Billigkeitskontrolle erfährt damit eine Einschränkung. In der nachfolgenden Entscheidung wird sie zwar wieder angewendet, diesmal problematisiert der Senat aber drei Aspekte ausführlich:618 – Kann sich ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht im Sinne von § 315 Abs. 1 BGB nicht nur durch Vertrag, sondern auch aus Gesetz (hier § 10 Abs. 1 EnWG 1998 i.V.m. § 4 Abs. 1 und 2 der Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Gasversorgung von Tarifkunden (AVBGasV)) ergeben? – Stellt § 4 AVBGasV eine gesetzliche Regelung dar, die ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht verleiht, das nur nach billigem Ermessen ausgeübt werden darf? – Ist § 315 BGB subsidiär gegenüber kartellrechtlichen Regelungen (§§ 19 Abs. 4 Nr. 2, 33 GWB)? Der BGH entscheidet diese Fragen zugunsten der Anwendung von § 315 BGB. In einem späteren Teil dieser Entscheidung widmet sich der BGH der Frage, ob auch der Ausgangspreis überprüft werden könne. Hier schränkt der BGH die Anwendung von § 315 BGB erheblich ein. § 315 BGB sei nicht anwendbar auf vereinbarte Anfangspreise der Gasversorgung. Der BGH problematisiert folgende Aspekte: – Handelt es sich beim Ausgangspreis um einen vereinbarten Preis, wenn dieser sich lediglich aus dem „allgemeinen Tarif“ für die Gasversorgung ergeben habe? Der BGH sieht hierin, wie in der voran gegangenen Entscheidung, einen vereinbarten Preis, also keinen Fall der einseitigen Leistungsbestimmung.619 – Kann auf den Ausgangspreis angesichts der Monopolstellung des Gasversorgers § 315 BGB analog angewendet werden? Auch diese Frage war bereits im vorangegangenen Fall, wie gesehen, thematisiert worden, aber nun ging der VIII. Senat noch einen Schritt weiter.620 Hatte er drei Monate zuvor lediglich für den konkreten Fall die Feststellung des Berufungsgerichts referiert, dass andere Anbieter am konkret geprüften Strommarkt in Potsdam tätig seien, so erweitert der BGH das Argument nun um den sog. Substitu618 619 620

BGH, 13.6.2007, Az. VIII ZR 36/06, NJW 2007, 2540, 2541. BGH, 13.6.2007, Az. VIII ZR 36/06, NJW 2007, 2540, 2543. BGH, 13.6.2007, Az. VIII ZR 36/06, NJW 2007, 2540, 2543.

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tionswettbewerb: Es fehle an einer Monopolstellung des Gasversorgers. Gas stehe nämlich in einem Wettbewerb mit anderen Energieträgern wie Fernwärme. Der Gaskunde könne von Gas auf Strom oder Fernwärme wechseln, wenn ihm die Preise nicht passten. Ein Ausgleich der starken Stellung des Gasversorgers wird also nicht vorgenommen. In diesem Fall taucht zudem erstmals das Argument auf, der Kunde könne eine Preiserhöhung nicht mehr rügen, wenn er sie über einen längeren Zeitraum „unbeanstandet hingenommen“ habe. Dann würde die Preiserhöhung als konkludent vereinbart gelten.621 Innerhalb von vier Jahren differenziert der BGH also seine Rechtsprechung erheblich aus und kommt von einer nicht einmal hinterfragten Anwendung des § 315 BGB zu einer Reduzierung der Anwendung auf die jüngste, unbeanstandet hingenommene Gaspreiserhöhung. Der Preissockel wird nicht mehr geprüft, die Monopolpreisrechtsprechung wird als nicht mehr anwendbar auf die Energiefälle dargestellt. Der VIII. Senat hatte jedoch seine Rechnung ohne den Kartellsenat gemacht, der qua Rechtsgebiet für Monopol und Wettbewerb einen besonders geschulten Blick hat. Der Kartellsenat blieb in seinen beiden Entscheidungen 2008 einer eher verbraucherfreundlichen Linie treu. Zunächst erklärte der Senat in einem AGB-Fall, dass für die Gasversorgung des Letztverbrauchers kein Substitutionswettbewerb bestehe.622 Der Kartellsenat macht in seiner Begründung nicht einmal einen Hehl daraus (wie sonst nicht unüblich in Entscheidungen), dass er die Auffassung des VIII. Senats in diesem Punkt für falsch hält. Zudem wird gleich im ersten Leitsatz der Entscheidung unmissverständlich festgehalten, dass die Versorgung von Letztverbrauchern mit Erdgas einen eigenen sachlichen Markt bilde und kein Substitutionswettbewerb mit anderen Energieformen bestehe. Dass diese abweichende Sicht in der Rechtsprechung möglich wurde, lag nicht etwa an einer völlig anderen Sachverhaltsgestaltung, sondern schlicht an der Einstufung eines Preisklauselüberprüfungsverfahrens als kartellrechtlichem Fall in der Vorinstanz. Obwohl das GWB nicht entscheidungserheblich wurde, war die Einstufung durch die Vorinstanzen doch kartellrechtlich, da eine Anwendung von § 19 GWB neben der bürgerlich-rechtlichen AGB-Kontrolle im Raum stand. Hier hatte sich der Entscheidungspfad also schon früh gegabelt und durch die unterschiedliche Senatszuweisung einen Konflikt provoziert, dessen Auflösung eine Innovation verlangte. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass die Zuständigkeit bei Rechtsstreitigkeiten wegen Energielieferverträgen ohnehin strittig ist.623 621 BGH, 13.6.2007, Az. VIII ZR 36/06, NJW 2007, 2540, 2543 f. Kritisch Piekenbrock, ZIP 2010, 1925, 1929; Kolbe, BB 2010, 2322 ff. 622 BGH, 29.4.2008, KZR 2/07, NJW 2008, 2172. 623 Vgl. zur Rechtswegregelung des § 102 EnWG (der alle Verfahren den LG zuweist) Salje, NJW 2010, 2762.

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Darüber hinaus grenzte sich der Senat auch bezüglich zweier anderer Einschränkungen vom VIII. Senat ab.624 Zum einen sah er sehr wohl die Möglichkeit einer Überprüfung nach § 315 BGB, in den Fällen der Vereinbarung eines Tarifs entsprechend bestimmter Kalkulationsprinzipien (hier: Verbändevereinbarung II). Deutlicher als in seinen früheren Entscheidungen nahm der Kartellsenat nun ein vereinbartes einseitiges Leistungsbestimmungsrecht an, dieses wurde also nicht mehr im Wege ergänzender Vertragsauslegung konstruiert, und sah zudem ein gesetzliches Leistungsbestimmungsrecht. Schließlich schloss der Senat aus der Monopolstellung des Versorgers (hier: des Netzbetreibers), dass auch die Nichtbeanstandung einer Preiserhöhung in der Vergangenheit die Billigkeitskontrolle nicht ausschließe. So positionierte sich der Kartellsenat, offenbar getrieben von der Wahrnehmung schwerer Wettbewerbsdefizite in der Energiebranche, in drei wichtigen Punkten gegen den VIII. Senat.625 Es lässt sich fragen, ob nicht das Verfahren des § 132 Abs. 2 GVG (Anrufung des Großen Senats) hätte eingehalten werden müssen. Dessen Reaktion musste die so gerichtshofsintern aufgetretenen unterschiedlichen Wahrnehmungen auflösen, und eine erste Gelegenheit dazu bot sich in dem Dinslakener Urteil, das ein halbes Jahr später erging.626 Würde der Senat nun auf die Linie des Kartellsenats einschwenken und seine gerade einmal ein Jahr alte eigene Rechtsprechung aufgeben? Oder würde er den direkten Konflikt mit dem Kartellsenat suchen? Beide Möglichkeiten würden das Vertrauen der Akteure in die Wirtschaftsordnung durch Zivilgerichte institutionell erschüttern. Der Senat entschied sich gegen die Anwendung von § 315 BGB auf die Sockeltarife, hielt im Ergebnis also an seiner engen Auffassung fest, wechselte aber die Begründung aus: Zwar habe der Versorger eine Monopolstellung. Eine Überprüfung der Gaspreise komme dennoch nicht in Betracht, da „sie der Intention des Gesetzgebers zuwiderliefe, der eine staatliche Prüfung und Genehmigung dieser Tarife wiederholt abgelehnt hat. Auch bei der gerichtlichen Kontrolle der Billigkeit der Tariffestsetzung fände für das betroffene Gasversorgungsunternehmen eine Preisregulierung statt, wenn der Tarif nach Auffassung des Gerichts unbillig überhöht und deshalb durch Urteil zu bestimmen wäre.“627 Die gesetzgeberische Intention wird vom Gericht sodann ausführlich belegt. Dem Kartellsenat baut der VIII. Senat eine Brücke, indem er darauf hinweist, der Gesetzgeber habe offenbar eine kartellrechtliche Kontrolle (insbesondere nach dem neu erlassenen § 29 GWB), nicht aber eine allgemeine Billigkeitskontrolle für Energiepreisfälle gewollt. Eine Billigkeitsprü624 625

BGH, 4.3.2008, KZR 29/06, NJW 2008, 2175, 2176 f. Vgl. Linsmeier, NJW 2008, 2162. Ebenso die Wahrnehmung von Strohe, NZM 2007, 871, 872; Dreher, ZNER 2007, 103,

107. 626 627

BGH, 19.11.2008, Az. VIII ZR 138/07, NJW 2009, 502. BGH, 19.11.2008, Az. VIII ZR 138/07, NJW 2009, 502, 503.

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fung von Erhöhungen nimmt der Senat wie gehabt vor, auf das Argument der unbeanstandeten Hinnahme geht er in dieser Entscheidung nicht ein. In der Folgeentscheidung des Kartellsenats würdigt dieser etwas spitz, dass der VIII. Senat sich seiner Auffassung von der Monopolstellung „jetzt auch“628 angeschlossen habe. Dass der Senat im Ergebnis aber bei seiner Auffassung bleibt, kommentiert der Kartellsenat nicht, im betreffenden Fall prüft er – vorgegeben durch den Entscheidungspfad, der diesmal bei einer Kartellbehörde seinen Ausgang nahm – nur einen Verstoß gegen § 19 GWB. So werden die Widersprüche, die sich zwischen den Senaten aufgetan hatten, vordergründig gelöst, auch wenn im Ergebnis erhebliche Divergenzen bestehen bleiben. Die nächste Entscheidung des VIII. Senats hatte dazu keinen Beitrag zu leisten, da der Senat dazu überging, lediglich AGB-Recht zu kontrollieren.629 Als der VIII. Senat knapp ein Jahr später wieder zu entscheiden hat, kann seine Linie als konsolidiert gelten. Der Anwendungsbereich des § 315 BGB steht fest und wird nur noch knapp referiert.630 Anzuwenden ist § 315 BGB demnach nur auf die letzte, in angemessener Zeit beanstandete Preiserhöhung, die auf dem über § 4 AVBGasV konstruierten einseitigen Leistungsbestimmungsrecht basiert. Deutlich wird nun auch der Bruch mit der früheren Monopolrechtsprechung, die einst das Reichsgericht begründet hatte: Aufgrund der gesetzgeberischen Wertung gegen staatliche Tarifgenehmigung sei trotz Vorliegens einer Monopolstellung eine Billigkeitskontrolle ausgeschlossen. Der Kartellsenat hat keine Gelegenheit, sich in dieser Sache noch einmal Gehör zu verschaffen, und so kann der VIII. Senat seine Rechtsprechung in den Folgeentscheidungen ohne „Störfeuer“ fortentwickeln, und er tut dies mit eindeutiger Stoßrichtung gegen die Billigkeitskontrolle. Schon im nächsten Urteil wird deren Anwendungsbereich noch weiter eingeschränkt, da das Leistungsbestimmungsrecht schon nicht wirksam vereinbart worden sei und die Anwendung von § 315 BGB an der vorgeschalteten AGB-Kontrolle scheitere.631 Zu dieser Auffassung gelangt der BGH durch eine Abgrenzung des Sachverhalts: In dem vorliegenden Fall hatte das Energieversorgungsunternehmen die Regelung des § 4 AVBGasV, die dem Versorger ein Tarifbestimmungsrecht einräumt, in einen Vertrag mit dem Verbraucher übernommen. Das Leistungsbestimmungsrecht ergab sich mithin nicht mehr aus dem Gesetz, sondern aus dem Vertrag. So war nach Auffassung des BGH aus dem Tarifkunden ein sog. Sondervertragskunde geworden. Die Übernahme des Gesetzestextes in den Vertrag misst der BGH nun an §§ 305 ff. BGB mit Hilfe der gebotenen kundenfeindlichsten Auslegung. In dieser Entscheidung kommt 628 629 630 631

BGH, 10.12.2008, Az. KVR 2/08, NJW 2009, 1212, 1213. BGH, 17.12.2008, Az. VIII ZR 274/06, NJW 2009, 578. BGH, 8.7.2009, Az. VIII ZR 314/07, NJW 2009, 2894. BGH, 15.7.2009, Az. VIII ZR 225/07, NJW 2009, 2662.

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der Senat zu dem Ergebnis, dass die Übernahme des Gesetzestextes den Verbraucher unangemessen benachteiligt (§ 307 I BGB). Aus der Preisanpassungsklausel gehe nämlich nicht hervor, dass das Versorgungsunternehmen auch Kostensenkungen an den Verbraucher weitergebe, so wie es die gesetzliche Regelung in § 4 AVBGasV bei zutreffender Auslegung gebiete.632 Zwar verweist die vom Energieversorger verwendete Klausel ausdrücklich auf § 4, dieser Verweis werde bei kundenfeindlichster Auslegung aber nur auf die Form, nicht den inhaltlichen Maßstab bezogen. Im Ergebnis hält der BGH daher die Klausel für unangemessen und damit unwirksam. Auf eine Billigkeitsprüfung nach § 315 BGB kommt es nicht mehr an, da schon kein wirksames Leistungsbestimmungsrecht besteht. Die Preiserhöhung hatte also gar keine Basis. Diese Linie festigt der Senat in den darauffolgenden Entscheidungen.633 2010 verwischte er dabei auch noch weitergehend die Grenzen zwischen Tarifkunden und Sondervertragskunden.634 Der Ausschluss des § 315 BGB galt ja nicht für Tarifkunden in der Grundversorgung, sondern nur für Kunden mit einem eigenen Vertrag, da hier der Senat von einer Vereinbarung des Preises ausging. Die Verzahnung der früheren Billigkeitskontrolle mit dem AGBRecht perfektionierte der Senat in Fällen, in denen die Energieversorger die gesetzlichen Preisbestimmungsrechte aus der AVBGasV unverändert in die Verträge aufgenommen hatten.635 Zweifel an der feinen Differenzierung des BGH in Tarif- und Sonderkunden liegen auf der Hand, wenn die Bedingungen identisch sind. Diese Konstruktion ermöglichte aber eine AGB-Kontrolle, in die der Maßstab des § 315 BGB abstrakt Eingang finden konnte. In einer weiteren Entscheidung hielt der Senat, ohne auf die abweichende Position des Kartellsenats noch einzugehen, an der konkludenten Bestätigung der Preiserhöhung durch Nichtbeanstandung fest.636 Dieses Modell, das anhand von Grundversorgungsverträgen entwickelt worden war, dehnte der Senat auf Sonderverträge aus und schrieb: „In dogmatischer Hinsicht besteht insoweit kein entscheidungserheblicher Unterschied zwischen Sonderkundenverträgen einerseits, und Tarifkundenverträgen oder Grundversorgungsverträgen andererseits.“637

Damit schieden weitere Preiserhöhungen aus der Billigkeitskontrolle aus, die nunmehr in allen Vertragsarten nur noch für die letzte nicht beanstandete Preiserhöhung, die auf einem gesetzlichen oder vertraglich vereinbarten Leistungsbestimmungsrecht basiert, anzuwenden ist. In weiteren Entscheidungen 632

BGH, 15.7.2009, Az. VIII ZR 225/07, NJW 2009, 2662, 2665. BGH, 15.7.2009, Az. VIII ZR 56/08, NJW 2009, 2667; BGH, 28.10.2009, Az. VIII ZR 320/07, NJW 2010, 993; BGH, 13.1.2010, Az. VIII ZR 81/08, NJW-RR 2010, 1202. 634 BGH, 27.1.2010, Az. VIII ZR 326/08, NJW-RR 2010, 1205. 635 BGH, 14.7.2010, Az. VIII ZR 246/08, NJW 2011, 50. 636 BGH, 14.7.2010, Az. VIII ZR 327/07, RdE 2010, 384 f. 637 Ebd. 633

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wurde die Billigkeitskontrolle dadurch noch weiter eingeschränkt, dass die Einbeziehung des einseitigen Änderungsrechts bereits scheiterte, sodass schon die Basis für die Preiserhöhung fehlte.638 Das kam dem Kunden grundsätzlich zunächst zugute. Das Bundesverfassungsgericht erwähnte § 315 BGB in seiner Entscheidung konsequent nicht. In den beiden EuGH-Vorlagen spielt § 315 BGB zunächst keine Rolle, kann aber durchaus relevant werden, wenn der EuGH darüber befinden sollte, ob das Kontrollregime insgesamt (einschließlich des verbleibenden Prüfungsrests für § 315 BGB) richtlinienkonform ist. Der BGH hat in der Begründung der Vorlage deutlich gemacht, dass er davon ausgeht und nicht geneigt ist, seine Rechtsprechung zu ändern. b) Interpretation Innerhalb weniger Jahre lassen sich in der BGH-Rechtsprechung zwei signifikante Veränderungen feststellen: Erstens wird der Anwendungsbereich des § 315 BGB im Bereich der Gaspreiskontrolle erheblich eingeschränkt. Zweitens wird die Billigkeitskontrolle in zahlreichen Fällen abgelöst durch eine AGB-Kontrolle. Die praktische Bedeutung für das Gericht ist erheblich: Durch die Reduzierung der richterlichen Kontrolle auf die letzte beanstandete Preiserhöhung und die Herausnahme des Sockelbetrags aus der Billigkeitskontrolle wird der richterliche Zugriff erheblich reduziert. Nicht mehr die komplette Kalkulation ist zu prüfen, sondern bestenfalls noch der letzte Schritt. Das ist für das Gericht insofern eine erhebliche Erleichterung, als es damit im Urteilsausspruch zu einer binären Entscheidung zurückkehren kann: Die letzte Gaspreiserhöhung ist dann entweder wirksam oder unwirksam. Auf eine vom Gericht zu greifende Größe kommt es nicht mehr an, einer richterlichen Bestimmung des iustum pretium bedarf es nicht. Statt § 315 Abs. 3 BGB in seiner Radikalität anzuwenden einschließlich einer richterlichen Preisbestimmung, reduziert die Gerichtsbarkeit ihre Zuständigkeit auf ein einzelnes Preiselement. Die evolutionäre Tendenz geht eindeutig in die Richtung weg von der Billigkeitskontrolle nach § 315 hin zu einer AGB-Kontrolle. Die AGB-Kontrolle wird damit zur verkappten Preiskontrolle.639 Doch was passiert dadurch wirklich? Der besondere Unterschied zur Prüfung nach § 315 BGB ist, dass in der AGB-Kontrolle keine ökonomisch grundierte Einzelfallprüfung erfolgen muss, sondern eine typisierte, abstrakte Prüfung der Klausel stattfindet. Die Gerichte sind damit im vertrauten Terrain rein juristischer Klauselprüfung und können rein rechtlich argumentieren, ohne die Interessen im konkreten Einzelfall erforschen zu müssen. Für die Interpretation der Rechtsprechungsentwicklung waren drei interessante Aspekte identifiziert worden. Erstens: Legen die Gerichte einen genuin 638 639

BGH, 9.2.2011, Az. VIII ZR 295/09, NJW 2011, 1342. Kritisch Thomas, AcP 209 (2009), 84 ff.

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zivilrechtlichen Billigkeitsbegriff zugrunde oder lassen sie weitere Wertungen einfließen? Bei der Frage der Anwendbarkeit lässt sich nur feststellen, dass die Gerichte im Laufe der Zeit einer Entscheidung über die Billigkeit durch Differenzierung und Ausweichen in eine abstrakte AGB-Prüfung der konkreten Billigkeitsentscheidung weitgehend auszuweichen versuchen. Zweitens: Wie werden konkrete Werte quantifiziert? Auch dieser Schwierigkeit entgehen die Gerichte. Es gibt keine BGH-Entscheidung, in der in umfassender Weise eine Größe hätte bestimmt werden müssen. Zwar wäre dies auch eher Aufgabe des Tatrichters als der Revisionsinstanz, jedoch schneidet der BGH durch die Einschränkung des Anwendungsbereichs die Möglichkeit einer konkreten Größenbenennung bereits ab. Drittens: Nutzen die Gerichte die ihnen verliehene richterliche Gestaltungsmacht zugunsten einer Kontrolle der Vertragsgerechtigkeit? Dies muss verneint werden. Die Entwicklung lässt erkennen, dass sich die Gerichte mit immer neuen Differenzierungen von einer konkreten Inhaltskontrolle des Vertrages entfernen und an die Stelle einer solchen die formale, prozedurale Inhaltskontrolle des AGB-Rechts stellen.640 Diese dient zwar, wie das BVerfG betont, auch der Sicherung des Äquivalenzverhältnisses der Parteien, betrachtet aber eher die Rahmenbedingungen des anzuwendenden Vertragsrechts als die Ergebnisse der innerhalb dieses Rahmens getroffenen Ausgestaltungen. Wenn man sich die einzelnen Schritte des VIII. Senats zu einer Einschränkung des Anwendungsbereichs vergegenwärtigt, fallen die innovativen Sprünge auf und die Mechanismen, die der Senat als Legitimation anerkennt: Zunächst werden unterschiedliche Sachverhalte voneinander abgegrenzt (kein Monopol). Als dies – wegen der Intervention des Kartellsenats – nicht trägt, wird die gesetzgeberische Wertung aus einem anderen Gesetz bemüht, vergleichbar der Berufung auf das HaustürWG in den hier besprochenen UWG-Fällen (keine Tarifgenehmigung gewünscht). Sodann wird das Parteiverhalten (konkludente Akzeptanz) ausgelegt. Während diese Elemente aber auf unsicherem Grund stehen und in der Tatsacheninstanz auch von Fall zu Fall anders gewürdigt werden können, gelingt dem Senat das eigentliche Meisterstück durch rechtliche Würdigungen, die von der Tatbestandsebene weitgehend unabhängig sind: indem er den Sockelpreis als vereinbart qualifiziert und in der Entscheidung VIII ZR 225/07 einen Sonderkundenvertrag annimmt, obwohl lediglich die gesetzlichen Regelungen wie im Tarifvertrag übernommen werden. So wird das einseitige Leistungsbestimmungsrecht endgültig Bestandteil der AGBKontrolle und kann hier mittels detaillierter Klauselwertungen als unwirksam angesehen werden.

640 Uffmann weist darauf hin, dass bei den AGB-Entscheidungen der BGH auch auf Rechtsfolgenseite starke Zurückhaltung pflegt, vgl. Uffmann, Das Verbot der geltungserhaltenden Reduktion, 2010, S. 131. Neuere Entwicklungen in Uffmann, NJW 2012, 2225 ff.

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Besonders eindrücklich ist die Abgrenzung der verschiedenen Kundenarten (Tarifkunde vs. Sondervertragskunde), die erst eine AGB-Kontrolle ermöglicht. Die vom BGH vorgenommene Abgrenzung lässt sich bei Betrachtung der zugrundeliegenden Sachverhalte durchaus als künstlich einstufen, wenn der Begriff der Vereinbarung bei Sonderverträgen mit der Praxis gespiegelt wird, in der von einer Aushandlung regelmäßig keine Rede sein kann, sondern eher eine Überführung des Gasverbrauchers aus dem einen undurchschaubaren Regelungsregime in das nächste stattfindet. Der Wirtschaftsverkehr scheint mit der immer stärkeren Ausdifferenzierung durch den Senat nicht mehr einverstanden zu sein. Die Senatsrechtsprechung konnte sich nämlich bisher nicht als gefestigt etablieren, was sich an den EuGH-Vorlagen zeigt, die auf Betreiben der Verfahrensbeteiligten erfolgt sein dürften. Der EuGH kann nun den nächsten Anstoß für eine Innovation in der Materie geben. Dass es zu der Vorlage kommt, macht aber deutlich, dass aus Sicht der Marktteilnehmer noch immer ein struktureller Ordnungswiderspruch vorliegt, der der Auflösung bedarf. Zu einer solchen ist aber der VIII. Senat, dem zudem der Sparringpartner innerhalb des Gerichtshofs weggefallen ist, offenkundig nicht mehr in der Lage. So lässt sich die Entwicklung der Rechtsprechung als eine Entwicklung hin zur Differenzierung, Formalisierung und Abstrahierung der Prüfung kennzeichnen. Dass es dabei soweit kommt, dass einzelne Kommentatoren von „Kollateralschäden“641 für die zivilrechtliche Dogmatik sprechen, nämlich im Fall der konkludenten Bestätigung der Preiserhöhung durch Schweigen, scheint der BGH zugunsten einer Lösung vom Eingriff in den Vertrag hinzunehmen. Ökonomischen Überlegungen weichen die Gerichte weitgehend aus ebenso wie der politisch heiklen Frage nach der Vertragsgerechtigkeit, obwohl ihnen § 315 BGB alle Möglichkeiten dazu gelassen hätte. Die zunehmende Zahl von Entscheidungen, die eine AGB-Kontrolle favorisieren (und die zunehmende Überführung von Tarifkunden in Sonderverträge durch die Energieversorger) lässt sich durchaus als eine Flucht vor der Verantwortung, die § 315 BGB den Gerichten gibt, werten. Die Anstöße für Innovationen können teilweise zugeordnet werden: Erste produktive Anstöße liefert der Konflikt mit dem Kartellsenat. Es gibt also in der institutionellen Struktur gleichrangige Autoritäten, die Elemente der Ordnung definieren und zu denen der Senat in Widerspruch gerät. Da Konsistenz ein wesentliches Ziel der rechtlichen Ordnung der Wirtschaft ist, oder zumindest vom BGH angestrebt wird, verlangt ein solcher Autoritätswiderspruch die Auflösung, was der Senat zumindest halbherzig auch versucht. Ein weiterer wichtiger Faktor für Innovationen ist die Diversität der beschrittenen Pfade. Dies erweist sich nicht nur für die Differenz zwischen Kartell- und Zivilsenat als innovationsfördernd, sondern auch bei der Geltendma641

Kolbe, BB 2010, 2322, 2323.

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chung der Preiskontrolle durch qualifizierte Einrichtungen einerseits und individuell betroffene Verbraucher (wenn auch in Form von Sammelklagen) andererseits, da dadurch mal der Schwerpunkt auf die abstrakte AGB-Kontrolle, mal auf die konkrete Geldforderung gelegt wird. Hinzu kommt die Häufigkeitsabhängigkeit, die in einer Konstellation, die als Massenverfahren gekennzeichnet werden kann, von entscheidender Bedeutung ist. Wie gesehen beginnen die Differenzierungsbemühungen des Senats erst, als die auf die Gerichte hereinbrechende Klageflut offenbar wird. Immer neue Fälle mit Sachverhalten, die immer wieder im Detail Abweichungen aufweisen, bieten vielfach Gelegenheit, die Rechtsprechungslinie fortzuentwickeln. Schließlich rezipiert der Senat in Abkehr von einer langjährigen Rechtsprechungstradition gesetzgeberische Wertungen, welche die Erwartung der Marktteilnehmer strukturieren. Die Erwartung, dass auf den Energiemärkten eine Öffnung für den Wettbewerb stattfindet, ist durch den Gesetzgeber geweckt worden. Eine hoheitliche Preiskontrolle würde aber mit dem Kern des Wettbewerbs, nämlich der Preisaushandlung durch Angebot und Nachfrage, in Spannung treten und den Eindruck aufrecht erhalten, dass die Märkte reguliert sind. Der VIII. Senat geht mit der Verwerfung der Monopolpreisrechtsprechung einen Schritt in diese vom Gesetzgeber vorgegebene Richtung und bekennt sich damit zu einer konsequenten Durchsetzung des freiheitsgeprägten privatrechtlichen Leitbilds. Seine steuernde Funktion für die Märkte besteht darin, die Versorger daran zu erinnern, dass die Vertragsfreiheit in Ungleichgewichtskonstellationen nicht grenzenlos gilt, sondern durch das AGB-Recht relativiert wird. Der Verbraucher wird vom Senat dahingehend gesteuert, dass seine Erwartung auf günstige Energiepreise nicht mehr hoheitlich befriedigt wird, sondern es eigene Sache des Verbrauchers ist, eine Preissenkung zu verhandeln. Der Verbraucher wird also zu einer Freiheitswahrnehmung gedrängt. Der Kartellsenat verhält sich konservativer und stellt auf die faktisch fortbestehenden Hindernisse für Wettbewerb auf dem Energiemarkt ab. Sein privatrechtliches Leitbild ist weniger stark von der Dualität Freiheit, aber Gleichordnung geprägt als von einem systemischen Denken: Die Freiheitsausübung ist an das Funktionieren der Systemgrundlagen gekoppelt, die der Senat hier noch nicht verwirklicht sieht, sodass ein Eingriff zu Zwecken der Systemkorrektur erforderlich scheint. Die Senate akzentuieren also ihre privatrechtlichen Leitbilder unterschiedlich. In Bezug auf die gesetzgeberische Vorgabe lässt sich auch formulieren, dass der VIII. Senat voranstürmt und mit Hilfe seiner Steuerung eine weitergehende Öffnung zu erzwingen versucht, auch wenn die tatsächlichen Voraussetzungen dafür noch nicht gegeben sind. Dem Kartellsenat lässt sich aus dieser Perspektive freilich vorwerfen, dass sein systemsicherndes Eingreifen die Erwartung perpetuiert, dass hoheitliche Instanzen auch zukünftig für günstige Energiepreise sorgen werden.

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4. Aspekte von „Billigkeit“ Kernthema der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um § 315 BGB ist – wie gesehen – die Frage, was „Billigkeit“ bedeutet, und wie dieser Begriff auszufüllen ist. Auch hier zeigt sich in der BGH-Rechtsprechung eine erhebliche Entwicklung. a) Darstellung der Rechtsprechungsentwicklung Die Reichsgerichtsentscheidung von 1925 hatte sich bei der Feststellung, dass die Preise der Elektrizitätswerke Chemnitz nicht überhöht seien, noch völlig zurückgehalten und die (offenbar eher oberflächlichen) Ausführungen der Vorinstanz hingenommen: „die Feststellung, dass mit Rücksicht auf die wirtschaftliche Lage die festgesetzten Preise nicht übermäßig hoch gewesen sind, dass die Klägerin einerseits zwar das Werk vor Verlusten hat schützen, anderseits aber die Abnehmer nicht hat überteuern wollen, reicht schon aus, um die Preisfestsetzung nicht als unbillig erscheinen zu lassen.“642 Der BGH entwickelt 2003 zur Billigkeit kein eigenes Konzept, sondern überprüft, ob der Energieversorger seiner Darlegungslast genügt hat. In der Sache lässt der Senat die Vorlage von Tarifgenehmigungsunterlagen und Erläuterungen zur Kosten- und Ertragslage genügen.643 Die Geltendmachung niedrigerer Preise in Vergleichsmärkten durch den Verbraucher wird vom BGH mit dem knappen Hinweis zurückgewiesen, die Situation in den Vergleichsmärkten sei mit der Situation im Klagefall nicht vergleichbar, da Berlin betroffen sei. Berlin habe seit der Wiedervereinigung besondere Lasten tragen müssen. Die Behauptung gestiegener Kosten durch das EVU wird als Begründung für Preiserhöhungen vorbehaltlos akzeptiert. In dieser Entscheidung klingen bereits die Topoi an, die auch für Folgeentscheidungen wichtig sind: An die Stelle einer eigenen Entscheidung zur Sache tritt eine Entscheidung über Darlegungs- und Beweispflichten. Ökonomische Analysen finden nicht oder nur sehr pauschal statt (hier: das Berlin-Argument). Das aus dem Kartellrecht bekannte Vergleichsmarktkonzept wird nicht akzeptiert. Zu einer Schlüsselfrage entwickelt sich damit die Entscheidung, mit Hilfe welcher Unterlagen ein EVU die Billigkeit belegen kann. In dieser, wie auch in der Entscheidung des X. Senats von 2005, wird auch der Tarifgenehmigung durch Aufsichtsbehörden noch ein gewisses Gewicht zugemessen.644 Davon distanziert sich der Kartellsenat kurze Zeit später bereits etwas.645 Auch bezüglich der Billigkeitsfrage erweist sich der Kartellsenat als verbraucherfreundlicher. So sieht der Kartellsenat auch im Rückforderungs642 643 644 645

RG, 29.9.1925, Az. VI 182/25, RGZ 111, 310, 313. Vgl. BGH, 5.2.2003, Az. VIII ZR 111/02, NJW 2003, 1449, 1450. Vgl. BGH, 5.7.2005, Az. X ZR 60/04, NJW 2005, 2919, 2923. BGH, 18.10.2005, Az. KZR 36/04, NJW 2006, 684, 686.

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prozess die wesentliche Darlegungslast bei den EVU, zumindest wenn die rückfordernden Kläger unter Vorbehalt gezahlt haben. Darin liegt eine Abgrenzung von dem 2003 vom BGH entschiedenen Fall. Konkretisiert wird der Billigkeitsmaßstab des § 315 BGB mit den Vorgaben aus § 6 Abs. 1 EnWG a.F., demzufolge eine sichere, preisgünstige und umweltverträgliche Versorgung und wirksamer Wettbewerb zu gewährleisten seien. Der Senat weist auch darauf hin, dass die Instanzgerichte, die dies zu prüfen haben, sich ggf. sachverständigen Rat einholen müssen. Damit wird das Tor für ökonomische Expertise in diesen Fällen geöffnet.646 Es ist fraglich, ob diese Hinweise des Kartellsenats je in der Praxis durchgeschlagen haben, da mit den weiteren Urteilen des VIII. Senats – vielleicht aus genau dieser Sorge vor ökonomischen „Gutachten-Schlachten“ – die Billigkeitsfragen prozeduralisiert und formalisiert wurden. Mit zunehmender Fallzahl entwickelt der VIII. Senat sein Prüfungskonzept zur Billigkeit weiter. In einem Urteil 2007 kommt es zu mehreren innovativen Aspekten in der Auslegung. Hatte der BGH noch 2003 im Wesentlichen die Weitergabe erhöhter Bezugskosten als ausreichende Legitimation für eine Billigkeit angesehen, wurde nun gefordert, dass es keine sonstigen rückläufigen Kosten für das Unternehmen geben dürfe, welche die gestiegenen Kosten ausgleichen würden.647 Andere Faktoren werden vom BGH explizit abgelehnt, insbesondere die Prüfung der vorgelagerten Bezugsstufe: Ausgeschlossen wird 2007 die Erwägung, die Grundlagen der gestiegenen Bezugskosten, konkret: die Kopplung an den Ölpreis, zu überprüfen.648 Im Rahmen von § 315 BGB sei es nicht vorgesehen, auch vorgelagerte Vertragsstufen zu prüfen. Ob die Billigkeit mit Hilfe von Vergleichspreisen zu analysieren sei, wie es im Kartellrecht übliche Praxis ist, lässt der Senat dahingestellt, da die Billigkeit auf andere Weise nachgewiesen worden sei.649 Der BGH hält damit an einer kostenorientierten Billigkeitsanalyse fest, die mit wettbewerblichen Grundsätzen schwieriger in Einklang zu bringen ist als eine marktpreisorientierte Analyse.650 Mit der Ausdifferenzierung der zu berücksichtigenden Kosten verschiebt sich freilich der Schwerpunkt der Billigkeitskontrolle von den konkreten Kriterien, die damit klarer erscheinen, zu Beweisfragen. In der Entscheidung lässt 646 Ebenso im nachfolgenden Urteil („betriebswirtschaftliche Sachkunde erfordernde rechtliche Wertung“), BGH, 7.2.2006, Az. KZR 8/05, GRUR 2006, 699, 701. 647 BGH, 13.6.2007, Az. VIII ZR 36/06, NJW 2007, 2540, 2542. 648 BGH, 13.6.2007, Az. VIII ZR 36/06, NJW 2007, 2540, 2542. 649 BGH, 13.6.2007, Az. VIII ZR 36/06, NJW 2007, 2540, 2542. 650 Kritisch Kunth/Tüngler, NJW 2005, 1313, 1315, die es für ausreichend halten würden, wenn der Preis im Vergleich zu den Preisen von Wettbewerbern wettbewerbsfähig ist. In der Regulierung wurde von einer kostenorientierten Regulierung auf eine Anreizregulierung umgeschwenkt, die eine Wettbewerbssituation fingiert und somit Anreize zur Effizienzsteigerung liefern soll, vgl. Berndt, Anreizregulierung in den Netzwirtschaften, 2011, sowie § 21a EnWG. Für eine Kostenorientierung aber Hanau, ZIP 2006, 1281, 1285.

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der Senat das Testat eines vom Unternehmen beauftragten Wirtschaftsprüfers zum Kostennachweis genügen.651 Diese Entscheidung steht in ihrer relativ vorbehaltlosen Übernahme der EVU-Darlegungen in krassem Gegensatz zur vorinstanzlichen Entscheidung, in der das LG Heilbronn zwar dem EVU im Ergebnis ebenfalls Recht gegeben hatte, aber die Offenlegung der gesamten Kalkulation verlangt hatte.652 Diese Entscheidung hatte für erhebliche Unruhe gesorgt, und das Thema der Offenlegung von Kalkulationen erhielt zunehmend Gewicht in der Auseinandersetzung um die Billigkeit und führte später sogar zu einer Skandalisierung in der Presse. Dass überhaupt eine Offenlegung erforderlich sein kann, ist logische Folge des kostenorientierten Beurteilungsmaßstabs, da bei einem solchen die Kosten nachgeprüft werden müssen. Bei anderen Maßstäben, etwa wettbewerblichen, wäre eine Offenlegung möglicherweise entbehrlich.653 Zunächst aber stellte der Kartellsenat noch einmal seine Ansicht dar, dass der Billigkeitsmaßstab nicht individuell zu bestimmen sei, sondern an der typischen Interessenlage der Rechtsbeziehung sowie den gesetzlichen Wertungen (hier: aus dem Energierecht) orientiert sein müsse.654 Der Kartellsenat erweitert zudem die Weitergabepflicht von Kostensenkungen verbraucherfreundlich dahingehend, dass Preisanpassungen zu einem Zeitpunkt vorgenommen werden müssen, der für den Kunden günstig ist.655 Diese Aussagen des Senats wurden jedoch von dem in der Folge allein agierenden VIII. Senat nicht weiter aufgegriffen. Dieser setzte in einer Entscheidung im November 2008 seinen Kurs fort, verschiebt aber wiederum in Details die Billigkeitsprüfung: Die berücksichtigungsfähige Kostensenkung wird auf die jeweilige Sparte des EVU eingeschränkt.656 Die Nichtprüfung der Gas-Ölpreis-Kopplung wird erheblich ausführlicher begründet als bisher.657 Das Vergleichsmarktkonzept wird erstmals angeprüft, aber mangels passender Vergleichsmärkte auch wieder verworfen.658 Besondere Aufmerksamkeit entfaltet aber das Beweismaß: Der Nachweis erhöhter Bezugskosten und fehlender gegenläufiger Kostensenkungen wird ausdrücklich durch sachverständige Zeugen, hier: den Wirtschaftsprüfer des Energieversorgers, zugelassen.659 Damit wird die Offenlegung der Kalkulation des Gasversorgers als „überspannte“ Anforderung der Vorinstanz abgelehnt und ein für das EVU weitgehend ungefährliches Testat akzeptiert. Dies erleichtert den EVU, Beanstandungen zurückzuweisen. 651 652 653 654 655 656 657 658 659

BGH, 13.6.2007, Az. VIII ZR 36/06, NJW 2007, 2540, 2542. LG Heilbronn, 19.1.2006, Az. 6 S 16/05, WuW/E DE-R 1699 = RdE 2006, 88, Rz. 72 ff. Vgl. Kunth/Tüngler, NJW 2005, 1313, 1315. BGH, 4.3.2008, Az. KZR 29/06, NJW 2008, 2175, 2177. BGH, 29.4.2008, Az. KZR 2/07, NJW 2008, 2172, 2174. BGH, 19.11.2008, Az. VIII ZR 138/07, NJW 2009, 502, 506. BGH, 19.11.2008, Az. VIII ZR 138/07, NJW 2009, 502, 506. BGH, 19.11.2008, Az. VIII ZR 138/07, NJW 2009, 502, 507. BGH, 19.11.2008, Az. VIII ZR 138/07, NJW 2009, 502, 506.

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In der Folge-Entscheidung bleibt die Grundlinie erhalten, nach der die Weitergabe gestiegener Bezugskosten grundsätzlich nicht unbillig ist und gegenläufige Kostensenkungen berücksichtigt werden müssen. Doch verschärft der BGH die Nachweisanforderungen nun dahingehend, dass eine bloß schriftliche Stellungnahme des sachverständigen Zeugen nicht mehr genügt. Hier sei eine Zeugeneinvernahme erforderlich.660 Zudem müsste unter Abwägung von Rechtsschutzmöglichkeiten der Verbraucher und Schutz der Geschäftsgeheimnisse der Unternehmen ggf. doch die Kalkulation des Unternehmens vom Gericht überprüft werden.661 Dies ist eine deutliche Akzentverschiebung gegenüber der Rechtsprechung von 2008, als derselbe Senat die Vorlage der Kalkulation zwar erwog, aber unter Hinweis auf die Geschäftsgeheimnisse für sehr problematisch hielt.662 Eine weitere Akzentverschiebung ist die Beurteilung der Gas-Ölpreis-Kopplung: Der Senat spricht dem Unternehmen nun das Recht ab, beliebig unwirtschaftlich einzukaufen. Die Instanzgerichte müssten prüfen, ob das Unternehmen tatsächlich der Ölpreisbindung ausgesetzt war und ob es diese korrekt umsetzte.663 An dem Urteil zeigt sich eine Fortsetzung der Entscheidungslinie mit nunmehr verbraucherfreundlicheren Vorzeichen, was sich allerdings praktisch nur in inkrementellen Fortentwicklungen zeigt. Die Generallinie bleibt unverändert, die „Ausschläge“ bewegen sich in einem engen Prüfungsraster. Dies ändert sich noch einmal mit einem innovativen Sprung, der 2010 erfolgt, als der Senat die Ölpreis-Kopplung in einem AGB-Verfahren als unangemessene Benachteiligung des Verbrauchers einschätzt.664 Die Argumentation orientiert sich an der unangemessenen Kostenweitergabe, lässt sich aber wie der endgültige Vollzug des vorhergehenden Urteils lesen, in dem ja die Ölpreis-Kopplung schon ausführlicher thematisiert worden war. Mit den ökonomischen Begründungen setzt sich der Senat allerdings nicht auseinander. Er beschränkt sich auf die juristisch geprägte Prüfung des Äquivalenzverhältnisses. Damit sind die wesentlichen Parameter der Billigkeitsprüfung vorläufig gesetzt. Eine spätere Folgeentscheidung fällt kurz aus und mahnt nurmehr die genaue Prüfung eines Wirtschaftsprüfertestats an, das vom Verbraucher pauschal bestritten werden darf.665 Ausführungen zum Billigkeitsmaßstab erfolgen nicht mehr.

660

BGH, 8.7.2009, Az. VIII ZR 314/07, NJW 2009, 2894, 2895. BGH, 8.7.2009, Az. VIII ZR 314/07, NJW 2009, 2894, 2896. 662 Vgl. BGH, 19.11.2008, Az. VIII ZR 138/07, NJW 2009, 502, 507. 663 BGH, 8.7.2009, Az. VIII ZR 314/07, NJW 2009, 2894, 2896. 664 BGH, 24.3.2010, Az. VIII ZR 304/08 und 178/08, NJW 2010, 2789 und 2793 m. Anm. Mehari/Rieth. 665 BGH, 14.7.2010, Az. VIII ZR 327/07, RdE 2010, 384, 385. 661

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b) Interpretation Die Rechtsprechung zum Billigkeitsmaßstab entwickelt sich ohne eindeutige Tendenz zur Konsolidierung und lässt so die enormen Schwierigkeiten der Rechtsprechung mit der Billigkeitskontrolle erahnen. Während die ersten Urteile, die noch ohne den Druck massenhafter Klagen ergingen, sich mit einer pauschalen Behauptung von Kostensteigerungen einverstanden erklärten, gewinnt die Kostenprüfung erheblich an Differenziertheit und Komplexität. Die erste Grundentscheidung ist aber im ersten Urteil 2003 schon gefällt, nämlich die für den einzuschlagenden Pfad. Der Senat wählt die Kostenorientierung zur Ausfüllung eines Billigkeitsmaßstabs und verlässt diesen Pfad nicht. Abweichende Konzepte zur Quantifizierung eines angemessenen Energiepreises, insbesondere das dem Kartellsenat näherliegende Vergleichsmarktkonzept, wird nur noch ein einziges Mal kurz thematisiert. Alle weiteren Entscheidungen des VIII. Senats bewegen sich somit auf dem Pfad, der im Ausgangspunkt gewählt wurde. Diese Entscheidung zu revidieren, wäre für den Senat schwierig geworden. Die Selektion einer kostenorientierten Überprüfung liegt diesem Senat, der im Wesentlichen für Kaufverträge zuständig ist, offenbar näher als eine wettbewerbsorientierte Marktbetrachtung. So wundert es nicht, dass sich die Rechtsprechung zu § 315 BGB an die Rechtsprechung zu Kostenelementeklauseln in der AGB-Kontrolle annähert. Das ist in § 315 BGB nicht zwingend angelegt, ergibt aber im Sinne einer konsistenten Rechtsbetrachtung Sinn: eine etablierte Rechtsfigur aus einem verwandten Bereich wird zur Stützung von Innovationen in einem neuen Bereich herangezogen. Dadurch ist auch die teilweise, wie gesehen, durch den Klagepfad initiierte Unterscheidung zwischen AGB-Recht und Billigkeitskontrolle relativiert. Ob der Kartellsenat, der mit AGB-Recht nicht ständig zu tun hat, bei intensiverer Befassung mit den Fällen zu einer Vergleichsmarktanalyse gekommen wäre, muss Spekulation bleiben. Innerhalb der Kostenorientierung entwickelt sich die Rechtsprechung wie bei einem Pendel, dessen Ausschläge kleiner werden: einer unternehmensfreundlichen Entscheidung folgt eine verbraucherfreundliche, der wiederum eine in Kleinigkeiten eher unternehmensfreundliche folgt, die wiederum durch eine in Kleinigkeiten verbraucherfreundliche Entscheidung relativiert wird. Dieses Muster zeugt von einer steten Fortentwicklung der Rechtsprechung und einer Sensibilität des Senats gegenüber der Kritik, die durchgängig an den Entscheidungen geübt wurde. Dies bedeutet allerdings auch, dass die Strukturierung der Erwartungen der Marktteilnehmer unzureichend bleiben muss, weil es immer wieder zu Veränderungen der Rechtslage kommt. Hier rächt sich, dass der BGH anfangs und auch später völlig darauf verzichtet, grundlegende Prinzipien für die Auslegung des § 315 Abs. 3 BGB zu formulieren. Während der Kartellsenat noch eine Formel verwendet, die von der „typischen Interessenlage“ in derartigen Verträgen ausgeht (und somit ei-

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nen verobjektivierten Ansatz wählt), unterlässt der VIII. Senat derartige Festlegungen. Die Grundformel ‚Weitergabe gestiegener Bezugskosten abzüglich gegenläufiger Kostensenkungen‘ lässt sich mit Hilfe der in der Wissenschaft erarbeiteten Herangehensweisen, die im Parteiwillen ihren Ausgangspunkt nehmen, kaum sinnvoll einordnen. Am ehesten wäre hier an eine Einordnung im Sinne einer Interessenabwägung der Parteien zu denken. Von Riebles Konzept einer reinen Fortschreibung des Vertrags (bzw. hier der gesetzlichen Wertung) kann aber ebenso wenig gesprochen werden wie von einem Durchschlagen grundrechtlicher Wertungen. Gemeinwohlaspekte spielen in der Argumentation ebenfalls eine untergeordnete Rolle. Ohne eine Formulierung von Prinzipien oder Leitgedanken der Auslegung, die ja von der Literatur reichlich angeboten werden, wirken die Entscheidungen erratisch. Dieses Defizit wird auch nicht mit Rückgriff auf ökonomische Prinzipien ausgeglichen. Wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse zur Preisbestimmung spielen überhaupt keine Rolle. Dies gilt sowohl hinsichtlich des abstrakten Maßstabs als auch für die Vorgaben, die der BGH den Instanzgerichten für die konkrete Kostenkontrolle macht. Das Hinterfragen der dargebrachten Evidenzen wird kaum je thematisiert, erst in der letzten Entscheidung zu der Thematik deutet sich an, dass die Testate der Wirtschaftsprüfer hinterfragt werden müssen. Scheinbar bleibt aber auch diese Aufgabe wesentlich der Gegenpartei überlassen. Sicherer zeigt sich die Rechtsprechung im Bereich abstrahierter und formalisierter Interessenabwägungen, wie sie in der AGB-Kontrolle üblich sind. Auch hier bildet sich zwar keine Linie heraus, die Rechtsprechung scheut aber nicht – anders als bei § 315 Abs. 3 BGB – die konkrete Festlegung und Gestaltung. Angesichts der wechselnden Tendenzen in den Urteilen ist eine Projektion des weiteren Verlaufs kaum möglich. Gerade dies macht aber den Suchprozess aus, in dem sich der BGH befindet. Die „new cases“ scheinen in dieser Rechtsfrage noch keine Interessenbewertung zuzulassen, die zu eindeutigen Ergebnissen führen würde. Die Rechtsprechung erweist sich in diesem Entdeckungsverfahren eben auch nicht als klüger als die Gesellschaft insgesamt (oder die Fachöffentlichkeit der Energiebranche), die vor den Schwierigkeiten dieser Märkte zeitweise zu kapitulieren scheint. Der Beitrag zur Ordnung der Wirtschaft ist damit gering, da Strukturprinzipien kaum herausgebildet werden. Zwei bedeutsame Innovationen, die Rechtsprechung zur Offenlegung der Kalkulation und die Abkehr von der Ölpreis-Kopplung, lohnen die Frage, welche Selektionskriterien die Auswahl möglicher Varianten durch den VIII. Senat bestimmen. Bei der Ölpreis-Kopplung macht gerade eine evolutionäre Betrachtung nachvollziehbar, wie einzelne Argumente im Lauf der Zeit an Relevanz gewinnen. Die Bezugskosten im Verhältnis des Energieversorgers zu seinem Vorlieferanten spielen anfangs gar keine Rolle (2003), sodann wird eine Prüfung pau-

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schal und knapp abgelehnt (2007). Anschließend wird die Prüfung differenziert abgelehnt (2008), schließlich für möglich gehalten (2009) und am Ende mit eindeutigem Ergebnis bejaht (2010). Dieser Entscheidungspfad macht deutlich, wie verfehlt eine Momentaufnahme für die Strukturierung künftiger Erwartungen ist, und wie häufigkeitsabhängig die Innovationskraft der Rechtsprechung ist. Die Änderung der Positionen lässt sich als Lernfähigkeit des Senats ansehen, die im Sinne einer stets zeitgemäßen Judikatur begrüßenswert ist. Der Lernprozess des Senats entspricht der öffentlichen Diskussion zur Ölpreisbindung.666 In der Abkehr von der Gas-Ölpreis-Kopplung nimmt der Senat also eine in der Gesellschaft vorangeschrittene Diskussion auf, in welcher deutlich wurde, dass die aus den 1960er Jahren überkommene Kopplung anachronistisch und nicht mehr ökonomisch gerechtfertigt ist.667 Erneut zeigt sich hier die wechselseitige Beeinflussung der Akteure: Mit wachsender Kritik an der Ölpreisbindung steigt auch der Erwartungsdruck der Marktteilnehmer auf eine Neujustierung der rechtlichen Institutionen. Die Richter des BGH, die ja selbst auch Marktteilnehmer sind, werden von diesen öffentlichen Diskussionen beeinflusst, zu denen sie mit ihren Urteilen sodann wieder beitragen. Die Komplexität der Steuerung oder besser: Koordination in der freien Wirtschaftsordnung wird an einem solchen Beispiel nachvollziehbar. Der zweite Aufsehen erregende Schritt war die Ablehnung der Offenlegung von Kalkulationen in Prüfungen der Billigkeit. Das Selektionskriterium für die Positionierung des BGH geht aus dem Urteil zwar nicht eindeutig hervor, tragendes Argument ist aber das Geheimhaltungsinteresse der Unternehmen an ihren Geschäftsgeheimnissen. Für diesen Aspekt der Rechtsprechung ist allerdings auch in der Tagespresse dezidiert über die mündliche Verhandlung beim BGH berichtet worden. In der Berichterstattung wird deutlich, dass gerade die Frage der Offenlegung für den Vorsitzenden Richter des Senats, Wolfgang Ball, eine große Rolle spielte. Dieser habe, so schreibt etwa die Süddeutsche Zeitung, „Verständnis für die ‚große Scheu‘ der Versorgungsunternehmen, ihre Geschäftsgeheimnisse öffentlich und damit auch gegenüber den Konkurrenten zu offenbaren. (…) Bei einer vollen Kontrolle durch die Zivilgerichte müssten Hunderte Gerichte sowohl über den Preis als auch über die zulässige Gewinnmarge eines Versorgungsunternehmens urteilen. Das sei eine ‚gewöhnungsbedürftige Vorstel666 Vgl. Bundeskartellamt, Tätigkeitsbericht 2003/2004, 2005, S. 138 f.; Hanau, ZIP 2006, 1281, 1285; Monopolkommission, Energie 2009, 2010, Ziff. 116 ff. (Fußnote 68 mit Zitaten aus der öffentlichen Kritik) sowie dies., Energie 2011, 2011, Ziff. 583 ff. Monopolkommission und Bundeskartellamt befassen sich vor allem mit der Gas-Ölpreisbindung auf der Importstufe. Die Monopolkommission begrüßt aber auch die hier referierten BGH-Entscheidungen zur Distributionsstufe (Ziff. 588). 667 Vgl. Anm. zu BGH, 24.3.2010, Az. VIII ZR 178/08, NJW 2010, 2793 von Mehari/Rieth, 2797.

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lung‘, sagte Ball.“668 Hier tritt als zweites Argument ein institutioneller Grund hervor. Der Vorsitzende Richter geht davon aus, dass Zivilgerichte möglicherweise mit einer Prüfung der Kalkulationen überfordert wären. Hätte der VIII. Senat den Entscheidungen des Kartellsenats 2005/2006 folgend ebenfalls der ökonomischen Analyse die Tür einen Spalt weiter geöffnet, hätte jeder Amtsrichter in einer Klage mit möglicherweise äußerst geringem Streitwert die Kalkulation eines EVU anfordern können, öffentlich gemacht und analysieren müssen. Darin, so ist der Senatsvorsitzende möglicherweise zu interpretieren, hätte eine Überforderung der Zivilgerichte gelegen. Die Verweigerung einer detaillierten Prüfung der Kalkulation führte zu einer Einschränkung der Chancen der Verbraucher. Die Geheimhaltung, verbunden mit dem in der Gesellschaft verbreiteten Gefühl einer „Abzocke“669 durch Energieversorger, war offenbar schwer mit der Vorstellung der Verbraucher von einer Ordnung der Energiewirtschaft vereinbar. Über diesen Widerspruch half die Presse durch eine Skandalisierung der Vorgänge hinweg. Sie stellte bei dem Senatsvorsitzenden einen Zusammenhang zwischen der versorger-freundlichen Haltung seines Senats und offenbar honorierten Vortragstätigkeiten bei unternehmensnahen Instituten und Anwaltskanzleien her.670 Der Spiegel etwa konstatiert: „Ball gilt als ausgesprochen versorgernah. Seine Entscheidungen erklärte er gern mal gegen Honorar vor Vertretern der Energiewirtschaft.“671 Die Insinuation bedarf keiner weiteren Kommentierung, wirft aber ein Licht auf die Erwartungen der Akteure an die Gerichtsbarkeit: Eine derartige Skandalisierung der Rechtsprechung zu § 315 BGB basiert zum einen auf der regelmäßig gerechtfertigten Erwartung an Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richterpersönlichkeiten. Erwähnenswert wird die Vortragstätigkeit aufgrund des Widerspruchs zur Akzeptanz der Gerichte im Wirtschaftsverkehr. Zum anderen wird durch eine solche Erklärung in gewisser Weise die Konsistenz der Rechtsordnung bewahrt, da anders für einige Kreise die Rechtsprechung in diesem Fall nicht nachvollziehbar ist. Durch den Vorwurf sachfremder Erwägungen wird so der Widerspruch der 668 Süddeutsche Zeitung, „Dämpfer für Gaspreiskontrolle“ (Helmut Kerscher), 29.5.2008, Seite 20. 669 Zu dieser Diktion vgl. nur Focus Online, „Neue Abzocke beim Gas?“, 25.8.2008, abrufbar unter http://www.focus.de/immobilien/energiesparen/energie-neue-abzocke-beim-gas_ aid_327502.html; Süddeutsche Online, „Energiekonzerne zocken Kunden ab“, 3.8.2010, abrufbar unter http://www.sueddeutsche.de/geld/strompreis-energiekonzerne-zocken-kunden-ab1.983198. 670 Vgl. Spiegel Online, „Im Fokus der Lobbyisten“ (Nils Klawitter), 26.11.2007, abrufbar unter http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,519373,00.html; Der Spiegel, „Energiepreise – Zeuge der Angeklagten“ (Nils Klawitter), Ausgabe 43/2007, S. 102; siehe auch Stellungnahmen wie http://www.hausundgrundwiesbaden.de/pdf/Leitartikel2008_05.pdf; http://www.cleanstate.de/Preissockel_Energiepreise.html#_Toc250390774. 671 Der Spiegel, „Unter Druck“ (Frank Dohmen/Nils Klawitter), Ausgabe 13/2020, S. 70 f.

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Entscheidung zu den Erwartungen der verbraucherfreundlich gesinnten Marktteilnehmer aufgehoben. Bei der evolutionären Betrachtung wird aber auch deutlich, dass der Senat keine dauerhaft versorgerfreundliche Haltung eingenommen hat. Sowohl vor der Entscheidung als auch im Anschluss gab es immer wieder verbraucherfreundliche Tendenzen.672 Der Vorteil der vom VIII. Senat insgesamt bevorzugten AGB-Kontrolle liegt darin, dass die praktische Frage nach Offenlegung und richterlicher Prüfung der Kalkulation außen vor bleiben kann. Die Entwicklung der Rechtsprechung gegen § 315 BGB kann daher auch vor dem Hintergrund gelesen werden, Regeln für eine Überprüfung zu finden, ohne Unternehmen und Gerichte zu überfordern. Diese Lösung bietet das AGB-Recht, da nur eine abstrakte, juristisch geprägte Klausel-Prüfung stattfindet. Es ist damit keine Überraschung, dass der BGH in keinem einzigen Fall eine Quantifikation der Billigkeit im Sinne konkreter Werte vorgenommen, gebilligt oder kritisiert hätte (Stichwort: „gegriffene Größen“). Auch wenn die konkrete Quantifizierung tatrichterliche Aufgabe ist, hätten doch in der Revisionsinstanz konkrete Preisbestimmungen auftauchen können. Dies hat der BGH durch seine AGB-Rechtsprechung und die Lösung über prozedurale Entscheidungen, insbesondere nach Beweislast, verhindert. Dass der Gesetzgeber in § 315 Abs. 3 BGB den Zivilgerichten eine hohe Gestaltungsmacht übertragen hat, nämlich als Vertragsretter im Dienste der Parteien ein Essentialium des Vertrags zu bestimmen, hat die Gerichte offenbar eher abgeschreckt als gereizt.

IV. Hypothesen zum gerichtlichen Vorgehen Aus dieser evolutionären Darstellung lassen sich wiederum die Hypothesen zum Umgang der Zivilgerichte mit post-deregulativen Streitigkeiten, hier am Beispiel der Energiepreiskontrolle, überprüfen. (1) Die höchstrichterliche Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten neigt – auch in new cases – im Verlauf zu differenzierten Mittellösungen, die in Folgeprozessen auf Tatbestandsebene ausjudiziert werden müssen. Die These wird durch die Ergebnisse bezüglich der Neigung zu differenzierten Mittellösungen bestätigt. Sowohl auf dem Entscheidungspfad der Billigkeitskontrolle als auch auf dem der AGB-Kontrolle erkennt die 672 Verbraucherfreundliche Tendenzen werden im Fall der Abkehr von der Gas-Ölpreisbindung von Kritikern des Senatsvorsitzenden konsequenterweise mit einem Überstimmen des Senatsvorsitzenden durch seine Richterkollegen erklärt, siehe Der Spiegel, „Unter Druck“ (Frank Dohmen/Nils Klawitter), Ausgabe 13/2020, S. 70 f. Gesichert wäre diese Erkenntnis nur, wenn einer der beteiligten Richter das Beratungs- und Abstimmungsgeheimnis (§ 43 DRiG) verletzt hätte.

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Rechtsprechung wichtige Positionen beider Seiten an. Anders als in den zuvor untersuchten Konstellationen weicht die Rechtsprechung einer exakten Tatsachenprüfung allerdings weitgehend aus und versucht Lösungen durch Beweislastentscheidungen und abstrakte Würdigungen in der AGBKontrolle zu erzielen. Allerdings ist einschränkend festzuhalten, dass die Analyse der Energiepreiskontrolle auf die Revisionsinstanz beschränkt war, sodass nachfolgende tatrichterliche Schwierigkeiten weniger sichtbar wurden als in den zuvor geprüften Konstellationen. (2) Differenzierte Mittellösungen sind häufigkeitsabhängig. Auch in der Energiepreiskontrolle hat die Rechtsprechung mit zunehmender Fallzahl erheblich differenziert und immer neue Lösungen gefunden. Dieses Ergebnis war insofern nicht unbedingt zu erwarten, da die Fallzahl hier – insbesondere auch auf untergerichtlicher Ebene – so massiv war, dass die Rechtsprechung institutionell auch auf eine schnellere Klärung der Rechtslage ohne immer neue Verästelungen hätte abzielen können. (3) Die Tendenz der Entscheidung ist pfadabhängig. Die Pfadabhängigkeit zeigt sich in der Energiepreiskontrolle zum einen an der Unterscheidung zwischen Verbandsklagen und Individualklagen, zum anderen an dem institutionellen „bias“, mit dem der Kartellsenat einerseits und der Kaufrechtssenat andererseits an identische Fallgestaltungen herangehen. (4) Gegner des Incumbents geraten auch dann in eine Rechtfertigungsposition, wenn sie sich auf eine Freiheitsposition berufen. Diese These ist auf die Konstellation so nicht unmittelbar übertragbar, da es an einer eindeutigen Zuordnung von Freiheitspositionen mangelt. Wie das BVerfG in seiner Entscheidung herausgearbeitet hat, steht in der AGBKontrolle, aber auch bei der Prüfung nach § 315 BGB die Sicherung des Äquivalenzinteresses im Vordergrund, das Folge ebenso wie Grundlage einer selbstbestimmten Ausübung der Handlungsrechte ist. Festhalten lassen sich hierzu zwei Punkte: Erstens geht es für die Gegner der Incumbents hier um den Ausgleich mangelnder Verhandlungsmacht, was sich an der von den Gerichten immer wieder diagnostizierten Marktbeherrschung der EVU ablesen lässt. Zweitens ist der Ausgleich solcher Defizite sowohl in § 315 BGB – wie gesehen – als auch in §§ 305 ff. BGB selbstverständlicher Bestandteil eines freiheitsgeprägten Privatrechts. Beide Normkomplexe zielen auf die Sicherung der freien Interessenkoordination als Systemvoraussetzung; es handelt sich nicht um ausnahmsweise Interventionen, sondern, wie das BVerfG zu § 315 BGB betont hatte und in der Gaspreis-Entscheidung zum AGB-Recht schreibt, um zentrale Ordnungsvorschriften des BGB. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Hypothese durchaus stützen: Den Ausgleich mangelnder Verhandlungsmacht im

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Zuge des § 315 BGB gewähren die Gerichte nur äußerst widerwillig und in geradezu homöopathischen Dosen. Zwar ist formal das EVU jeweils darlegungspflichtig in diesen Fällen, die Verbraucher geraten jedoch in eine „Rechtfertigungsposition“, indem sie sich das Recht erstreiten müssen, einen gerichtlichen Ausgleich zu erhalten. In den AGB-Fällen ist formal derjenige, der sich auf den Schutz durch § 307 Abs. 1 BGB beruft, beweisbelastet, also normalerweise der Verbraucher. Allerdings ist strittig, welche Rolle § 307 Abs. 2 BGB für die Beweislastverteilung spielt.673 In der Praxis spielt die Differenzierung kaum eine Rolle, da die Äquivalenzprüfung durch den BGH eine überwiegend rechtliche Prüfung ist, die – wie in diesen Fällen gesehen – in abstrakter Form vorgenommen wird. Nichtsdestotrotz bleibt die Ausgangsposition allerdings, dass der Verbraucher, der die Unwirksamkeit einer Klausel rügen will, dies vor Gericht tragen muss und insofern zunächst eine Rechtfertigungsposition einnimmt. (5) Tragende Institutionen für die Lösung des Konflikts sind andere Gesetze und Präzedenzfälle, deren Wirkung für die konkreten Verfahren jedoch nicht prognostizierbar ist. Die Auswahl der durchschlagenden Argumente wird auch in der Energiepreisrechtsprechung weitgehend in der gesetzgeberischen Wertung (Deregulierung der Energiemärkte, Einführung § 29 GWB) gesucht sowie in der Berufung auf Vorentscheidungen. Beim Umgang mit Präzedenzfällen fällt die hohe Zahl an Entscheidungen auf, in denen sogar offiziell eine Abgrenzung des Sachverhalts oder eine „Fortentwicklung“ festgestellt wird. Das macht eine Prognose schwierig, da die Erwartung, dass sich der BGH auf das just zuvor gefällt Urteil stützt, nicht mehr gerechtfertigt werden kann. Andere Einflussfaktoren, die als Selektionsparameter dienen, werden kaum ausgewiesen. Insbesondere spielen grundrechtliche Argumente selbst nach der BVerfG-Entscheidung keine Rolle. Auch die europäischen Vorgaben werden bis zu den beiden Vorlagebeschlüssen nicht herangezogen. Ebenso entfällt die Bezugnahme auf Argumente der Literatur. Anekdotische Evidenz lässt sich dafür finden, dass der BGH die heftige öffentliche Debatte über Energiepreise teilweise antizipiert, also außerrechtliche Einflussfaktoren berücksichtigt. (6) In der Selektion der Argumente werden solche bevorzugt, welche die Richter aus eigenem Erleben nachvollziehen können. Da der BGH weitgehend auf rechtlicher Ebene verbleibt und kaum Sachargumente einbezieht, ist die Hypothese wenig tragfähig. Eine Priorisierung von Verbraucherinteressen, die jeder Richter aus eigenem Erleben nachvollziehen kann, ist nicht erkennbar. Allerdings bleiben die Argu673

Vgl. Coester in: Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts, 2011, S. 232.

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mente überwiegend aber auch in sehr nachvollziehbaren Dimensionen, wie sich etwa an der Ölpreis-Kopplung zeigt: Überlegungen dazu fallen summarisch und wenig anspruchsvoll aus. (7) Ökonomische Argumente, insbesondere zur besonderen Situation in postderegulativen Branchen, spielen für die Entscheidungsfindung keine Rolle. Die Hypothese wird bestätigt. Ökonomische Erwägungen fehlen völlig. Die spezifische Branchensituation zwischen Monopol und Wettbewerb wird gewürdigt, allerdings mit abweichenden Ergebnissen von zwei Senaten. Es fehlt eine Reflektion der Auswirkungen der BGH-Rechtsprechung auf die künftige ökonomische Situation der Branche. (8) Höchstrichterliche Rechtsprechung klärt einen Fall nicht abschließend, sondern ist nur ein Element der Wirtschaftsordnung, das in der Folge durch weitere Gerichtsurteile und die Rezeption in der Fachliteratur weiter entwickelt wird. Die Energiepreisrechtsprechung des BGH wurde von unterinstanzlichen Gerichten mit entwickelt, aber auch stark geprägt. Erkenntnisse zu § 315 BGB oder dem AGB-Recht wurden zudem von anderen Gerichten für Fälle aus anderen Branchen rezipiert. Dies bedarf keiner gesonderten Darstellung, da die Hypothese sich schon in der Energiepreiskontrolle selbst als zutreffend darstellt. Die hier betrachtete Dekade der Rechtsprechung zeigt einen Verlauf, in dem es zu keinem Zeitpunkt zu einer „Klärung“ gekommen ist, und in dem zum Teil derselbe Senat seine eigenen Entscheidungen innerhalb weniger Monate abweichend auslegte. Ein besonders eindrücklicher Beleg dafür sind die zwei EuGH-Vorlagen, welche das Potential haben, die gesamte Rechtsprechungsentwicklung noch einmal völlig neu zu ordnen. Dass der BGH überhaupt vorgelegt hat, belegt, dass auch der zuständige Senat nicht davon ausgeht, dass die Fragen bereits abschließend geklärt wären. (9) Eine Reflektion der eigenen Rechtsprechungstätigkeit findet, insbesondere bezogen auf Verfahrensfragen, nicht statt. Die Hypothese wird bestätigt. In den Energiepreisfällen ist das Reflektionsdefizit besonders spürbar, da sich die institutionelle Komplexität geradezu aufdrängt. Die Verfahren dauern wiederum mehrere Jahre von Klageerhebung bis Abschluss, in der überwiegenden Anzahl der Fälle kommt es zu Zurückverweisungen durch den BGH an das Berufungsgericht, das Missverhältnis zwischen teilweise extrem geringen Streitwerten und extrem aufwändigen Verfahren fällt ins Auge, einige Verfahren werden als kollektive Klagen von zahlreichen Klägern gemeinsam vertreten, es kommt zu Unterschieden zwischen Unterlassungsklagen qualifizierter Einrichtungen und Individualklagen, innerhalb des BGH deuten sich Konflikte zwischen dem Kartell- und dem Kaufrechtssenat an. All diese

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Themen werden in den Urteilen mit keinem Wort erwähnt, sie spielen auch keine erkennbare Rolle in den Urteilen. Besonders manifest wird das Defizit der Selbstreflektion jedoch hinsichtlich der schieren Verfahrensmasse. Weder thematisiert der BGH, dass er binnen weniger Jahre in letztlich immer derselben Konstellation über 30 Mal zu entscheiden hat, noch würdigt er die massive Verfahrensexplosion bei den Instanzgerichten. Wie sich diese Zahl von Verfahren sinnvoll bewältigen lässt und wie im Interesse der Marktteilnehmer und der Gerichte eine Reduzierung der aufwändigen Rechtsstreitigkeiten erreicht werden könnte, sind Fragen, die sich aufdrängen. Die Beschwerden gegen die Aussetzungsbeschlüsse des LG Hamburg haben den BGH dazu gezwungen, diese Fragen zu beantworten. Von einer besonderen Reflektion der Prozesszwecke und der eigenen Tätigkeit sind die Antworten jedoch weit entfernt. Der Ball wird zurückgespielt zum LG Hamburg. Dem Gericht, das gerade über eine kaum mehr tragbare Arbeitsbelastung gestöhnt hatte, wird – ausgerechnet! – auferlegt, dies vertieft darzulegen, also noch mehr Arbeit in Aussetzungsbeschlüsse zu investieren. Der BGH vermag einen drohenden Systeminfarkt nicht zu erkennen und empfiehlt gerichtsinterne Reorganisationen. Fast wäre zu wünschen, dass die in Hamburg nun fortzusetzenden Verfahren sämtlichst als Revisionen in Karlsruhe anbranden würden. Dann ließe sich prüfen, ob der BGH mit der gleichen Nonchalance, die er gegenüber den Bedenken des Landgerichts gegen die ausufernde Klagewelle an den Tag legt, auch seine Gerichtsorganisation umstellt.

V. Bewertung 2006 wurde die Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage von Bundestagsabgeordneten gefragt, ob sie Preissenkungen für Erdgas aufgrund von wettbewerbsfördernden Maßnahmen erwarte.674 Die Abgeordneten hatten eine signifikante Steigerung von Verbraucherpreisen gesehen und bezeichneten die Situation bei Gas als „besonders dramatisch“. Auch die Bundesregierung teilte mit, sie sehe die Gaspreisentwicklung „mit Sorge“. Auf die Frage nach den möglichen Senkungen antwortete die Regierung: „Die Bundesregierung erwartet, dass insbesondere die Kontrolle der Netzentgelte durch die Bundesnetzagentur aber auch die verstärkten Aktivitäten der Kartellbehörden im Wege der Preismissbrauchsaufsicht sich positiv auf die Verbraucherpreise auswirken werden.“675

Diese Antwort ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Zum einen offenbart sie einen Optimismus, der, wie heute bekannt ist, trog. Zum anderen fehlt in der 674 Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Bärbel Höhn u.a., „Gaspreiserhöhungen für Verbraucher“, 6.6.2006, BT-Drucks. 16/1764. 675 Ebd., S. 4.

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Reihe von Maßnahmen, wie auch in der gesamten 10-seitigen Stellungnahme zur Gaspreisentwicklung jeglicher Hinweis auf die zivilgerichtliche Rechtsprechung. Dies mag Ausdruck des exekutiven Bewusstseins für die Gewaltenteilung sein, nach der Gerichte nicht in die Lenkungsabsichten der Regierung einbezogen werden. Es mag auch die zutreffende Erkenntnis abbilden, dass die Gaspreiskontrolle der Gerichte nicht auf Wettbewerbsförderung ausgerichtet ist. Möglicherweise manifestiert sich darin aber auch eine Ignoranz gegenüber einer gesellschaftlichen und judikativen Entwicklung, die eine solche Heftigkeit gewonnen hat, dass Handlungsbedarf seitens der Bundesregierung gegeben gewesen wäre. Diese Entwicklung ist der Umgang mit dem Massephänomen der Gaspreiskontrolle durch Zivilgerichte, die durch die Abgeordneten kritisch gesehen wird. Die Monopolkommission stellte 2007 fest, die zivilgerichtlichen Klagen seien zwar „letzte Zuflucht“ des Verbrauchers, aber nicht effektiv.676 Diese Auffassung teilt allerdings nicht jeder.677 Die Rechtsprechung zur Energiepreiskontrolle ist durch drei große Tendenzen gekennzeichnet: Die Kontrolle nach § 315 BGB wird immer weiter zurückgedrängt und durch Beweislastfragen entschieden. An Boden gewinnt eine AGB-Kontrolle, die sich stark ausdifferenziert. Trotz einer langjährigen Spruch-Praxis sind Detailfragen offen und zahlreiche Verfahren noch anhängig. Dogmatisch war der interessante Ansatzpunkt der Prüfung § 315 Abs. 3 BGB, der im Zusammenhang mit der Energiepreiskontrolle Furcht wie Enttäuschung auslöste: Manch einer sah in der Norm das „trojanische Pferd des Zivilrechts […], mit dem der Richter seine Vorstellung von Gerechtigkeit an die Stelle des Gesetzgebers setzen kann“,678 andere sahen die Norm bedauernd als „strukturell überfordert“ mit der Aufgabe, die Voraussetzungen der Privatautonomie durch den Schutz von Wettbewerb zu sichern.679 Die bisherigen Bewertungen der höchstrichterlichen Gaspreis-Rechtsprechung in ihrer Gesamtheit divergieren also. Der hier angelegte Maßstab ist wiederum legitimationsorientiert und setzt an der funktionalen und materiellen Legitimation der Judikative an.

1. Konfliktschlichtung Aus funktional-individueller Perspektive ist die Konfliktschlichtung in angemessener Zeit für die Beteiligten entscheidend. Eine Konfliktschlichtung zeichnet sich, wie dargelegt, durch eine Entscheidung in der Sache in einem 676 677 678 679

Monopolkommission, Strom & Gas 2007, 2007, Ziff. 418. Vgl. Metzger, ZHR 172 (2008), 458, 475. Martini, DVBl. 2008, 21, 29. Wielsch, JZ 2008, 68, 73.

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fairen und angemessen aufwändigen Verfahren für die Betroffenen aus. In den hier entschiedenen Fällen treffen die Gerichte jedoch nur selten eine Entscheidung in der Sache, wegen der sie angerufen worden. Was der angemessene Gaspreis für die Lieferung ist, erfahren die Parteien nicht. Die Gerichte nehmen aber in vielen Fällen nicht einmal eine tatsächliche Kostenkontrolle vor, nach der sie bestimmte Kosten nach ihrer Berücksichtigungsfähigkeit sortieren würden. Die Entscheidungen drehen sich vielmehr um Darlegungs- und Beweispflichten sowie um prozedurale Kriterien der „Aushandlung“ von Gaslieferungsverträgen, obwohl eine echte Verhandlung in der Vertragspraxis zwischen EVU und Verbraucher nicht stattfindet. Der eigentliche Konflikt wird so nicht entschieden. Die gerichtliche Verweigerung, einen Wert zu beziffern, ist einerseits verständlich, handelt es sich doch – wie gesehen – um eine undankbare Aufgabe, die zudem – wie der VIII. Senat betont – an Regulierung gemahnt. Andererseits unterscheidet sich die zivilgerichtliche Tätigkeit von derjenigen der Regulierungsinstanzen durch das Prinzip der Regulierungsbegrenzung durch Einzelfallentscheidung: Die formale Wirkung für ein einzelnes Verfahren wäre volkswirtschaftlich vertretbar. Der Aufwand der Verfahren, die sich teilweise über mehrere Jahre erstrecken samt Rückverweisung vom BGH an die Berufungsinstanz, steht in keinem Verhältnis zu den regelmäßig geringfügigen Streitwerten. Zwar kann ein Urteil auch in einem geringwertigen Prozess eine gewisse Präzedenzwirkung über den Einzelfall hinaus entfalten. Für die am Prozess beteiligten Personen, und auf deren Sicht ist bei funktional-individueller Prüfung abzustellen, ist aber ein mehrjähriges Gerichtsverfahren kaum zumutbar. Etwas anderes gilt ggf. für Unterlassungsklagen, in denen nicht ein individueller Verbraucher, sondern eine qualifizierte Einrichtung beteiligt ist. Hätte sich die ökonomischere Herangehensweise des Kartellsenats durchgesetzt, wäre dieser ohnehin schon hohe Aufwand notabene durch Kosten für ökonomische Gutachten weiter erhöht worden. Teil der funktional-individuellen Prüfung ist auch, ob die Verfahren zu durchsetzbaren Lösungen führen. Das ist in den vorliegenden Fällen wegen der häufigen Rückverweisungen schwer zu beurteilen. In diesem Zusammenhang ist aber auf zwei Probleme hinzuweisen, die sich im Laufe der Entwicklung für die Parteien gezeigt haben: Die § 315-Rechtsprechung hat durch ihre Kostenorientierung zu der Offenlegungsproblematik geführt, die auch der VIII. Senat gesehen hat. Ohne Offenlegung der Kalkulation scheint ein kostenorientierter Ansatz aber kaum gerichtsfest prüfbar. Hier auf Testate von Wirtschaftsprüfern abzustellen, ist eine wenig befriedigende Lösung. Der später entwickelte Weg, mit Hilfe genauer Abwägungen zwischen Geheimnisschutz und Kalkulationsprüfung jeden einzelnen Posten durchzukämpfen, ist ebenfalls wenig praktikabel. Die Rechtsprechung des BGH führt hier bei den Instanzgerichten entweder zu

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pauschalen Urteilen oder zu aufwändigen Auseinandersetzungen über Offenlegungspflichten. Die Entscheidung des Gerichts ist gegenwärtig als Ausnahme vom Öffentlichkeitsgrundsatz des Zivilprozesses nach § 172 Nr. 2 GVG zu treffen, dessen Voraussetzungen eng auszulegen sind.680 Die Problematik der Abwägung zwischen Rechtsschutz und Geheimhaltungsinteresse, Verfahrensökonomie und Parteiinteressen, Öffentlichkeitsgrundsatz und richtiger Entscheidung ist diffizil. Das Bundesverfassungsgericht hatte in einem parallel gelagerten Netzentgelt-Verfahren, das allerdings im Verwaltungsrechtsweg entschieden wurde, über den Schutz der Betriebsgeheimnisse des Netzbetreibers (Telekom) zu entscheiden. Es stellte fest, dass nach geltendem Recht im Verwaltungsrechtsweg keine befriedigende Auflösung der Kollision der Rechtsgüter möglich ist.681 Nichts anderes gilt für das Zivilverfahrensrecht. Das sog. „in camera“-Verfahren des § 99 Abs. 2 VwGO für Unterlagen von Behörden, das in dem Telekom-Verfahren nicht anwendbar war und für das es im Zivilrecht keine Parallele gibt, könnte eventuell de lege ferenda einen Ausweg bieten, der langwierige Streitigkeiten über geheimhaltungsbedürftige Passagen erübrigt.682 Wenn schon der Konflikt, der in diesem Fall Verbraucher regelrecht emotionalisiert, von den Gerichten eigentlich nicht entschieden wird, stellt sich die Frage, welche rationale Konsequenz aus der Rechtsprechung zu ziehen ist. Der Verbraucher, dem eine Hauptleistungspflicht des Vertrags, nämlich seine Gegenleistungspflicht, im Wesentlichen in Form von AGB präsentiert wird, hat praktisch nur die Option, den Vertrag als solchen zu akzeptieren, oder eine alternative Energiebezugsquelle zu buchen. Damit verweist der BGH den Verbraucher letztlich (und wohl realistisch) darauf, eine genauere Anbieterauswahl zu treffen statt mit seinem Energieversorger eine Preisverhandlung zu führen: Wettbewerb statt individuelles Verhandlungsgeschick.683 Dies ist insofern eine realistische Abbildung der Vorkommnisse im Energiesektor als es sich beim Energielieferungsvertrag um ein modernes Massengeschäft handelt, wie gerade die Gerichte in ihren zahllosen Verfahren erfahren konnten. Es stößt aber noch an die bestehenden Grenzen der wettbewerblichen Durchdringung, was die Auseinandersetzung zwischen den beiden BGH-Senaten spiegelt. Während die Zurückdrängung von § 315 BGB in der Energiepreiskontrolle vor allem für Energieversorger positive Wirkungen hatte, ist die starke Ausdifferenzierung der AGB-Rechtsprechung weder den Unternehmen noch den Verbrauchern besonders günstig.

680 Vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 2012, § 172 GVG Rn. 1, Vor § 169 GVG Rn. 2 („mit größter Strenge prüfen“). 681 BVerfG, 14.3.2006, Az. 1 BvR 2087/03, BVerfGE 115, 205 = NVwZ 2006, 1041, 1044 f. 682 Vgl. Stadler, ZZP 123 (2010), 261 ff.; Hanau, ZIP 2006, 1281, 1287. 683 Vgl. Monopolkommission, Strom & Gas 2007, 2007, Ziff. 417 f., die einen Anbieterwechsel gegenüber einer 315-Klage für vorzugswürdig hält.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

2. Befriedung In funktional-institutioneller Hinsicht ist der höchstrichterlichen Rechtsprechung regelrecht ein Versagen vorzuwerfen. Der BGH hat es nicht vermocht, in dem gesellschaftlichen Konflikt zwischen Energieversorgern und Verbrauchern zu schlichten und immer neue Klagen abzuwehren. Jegliche präventive Wirkung, die von den Urteilen hätte ausgehen können, wurde verfehlt. Es mag eingewendet werden, dass es viel verlangt ist, wenn der BGH ein derart umstrittenes wirtschaftspolitisches und gesellschaftliches Reizthema befrieden soll – aber genau das ist es, was von ihm institutionell verlangt wird. Die Entscheidungen des BGH hätten darauf ausgerichtet sein müssen, klare Vorgaben für die vorgerichtliche Konfliktlösung zu geben. Dies ist aus den zwei Gründen gescheitert, die auch für die Betroffenen problematisch waren: die Verbraucher haben nicht die Antwort erhalten, nach der sie gefragt hatten, nämlich ob die Preise angemessen sind. Ihre Erwartung wurde also enttäuscht. Mit seiner kaum prognostizierbaren AGB-Kontrolle hat der BGH dann selbst ein Feld eröffnet, das zu immer weiteren gerichtlichen Klärungen jeder Klausel einlud. So wurden Prozesse eher herausgefordert als verhindert. Dies stellte nicht nur einen Mangel an gesellschaftlicher Konfliktvermeidung dar, sondern fordert auch die Effizienz der Justiz heraus, die zudem auf entsprechende Massenverfahren nicht eingestellt ist, wie der Hamburger Fall eindrücklich belegt. Verfahrensrechtliche Regelungen zur Bewahrung bzw. Wiederherstellung der effizienten Justizgewährung fehlen weitgehend. Hintergrund des Versagens im funktional-institutionellen Bereich ist ein Mangel an Reflektionsbereitschaft über den Einzelfall hinaus. In keiner BGHEntscheidung wird der Aspekt der Massenverfahren wirklich gewürdigt, stets hat der BGH den Einzelfall im Blick, aber selten scheinen allgemeinere Erwägungen auf. Diese beziehen sich erst recht nicht auf die Ausgestaltung der Justiz, das Verfahrensrecht, den Zugang zur Justiz oder sonstige Funktionsmechanismen der Rechtsprechung. Gelegentlich lässt der BGH auch eine Sensibilität gegenüber den Instanzgerichten vermissen, die seine Forderungen umsetzen müssen.

3. Durchsetzung subjektiver Rechte In materiell-individueller Hinsicht geht es für die Parteien um die Durchsetzung ihrer subjektiven Rechte und die Lösung des Konflikts anhand ihrer Erwartung an das privatrechtliche Leitbild. Die Ergebnisse der Rechtsprechung überzeugen hier nur teilweise. Der BGH zeigt selbst Unsicherheiten und keine konsistente Entwicklung einer Rechtsprechungslinie. Die BGH-Rechtsprechung zur Gaspreiskontrolle kann in ihrem Verlauf charakterisiert werden durch zunehmende Differenzierung und Formalisierung: Mit Differenzierung ist gemeint, dass der Senat die Sachverhalte immer

D. Vertragsfreiheit und Ungleichgewichtslagen: Gaspreiskontrolle

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detaillierter voneinander abgrenzt und die Anwendung des § 315 BGB immer weiter einengt. Büdenbender, der die BGH-Rechtsprechung kritisch zu systematisieren versuchte, sprach schon 2005 von einer „vielfältigen Kasuistik“684. Zugleich findet eine Formalisierung dahingehend statt, dass an die Stelle einer Entscheidung in der Sache immer stärker eine formale Entscheidung tritt. Am augenfälligsten wird dies im Wechsel von der Kontrolle nach § 315 BGB hin zur Kontrolle nach AGB-Recht. Während § 315 BGB einen sehr weiten Spielraum lässt und eine Entscheidung über den billigen Preis verlangt, ist im AGB-Recht nur noch die abstrakte Wirksamkeit der Klausel, nicht deren konkrete Ausfüllung, zu analysieren. Hier kann ein Ausweichen der Rechtsprechung vor einer Positionierung in den dogmatisch anspruchsvollen Fragen beobachtet werden. Auch bei detaillierter Analyse der Fälle lässt sich kaum erahnen, welche Gaspreise der Senat als „billig“ ansieht. Wie dargestellt wird ein Informationsmodell gegenüber Interventionen bevorzugt. Das entspricht nicht unbedingt dem privatrechtlichen Leitbild. Eine konsequente Anwendung von § 315 BGB wäre, wie gesehen, kein Systembruch in der freien Interessenkoordination, sondern im Gegenteil eine Bewährung des hier vorgestellten Ansatzes von Freiheit und Bindung. Die Durchsetzung der subjektiven Rechte der Parteien im verbleibenden Bereich des § 315 BGB ist wesentlich geklammert an Fragen der Beweislast.685 Hier hat der BGH immerhin zutreffend dem Leistungsbestimmer, den EVU, die Darlegungs- und Beweislast auferlegt. Doch nicht einmal diese Selbstverständlichkeit war gesichert – im Rückforderungsprozess bestehen noch Restzweifel. Die bloße Tragung der Beweislast sagt allerdings noch nichts über deren Anforderungen aus. Entscheidender ist die Frage, ob etwa das Testat eines Wirtschaftsprüfers genügt, ob ein Verbraucher pauschal oder substantiiert bestreiten muss, welche Daten offen gelegt werden müssen. Zu diesen Fragen hat sich der BGH immer wieder kursorisch geäußert, doch auch hier blieb die Entstehung einer echten Struktur Desiderat. Das macht den Befund noch entmutigender: Hängt die Durchsetzung subjektiver Rechte von Beweisschwierigkeiten ab, wird aus der angestrebten materialen Gerechtigkeit, die § 315 Abs. 3 BGB durch die Möglichkeit des richterlichen Gestaltens gerade gewähren will, eine rein prozedurale Rechtsdurchsetzung, die von Gerechtigkeitserwartungen der Parteien abgekoppelt ist. Im Umgang mit § 315 BGB lässt sich eine Art „Flucht“ des BGH aus der schwierigen Aufgabe des § 315 BGB erkennen: Eine Vertragsrettung findet zwar statt, aber die Eingriffe beschränkt der BGH auf ein Minimum. Die Integration dieser Norm in das privatrechtliche Leitbild, für das sie nach Auffassung des BVerfG geradezu zentral ist, gelingt nicht.

684 685

Büdenbender, Zulässigkeit der Preiskontrolle, 2005, S. 43. Vgl. Hirsch in: FS Baudenbacher, 2007, S. 405, 418; Hanau, ZIP 2006, 1281, 1283.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

Im Rahmen der AGB-Kontrolle wird das privatrechtliche Leitbild besser getroffen. Hier bemüht sich der BGH um einen Interessenausgleich und die Sicherung der Äquivalenz, sodass die Freiheitsausübung mit den Machtunterschieden zwischen den Vertragsparteien ausbalanciert wird. Für die Durchsetzung subjektiver Rechte ist das AGB-Recht aber eine zweifelhafte Institution: Geprüft wird stets die kundenfeindlichste Auslegung, die Klausel wird, wie der Senat in den hier besprochenen Urteilen belegt, nicht konkret an den Interessen der streitenden Parteien gemessen, sondern abstrakt. Immer wieder betont der BGH auch das Transparenzerfordernis, ohne auch nur ansatzweise zu erörtern, ob Transparenz und Information in der Rechtswirklichkeit überhaupt noch die Schutzwirkung entfalten, die ihnen zugeschrieben wird. Wer als Verbraucher mit den AGB der EVU konfrontiert ist, wird sich regelmäßig nicht durch genaue Klauselanalyse in seiner Entscheidung beeinflussen lassen. Die AGB-Kontrolle ist damit für den individuell Rechtssuchenden nur eine zweitbeste Lösung. Für Verbände, die auf Unterlassung klagen, reicht hingegen eine derartige Rechtsprechung aus. Für die AGB-Fälle stellt sich ein Durchsetzungsproblem. Teilweise wird moniert, dass es kaum mehr möglich scheint, die AGB in gerichtsfester Form für den Verwender zu entwerfen.686 In der Tat hat der BGH eine Kasuistik entwickelt, die ausufernd scheint und so strenge Bedingungen an die AGB stellt, dass nicht einmal die Übernahme eines Gesetzestextes, also des Leitbilds im Sinne des § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB, mehr Gewähr für einen Erfolg bietet. Bei Preisklauseln kommt hinzu, dass diese auch am Maßstab des PreisklauselG geprüft werden.687 Es wird demnach aus Sicht der Unternehmen schwieriger, wirksame Preisanpassungs-AGB zu formulieren, was sich negativ auf die Neigung zu langfristigen Vertragsabschlüssen auswirken könnte und Transaktionskosten erhöht. Ob diese Gefahr in der Praxis wirklich durchschlägt, mag dahin stehen, unbestritten ist aber, dass es großen kautelarjuristischen Aufwand erfordert, um den Anforderungen des BGH Rechnung zu tragen. Darin liegen allemal eine Erhöhung von Transaktionskosten und eine Benachteiligung weniger finanzkräftiger Anbieter, z.B. Newcomern der Energieversorgung. Für Verbraucher bringt das nicht unbedingt mehr Schutz. Letztlich müssen die EVU ihre Verträge sorgfältiger entwerfen, was ihnen mittelfristig gelingen dürfte.688 Damit wird die wesentliche Frage des Preises zu einer AGB-Frage. Dass Verbraucher die AGB grundsätzlich weniger stark hinterfragen als eine ausdrückliche Preisregelung ist sattsam bekannt. Der BGH befördert damit die Information des Verbrauchers und bekennt sich zu einem Informationsmodell der Zivilrechtsordnung (Schutz durch Transparenz) statt zu einem Schutz- oder Interventionsmodell (Schutz durch korrigierende Ein686 687 688

Vgl. Thomas, AcP 209 (2009), 84, 128 f.; Graf von Westphalen, MDR 2008, 424 ff. Vgl. Hilber, BB 2011, 2691 ff. Vgl. Kessel/Schwedler, BB 2010, 585, 590; Büdenbender, NJW 2009, 3125, 3129 f.

D. Vertragsfreiheit und Ungleichgewichtslagen: Gaspreiskontrolle

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griffe).689 Erst wenn die AGB wieder wirksam sind und einseitige Preisanpassungen ermöglichen, kann für den verbleibenden schmalen Bereich gerichtlich wieder der Schutz des § 315 Abs. 3 BGB greifen. Anders gewendet: Würde die AGB-Kontrolle weniger streng ausfallen, hätte das Schutzmodell mit Hilfe von § 315 BGB wieder eine größere Rolle.690 Nur konsequent ist, dass die zivilrichterliche Ausfüllung von Anspruchsinhalten durch „gegriffene Größen“ zwar im Rechtsfolgenbereich (etwa bei der Bezifferung von Schadensersatz) großzügig gehandhabt wird, bei der Anspruchsbegründung (hier: Preisbestimmung) werden jedoch vom BGH Ausweglösungen gewählt. Das ist dogmatisch nachvollziehbar, für den Rechtssuchenden aber eine nicht immer nachvollziehbare Diskriminierung. Warum ein Gericht genau den Wert eines verletzten Persönlichkeitsrechte beziffern kann, aber sich nicht in der Lage sieht, den Gaspreis festzulegen, mag den Dogmatiker nicht irritieren, den Laien sehr wohl. Was wäre die Alternative? Angenommen, die Zivilgerichte hätten eine konkrete Preisbestimmung vorgenommen und beispielsweise festgelegt, dass es für das Gaswirtschaftsjahr 2003/2004 in Heilbronn angemessen gewesen wäre, einen Gaspreis von 4,5 Cent/kWh bei Abnahme von 30 000 kWh anzulegen. Bei richtiger Würdigung der Parteiinteressen hätte das Gericht einen Wert gewählt, der weder den Gewinn des EVU übermäßig schmälert, noch den Verbraucher übermäßig belastet. Auf welchem Weg auch immer das Gericht sich seine Meinung gebildet hätte, so wäre doch meist, so darf man angesichts der Neigung deutscher Gerichte zu ausgleichen Mittellösungen vermuten, ein „vernünftiger“ Wert gefunden worden. Realistischerweise wäre das Ergebnis für die Parteien für den konkreten Zeitraum vermutlich tragbar gewesen. Auch volkswirtschaftlich hätte sich durch das je individuelle Urteil keine radikale Veränderung ergeben. Das Prinzip der Regulierungsbegrenzung durch Einzelfallentscheidung hätte die Folgen tragbar gemacht. Problematisch wären solche Preisfestlegungen möglicherweise erst durch ihre Breitenwirkung geworden: Sammelklagen oder die Berufung auf Präzedenzentscheidungen („in Heilbronn zahlen sie aber sogar/nur 4,5 Cent“) hätten Wirkungen gezeitigt, die in ihrer Komplexität nicht mehr überschaubar gewesen wären und die auch negative Folgen hätten haben können. Möglicherweise wäre an die Stelle aufkeimenden Wettbewerbs eine faktische gerichtliche Breitenregulierung getreten. Aus der Konfliktschlichtung in einem konkreten Streitfall hätte die Rückkehr in eine hoheitliche Entgeltordnung stehen können. Dieses spekulative Szenario lehrt, dass § 315 Abs. 3 BGB vermutlich als besondere Regelung funktioniert, in der sich Grundgedanken des privatrechtlichen Leitbilds niederschlagen, nicht aber als ein Hebel in Massenverfahren. 689 Zum Informationsmodell vgl. Schön in: FS Canaris, Band 1, 2007, S. 1191 ff.; Ackermann, ZEuP 2009, 230 ff. 690 Vgl. Thomas, AcP 209 (2009), 84, 128 f.

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

Wem, so die Schlussfrage für die materiell-individuelle Beurteilung, nutzt die BGH-Rechtsprechung? Sie ist zunächst parteineutral. Weder der Verbraucher noch das Unternehmen werden in der substantiellen Handhabung des § 315 BGB benachteiligt, mit guten Gründen lassen sich viele Erwägungen des BGH auch teilen. Die einzelnen Urteile gehen mal zu Gunsten der Unternehmen, mal zu Gunsten der Verbraucher aus. Elemente der Rechtsprechung verschieben sich auch abhängig von den übrigen Elementen, sodass letztlich die Entscheidungen immer wieder ausbalanciert werden: Wenn etwa der Anwendungsbereich für § 315 BGB beschränkt wird, wird zugleich eine verschärfte AGB-Kontrolle eingeführt. Mal werden die Darlegungspflichten erhöht, mal gesenkt, zum Teil in Korrelation dazu, ob an einem anderen Prüfungspunkt der Verbraucher profitiert oder verliert, z.B. bei der konkludenten Genehmigung der letzten Preiserhöhungen. Die Crux liegt jedoch darin, dass durch die wenig gestaltungsfreudige und wenig eindeutige BGH-Rechtsprechung die strukturell unterlegene Partei letztlich gerade aufgrund mangelnder Entscheidung benachteiligt wird: Verfahrensdauer, -komplexität und -kosten auch in „Bagatellfällen“ kann eine starke Partei (hier regelmäßig der Energieversorger) leichter tragen als ein Verbraucher. Diesem ist mit immer kleinteiligeren Differenzierungen und Formallösungen, die in jeder Verästelung bis hin zum EuGH ausjudiziert werden, nicht geholfen, da er sich das aufwändige und teure Verfahren schlechter leisten kann und die Bedeutung für ihn auch insgesamt geringer ist als für den auf Präzedenzfälle bauenden Versorger. Der teilweise erschreckende Befund allein im Hinblick auf die Verfahrensdauer bei Streitigkeiten, in denen es um wenige Euro geht (einschließlich Zurückverweisungen), weist auf verfahrensrechtlichen Reformbedarf hin. Die materiellrechtliche Situation ist zwar unbefriedigend. Dass ein Präsident des BGH nach einer Lösung durch den Gesetzgeber ruft,691 scheint jedoch etwas voreilig. Es gäbe im geltenden Recht genügend Ansätze, die materiell-individuelle Legitimation der Rechtsprechung zu stärken.

4. Wertordnung und Systemgrundlagen Aus materiell-institutioneller Hinsicht stellt sich die Frage, ob der BGH die Grundlagen der privatrechtlichen Wertordnung respektiert und die systemrelevanten Voraussetzungen dieser Ordnung abgesichert hat. Hier lassen sich zunächst die dogmatischen Grundfunktionen der betroffenen Rechtsnormen prüfen. Wie gesehen leistet § 315 BGB einerseits einen verfahrensrechtlichen Dienst, nämlich das Preisbestimmungsverfahren, das in der gerichtlichen Durchsetzung besonders kompliziert wäre, abzumildern. Die Umgehung des Verfahrens durch Einsetzung des Richters scheint allerdings eine zweifelhafte Lösung zu sein, wirft doch auch diese, wie gesehen, langwie691

Vgl. Hirsch in: FS Baudenbacher, 2007, S. 405, 418.

D. Vertragsfreiheit und Ungleichgewichtslagen: Gaspreiskontrolle

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rige Verfahren auf. Anderseits dient § 315 BGB der Verwirklichung einer privatrechtlichen Ordnung, in der Gleichordnung die Voraussetzung für Freiheit ist und Missbräuchen der Freiheit – auch im Dienste des Grundvertrauens in die marktwirtschaftliche Ordnung – entgegengewirkt werden soll. Wie gesehen hat die Rechtsprechung mit diesem Ausgleich erhebliche Schwierigkeiten und reduziert den Anwendungsbereich einer Prinzipalnorm auf mikroskopische Größe, oder konkret: die letzte unbeanstandete Preiserhöhung in einem ggf. langjährigen Gasbezugsverhältnis. Der Ausgleich von Ungleichgewichten ist der Rechtsprechung zwar nicht fremd, wie schon die relativ zupackende Handhabung des AGB-Rechts belegt, aber sie scheut sich doch enorm, die Freiheitsausübung der Parteien durch eine eigene Gestaltung zu ersetzen. Das ist zur Förderung der Privatautonomie begrüßenswert, lässt dem Systemgedanken des § 315 BGB allerdings nur geringeres Gewicht zukommen. Auch im AGB-Recht geht es um die Äquivalenz der Vertragsparteien. In dieser Domäne ist der Senat sicher (er hatte anders als bei § 315 BGB auch häufig zuvor Gelegenheit, diese Rechtsprechung zu trainieren). Hier erkennt der Senat die möglicherweise fehlende Richtigkeitsgewähr mangels Aushandlung und greift korrigierend ein. Auch wenn nicht jedes Detail der Rechtsprechung zustimmungspflichtig ist, so lässt sich doch das Grundverständnis einer Bindung der Verwenderfreiheit ablesen. Bereits erklärt wurde, dass der Senat in seinen AGB-Entscheidungen vor allem einen Schutz des Verbrauchers durch Information und Transparenz verwirklicht. Darin liegt eine (vom Gesetzgeber geprägte) Grundentscheidung für das „Wie“ der Bindung. Dass diese Grundentscheidung in die Kritik geraten ist und der Gesetzgeber möglicherweise das Informationsmodell überdenken muss, ist dem BGH nicht vorzuwerfen. Dass er auf die Defizite dieses Modells in den Praxisfolgen nicht eingeht, ist allerdings bedauerlich. Anders als es nach der Wende zum Privatrecht in einem so umstrittenen Bereich zu erwarten gewesen wäre, greift der VIII. Senat in der Ausfüllung der Rechtsbegriffe nicht auf öffentlich-rechtliche oder politische Interessen zurück. Seine Begründungen sind geleitet von den (ggf. abstrahiert angenommenen) Interessen der Parteien und den zivilrechtlichen Grundsätzen. Anders allerdings hatte der Kartellsenat argumentiert. Mit seiner Bezugnahme auf die Ziele des EnWG hatte er den Billigkeitsmaßstab des § 315 BGB für eine öffentlich-rechtliche Aufladung geöffnet. Dabei hatte sich der Senat nicht nur auf das Ziel der Wettbewerbsförderung berufen, die als Systemgrundlage einer marktwirtschaftlichen Ordnung zu qualifizieren wäre, sondern auch auf Aspekte wie Umweltverträglichkeit und Versorgungssicherheit, die nicht mehr zum Kernbestand systemrelevanter Grundlagen der Privatrechtsordnung gezählt werden dürften. Der VIII. Senat aber, der sich durchsetzt, bleibt der klassisch-liberalen Dogmatik treu, was eine Einbeziehung öffentlich-rechtlich motivierter Interessen ausschließt. Zugleich verfällt der Senat aber in den typischen Kurzschluss, dementsprechend auch eine konsequente ökonomische

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

Analyse abzulehnen.692 Die Funktionsbedingungen der privatrechtlichen Ordnung hätten aber auch über eine ökonomische Analyse herausgearbeitet werden können. Der Senat reflektiert nicht – anders als es der Kartellsenat ansatzweise tut – seine Rolle als Ordnungsinstanz in einer zum Privatrecht gewendeten Rechtswelt. Der Senat lässt kein Bewusstsein dafür erkennen, dass judizielle Nichtregulierung eben auch eine Form der Regulierung – hier zugunsten der Energieversorger – darstellt. Dass die Bedeutung der Rechtsprechung für die Energiebranche insgesamt völlig unterbelichtet bleibt, weist hier auf ein Defizit in der Selbstreflektion hin, das auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht festgestellt wurde: Der Senat hat in der post-deregulativen Konstellation keine neue Rolle für sich adaptiert, die seine Stellung als zentrale hoheitliche Regelungsinstanz und seine Funktion als Garant der privatrechtlichen Ordnung widerspiegeln würde.

5. Zusammenfassung Die Energiepreis-Rechtsprechung hat weder ein hölzernes Pferd mit feindlich gesonnenem Inhalt in die Festung des liberalen Zivilrechts gebracht, noch Verbrauchern eine Zuflucht gewährt gegen „abzockende“ Energieversorger. Vor eine Aufgabe gestellt, welche die Gerichte massenhaft beschäftigt und die Gesellschaft bewegt, hat sich der BGH zurückhaltend gezeigt. Regulierende Effekte gingen von seinen Entscheidungen ebenso wenig aus wie besondere dogmatische Impulse. Von den Gaspreis-Fällen bleibt im Wesentlichen, dass § 315 BGB weiterhin ein Mauerblümchendasein führen wird, das nur theoretisch das Zivilrecht schmückt; es bleibt eine kleinteilige AGB-Rechtsprechung sowie ein ungelöster Konflikt, der sich in zahllosen Verfahren niederschlägt, deren schiere Zahl nicht zu verfahrensrechtlichen oder institutionellen Neuorientierungen führt. Während in materieller Hinsicht die Entscheidungen des BGH im Rahmen des privatrechtlichen Leitbilds bleiben, wenn auch unter Missachtung der Ökonomik, bestehen in funktionaler Hinsicht erhebliche Legitimationsdefizite.

E. Quervergleich Soweit ersichtlich ist eine Zusammenfassung von post-deregulativen zivilgerichtlichen Verfahren nach den hier festgelegten Kriterien noch nicht erfolgt. Eine Querschnittsanalyse fehlt daher bislang. In post-deregulativen Konflikten werden grundlegende Herausforderungen der zivilgerichtlichen Konfliktlösung besonders sichtbar: 692

Kritisch zur ökonomischen Analyse bei ungleichgewichtigen Verhandlungssituationen Eidenmüller in: Ott/Schäfer, Ökonomische Analyse des Sozialschutzprinzip, 2004, S. 45, 55 f.

E. Quervergleich

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– Es handelt sich um neue Sach- und Rechtsfragen, sodass für Gerichte die Notwendigkeit besteht, sich grundlegend zu positionieren. – Die Fälle weisen allesamt eine wirtschaftliche Komplexität auf und sind Teil des privaten Wirtschaftsrechts, sodass eine Analyse lohnt, inwiefern Gerichte auch ökonomische Aspekte in ihre Entscheidungsfindung einbeziehen. – Angesichts der Deregulierungen, die erst kurz zuvor erfolgt sind, stellt sich die Frage, inwieweit öffentliche Interessen die Privatrechtsgestaltung noch beeinflussen. – In den post-deregulativen Konstellationen existiert häufig ein Incumbent, der mit besonderen Privilegien ausgestattet war und gegenüber seinen Gegnern im Rechtsstreit meist noch eine faktisch überlegene Position innehat. Das fordert die Gerichte im Hinblick auf die Gleichordnung im Privatrecht. – Schließlich lässt sich in einem überschaubaren, also noch wissenschaftlich analysierbaren Zeitraum die Prägekraft der höchstrichterlichen Rechtsprechung selbst ermessen und damit ein Beitrag zur Rolle der Zivilgerichte in der Wirtschaftsordnung erkennen. Diese Fragen weisen teilweise über den Bereich der post-deregulativen Konflikte hinaus. Die zwei Forschungsfragen, in denen diese Elemente sichtbar werden sollten, wurden wie folgt gestellt: Wie gehen die Zivilgerichte bei der Entscheidung post-deregulativer Konflikte vor? Mit dieser Frage sollte – mit Hilfe der evolutionären Methodik – deutlich werden, was es im Vorgehen bedeutet, Fragen aus dem öffentlichen Recht in den Zugriff der Zivilgerichte zu verlagern. Die zweite Frage ist, wie dieses Vorgehen bewertet wird. Dazu wurde das Legitimationsraster entwickelt.

I. Vorgehen der Zivilgerichte Das Vorgehen der Zivilgerichte wurde in neun Hypothesen formuliert, die in den drei Anwendungsfeldern – Direktansprache von Passanten, Post als Marke, Energiepreiskontrolle – weitgehend bestätigt wurden. Sichtbar wurden Muster, nach denen die Zivilgerichte sich den jeweiligen Sach- und Rechtsfragen näherten, bzw. Einflüsse, die sich auf die Entscheidungen auswirkten. (1) Die höchstrichterliche Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten neigt – auch in new cases – im Verlauf zu differenzierten Mittellösungen, die in Folgeprozessen auf Tatbestandsebene ausjudiziert werden müssen. An diesem Befund ist überraschend, dass auch new cases, in denen erst noch die Zuweisung des rechtlichen Werts erfolgen muss, in differenzierten Mittellösungen entschieden werden, die auf Tatbestandsebene un-

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

terschiedliche Ergebnisse ermöglichen. Ohnehin ist, gerade in der Rechtsprechung des BGH, der Rückbezug auf Tatbestandsmerkmale und ihre unterschiedliche Gewichtung im Einzelfall höher als es in einer Revisionsinstanz zu erwarten wäre. Vor grundlegenden Äußerungen, die als rechtliche per-se-Wertungen verstanden werden könnten, hütet sich der BGH. Ganz im Sinne einer offenbar immer noch prägenden Interessenjurisprudenz versucht gerade der BGH, beiden Seiten entgegenzukommen. (2) Differenzierte Mittellösungen sind häufigkeitsabhängig. Eine klare Korrelation ergab sich zwischen Fallzahl und Differenzierungsgrad. Die Verästelungen, in denen sich die Rechtsprechung teilweise verlor, wurden mit steigender Fallzahl generiert. Die Abgrenzung unterschiedlicher Sachverhalte im Detail versperrte bei einer späteren Gesamtwürdigung häufig die Möglichkeit, eine konsistente Linie zu erkennen, an der sich die Erwartungen der Marktteilnehmer hätten ausrichten können. Positiv gewendet lässt sich auch festhalten, dass eine hohe Zahl von Klagen immer wieder rechtliche Innovationen ermöglicht, die andernfalls nicht entdeckt würden, sodass Verhaltensänderungen im Markt die richterliche Legitimation fehlen würde. (3) Die Tendenz der Entscheidung ist pfadabhängig. In mehrfacher Hinsicht wurde die Pfadabhängigkeit von Entscheidungen bestätigt, ohne dass dies von den Gerichten thematisiert oder auch nur erkannt worden wäre. Je nach Verfahrenswahl, Zuständigkeit, Ansicht der Vorinstanz oder andere pfaddeterminierenden Faktoren variierte das Ergebnis stark bei teilweise identischen Grundkonstellationen. Eine Diversität der Pfade befruchtet das Entdeckungsverfahren, führt also zu rechtlichen Fortentwicklungen, bedeutet aber auch, dass die Kohärenz der Ordnung und der diese strukturierenden Entscheidungen nachlässt. (4) Gegner des Incumbents geraten auch dann in eine Rechtfertigungsposition, wenn sie sich auf eine Freiheitsposition berufen. Sowohl in der Argumentation als auch im Ergebnis ließ sich eine Asymmetrie zugunsten des Incumbents erkennen. Seine hergebrachte Rechtsposition wird nicht in dem Maße in Frage gestellt, wie eine Wende zum Privatrecht es erforderlich macht. Die Ausgangssituation ist für den Incumbent also nicht nur faktisch besser, sie wird von Gerichten auch in rechtlicher Hinsicht perpetuiert. (5) Tragende Institutionen für die Lösung des Konflikts sind andere Gesetze und Präzedenzfälle, deren Wirkung für die konkreten Verfahren jedoch nicht prognostizierbar ist. Mit der Untersuchung sollte auch herausgefunden werden, welche Selektionskriterien die Rechtsprechung bei der Auswahl verschiedener rechtlicher Möglichkeiten leiten. Dieses Unterfangen blieb jedoch insofern er-

E. Quervergleich

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folglos als die Kriterien häufig in der Rechtsprechung nicht expliziert wurden. Eine wichtige Rolle zur Stützung der eigenen Position spielen aber Präzedenzfälle und gesetzgeberische Wertungen. Die Wertungen des Gesetzgebers werden dabei meist relativ pauschal referiert, also ohne Exegese der Materialien. Lässt sich bei Gesetzen meist noch die Stoßrichtung der Argumentation erahnen, so ist dies bei den Präzedenzfällen nicht mehr der Fall, da nicht vorhersehbar ist, ob sich das Gericht im konkreten Fall von der vorangehenden Entscheidung abgrenzen wird oder sich dieser anschließen wird. Allerdings wird – Stichwort Pfadabhängigkeit – auch bei der Abgrenzung eine argumentative Beeinflussung durch die Vorinstanz deutlich. Andere Kriterien, etwa die wissenschaftliche Literatur oder sonstige Auffassungen, werden nur äußerst sparsam herangezogen. In der Auswahl von Gesetzgebung und Rechtsprechung als wesentlichen Autoritäten stützt die Rechtsprechung selbst die Rechtsordnung. Die Wirtschaftsordnung wird wesentlich auf Institutionen des Rechts entwickelt und nicht von außerrechtlichen Vorgaben bestimmt. (6) In der Selektion der Argumente werden solche bevorzugt, welche die Richter aus eigenem Erleben nachvollziehen können. Die Hypothese, dass Richter vor allem Argumente gutheißen, die sie aus eigenem Erleben nachvollziehen können, ist möglicherweise überspitzt. Allerdings berufen sich die Richter erstaunlich häufig auf ihre eigene Sachkunde oder Erfahrung, ohne auch nur ansatzweise ihre eigene Befangenheit oder ihre bounded rationality zu thematisieren. Zutreffend ist zumindest, dass in keinem Fall die Materie sachlich oder rechtlich in einer Tiefe durchdrungen worden wäre, die kaum mehr nachvollziehbar wäre. (7) Ökonomische Argumente, insbesondere zur besonderen Situation in postderegulativen Branchen, spielen für die Entscheidungsfindung keine Rolle. Die Hypothese hat sich vollständig bestätigen lassen. Ökonomische Erwägungen finden so gut wie nicht statt. (8) Höchstrichterliche Rechtsprechung klärt einen Fall nicht abschließend, sondern ist nur ein Element der Wirtschaftsordnung, das in der Folge durch weitere Gerichtsurteile und die Rezeption in der Fachliteratur weiter entwickelt wird. Die Sichtweise von Rechtsprechung als Entdeckungsverfahren bedingt, dass Rechtsprechung als ein fortlaufender Prozess wahrgenommen wird, der von der Einspeisung neuer Fälle abhängig ist. Mit jedem neuen Fall entwickelt sich – in den post-deregulativen Konstellationen zum Teil mit rasanter Geschwindigkeit – die Rechtslage weiter. Orientierung bieten die Entscheidungen daher nur bedingt, da sie jederzeit überholt werden können. Zudem ist die Rezeption der Entscheidungen in anderen Entschei-

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dungen und der Fachliteratur zum Teil mit erheblichen Akzentverschiebungen verbunden. Rechtsprechung bietet insofern eher einen Rahmen mit bestimmten Kriterien für das individuelle Handeln als ein vollständiges Bild, an dem sich die Rechtmäßigkeit von Entscheidungen der Marktteilnehmer ablesen ließe. (9) Eine Reflektion der eigenen Rechtsprechungstätigkeit findet, insbesondere bezogen auf Verfahrensfragen, nicht statt. In den Begründungen der Gerichte – andere Materialien stehen nicht zur Verfügung – lassen die Gerichte jegliche Überlegung zu ihrer eigenen regulatorischen Rolle, zur Art ihres Vorgehens, zum Verfahren der Rechtsfindung und der Rechtsprechung sowie zu den institutionellen Beschränkungen vermissen. Die Hypothesen bilden die richterliche Entscheidungsfindung nicht vollständig ab, verdeutlichen aber – nicht zuletzt dank der evolutionären Betrachtung – einige Kernelemente, welche die Entscheidungen in materieller Hinsicht prägen. Der hier gewählte Ansatz ist ohnehin selten in der rechtswissenschaftlichen Literatur. Gerade dies ermöglicht einen Erkenntnisgewinn. Bei Betrachtung der Hypothesen lassen sich einige als intuitiv bekannt einstufen. Dass auch Richter nur eingeschränkt rational entscheiden (6) und ihre Tätigkeit weder individuell noch institutionell in den Urteilen reflektieren (9), mag intuitiv plausibel sein. Dass Zivilgerichte Scheu gegenüber ökonomischen Erwägungen haben (7) und sich weniger mit wissenschaftlichen Ansichten, dafür aber häufig mit Präzedenzfällen auseinandersetzen (5), ist bereits bekannt, wird aber in Nuancen neu bestätigt. Überraschend deutlich fallen aber die Indizien für Häufigkeits- und Pfadabhängigkeit aus (2 und 3). Nicht zu erwarten waren die ausgeglichenen Differenzierungslösungen (1) und der „bias“ für den Incumbent (3). Sehr deutlich wurde in der Auswertung auch der Suchprozess, in dem sich die Rechtsprechung selbst befindet, und der durch Literatur und nachfolgende Instanzen fortgesetzt wird (8). Es muss nach dieser Analyse kein neues Bild der richterlichen Tätigkeit gezeichnet werden, es haben sich aber Differenzierungen und Bedingungen herausarbeiten lassen, die erklären, wie Zivilgerichte ihre wichtiger werdende Rolle (von der sie selbst gar nichts wissen wollen) in der Praxis ausfüllen.

II. Bewertung der zivilgerichtlichen Tätigkeit Die Bewertung der zivilgerichtlichen Tätigkeit erfolgte anhand des Legitimationsrasters. Rechtsprechung ist dann als gute Rechtsprechung zu bezeichnen, wenn sie ihrer Legitimation gerecht wird, die sich bekanntlich aus dem staatlichen Auftrag für die Gesellschaft und der Anrufung durch eine private Partei ergibt.

E. Quervergleich

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Erhebliche Defizite ergeben sich in funktionaler Hinsicht. Die an die Interessen des Individuums gekoppelte Funktion, nämlich einen Konflikt zu schlichten, wird häufig verfehlt, da teilweise nicht in der Sache selbst entschieden wird und immer wieder Kompromisslösungen und Differenzierungen vorgenommen werden, die auf den ersten Blick sachgerecht wirken, aber keine vernünftige Erwartungsstrukturierung erlauben. Vor allem ist es aber in allen hier untersuchten Konstellationen ein ganz wesentliches Problem, dass Aufwand, Dauer und Kosten der Verfahren in keinem Verhältnis zum Ertrag oder Streitwert stehen. Besonders die lange Verfahrensdauer bei Ausschöpfung des Instanzenzugs liegt beschwerend über den Gerichtsentscheidungen. Wenn diese in Rechtskraft erwachsen, haben sie für die Parteien schon gelegentlich nur noch historischen Wert, da die dynamische Entwicklung im Wirtschaftsleben über manche Erscheinung hinweg gegangen ist. Die Neigung des BGH zu tatbestandlichen Differenzierungen verschlimmert dieses Problem durch die damit häufig erforderlichen Zurückverweisungen. Selbst bei Verfahren, die im einstweiligen Rechtsschutz ihren Ausgang nehmen, ist eine mehrjährige Verfahrensdauer bei Anrufung der Obergerichte Standard. Auch seiner institutionellen Funktion, nämlich die Gesellschaft durch Konfliktprävention zu befrieden und einen effizienten Streitschlichtungsmechanismus vorzuhalten, wurde die Rechtsprechung in keinem der untersuchten Komplexe wirklich gerecht: für einen drohenden Rechtsprechungsinfarkt hat die Justiz selbst kein Auge, der Zugang zu Gericht wird beschwerlich, aufwändig und teuer, was die Parteien mit Recht so sehen, und es gelingt nicht, immer neue Verfahren zur immer gleichen Thematik einzudämmen. Gerade der letzte Punkt wird durch die Post- und die Energiepreisrechtsprechung eindrucksvoll belegt. Die Begrenzung der Rechtswirkung auf den Einzelfall macht es nötig bzw. möglich, jede einzelne Konstellation erneut gerichtlich durchzufechten. In materieller Hinsicht gelingt es der Rechtsprechung auch in den Materien, die gerade erst aus dem Öffentlichen Recht ins Privatrecht überführt wurden, einen genuin zivilrechtlichen Zugriff zu beweisen. Die hergebrachte liberale Dogmatik des Privatrechts wird respektiert. Insbesondere spielen Gemeinwohlinteressen oder andere systemfremde Aspekte keine Rolle. Nicht immer lässt die Rechtsprechung das privatrechtliche Leitbild in aller Klarheit leuchten, doch geht sie grundsätzlich von der freien Interessenkoordination unter Gleichen aus. Dass sie dabei selbst die Aufgabe hat, Ungleichgewichte zu revidieren, wird jedoch meist übersehen, so nicht der Gesetzgeber eine eindeutige Regelung, wie im AGB-Recht vorgesehen hat. Das faktische Ungleichgewicht zwischen Incumbent und Newcomer oder Verbraucher wird in den Entscheidungen nicht thematisiert, obwohl dazu angesichts der fortwirkenden Monopolrechte durchaus Anlass bestanden hätte. Diese mangelhafte Wahrnehmung des zivilrechtlichen Gleichheitsgebots ist Ausdruck einer Sehschwäche für die Aufgabe, die systemischen Grundlagen

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

der privatrechtlichen Ordnung zu schützen. Der Blick der Zivilgerichte ist stets ganz auf den Einzelfall ausgerichtet, ohne den größeren Kontext zu würdigen – etwa Branchenwirkungen, Wettbewerbsaspekte oder Rechtsverfolgungsstrategien einzelner Marktteilnehmer. Die Instrumentalisierung des Zivilrechts zu Wettbewerbszwecken wird von den Gerichten nicht gewürdigt. Nur selten ringt sich die Rechtsprechung zu relativ eindeutigen materiellen Entscheidungen durch (so in den Verletzungsverfahren Post), meist bleiben Kompromisslösungen und Differenzierungen auf Tatbestandsebene auch in den „new cases“ bestehen. Das deutlichste Defizit in der materiellen Würdigung ist der Mangel an Offenheit für ökonomische Betrachtungen, sowohl in der Würdigung der individuellen Interessen der Parteien, als auch in institutioneller Hinsicht für das Funktionieren des gesamten privatrechtlichen Systems. Die genuin privatrechtliche Vorgabe der Interessenkoordination einerseits und der ebenfalls genuin privatrechtliche Anspruch, die systemrelevanten Grundlagen zu schützen, würden eine ökonomische Betrachtung durchaus ermöglichen, ohne das Leitbild zu verzerren. Betrachtungen zu wirtschaftlichen Folgen oder Bedingungen der unternehmerischen Entscheidungen hätten in den hier diskutierten Fällen zum Teil auf der Hand gelegen. Umso auffälliger ist die diesbezügliche Leerstelle bei den Gerichten. Was bedeutet nun diese Art, Recht zu sprechen, für die Betroffenen? Frühere Monopolinhaber profitieren über Gebühr von den Fortwirkungen ihrer Monopolrechte und ihrer faktisch starken Stellung auf den Märkten. Neu hinzutretende Wettbewerber und die Verbraucher profitieren von der Freiheitsrendite der Deregulierung hingegen nur mit erheblicher Verzögerung. Gerade in den entscheidenden ersten Jahren der Marktprägung, in denen first-moverVorteile besonders zu Buche schlagen, müssen sie sich ihr Recht erst erkämpfen. Die Verhaltensweisen der früheren Monopolisten grenzen dabei an einen Missbrauch der Justiz, dem diese mangels Systemblick nicht entgegentritt. So werden Zivilgerichte nicht Motoren einer neuen „Privatrechtsgesellschaft“, sondern bremsen diese, da sie zu lange brauchen, um Recht durchzusetzen und tendenziell die schwächeren Parteien benachteiligen. So bleibt nach der Analyse der drei Komplexe ein gemischtes Gefühl übrig: Die Zivilgerichte haben das materielle Rüstzeug, um die Wende zum Privatrecht zu einem Freiheits-Erfolg werden zu lassen. Doch die Unzulänglichkeiten des Verfahrensrechts und ihr fehlender Blick für die systemischen Grundlagen der Privatrechtsordnung führen zu gravierenden Defiziten. Diese reichen so weit, dass starke Marktteilnehmer das Zivilrecht für ihre Zwecke instrumentalisieren können. Vom Grundgedanken des Rechts, dem Schwächeren ein Forum zu bieten, in dem er sich auf gleicher Augenhöhe mit dem Starken streiten kann, bleibt dann nicht mehr viel übrig. Das Fazit muss daher lauten: In neuartigen, wirtschaftsrechtlichen Streitigkeiten versagt die Justiz.

E. Quervergleich

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III. Methodische Nachbetrachtung Die Rechtsprechungsanalyse wurde mit Hilfe einer evolutionären Methodik durchgeführt, die Ergebnisse wurden anhand des Legitimationsmodells geprüft. In der praktischen Anwendung zeigen sich Chancen und Probleme dieser methodischen Vorgehensweisen. Wesentliche Charakteristika der evolutionären Methodik sind das Verständnis von Rechtsprechung als Entdeckungsverfahren, die Idee, Ordnung als Konfiguration von Institutionen zu verstehen, welche die Erwartungen der Akteure prüft, und der Blick auf den Rechtsprechungsvorgang als einen komplexen Auswahlprozess, in dem Richter mit eingeschränkter Rationalität Varianzen selektieren und so zu Innovationen gelangen. Bewährt hat sich zunächst der Blick auf Rechtsprechung in ihrem Verlauf. So wurde das gelegentlich vorherrschende Bild von Gerichtsentscheidungen als feststehenden und einzig richtigen Institutionen, das insbesondere die Justiz selbst aufrechterhält, erschüttert. Die Parallelität der Fallgestaltungen in allen drei Komplexen hat die Unterschiedlichkeit in der Herangehensweise verschiedener Gerichte im Verlauf der Zeit sichtbar gemacht. Die Auswertung fällt dabei allerdings weniger genau aus als es bei Übernahme einer wirtschaftswissenschaftlich geprägten Methodik erwartet werden könnte: Im Narrativ der Entscheidungshistorie muss Komplexität reduziert werden, da andernfalls Wesenszüge nicht herausgearbeitet werden können. Bei der Betrachtung der Urteile bleibt eine qualitative Interpretation unabdingbar. Statistische Erhebungen, das belegen auch die hier gemachten Auswertungen, sind für die Rechtswissenschaft nur begrenzt möglich und aussagekräftig. Die hier ausgewählten Fall-Konstellationen wiesen sehr hohe Parallelitäten auf, die sich in anderen Bereichen nicht immer in ausreichender Fallzahl bilden lassen werden. Für die vorliegenden Fälle konnte also sehr genau im Verlauf der Zeit verglichen werden, das wird nicht immer so sein. Diese Probleme sollte man nicht überschätzen: Jede Verlaufsbetrachtung steht unter den Vorbehalten einer sinnvollen Materialauswahl und der Proxy-Probleme, die bei der Analyse von Recht heikel sind. Dennoch zeigt sich, dass sich bei einer evolutionären Rechtsprechungsanalyse Trends der richterlichen Rechtsfindung ausmachen lassen Zu der Ordnungsvorstellung der evolutionären Lehre mag es Alternativmodelle geben. Sowohl innovative Schritte als auch institutionelle Einflussfaktoren lassen sich aber mit dem hier gewählten Ansatz transparent machen. Die gefundenen Erklärungen sind plausibel. Problematischer ist es, Aussagen über die Selektionskriterien der Gerichte zu treffen. Hier stellen sich drei Schwierigkeiten, die auch in den hier besprochenen Komplexen vorhanden sind: erstens ist fraglich, inwieweit Richter in den jeweiligen Begründungen ihrer Urteile die wahren, die Entscheidung leitenden Erwägungen angeben. In der gerichtlichen Praxis mögen weitere Faktoren für die Urteilsfindung eine Rolle

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Kapitel 4: Rechtsprechung in post-deregulativen Konflikten

spielen, die von den Gerichten nicht offenbart werden. Zweitens mangelt es häufig in den Entscheidungen sogar an einer Angabe der offiziellen Selektionskriterien. Die bei unterinstanzlichen Gerichten geläufige Praxis, entscheidungserhebliche Rechtsnormen gar nicht oder nur knapp anzuführen, setzt sich auch bei den Obergerichten teilweise fort. Begründungen bleiben formelhaft, Ergebnisse werden schlicht festgehalten. Das erhöht den Unsicherheitsfaktor der Interpretation. Drittens wird in den Entscheidungen meist nicht mit hinreichender Klarheit deutlich, welche Argumente auf welche Weise in den Prozess eingeführt wurden. So lässt sich der Einfluss der Parteien auf die Rechtsfindung kaum ermessen. Während es in manchen Urteilen wirkt, als arbeite das Gericht lediglich den Schriftsatz einer Partei ab, scheint die Initiative in anderen Entscheidungen viel stärker beim Gericht selbst zu liegen. Durch die nicht zu leistende Verfolgung des gesamten Prozesses in schriftlicher und mündlicher Form muss offen bleiben, wie Wissenslücken vom Gericht erkannt und geschlossen werden. Erfreulich wäre eine größere Bereitschaft der Gerichte, Rechtsfindungsstrukturen in der Urteilsbegründung transparenter zu machen. Wie gesehen geht die gesetzgeberische Tendenz freilich, der vermeintlichen Entlastung des Justizapparats zuliebe, in die Gegenrichtung. Auch so gibt es allerdings deutliche Möglichkeiten, etwa das Wandern eines Arguments und seine steigende oder sinkende Bedeutung im Laufe der Zeit zu veranschaulichen. Häufig dauerte es zum Beispiel mehrere Urteile lang, bis ein Argument von einer ersten ablehnenden Erwähnung hin zu einem schlagenden Argument entwickelt wurde. Trotz dieser Einschränkungen bietet die evolutionäre Methodik einen sauberen und systematischen Zugriff auf Gerichtsentscheidungen im Verlauf der Zeit. Die rechtliche Entwicklung und deren Parameter sowie der Beitrag der Zivilgerichte für die Wirtschaftsordnung kann mit einer solchen Vorgehensweise hervorragend nachvollziehbar gemacht werden. Das Legitimationsmodell soll für die Bewertung der Rechtsprechung einen akzeptierten Maßstab bieten. In der praktischen Anwendung fällt es am leichtesten, die Aspekte zu würdigen, die offen zutage treten, etwa Verfahrensdauer oder Auseinandersetzung mit ökonomischen Argumenten. Diskursoffen wird die Beurteilung, sobald Interpretationen vorzunehmen sind, etwa ob eine Entscheidung mit dem privatrechtlichen Leitbild in Einklang zu bringen ist oder nicht. Wenig erkennbar bleibt in den Urteilsbegründungen, ob die Gerichte selbst sich ihrer Rolle bewusst sind und systemrelevante Grundlagen möglicherweise schützen, ohne dies zu thematisieren. Aussagen, die an das Selbstverständnis der Gerichte anknüpfen sind, schwieriger zu dechiffrieren. Das Legitimationsmodell erfasst aber die wesentlichen Aspekte, die für eine qualitative Beurteilung erforderlich sind und ist aufgrund seiner Differenziertheit geeignet, um Leistungen und Defizite der Rechtsprechungstätigkeit genau zu identifizieren.

E. Quervergleich

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Weitere Forschungen zur Verfeinerung einer evolutionären Analyse und zu ihrer Erprobung in weiteren Konstellationen wären wünschenswert. Ein nächster Schritt der Forschung wäre nun, genauer die Einflüsse zu identifizieren, die juristische Innovationen fördern oder bedingen. Zudem wäre noch genauer der Zyklus des Zusammenspiels verschiedener Instanzen zu analysieren: Die normative Wirkung höchstrichterlicher Präzedenzentscheidungen bedeutet für die Durchdringung auf unteren Entscheidungsebenen eine Bindung, die im Laufe der Jahre immer schwieriger aufzubrechen ist. Das Legitimationsmodell kann ebenfalls durch weitere Überlegungen verfeinert werden, stellt aber in erster Linie eine Aufforderung dar, die Gattung der Urteilsbewertung zu systematisieren und über die Erwartungen der Parteien, systemrelevante Grundlagen und die Rolle der Ökonomie in der Rechtsprechung zu reflektieren.

Kapitel 5

Der Weg zur Freiheitsordnung des Privatrechts Die Wende zum Privatrecht war der tatsächliche Ausgangspunkt dieser Arbeit. Zum Schluss dieser Studie stellt sich nun die Frage, ob das in der Rechtspraxis längst feststellbare Phänomen eine Entwicklung darstellt, die rechtspolitisch zu begrüßen, vielleicht sogar weiter zu fördern ist. Der Blick auf die institutionelle Verarbeitung der Wende zum Privatrecht in formaler und materieller Hinsicht unterfüttert eine solche Bewertung mit empirischen Befunden. Es lässt sich schärfer erkennen, wo Chancen und Defizite der Wende zum Privatrecht liegen. Im Folgenden wird zunächst der Reformbedarf dargestellt, der aus den Fallstudien deutlich geworden ist (A). Dieser ist primär im Verfahrensrecht zu verorten: die Wende zum Privatrecht bedarf einer besseren institutionellen Absicherung durch die Zivilgerichte, die in materieller Hinsicht der privatrechtlichen Dogmatik (überraschend) treu geblieben sind. Die verfahrensrechtliche Reformagenda (B) muss zwei Konstellationen erfassen: Einerseits müssen kleinere Streitigkeiten, in denen es den Parteien lediglich um eine rasche Konfliktlösung geht, besser aufgefangen werden, andererseits gilt es, handhabbare Musterverfahren zu ermöglichen, in denen Rechtsfragen mit einer gewissen Halbwertzeit geklärt werden sollen, soweit dies in einem evolutiv angelegten Rechtssystem überhaupt möglich ist. Für solche Verfahrensänderungen gibt es bereits Vorbilder und Anknüpfungspunkte im geltenden Recht und in aktuellen Reformprojekten. Gelingt eine verfahrensrechtliche Reform, so ist der Weg zu einer echten Privatrechtsordnung im Wirtschaftsrecht eröffnet (C). Sie würde Steuerungsfunktionen übernehmen und das Freiheitsversprechen einlösen, das mit der Wende zum Privatrecht den Marktteilnehmern gegeben wurde.

A. Reformbedarf auf dem Weg zur Privatrechtsordnung In der Rechtsprechungsanalyse wurden, auch im Quervergleich verschiedener Konfliktstellungen, mehrere Defizite der zivilgerichtlichen Konfliktlösung deutlich. Wenn zivilgerichtliche Konfliktlösung versagt, ist das problematisch, nicht nur für die jeweils individuell betroffenen Parteien, sondern auch für das Gesamtsystem der Gewaltenteilung und mit Blick auf die Wende zum Privatrecht. Denn das institutionelle Vakuum, das durch den Rückzug anderer staatlicher Instanzen entsteht, wird dann schlecht oder gar nicht ausgefüllt.

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Kapitel 5: Der Weg zur Freiheitsordnung des Privatrechts

I. Wettbewerb der Konfliktlösungsmechanismen Die Ergebnisse des Vierten Kapitels, aber auch die Flucht vieler Streitparteien aus der Zivilrechtsprechung in außergerichtliche Streitbeilegungsmechanismen belegen die mangelhafte Problemlösungsfähigkeit der Zivilgerichtsbarkeit. Gerade die Hinwendung zu anderen Institutionen wirft aber die Frage auf, ob das Versagen der Justiz überhaupt ein großes Problem darstellt. Es wäre nicht die erste Gewalt im Staat, die Steuerungskompetenz und Vertrauen einbüßt. Wer die Vision einer privatrechtlichen Organisation des Gemeinwesens teilt, könnte auch an dem Gedanken Gefallen finden, dass die Konfliktlösung in privater Hand besser aufgehoben ist als in staatlicher. Wenn etwa der Bund in seiner Auseinandersetzung mit dem Toll Collect Konsortium lieber auf ein privates Schiedsgericht als auf den BGH zurückgreift, belegt dies, dass es alternative Mechanismen gibt, die Streitparteien zur Verfügung stehen und denen auch aus öffentlicher Sicht Vertrauen entgegen gebracht wird. Mediatoren, Schiedsgerichte oder Schlichtungsstellen haben hinlänglich bewiesen, dass alternative Streitbeilegungsverfahren funktionieren.1 Die Formen der „alternative dispute resolution“ (ADR) sind vielfältig: So hat sich beispielsweise für Domainnamenstreitigkeiten die „Uniform Domain Name Dispute Resolution Policy“ etabliert, ein Programm, in dem Panelisten die entsprechenden Konflikte online lösen.2 Im Baurecht gewinnen Adjudikatoren, die den Vertrags- und Bauprozess nach angelsächsischem Vorbild begleiten, an Bedeutung.3 In Migrantengemeinschaften, so wird berichtet, werden Konflikte gelegentlich durch „Friedensrichter“, die dem eigenen Kulturkreis entstammen, geschlichtet.4 In all diesen Fällen treffen Rechtssuchende die bewusste Entscheidung für einen bestimmten Konfliktlösungsmechanismus – ein gutes Beispiel privater Interessenkoordination. Im Wettbewerb der Konfliktlösungsmechanismen stoßen staatliche Gerichte nicht durchweg auf Kritik. Die Düsseldorfer Patentgerichtsbarkeit beispielsweise gilt als derart versiert, dass Unternehmen ihre Patentverletzungsverfahren dort als angemessen verhandelt betrachten. „Forum shopping“ bei grenzüberschreitenden Konflikten ist ebenfalls eine Form des Wettbewerbs, den die ordentlichen Gerichte unterschiedlicher Jurisdiktionen miteinander austragen. Es gibt trotz des eindrucksvollen Panoramas außergerichtlicher Streitbeilegung verschiedene Gründe, die staatliche Zivilgerichtsbarkeit aufrecht zu erhalten und nach Kräften zu verbessern.5 Nur zwei sollen hier genannt werden: 1 Vgl. mit Fokus auf ADR für Unternehmen die Beiträge in Eidenmüller, Alternative Streitbeilegung, 2011. 2 Vgl. Drexl in: MüKo-BGB, Internationales Immaterialgüterrecht, 2010, Rn. 311. 3 Vgl. Köntges/Mahnken, SchiedsVZ 2010, 310 ff.; Lembcke, NJW 2013, 1704 ff. 4 Vgl. Süddeutsche Zeitung, „Richter ohne Auftrag“ (Johannes Boie), 31.7./1.8.2010, S. 14. Bade, ZAR 2010, 59, 61 hält die Darstellungen für übertrieben.

A. Reformbedarf auf dem Weg zur Privatrechtsordnung

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Schwächerenschutz und Wertordnung. Wettbewerb um Konfliktlösung führt, wie häufig im Wettbewerb, zu einer Kommerzialisierung des angebotenen Gutes. Konfliktlösung und Rechtsdurchsetzung sollten jedoch nicht umfassend kommerzialisiert werden. Es wird dann schwieriger, „unattraktive“ Prozesse zu führen, Qualitätsunterschiede in der Konfliktschlichtung könnten von der Zahlungskraft des Rechtssuchenden abhängen. Recht würde zu einem handelbaren Gut. All diese Entwicklungen gibt es heute schon, sie würden möglicherweise verstärkt. Normalerweise gehören leistungsschwächere Personen zu den Verlierern von Wettbewerbsprozessen, da der Wettbewerb Effizienz und Leistung belohnt. Eine solche Auslese wäre in der Rechtsprechung unangemessen, dient sie doch gerade als institutionalisierter Mechanismus, um die Durchsetzungskraft des Stärkeren gegen den Schwächeren zu relativieren. Gute staatliche Rechtsprechung sichert dem Schwächeren eine Chance auf Rechtsdurchsetzung. Schon jetzt wirkt sich die Flucht aus der staatlichen Gerichtsbarkeit negativ auf deren Problemlösungskompetenz aus: Da einige Arten von Fällen gar nicht mehr zu Gericht kommen, werden die Richter in ihrer Arbeit nicht mehr von diesen Fällen geprägt. Da es häufig die Fälle mit besonders hohem wirtschaftlichen Gewicht, mit hochqualifizierten Anwälten und komplexen wirtschaftsrechtlichen Fragestellungen sind, die den Zivilgerichten entgehen, können die Richter ihre Fähigkeiten nicht mehr an diesen Fällen schärfen.6 Darunter leidet in der Folge möglicherweise auch ihre Bearbeitung weniger anspruchsvoller Fälle. Das Fallmaterial insgesamt prägt nämlich die Arbeitsund Denkweise der Fallbearbeiter. Ein früherer Staatssekretär für Justiz konstatiert vor dem Hintergrund hochklassiger außergerichtlicher Streitbeilegung und der Justiz in der Position einer „Notambulanz“ bereits die Entstehung eines „Zwei-Klassen-Rechtsschutzes“.7 Der zweite schlagende Grund für die Notwendigkeit von Reformen ist die Sicherung der Wertordnung im Gemeinwesen.8 Der Rückzug anderer staatlicher Instanzen bzw. ihr Steuerungsverlust bedeutet nicht, dass es im Gemeinwesen nicht eines einigenden Bandes bedürfte, das in der rechtlichen Verfasstheit dieses Gemeinwesens gründet. Das Zusammenleben impliziert Konflikte, Konflikte werden anhand der in der Rechtsordnung vorgegebenen Werte durchgesetzt, diese Durchsetzung ist transparent und ermöglicht damit einen weitergehenden gesellschaftlichen Diskursprozess. Fehlen Instanzen, die an diese Rechtsordnung gebunden sind, droht die Auflösung der rechtlichen Verfasstheit des Gemeinwesens. Es wird dann nicht mehr möglich sein, die Grenzen der Freiheitsausübung nach anerkannten Maßstäben so zu sichern, dass 5

Vgl. auch Roth, JZ 2013, 637 ff.; Hirtz, NJW 2012, 1686 ff. Vgl. Duve/Keller, SchiedsVZ 2005, 169. 7 Ritter, NJW 2001, 3440, 3448. 8 Roth, JZ 2013, 637, 644, betont die „Orientierungsfunktion“ der höchstrichterlichen Rechtsprechung. 6

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das Gemeinwesen weiterhin funktionsfähig bleibt. Diese systemschützende Komponente, die eine Funktion der Rechtsprechung ist, ginge verloren, wenn Konflikte nur noch im Privatwege gelöst würden. Das schließt außergerichtliche Streitbeilegung und die Stärkung privater Konfliktlösungsmechanismen nicht aus. Die Verantwortung für das Funktionieren einer transparenten Konfliktlösung als Teil der Ermöglichung von Zusammenleben verbleibt aber beim Staat.9

II. Reformbedarf In der Rechtsprechungsanalyse wurden mehrere Defizite identifiziert.10 Als besonders problematischer Generalbefund muss die Erkenntnis eingestuft werden, dass marktbeherrschende Unternehmen eine bessere Aussicht haben, die Rechtsdurchsetzungsmechanismen für sich zu nutzen, als Newcomer und Verbraucher.

1. Gravierende Schwächen der zivilgerichtlichen Rechtsdurchsetzung Die besonders gravierenden Ergebnisse der Rechtsprechungsanalyse, die nach Reformen verlangen, lassen sich in fünf Punkten bündeln: – Die Verfahren dauern zu lange. – Es gelingt nicht, die Entstehung ähnlicher Streitigkeiten zu verhindern. – Prozesse werden mit kleinteiligen Differenzierungslösungen auf Tatbestandsebene entschieden. – Ökonomische Erwägungen spielen weder bezüglich der Parteiinteressen noch bezüglich des Systems der Privatrechtsordnung und der Konfliktschlichtung eine Rolle. – Die Instrumentalisierung des Zivilrechts im Wettbewerbskampf wird nicht unterbunden. Ein Hintergrundaspekt dieser Probleme mag zudem die fehlende Selbstreflexion richterlichen Handelns und der Beschränkungen des Systems sein: Gerichte lassen nicht erkennen, dass sie sich ihrer Rolle in einem komplexen Ordnungsmodell bewusst sind. Diese Grundhaltung richterlichen Selbst-Bewusstseins lässt sich freilich nicht ohne weiteres verordnen. Hier wären in Auswahl, Ausbildung und Fortbildung, möglicherweise auch im Anreizsystem des richterlichen Berufswegs neue Akzente zu setzen. Im Folgenden gilt die Konzentration solchen Reformen, welche die fünf genannten Punkte abmildern können. 9

Vgl. Ritter, NJW 2001, 3440, 3447 f. Interessant ist der Blick von außen, der manches Problem relativiert. Stellvertretend Maxeiner, Failures of American Civil Justice, 2011. 10

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Festzuhalten ist zuvor, dass mit der Kritik, die an der Justiz geübt wird, kein Schuldvorwurf an die Richterschaft verbunden ist. Die lange Verfahrensdauer etwa resultiert nicht nur aus einer generellen Überlastung der Gerichte, die zu langfristigen Terminierungen führt, sondern auch aus Verzögerungsstrategien oder schlichten Verspätungen der Parteien. Manche Aspekte können nach geltendem Recht kaum anders gelöst werden als derzeit. Die Richterinnen und Richter, die ein grundsätzlich hohes Vertrauen in der Bevölkerung genießen,11 üben ihre Tätigkeit – wie alle anderen Berufstätigen auch – vor allem entsprechend der für sie gesetzten Anreize aus. Die Reformagenda ist daher nicht mit einem individuellen Vorwurf, sondern mit einer institutionellen Forderung versehen.

2. Übertragbarkeit der Ergebnisse Die hier diagnostizierten Legitimationsdefizite der Zivilrechtsprechung wurden für Konstellationen post-deregulativer Konflikte festgestellt. Es gibt jedoch Anhaltspunkte dafür, dass in anderen Konflikten ähnliche Probleme auftreten und die Justiz häufig überfordert ist, komplexe wirtschaftliche Streitigkeiten oder auch andere Rechtsfälle angemessen zu lösen. Hier mag jeder Rechtswissenschaftler und Rechtssuchende die ihm vertrauten Konstellationen daraufhin befragen, ob sich ähnliche Schwierigkeiten stellen. In den postderegulativen Konflikten lassen sich die Leistungen und Fehlleistungen der Gerichte aufgrund der Neuheit der Thematik, der neutralen Ausgangslage, dem überschaubaren Zeitraum und der hohen Falldichte besonders plastisch nachweisen. Doch auch in anderen Konfliktkonstellationen, die schon seit Jahrzehnten die Gerichte beschäftigen, dürften lange Verfahrensdauern oder höchstdifferenzierte Tatbestandsentscheidungen bekannt sein. Dafür spricht bereits die oben angesprochene „Flucht“ aus der staatlichen Gerichtsbarkeit. Sie wäre – ohne Defizite der ordentlichen Gerichtsbarkeit – nicht nötig. Die überlange Verfahrensdauer ist in zahlreichen Verfahrensarten zum Thema geworden. Die mangelnde Verhinderung künftiger Streitigkeiten, also das Fehlen einer präventiven Wirkung von Gerichtsurteilen, ist auch aus anderen Fällen bekannt. So mussten beispielsweise Anleger, die Opfer der Lehman-Banken-Pleite wurden und gegen ihre Hausbanken vorgingen, ebenfalls zahlreich klagen, obwohl die Fallgestaltungen identisch waren.12 Die Verschiebung der Konfliktentscheidung von einer rechtlichen auf eine tatsächliche Ebene, also die starke Ausdifferenzierung von höchstrichterlicher Rechtsprechung, die dann auf Tatbestandsebene ausgelegt werden muss, ist gleichfalls bekannt. Ebenso sind der Mangel an ökonomischer Expertise in Gerichten oder die fehlende Unter11 12

Vgl. Roland Rechtsreport 2011, 2011, S. 20. Vgl. Späth, VuR 2010, 451 ff.

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Kapitel 5: Der Weg zur Freiheitsordnung des Privatrechts

bindung missbräuchlicher Rechtsdurchsetzung Facetten der Rechtsprechung, die immer wieder kritisch aufgegriffen werden. Sollte sich die Ansicht durchsetzen, dass es tatsächlich eher allgemeine als post-deregulativ spezielle Probleme sind, die herausgearbeitet wurden, sind auch allgemeine Lösungsvorschläge angemessen. Es bedarf dann keiner Spezialregelungen für post-deregulative Konflikte. Nur am Rande kann hier bemerkt werden, dass die Überforderung der Justiz kein nationales Problem ist: auch der EuGH gerät an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit, vor allem falls die Zahl zivilrechtlicher Verfahren im Zuge der europäischen Privatrechtsvereinheitlichung steigen sollte.13

3. Insbesondere: Verfahrensdauer Ein besonders wichtiges Problem ist die Verfahrensdauer, die sich in allen geprüften Konstellationen als zu lang erwiesen hatte. In einer repräsentativen Umfrage war die Verfahrensdauer gleichfalls als großes Problem der gerichtlichen Arbeit benannt worden.14 Die in der Rechtsprechungsanalyse gewonnenen Ergebnisse lassen sich durch Auswertungen des Statistischen Bundesamtes bestätigen. Nach dessen Angaben dauert ein amtsgerichtliches Verfahren durchschnittlich zwischen 3,9 (Baden-Württemberg) und 5,8 Monaten, je nach Bundesland.15 Diese Statistik ist allerdings verzerrt durch Verfahren, die sich direkt nach Klageerhebung erledigen. In Fällen, die mit streitigem Urteil enden, beträgt die durchschnittliche Verfahrensdauer bereits 7,1 Monate.16 Knapp die Hälfte aller amtsgerichtlichen Verfahren hat einen Streitwert von weniger als 1000 Euro, der Durchschnittsstreitwert lag 2010 für zivilrechtliche Verfahren beim Amtsgericht bei 1783 Euro.17 Beschleunigungsbedarf besteht bei Verfahren dieser Größenordnung nicht, wenn das Amtsgericht abschließende Instanz ist und die Verfahren tatsächlich innerhalb von drei bis vier Monaten abgeschlossen werden können. Eine siebenmonatige Verfahrensdauer wirkt bei einem kleinen Streitfall, selbst wenn dieser durch Urteil entschieden werden muss, lang. Dies gilt erst recht, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in 82 Prozent der Verfahren keine Beweisaufnahme stattgefunden hat18 und das gerichtliche Verfahren für die Parteien bereits einen längeren außergerichtlichen Vorlauf haben kann. Die Verfahrensdauer bei Landgerichten ist erheblich länger, hier dauerte 2010 ein Verfahren im bundesweiten Durchschnitt 8,1 Monate bzw. 13,1 Mo13

Vgl. Ackermann in: Furrer, Europäisches Privatrecht im wissenschaftlichen Diskurs, 2006, S. 417, 436. 14 Roland Rechtsreport 2011, 2011, S. 20. 15 Vgl. Statistisches Bundesamt, Rechtspflege Zivilgerichte 2010, 2011, S. 18 ff. 16 Ebd., S. 26. 17 Ebd., S. 11. 18 Ebd., S. 30.

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nate, wenn es durch streitiges Urteil entschieden wurde.19 Nur in etwa 12 Prozent der erledigten Verfahren wurde ein Beweistermin anberaumt.20 Wurde das OLG angerufen, dauerte ein Verfahren vom Eingang bei der ersten Instanz bis zum streitigen Urteil bundesweit im Jahresdurchschnitt 2010 28,5 Monate.21 Der BGH gibt in puncto Verfahrensdauer für das Jahr 2011 an: „Von den durch Urteil oder Beschlüssen nach § 544 Abs. 7 ZPO abgeschlossenen Revisionsverfahren und den durch Urteil abgeschlossenen Berufungen in Patentsachen wurden 40,3 Prozent (2010: 34,5 Prozent) binnen Jahresfrist und weitere 39,9 Prozent (2010: 43,3 Prozent) binnen eines weiteren Jahres erledigt. 19,8 Prozent dieser Verfahren (2010: 22,2 Prozent) dauerten länger als 24 Monate. 51,7 Prozent der Nichtzulassungsbeschwerden (einschließlich der Anträge auf Zulassung der Sprungrevision) wurden binnen zwölf Monaten (2010: 44,7 Prozent) und weitere 36 Prozent binnen 24 Monaten beschieden (2010: 41,7 Prozent). In 12,3 Prozent der Fälle dauerte das Verfahren länger als 24 Monate (2010: 13,6 Prozent).“22

Rechnet man die Zahlen des BGH (1–2 Jahre) zusammen mit den Werten, die für das Verfahren bis zum OLG-Urteil angegeben sind (durchschnittlich 28,5 Monate), ergeben sich die Werte, wie sie auch in den hier diskutierten Verfahren festgestellt wurden. Zu berücksichtigen ist, dass die offiziellen Statistiken noch nicht die Zurückverweisungsfälle berücksichtigen. Die Bundesregierung hat die überlange Verfahrensdauer auf Druck des EGMR23 und des BVerfG24 als Problem anerkannt und ist der Aufforderung gefolgt, einen Rechtsbehelf gegen überlange Verfahrensdauer einzuführen. Das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ist Ende 2011 in Kraft getreten. Nach § 198 GVG hat ein Verfahrensbeteiligter Anspruch auf eine angemessene Entschädigung bei unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens, wenn er zuvor Verzögerungsrüge erhoben hat. Die Unangemessenheit der Verfahrensdauer ist nicht festgelegt, sie soll sich nach den Umständen des Einzelfalles richten. Angesichts der Fälle, die beim EGMR mit Verfahrensdauern von acht bis 28 Jahren für Verurteilungen gesorgt hatten,25 ist allerdings nicht damit zu rechnen, dass die Fälle, die in dieser Schrift untersucht wurden, als unangemessen lang beanstandet würden. Die Regelung in § 198 GVG, deren Effektivität auch aus anderen Gründen umstritten ist,26 wird eher in Extrem19

Ebd., S. 50. Ebd., S. 54. 21 Ebd., S. 88. 22 BGH, Tätigkeitsbericht 2011, abrufbar unter: http://www.bundesgerichtshof.de/DE/ BGH/Statistik/Taetigkeitsberichte/Taetigkeit2011/taetigkeit2011_node.html. 23 EGMR, 2.9.2010, Rs. 46344/06, NJW 2010, 3355 – Rumpf. 24 BVerfG, 30.7.2009, Az. 1 BvR 2662/06, NJW-RR 2010, 207. 25 Vgl. die Nachweise bei Magnus, ZZP 125 (2012), 75, 76 (Fn. 5). 26 Vgl. Magnus, ZZP 125 (2012), 75, 91; Althammer, JZ 2011, 446, 452 f. Zur (Nicht-)Alternative der Amtshaftung siehe Remus, NJW 2012, 1403 ff. 20

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Kapitel 5: Der Weg zur Freiheitsordnung des Privatrechts

fällen einen gewissen Ausgleich schaffen, statt am grundlegenden Problem der überlangen Verfahrensdauer etwas zu ändern. Eine Verfahrensdauer von vier Jahren beim Zug durch mehrere Instanzen in einer durchschnittlichen wirtschaftsrechtlichen Streitfrage wird als üblich und daher nicht unangemessen akzeptiert werden. Auch für eine Untätigkeitsklage wird in solchen Fällen regelmäßig kein Platz sein.27 Für die Parteien, die in einem dynamischen Umfeld tätig sind, ist eine mehrjährige Verfahrensdauer allerdings kaum hinnehmbar. Prozesse ergeben in der Sache dann oft nur noch Sinn, wenn es um eine entsprechend hohe Geldforderung geht oder um die Verwicklung der Konkurrenz in einen Rechtsstreit (etwa zu Zwecken des Wettbewerbskampfes oder um den Prozess als „bargaining chip“ zu gebrauchen). In Fällen wie den markenrechtlichen oder lauterkeitsrechtlichen Verfahren, die hier geschildert wurden, ist eine mehrjährige Verfahrensdauer für den eigentlichen Prozesszweck nicht mehr ergiebig, selbst für die obsiegende Partei. Bei den Energiepreisen dürfte regelmäßig der Streitwert so gering sein, dass sich ein mehrjähriges Gerichtsverfahren nicht lohnt. Die bisherigen Ansätze zum Vorgehen gegen überlange Verfahren schützen davor nicht. Das Problem ist auch auf europäischer Ebene erkannt worden, wo die Generaldirektion Justiz durch ein EU Justice Scoreboard, ein Analyseinstrument zum Vergleich der Effektivität der Justiz in den Mitgliedstaaten, Druck aufzubauen versucht.28 Bei Überlegungen zur Verringerung der Verfahrensdauer wird behauptet, eine Beschleunigung sei abzuwägen mit der „Gründlichkeit“ der Urteilsfindung und also der Richtigkeit, sowie mit dem Rechtsschutzinteresse der Betroffenen.29 Diese Erkenntnis ist einerseits banal, wenn damit ausgedrückt werden soll, dass Entscheidungen selbstverständlich nicht „übers Knie gebrochen“ werden sollen. Andererseits führt sie in die Irre, wenn dadurch suggeriert wird, dass ein gutes Urteil so lange dauere, weil die Richter oder die Parteien derart intensiv – über Monate hinweg – daran arbeiten würden. Das entspricht nicht der gerichtlichen Praxis.30 Die lange Verfahrensdauer kommt durch Zeiten des Leerlaufs, etwa beim Warten auf Sachverständigengutachten, beim Zeitverlust durch Richterwechsel oder durch mangelnde Prozessförderung des Gerichts, nicht durch die engagierte Rechtsfindung zustande.31 Eine solche Auffassung verkennt aber auch, dass die materielle Legitimation 27

Vgl. Kroppenberg, ZZP 119 (2006), 177 ff.; Jakob, ZZP 119 (2006), 303 ff. Siehe die Informationen unter http://ec.europa.eu/justice/effective-justice/scoreboard/ index_en.htm. 29 Vgl. Rauter, DRiZ 1987, 354 ff. 30 Die Präsidenten der Oberlandesgerichte und des BGH haben 2010 eine Studie in Auftrag gegeben, die die Ursachen überlanger Gerichtsverfahren ermitteln sollte. Der Bericht „Langdauernde Zivilverfahren“ (2012) ist veröffentlicht unter http://epub.sub.uni-hamburg.de/ epub/ volltexte/2013/17880/pdf/LangdauerndeWPMALSV.pdf. Einige Aspekte werden vorgestellt von Keders/Walter, NJW 2013, 1697 ff. 31 Vgl. Keders/Walter, NJW 2013, 1697, 1699 ff. 28

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des Urteils nur ein Aspekt ist: Die Lösung des Konflikts steht als Ziel für die Parteien gleichberechtigt neben dem Ziel der Durchsetzung subjektiver Rechte.

III. Materiellrechtliche Vorschläge Teilweise wird mit Blick auf verschiedene Aspekte der Wende zum Privatrecht eine materiellrechtliche Lösung zur Behebung von Defiziten vorgeschlagen. So wird, wie bereits dargestellt,32 diskutiert, ob es ein eigenes Gesetz zur Regelung von Public Private Partnerships geben sollte.33 Für die Beteiligung der Verwaltung am Rechtsverkehr wird immer wieder die Ausgestaltung des „Verwaltungsprivatrechts“ diskutiert.34 Die Vorschläge sind bedenkenswert. Sie verfehlen jedoch weitgehend die hier angesprochenen Probleme und entstammen der öffentlich-rechtlichen Sphäre mit dem Bemühen, die Verwaltung beim privatrechtlichen Handeln abzusichern und bestimmte Gemeinwohlinteressen zu erhalten. Diese Aspekte sind aus zivilrechtlicher Perspektive nicht prioritär. Teilweise werden Sonderregelungen für ehemalige Monopolisten oder die hier im Einzelnen angesprochenen Probleme vorgeschlagen.35 Darin könnten Chancen für eine Beseitigung der in post-deregulativen Konstellationen entdeckten Probleme liegen. Solche Regelungen kämen heute freilich beinahe zu spät. Zudem scheint es zweifelhaft, ob der Gesetzgeber Regelungen zugunsten von Verbrauchern und Newcomern in einem formalen Gesetzgebungsverfahren durchbringen könnte, oder ob nicht die Gefahr bestünde, dass im Laufe der Gesetzgebung bestimmte Rechte des Ex-Monopolisten festgeschrieben würden, die momentan nur faktisch wirken und durch beherzte Gerichtsentscheidungen aufgebrochen werden können. Eigene Gesetze könnten hier mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen. Es hat gerade einen ganz besonderen Charme, dass der Gesetzgeber die deregulierten Branchen radikal ins Zivilrecht entlässt. Wo Übergangslösungen gesucht werden, wie etwa im Regulierungsrecht, hat der Ex-Monopolist immer einen starken first-mover-Vorteil, weil er sich länger auf die neue Rechtslage vorbereiten kann als Unternehmen, für die erst bei kompletter Liberalisierung die Markteintrittsanreize hoch genug werden. Das spricht gegen Übergangslösungen im Zuge einer Wende zum Privatrecht.36

32

Supra, Kapitel 1, D.IV. Vgl. Burgi, NJW 2006, 2439 ff.; ders., Privatisierung öffentlicher Aufgaben – DJT-Gutachten, 2008, S. D109 ff.; Reicherzer, DÖV 2005, 603 ff.; Stober, NJW 2008, 2301, 2308. 34 Vgl. Röhl, VerwArch 86 (1995), 531 ff.; Stelkens, Verwaltungsprivatrecht, 2005. 35 Vgl. für das Energierecht Hirsch in: FS Baudenbacher, 2007, S. 405, 418. 36 Diese Diskussion lässt sich auf das Regulierungsrecht und dessen Auslaufen übertragen, vgl. nur Kirchner, WuW 2007, 327; Stober, NJW 2008, 2301, 2308. 33

530

Kapitel 5: Der Weg zur Freiheitsordnung des Privatrechts

Ein Vorschlag, der Auswirkungen auf das materielle Recht haben könnte, betrifft die Folgenabschätzung bei Deregulierungsmaßnahmen.37 Es gibt bereits Regelungen, die vorsehen, dass bei Gesetzgebungsvorhaben ein formalisierter Folgenabschätzungsprozess stattfindet. So bestimmt § 43 Abs. 1 Nr. 5 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien38, dass in der Begründung von Gesetzentwürfen die Gesetzesfolgen darzustellen sind. Gemäß § 44 Abs. 1 dieser Geschäftsordnung sind unter Gesetzesfolgen die „wesentlichen Auswirkungen“ zu verstehen. Ausdrücklich genannt werden finanzielle Auswirkungen für die Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen; der Erfüllungsaufwand für Bürgerinnen und Bürger, Wirtschaft und Verwaltung; sonstige Auswirkungen für die Wirtschaft, insbesondere für den Mittelstand; Auswirkungen auf das Preisniveau; Auswirkungen auf Verbraucherinnen und Verbraucher. Gemäß § 46 ist ein Gesetzentwurf vor Vorlage zum Beschluss dem Bundesjustizministerium zur rechtssystematischen und rechtsförmlichen Prüfung vorzulegen. In beiden Normen sind Tatbestandsmerkmale vorhanden, die es den zuständigen Stellen ermöglichen würden, Rechtsstreitigkeiten zu antizipieren, die aus dem Gesetz als Folge erwachsen könnten. Für den Fall von Deregulierungsmaßnahmen, die in Gesetzesform ergehen, ließe sich damit vorab prüfen, ob es zu zivilrechtlichen Streitigkeiten größeren Ausmaßes kommen kann. Diese wären sowohl Teil der Auswirkungen auf Wirtschaft und Verbraucher, als auch Teil einer rechtssystematischen Prüfung durch das Bundesjustizministerium. Natürlich lässt sich nicht immer im Vorhinein jeder Konflikt, der in der Anwendungspraxis entdeckt wird, erahnen. Allerdings könnte gerade bei der Überführung von Materien in das Zivilrecht ein Markttest bei den ohnehin ins Gesetzgebungsverfahren eingebundenen Verbänden hier Erkenntnisse erbringen. Rückbezogen auf die hier untersuchten Komplexe scheint es sicher, dass die Klagewelle gegen überhöhte Energiepreise bei sorgfältiger vorheriger Überlegung denkbar gewesen wäre. Möglicherweise wäre auch die Nutzung des Markennamens „Post“ bei guter Gesetzesvorbereitung bedacht worden. Dass die Auseinandersetzungen um Werbung für Preselection-Tarife vorab erkannt worden wären, scheint hingegen eher unwahrscheinlich. Fallen mögliche zivilrechtliche Folgekonflikte auf, könnte eventuell noch im Gesetzgebungsverfahren Abhilfe geschaffen werden, sei es durch zusätzliche Normierung (mit den oben benannten Risiken für Übergangslösungen und die Absicherung des Monopolisten) oder durch Hinweise in der Gesetzesbegründung zum Willen des Gesetzgebers. Die Auslegung von § 44 und § 46 sollte aber in dieser Hinsicht erweitert werden. 37

Vgl. Stober, NJW 2008, 2301, 2308; Seckelmann, ZRP 2010, 213 ff. Stand: 1.9.2011, abrufbar unter http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/ Veroeffentlichungen/ggo.pdf?__blob=publicationFile. 38

B. Verfahrensrechtliche Agenda

531

Entsprechende Ansatzpunkte gibt es in den Governance-Bestimmungen der Europäischen Kommission. Diese hat 2009 Leitlinien zur Messung der Gesetzgebungsfolgen vorgelegt, die sog. Impact Assessment Guidelines.39 Auch in diesen fehlt ein expliziter Hinweis auf gerichtliche Folgestreitigkeiten, die aus den Maßnahmen erwachsen können, aber auch hier gibt es Ansatzpunkte für eine Integration entsprechender Prüfungen im Verfahren zum Erlass von Rechtsakten. Deutlich wurde, dass ein Diskurs über systemrelevante Grundlagen der zivilgerichtlichen Rechtsprechungstätigkeit und der privatrechtlichen Ordnung erforderlich ist. Darin verbergen sich Fragen von erheblichem materiellem Gewicht, die teilweise von Ökonomen zu beantworten sind, die aber auch einer juristischen Bearbeitung bedürfen. Es scheint allerdings verfehlt, mit Gesetzesvorhaben anzusetzen. Hier müssen Wissenschaft und Praxis gemeinsam im ständigen Diskurs über die Anforderungen des Rechtssystems versuchen, Erkenntnisse zu gewinnen und Fehlentwicklungen zu vermeiden. Die Ausgangsbasis dafür ist vorhanden, da die Rechtsprechung in den post-deregulativen Konstellationen ihren Entscheidungen ein eindeutig privatrechtliches Leitbild zugrunde gelegt hat (wenn auch ohne die gewünschte Hinwendung zur Ökonomie). Von Gemeinwohlinteressen außerhalb des privatrechtlichen Systems hat sich die Rechtsprechung zu Recht nicht leiten lassen. So wie in der AGG-Rechtsprechung der befürchtete „Flächenbrand“ ausgeblieben ist, hat es auch in post-deregulativen Streitigkeiten keine Aufgabe der privatrechtlichen Ordnung zugunsten systemfremder Interessen gegeben.

B. Verfahrensrechtliche Agenda Der eigentliche Reformbedarf liegt daher nicht im materiellen Recht, sondern im Verfahrensrecht. Die Möglichkeit für starke Parteien, das Rechtssystem zu Lasten von Newcomern oder Verbrauchern zu missbrauchen, und die Verzögerung der Freiheitsrendite aus Deregulierungsmaßnahmen um mehrere Jahre sind zwar Themen, die sich materiell auswirken, die aber besser mit verfahrensrechtlichen Mitteln behoben werden können. Rechtsdurchsetzung in den Foren der ordentlichen Gerichtsbarkeit wird für Newcomer und Verbraucher als Kläger unattraktiv, wenn sie überlange Verfahren und kostenintensive Streitigkeiten über mehrere Instanzen hinweg fürchten müssen. Das gilt insbesondere bei geringen Streitwerten, zumal wenn im Ergebnis nur differenzierte Mittellösungen von der Rechtsprechung zu erwarten sind. Als Beklagte sind Newcomer und Verbraucher ebenfalls langwierigen Prozessen ausgesetzt; das Recht schützt sie zudem nicht davor, dass ein etablierter Betreiber die Verfahren in erster Linie für Wettbewerbszwecke nutzt, anstatt für seine Rechts39

KOM, 15.1.2009, SEC(2009) 92.

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Kapitel 5: Der Weg zur Freiheitsordnung des Privatrechts

durchsetzung. Das Verfahrensrecht könnte den Herausforderungen durch Massenverfahren, kleine Verfahren und Verfahren mit erheblichem Kräfteungleichgewicht besser begegnen als derzeit. Reformen in diesem Bereich müssen sich an den Grundideen der Legitimation von Rechtsprechung orientieren: Das Verfahren muss so ausgestaltet werden, dass es in angemessener Zeit und mit angemessenem Aufwand den Konflikt schlichtet, die Gesellschaft befriedet und also weitere Prozesse dieser Art präventiv verhindert. Die Erreichung dieser Ziele setzt die Differenzierung von zwei grundsätzlich unterschiedlichen Verfahren im Zivilrechtsweg voraus. Derzeit stellt die ZPO für normale zivilrechtliche Streitigkeiten im Wesentlichen ein Klagemodell bereit, dessen Pfad streitwertabhängig länger oder kürzer ausfallen kann. Hinzu kommt das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, welches das zweite große zivilprozessuale Modell ist, das aber in das erste Modell übergeht, wenn es nicht im einstweiligen Verfahren zu einer für die Parteien hinnehmbaren Lösung kommt. Der einstweilige Rechtsschutz hat dabei den Vorteil, zu einer schnellen Lösung zu gelangen. Köhler kritisierte bereits, es gebe wegen dieser raschen Durchsetzungsmöglichkeiten eine große Versuchung, immer wieder auf das im einstweiligen Rechtsschutz besonders wirksame UWG zurückzugreifen, auch in Fällen, die nicht dafür geeignet seien.40 Gegenüber dieser Einspurigkeit scheint es vorzugswürdig, mindestens zwei alternative Grundmodelle zivilgerichtlicher Konfliktlösung zu entwickeln. Diese zwei Modelle, das Fast-Track-Modell und das Muster-Modell, sowie ihre Anknüpfungspunkte in der ZPO und in rechtspolitischen Initiativen werden im Folgenden skizziert.

I. Fast-Track-Modell Das Fast-Track-Modell soll eine Möglichkeit bieten, eine schnelle, günstige und eindeutige Konfliktlösung für die Parteien zu erreichen.

1. Prinzipien Das Fast-Track-Modell richtet sich an Kläger, die keine Grundsatzentscheidung suchen, sondern lediglich eine Entscheidung in einem aktuellen Konflikt benötigen. Es ist damit vollständig auf die funktional-individuelle Legitimation zugeschnitten und soll primär das Interesse der Parteien erfüllen. Ein rasches derartiges Verfahren bietet sich insbesondere für geringe Streitwerte an, muss aber nicht auf diese beschränkt sein. Als Beispiel mag ein Kläger in einem Gaspreis-Verfahren dienen: Um zukünftig einen niedrigeren Preis zu erhalten, hat er eventuell die Möglichkeit, 40

Vgl. Köhler, Anm. zu BGH, 2.12.2009, Az. I ZR 152/07, GRUR 2010, 654, 658.

B. Verfahrensrechtliche Agenda

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seinen Gasversorger oder seinen Energieträger zu wechseln. Für die Vergangenheit aber ist er noch an der Rückforderung überhöht gezahlter Beträge interessiert. Auch umgekehrt wäre die Konstellation denkbar. Der Streitwert in solchen Fällen, die teilweise nach geltendem Recht erst nach vier Jahren vom BGH entschieden worden sind, beträgt manchmal kaum mehr als 100 Euro. Für den Verbraucher, der lediglich das Rückforderungsinteresse hat, wäre wahrscheinlich eine schnelle Entscheidung gegen ihn attraktiver als eine langwierige Entscheidung, die am Ende für ihn ausgeht – oder realistischer ihm die Hälfte des Betrags zuspricht. Eine Klage zum BGH lohnt angesichts der Bedeutung des Falles finanziell weder für den Verbraucher, noch für das Gemeinwesen. Etwas anderes gilt nur, wenn der Kläger eine Art Musterverfahren führt und ein Grundsatzurteil anstrebt. Es bedarf also eines Konfliktlösungsmechanismus, bei dem nicht die Gefahr besteht, in aufwändigen Rechtsstreitigkeiten befangen zu werden. Ein entgegenstehendes Interesse der Parteien, die sich möglicherweise sogar beide für ein langwieriges Verfahren aussprechen könnten, kann im Zweifel unbeachtlich sein, wenn durch derartige Bagatellverfahren das System zivilgerichtlicher Konfliktschlichtung außer Kraft gesetzt würde. Die Legitimation findet dieses Verfahren in einer betont funktional-individuellen Perspektive. Die übrigen Legitimationspfeiler der Rechtsprechung treten demgegenüber zurück. Für die konkrete Ausgestaltung wären die Prinzipien der funktional-individuellen Legitimation leitend: Es soll eine Entscheidung in der Sache geben, die mit einem realistisch durchsetzbaren Ergebnis endet. Das Verfahren muss fair verlaufen, Dauer und Aufwand des Verfahrens sollen nicht unangemessen sein. Entsprechend sind die Ziele formuliert: Das Fast-Track-Modell müsste eine schnelle, günstige und eindeutige Konfliktlösung ermöglichen. Die folgenden Aspekte des zivilgerichtlichen Verfahrens müssten dafür entsprechend ausgestaltet werden: – Gerichten und Parteien müssten enge Fristen gesetzt sein. – Das Verfahren muss standardmäßig klare Anforderungen an die Parteien stellen, was zu welchem Zeitpunkt beizubringen ist. – Der Parteivortrag ist im Wesentlichen zu respektieren. – Die Entscheidungsreife ist nach dem einmaligen Austausch von Schriftsätzen zu vermuten. – Eine summarische Würdigung des Falles muss genügen. – Bürokratische Pflichten des Richters einschließlich der Urteilsbegründung sind auf ein Minimum zu beschränken. – Beschwerdemöglichkeiten sind einzuschränken. – Die Kosten für die Parteien müssen gering sein. Aus der Zusammenschau dieser Punkte entsteht die Vorstellung von einem Fast-Track-Verfahren. Es zielt darauf ab, den ursprünglichen Kern des Ge-

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richtsverfahrens wieder zu beleben: Die Konfliktparteien tragen ihren Konflikt und die zugrundeliegenden Interessen einer Richterpersönlichkeit vor, die sich eine Meinung dazu bildet und eine Entscheidung fällt. Dieses Verfahren mag archaisch anmuten und erfahrene Richterpersönlichkeiten voraussetzen. Eine solche Verfahrensausgestaltung, wie immer sie im Detail aussehen würde, wäre jedoch effizient, – mit Blick auf das Legitimationsmodell der Rechtsprechung – legitim sowie verfassungsgemäß. Warum sollte das uralte Grundprinzip richterlicher Spruchpraxis heute nicht mehr für zahlreiche Streitigkeiten geeignet sein? Sicherlich wird ein komplizierter aktienrechtlicher Millionen-Prozess nicht auf diese Weise zu führen sein, wohl aber das – wie gesehen – äußerst praxisrelevante Beispiel eines Forderungsstreits zwischen Energieverbraucher und Energieversorgungsunternehmen. Angenommen der Verbraucher klagt auf Rückzahlung von 601 Euro. Würde er nun ein Verfahren vorziehen, in dem er mit Klageerhebung seine Forderung darlegen und erklären muss, in dem die Gegenseite binnen kurzer Frist sich gleichfalls erklären muss, und in der sodann eine Richterpersönlichkeit verbindlich und abschließend entscheidet, dass der Kläger Anspruch auf die Zahlung von 100 Euro hat? Oder würde der Kläger lieber ein Verfahren führen, das sich vier Jahre lang durch die Instanzen bis zum BGH schleppt, mit zahllosen Schriftwechseln, Beschlüssen und Urteilen, an dessen Ende ein dem Laien kaum verständliches Urteil steht, das ihm einen Anspruch auf Zahlung von 500 Euro zugesteht? Es würde erstaunen, würde ein rational handelnder Verbraucher die zweite Variante wählen – zumal, wie gesehen, kaum vorhersehbar ist, wie sich die am Ende entscheidende Instanz in der Sache positioniert. Es liegt auf der Hand, dass ein solches Fast-Track-Verfahren effizient ist. Entscheidend ist aber, dass ein solches Verfahren auch legitim und verfassungskonform wäre. Die Legitimation ergäbe sich aus der Verfahrensinitiierung durch die Parteien. Die Parteien sollten die Möglichkeit haben, sich übereinstimmend für das Fast-Track-Verfahren auszusprechen. Unterhalb bestimmter Streitwertgrenzen sollte das Fast-Track-Verfahren verpflichtend sein. Es hätte insoweit den Charakter eines Bagatellverfahrens. Zudem wäre zu erwägen, ob eine strukturell schwächere Partei auch bei Überschreiten der Streitwertgrenzen sich für das Fast-Track-Verfahren entscheiden kann und die strukturell überlegene Partei in ein solches Verfahren zwingen kann. Das würde die Gefahr abwenden, dass eine strukturell überlegene Partei (z.B. ein etablierter und marktbeherrschender Netzbetreiber im Verhältnis zum Endverbraucher) ihre Stärke im Gerichtsverfahren durch langen Atem, gute Anwälte und überlegene Erfahrung ausspielt. Die Legitimation bezieht das Fast-Track-Verfahren aus der individuellen Legitimationsperspektive. In funktionaler Hinsicht würde dies bedeuten, dass eine Entscheidung in der Sache gefällt wird, das Verfahren fair verläuft (insbe-

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sondere mit Anhörung der Parteien durch einen unabhängigen und neutralen Richter) und Dauer und Aufwand dem Verfahren angemessen sind. Auch in materieller Hinsicht müsste das Verfahren aber ganz auf die individuelle Perspektive abstellen. Das bedeutet, dass der Richter in erster Linie die Interessen der Parteien zu würdigen hat und vollständig an ihren Vortrag gebunden ist. Aspekte der Systemrelevanz würden dahinter zurücktreten. Allerdings wäre bei erfahrenen Richtern zu erwarten, dass diese mit der Wertordnung des Zivilrechts und den Systemgrundlagen der privatrechtlichen Ordnung derart vertraut sind, dass krasse Fehlentscheidungen in materiell-institutioneller Hinsicht vermieden würden. Selbst wenn einmal eine Entscheidung getroffen würde, die mit geltendem Recht nicht vereinbar wäre, so wäre zu konstatieren, dass dies auch jederzeit im derzeitigen System passieren kann und wohl die Grundlagen der Gesellschaft nicht durch eine Fehlentscheidung in einem Bagatellverfahren erschüttert würden. Auf die Stärkung der materiell-individuellen Legitimation zielen die Punkte der Respektierung des Parteivortrags und die summarische Würdigung. Wenn sich der Richter ganz auf die Interessen der Parteien einlässt, trifft er ein Urteil in deren Sinne, was dem privatrechtlichen Leitbild aus individueller Perspektive weitgehend entspricht. Diese zwei Punkte zeigen auch, dass dieser eigentlich materielle Ansatz letztlich durch den Umweg des Verfahrensrechts verwirklicht werden kann: welche Aspekte der Richter zur Grundlage seiner Entscheidung macht, ist ebenso sehr eine prozedurale wie eine materiellrechtliche Frage. Mögliche Einwände gegen das Fast-Track-Modell ergeben sich am ehesten aus praktischen Erwägungen. Was gilt beispielsweise, wenn eine Partei gehindert ist, in kurzer Frist auf den Vortrag des Klägers einzugehen? Hier würden die Standardisierung des Verfahrens und die genaue Bezeichnung der Parteipflichten Abhilfe schaffen. Die Anforderungen an die Rechtssuchenden könnten dabei durchaus verschärft werden. Wollen sie eine hoheitliche Konfliktschlichtung in Anspruch nehmen, ist auch zu erwarten, dass sie sich dem Verfahren ernsthaft und engagiert stellen. Zudem ist das Problem aus den Säumnisurteilen schon jetzt bekannt und also kein unüberwindbares Hindernis. Zu konzedieren ist, dass auch ein Fast-Track-Modell nicht ohne eine Ausnahmeklausel für Extremfälle auskäme, in denen dann doch ein normales Verfahren durchzuführen wäre. Zugleich gilt aber auch: Wenn die Verfahrensdauer derzeit als überragendes Problem empfunden wird, was sich in der Rechtsprechungsanalyse gezeigt hat, muss die Bereitschaft bestehen, hier Abhilfe zu schaffen. Dass das nicht ohne Kompromisse möglich ist, versteht sich von selbst. Zudem ist es aus drei Gründen zu vertreten, eine schnelle Entscheidung einer äußerst gründlichen vorzuziehen: erstens entspricht es der freien Entscheidung der Parteien, die sich für das Fast-Track-Verfahren entschieden haben. Zweitens ist die Regulierungswirkung des Urteils, also seine Ausstrahlung auf andere Fälle mangels Begründung und aufgrund des kompletten Zu-

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schnitts auf die Parteien sehr gering. Drittens wird ein Fast-Track-Verfahren überwiegend für Fälle von geringem Streitwert angesetzt, sodass die finanziellen Auswirkungen für die Parteien allemal zu verkraften sind. Es bleibt die Frage, ob ein Fast-Track-Modell verfassungskonform wäre. Die konkreten verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Justizgewährung sind überschaubar: Das Grundgesetz stipuliert Ansprüche auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 GG) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 GG). Beides wäre grundsätzlich zu gewährleisten. Fraglich wäre aber insbesondere, ob aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG i.V.m. Art. 267 AEUV eine Vorlagepflicht zum EuGH resultieren kann.41 Das BVerfG hat diesbezüglich die Anforderungen verschärft.42 Hier wäre für das Fast-Track-Verfahren eine Lösung zu finden. Die Rechtsweggarantie verleiht nach Auffassung des BVerfG keinen Anspruch auf eine Beschwerdeinstanz gegen eine erstinstanzliche Gerichtsentscheidung, sodass die Einschränkung von sonstigen Beschwerdemöglichkeiten unproblematisch wäre.43 Entscheidungen dürften nicht willkürlich sein (Art. 3 Abs. 1 GG) und gem. Art. 20 Abs. 3 GG, vor allem aber aus Art. 6 Abs. 1 EMRK wäre ein faires Verfahren zu gewährleisten. So vielfältig die Kasuistik zur Verfahrensfairness44 und anderen Justizgrundrechten auch sein mag, unüberwindliche Hindernisse für ein Fast-Track-Modell stellen sich aus diesen verfassungs- und europarechtlichen Überlegungen heraus nicht. Im Gegenteil: Forderungen nach effektivem Rechtsschutz werden durch ein schnelles und auf das Konfliktschlichtungsinteresse der Parteien ausgerichtetes Verfahren eher besser als schlechter erfüllt. Ein Fast-Track-Verfahren, das ganz auf die rasche und günstige Schlichtung des konkreten Konflikts zwischen den Parteien abzielt, bietet somit bei geringen Streitwerten und kooperativen Parteien einen attraktiven Rechtsweg und mildert zahlreiche Probleme ab, die der zivilgerichtlichen Konfliktlösung derzeit noch eigen sind.

2. Anknüpfungspunkte im geltenden Verfahrensrecht Im geltenden Recht ist das Fast-Track-Modell ansatzweise in der Ausgestaltung des amtsgerichtlichen Verfahrens verwirklicht. Führen Parteien unter zügiger Prozessleitung des Amtsrichters ein amtsgerichtliches Verfahren durch, ohne in die Beschwerdeinstanz zu gehen, ist es möglich, schnell, günstig und mit einer eindeutigen Entscheidung Recht zu bekommen. Dies setzt allerdings 41

Vgl. Thüsing/Pötters/Traut, NZA 2010, 930; Piekenbrock, EuR 2011, 317; Rauscher in: MüKo-ZPO, 2008, Einl. Rn. 198. 42 BVerfG, 25.2.2010, Az. 1 BvR 230/09, NJW 2010, 1268; vgl. schon BVerfG, 8.4.1987, Az. 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223 = NJW 1988, 1459. 43 Vgl. Rauscher in: MüKo-ZPO, 2008, Einl. Rn. 241 m.w.N. 44 Vgl. Geimer in: Zöller, ZPO, 2012, Einl. Rn. 161 ff.; Rauscher in: MüKo-ZPO, 2008, Einl. Rn. 219 ff.; Leipold in: Stein/Jonas, ZPO, 2005, vor § 128 Rn. 124 ff.

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die Einhaltung enger Fristen durch alle Prozessbeteiligten, die aktive Prozessleitung durch den Richter und die Respektierung des Mitwirkungs- und Förderungsgebots aus § 282 ZPO durch die Parteien voraus.45 Gewährleistet ist ein solches zügiges Amtsgerichtsverfahren nicht, dem gesetzlichen Leitbild aber käme das Fast-Track-Modell näher als manches Verfahren aus der aktuellen amts- und landgerichtlichen Praxis. Für die oben genannten Maximen sind Ansatzpunkte in der ZPO bereits vorhanden. An diese Vorgaben ließe sich für ein Fast-Track-Modell anknüpfen. Dadurch wird sichtbar, dass es sich keineswegs um ein außergewöhnliches, rechtsschutzverkürzendes Sonderverfahren handeln würde, sondern lediglich um eine partielle Fortentwicklung der ZPO. Enge Fristen: Fristsetzungen sind in gerichtlichen Verfahren üblich und in der ZPO vielfach vorgesehen (vgl. §§ 273 Abs. 2 Nr. 1, 275 Abs. 1 S. 1, Abs. 3, Abs. 4, 276 Abs. 1 S. 2, Abs. 3, 277 Abs. 3 und 4 ZPO). Die Fristen sind Ausdruck der Prozessförderungspflicht der Parteien nach §§ 282, 283 ZPO und der Konzentrations- und Beschleunigungsmaxime, die ein Grundsatz des Zivilverfahrensrechts ist.46 Einen Sanktionsmechanismus stellt § 269 ZPO zur Verfügung, der die Zurückweisung verspäteten Vorbringens regelt. Die Handhabung der Fristsetzungen in der Praxis ist häufig flexibel und hängt vom jeweiligen Richter ab. Fristen können relativ weit gestreckt und verschoben werden, Verzögerungen bleiben häufig sanktionslos, da das Gericht gemäß § 296 Abs. 2 ZPO insoweit ein freies Ermessen hat. Der Beschleunigungsgrundsatz des Zivilverfahrensrechts wird dadurch entwertet.47 Der Fristbeachtung durch die Parteien muss nämlich auch die engagierte Prozessleitung des Richters entsprechen (vgl. § 139 Abs. 1 und § 273 Abs. 1 ZPO). Diese scheitert häufig an dessen Überlastung, sodass der Richter keine Anreize hat, auf den raschen Verfahrensabschluss zu drängen. Standardisierung der Anforderungen an die Parteien: Bereits jetzt kann das Gericht Maßnahmen durch die materielle Prozessleitung (§ 139 ZPO, beachte v.a. Abs. 4) treffen. In § 253 und § 277 sind zudem die Anforderungen an Klageschrift und Klageerwiderung statuiert, sodass die Parteien eine Handreichung erhalten, was von ihnen erwartet wird. In der Gerichtspraxis wird häufig mit Formularen agiert, die Prozeduren standardisieren. An diese Möglichkeiten des Gerichts, Vorgaben zu machen, wäre anzuknüpfen. Respektierung des Parteivortrag: Dispositionsmaxime und Beibringungsgrundsatz sind, wie bereits beim Legitimationsmodell angesprochen, wesentliche Kennzeichen des Zivilprozesses. Gerade die Herrschaft der Parteien über den Prozess verleiht diesem seine individuelle Legitimation. In einem Fast45

Vgl. Rauter, DRiZ 1987, 354, 359. Vgl. Leipold in: Stein/Jonas, ZPO, 2005, vor § 128 Rn. 193 ff.; Rauscher in: MüKo-ZPO, 2008, Einl. Rn. 318 ff. 47 Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 2004, § 81 Rn. 1. 46

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Kapitel 5: Der Weg zur Freiheitsordnung des Privatrechts

Track-Modell, das die individuelle Legitimation in den Vordergrund rückt, sind die Ausprägungen dieser Grundsätze zu beachten: Durchzusetzen ist die Interessenkoordination der Parteien. Gemäß § 308 ZPO ist das Gericht an die Anträge der Parteien gebunden, diese sind auch für den Vortrag des ihnen günstigen Sachverhalts grundsätzlich selbst verantwortlich. Der Respekt für den Parteivortrag schlägt sich nach geltendem Recht bereits darin nieder, dass die Parteien es in der Hand haben zu bestimmen, was beweisbedürftig ist.48 In einem Fast-Track-Verfahren wären Beweisaufnahmen allerdings grundsätzlich nicht vorgesehen, auch insoweit muss sich das Gericht auf den Vortrag der Parteien verlassen. Die Ausnahmen von Dispositions- und Beibringungsgrundsatz49 wären für das Fast-Track-Verfahren zurückzustellen. Grundidee der individuell legitimierten Konfliktschlichtung ist gerade der Ausgleich zwischen den Interessen der Parteien, welche diese am besten selbst formulieren können. Entscheidungsreife nach Austausch von Schriftsätzen: In dieselbe Richtung zielt die Vermeidung immer weiterer Möglichkeiten, Schriftsätze auszutauschen, die sich im schriftlichen Vorverfahren oder im Nachgang zu einem Verhandlungstermin ergeben können. § 272 Abs. 1 ZPO ist Ausdruck des prozessrechtlichen Leitbildes, die Verhandlung in einem mündlichen Verhandlungstermin abzuschließen, der durch ein schriftliches Vorverfahren oder einen frühen ersten Termin vorbereitet wird. Hinzu tritt der Urteilstermin.50 Ob es der für die Beteiligten immer mit Lasten verbundenen mündlichen Verhandlungen überhaupt als Regelfall bedarf, lässt sich bezweifeln. Ausnahmen hat der Gesetzgeber aber in § 128 Abs. 2 ZPO und eigens für das Bagatellverfahren (bis 600 Euro) nach § 495a ZPO vorgesehen, in dem das Gericht ein Verfahren nach billigem Ermessen durchführen kann.51 In Verfahren mit höherem Streitwert ist das Gericht aber grundsätzlich an die Mündlichkeit gebunden. Entscheidend für ein Fast-Track-Modell wäre, dass nach jeweils einmaligem Vortrag, ggf. mit einer Replik des Klägers, Entscheidungsreife anzunehmen wäre. Der Begriff der Entscheidungsreife ist in der ZPO nicht definiert, wird aber in § 300 ZPO vorausgesetzt. Gemeint ist, dass der Tatsachenstoff hinreichend geklärt ist und die Sach- und Rechtslage mit den Parteien erörtert wurde. Ob diese Erörterung „erschöpfend“ geschehen sein muss, scheint zweifelhaft, steht doch der Begriff der Entscheidungsreife – gerade in einem Modell, das auf die individuelle Legitimation durch die Parteien abstellt – un-

48

Vgl. Rauscher in: MüKo-ZPO, 2008, Einl. Rn. 298 ff. Vgl. Leipold in: Stein/Jonas, ZPO, 2005, vor § 128 Rn. 138 ff. 50 Vgl. zum „normalen Verlauf des Prozesses“ Jauernig, Zivilprozessrecht, 2007, S. 63 ff. 51 Kritisch Rottleuthner, NJW 1996, 2473 ff. mit bedenkenswerten empirischen Erhebungen zur Praxis des § 495a ZPO. Er sieht in der „Entformalisierung“ einen „Abbau des Rechtsstaats“ (S. 2477). 49

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ter dem Vorbehalt von Dispositions- und Verhandlungsmaxime.52 Überspannte Anforderungen sind an die Entscheidungsreife freilich nicht zu stellen – Hartmann weist darauf hin, wie sehr die Vorstellung von Entscheidungsreife abhängig ist von der jeweiligen Richterpersönlichkeit und deren Fähigkeit zu Zweifeln oder zu souveränen Entscheidungen.53 Summarische Würdigung: Für das Fast-Track-Modell sollte eine summarische Würdigung ausreichen. Der Begriff der summarischen Prüfung ist im geltenden Recht vor allem aus den einstweiligen Verfügungsverfahren bekannt, die in der Praxis in manchen Rechtsgebieten die Hauptsacheprüfung weitgehend verdrängt haben. Die summarische Beurteilung eines Rechtsfalls ist demnach keine zweitklassige Rechtsprechung, sondern als solche anerkannt. Im Lauterkeitsrecht beispielsweise kann die Rechtsordnung offenbar sehr gut damit leben, dass regelmäßig „nur“ im Wege summarischer Prüfungen entschieden wird – und sogar ohne Glaubhaftmachung, vgl. § 12 Abs. 2 UWG. Ausgangspunkt im geltenden Recht ist der Tatbestand der Glaubhaftmachung (§ 294 ZPO), die gem. § 920 Abs. 2 i.V.m. § 936 ZPO für den Erlass einer einstweiligen Verfügung ausreicht und in Kontrast zu dem Begriff der Überzeugung des Gerichts (§ 286 ZPO) steht. Der Begriff der Glaubhaftmachung betont, dass das Gericht dem Parteivortrag stärker vertrauen darf als es bei dem gesunden richterlichen Misstrauen in einem längeren Verfahren der Fall sein sollte. Auch hier hat also die individuelle Legitimation des Urteils besonderes Gewicht. Beweiswürdigungen sind regelmäßig nicht erforderlich, der Sachverhalt ist vielmehr nur „summarisch“, also in geraffter Form („eingeschränkte Schlüssigkeitsprüfung“, „geringere Wahrscheinlichkeit“)54 zu prüfen. Ob auch Rechtsfragen summarisch beurteilt werden dürfen, ist umstritten.55 In der Praxis dürfte in der überwiegenden Zahl dieser Fälle das Problem keine Rolle spielen, insbesondere wenn es, wie bei der Energiepreisrechtsprechung, um Massenverfahren geht, in denen sich für das Gericht immer dieselben Fragen stellen. Reduzierung bürokratischer Pflichten: Da das Fast-Track-Modell frei sein soll von allen bürokratischen Lasten – einer archaischen Vorstellung der richterlichen Tätigkeit folgend –, sollen bürokratische Pflichten minimiert werden. Dieses Anliegen verfolgt auch der ZPO-Gesetzgeber, wenn er in § 495a ZPO für Bagatellverfahren dem Richter völlig freie Hand lässt oder die Pflicht, Tatbestand und Begründung zu formulieren, in § 313a Abs. 1 ZPO entfallen lässt. Hier mag dahinstehen, ob der Gesetzgeber nicht über das Ziel hinausgeschossen hat.56 Relevant ist nur, dass es im geltenden Recht Ein52

Vgl. Musielak in: Musielak, ZPO Kommentar, 2012, § 300 Rn. 8. Vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 2012, § 300 Rn. 2. 54 Vollkommer in: Zöller, ZPO, 2012, § 922 Rn. 6. 55 Dafür: Vollkommer in: Zöller, ZPO, 2012, § 922 Rn. 6 m.w.N.; dagegen Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 2012, § 920 Rn. 11 m.w.N. 56 Siehe dazu schon oben. Vgl. Leipold in: Stein/Jonas, ZPO, 2008, § 313a Rn. 1 ff. 53

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schränkungen der jeweiligen Pflichten gibt. Zusätzlich müssten die Protokollpflichten nach §§ 159 ff. ZPO verringert werden. Zu beachten ist, dass es durch die Informationstechnologie Möglichkeiten gibt, die bürokratische Last (oder etwa auch die Präsenzpflichten der Personen) erheblich zu reduzieren. Ein modernes Fast-Track-Verfahren würde an solche Möglichkeiten anknüpfen. Einschränkung von Beschwerdemöglichkeiten: Der Gesetzgeber hat in der Vergangenheit immer wieder die Beschwerdemöglichkeiten der Parteien gegen erstinstanzliche Verfahren reformiert, um die Belastung der Folgeinstanzen zu senken. So wurde mit der ZPO-Reform 2002 die Möglichkeit geschaffen, Berufungen durch unanfechtbaren Beschluss ohne mündliche Verhandlung zurückzuweisen (§ 522 ZPO a.F.); diese Änderung wurde 2011 wieder rückgängig gemacht (§ 522 ZPO n.F.). Da der Instanzenzug nicht grundgesetzlich garantiert ist, wäre es jedenfalls unproblematisch an die Beschränkung des Berufungsrechts anzuknüpfen und für Verfahren aus dem Fast-Track-Modell auch die Möglichkeit der ausdrücklichen Berufungszulassung auszuschließen. Geringe Kosten: Schließlich müsste eine Kostenregelung gefunden werden, die einerseits die querulatorische Befassung von Gerichten mit Fast-TrackVerfahren ausschließt, andererseits aber jedermann Zugang zu einem raschen Justizverfahren ermöglicht.57 Dieser Überblick über die vorhandenen Anknüpfungspunkte in der ZPO belegt, dass das Fast-Track-Modell kein außergewöhnliches Novum in der ZPO darstellen würde. Es wäre lediglich die konsequente Vollendung von Verfahrensmaximen, die bereits jetzt teilweise umgesetzt sind. Der individuellen Legitimation der Rechtsprechung würde mit einem solchen Entscheidungspfad Rechnung getragen.

3. Existierende „Fast-Track-Modelle“ Wie gesehen bietet die ZPO etwa in § 495a oder durch das Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz Ansätze für Fast-Track-Prozeduren. Schon die weitgehende Zuständigkeit des Einzelrichters (vgl. §§ 348, 348a ZPO) weist in die Richtung eines solchen Modells. Doch es gibt in der Praxis noch weitergehende Annäherungen an ein FastTrack-Modell. Besonders bemerkenswert ist, dass für die hier analysierten Energiepreiskontrollverfahren zum 1.11.2011, wie in Kapitel 4 dargelegt, eine Schlich57 Vgl. als innovative Lösung die Arbeit mit dem Streitwert durch Gerichte, z.B. bei Verbraucherschutzverbänden, siehe OLG Frankfurt, 8.11.2011, Az. 6 W 91/11, BeckRS 2011, 28685 = GRUR-Prax 2012, 47 m. Anm. Danckwerts; BGH, 17.3.2011, Az. I ZR 183/09, IP-Report 2011, 127 m. Anm. Lubberger.

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tungsstelle eingerichtet wurde, der ein Ombudsmann vorsteht. Die Einrichtung einer solchen Schlichtungsstelle ist die logische Konsequenz aus dem Versagen der Justiz in den Energiepreiskontrollfällen. In der Verfahrens- und Kostenordnung58 werden mehrere Aspekte eines Fast-Track-Modells aufgegriffen: Die Beschwerde ist für den Verbraucher – außer in Fällen der Missbräuchlichkeit – kostenlos. § 3 Abs. 2 der Verfahrensordnung statuiert die Anforderungen, die an die Verbraucherbeschwerde gestellt werden, ein OnlineFormular leistet praktisch entsprechende Hilfe. § 6 Abs. 2 sieht ein rein schriftliches Verfahren vor. Die Verfahrensvorschriften fallen insgesamt sehr knapp aus, allerdings ist der Ombudsmann nicht in selber Form wie im gerichtlichen Verfahren an Vorbringen oder Anträge der Parteien gebunden. Die Verfahrensdauer soll drei Monate nicht überschreiten (§ 6 Abs. 3), bei mehreren gleichgelagerten Fällen kann ein Fall vorgezogen werden und das Ruhen der übrigen erklärt werden. Die Frist zur Stellungnahme für den Energieversorger nach Beschwerdeeingang beträgt zwei Wochen (§ 7), was belegt, dass solche knapp gesetzten Fristen offenbar möglich scheinen. Die Verfahrensordnung der Schlichtungsstelle enthält damit mehrere Verbindungspunkte, die eine rasche, günstige und eindeutige Entscheidung ermöglichen, auch wenn der Ombudsmann nur unverbindliche Empfehlungen ausspricht. Die Praxis muss sich freilich noch entwickeln. Die erste vom Ombudsmann gegebene Empfehlung59 erinnerte in ihrer akribischen Auswertung bislang ergangener Rechtsprechung mehr an ein BGH-Urteil als an einen entformalisierten Schlichterspruch. Das hat sich mit weiteren Empfehlungen allerdings hin zu einem pragmatischen Ansatz verändert. Ein Wermutstropfen ist, dass gleich die erste Empfehlung vom Energieversorger nicht angenommen wurde. Dennoch repräsentiert die Schlichtungsstelle eine – wiederum außergerichtliche – Möglichkeit, Konfliktlösung in schneller, günstiger und eindeutiger Form zu organisieren. Sie ist freilich auf die Kooperation der Beteiligten in starker Form angewiesen und wäre ohne die finanzielle und organisatorische Beteiligung der Energieversorgungsunternehmen nicht denkbar. Wo ein solcher Wille (hier auch durch das EnWG gefördert) fehlt, sind die Parteien auf das staatliche Instrumentarium angewiesen, in dem ein ähnlicher Mechanismus fehlt. Für das Fast-Track-Modell ist die Schlichtung jedenfalls ein Vorbild. Auch in anderen Branchen existieren erfolgreiche Schlichtungsmodelle.60 Die zugrundeliegenden Überlegungen der Europäischen Kommission zu einer alter-

58 Verfahrensordnung des Vereins Schlichtungsstelle Energie e.V., 19.9.2011 sowie Kostenordnung des Vereins, 19.9.2011, abrufbar unter www.schlichtungsstelle-energie.de. 59 Empfehlung vom 30.12.2011, abrufbar unter www.schlichtungsstelle-energie.de. 60 Vgl. Brömmelmeyer, WM 2012, 337 ff.

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nativen Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten können hier gleichfalls fruchtbar gemacht werden.61 Erwähnenswert ist schließlich das auf der Bagatellverordnung basierende europäische Verfahren für geringfügige Forderungen (European Small Claims Procedure), das die grenzüberschreitende Abwicklung von Zivilverfahren mit geringfügigen Forderungen zum Gegenstand hat.62 Geringfügig sind demnach Forderungen unter 2000 Euro, für die erleichterte Durchsetzungs- und Vollstreckungsmöglichkeiten vorgesehen werden. Über die Annahme der vorgesehenen erleichterten Durchsetzungsmöglichkeiten liegen noch keine Erkenntnisse vor; einen Bericht wird die Kommission 2014 erstatten. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass sowohl der Gesetzgeber der ZPO als auch der europäische Gesetzgeber und die Praxis in verschiedenen Branchen Ansätze geschaffen haben, die mit dem hier vorgeschlagenen Fast-Track-Modell der gerichtlichen Konfliktlösung große Gemeinsamkeiten aufweisen. Eine kompakte Umsetzung eines solchen Modells würde sich in diese Strukturen des Verfahrensrechts einfügen und zahlreiche der offenbar gewordenen Schwierigkeiten bei der zivilgerichtlichen Bearbeitung wirtschaftsrechtlicher Streitigkeiten auflösen. Als dogmatische Beobachtung für das Zivilverfahrensrecht lässt sich an dieser Stelle auf das Legitimationsmodell der Rechtsprechung zurückgreifen. Die hier identifizierten Normen der ZPO und außergerichtlicher Streitbeilegungsmodelle sind als Ausdruck einer Ordnungsvorstellung zu lesen, welche die individuelle Legitimation der Rechtsprechung betont. Das Legitimationsmodell ist flexibel angelegt und kann je nach Konstellation einen der vier Legitimationspfeiler stärker belasten als andere. Für die Auslegung der entsprechenden Normen ist dann zu berücksichtigen, dass das individuelle Interesse an Konfliktlösung in den Vordergrund gerückt wird und zugleich eine Spannung zu den institutionellen Legitimationsmechanismen der Streitentscheidung entsteht. Der Gesetzgeber hat in den verschiedenen Normen genau dies erkannt, auch wenn erst in einer Gesamtschau, wie hier vorgenommen, sichtbar wird, in welchem Ausmaß bereits die Möglichkeiten gegeben sind, das Zivilverfahren zu entformalisieren. Im Zusammenhang betrachtet ergibt sich hier der Ausgleich zu anderen Elementen der Verfahrensordnung, die eher starr sind. Der Gesetzgeber hat also bereits die Notwendigkeit eines „fast track“ aner61 Vgl. KOM, Mitteilung über Alternative Verfahren zur Beilegung von Verbraucherstreitigkeiten im Binnenmarkt, 29.11.2011, KOM(2011) 791 endg. mit Richtlinienvorschlag (KOM(2011) 793 endg.); siehe schon KOM, Grünbuch über alternative Verfahren zur Streitbeilegung im Zivil- und Handelsrecht, 19.4.2002, KOM(2002) 196 endg.; Isermann/Berlin, VuR 2012, 47 ff.; grundlegend Hess, ZZP 118 (2005), 427 ff. 62 VO 861/2007, in Kraft seit 1.1.2009 (mit Ausnahme Dänemarks). Dazu Gsell, EuZW 2011, 87 ff.; Mayer/Lindemann/Haibach, Small Claims Verordnung, 2009; Kern, JZ 2012, 389 ff.

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kannt. Er hat es allerdings unterlassen, seine Vorstellung zu bündeln und für bestimmte Verfahren gezielt zuzuweisen. Ihm fehlte es an der Bereitschaft, für bestimmte Verfahren einseitig einen Legitimationspfeiler zu wählen. Die Differenzierung nach verschiedenen Verfahrenspfaden würde hier zu einer konsistenten Anwendungsmöglichkeit führen. Die Chancen dazu bestehen nicht zuletzt, da auch der Verfahrensgesetzgeber immer wieder unter dem Druck steht, das Verfahren zeitgemäß zu halten. Er muss Widersprüche, die zu tatsächlichen Entwicklungen entstehen, durch Innovationen auflösen – er handelt also evolutionär. Dass Widersprüche zwischen Erwartungen der Akteure und dem geltenden Recht bestehen, hat die Rechtsprechungsanalyse hinreichend erwiesen.

II. Muster-Modell Als zweites Verfahrensmodell wird ein Musterverfahren vorgeschlagen. Hintergrund dieses Vorschlags ist die Parallelität von Verfahren wie den Post-Verletzungsverfahren oder den Massenverfahren in der Energiewirtschaft. Anstelle zahlloser paralleler Verfahren, was zuweilen Missbräuche erlaubt, wäre es wünschenswert, ein Musterverfahren zu etablieren, das für mehrere gleichartige Anliegen ein effizientes Verfahren zur Verfügung stellt. Der BGH hat den Versuch des LG Hamburg, eine Musterwirkung für die anhängigen Gaspreisfälle über eine Aussetzung bis zum Abschluss von anderen derartigen Verfahren analog § 148 ZPO, wie gesehen, zurückgewiesen. Hier besteht Handlungsbedarf.

1. Prinzipien So wie das Fast-Track-Modell die individuelle Legitimation der Rechtsprechung betont, würde für das Muster-Modell die institutionelle Legitimation überwiegen. Erreicht werden soll nicht primär eine Konfliktschlichtung zwischen den konkreten Parteien, sondern eine Befriedung des im Wirtschaftsverkehr brodelnden Konflikts (funktionale Komponente) unter besonderer Berücksichtigung der Wertordnung des Gesetzes und der Systemgrundlagen der Privatrechtsordnung (materielle Komponente). Das Muster-Modell müsste eine umfassende sachliche und rechtliche Bestandsaufnahme zu der verhandelten Thematik leisten und in seiner Lösung darauf ausgerichtet sein, gleichartige Verfahren von Anfang nicht entstehen zu lassen oder, soweit sie bereits anhängig gemacht worden sind, zu präjudizieren. In der Entscheidung müsste die gesamte Komplexität des Konflikts abgebildet werden, ggf. unabhängig von einzelnen Details des jeweils konkreten Vortrags. Angestrebt würde also die Durchführung eines Grundsatzverfahrens.

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Ein solches Verfahren müsste die folgenden Maximen verwirklichen: – Der Sachverhalt wird umfassend ermittelt, ggf. auch durch Eigentätigkeit des Gerichts. – Die kollektive Geltendmachung von Ansprüchen wird erleichtert. – Ökonomischer Sachverstand wird eingebunden, um die Folgen für die verschiedenen Betroffenen, die Branche insgesamt und die Systemgrundlagen der Privatrechtsordnung abzuschätzen. – Eine Überprüfung durch eine weitere Instanz ist möglich. – Die Entscheidung ist ausführlich zu begründen. – Die Entscheidung kann für andere, ähnliche Verfahren bestimmte Wirkungen entfalten. – Die Entscheidung muss nicht eindeutig sein, sondern kann verschiedene Lösungsmöglichkeit anbieten oder Kriterien für eine Fortentwicklung benennen. Angestrebt wird, wie sich aus der Zusammenschau dieser Maximen ergibt, folglich ein großes Grundsatzverfahren unter Beteiligung der relevanten Kreise, in dem es nicht so sehr um das konkrete Verfahren geht, das dem Fall zugrunde liegt, sondern um die Entwicklung der Rechtslage für die zugrundeliegende Konfliktproblematik. Es handelt sich damit im Prinzip um eine Kombination von umfassendem Diskurs und Entscheidung. Ein solches Verfahren erzielt eine breitere Regulierungswirkung als ein normales Gerichtsverfahren. Um nicht die Deregulierung auf diesem Wege wieder in eine Regulierung zu überführen, ist jedoch darauf zu achten, dass die wesentlichen Kennzeichen des Zivilprozesses gewahrt bleiben. In der Beschäftigung mit der evolutionären Theorie wurde auch deutlich, dass die Innovationskraft der Rechtsprechung entscheidend von häufiger Befassung und diversen Pfaden abhängt. Die Dynamik vieler verschiedener Rechtsprozesse hält die Wirtschaftsordnung aktuell und in einem funktionierenden Wechselspiel mit den Akteuren, die sich an der Wirtschaftsordnung ausrichten, aber auch reiben und diese dadurch zu Adaptionen zwingen. Dieser Vorteil der Gerichtspraxis sollte auch bei der Einführung von Musterverfahren gewahrt bleiben, damit es nicht zu Erstarrungen kommt, die nur schwer aufzubrechen sind – man denke an die Rechtsprechung zum Direktmarketing, deren Präzedenzfälle aus den 1960er Jahren stammten. Fragen werfen vor allem die letzten zwei Maximen noch auf: Wie kann aus einem Muster-Modell heraus eine Wirkung für andere Verfahren erzielt werden? Dafür sind verschiedene Ansatzpunkte im geltenden Recht vorhanden. Die letzte Maxime des Muster-Modells dient der Dynamik. Würde sich die Rechtsprechung von der formalen Eindeutigkeit ihrer Konfliktentscheidung lösen und verschiedene Lösungswege aufzeigen, wäre dies für nachfolgend entscheidende Instanzen möglicherweise hilfreicher als Festlegungen, von denen sich spätere Richter aufwändig differenzieren müssten, wenn ihr Fall doch

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nicht dazu passt. Die Wirkung der Entscheidung dürfte Fortentwicklungen nicht unmöglich machen, sondern sollte diese erleichtern. Denkbar wäre etwa, dass Gerichte, die nachfolgend ähnliche Sachverhalte zu entscheiden haben, in mehreren Punkten auf die Muster-Entscheidung verweisen könnten und sich nur in einem Punkt abgrenzen müssten. In den Post-Verletzungsverfahren hätte ein solches Vorgehen zahlreiche Ausführungen in den Urteilen erspart. Die Erhebung einer Klage in einem gerichtlichen Musterverfahren wäre von bestimmten Voraussetzungen abhängig zu machen. Nicht geeignet für die Führung eines solchen Prozesses wäre ein individueller Kläger, der lediglich seine Forderung durchsetzen will, ohne damit einen weitergehenden Anspruch für die Ordnung der Wirtschaft formulieren zu wollen. Gut geeignet wäre ein solches Modell hingegen für institutionelle Kläger, beispielsweise Verbraucherverbände und andere qualifizierte Einrichtungen, oder „Sammelkläger“ wie die sog. „Gaspreisrebellen“, die sich zur kollektiven Geltendmachung von Ansprüchen entschieden haben und die dabei auch eine institutionelle Legitimation der von ihnen erstrittenen Urteile anstreben. Denkbar wäre aber auch, die Initiative Gerichten zu überlassen, etwa wenn diese merken, dass sie von einer Welle gleichartiger Verfahren erreicht werden, oder Organisationen wie der Monopolkommission, die wirtschaftliche Entwicklungen wahrnimmt, die sowohl die Akteure als auch systemische Grundlagen der Marktwirtschaft unmittelbar betreffen. In den hier besprochenen Beispielsfällen hat sich die Monopolkommission teilweise relativ frühzeitig zu Wort gemeldet und Fehlentwicklungen in der Nutzung der Zivilgerichtsbarkeit durch die etablierten Betreiber thematisiert. Möglicherweise hätte die Monopolkommission hier mit einem gerichtlichen Initiativrecht erfolgreicher einschreiten können als mit einem Gutachten.

2. Anknüpfungspunkte im geltenden Verfahrensrecht Im geltenden Verfahrensrecht ist nicht nur das KapMuG ein Beispiel für die Anerkennung von Maximen, die hier postuliert werden. Der Gesetzgeber hat einige der Aspekte bereits aufgegriffen, wenn auch – wie beim Fast-Track-Modell – nicht in einer zentralen Bündelung und zum Teil in schlichter Fortschreibung der Zivilprozessordnung, die als Kodifikation von 1877 eine große Tradition hat.63 Einige dieser Ansatzpunkte können aufgezeigt werden, um die Anschlussfähigkeit des Muster-Modells zu belegen, um das Verständnis für dieses zu erhöhen und um eine institutionell legitimierte Lesart der entsprechenden Vorschriften des geltenden Rechts anzubieten.64 Umfassende Sachverhaltsermittlung: In einem Grundsatzverfahren kann es nicht allein von den Parteien abhängen, ob alle relevanten Sachverhaltsaspekte 63 64

Vgl. zum Fortwirken dieser Tradition Brehm in: Stein/Jonas, ZPO, 2003, vor § 1 Rn. 127. Vgl. die Auswertung von Möllers/Pregler, ZHR 176 (2012), 144 ff.

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ermittelt werden. Der Beibringungsgrundsatz stößt an Grenzen, wenn eine Wirkung für andere Verfahren und Parteien erzielt werden soll.65 Da der Beibringungsgrundsatz zentral für das Wesen des Zivilprozesses ist, sind die Ausnahmen jedoch relativ eng begrenzt. Der Untersuchungsgrundsatz gilt beispielsweise in familienrechtlichen Verfahren, da „das öffentliche Interesse an einer vollständigen Sachverhaltsaufklärung überwiegt.“66 In der Praxis erhält der Beibringungsgrundsatz Einschränkungen durch die materielle Prozessleitung (§ 139 ZPO), als deren wichtigster praktischer Anwendungsfall der Hinweis auf Ergänzung ungenügenden Tatsachenvortrags gilt.67 Die starke Stellung des Beibringungsgrundsatzes mahnt aber dazu, auch in einem MusterModell nicht zu weitgehend von der Sach- und Interessendarstellung der Betroffenen abzuweichen. Kollektiver Rechtsschutz: Für die kollektive Geltendmachung von Ansprüchen, also die Verbindung von Anspruchstellern mit gleichartigen Prozesszielen in einem Verfahren, sind im geltenden Recht verschiedene Ansatzpunkte gegeben. Das traditionelle Instrument ist die Streitgenossenschaft nach §§ 59 ff. ZPO, die jedoch praktische Schwierigkeiten aufwirft.68 Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die Prozessstandschaft.69 Verbände und qualifizierte Einrichtungen sind nach verschiedenen Normen mit besonderen Befugnissen ausgestattet, etwa nach § 79 Abs. 2 Nr. 3 ZPO, dem UKlaG, § 8 Abs. 3 UWG oder § 33 Abs. 2 GWB. Sammelklagen nach amerikanischem Vorbild („class actions“) sind im deutschen Recht zwar nicht vorgesehen, mit einer Reihe von Hilfskonstruktionen können aber bestimmte Rechte mehrerer Kläger geltend gemacht werden, wie etwa bei dem Schadensersatzprozess von Abnehmern eines Zementkartells, in dem eine belgische Aktiengesellschaft sich die Ansprüche hat abtreten lassen.70 BGB-Gesellschaften können ebenfalls zur Bündelung von Interessen in Prozessen eingesetzt werden.71 § 147 ZPO ermöglicht die Verbindung mehrerer Prozesse, verlangt aber einen „rechtlichen Zusammenhang“ i.S.d. § 33 ZPO und eine Anhängigkeit beim selben Gericht. Die Schwierigkeiten einer Aussetzung nach § 148 ZPO zwecks Abwartens eines anderen Prozessausgangs wurden bereits im Rahmen der Energiepreiskontrolle erörtert. Einbindung ökonomischen Sachverstands. Ziel der Einbindung ökonomischen Sachverstands ist, dass die Interessen der Beteiligten besser ökonomisch durchdrungen werden können, dass aber auch institutionelle Gesichtspunkte 65

Vgl. kritisch Pörnbacher/Suchomel, NJW 2010, 3202 ff. Rauscher in: MüKo-ZPO, 2008, Einl. Rn. 308. 67 Vgl. Wagner in: MüKo-ZPO, 2008, § 139 Rn. 22 f. 68 Vgl. Vollkommer in: Zöller, ZPO, 2012, Anhang § 77 Rn. 1; Monopolkommission, Strom & Gas 2007, 2007, Ziff. 420; Hess, JZ 2011, 66 ff. 69 Musielak in: Musielak, ZPO Kommentar, 2012, § 325 Rn. 21 f. 70 BGH, 7.4.2009, Az. KZR 42/08, GRUR 2009, 892. 71 Vgl. Mann, ZIP 2011, 2393 ff. zu BGH, 12.4.2011, Az. II ZR 197/09, ZIP 2011, 1202. 66

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gewürdigt werden können. Richter würdigen derzeit die ökonomischen Interessen der Parteien meist mit ihrem eigenen Sachverstand; volkswirtschaftliche Erwägungen, Branchenfolgen und die Systemgrundlagen der Marktwirtschaft spielen für die Entscheidungsfindung regelmäßig keine Rolle. Allerdings gibt es im geltenden Recht die Möglichkeit, Sachverständige zu bestellen, die wirtschaftliche Zusammenhänge erläutern können (vgl. § 144 ZPO). Für das Bundeskartellamt ist in Kartellzivilsachen eine Stellung als „amicus curiae“ gemäß § 90 Abs. 2 GWB vorgesehen, d.h. dass sich die Behörde im Sinne des „öffentlichen Interesses“ an solchen Verfahren beteiligen darf. Dabei ist festzuhalten, dass das vom Bundeskartellamt vertretene Wettbewerbsprinzip ein auch für die Privatrechtsordnung systemrelevantes Interesse repräsentiert. Die Kammern für Handelssachen bei den Landgerichten werden gem. §§ 108, 109 GVG teilweise mit ehrenamtlichen Richtern besetzt, die auf Vorschlag der Industrie- und Handelskammern benannt werden und ihren beruflichen Sachverstand einbringen sollen. Überprüfungsmöglichkeit. Eine Einschränkung des Instanzenzugs oder der Beschwerdemöglichkeiten ist im Muster-Modell nicht angestrebt. Eventuelle Einschränkungen des Berufungs- oder Revisionsrechts wären im Gegenteil gerade aufzuheben. Durch die Befassung eines weiteren Gerichts mit der Konfliktkonstellation besteht die Chance einer weiteren Fortentwicklung im selben Fall aufgrund der erhöhten Häufigkeit der Entscheidung, der Diversität der Zugänge und der Prägung der Richterschaft. Nur am Rande sei hier bemerkt, dass das Postulat einer Verkürzung von Verfahrensdauern natürlich auch im Muster-Modell gilt. Die Beschleunigungsmöglichkeiten, die bereits angesprochen wurden, sollten auch für naturgemäß länger dauernde Grundsatzentscheidungen aktiviert werden. Begründung. Die Entscheidung ist ausführlich zu begründen, so wie es als Regelfall des § 313 Abs. 1 ZPO vorgesehen ist. Die Begründung sollte dabei den Rahmen von Abs. 3 gegebenenfalls überschreiten, um Sach- und Rechtsfragen erschöpfend zu erörtern. Wirkung für weitere Verfahren. Eine besondere Herausforderung für das Muster-Modell ist die Wirkung für weitere Verfahren. Grundsätzlich gilt nach §§ 322, 325 ZPO, dass die getroffene Entscheidung Rechtskraft nur für den entschiedenen Anspruch und zwischen den beteiligten Parteien entfalten kann. Sinn eines Muster-Modells wäre hingegen gerade, Wirkungen auch für andere, ähnliche Verfahren zu bewirken. Hierzu bietet das geltende Recht bereits verschiedene Anknüpfungspunkte: § 325 Abs. 1 ZPO selbst kennt die Rechtskrafterstreckung auf den Rechtsnachfolger. Zusätzlich haben sich zahlreiche Fallgruppen der Rechtskrafterstreckung etabliert, etwa die Rechtskraftbindung bei Prozessstandschaft oder kraft Gesetzes.72 Denkbar wären aber 72

Überblick bei Gottwald in: MüKo-ZPO, 2008, § 325 Rn. 2 ff.; Vollkommer in: Zöller, ZPO, 2012, § 325 Rn. 28 ff.

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auch andere Modelle der Bindung, etwa in Form von Bindungswirkungen wie sie im Kartellrecht für zivilrechtliche Schadensersatzprozesse nach kartellbehördlichen Verfahren vorgesehen sind (§ 33 Abs. 4 GWB). Die Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG, mit der ein Tarifvertrag auf Anordnung eines Bundesministeriums auf eine gesamte Branche ausgedehnt wird, ist ebenfalls eine Durchbrechung der Geltung nur zwischen den Parteien. Die Durchbrechung des Rechtskraftprinzips existiert also an verschiedenen Stellen. Offene Entscheidung. Die ZPO geht davon aus, dass ein Gericht eine eindeutige Entscheidung fällt, die aus dem Tenor, der Urteilsformel im Sinne des § 313 Abs. 1 Nr. 4 ZPO, hervorgeht. Für das Aufzeigen verschiedener Lösungswege ist die Rechtsprechung bislang nicht vorgebildet, da die Vollstreckungsfähigkeit gerade das Urteil auszeichnet und dieser Begriff mit widersprüchlichen oder divergierenden Entscheidungen schwer in Einklang zu bringen ist. Für das Muster-Modell wäre allerdings durchaus denkbar, unterschiedliche Lösungswege aufzuzeigen, um nachfolgend richtenden Spruchkörpern eine Auswahl zu geben und die Möglichkeit, Anpassungen an den jeweiligen Sachverhalt vorzunehmen. Eine Parallelität könnte in den abweichenden Voten bei Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen nach § 30 Abs. 2 BVerfGG gesehen werden, die das Beratungsgeheimnis des § 43 DRiG durchbrechen. Die Offenlegung unterschiedlicher Ansichten innerhalb eines Gerichts könnte für Folgeverfahren eine wichtige Rolle spielen und Anknüpfungspunkte bieten, sodass ein Systembruch verhindert wird. Ansätze zu Musterverfahren sind im geltenden Recht weniger ausgeprägt als Ansätze für Bagatellverfahren. Der Einzelfallbezug der Rechtsprechung, der schon in der Rechtsprechungsanalyse offenbar wurde, prägt auch die gesetzlichen Vorgaben. Das gesetzgeberische Leitbild ist nicht darauf ausgerichtet, institutionelle Aspekte – also Befriedung, Wertordnung, Systemgrundlagen – in einem streitgegenstandsübergreifenden Sinn zu behandeln. Immerhin liefern aber §§ 543 Abs. 2 und 574 Abs. 2 ZPO einen Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber zumindest bei Revisionen zum BGH davon ausgeht, dass Entscheidungen getroffen werden können, die grundsätzliche Bedeutung haben oder das Recht fortbilden. Nach der Regierungsbegründung zur ZPO-Reform sollte mit diesen Normen gerade eine Möglichkeit geschaffen werden, „Modell- oder Musterprozesse“ sowie Rechtssachen von hohem Interesse für die Allgemeinheit vor den BGH zu bringen.73 Das entsprechende Bedürfnis hat der Gesetzgeber also erkannt, wenn auch die Regelungen rudimentär blieben. Dennoch kann das BGH-Verfahren mit ausführlichen Begründungen, spezialisierten Senaten und einer großen Breitenwirkung insbesondere in den Fällen, die wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung oder zur Fortbildung des 73

Vgl. Regierungsbegründung vom 24.11.2000, ZPO-Reformgesetz, BT-Drucks. 14/4722, S. 104 f.

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Rechts zugelassen wurden, den Charakter eines Musterverfahrens annehmen. Die Rechtsprechungsanalyse hat aber auch ergeben, dass diese Verfahren noch nicht die an ein Muster-Modell geknüpften Erwartungen erfüllen, insbesondere die Präventivfunktion nicht erreichen.

3. Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz und kollektive Rechtsdurchsetzung Die offenkundigen Schwierigkeiten mit Massenverfahren und der Wunsch des Gesetzgebers, die private Rechtsdurchsetzung auch im öffentlichen Interesse zu stärken, hat zu Gesetzgebungsprojekten geführt, die wesentliche Aspekte des Muster-Modells aufgreifen: In Deutschland wurde 2005 das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) erlassen, das 2012 neu gefasst wurde. Im KapMuG geht es vor allem um den Aspekt der Interessenbündelung und Bindungswirkung einer Entscheidung für zahlreiche weitere Verfahren.74 Auf europäischer Ebene bemüht sich die Kommission um Regelungen zur kollektiven Rechtsdurchsetzung. Hier steht die Bündelung von Anspruchstellern in Schadensersatzverfahren im Vordergrund. Beide Gesetzgebungsprojekte, die Neufassung des KapMuG sowie der Entwurf einer Richtlinie zum „collective redress“, sind Beispiele für die Reformanstrengungen im Zivilrecht, die verschiedene Pfade eröffnen. a) Kapitalanlegerschutz Der Gesetzgeber hat mit dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) eine erste Regelung für ein echtes Musterverfahren getroffen, das für einen eng bestimmten Bereich des Finanzrechts ein spezielles Musterverfahren zulässt. Auslöser der Gesetzgebung waren die massenhaften Klagen gegen die Telekom, die bei ihrem dritten Börsengang viele Anleger durch einen rapiden Verfall des Aktienkurses nach Ausgabe enttäuscht hatte. Die Investoren, darunter viele Kleinanleger, versuchten daraufhin, die Deutsche Telekom AG wegen Prospekthaftung in Anspruch zu nehmen. Dies führte dazu, dass das gemäß § 48 BörsenG zuständige LG Frankfurt allein im Jahr 2003 mit 1.700 derartigen Klagen konfrontiert war.75 2005 erließ der Gesetzgeber das KapMuG, in dessen Gesetzesbegründung der Gesetzgeber mit den Unzulänglichkeiten der ZPO zur Bewältigung von kollektiven Klagen und Massenverfahren argumentierte.76 Da diese Defizite nicht nur im Kapitalmarktrecht auftreten, kann das KapMuG legitimerweise als Muster eines Musterverfahrens angesehen werden. Das Gesetz greift bei mindestens zehn 74 75 76

Vgl. Wolf/Lange in: Vorwerk/Wolf, KapMuG, 2007, Einl. Rn. 1, 43. Vgl. Lüke, ZZP 119 (2006), 131, 135 f. Vgl. Regierungsbegründung, 14.3.2005, BT-Drucks. 15/5091, S. 1, 13 ff.

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gleichgerichteten Verfahren77 in Fällen, die im Anwendungsbereich (§ 1 KapMuG) liegen. Wird bei einem Ausgangsgericht Antrag auf Musterentscheid nach § 2 KapMuG gestellt, wird der Antrag im Klageregister veröffentlicht (§ 4) und das Verfahren unterbrochen (§ 5). Werden innerhalb von sechs Monaten mindestens neun weitere gleichartige Anträge (ggf. von anderen Gerichten kommend) gestellt, legt das Ausgangsgericht nach § 6 dem übergeordneten OLG den Fall vor. Das OLG führt sodann ein Musterverfahren mit Musterklägern und weiteren Beteiligten (§ 9) nach §§ 10 ff. durch, das mit einem Musterentscheid (§ 16) endet und währenddessen das ursprüngliche Verfahren gem. § 8 ausgesetzt wird. Die Feststellungen des OLG im Musterentscheid sind bindend für die sodann erfolgende Fortsetzung der individuellen Prozesse bei der Ausgangsinstanz (§ 22).78 Diese entscheidet nunmehr unter Berücksichtigung des Musterentscheids die individuellen Fälle. Dieses Verfahren entspricht in mehreren Aspekten, insbesondere bezüglich der Bindungswirkung, den hier vorgestellten Maximen eines Musterverfahrens. Die praktischen Erfahrungen mit dem KapMuG sind jedoch bislang ernüchternd. Der im Jahr 2000 begonnene Prozess, für den das KapMuG ursprünglich erlassen wurde und der die Schadensersatzforderungen von inzwischen 17 000 Telekom-Klägern betrifft, ist erst 2012 vom OLG Frankfurt entschieden worden79 und nach einer Rechtsbeschwerde zum BGH80 wieder beim LG Frankfurt anhängig81. Das KapMuG ist in der rechtswissenschaftlichen Literatur differenziert beurteilt worden, wobei die Auffassung vorherrscht, dass das Gesetz erforderlich, aber verbesserungsbedürftig ist.82 Der Grundfehler scheint darin zu liegen, dass der Gesetzgeber an einer individuellen Legitimation des Prozesses letztlich festhalten wollte.83 Konsequent wäre gewesen, die institutionelle Legitimation eines entsprechenden Urteils in den Vordergrund zu rücken, auch wenn dies zu Lasten der individuellen Legitimation der Rechtsprechung gegangen wäre. Zudem stößt auch das Musterverfahren bei seiner Handhabung durch die Gerichte auf die bei diesen angelegten Grundprobleme, etwa die wenig zeitkritische Handhabung von Fällen. Durch die Neuregelung84 hat das 77

Vgl. § 6 Abs. 1 KapMuG. Zur Bindungswirkung Gebauer, ZZP 110 (2006), 159 ff.; Lüke, ZZP 119 (2006), 131, 142 ff. 79 OLG Frankfurt/Main, 16.5.2012, Az. 23 Kap 1/06, ZIP 2012, 1236. 80 BGH, 2.10.2012, Az. XI ZB 12/2012, NJW-RR 2013, 235. 81 LG Frankfurt/Main, Az. 7 OH 1/06. 82 Eher positiv Tamm, ZHR 174 (2010), 525, 555; Vorwerk, WM 2011, 817 ff.; eher kritisch Stackmann, NJW 2010, 3185 ff.; Pörnbacher/Suchomel, NJW 2010, 3202, 3203. 83 Vgl. Wolf/Lange in: Vorwerk/Wolf, KapMuG, 2007, Einl. Rn. 4 f.; sowie Lüke, ZZP 119 (2006), 131, 158, und Hess, JZ 2011, 66, 71, die dies freilich positiv bewerten. 84 Vgl. Schneider/Heppner, BB 2012, 2703 ff. Zum Referentenentwurf Halfmeier, ZIP 2011, 1900 ff.; Rotter, VuR 2011, 443; Tilp, VuR 2012, 282 ff. 78

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Gesetz eine gewisse Straffung und Vereinfachung erfahren, die Möglichkeit zur gütlichen Einigung (und damit eine privatrechtliche Lösung unter Verzicht auf die Durchsetzung hoheitlicher Regelungsansprüche) wurde gestärkt. Eine Ausdehnung auf weitere Massenverfahren außerhalb des Kapitalmarktrechts ist unterblieben. Das Gesetz ist auch nach seiner Neufassung mit einer Sunset-Klausel zum 1.11.2020 versehen. b) Bündelung von Verbraucherinteressen Die Europäische Kommission verfolgt das Projekt, den kollektiven Rechtsschutz europaweit zu stärken.85 Ist das KapMuG noch stark motiviert durch das Bemühen, die Massenverfahren für die Justiz überhaupt handhabbar zu machen, ist die Motivation der Kommission stärker bezogen auf die Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten für private Akteure im Wirtschaftsverkehr. Es handelt sich beim Projekt der Stärkung des „collective redress“ also um ein genuines Projekt zur Förderung der privaten Rechtsdurchsetzung, wenn auch die Kommission damit mittelbar die Stärkung der Unionsrechtsdurchsetzung insgesamt beabsichtigt. Private Akteure werden also auch dazu ermächtigt, unionale Interessen zu fördern.86 Wie gesehen gibt es schon jetzt im deutschen Recht Ansätze zur kollektiven Rechtsdurchsetzung.87 Diese bleiben hinter den Plänen der Kommission jedoch teilweise zurück. In einem Arbeitsdokument hat die Europäische Kommission 2011 die Prinzipien für eine mögliche Richtlinie zum Kollektiven Rechtsschutz niedergelegt und zur Diskussion gestellt.88 Die Reaktionen sind gemischt.89 In der öffentlichen Diskussion spielte insbesondere eine Rolle, ob die Kommission überhaupt eine Kompetenzgrundlage für den Erlass einer entsprechenden Richtlinie hat und ob es für Gruppenklagen eine „opt-out-Lösung“ geben sollte, bei denen Geschädigte ausdrücklich erklären müssen, nicht an der Klage teilnehmen zu wollen. Die Kommission hat sich in dem 2013 vorgelegten Maßnahmenpaket nach der starken Kritik in Bescheidenheit geübt. Sie legte eine Empfehlung vor, in der Grundsätze für kollektive Verfahren ge-

85

Vgl. KOM, Arbeitsdokument Kollektiver Rechtsschutz, 4.2.2011, SEK(2011) 173 endg.; KOM, Grünbuch Kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren für Verbraucher, 27.11.2008, KOM(2008) 794 endg.; speziell zum Kartellrecht KOM, White Paper on Damages Actions for Breach of the EC antitrust rules, 2.4.208, KOM(2008) 165. Aus der Diskussion vgl. nur Tamm, EuZW 2009, 439 ff.; Wendt, EuZW 2011, 616 ff.; Krümmel/Sauer, BB 2008, 2586 ff.; Tzakas, CMLRev 48 (2011), 1125 ff.; MPI, IIC 2008, 799 ff.; Bien in: FS Möschel, 2011, S. 131 ff. 86 Vgl. KOM, Arbeitsdokument Kollektiver Rechtsschutz, 4.2.2011, SEK(2011) 173 endg., Ziff. 3. 87 Zusammenfassend Hess, JZ 2011, 66 ff. 88 KOM, Arbeitsdokument Kollektiver Rechtsschutz, 4.2.2011, SEK(2011) 173 endg. 89 Die Stellungnahmen sind veröffentlicht unter: http://ec.europa.eu/dgs/health_consumer/ dgs_consultations/ca/replies_collective_redress_consultation_en.htm.

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Kapitel 5: Der Weg zur Freiheitsordnung des Privatrechts

macht wurden, in denen es um Ansprüche geht, die im EU-Recht gründen.90 Für kartellrechtliche Ansprüche wurde eine Richtlinie vorgeschlagen.91 Von einem grundsätzlichen Standpunkt aus lässt sich das Vorhaben der Kommission in den hiesigen Kontext einordnen. Die Kommission hat in dem Arbeitsdokument 2011 fünf Ziele definiert: „1) Der kollektive Rechtsschutz muss wirkungsvoll und effizient sein; 2) wichtig ist die Information der Geschädigten sowie die Definition der Rolle der Vertretungsorgane; 3) es muss die Möglichkeit einer einvernehmlichen kollektiven Lösung als Mittel der alternativen Streitbeilegung vorgesehen werden; 4) es müssen Vorkehrungen getroffen werden, um Klagemissbrauch zu verhindern; 5) vor allem Bürger und KMU müssen gegebenenfalls entsprechende finanzielle Unterstützung erhalten und 6) die Entscheidung in einem kollektiven Rechtsschutzverfahren muss EU-weit vollstreckbar sein.“92

Als Vertretungsorgane sind etwa Verbraucherverbände angesprochen, die möglicherweise die Klagebefugnis erhalten würden. Der vierte Punkt, Verhinderung von Klagemissbrauch, bezieht sich nicht auf die Missbrauchskonstellationen, die in dieser Schrift thematisiert wurden, also die Nutzung von Rechtsdurchsetzung durch starke Marktteilnehmer im Wettbewerbskampf, sondern greift die Bedenken gegen eine „Amerikanisierung“ des europäischen Rechtsschutzsystems auf. Verhindert werden sollen also Sammelklagen, die materiell auf schwachen Füßen stehen, die betroffenen Beklagten aber dennoch so unter Druck setzen, dass Forderungen durchgesetzt werden können. Information, Finanzierung und Vollstreckbarkeit betreffen Probleme der praktischen Umsetzung entsprechender Vorschläge. Mit dem ausdrücklichen Hinweis auf außergerichtliche Streitbeilegung knüpft die Kommission an ihre Initiativen in diesem Bereich an. Die konkreten Prinzipien, die in der Empfehlung von 2013 dargelegt werden, bleiben aus deutscher Sicht allgemein, stellen aber einen Startpunkt zur Verwirklichung dieser Ziele dar. Inwieweit ein Mitgliedstaat sich an der Empfehlung orientiert, ist diesem überlassen. Die eigentlichen Mechanismen der kollektiven Rechtsdurchsetzung bleiben dementsprechend zum jetzigen Zeitpunkt unklar.93 Wichtige Aspekte, die hier als reformbedürftig herausgearbeitet wurden, etwa Beschleunigung, werden nicht gesondert thematisiert. Immerhin deckt sich die Empfehlung der Kom90 KOM, Empfehlung „Gemeinsame Grundsätze für kollektive Unterlassungs- und Schadensersatzverfahren in den Mitgliedstaaten bei Verletzung von durch Unionsrecht garantierten Rechten“, 11.6.2013, ABl. L Nr. 201 vom 26.7.2013, S. 60–65. 91 KOM, Vorschlag für eine Richtlinie über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach einzelstaatlichem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union, 11.6.2013, KOM(2013) 404 endg. 92 KOM, Arbeitsdokument Kollektiver Rechtsschutz, 4.2.2011, SEK(2011) 173 endg., Ziff. 15. 93 Vgl. grundsätzlich auch Möllers/Pregler, ZHR 176 (2012), 144 ff.; Madaus, ZEuP 2012, 99 ff.

B. Verfahrensrechtliche Agenda

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mission mit den oben formulierten Prinzipien für ein Muster-Modell. Die Kommission hat zutreffend erkannt, dass es Regelungen geben muss, um die problematische verfahrensrechtliche Situation für Massen- und Parallelverfahren zu verbessern. Die Ergebnisse der hier vorgenommenen Rechtsprechungsanalyse legitimieren ihre Pläne ebenso wie die Verbesserung des KapMuG. Zu beachten ist allerdings, dass das Kommissionsprojekt in erster Linie verbraucherschützende Ziele verfolgt und also auf Schadensersatzansprüche aus Verbraucher- und Wettbewerbsrecht beschränkt bleibt. Ebenso wie beim KapMuG wird also nur ein beschränkter sachlicher Anwendungsbereich eröffnet. Die Problematik der Rechtsdurchsetzung gilt aber, wie gesehen, auch für Klagen zwischen Wettbewerbern. Ein umfassenderer Ansatz wäre daher begrüßenswert. Angesichts der Widerstände, auf die bereits eine verbraucherrechtliche Regelung stößt, scheint eine derartige Reform allerdings momentan noch stärker außer Reichweite.

III. Parameter zivilprozessualer Reformen Der Reformbedarf im Verfahrensrecht liegt auf der Hand. Er ist auszurichten am Legitimationsmodell der Rechtsprechungstätigkeit. Ein gangbarer Weg scheint das Angebot verschiedener Verfahrenswege, etwa eines Fast-TrackModells oder eines Muster-Modells, sodass je nach Bedürfnis des Rechtsstreits die individuelle oder die institutionelle Komponente der Legitimation der Rechtsprechungstätigkeit gestärkt würde. Ansätze zu solchen Wegen zeigt das geltende Recht auf: Die ZPO kennt zahlreiche Anknüpfungspunkte für beschleunigte Verfahren, außerhalb der gerichtlichen Foren haben sich – etwa als Schlichtungsmodell – bereits Fast-Track-Prozeduren etabliert. Es ist dennoch wichtig, auch das gerichtliche Verfahren anzupassen und für die Aufgaben vorzubereiten, die ihm im Zuge der Wende zum Privatrecht in immer stärkerem Maße zuwachsen. Für die kollektive Rechtsdurchsetzung und die Durchführung von Musterverfahren stehen mit dem KapMuG und den aktuellen Plänen der Kommission Ansätze zur Verfügung, die jedoch zum Teil noch gravierende Schwächen aufweisen (etwa die Verfahrensdauer im KapMuG) oder die noch zu umstritten sind, um eine Aussage treffen zu können (Kommissionansätze). Der hier aufgezeigte Reformbedarf und die Maximen für ein beschleunigtes und ein gebündeltes Verfahren können für eine Fortsetzung der Diskussion und der Gesetzgebungsverfahren aber fruchtbar gemacht werden. Auch wenn die Stärkung der privaten Rechtsdurchsetzung mit der Wende zum Privatrecht schon erhebliche Fahrt aufgenommen hat, hinken die verfahrensrechtlichen Reformen noch hinterher. Die verfahrensrechtliche Agenda wird noch einige Jahre lang brennend aktuell bleiben. Aus den methodischen Erkenntnissen, die in der vorliegenden Arbeit gesammelt wurden, lassen sich neben der Orientierung am Legitimationsmodell der Rechtsprechung fünf Konsequenzen für diese Reformprozesse ziehen.

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Kapitel 5: Der Weg zur Freiheitsordnung des Privatrechts

1. Verfahrensrecht und Evolution Die evolutionäre Rechtsprechungsanalyse hat einen neuen Blick auf Stärken und Schwächen der Rechtsprechung als Entdeckungsverfahren gelenkt. Sie erhöht das Verständnis für dynamische Prozesse. Die Vorstellung, dass es nur eine richtige Entscheidung gibt und der Leitsatz eines Gerichts in Stein gemeißelt ist, lässt sich nicht mehr halten. Solche Vorstellungen sind weder empirisch gerechtfertigt, noch normativ wünschenswert, da sie die Dynamik der Rechtsprechung hemmen und damit die ständige Adaption der Wirtschaftsordnung verhindern. Die Folge wäre eine Erstarrung, die die Wirkkraft von Recht und die Legitimation der Justiz untergraben würde. Für künftige Reformen bedeutet dies, dass diese Offenheit der Rechtsprechung gewährleistet oder sogar gestärkt werden sollte. Positive Einflussfaktoren für Innovationen sind die Eröffnung diverser Pfade zu rechtlichen Entscheidungen, die Häufigkeit von Entscheidungen zur Sache, die wechselseitige Rezeption von Wissenschaft und Praxis und die Offenheit der Richterschaft für unterschiedliche Persönlichkeiten. Die Diskussionen und Zweifel der Gerichte sollten von diesen selbst stärker reflektiert werden – es würde ihre Autorität nicht untergraben, sondern stärken.

2. Verfahrensrecht und ökonomische Analyse Die evolutionäre Rechtsforschung baut wesentlich auf dem Institutionendenken auf, das wiederum enge Bezüge zur ökonomischen Analyse des Rechts hat. Nicht nur Richtersprüche prägen die Wirtschaftsordnung und setzen Anreize für das Verhalten der Akteure, die Justiz selbst unterliegt der Anreizsteuerung. So ist beispielsweise die lange Verfahrensdauer bei Gerichten (und deren Hinnahme als normal) nicht etwa auf unengagierte Richter zurückzuführen, sondern auf das institutionelle Design der Justiz und die Anreizstrukturen, die Richtern bei der Fallbearbeitung gesetzt werden. Zur ökonomischen Analyse des Verfahrensrechts liegen mittlerweile zahlreiche Forschungen vor.94 Bei Reformen muss es darauf ankommen, diese konsequent zu berücksichtigen.

3. Ressourcen der Justiz und alternative Streitbeilegung In der Vergangenheit haben sich Reformforderungen der Justiz meist in Rufen nach mehr Stellen für Richter und in der Entlastung von Verfahren erschöpft. Auch wenn, im Einklang mit einer dezidierten Anreizsteuerung, intelligentere 94 Vgl. nur die Beiträge in Bork/Eger/Schäfer, Ökonomische Analyse des Verfahrensrechts, 2008; Schmidtchen/Weth, Der Effizienz auf der Spur, 1999; Drobak/North in: Elgar Companion to Law and Economics, 2005, S. 53 ff.; Gottwald in: FS Fasching, 1988, S. 181 ff.; Röhl, DRiZ 2000, 220 ff.; Miceli, Economic Approach to Law, 2008, S. 227 ff.

B. Verfahrensrechtliche Agenda

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Reformen möglich sein werden, wird eine gute Justiz auch in Zukunft Geld kosten. Parlamente und Regierungen müssen sich der Bedeutung der Rechtsprechung für das Gemeinwesen bewusst sein, um Budgetierungen entsprechend vornehmen zu können. Unter einer Schwächung der Justiz leiden vor allem diejenigen, für die die Justiz in erster Linie da ist – die Schwächeren, die ihr Recht nur im geschützten Rahmen eines auf Gleichordnung ausgelegten hoheitlichen Forums durchsetzen können. Alternative Streitbeilegungsmechanismen stoßen zunehmend in die Lücken, welche die staatliche Rechtsprechung lässt. Ganz im Sinne einer Wende zum Privatrecht ist dieser Wettbewerb der Konfliktlösungsmechanismen zu begrüßen. Die Europäische Kommission fördert daher mit Recht alternative Streitschlichtungsmodelle. Es wird aber immer auch Konflikte geben, die letztlich von einer staatlichen Justiz gelöst werden müssen, zumindest wenn das Gemeinwesen nicht den Anspruch aufgeben will, eine Wertordnung durchzusetzen und die Systemgrundlagen der Privatrechtsordnung zu sichern.

4. Missbrauch von Recht Rechtsdurchsetzungsmechanismen können missbraucht werden.95 Während die Europäische Kommission bei ihren jüngsten Reforminitiativen vor allem die Gefahren aus einem amerikanischen class-action-System betont hat, warnen andere vor querulatorischen Klagen, mit denen Gerichte in Bagatellfällen überzogen werden können. Die Rechtsprechungsanalyse in dieser Schrift zeigt vor allem die Gefahren des Missbrauchs von Recht durch marktstarke Unternehmen auf. Diese pervertieren den Zweck des Rechts geradezu, indem sie Rechtsschutzmöglichkeiten einsetzen, um sich gegen schwächere Unternehmen und Verbraucher durchzusetzen. Die Gerichte haben sich bislang in Verkennung der Systemgrundlagen der Privatrechtsordnung nicht gegen solche Strategien zur Wehr gesetzt. Als Ausgangspunkt einer Klage galt einst der Impuls der Empörung über Ungerechtigkeit. Auch wenn heute profanere Impulse für Klagen anerkannt sind, gilt es für die Zukunft doch, Sicherungsmechanismen zu entwickeln, die eine systematische Nutzung des Rechts ohne irgendeinen legitimen Empörungsimpuls ausschließen.

5. Private Rechtsdurchsetzung und materielles Recht Nicht nur Richter unterliegen bestimmten Anreizen, sondern auch die privaten Parteien, welche die Möglichkeit haben, Rechte geltend zu machen. Wer 95 Vgl. EuG, 17.7.1998, Rs. T-111/96, Slg. II-1998, 2937 – ITT/Promedia; Thole, ZZP 122 (2009), 423 ff. zur Zuständigkeitserschleichung; WIPO, Study Sham Litigation IP, 2012 zur missbräuchlichen Geltendmachung von IP-Rechten. Siehe auch Rehbinder, Rechtssoziologie, 2009, Rn. 135, 166 zu den größeren Erfolgschancen von Vielfachprozessierern.

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Kapitel 5: Der Weg zur Freiheitsordnung des Privatrechts

die private Rechtsdurchsetzung fördert, also Instrumente entwickelt, um potentielle Kläger zu realen Klägern werden zu lassen, muss die Anreize dafür richtig wählen, sich aber auch bewusst sein, dass Rechtsprechung ein komplexes System ist. Die Stärkung der privaten Rechtsdurchsetzung wird nicht ohne Rückwirkungen auf das Schutzniveau insgesamt, das materielle Recht und die öffentliche Rechtsdurchsetzung bleiben. Diese Wechselwirkungen, welche aus der Evolutions- und der Institutionenökonomik bekannt sind, werden in Reformdiskussionen häufig völlig unterschätzt. Reformvorschläge sollten das angestrebte rechtliche Gesamtergebnis benennen – und sich gleichzeitig bewusst sein, dass in spontanen Ordnungen wie der Wirtschaft und des Rechts eine Prognose ohnehin nur zufällig zutreffen wird.

C. Privatrechtsordnung, Steuerung und Selbstbestimmung In dieser Schrift wurde das Vorgehen der Zivilrechtsprechung in post-deregulativen Konflikten untersucht und bewertet. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass bestehende Defizite vor allem durch verfahrensrechtliche Formen aufgefangen werden könnten. Ein Vorschlag für eine verfahrensrechtliche Agenda wurde in diesem Kapitel skizziert. Offen ist nun noch die Frage, ob die längst vollzogene Wende zum Privatrecht zu einem normativen Programm erhoben werden kann – oder ob sie lediglich eine durch den Steuerungsverlust hoheitlicher Instanzen erzwungene Entwicklung ist. Im Folgenden wird skizziert, dass ein privatrechtliches Ordnungsmodell große Chancen bietet – es setzt aber eine leistungsfähige Zivilgerichtsbarkeit voraus. Ein privatrechtliches Ordnungsmodell zu etablieren, das bedeutet, die hoheitliche Regelung im Gemeinwesen so weit wie möglich zurückzunehmen zugunsten einer freien Interessenkoordination der Bürger untereinander. Das Privatrecht tritt an die Stelle des öffentlichen Rechts, und damit werden auch die Grundwerte und die Institutionen ausgewechselt, die für die Rahmenbedingungen zentral sind. In einer privatrechtlichen Ordnung sind Privatautonomie und Gleichordnung (u.a. in der Güterzuordnung) die zentralen Werte, die durch die systemischen Grundlagen der Privatrechtsordnung abgesichert werden. An die Stelle exekutiver Hoheitsträger treten in erster Linie die privaten Akteure selbst, die Bürger und die Unternehmen, die selbst für die Regelung ihres Zusammenlebens Verantwortung tragen. Der Staat oder die supranationalen Organisationen, die bestenfalls noch eine Gewährleistungsverantwortung tragen, stellen insbesondere einen letztinstanzlichen Konfliktschlichtungsmechanismus zur Verfügung. Das ist die Zivilrechtsprechung, die damit zu einer wichtigen, weil letztverbliebenen Ordnungsinstanz wird. In ein solches Modell der freien Interessenkoordination, lassen sich nicht nur Bürger und Unternehmen sowie auch öffentliche Institutionen problemlos als gleich-

C. Privatrechtsordnung, Steuerung und Selbstbestimmung

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geordnete Akteure integrieren, die ein Netzwerk bilden, das immer wieder eine neue Ordnung hervorbringt. Auch die in ihrer Bedeutung gewachsenen Organisationen der Zivilgesellschaft sind in ein solches offenes Netzwerk integrierbar, sodass alle Beteiligten in immer neuen Konstellationen das Zusammenleben strukturieren.

I. Privatrechtsordnung und Steuerung Ein solches Modell muss sich im Kontext der Steuerungsdiskussionen im Gemeinwesen bewähren, da Recht immer eine Steuerungsfunktion ausübt. Das gilt auch für das Privatrecht.96 Als Steuerung gilt die staatliche Rahmensetzung für das Verhalten von Personen und Unternehmen in der Gesellschaft bzw. Wirtschaft. Hier zeigt sich eine Paradoxie: Während hoheitliche Akteure einerseits an Einfluss verlieren, steigt andererseits der Glaube an die Möglichkeiten einer detaillierten Verhaltenssteuerung. Obwohl den hoheitlich agierenden Stellen tendenziell weniger reale Einflussmöglichkeiten bleiben, wird ihnen zugleich zugetraut, Ziele mit größerer Detailgenauigkeit treffend erreichen zu können.

1. Steuerungsverlust Häufig wird beklagt, dass Hoheitsträger ihren Einfluss auf die Rahmensetzung in der Wirtschaft verlieren.97 Die wichtigsten Instrumente hoheitlicher Steuerung wirtschaftlicher Prozesse sind Ge- und Verbote in Form von Rechtsvorschriften, Überzeugungs- und Informationskampagnen sowie staatliche Finanzierungsmaßnahmen. Alle diese Instrumente haben in den vergangen Jahren an Wirkungskraft eingebüßt. Die Gründe dafür sind vielfältig und brauchen hier nicht mehr genannt zu werden. Der Kern des Steuerungsverlusts bleibt in manchen Diskussionen jedoch unscharf. Richtigerweise ist der „Steuerungsverlust“ als Prozess anzusehen, in dem sich die Hoheitsträger von der als regelungsbedürftig angesehenen Sachmaterie entfernen. Damit entfällt der Zugriff dieser Akteure auf die Sachmaterie. Ihr bisheriger Handlungsspielraum wächst damit den verbliebenen Akteuren zu. An dieser Definition sind zwei Aspekte hervorhebenswert: Erstens liegt es in der Verantwortung des hoheitlichen Regelungsagenten, sich derart an ein wandelndes Umfeld anzupassen, dass er bezüglich der ihm anvertrauten Sachmaterie handlungsfähig bleibt. Man könnte von einer Obliegenheit der Be96 Vgl. Engel, JZ 1995, 213 ff., der bereits im Titel „Zivilrecht als Fortsetzung des Wirtschaftsrechts mit anderen Mitteln“ ansieht; früh schon Kübler in: FS Raiser, 1974, S. 697, 721; Steindorff in: FS Raiser, 1974, S. 621 ff. 97 Statt aller Brühl, Privatisierung der Weltpolitik, 2001, S. 11 ff.

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Kapitel 5: Der Weg zur Freiheitsordnung des Privatrechts

hörde sprechen, der Sachmaterie verbunden zu bleiben. Der Staat kann sich seiner Verantwortung, steuerungsfähig zu bleiben, nicht durch Hinweis auf die eventuelle Mitverantwortung Dritter für die Entfernung der Sachmaterie von der Behörde entledigen. Der zweite wichtige Aspekt der Definition des Steuerungsverlusts ist: Der Einflussverlust des Staates ist der Freiheitsgewinn des Privaten. In der Diskussion wird diese Seite der Medaille regelmäßig vernachlässigt und einseitig der staatliche Steuerungsverlust beklagt.98 Dabei sind erweiterte Gestaltungsmöglichkeiten für die betroffenen Personen grundsätzlich positiv zu werten, da hier das Freiheitsgrundrecht zum Durchbruch kommt. Damit relativiert sich die Kritik am Steuerungsverlust, da die Einbußen an Ordnung mit dem Gewinn an Freiheit abzuwägen sind. Der dem Staat entgleitende Handlungsspielraum wächst verschiedenen Akteuren zu: Zum Teil übernehmen überstaatliche Organisationen die Regelungshoheit, etwa die Organe der EU oder internationale Gruppen wie die G20. In diesem Fall werden zwar weiterhin hoheitliche Befugnisse ausgeübt. Diese werden jedoch teilweise auch geschwächt, da die Distanz zur Sachmaterie zunimmt und Regelungen notwendig abstrakter werden. Einen weiteren Teil des Vakuums besetzen Nichtregierungsorganisation oder Institutionen, die in der Grauzone zwischen hoheitlicher Befugnis und privater Initiative tätig werden. Schließlich gewinnen die handelnden Personen (Unternehmen, Bürger) an ungehinderter Entfaltungsmöglichkeit.99 Eine interessante Tendenz ist dabei, dass Private sich bei der Ordnung ihrer eigenen Angelegenheiten zum Teil nicht mehr an das geltende Recht als Maßstab anpassen, sondern vermehrt ganz eigene Regeln setzen. Über das klassische Feld des Sportverbandswesens mit seinen materiellen Regeln und eigener Gerichtsbarkeit reichen die Anwendungsbeispiele weit heraus. Diese Regelwerke sorgen für eine weitere Entkoppelung vom Steuerungsanspruch des Staates. Es kommt zur „Selbstregulierung im Privatrecht“100 und zur Entstehung „Privater Ordnungen“101. Diese Zusammenhänge sind zu beachten, wenn ein neues Ordnungsmodell zu diskutieren ist.

2. Steuerungsglaube Seit dem Zusammenbruch von Banken und den entsprechenden Folgen 2008 richteten sich die Erwartungen zur Problemlösung wieder verstärkt an die Hoheitsträger und insbesondere den Nationalstaat. Dessen Vertreter nährten 98

Ebenso Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – DJT-Gutachten, 2008, S. D14. Vgl. Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 551 ff. 100 Buck-Heeb/Dieckmann, Selbstregulierung im Privatrecht, 2010. 101 Bachmann, Private Ordnung, 2006. Vgl. aus rechtshistorischer Perspektive Meder, Ius non scriptum, 2009. 99

C. Privatrechtsordnung, Steuerung und Selbstbestimmung

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diese Erwartungshaltung durch die Behauptung ihres Steuerungsanspruchs. Unabhängig von den tatsächlichen Steuerungsmöglichkeiten konnte so eine „Renaissance des Nationalstaats“ oder eine „neue Staatlichkeit“102 erkannt werden. Auch in Politik- und Wirtschaftswissenschaften wird wieder auf die Möglichkeit von Detailsteuerungen vertraut. Dem Recht als einem zentralen Steuerungsinstrument wird insgesamt eher mehr zugetraut als früher. Die politikwissenschaftliche Governance-Forschung stellt die Frage in den Vordergrund, welche neuen Steuerungsmodelle die als überkommen empfundene staatliche Steuerung ablösen können, um das Zusammenleben in der Gesellschaft zu organisieren. Erwogen werden etwa Multi-Level-Governance-Modelle103, in denen verschiedene Akteure kooperativ zusammenwirken. In den Wirtschaftswissenschaften hat das Zusammenspiel neuerer Forschungsrichtungen zu einer Wiederbelebung der Steuerungsforschung geführt: Während im Bereich der ökonomischen Analyse des Rechts Anreizstrukturen analysiert werden, haben Ökonometriker aus der sog. Post-Chicago-School immer genauere Analyse-Werkzeuge zur Verfügung gestellt. Impulse erhalten diese Forschungsrichtungen zudem von Vertretern der Behavioural Economics. Mit dem Aufdecken zahlreicher Korrelationen sind Steuerungsmöglichkeiten wiederbelebt worden, aber es ist zugleich zu einer Überhöhung „Steuerungsglaubens“ in der komplexeren Praxis gekommen. Für die Rechtswissenschaften ergeben sich aus diesen politik- und wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsrichtungen Impulse für die Rechtsetzung. In einigen Bereichen lässt sich nachvollziehen, dass die Hoheitsträger in diesem Sinne ihre Aktivitäten zur Wirtschaftsordnung wieder intensiviert haben und eine stärkere Regelungsintensität erkennbar ist als angesichts des Steuerungsverlusts zu erwarten wäre. Beispielhaft können das Regulierungsrecht, das europäische Wettbewerbsrecht und das europäische Privatrecht genannt werden. Schon diese drei Bereiche weisen aus, dass die Rechtsetzungsorgane sich stärker auf eine Regelung im Detail einlassen. Ganz zu schweigen ist in diesem Kontext von den Interventionen, mit denen Hoheitsträger nach der Finanzkrise 2008 versuchten, die betroffenen Märkte neu zu ordnen.104 Im Regulierungsrecht, das seit den Deregulierungsmaßnahmen in den neunziger Jahren an Bedeutung gewonnen hat, übernehmen Behörden die Feinsteuerung des Wirtschaftsgeschehens in bestimmten Sektoren. Hierzu werden sie vom Gesetzgeber mit genauen Vorschriften, etwa zu Prüfung von Durchleitungsentgelten, ermächtigt. Im Lauterkeitsrecht hat die Europäische Kommission Richtlinien erlassen, die bis ins Detail definieren, welches Geschäftsgebaren als unlauter anzusehen ist. Auch im Kartellrecht ist die Euro102

Vgl. Grande/Prätorius, Politische Steuerung und neue Staatlichkeit, 2003. Vgl. Mayntz, Architecture of Multi-level Governance, 2007. Aus rechtswissenschaftlicher Sicht siehe Schuppert in: König/Benz, Privatisierung und staatliche Regulierung, 1997, S. 539, 557 ff.; Ruffert in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 3 Rn. 7. 104 Vgl. Stürner, AcP 210 (2010), 105 ff. 103

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Kapitel 5: Der Weg zur Freiheitsordnung des Privatrechts

päische Kommission dazu übergegangen, ihre Befugnisse als Kartellbehörde mit einem Anspruch von Feinsteuerung zu versehen. Schließlich sind auch in den Überlegungen zum europäischen Privatrecht, die derzeit von der Kommission vorangetrieben werden, die Regelungen im Detail exakter als zu erwarten gewesen wäre. Hier wird angeknüpft an die gleichsam hohe Regelungsintensität des Verbraucherschutzrechts, das weitgehend europäisch geprägt ist. Basedow hat darauf hingewiesen, dass in der modernen Gesellschaft Regelungen notgedrungen immer komplexer ausfallen müssten, sodass die bloße Detailliertheit europäischer Regelungen noch keine Aussage über die Eingriffsintensität der Regelung treffen lasse.105 Wohl aber bestehe die Gefahr der Inkohärenz. Ob dieser Befund zutrifft, sei dahin gestellt, jedenfalls ist eine ausgeprägte Detailliertheit von Regelungen Ausweis des legislatorischen Zutrauens, verschiedene Anwendungsfälle differenzieren und ordnen zu können.

3. Zur Paradoxie von Steuerungsverlust und Steuerungsglaube Das Phänomen des hoheitlichen Einflussverlusts wird allgemein wahrgenommen und zutreffend analysiert. Dies schließt die Erkenntnis ein, dass schon theoretisch eine Beschränkung der hoheitlichen Steuerungsmöglichkeiten vorliegt. In Widerspruch dazu stehen das Vertrauen in eine intensivierte hoheitliche Regelung komplexer Sachverhalte und die dementsprechende Praxis von Nationalstaaten und europäischen Institutionen. Die neuerliche Steuerungs-Euphorie in der Wirtschaftsgesetzgebung, etwa der Europäischen Kommission, verschiebt den Akzent vom Entdeckungsverfahren der Märkte hin zu einem politisch motivierten „Feintuning“. Es muss bezweifelt werden, dass dieses Konzept funktioniert. Die Zusammenhänge sind derart komplex geworden, dass der Effekt von Steuerungsmaßnahmen nicht mehr prognostiziert werden kann. Entscheidungen, zumal solche, die von zentralisierten, dem Regelungsgegenstand distanzierten Institutionen getroffen werden, sind fehleranfällig und in ihren Auswirkungen nicht kontrollierbar. Es kommt zudem zu einer gelegentlich problematischen Kumulation von Steuerungsversuchen, etwa wenn privatrechtliche, öffentlich-rechtliche und regulierungsrechtliche Akteure nebeneinander tätig werden. Schließlich findet in der von der Steuerungsparadoxie geprägten MultiLevel-Governance keine Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Interessen und Wertungen mehr statt. Vorzugswürdig scheint demgegenüber ein Modell, das auf eine dezentrale Steuerung setzt. Dezentrale Steuerungsmodelle haben den Vorteil, dass die Akteure sachnäher entscheiden, also eine verbesserte Kenntnis haben. Steuerungsfehler entfalten zudem wesentlich weniger gravierende Konsequenzen, 105

Basedow in: Bitburger Gespräche 2008/I, 2009, S. 85, 95 ff.

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wenn sie auf lokale Sachverhalte begrenzt sind, als wenn sie von einer übergeordneten Zentralinstanz getroffen werden. Ein solches dezentrales Steuerungsmodell bietet eine privatrechtliche Ordnung, in der die privaten Marktteilnehmer selbst für die Ordnung verantwortlich sind, und die dabei institutionell unterstützt werden von Gerichten, die üblicherweise zunächst auf einer sachnahen Ebene angesiedelt sind.106 Die Entscheidungen von Gerichten entfalten nur eine begrenzte Regulierungswirkung, da es Einzelfälle sind, die entschieden werden und Korrekturen der Wirtschaftsordnung einfacher möglich sind. Die steuerungspolitische Chance eines privatrechtlichen Ordnungsmodells liegt also in der Fehlerbegrenzung. Die Wende zum Privatrecht geht dann einher mit einer Wende von zentraler ex-ante-Regulierung zu dezentraler expost-Kontrolle durch eine Vielzahl kleinerer Einheiten.

II. Privatrechtsordnung und Selbstbestimmung Eine privatrechtliche Ordnung bietet zudem die Chance, das Freiheitsversprechen der Wende zum Privatrecht zu realisieren. Für die Gesetzgeber waren bei Deregulierungs- und Flexibilisierungsmaßnahmen viele verschiedene Motive ausschlaggebend. Fiskalische Gründe spielten ebenso eine Rolle wie die Hoffnung auf eine erhöhte Effizienz in den betroffenen Sektoren. Doch nicht zuletzt galt auch die Eröffnung neuer Freiheitsräume in der Wirtschaft als wichtiges Motiv der Deregulierung. Diese Freiheitsrendite ist nicht nur monetär zu verstehen, sondern auch in einem Zugewinn an Selbstbestimmungsmöglichkeiten zu sehen. Hier trifft sich ein privatrechtliches Ordnungsmodell, das den Bürgern größtmögliche Freiheiten einräumt, mit einer gesellschaftlichen Tendenz zur Individualpartizipation auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens, beispielsweise bei der Mitbestimmung im direkten Umfeld. In einer privatrechtlichen Ordnung werden Bürger ermutigt, ihre Angelegenheiten selbstbestimmt zu ordnen, und das macht den Kern ihrer freien Entfaltung als Bürger in der Gesellschaft aus. Die Auswahl des Telefonanbieters und die Preisverhandlung mit dem Energieversorger sind genauso Teil der persönlichen Lebensführung, in denen es auf Freiheitsräume ankommt, wie andere Entscheidungen, die traditioneller mit Freiheitsgrundrechten assoziiert werden. Dass die Freiheitsermöglichung in der ersten Dekade nach der Deregulierung nicht so hervorragend funktioniert hat, wie es von den Advokaten der Deregulierung erhofft wurde, hat mehrere Gründe. Die Widerstände derjenigen, die bei Wettbewerb und Marktöffnung zu den Verlierern gehörten, waren ebenso kontraproduktiv wie mangelnde Konzepte für Deregulierungsfolgen. 106

Vgl. Zumbansen, Ordnungsmuster im modernen Wohlfahrtsstaat, 2000, S. 270 ff.; sowie die ähnliche Argumentation für Optionsmodelle bei Bachmann, JZ 2008, 11, 17.

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Es kommen jedoch drei Aspekte hinzu, welche durch eine privatrechtliche Ordnung bedingt sind: Erstens: Die Ermutigung, die von der Auflösung versorgender (pathetischer: bevormundender) wirtschaftlicher Strukturen ausgeht, darf nicht in Konfliktsituationen enttäuscht werden. Freiheitsausübung führt immer wieder zu Konflikten, da Freiheiten aneinander stoßen und die Ausübung der Freiheit des einen mit der Ausübung der Freiheit des anderen zum Ausgleich gebracht werden muss. Konflikte verlangen nach Schlichtung, Schlichtung nach einer schlichtenden Institution. Gerichte erfüllen damit in der Freiheitsordnung des Privatrechts auch die Rolle, die Freude an der Freiheitsausübung zu sichern. Das setzt eine hohe Qualität von Rechtsprechung voraus, die derzeit noch durch verfahrensrechtliche Missstände gehemmt wird. Zweitens: Die Freiheitsausübung funktioniert nicht voraussetzungslos. Es muss sichergestellt werden, dass der Einzelne in der Lage ist, seine Freiheit auch auszuüben. Eine solche individuelle Absicherung funktioniert über die Gleichordnung der Akteure. Nur wer in die Lage versetzt wird, seine Freiheit in verantwortungsvoller Weise wahrzunehmen, kann sich im Wettbewerb mit anderen bewähren. Die Rechtsordnung gewährleistet dies auch im Privatrecht durch Regelungen, die krasse Ungleichgewichte abmildern. Gerichte müssen die unterschiedlichen Ausgangspositionen gleichfalls im Blick behalten, wenn nicht ihre Inanspruchnahme diejenigen bevorteilen soll, die ohnehin bessere Chancen auf selbstbestimmtes Handeln haben als andere. Hier besteht in der Praxis Korrekturbedarf: Wie auch die hier analysierten Fälle gezeigt haben, sind Eingriffe zum Ausgleich von Kräfteungleichgewichten äußerst selten. Es wirkt mitunter, als sei das dem Privatrecht selbstverständlich inhärente Gleichordnungspostulat in der Wahrnehmung von Gerichten und Literatur einem Freiheitsprimat untergeordnet worden. Drittens: Die Freiheitsausübung bedarf schließlich einer institutionellen Sicherung ihrer Grundlagen. Die privatrechtliche Ordnung muss wie jede Ordnung darauf achten, ihre eigenen Grundlagen zu erhalten. Dass solche Grundlagen bedroht sein können, folgt bereits aus dem Freiheitsparadox. Gerichte müssen bei ihren Entscheidungen daher auf Fehlentwicklungen achten, die systemrelevant werden können. Welche Grundlagen eine privatrechtliche Ordnung hat, welche mit dem Anspruch auf Selbstbestimmung vereinbar sind, muss im gesellschaftlichen Diskurs ermittelt und von Gerichten entschieden werden. Die Funktionsmechanismen des Wettbewerbs und der Marktwirtschaft, der freie Meinungsaustausch, das Vertrauen in Institutionen sind nur einige Aspekte, die hier genannt werden können. Die Systemrelevanz für die privatrechtliche Ordnung ist auch die Trennlinie zum Öffentlichen Recht, denn der Schutz der systemischen Grundlagen ist auch ein öffentliches Interesse. Es ist aber das einzige, das im Rahmen privatrechtlicher Durchsetzungsmechanismen berücksichtigt werden kann. Der Schutz sonstiger öffentlicher Interessen, deren Durchsetzung nicht systemrelevant für das Funktio-

C. Privatrechtsordnung, Steuerung und Selbstbestimmung

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nieren der privatrechtlichen Koordinierung der Bürger ist, ist Aufgabe des öffentlichen Rechts. Befürworter wie Kritiker der privatrechtlichen Ordnung übersehen – wie Befürworter und Kritiker der Marktwirtschaft – oft, dass diese Ordnung selbst gezwungen ist, ihre eigenen Grundlagen zu sichern. Es handelt sich auch bei einer privatrechtlichen Ordnung keineswegs um ein ungezügeltes Freiheitsmodell – ein solches wäre nicht dauerhaft überlebensfähig. Bindungen sind also vorhanden. Sie durchzusetzen und damit die freie Interessenkoordination der Akteure abzusichern, ist Aufgabe der Gerichte, die immer wieder aufs Neue entdecken müssen, wie sich eine solch spontane Ordnung gestalten lässt, die von der Freiheitsausübung angetrieben wird. Eine solche privatrechtliche Ordnung wächst mit den Aufgaben, die der Einzelne selbst wahrnehmen kann. Dazu zählt auch die Rechtsverfolgung. Die Stärkung privatrechtlicher Durchsetzungsmechanismen ist daher mit Blick auf diese gesellschaftliche Vision begrüßenswert. Dass damit zugleich auch öffentliche Interessen verfolgt werden können, dass eine strikte Trennung zwischen privaten Eigeninteressen und Instrumentalisierung für das Gemeinwesen gar nicht möglich ist, tut dem Projekt als solchem keinen Abbruch.107 Schon Rudolf von Jhering erkannte dies in seinem Vortrag „Kampf ums Recht“ und statuierte sogar eine Pflicht, durch die Durchsetzung privater Ansprüche dem Gemeinwesen zu dienen: „Ist es nun nach allem diesem zuviel gesagt, wenn ich behaupte: die Verteidigung des angegriffenen konkreten Rechts ist nicht bloß eine Pflicht des Berechtigten gegen sich selbst, sondern auch gegen das Gemeinwesen? Wenn es wahr ist, was ich ausgeführt habe, dass er in seinem Rechte zugleich das Gesetz und im Gesetz zugleich die unerlässliche Ordnung des Gemeinwesens verteidigt, wer will leugnen, dass ihm diese Verteidigung als Pflicht gegen das Gemeinwesen obliegt?“108

In erster Linie lebt das Gemeinwesen von aktiven Bürgern, auch – wie von Jhering ausführt – im Rechtsleben. Erst recht gilt dies für die Wirtschaft, deren Dynamik vom Unternehmergeist und also der freien wirtschaftlichen Entfaltung der Marktteilnehmer abhängt. Werden privatrechtliche Rechtsdurchsetzungsmechanismen gestärkt, wachsen also die Möglichkeiten für jeden Einzelnen, von Freiheiten Gebrauch zu machen. Die spontanen Ordnungen, die so entstehen, sind von abstrakten Regeln geleitet und den geplanten, starren Ordnungen aus überkommenen Governance-Vorstellungen überlegen.109 Da mit der Freiheit auch das Potential für Missbräuche wächst, braucht aber der Ausbau von „private enforcement“ entsprechende Sicherungsmechanismen, die mit fortschreitender Liberalisierung durch die Gerichte garantiert werden. 107 108 109

Vgl. schon Smith, Wealth of Nations, 1976, S. i.477. Jhering, Kampf ums Recht, 2003, S. 28. Vgl. Hayek, Anmaßung von Wissen, 1996, S. 266.

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Kapitel 5: Der Weg zur Freiheitsordnung des Privatrechts

Als Immanuel Kant fünf Jahre vor der Französischen Revolution von der bürgerlichen Gesellschaft träumte, wie zu Beginn dieser Schrift zitiert,110 im gleichen Jahr übrigens, als seine epochale Schrift „Was ist Aufklärung?“ erschien, lebte er unter absolutistischer Herrschaft in einem Feudalsystem, das die Gewerbefreiheit, ebenso wie viele andere Freiheiten, erst noch entdecken musste. Als Franz Böhm 1966 die Privatrechtsgesellschaft ausrief,111 umgab ihn ein ordnungsmächtiger Staat, der demokratisch verfasst war, aber in vielen Bereichen des Wirtschaftslebens noch selbst dafür Sorge trug, dass die Staatsbürger versorgt und abgesichert wurden. Für beide Autoren blieb eine privatrechtlich verfasste Gesellschaft in weiten Teilen Vision. Heute ist die Vision in greifbare Nähe gerückt. In der Geschichte der Neuzeit gab es keine Gesellschaft, in der die Freiheit des Einzelnen, wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen, so groß war wie heute. Keine Gesellschaft vertraute so sehr der Selbstbestimmung des Marktes wie die heutige. Übersetzt in die Terminologie des Rechts bedeutet dies: Das Privatrecht, das schon Kant in seiner Rechtslehre vor dem öffentlichen Recht behandelt hat,112 gewinnt die Oberhand. Das wesentliche Organisationsprinzip des Gemeinwesens ist nicht mehr die hoheitliche Ordnung, sondern die freie Koordination unter Gleichen. Kant hat auch schon gesehen, dass der Zentralwert der privatrechtlichen Dogmatik, die Privatautonomie, der Sicherung durch Bindungen bedarf, oder wie der Königsberger Philosoph es formuliert: Der Antagonismus, die Freiheitsausübung im Rechtsverkehr (im Wirtschaftsverkehr würde man von Wettbewerb sprechen) bedarf der „genauste[n] Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit […], damit sie mit der Freiheit anderer bestehen könne.“ Nur unter solchen Bedingungen von Freiheit und Bindung entwickelt sich die Menschheit weiter, so Kant. Es ist also nicht die geringste Aufgabe, die Zivilgerichten in einer privatrechtlich verfassten Wirtschaftsordnung zugedacht ist.

110 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 1968, Fünfter Satz, S. 39. 111 Böhm, ORDO XVII (1966), 75 ff. 112 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, 1968, § 1/§ 43, S. 353, 429.

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Stichwortverzeichnis Adjudikatoren 522 AGB-Kontrolle 75 ff., 90, 134, 250 ff., 267, 442, 449, 470 ff., 492 ff., 503 ff. AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) 98 ff., 268, 275, 286, 531 Allgemeininteresse 85, 245, 249, 281 ff., 398, 554, s. auch öffentliche Interessen alternative Streitbeilegung 86, 178 ff., 522, 555 amicus curiae 547 Ansprechen in der Öffentlichkeit 306 ff., 322 ff., 333, 337 ff., insbes. 350, 511, s. auch Direktmarketing Antragsbindung 177 Autobahnmaut 2, 74 ff., insbes. 93, 134 Bagatellverfahren 533 ff., 542, 548 Befriedungsfunktion der Rechtsprechung 221 ff., 230 f., 296, 347, 424, 504, 543, 548 Belästigung 306 ff., 312 ff., 321, 323 ff. Beleihung 44, 53, 64 f., 71, 75, 92 f. Beschleunigungsgebot 140, 152, 526, 528 Billigkeitskontrolle 448, 453 ff., 462, 467, 468 ff., 476 ff., 484, 489, 496 Böhm, Franz 235, 238, 242, 251, 272 ff., 286, 564 bottlenecks 57, 301, 315 f. bounded rationality s. eingeschränkte Rationalität Briefmonopol 354 ff. Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 356, 441, 448 ff., 459, 467, 473, 484, 503, 548 Call-by-Call 298, 301 ff., 314, 317 Chicago-School 21 f., 40, 387 cluttering 380, 419, 408

Darwin, Charles 108 ff., 124, 185 Deregulierung 39 ff., 249, 288, 296, 298, 303, 308, 315, 322, 352 ff., 418, 432 ff., 463, 467, 477, 511, 516, 530 f., 559, 561 – Definition 40 ff. – Freiheitsrendite 516, 531, 561 Deutsche Post AG 5, 33 ff., 296, 300, 352 ff., 384 ff., 394 ff., 418, 421 ff. Deutsche Telekom AG 5, 39, 58, 78, 83, 250, 300 ff., 549 Dezentralisierung 18, 40, 560 ff. Direktmarketing 295, 306 f., 317, 320, 323 ff., 332, 336 ff., 344, 351, 418 ff., 442 ff., 544 Diskurstheorie 200 ff., 210, 216, 261, 450 Dispositionsmaxime 176 f., 218, 537 Diversität 114, 125, 335, 486, 512, 547 Dogmatik 38, 102, 105, 157, 162, 234 ff., 253 f., 275, 284, 287, 312, 318, 363, 456, 486, 515, 521, 564 Drexl, Josef 42, 266 ff., 318, 441 Drittwirkung der Grundrechte 101, 453, 462 Durchsetzbarkeit von Urteilen 184, 203, 213, 220, 226 f., 271, 278, 345, 476, 502, 553 Dworkin, Ronald 156, 191 ff., 200, 210 Dynamik 59, 110, 113 ff., 121 ff., 127 ff., 131, 150 f., 170, 315 f., 327, 367, 544, 563 – Rechtsprechung 141, 148, 155 f., 158 f., 295 f., 329, 337, 554 Effizienz 21, 36 ff., 46, 72, 77, 105, 110, 113, 136 ff., 159 ff., 181 f., 203, 205, 207 ff., 230 f., 252 f., 258 ff., 270, 286 ff., 347, 424 f., 432 f., 456, 504, 523, 561

598

Stichwortverzeichnis

eingeschränkte Rationalität 108 ff., 119, 139, 160, 170, 198, 287, 334, 337, 342, 517 einstweilige Verfügung 320, 345, 347, 532, 539 Einzelfallentscheidung 139, 170, 214, 222 ff., 329, 377, 400, 430, 449, 452, 502, 507 Energiewirtschaft 46 f., 114, 429 ff., 449, 456, 467, 487, 498 – EnWG 57, 276, 430 ff., 446, 464, 468, 489, 509, 541 – Liberalisierung 50, 433, 445 – Verbändevereinbarung 432, 477 ff., 481 – Gaspreis 297, 428 ff., 480 ff. Entdeckungsverfahren 6, 21, 31, 59, 107, insbes. 110 ff., 132 ff., 142 ff., 160, 164 ff., 269, 336 ff., 343, 413, 475, 493, 512 f., 554, 560 Entscheidungskompetenz 15 ff., 53, 64, 173 f., 254, 274 Entscheidungsreife 140, 151, 175, 533, 538 Entscheidungstheorie 125 ff. Eucken, Walter 20 f. Europäisches Privatrecht 275 ff., 551 Evolution 285, 295 ff., 327 ff., 341, 365, 367, 402 ff., 414, 429, 459, 463 ff., 484, 493, 496, 511, 514 ff., 543 ff., 554 ff. evolutionäre Rechtstheorien 162 ff., 517 Evolutionsökonomik 9, 107 ff., 146 ff., 367 Faires Verfahren 234, 293, 345, 536 Fast-Track-Modell 536 ff., 553 Feedback-Effekte s. Rückkopplung Fikentscher, Wolfgang 25, 187, 239 ff., 268 Flexibilisierung des Verwaltungshandelns 63 ff. Folgenabschätzung 136, 530 Freihaltebedürfnis 372 ff., 400 ff. Fusionskontrolle 83, 435 Gas-Ölpreis-Kopplung 437, 464, 490 ff. Gaspreiskontrolle 428 ff. gegriffene Größen 457 ff., 496, 507

geltungserhaltende Reduktion 460 f. Gemeinwohl 30, 50 ff., 66, 68, 71, 101, 237 ff., 242 ff., 280 ff., 294, 431, 455, 493, 515, 529, 531 Gerechtigkeit 192 ff., 202 f., 211 ff., 226, 238, 243, 257 ff., 450 ff., 501, 505 Gerichtsorganisation 146, 196, 500 Geschäftsmodelle 296, 298 ff., 345 Gewährleistungsstaat 28 ff., 53, 106, 251 f. Gewährleistungsverantwortung 31 ff., 50, 55, 77, 265, 556 Gewaltenteilung 171, 195, 221, 501, 521 Gleichheitsgrundsatz 372, 379 ff., 407 Gleichordnung 63, 69 ff., 214, 236 ff., 257 ff., 349, 367, 380, 400, 441 ff., 457, 487, 509, 511, 555 ff., Grundgesetz (GG) 24 ff., 51, 72 f., 220 ff., 261, 352 f., 364, 448, 536 Güterzuordnung 362 ff., 399 ff., 556 Habermas, Jürgen 164, 200, 450 hard cases 291, 156 ff. Hart, H.L.A. 191 f., 200 Häufigkeitsabhängigkeit 122 ff., 144, 153, 341, 414 f., 487, 494. 497, 512 Hayek, Friedrich A. von 21, 110 ff., 133 ff., 142 f., 154, 162 ff., 192, 239, 272, 335 herrschende Meinung 158, 248, 285, 329 Hirsch-Rüthers-Debatte 169 ff., 460 Informationsmodell 278, 443 ff., 505 ff. Innovationen 328 ff., 361, 366 ff., 406 f., 411, 414, 440, 463 ff., 486, 492 ff., 512, 517 ff., 543 f., 554 Innovationskraft der Rechtsprechung 330, 494, 544 Innovationsökonomik 261, 367 Interessenausgleich 97, 228 ff., 260 ff., 293 f., 307, 348 ff., 365 ff., 377, 426, 452 ff., 461 f., 497 ff., 507, 515 f., 522, 532 ff., 556, 563 Irreführende Werbung 305 ff. Justiz 188 ff., 199 f., 206, 226 ff., 234, 239, 278, 290, 293, 307, 311, 319, 356,

Stichwortverzeichnis

429, 452, 458, 504, 515 ff., 523 ff., 551 ff., – materielle Ausstattung 193, 231 f., 554 f. – Organisation 200, 210, 347, 554 f. Justizgewährungsanspruch 504, 536 Justizversagen 424, 515, 522, 541 Kant, Immanuel XXI, 10, 203, 239, 258, 564 Kapitalanleger-MusterverfahrensGesetz (KapMuG) 282, 545, 549 ff. Kapitalanlegerschutz 549 ff. Kartellrecht 23 f., 62, 82 ff., 89 f., 98, 220, 265 f., 277 ff., 282, 305, 318 f., 359, 369 ff., 402, 439, 446, 455, 460, 476 ff., 548 ff., 559 Kelsen, Hans 197, 216, 235 f., 249 Klagebefugnis 98 f., 552 Klageerhebung 84, 140 ff., 178, 217 f., 226 ff., 297, 467, 499, 526, 534 Kollektive Rechtsdurchsetzung 549 ff. Konzession 66 f., 72, 431 ff. Legitimation 48, 70, 103, 115, 295, 298, 311, 320, 344, 362, 369, 420, 424, 459, 475, 485, 489, 501, 508, 512, 514 ff., 528, 532 ff., 550, 553 f. – Markenrecht 365 ff. – Matrix 295, 344 – § 315 Abs. 3 BGB 451 – der Zivilrechtsprechung 48, 70, 103, 115, 173 ff. Leitbild des Privatrechts 74, 234 ff., insbes. 242 ff., 272, 293, 311, 378, 456 Lernen 119, 124, 143, 170, 182 Liberalisierung 24, 33, 39 ff., 148, 296, 298 ff., 335, 354 ff., 386 ff., 400 ff., 432 f., 445, 529, 563 Luhmann, Niklas 164, 204 f., 210, 216 Markenführung 360 ff., 419 Markenrecht 352 ff. – Eintragung 364, 367 ff., 376 ff., 381 ff., 387, 396 ff., 409, 411 ff., 421 ff. – Funktionen der Marke 363 ff., 399 ff. – Marke „Post“ 381, 392 ff., 403, 406 f. – MPI Markenrechtsstudie 368 f.

599

– Gleichbehandlung 396 f. – beschreibende Angaben 368, 372 ff., 376 ff., 398, 403, 407, 413 f., 422 – Streitwert 382, 410, 423 – Verletzungsverfahren 381, 384 ff., 390 ff., 400 ff., 404 ff., 415 ff., 421 ff., 516 Marktversagen 20 f., 48, 57, 103, 270 f., 289, 345, 441 ff. Marktwirtschaft 14 ff., 22 ff., 39, 55, 69, 89, 110, 120, 124, 134, 164, 173, 235, 238 ff., 258, 261 ff., 280, 285 ff., 311 f., 319, 357, 368, 438, 453, 445, 547 Marktzutritt 298 ff., 361, 378, 417, 419 f., 445 Methodenlehre 169 f., 189 f., 195 ff., 210, 215 f., 234, 291, 460 Missbrauch von Recht 555 Mittellösung 341, 415, 496 f., 507, 511 f., 531 Mobilfunk 99, 129 f., 142, 299 ff., 317 Monopoleinwand 374 f., 388, 403 ff., 418 f., 426 Monopolrechte 299 f., 400, 515 Musterverfahren 282, 475, 521, 532 f., 543 ff. Neue Verwaltungsrechtswissenschaft 36 ff., 106 new cases 133, 156 ff., 295 ff., 341, 403, 415, 476, 493, 496, 511, 516 Offenlegung von Kalkulationen 471, 490 f., 493 ff., 502 Öffentliches Interesse 55, 57 ff., 98, 100, 103, 270, 350, 562 Öffentliches Recht 73, 236, 249, 253, 265, 269 Öffentlich-rechtliche Verträge 63 Ökonomische Analyse des Rechts 137 f., 165, 205, 210, 286 ff., 290, 456, 510, 554 Ombudsmann 180 ff., 434, 541 Opportunitätskosten 126, 144 organizational routine 126 Parteiwille 177, 267, 281, 454, 460, 493 Partizipation 2, 18, 186 f., 257, 561

600

Stichwortverzeichnis

Pfadabhängigkeit 124 ff., 130 f., 145, 154, 159, 168, 405, 416 f., 497, 412 ff. Popper, Karl 118 f., 168, 192, 264 Post-Chicago-School 22, 287, 559 post-deregulative Streitigkeiten 168, 176, 296 f., 510 f., 525 Postwesen 352 ff. – Marktdaten 355 f. – Marktzutritt 361 – Mindestlohn 358 PPP (Public Private Partnerships) 2, 11, 63, 65 f., 93, 134, 251, 255, 261, 434, 529 Präventivfunktion 293, 348, 549 Präzedenzfall 159 ff. Preisanpassungsklausel 456, 465 f., 468 ff., 483 Preselection 296, 298, 301 ff., 314 ff., 321 ff., 327, 337 f., 344 ff., 420, 530 Privatautonomie 13, 18, 57, 72, 95, 100 ff., 177, 181 f., 202, 218, 237, 240, 251, 257 ff., 272 ff., 284, 349, 561, 564 Private Rechtsdurchsetzung 281, 549, 555 f. Privatrechtsdogmatik 236 ff., 456 Privatrechtsgesellschaft 23, 62, 251, 264, 272 ff., 516, 564 Privatrechtsordnung 240 ff., 256, 264 ff., 268 ff., 284 f., 289, 293, 350, 365, 516, 521 ff. Prozesszwecktheorien 212 ff., 225, 232, 292 Publifizierung 2, 28, 96 ff., 135, 263, 275, 280 ff., 294 Rawls, John 202 ff., 216, 226, 232, 261, 450 Rechtsdurchsetzungskosten 179, 442 Rechtsfindung 141, 146, 150, 190, 201 ff., 233, 290, 336, 514, 517 f., 528 Rechtsfrieden 193 f., 211 ff., 221 f., 230, 245 Rechtskraft 175, 204, 389, 412, 423, 515, 547 f. Rechtsprechung – als Entdeckungsverfahren 9, 132 ff., 343, 399, 411, 475, 493, 513, 517, 554

– Hypothesen 142 f., 340 ff., 415 ff., 496 ff., 511 ff. – Prognostizierbarkeit 342, 417, 498, 504, 512 – Qualität 3, 183, 189, 192, 194, 197, 205 f., 209, 211, 219, 224 ff., 230, 233 ff., 280, 291 ff., 420, 562 – Selbstreflektion 343, 500, 510 – Vertrauensverlust 3 Rechtsprechungsanalyse 107 ff., 295, 306, 517, 521, 524 ff., 535, 543, 546, 549, 553 ff. Rechtsschutz 25, 97, 185, 217, 219 f., 221, 229, 272, 279, 320, 344, 348, 443, 447, 503, 515, 523, 527, 532 Rechtsweg 81 f., 91 ff., 203, 217 f., 231, 234, 243 ff., 255, 292, 503, 532, 536 regulatory mix 36 f. Regulierungsbegrenzung durch Einzelfallentscheidung 139, 170, 222 ff., 377, 430, 449, 452, 502, 507 Regulierungsrecht 55 ff., 250 ff., 297, 301 f., 438, 464, 529, 559 f. Richter Herkules 191 Richterliche Erfahrungssätze 333 f. Richterliche Rechtsfortbildung 157 ff., 166 ff. Richterliche Unabhängigkeit 193 ff., 215, 495 Rückkopplung 38, 114 f., 117, 123, 126, 130 ff., 144 ff., 153, 244, 267, 275, 280 ff., 411, 556 Sachverhaltsermittlung 139 ff., 150, 155, 196, 445 f. Schiedsverfahren 79 f., 180 ff., 218 Schlichtung 52, 86, 164, 178 ff., 205, 211 ff., 218, 222, 227 ff., 230 ff., 241, 262, 282 ff., 292 ff., 335, 344, insbes. 345 ff., 349, 422 ff., 434, 447, 501, 507, 515, 523 f., 536, 541, 553, 555, 562 Schlichtungsstelle Energie 434 f., 447, 541 Schumpeter, Joseph 61, 110 ff., 121, 129, 145 Schwächerenschutz 186, 523 Selbstbestimmung 104, 255, 257, 261, 266, 269 f., 318, 441, 448, 556 ff.

Stichwortverzeichnis

Selbstverständnis des Rechtswissenschaftlers 145 Smith, Adam 20, 56, 242, 258, 271 Sonderrechtstheorie 248, 250, 255 Sperrmarke 380, 395, 407 f., 413 f., 421, 426 Spontane Ordnung 21, 116, 142 f., 563 Staatsaufgaben 28 ff., 50 ff., 301 Staatsquote 16, 19 Subjektive Rechte 218, 222, 284, 342 Suchprozess 107, 118, 123 ff., 132, 140 ff., 161, 168, 192, 337, 458, 493, 514 Systemgrundlage 257, 273, 350, 367, 424, 426 f., 487, 508 f., 535, 543 ff., 555 Systemrelevanz 7, 240 ff., 257, 266 ff., 279, 286, 293 f., 350, 535, 562 Systemtheorie 164, 205, 253 Tatbestand 21, 151 ff., 176, 196, 247 f., 289, 310, 312, 318, 321 ff., 339 ff., 347, 372 ff., 402 ff., 415, 478, 485, 496, 512, 516, 524 f., 530, 539 Telekommunikation 4, 27, 40, 46, 56 ff., 81, 99, 127 ff., 295 ff., 344, 346, 351 ff., 355 ff., 415, 434 Theorie richterlichen Entscheidens 198 f., 209, 216 Trial-and-Error-Prozess 113, 124 f., 133, 142 ff., 336 Unbundling 433 ff. Unlauterkeit 141, 307 ff., 323 ff., 349, 401, 404 Urteil – Bedeutung 183, 297 – bias 335, 417, 497, 514 – Funktion 211 – Im Namen des Volkes 176 – individuelle Betrachtung 217 – institutionelle Betrachtung 217 – Dualität 224 f. – Rezeption 337 ff. – Qualitätskriterien 182, 211, 225, 291 ff. Urteilskritik 9, 168, 174 ff., 210, 215, 221, 225, 292, 519

601

UWG (Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb) 17, 98, 101, 141, 163, 247, 268 f., 276 ff., 298 ff., 303 ff., 335 ff., 348 ff., 357 ff., 369 ff., 390 ff., 402, 416, 444 f., 528, 532, 539 ff., 559 Variations-Selektions-Paradigma 6, 114, 122 f., 150, 155, 164 Verbraucher – Leitbild 309, 312 f., 331 ff. – Schutz 98, 105, 161, 182, 239, 265 ff., 309 ff., 348 ff., 440 ff., 560 – Unterlegenheit im Prozess 267, 443 ff. Verfahrensdauer 85, 149, 196, 206, 229 ff., 346 ff., 352, 412, 420 ff., 408, 515, 518, 525 ff., 535, 541, 547, 553 f. Vergaberecht 53, 60, 73 ff., 83 ff., 93 Verkehrsdurchsetzung 372 ff., 382 ff., 388, 391 ff., 403 ff., 414 ff. Vertragsfreiheit 25, 103, 257 ff., 271 ff., 428 ff. Vertragsgerechtigkeit 449 ff., 462, 485 f. Verwaltungshilfe 64 Verwaltungsprivatrecht 72 ff., 529 Verzögerungsrüge 527 Wechselseitige Auffangordnungen 252 ff. Wende zum Privatrecht 2 ff., 9, 11 ff., 133 ff., 167, 170, 174, 224, 235, 243, 258 ff., 288, 295, 402, 410 ff., 420, 428, 436, 509, 512, 516, 521, 529, 553 ff., 561 Wertordnung 7, 25, 53, 101 ff., 212 f., 219 ff., 241, 273, 286 ff., 293 f., 350, 426 f., 453, 508 ff., 523, 535, 543, 548, 555 Wettbewerb der Konfliktlösungsmechanismen 182, 522 ff., 555 Wettbewerbsbeschränkungen 22 ff., 120, 265, 312 ff., 358, 367, 371, 431 Wirtschaftsordnung 1 ff., 11 ff., 39 ff., 53 ff., 59, 62, 65, 68, 106, 115 ff., 133 ff., 142 ff., 155 ff., 167 f., 173 ff., 224, 236 f., 243, 245, 254, 270, 282, 285, 288, 296, 334, 338, 342 f., 365 ff., 379 ff., 399 ff., 410, 416 ff., 440, 448,

602

Stichwortverzeichnis

463, 481, 494, 499, 511 ff., 544, 554, 559 ff., 564 Wirtschaftsverwaltungsrecht 27 ff., 38, 243, 252 Wissen 6, 21, 61, 110 ff., 131, 139, 142 f., 170 Zertifizierung 40, 65 Zivilgerichtsbarkeit 74, 79, 86, 90 ff., 134, 182, 345, 457, 522, 545, 556 Zivilprozess 144 ff., 532, 553 – Ablauf 140

– Anforderungen an die Parteien 537 – Aussetzung 475, 543 – Bindung an die Anträge 177, 345, 538 – Dispositionsmaxime 176 f., 218, 537 – Fristen 537 – Reformbedarf 508, 521 ff., 531, 553 – Revision 142, 157, 548 – Sachverhaltsermittlung 140 f., 155, 545 – Urteil 152, 175, 192, 212, 217, 538 – Vollstreckung 175, 220