Offene und digitale Ökosysteme: Mehrwert durch Branchen- und Technologiekonvergenz 3658424931, 9783658424930, 9783658424947

Tauchen Sie ein in die faszinierende Welt der digitalen Disruption und entdecken Sie die transformative Kraft offener un

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Offene und digitale Ökosysteme: Mehrwert durch Branchen- und Technologiekonvergenz
 3658424931, 9783658424930, 9783658424947

Table of contents :
Geleitwort
Inhaltliche Leitgedanken (Vorwort)
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
Über den Autor
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1: Einleitung
1.1 Ziele des Buches
1.2 Konvergenz
1.3 Offenheit, Agilität und Ambidexterität
1.4 Transformationszyklen
1.5 Das Ökosystem als Katalysator
1.6 Struktur des Buches
Literatur
2: Das digitale Paradigma
2.1 Die digitale Transformation
2.1.1 Von der Digitisierung zur Digitalisierung
2.1.2 Digitale Aspekte
2.1.3 Auslöser der digitalen Transformation
2.2 Disruption als Chance
2.3 Der Paradigmenwechsel
2.4 Diskontinuitäten
2.5 Finanz- und Innovationszentren
2.5.1 Globalisierung
2.5.2 Ein verlorenes Jahrzehnt im Finanzsektor
2.6 Das digitale Zeitalter
2.7 Technologie als Treiber im Kundenverhalten
2.8 Unregulierte Plattform-Ökonomie
2.9 Branchenfremde Disruptoren
2.10 Fintechs als Pioniere des digitalen Zeitalters
2.11 Digital, modular, offen und agil
Literatur
3: Trends und die Dynamik des Wandels
3.1 Die Triebkräfte des Wandels verstehen
3.2 Markt-Trends
3.2.1 Neue Weltordnung
3.2.2 Demografie
3.2.3 Vermögenswachstum
3.2.4 Irrationale Entscheidungen und Wachstumsmärkte
3.2.5 Die Neue Seidenstraße
3.2.6 Finanzielle Inklusion durch digitale Banken
3.3 Technologie-Trends
3.3.1 Der Siliziumchip als Basistechnologie
3.3.2 Die Konvergenz von Schlüsseltechnologien
3.3.3 Generative Künstliche Intelligenz
3.3.4 Cloud Computing
3.3.4.1 IT-Dienstleistungserbringung
3.3.4.2 Cloud-Native
3.3.4.3 Cloud-basierte Ökosysteme
3.3.5 Quantum Computing
3.3.5.1 Die Leistungsgrenzen sind erreicht
3.3.5.2 Der Quantencomputer
3.4 Konvergenz in Parallelwelten
3.4.1 Das Verschmelzen realer und virtueller Welten
3.4.2 Metaverse benötigt mehr Rechenleistung
3.5 Strategische Neuausrichtung
Literatur
4: Digitale Wachstumsgesetze
4.1 Der Einfluss von Größe
4.2 Wie Wachstum entsteht
4.3 Erfahrungsorientiertes Wachstum
4.4 Profitables Wachstum
4.5 Exponentielles Wachstum
4.6 Digitales Risiko
4.7 Nachhaltiges Wachstum als ultimatives Ziel
4.7.1 Das Gewinnparadoxon
4.7.2 Wohlstand neu definiert
4.8 Zukünftiges Wachstum braucht neue Innovations-Modelle
Literatur
5: Open Innovation als Grundlage
5.1 Theorie, Prozess und komplementäre Services
5.1.1 Der Innovationsprozess
5.1.2 Von der Erfindung zur Innovation
5.1.3 Innovationsarten
5.1.4 Besondere Merkmale der Dienstleistungsinnovation
5.1.5 Mehrwert durch komplementäre Services
5.2 Das traditionelle Innovationsparadigma
5.3 Ressourcenbasierte Sichtweise einnehmen
5.4 Soziales Kapital im Ökosystem
5.5 Interorganisationale Zusammenarbeit
5.6 Der Weg zur offenen Gesellschaft
5.7 Open Innovation
5.8 Interdisziplinäre Geschäftstätigkeiten in Ökosystemen
Literatur
6: Offene Ökosysteme
6.1 Digitale Plattformen und Ökosysteme
6.1.1 Ökosystem Evolution
6.1.2 Hyperkonnektivität und Netzwerkeffekte
6.1.3 Wertschöpfung in einem Ökosystem
6.1.4 Vorteile einer Ökosystemstrategie
6.2 Charakteristiken eines Ökosystems
6.2.1 Interdependenzen
6.2.2 Das allozentrische Modell
6.3 Rollen und Verantwortlichkeiten im Ökosystem
6.3.1 Vertrauen als Motor der Zusammenarbeit
6.3.2 Orchestrator
6.3.3 Lieferanten
6.3.4 Kontributoren
6.3.5 Konsumenten
6.3.6 Universitäten (Kontributoren)
6.3.7 Innovation-Labs (Kontributoren)
6.3.8 Think-Tanks (Kontributoren)
6.3.9 Start-ups (Kontributoren/Lieferanten)
6.3.10 Communities (nutzerorientierte Kontributoren)
6.3.11 Maschinen (nutzerorientierte und lieferantenorientierte Kontributoren)
6.3.12 Berater und Mentoren (Kontributoren)
6.3.13 Politische Entscheidungsträger und Regulierungsbehörden (orchestrator-orientierte Kontributoren)
6.4 Regionale Ökosysteme
6.4.1 Innovation-Cluster
6.4.2 Das Silicon-Valley-Ökosystem
6.4.3 Das Crypto-Valley-Ökosystem
6.5 Ökosysteme zur Förderung der finanziellen Inklusion
6.6 Sektorübergreifende Ökosysteme
6.6.1 Auf dem Pfad der schnellen Skalierung
6.6.2 Mit Technologie neue Geschäftsfelder erschliessen
6.7 Gesundheits-Ökosysteme
6.7.1 Daten im Zentrum
6.7.2 Ernährung, Bewegung und Entspannung
6.7.2.1 Gesundheit als holistische Aufgabe
6.7.2.2 Migros’ Ökosystem für Prävention und Gesundheitsförderung
6.7.3 Digitale Technologien verändern Erwartungen
6.7.4 Gesundheit im Datenfluss
6.7.5 Technologie, soziale Medien und Gesundheit
6.7.5.1 Tencent’s Gesundheits-Ökosystem
6.7.5.2 Agilität als Vorteil
6.7.5.3 Innovationsportfolio
6.7.5.4 Herausforderungen
6.7.5.5 Zukünftige Horizonte
6.8 Alibaba: The Winner Takes It All
6.8.1 Online einkaufen und bezahlen als Ursprungskreislauf
6.8.2 Ant Group als größter Universalfinanzdienstleister
6.8.3 Handel bleibt Kerngeschäft
6.8.4 Komplementäre Services
6.9 Die integrative Super-App
6.10 Das goldene Dreieck offener und digitaler Ökosysteme
6.11 Querverkauf im Ökosystem
6.12 Integration und Inkubation als Wegbereiter
Literatur
7: Der Weg zum Ökosystem
7.1 Geschäftsmodell-Innovationen
7.1.1 Fokus auf Kundennutzen
7.1.2 Digitale Geschäftsmodelle
7.1.3 Adaptionsfähigkeit
7.1.4 Unabhängigkeit, Transparenz und Effizienz
7.2 Automatisierung
7.3 Social Commerce als Trend im Ökosystem
7.4 Service- und Kundenorientierung
7.4.1 Market-Pull und Bedürfnisfokus
7.4.2 Dynamische Kundensegmentierung
7.4.3 Prädiktive und kognitiven Fähigkeiten
7.4.4 Verbraucher, Kunden, Nutzer
7.4.5 Vom Patienten zum Kunden
7.4.6 Zwischenmenschliche Beziehungen
7.5 Erlebnisorientierte Geschäftsmodelle
7.5.1 Lifestyle und Erlebnisse
7.5.2 Vom Autobauer zum Lifestyle-Ökosystem
7.5.3 Frauen im Zentrum
7.6 Vertrauen bleibt in der digitalen Welt wichtig
7.7 Produktentwicklung mit Plattformdaten
7.7.1 Online und wieder zurück
7.7.2 Datensammlung
7.7.3 Datenanalyse
7.7.4 Konzeptentwicklung
7.7.5 Prototyping
7.7.6 Benutzertests
7.7.7 Einführung
7.7.8 Überwachung und Optimierung
7.8 Wie bringt man alles zusammen?
7.9 Kompetenz-orientierte Ökosystemstrategien
7.10 Integration in die Unternehmensstrategie
Literatur
8: Ökosystem-Leadership
8.1 Strategischer Wandel
8.2 Dynamische Fähigkeiten
8.3 Offenheit
8.3.1 Offene und permissive Organisationskultur
8.3.2 Förderung von Innovationen im Ökosystem
8.3.3 Nachteile der Offenheit
8.4 Agilität
8.4.1 Kunden- und marktorientiert
8.4.2 Interorganisationale Agilität
8.4.3 Agile Führung
8.5 Ambidextrie
8.5.1 Organisationale Ambidextrie
8.5.1.1 Strukturelle Ambidexterität
8.5.1.2 Kontextuelle Ambidexterität
8.5.2 Hybride Ansätze
8.6 Ökosystem Governance
8.7 Ökosystem-Leadership
Literatur
9: Die Zukunft der Arbeit im Ökosystem
9.1 Was bringt die Zukunft?
9.1.1 Es gibt mehrere Zukünfte
9.1.2 Szenario: Digitale Wertschöpfung
9.1.3 Szenario: Plattform-Ökonomie
9.1.4 Szenario: Parallelwelten
9.2 Die Branchen- und Technologie-Konvergenz bestimmt alle Zukünfte
9.3 Wir sind alle Akteure im Ökosystem
9.4 Die Zukunft der Arbeit im Ökosystem
9.5 Digitale Transformation hat vorläufig kein Ende
Literatur

Citation preview

Daniel Fasnacht

Offene und digitale Ökosysteme Mehrwert durch Branchen- und Technologiekonvergenz

Offene und digitale Ökosysteme

Daniel Fasnacht

Offene und digitale Ökosysteme Mehrwert durch Branchen- und Technologiekonvergenz

Daniel Fasnacht EcosystemPartners AG Zollikon, Schweiz

ISBN 978-3-658-42493-0    ISBN 978-3-658-42494-7 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-42494-7  

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Susanne Kramer Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.

Geleitwort

Nahezu jede Branche durchläuft derzeit einen technologiegetriebenen Wandel, wobei vor allem in der westlichen Welt das Gesundheits- und Finanzwesen am stärksten von Umwälzungen betroffen zu sein scheinen. Zunehmende Vorschriften, veraltete Prozesse, Technologien und Kulturen machten die etablierten Akteure angreifbar. Die Anzahl und das Ausmaß der Möglichkeiten haben agile Unternehmer, Innovatoren und Kapital in die traditionellen Unternehmen gelockt. Es ist die digitale Transformation mit exponentiellen technologischen Entwicklungen, die es Start-ups ermöglicht, neue Produkte schnell und kostengünstig zu entwickeln und auf den Markt zu bringen. Traditionellen Unternehmen fällt es schwer, mit digitalen Innovationen Schritt zu halten und sich auf die neuen Wettbewerber und Spielregeln einzulassen. Das liegt oft daran, dass diese Unternehmen immer noch jahrzehntealte Systeme mit hohen Wartungskosten, isolierten Datenpools und einem geringeren Talentpool betreiben, was zu längeren Release-Zyklen und Integrationsproblemen mit anderen Systemen führt. Im Gegensatz dazu stehen Unternehmen, die Technologien wie Künstliche Intelligenz, Augmented Reality, Blockchain oder Quantencomputing übernommen haben. Sie umgehen Altlasten und bauen ihr Geschäft vollständig in der Cloud auf, was zu niedrigeren Betriebskosten und kürzeren Markteinführungszeiten durch kontinuierliche Lieferpraktiken führt. Als neue Marktteilnehmer können sie sich ihre Kunden, Produkte und Marktsegmente leicht aussuchen und sind nicht den Risiken der vertikalen Integration ausgesetzt. Hinzu kommt, dass der Aufstieg von Super-Apps, welche ich seit Jahren nutze und für viele Asiaten eine Selbstverständlichkeit geworden sind, eine ernsthafte Bedrohung für westliche Unternehmen darstellt. Einer der Erfolgsfaktoren von Super-Apps besteht nämlich darin, dass sie verschiedene Nutzererfahrungen zu einer einzigen zusammenführen, was die Bequemlichkeit für den Endnutzer drastisch erhöht. Nicht nur bei Alibaba, auch in vielen anderen Fällen, sind sie bereits selbst zu multilateralen Ökosystemen geworden, die viele Drittanbieter aus einer Vielzahl von eingebetteten Services umfassen. Dazu gehören Zahlungs-, Versicherungs-, Gesundheits-, Reise-, Spiel-, Essenslieferungs- und E-­ Commerce-­Dienste und viele mehr. Super-App-Anbieter kontrollieren das Kundenerlebnis und können die umfangreichen und vielfältigen Datensätze zur Bereitstellung besserer und hyperpersonalisierter Services nutzen, was wiederum meinen Alltag vereinfacht. V

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Geleitwort

Auf dem wettbewerbsintensiven und globalen Markt von heute sind Geschwindigkeit, Flexibilität und Skalierbarkeit das A und O. So haben sich beispielsweise viele Fintechs an Alibaba Cloud gewandt, um Herausforderungen zu bewältigen und zu skalieren. Dazu gehören Xendit – ein Fintech, das Zahlungslösungen anbietet und Zahlungsprozesse für Unternehmen in Indonesien, den Philippinen und Südostasien vereinfacht – und NCX – eine globale Handelsplattform, die robust, sicher und skalierbar ist und in jedem Land schnell eingesetzt werden kann. Eine skalierbare Infrastruktur war auch für AdaPundi, eine der größten Online-Kreditplattformen in Indonesien und Eigentümerin der Flaggschiff-­App AdaPundi-Pinjaman Uang Online, von entscheidender Bedeutung, als die Coronavirus-Pandemie zu einem raschen Anstieg der Nachfrage nach Online-­Kreditdiensten in Indonesien führte. Das Unternehmen sah sich mit der Herausforderung eines plötzlichen Anstiegs der Nutzerzahlen und der täglichen Transaktionen auf seiner Online-Kredit-App konfrontiert und benötigte eine flexible, belastbare Cloud-­Infrastruktur, die die Rechenressourcen entsprechend dem Volumen der Nutzeranfragen skalieren konnte. Die Beherrschung der Kosten ist besonders für aufstrebende Start-ups entscheidend, wenn sie ihre Angebote und Fähigkeiten ausbauen und die Nutzernachfrage bedienen. GCash zum Beispiel – ein philippinischer Micropayment-Dienst, der das Mobiltelefon in eine virtuelle Geldbörse verwandelt  – hatte mit einem schnellen Nutzerwachstum auf einer Legacy-Plattform vor Ort zu kämpfen. Die Skalierung der Legacy-Plattform erwies sich als zeit- und kostenintensiv, sodass GCash seine Workloads in die Public Cloud migrierte, um sich auf seine Kernkompetenzen zu konzentrieren. Diese Lösung ermöglichte es dem Unternehmen, seine Infrastruktur in Echtzeit zu skalieren, um die Nachfrage zu befriedigen, während die Möglichkeit, Dienste über die Cloud hinzuzufügen und zu entfernen, die Betriebs- und Wartungskosten reduzierte. In Indonesien betrieb der führende Anbieter digitaler Geldbörsen DANA – mit über 85 Mio. Nutzern und durchschnittlich fünf Millionen Transaktionen pro Tag – seine Infrastruktur bisher vor Ort und in einer öffentlichen Cloud. Als die Transaktionsvolumina stiegen, sah sich das Unternehmen mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert, darunter unvorhersehbare Betriebskosten für das Hosting der gesamten Infrastruktur vor Ort. Das Unternehmen entschied sich für Alibaba Cloud und setzte mehrere IaaS- und PaaS-Produkte und -Services ein, um eine vereinfachte und modernisierte IT-Infrastruktur bereitzustellen, die unter anderem Einsparungen bei den Serverinvestitionen ermöglicht. Doch sowohl traditionelle Unternehmen als auch Start-ups können voneinander lernen und sogar Synergien schaffen. Eine Stärke etablierter Firmen ist der Kundenstamm und damit verbunden Governance, Risiko und Compliance, was sie aus regulatorischen Gründen im Griff haben müssen. Auf der anderen Seite zeichnen sich junge Unternehmen oft dadurch aus, dass sie innovative und digitale Lösungen schnell auf den Markt bringen können. Open Innovation hat in dieser Hinsicht viele Vorteile und bietet Möglichkeiten für beide Parteien, wertsteigernde Dienstleistungen rund um den breiten und vielfältigen Kundenstamm der etablierten Unternehmen aufzubauen. Ich stelle fest, dass besonders in den letzten Jahren viele Unternehmen ihre Geschäftsmodelle erneuern, um auf dem Markt relevant zu bleiben. Die Cloud-Technologie hat sich

Geleitwort

VII

in der Praxis für viele weltweit bekannte Unternehmen und Organisationen als entscheidend erwiesen. Sie dient sowohl als technische Grundlage als auch als innovatives Rückgrat, um neue Geschäftsmodelle für Organisationen aller Größen und Branchen zu ermöglichen. Eines der wichtigsten Elemente des „digitalen Zeitalters“ ist meines Erachtens das Cloud Computing und die damit verbundenen Technologien, die zweifellos enorme Möglichkeiten für ein nachhaltiges Wachstum in dezentralen Ökosystemen bieten. Dieses Buch vermittelt ein klares Bild durch facettenreiche Anwendungsfälle, die zeigen, wie asiatische Innovatoren sektorübergreifende Ökosysteme schaffen und wie Co-­ Innovation zwischen mehreren Interessengruppen und Unternehmen zum Leben erweckt wird. Ich unterstütze die Erkenntnisse, im Speziellen, dass traditionelle Geschäftsmodelle sich definitiv ändern und der Tatsache Rechnung tragen müssen, dass der Wert einer Organisation in Zukunft zunehmend auch am Wert ihres Ökosystems gemessen wird. Daniel Fasnacht, mit seiner langjährigen internationalen Erfahrung in der Finanzdienstleistungs- und Unternehmensberaterbranche, verknüpft in seinem Buch facettenreich alle Bereiche, die uns täglich begegnen und für viele Menschen große Bedeutung haben. Er betont die Wichtigkeit von Open Innovation, offenen Geschäftsmodellen und offenen Ökosystemen, was auch zu einer offenen Gesellschaft beiträgt. Seine Ideen an der Schnittstelle von Branchen und Technologie sind sowohl für Akademiker als auch für Praktiker inspirierend. Ich möchte insbesondere Führungskräfte aus anderen Branchen außerhalb des Finanzwesens ermutigen, sich seine strategischen Gedanken und Konzepte zu eigen zu machen, da er wie ich an die Konvergenz von Branchen und Technologie glaubt. Lesen Sie dieses Buch, denn es wird Ihnen dabei helfen, eine Vision für die Zukunft Ihres Unternehmens zu entwickeln und Ihre Kunden auf eine digitale und bequeme Reise mitzunehmen. Selina Yuan Vice President Alibaba Group & President Alibaba Cloud Intelligence International

Inhaltliche Leitgedanken (Vorwort)

Der Ursprung all meiner Überlegungen und Publikationen in den Bereichen Open Innovation und Ökosystemen basiert auf meiner Doktorarbeit, in der ich untersuchte, wie Banken mit dem Open-Innovation-Ansatz Wettbewerbsvorteile erlangen und wie diese zur Erzielung strategischer Vorteile genutzt werden können. Ich war einer der ersten, der zu Beginn der 2000er-Jahre kollaborative und offene Ansätze zur Dienstleistungsinnovation erforschte. Ich erinnere mich noch gut daran, wie mein Doktorvater, Professor Ken Starkey, mir in einem Supervisory-Meeting vorschlug, den Artikel von Henry Chesbrough The era of open innovation, publiziert im Frühling 2003 im MIT Sloan Management Review, anzuschauen. Chesbrought’s Erkenntnisse, dass bei der Entwicklung und Kommerzialisierung von Produkten Ressourcen außerhalb der Organisationsgrenzen einbezogen werden sollten war damals neu und basierte auf Daten aus der High-Tech-Industrie von Silicon-­ Valley-­Unternehmen. Meine akademische Herausforderung bestand darin, dieses Konzept für den Finanzsektor zu adaptieren. Zudem war der Internet- und Technologiesektor nach dem Platzen der Internetblase nicht gerade ein beliebtes Forschungsgebiet. Im Gegensatz dazu war der Finanzsektor durch billige Kredite in einer starken Wachstumsphase. Banken favorisierten allerdings andere Strategien, als dass sie daran dachten, im Sinne von Open Innovation ihr Wissen und ihre Ressourcen mit ihren Wettbewerbern zu teilen. Durch die Verlagerung meiner Forschung auf Open Innovation, erhielt ich ein Stipendium für eine herausragende Forschungsidee vom Economic and Social Research Council (ESRC) des Vereinigten Königreichs und wurde von der Nottingham University Business School mit einem Scholarship Award unterstützt. Am Annual Meeting der Academy of Management, 2004 in New Orleans traf ich den Erfinder von Open Innovation, Professor Henry Chesbrough, und es entstand eine entfernte, bis heute anhaltende Zusammenarbeit, wodurch ich später auch Vorlesungen an der University of Berkeley, Haas School of Business halten durfte. Nach der Verteidigung meiner Dissertation, The Transition to Open Innovation: A Case Study in the Banking Industry Ende 2005 erkannte ich, dass Managementforschung praxisorientiert und für Manager oder auf Manager und soziale Organisationen ausgerichtet sein sollte. Ich nutzte meine Erfahrungen als Banker und habe meine Dissertation in ein praxisorientiertes Buch umgewandelt, das dann 2009 von Springer

IX

X

Inhaltliche Leitgedanken (Vorwort)

­unter dem Titel Open Innovation in the Financial Services veröffentlicht und seitdem viel zitiert wurde. Als dieses erste Buch auf den Markt kam, war niemand in der Lage, die mittelfristigen Auswirkungen der globalen Finanzkrise vorherzusagen, die nach dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 ihren Lauf nahmen. Viele Unternehmen waren in den Jahren nach der Finanzkrise gelähmt. Sie fokussierten auf Effizienzsteigerungen und mussten ihre Ressourcen für regulatorische Anforderungen aufwenden. Jedenfalls interessierte sich kaum eine Bank für Open Innovation. Das verlorene Vertrauen, unzufriedene Kunden und ein Vakuum an Innovationen und Digitalisierung motivierte die ersten Start-ups diese Lücke mit digitalen Innovationen zu schließen. Deren disruptive Geschäftsmodelle waren durch neue Modelle der Zusammenarbeit flexibler und es konnten Kundenerwartungen gezielter, schneller und besser bedient werden. Die Fintech-­Industrie entstand in dieser Zeit und sie ist ein gutes Beispiel, wie mit Hilfe digitaler Tools gemeinsam mehr Kundennutzen geschaffen werden kann. Die Öffnung von Prozessen und Geschäftsmodellen fand schnell öffentliches Interesse. Fintech-Start-ups galten als effizient und konnten gleichzeitig neue und offene Geschäftsmodelle hervorbringen. Schauen wir uns die Entwicklung genauer an: eine Google Scholar-Suche mit dem Begriff „open innovation“ im Titel ergab während meiner Forschungstätigkeit im Jahr 2004 42 Treffer, 2008, also in der Zeit, in der ich meine Erkenntnisse in ein lesbares Buch umsetzte, ergab die Suche 315 Treffer. 2018 fand ich bereits über 5000 Bücher und Artikel sowie mehrere internationale Konferenzen zu Open Innovation. Open Innovation war sogar in Berufsbezeichnungen zu finden. In einer Google-Suche mit dem Begriff „business ecosystem“ oder „digital ecosystem“, erhielt ich 1,5 Mio., respektive 4 Mio. Ergebnisse. Beim Begriff „open ecosystem“  – ohne biologische Ökosysteme  – nur gerade 240.000 Einträge. Die Literatur, welche also Open Innovation und Ökosysteme kombiniert betrachtete, war überschaubar. Um Ökosysteme als neue Zusammenarbeitsform besser zu verstehen, schrieb ich 2018 das zweite Springer-Buch Open Innovation Ecosystems, worin ich vor allem digitale Aspekte untersuchte. Ich sprach damals mit Führungskräften etablierter Unternehmen und stellte fest, dass viele Großkonzerne, Ökosystemstrategien prüften. Der Begriff „ecosystem“ wurde gemäß einer Studie der Credit Suisse, 2018 in der Hälfte aller Jahresberichte von börsenkotierten Unternehmen mindestens einmal erwähnt. 2021 konnte man den Begriff bereits in 80 % aller Geschäftsberichte lesen. Kommen wir nun zu den digitalen Aspekten. In meinen Vorlesungen spreche ich von disruptiven Technologien. Genau genommen sind es allerdings nicht Blockchain, Augmented Reality, Künstliche Intelligenz, Cloud- und Quantum Computing, die disruptiv sind, sondern deren Wirkung. Die Kombination dieser Schlüsseltechnologien führt zu exponentiellem Wachstum. Mit Metaverse werden eventuell durch die Kombination dieser disruptiven Technologien neue virtuelle Welten entstehen, die mehr Wert generieren als herkömmliche, real existierende Geschäfte. Wenn digitale, physische, finanzielle, ­gesundheitliche und soziale Welten mit persönlichen Erlebnissen durch vernetzte Geräte

Inhaltliche Leitgedanken (Vorwort)

XI

miteinander verbunden werden, steigt irgendwann die Nachfrage nach digital-optimierten Kundenerlebnissen. Neben der technologischen Konvergenz beobachte ich seit einigen Jahren eine generelle Konvergenz von Disziplinen und Fähigkeiten. Im Rahmen der Gamification, ist zu sehen, wie spielerische Elemente (Minispiele, Rätsel und Quizzes) in einen spielfremden Kontext eingebettet werden, um die Motivation der Nutzer zu steigern oder Verhalten zu ändern. Anwendungsgebiete gibt es in vielen Sektoren. In der Bildung stößt game-based learning auf generelles Interesse und im Gesundheitswesen können, unter Einbeziehung praxisrelevanter Datensätze und Künstlicher Intelligenz, Situationen bei der Ausbildung von Assistenzärzten simuliert und spielerisch erlernt werden. Da Gesundheitsdaten, ebenso wie Finanzdaten, besonders schützenswerte Personendaten sind, ist die nächste Überlegung, diese verteilt in der Blockchain zur Verfügung zu stellen. Dies würde im Gegensatz zu zentral verwalteten Datenbeständen bei Krankenhäusern oder Banken, Datenschutz und Datenintegrität verbessern. Die Blockchain-­Technologie kann nicht nur Intermediäre ausschalten, sondern auch Datensilos, Monopolmacht und Datenzugriffe demokratisieren. Aktuell werden sensible Daten von zentralisierten Privatunternehmen kontrolliert. Im Rahmen der Web3-Diskussion, könnten diese Daten über ein verteiltes Computernetzwerk gestreut und vom Dateneigentümer selbst verwaltet werden. Solche Szenarien bedingen dann weitere Konzepte, wie eine elektronische Identifikation (E-ID) und Authentifizierungsstelle (Self-Souvereign Identity) oder das elektronische Patientendossier (EPD). Der bekannteste Anwendungsfall der Blockchain-Technologie sind Kryptowährungen, die digitale Werte aufteilen und handelbar machen und dazu weder Zentralbanken noch sonstige Banken benötigen. Im Buch wird auf einige Szenarien eingegangen und Sie erfahren, wie sich Finanz- und Gesundheitsthemen mit E-Commerce, Life­ style und sozialen Medien durch die gemeinsame Nutzung von Daten, verbinden. Das Datenvolumen, wie auch dessen Analyse- und Verbreitungsmöglichkeiten, steigt seit Jahren exponentiell und es werden immer mehr Rechenkapazitäten benötigt. Cloud Computing und Software-as-a-Services balancieren das etwas aus. Unternehmen haben erkannt, dass sie nicht mehr alles selbst entwickeln und lokal auf eigenen Servern betreiben müssen. Auch vom Markt kommt immer mehr Druck. Bedürfnisse, wie beispielsweise die Analyse eines biologischen DNA-Profils, schnell und kosteneffizient über eine Online-­ Plattform bestellen zu können, haben dazu geführt, dass sich die Preise für eine DNA-­ Analyse gemäß einer Berechnung der School of Disruption von 2017 10 Mio. US-Dollar auf heute rund 50 US-Dollar verbilligt haben. Ein solcher exponentieller Zerfall war nur möglich mit immer billigerer und leistungsfähigerer Hard- und Software und der Verschmelzung von Technologien, welche dann wieder neue Innovationen hervorbrachte. Ökosysteme treiben Komplexität, indem immer mehr Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Teilnehmern entstehen und bei Simulationen immer mehr Einflussgrößen berücksichtigt werden müssen. Auch die stark steigenden Anforderungen von Künstlicher Intelligenz und die Ansprüche an die generative Künstliche Intelligenz können bald mit herkömmlichen Computern nicht mehr bedient werden. Technologie-Push und Market-­ Pull  – beides führt dazu, dass in absehbarer Zeit die auf Silizium basierende Transis­ tortechnologie keine exponentiellen Leistungssteigerungen bei gleichzeitiger Verdichtung

XII

Inhaltliche Leitgedanken (Vorwort)

und Kostenzerfall leisten kann. Das ist der Grund, weshalb in diesem Buch auch Technologien wie der Quantencomputer erwähnt werden. Der Quantencomputer basiert nämlich nicht auf herkömmlicher Transistor technologie und nutzt anstatt des Binärsystems sogenannte Quantum-Bits (Qubits), mit denen sich beliebig viele Zuständein einem Kontinuum zwischen 0 und 1 parallel berechnen lassen. Mit den erwarteten exponentiellen Leistungssteigerungen lassen sich so neue Werteangebote in verteilten Computernetzwerken schaffen, die mittelfristig konventionelle Geschäftsmodelle verdrängen (disruptieren). Der Trend zur Personalisierung und Entscheidungsunterstützung mit Hilfe leicht zugänglicher kognitiver Tools wird weiter anhalten. Negative Verhaltensweisen, wie emotionale Entscheidungen und Überreaktionen, könnten durch eine Neuverdrahtung der menschlichen Gehirne reduziert werden. Etliche Fintech-Firmen haben bereits reale Aktivitäten in spielähnliche Aktivitäten umgewandelt, um Kunden zu motivieren, ihre Lebensund Anlageziele zu verbinden. Dabei kommt immer mehr kognitive Technologie zum Einsatz. Das bedeutet eine schleichende Verlagerung der Disruption in nachhaltige Innovation, was eigentlich auf den ersten Blick positiv ist. Wenn wir aber Künstliche Intelligenz in Wertschöpfungsprozesse integrieren, ergeben sich daraus wieder andere Probleme, wie Nachvollziehbarkeit, Diskriminierungen oder rassistische Fehlbeurteilungen. Nur vorhandene Daten analysieren und interpretieren entspricht einer Verbesserung des Status quo. Generative Künstliche Intelligenz kann aber aus vorhandenen Daten neue, bisher unbekannte Daten generieren, wie zum Beispiel Bilder, Musik oder Texte und so gänzlich neue Inhalte entstehen lassen. So ergeben sich immer mehr Lösungen oder Kundenerlebnisse, bei denen wir uns gar nicht mehr bewusst sind, wer was zu einem Service beigetragen hat. Hier habe ich angesetzt und diese Aspekte positiv aufgenommen, um zu zeigen, was in Zukunft möglich ist. Dementsprechend verliert sich die Kundenreise in fragmentierten Services aus diversen Sektoren die nahtlos integriert sind. Disziplinen und Fähigkeiten verbinden sich und als Konsument hangeln wir uns dabei von Ökosystem zu Ökosystem, ohne dies zu merken. Auch den Betrieb und die Technologien, welche die Plattformbetreiber bereitstellen, nehmen wir nicht wahr, ebenso wie die Vermischung von Online- und Offline-Handel und realer und virtueller Welt. Solche Szenarien werden Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft in den nächsten zehn Jahren noch radikaler verändern, als wir es in den letzten Jahrzehnten erlebt haben. In der Zukunft wird mehr als ein Unternehmen und eine Plattform beansprucht, um mannigfaltige Kundenwünsche zu bedienen. Und nun kommen wir zum Punkt: Open Innovation dient als Grundsatz für die interorganisationale Zusammenarbeit und interdisziplinäre Geschäftstätigkeiten. Kollaborationen werden bereits heute durch immer bessere digitale Tools unterstützt. Um das Zusammenspiel von Akteuren in einem Ökosystem zu koordinieren und Services geregelt abrufen zu können, braucht es eine digitale Plattform, welche die Infrastruktur bereitstellt. Die Kundeninteraktion wird durch eine Super-App zentralisiert. Auf einem Smartphone können so Benutzer Informationen abrufen, sich über soziale Medien austauschen und Transaktionen auslösen. Die Wertschöpfung verlagert sich durch ein Plattform- oder Ökosystem-Modell von der vertikalen Integration innerhalb eines Unternehmens in ein System von unabhängigen, aber interagierenden Wertgenerato-

Inhaltliche Leitgedanken (Vorwort)

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ren. So ein offenes Ökosystem hat einen gemeinsamen Sinn und Zweck (shared purpose), worin der Benutzer gleichzeitig Produzent und Konsument sein kann, so wie wir das von Youtube und TikTok kennen. Während Branchen und Unternehmensgrenzen verfließen – also konvergieren – werden wir immer wieder neue Kombinationen disruptiver Technologien erleben, welche dann zu neuen Anwendungen, integriert durch eine Super-­App, führen. All das hat mich dazu motiviert das neue digitale Geschäftsparadigma zu erforschen und die Chancen der Konvergenz für das nächste Jahrzehnt aufzuzeigen. Das Buch beschreibt anhand von Fallstudien und Beispielen, wie Open Innovation, Open Finance vorangetrieben hat und wie sich mit Open Data offene Ökosysteme entwickeln lassen. In der Plattform-Ökonomie sorgen Netzwerkeffekte für exponentielles Wachstum und Social Commerce gewinnt an Bedeutung. Ich möchte branchenübergreifende Ökosysteme als Zukunftsmodell für die gemeinschaftsorientierte Wertschöpfung empfehlen und mit meinen Ideen den Horizont von Entscheidungsträgern erweitern. In einem Buchkapitel (Digital Ecosystems und Super-Apps) habe ich 2021 das Konzept des goldenen Dreiecks digitaler Ökosysteme, entwickelt und aufgezeigt, wie sich E-Commerce, Logistik, Social Media, Lifestyle und der Finanz- und Gesundheitssektor verbinden. Denn letztendlich geht es in allen Geschäften (außer bei Non-Profit-Organisationen) darum, einen ökonomischen Nutzen zu erzielen. Die Ursprungsperspektive aus dem Finanzsektor der letzten zwei Bücher machte Sinn, weil jedem Kauf eine Finanztransaktion folgt und Menschen die finanzielle Gesundheit und die körperliche Gesundheit ebenso wichtig sind. Es ist nun an der Zeit einen Schritt weiter zu denken und deshalb beschränke ich mich nicht auf einen Sektor, sondern erkläre offene Ökosystem-Geschäftsmodelle anhand von diversen Fallbeispielen aus allen Sektoren. Dieses Buch zeigt, warum die Gestaltung und das Management von offenen Ökosystemen überlebenswichtig ist. Es dient als pragmatischer Leitfaden, wie visionäre Führungskräfte zu einem Modell übergehen können, bei dem Kunden und Daten integraler Bestandteil der Wertschöpfung sind, die über die Kernkompetenzen ihrer eigentlichen Branche hinaus gehen. Wenn Innovationen mit Hilfe mehrerer aufeinander abgestimmter disruptiver Technologien und mit der Unterstützung verschiedenster Teilnehmer in einem offenen Ökosystem geschaffen werden, erhalten wir Open Innovation 2.0 in Verbindung mit Industrie 4.0 was zu Society 5.0 führt. Um eine Rolle in diesem digitalen Paradigma zu spielen, brauchen wir neue dynamische (Ökosystem)-Fähigkeiten. Dementsprechend müssen wir eine offene Organisationskultur mit agilen Führungsgrundsätzen, welche auf systemischen und synergetischen Ansätzen beruhen, etablieren. Wenn wir innovative, ganzheitliche und offene Denkmodelle nutzen, um Disruptionen auszulösen, können wir zusätzlich zum Tagesgeschäft neue Sichtweisen entwickeln und traditionelle Geschäftsmodelle aufbrechen und auf eine neue Art und Weise Wert generieren. Dies beschreibe ich unter Ambidexterität – neben Offenheit und Agilität das dritte Schlüsselprinzip für offene Ökosysteme. Um mein Methodenwissen mit Marktwissen zu ergänzen habe ich neben meiner Kernbranche – dem Finanzsektor – mein akademisches und berufliches Netzwerk genutzt und mir in den letzten fünf Jahren relevantes Wissen aus anderen Sektoren angeeignet. Diese Agilität hat mir die

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Inhaltliche Leitgedanken (Vorwort)

Augen geöffnet und beweist, dass man seiner Branche verbunden bleiben kann, während man neue Märkte erkundet. Die Erkenntnisse dieses Buches beruhen auf einer Literaturrecherche über die letzten zehn Jahre und empirischer Marktforschung. Ich habe mich mit vielen Gründern aufstrebender Unternehmen getroffen und ausführliche Interviews geführt, aber auch in Beratungsprojekten viel gelernt. Mit Ökosystem-Leadern wie Alibaba und Tencent habe ich mich in den letzten drei Jahren intensiv in Workshops und Treffen ausgetauscht und integriere deren Spezialisten regelmässig als Referenten in meine Vorlesungen. Besonders im Rahmen meiner Tätigkeiten als Experte bei Innosuisse, der Schweizer Agentur des Bundes für Innovationsförderung, wo ich Start-up-Ideen bewerte und Fördergelder vorschlage, ist mir aufgefallen, dass die meisten Antragssteller digitale Innovationen, Plattform- und Ökosystem-Geschäftsmodelle anstreben. Interessant ist auch, dass der Kundenfokus bei vielen Start-ups zentral ist, was heißt, es wird versucht Mehrwert für Kunden zu generieren, unabhängig in welchen Sektoren- und Industrien sich die Wertgeneratoren befinden. Dadurch wird die Welt immer komplexer und vernetzter. Think Tanks und Innovation-Labs können großen wie auch mittelständischen Unternehmen helfen sich zurecht zu finden. Ich arbeite entsprechend mit dem Gottlieb Duttweiler Institut zusammen und bin engagiert in Wirtschaftsausschüssen und Gremien. Zudem habe ich im Rahmen meiner Lehrtätigkeiten an der Universität Zürich und Kalaidos Fachhochschule von Teilnehmern meiner Executive- Education-Kurse gelernt, welche die Trends und Herausforderungen in einer vernetzten Geschäftswelt sind. Neben der Evaluation und dem Einsatz disruptiver Technologien sind dies der richtige Umgang mit Plattformen und Ökosystemen. Zur Unterstützung meiner angewandten und qualitativen Forschung integriere ich stets Ansichten und radikale Meinungen von Menschen aus verschiedenen Altersgruppen, Herkunft oder Ethnien. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass ich Frauen und Männer gleichermaßen schätze und in jedem Bezug gleichberechtigt anspreche. Aus Gründen der Lesbarkeit verzichte ich auf eine genderneutrale Schreibweise. Auch deshalb, weil das generische Femininum in der deutschen Rechtschreibung gar nicht existiert und die künstliche Erwähnung eher kontraproduktiv ist. Ich hoffe, Ihnen als mündiger Leser ist intuitiv klar, dass die Sprache das Denken nicht formt und dass das übertriebene Gendern unsere gesellschaftlichen Verhältnisse nicht beeinflusst. Konzentrieren wir uns also lieber auf die Themen des Buches, welches die wirklichen Herausforderungen unserer Gesellschaft reflektieren. Ziel aller meiner Arbeiten und Diskussionen war es immer, ein Verständnis für Visionen, Geschäftsstrategien, Erfahrungen, Motive, Bedeutungen, Kontexte, Situationen und Umstände von Aktivitäten im Zusammenhang mit Technologie, Innovation und strategischem Wandel zu gewinnen. Die interessanten, unkonventionellen Einblicke und die alternativen Zukunftsszenarien unterstützen die Branchen- und Technologiekonvergenz. Mit diesem Buch möchte ich meine Erfahrungen und Erkenntnisse im Kontext der Evolution von Open Innovation und offenen Ökosystemen weitergeben. Ich bin sicher, dass das Modell der Zukunft in wertschöpfenden Konstellationen mit diversen Akteuren in offenen und digitalen Ökosystemen liegt. Entsprechend zeige ich nicht nur die neuesten Trends, sondern auch Wege, wie Sie Ihr Geschäftsmodell erneuern können, um nachhaltig und ­profitabel zu wachsen. Mein Buch richtet sich gleichermaßen an Wissenschaftler und

Inhaltliche Leitgedanken (Vorwort)

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Praktiker. Es steht für strategisches Management in einer modernen digitalen Welt, wo wir als Individuum mehr Verantwortung übernehmen müssen. Vieles kommt aus meiner inneren Überzeugung und spiegelt meine persönlichen Werte, Gedanken, Annahmen und Zukunftserwartungen, die meine akademische und berufliche Karriere, ergo mein Leben, geprägt haben. Meine Ideen und Vorschläge sind weder eine Garantie für wirtschaftlichen Erfolg noch für ein besseres Leben. Ich hoffe aber, dass Sie trotzdem etwas lernen. Halten Sie sich an die Ökosystemtheorie, wo Offenheit der erste Schritt für eine bessere Zusammenarbeit ist und wo jede Anspruchsgruppe etwas zur Verfügung stellt, was eine andere benötigt. Arbeiten wir also zusammen und versuchen, das für Sie Relevante aus diesem Buch herauszukristallisieren! Zürich, Schweiz

Dr. Daniel Fasnacht

Danksagung

Dies ist mein viertes Buch und das Zweite, was nur mit der Unterstützung meiner Familie möglich war. Entsprechend möchte ich Katrin, Simon, Julius und Nelly für Eure Liebe und Euer Verständnis danken, dass ich die vielen Wochenenden im Büro vor dem Computer saß! Das Buch basiert auf meiner Forschung, die obschon bereits 20 Jahre alt, heute relevanter als je zuvor scheint. Mein Dank gilt somit meinem Doktorvater, Professor Ken Starkey, der mich in Richtung Open Innovation gedrängt hat, und Professor Henry Chesbrough, ohne dessen Gedanken zu Open Innovation und Gesprächen ich nicht in der Lage gewesen wäre, mit meinen Artikeln und Büchern einen Beitrag zur Literatur zu leisten. Im Rahmen der Recherche durfte ich mich intensiv mit interessanten Persönlichkeiten aus der Wirtschaft austauschen. Danke Christopher Heinrich, Managing Director und Dr. Daniel Kobler, Leiter Kapitalmarktindustrie von Accenture, Selina Steinmann, Leiterin Gesundheitskoordination bei Migros, Chenchao Liu, CEO von Silreal, Bernd Eitel, Director Global Communications, Tencent Europe, Dr. Ye Huang, General Manager, Alibaba Cloud, Oliver Arafat, Head of Cloud Solution Architects DACH und CEE, Alibaba und Selina Yuan, President Alibaba Cloud Intelligence International für die wertvollen Beiträge, respektive das Vorwort. Ich bin auch NatWest und der Global Banking Alliance for Women, insbesondere Vanessa Van Landingham, sehr dankbar für das außerordentliche Beispiel, welches aufzeigt, dass ein Ökosystem genutzt werden kann, um Frauen in der Wirtschaft zu vernetzen und zu fördern. Ein besonderer Dank geht an Professor Dr. Jochen Menges vom Center for Leadership in the Future of Work der Universität Zürich für die geteilten Forschungserkenntnisse. Dass ich beim Springer Verlag mein drittes Buch publizieren durfte, hat mit Vertrauen zu tun. Ich bedanke mich hiermit bei allen Unterstützern und im Speziellen bei Carina Reibold, Executive Editor und Susanne Kramer, Lektorin von Springer Gabler.

Zürich, Schweiz

Dr. Daniel Fasnacht

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung������������������������������������������������������������������������������������������������������������    1 1.1 Ziele des Buches ����������������������������������������������������������������������������������������    1 1.2 Konvergenz ������������������������������������������������������������������������������������������������    5 1.3 Offenheit, Agilität und Ambidexterität ������������������������������������������������������    7 1.4 Transformationszyklen��������������������������������������������������������������������������������    9 1.5 Das Ökosystem als Katalysator������������������������������������������������������������������   16 1.6 Struktur des Buches������������������������������������������������������������������������������������   18 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������   19 2 D  as digitale Paradigma��������������������������������������������������������������������������������������   21 2.1 Die digitale Transformation������������������������������������������������������������������������   21 2.1.1 Von der Digitisierung zur Digitalisierung��������������������������������������   21 2.1.2 Digitale Aspekte������������������������������������������������������������������������������   23 2.1.3 Auslöser der digitalen Transformation�������������������������������������������   26 2.2 Disruption als Chance ��������������������������������������������������������������������������������   27 2.3 Der Paradigmenwechsel������������������������������������������������������������������������������   32 2.4 Diskontinuitäten������������������������������������������������������������������������������������������   34 2.5 Finanz- und Innovationszentren������������������������������������������������������������������   36 2.5.1 Globalisierung��������������������������������������������������������������������������������   36 2.5.2 Ein verlorenes Jahrzehnt im Finanzsektor��������������������������������������   37 2.6 Das digitale Zeitalter����������������������������������������������������������������������������������   39 2.7 Technologie als Treiber im Kundenverhalten ��������������������������������������������   41 2.8 Unregulierte Plattform-Ökonomie��������������������������������������������������������������   42 2.9 Branchenfremde Disruptoren����������������������������������������������������������������������   44 2.10 Fintechs als Pioniere des digitalen Zeitalters����������������������������������������������   46 2.11 Digital, modular, offen und agil������������������������������������������������������������������   50 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������   51 3 T  rends und die Dynamik des Wandels ������������������������������������������������������������   55 3.1 Die Triebkräfte des Wandels verstehen������������������������������������������������������   55 3.2 Markt-Trends����������������������������������������������������������������������������������������������   58

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3.2.1 Neue Weltordnung��������������������������������������������������������������������������   58 3.2.2 Demografie��������������������������������������������������������������������������������������   59 3.2.3 Vermögenswachstum����������������������������������������������������������������������   60 3.2.4 Irrationale Entscheidungen und Wachstumsmärkte������������������������   61 3.2.5 Die Neue Seidenstraße��������������������������������������������������������������������   63 3.2.6 Finanzielle Inklusion durch digitale Banken����������������������������������   64 3.3 Technologie-Trends������������������������������������������������������������������������������������   66 3.3.1 Der Siliziumchip als Basistechnologie ������������������������������������������   66 3.3.2 Die Konvergenz von Schlüsseltechnologien����������������������������������   67 3.3.3 Generative Künstliche Intelligenz��������������������������������������������������   68 3.3.4 Cloud Computing����������������������������������������������������������������������������   70 3.3.5 Quantum Computing����������������������������������������������������������������������   73 3.4 Konvergenz in Parallelwelten���������������������������������������������������������������������   76 3.4.1 Das Verschmelzen realer und virtueller Welten������������������������������   76 3.4.2 Metaverse benötigt mehr Rechenleistung ��������������������������������������   78 3.5 Strategische Neuausrichtung����������������������������������������������������������������������   79 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������   80 4 Digitale Wachstumsgesetze��������������������������������������������������������������������������������   83 4.1 Der Einfluss von Größe������������������������������������������������������������������������������   84 4.2 Wie Wachstum entsteht������������������������������������������������������������������������������   85 4.3 Erfahrungsorientiertes Wachstum ��������������������������������������������������������������   88 4.4 Profitables Wachstum����������������������������������������������������������������������������������   91 4.5 Exponentielles Wachstum ��������������������������������������������������������������������������   94 4.6 Digitales Risiko������������������������������������������������������������������������������������������   99 4.7 Nachhaltiges Wachstum als ultimatives Ziel����������������������������������������������  102 4.7.1 Das Gewinnparadoxon��������������������������������������������������������������������  102 4.7.2 Wohlstand neu definiert������������������������������������������������������������������  103 4.8 Zukünftiges Wachstum braucht neue Innovations-Modelle������������������������  104 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  105 5 O  pen Innovation als Grundlage ����������������������������������������������������������������������  109 5.1 Theorie, Prozess und komplementäre Services������������������������������������������  109 5.1.1 Der Innovationsprozess������������������������������������������������������������������  109 5.1.2 Von der Erfindung zur Innovation��������������������������������������������������  112 5.1.3 Innovationsarten������������������������������������������������������������������������������  114 5.1.4 Besondere Merkmale der Dienstleistungsinnovation ��������������������  115 5.1.5 Mehrwert durch komplementäre Services��������������������������������������  117 5.2 Das traditionelle Innovationsparadigma ����������������������������������������������������  117 5.3 Ressourcenbasierte Sichtweise einnehmen������������������������������������������������  119 5.4 Soziales Kapital im Ökosystem������������������������������������������������������������������  120 5.5 Interorganisationale Zusammenarbeit��������������������������������������������������������  122 5.6 Der Weg zur offenen Gesellschaft��������������������������������������������������������������  124

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5.7 Open Innovation������������������������������������������������������������������������������������������  127 5.8 Interdisziplinäre Geschäftstätigkeiten in Ökosystemen������������������������������  129 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  130 6 Offene Ökosysteme��������������������������������������������������������������������������������������������  133 6.1 Digitale Plattformen und Ökosysteme��������������������������������������������������������  134 6.1.1 Ökosystem Evolution����������������������������������������������������������������������  134 6.1.2 Hyperkonnektivität und Netzwerkeffekte ��������������������������������������  138 6.1.3 Wertschöpfung in einem Ökosystem����������������������������������������������  140 6.1.4 Vorteile einer Ökosystemstrategie��������������������������������������������������  143 6.2 Charakteristiken eines Ökosystems������������������������������������������������������������  144 6.2.1 Interdependenzen����������������������������������������������������������������������������  144 6.2.2 Das allozentrische Modell��������������������������������������������������������������  147 6.3 Rollen und Verantwortlichkeiten im Ökosystem����������������������������������������  149 6.3.1 Vertrauen als Motor der Zusammenarbeit��������������������������������������  149 6.3.2 Orchestrator������������������������������������������������������������������������������������  151 6.3.3 Lieferanten��������������������������������������������������������������������������������������  152 6.3.4 Kontributoren����������������������������������������������������������������������������������  152 6.3.5 Konsumenten����������������������������������������������������������������������������������  152 6.3.6 Universitäten (Kontributoren) ��������������������������������������������������������  154 6.3.7 Innovation-Labs (Kontributoren)����������������������������������������������������  154 6.3.8 Think-Tanks (Kontributoren)����������������������������������������������������������  155 6.3.9 Start-ups (Kontributoren/Lieferanten)��������������������������������������������  156 6.3.10 Communities (nutzerorientierte Kontributoren) ����������������������������  157 6.3.11 Maschinen (nutzerorientierte und lieferantenorientierte Kontributoren)��������������������������������������������������������������������������������  158 6.3.12 Berater und Mentoren (Kontributoren) ������������������������������������������  159 6.3.13 Politische Entscheidungsträger und Regulierungsbehörden (orchestrator-orientierte Kontributoren)������������������������������������������  161 6.4 Regionale Ökosysteme��������������������������������������������������������������������������������  162 6.4.1 Innovation-Cluster��������������������������������������������������������������������������  162 6.4.2 Das Silicon-Valley-Ökosystem ������������������������������������������������������  163 6.4.3 Das Crypto-Valley-Ökosystem ������������������������������������������������������  166 6.5 Ökosysteme zur Förderung der finanziellen Inklusion ������������������������������  169 6.6 Sektorübergreifende Ökosysteme ��������������������������������������������������������������  172 6.6.1 Auf dem Pfad der schnellen Skalierung������������������������������������������  172 6.6.2 Mit Technologie neue Geschäftsfelder erschliessen ����������������������  172 6.7 Gesundheits-Ökosysteme����������������������������������������������������������������������������  174 6.7.1 Daten im Zentrum ��������������������������������������������������������������������������  174 6.7.2 Ernährung, Bewegung und Entspannung����������������������������������������  176 6.7.3 Digitale Technologien verändern Erwartungen������������������������������  180 6.7.4 Gesundheit im Datenfluss ��������������������������������������������������������������  180 6.7.5 Technologie, soziale Medien und Gesundheit��������������������������������  181

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6.8 Alibaba: The Winner Takes It All ��������������������������������������������������������������  185 6.8.1 Online einkaufen und bezahlen als Ursprungskreislauf�����������������  185 6.8.2 Ant Group als größter Universalfinanzdienstleister������������������������  191 6.8.3 Handel bleibt Kerngeschäft������������������������������������������������������������  192 6.8.4 Komplementäre Services����������������������������������������������������������������  195 6.9 Die integrative Super-App��������������������������������������������������������������������������  196 6.10 Das goldene Dreieck offener und digitaler Ökosysteme����������������������������  199 6.11 Querverkauf im Ökosystem������������������������������������������������������������������������  200 6.12 Integration und Inkubation als Wegbereiter������������������������������������������������  201 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  205 7 D  er Weg zum Ökosystem����������������������������������������������������������������������������������  209 7.1 Geschäftsmodell-Innovationen ������������������������������������������������������������������  209 7.1.1 Fokus auf Kundennutzen����������������������������������������������������������������  209 7.1.2 Digitale Geschäftsmodelle��������������������������������������������������������������  211 7.1.3 Adaptionsfähigkeit��������������������������������������������������������������������������  212 7.1.4 Unabhängigkeit, Transparenz und Effizienz ����������������������������������  213 7.2 Automatisierung������������������������������������������������������������������������������������������  215 7.3 Social Commerce als Trend im Ökosystem������������������������������������������������  217 7.4 Service- und Kundenorientierung ��������������������������������������������������������������  219 7.4.1 Market-Pull und Bedürfnisfokus����������������������������������������������������  219 7.4.2 Dynamische Kundensegmentierung ����������������������������������������������  222 7.4.3 Prädiktive und kognitiven Fähigkeiten�������������������������������������������  225 7.4.4 Verbraucher, Kunden, Nutzer����������������������������������������������������������  229 7.4.5 Vom Patienten zum Kunden������������������������������������������������������������  230 7.4.6 Zwischenmenschliche Beziehungen ����������������������������������������������  230 7.5 Erlebnisorientierte Geschäftsmodelle ��������������������������������������������������������  232 7.5.1 Lifestyle und Erlebnisse������������������������������������������������������������������  232 7.5.2 Vom Autobauer zum Lifestyle-Ökosystem ������������������������������������  233 7.5.3 Frauen im Zentrum ������������������������������������������������������������������������  236 7.6 Vertrauen bleibt in der digitalen Welt wichtig��������������������������������������������  241 7.7 Produktentwicklung mit Plattformdaten ����������������������������������������������������  243 7.7.1 Online und wieder zurück��������������������������������������������������������������  243 7.7.2 Datensammlung������������������������������������������������������������������������������  244 7.7.3 Datenanalyse ����������������������������������������������������������������������������������  244 7.7.4 Konzeptentwicklung ����������������������������������������������������������������������  245 7.7.5 Prototyping��������������������������������������������������������������������������������������  245 7.7.6 Benutzertests ����������������������������������������������������������������������������������  246 7.7.7 Einführung��������������������������������������������������������������������������������������  246 7.7.8 Überwachung und Optimierung������������������������������������������������������  246 7.8 Wie bringt man alles zusammen? ��������������������������������������������������������������  247

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7.9 Kompetenz-orientierte Ökosystemstrategien����������������������������������������������  248 7.10 Integration in die Unternehmensstrategie ��������������������������������������������������  250 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  251 8 Ökosystem-Leadership��������������������������������������������������������������������������������������  255 8.1 Strategischer Wandel����������������������������������������������������������������������������������  255 8.2 Dynamische Fähigkeiten����������������������������������������������������������������������������  257 8.3 Offenheit ����������������������������������������������������������������������������������������������������  258 8.3.1 Offene und permissive Organisationskultur������������������������������������  258 8.3.2 Förderung von Innovationen im Ökosystem����������������������������������  261 8.3.3 Nachteile der Offenheit������������������������������������������������������������������  262 8.4 Agilität��������������������������������������������������������������������������������������������������������  263 8.4.1 Kunden- und marktorientiert����������������������������������������������������������  263 8.4.2 Interorganisationale Agilität������������������������������������������������������������  265 8.4.3 Agile Führung ��������������������������������������������������������������������������������  267 8.5 Ambidextrie������������������������������������������������������������������������������������������������  269 8.5.1 Organisationale Ambidextrie����������������������������������������������������������  269 8.5.2 Hybride Ansätze������������������������������������������������������������������������������  271 8.6 Ökosystem Governance������������������������������������������������������������������������������  273 8.7 Ökosystem-Leadership ������������������������������������������������������������������������������  275 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  278 9 D  ie Zukunft der Arbeit im Ökosystem������������������������������������������������������������  283 9.1 Was bringt die Zukunft?������������������������������������������������������������������������������  283 9.1.1 Es gibt mehrere Zukünfte���������������������������������������������������������������  283 9.1.2 Szenario: Digitale Wertschöpfung��������������������������������������������������  286 9.1.3 Szenario: Plattform-Ökonomie ������������������������������������������������������  287 9.1.4 Szenario: Parallelwelten������������������������������������������������������������������  288 9.2 Die Branchen- und Technologie-Konvergenz bestimmt alle Zukünfte������  289 9.3 Wir sind alle Akteure im Ökosystem����������������������������������������������������������  291 9.4 Die Zukunft der Arbeit im Ökosystem��������������������������������������������������������  292 9.5 Digitale Transformation hat vorläufig kein Ende����������������������������������������  296 Literatur����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  298

Über den Autor

Dr. Daniel  Fasnacht  ist eine Führungspersönlichkeit mit 25 Jahren internationaler Berufserfahrung in der Finanz- und Technologiebranche. Er begann seine Karriere als Berater bei SAP und Accenture, wo er komplexe Projekte rund um den Globus leitetet und als Key Account Manager Großkunden betreute. Später arbeitete er für Privatbanken wie Credit Suisse und Julius Bär, wo er internationale Märkte entwickelte und vermögende Privatpersonen und Familien in Lateinamerika und den Bahamas betreute. In jüngster Zeit war er als Geschäftsführer mit dem Aufbau kleiner Vermögensverwalter in der Schweiz betraut. Er ist der Gründer von EcosystemPartners AG, einer Beratungsfirma für Strategie, Innovation und Transformation, Programmleiter und Fellow am Institut für Banking und Finance sowie Dozent bei der Executive Education an der Universität Zürich und Dozent an der Kalaidos Fachhochschule. Er ist Reviewer beim California Management Review, Systems Research and Behavioral Science Journal, Experte bei der Schweizer Agentur für Innovationsförderung Innosuisse, leitet die Fachgruppe Innovation bei SwissICT und ist in diversen Gremien und als Verwaltungsrat engagiert. Während seiner Doktorarbeit stieß er 2002 auf das Open-­ Innovation-­Konzept und war einer der ersten, der die Forschungsergebnisse von Professor Henry Chesbrough aus der Hightech-­ Industrie im Silicon Valley in seiner Dissertation The Transition to Open Innovation: A Case Study in the Banking Industry auf den Finanzsektor übertrug. Seine vielen Artikel und Vorträge zu Open Innovation und Ökosystemen und die beim Springer Verlag veröffentlichten Bücher, Open Innovation in the Financial Services und Open Innovation Ecosystems dienen als Grundlage für dieses Buch.

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Über den Autor

Als Autor, Forscher und Berater bewegt er sich an der Schnittstelle von Technologie und Business. Er weiß, was Disruption bedeutet und kennt die Herausforderungen von Großkonzernen und Start-ups und ist überzeugt, dass im Rahmen der Branchen- und Technologiekonvergenz reale und virtuelle Welten zusammenwachsen und zukünftige Geschäftsmodelle in offenen, digitalen Ökosystemen implementiert werden. Daniel Fasnacht verfügt über Abschlüsse in Betriebs- und Wirtschaftsinformatik, einen MBA von der Universität St. Gallen, in Kollaboration mit der University of Berkeley, Haas School of Business, USA, und einen Doktortitel in strategischem Management und Innovation der University of Nottingham, Großbritannien.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1.1 Transformationszyklen und Projektionen (eigene Darstellung) ����������������   11 Abb. 2.1 Die drei Phasen der digitalen Transformation (eigene Darstellung)����������   24 Abb. 2.2 Belastende Einflussfaktoren für das Banking 2005–2019. (Quelle: Accenture)������������������������������������������������������������������������������������   39 Abb. 3.1 Trend-Dimensionen (eigene Darstellung)��������������������������������������������������   56 Abb. 4.1 Arten von Netzwerkeffekten (eigene Darstellung) ������������������������������������   97 Abb. 4.2 Exponentielle Wachstumskurven anhand der Netzwerkgesetze (eigene Darstellung)������������������������������������������������������������������������������������   98 Abb. 6.1 Migros’ offenes Gesundheitsökosystem. (Quelle: Migros)������������������������  178 Abb. 6.2 iMpuls Grundsatz: Analyze, learn, optimize. (Quelle: Migros) ����������������  179 Abb. 6.3 Überblick über das Alibaba-Ökosystem (eigene Darstellung, basierend auf Alibaba Annual Report, 2022)����������������������������������������������  186 Abb. 6.4 WeChat-Super-App als Integrator des Tencent-Ökosystems (eigene Darstellung, in Anlehnung an Tencent Corporate Overview, 2023)������������������������������������������������������������������������������������������  198 Abb. 6.5 Goldenes Dreieck offener und digitaler Ökosysteme. (eigene Darstellung)������������������������������������������������������������������������������������  199 Abb. 8.1 Dynamische Ökosystem-Fähigkeiten (eigene Darstellung)������������������������  258 Abb. 8.2 Agilitäts-Orientierungsrahmen. (Quelle: Fasnacht und Proba 2024) ��������  266

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Tabellenverzeichnis

Tab. 8.1 Synergetische und systemische Führungsansätze��������������������������������������  276

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Einleitung

Zusammenfassung

Was bedeuten Veränderungen für Wirtschaft und Gesellschaft? Wir leben in einer komplexen und dynamischen Welt, wo diverse Trends und Ereignisse, wie die Internetblase, Finanzkrise oder der Ukraine-Krieg, die vernetzte und globalisierte Welt erschüttern. Dies hat Auswirkungen auf Konjunktur- und Transformationszyklen. Technologie erzeugt Innovationen, andererseits treiben  neue Werte und Kundenbedürfnisse die Entwicklung von digitalen Möglichkeiten voran. Aktuell befindet sich die Menschheit an der Schnittstelle von einer neuen Weltordnung zu virtuellen Welten. Wenn Branchen und Technologien sich vereinen (konvergieren), kann ein offenes und digitales Ökosystem als Katalysator dienen, um sich besser auf Kundenbedürfnisse einzustellen. Dazu müssen Unternehmen ganzheitlich und vernetzt Denken und Schlüsselprinzipien wie Offenheit, Agilität und Ambidexterität verstehen und für die Entwicklung nachhaltiger Geschäftsmodelle nutzen.

1.1 Ziele des Buches Open Innovation ist das fundamentale Konzept für die Zusammenarbeit und Wertgenerierung in offenen Ökosystemen. Dieser Grundsatz erweitert bereits Ihr Wissen darüber, wie Sie in Zukunft mit verschiedenen Partnern zusammen über Organisationsgrenzen und Branchen hinaus Wert für Kunden generieren. Damit dies funktioniert, müssen alle Wertgeneratoren in so einem offenen Ökosystem das Lösen eines Kundenproblems ins Zen­ trum ihrer Aktivitäten stellen. Der gemeinsame Sinn und Zweck. Der sogenannte shared purpose ist ein Teil des Erfolgsrezeptes. Agile und technologieaffine Start-ups haben früh gezeigt, wie dies geht. Die Art und Weise wie wir auf Informationen zugreifen hat sich stark verändert, ist mannigfaltig und bestimmt die Komplexität. Smartphones, Tablets, © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Fasnacht, Offene und digitale Ökosysteme, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42494-7_1

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1 Einleitung

Laptops, Desktops, Smart-Watches, Smart-TVs, Sprachassistenten wie Siri, Cortana, Alexa oder die Verbindung durch IoT haben alle einen Einfluss auf Datenschutz, Sicherheit und Integrität. Der gezielte und richtige Einsatz disruptiver Technologien wird so zu einem wichtigen Bestandteil von erfolgreichen oder erfolglosen Unternehmen. Disruptive Technologien lassen die digitale und physische Welt verschmelzen und können Erlebnisse und Emotionen verbinden. Was aber war der Auslöser für diese Transformation? Nach der Dot-Com-Blase entstanden erste robuste Internet-Geschäftsmodelle für Marktplätze und den Online-Handel. Die meisten Internet-Ideen stießen damals an technologische Grenzen oder waren finanziell desaströs und verschwanden wieder. Smart­ phones und Virtual Reality-Brillen gab es noch nicht, Laptops waren noch nicht verbreitet und Social Media war erst im Begriff zu entstehen. Es ist auch nicht verwunderlich, dass kaum jemand Philip Rosedale kennt – alle aber Mark Zuckerberg. Philip Rosedale erfand 2003 Second Life, eine digitale Welt mit virtuellen Erlebnissen, Communities, Kinos, Galerien, Konzerten, Marktplätzen und Avataren. Was wir seit Corona alle mit Zoom, Teams oder Skype tun, konnte man bereits damals mehr oder weniger erfolgreich online erledigen. Second Life wird von Linden Lab betrieben und existiert heute noch (Second Life 2023). Die meisten Ideen wurden im Metaverse aufgenommen und marketingwirksam vom Facebook Gründer Mark Zuckerberg im Juli 2021 kommuniziert. Kurz darauf wurde der Mutterkonzern Facebook in Meta umbenannt. Metaverse ist also nichts anderes als eine erweiterte Version von Second Life mit anderen Wachstumstreibern. Dem Marktforschungsinstitut Gartner zufolge wird 2026 ein Viertel der Menschen das Metaverse für Arbeit, Einkaufen, Bildung und soziale Medien nutzen (Gartner 2022), was bis 2030 einem Markvolumen von 5 Billionen US-dollar entspricht (McKinsey 2022). E-Commerce-Firmen versprechen sich durch den Entertainment-Faktor neue Kundenerlebnisse und durch virtuelle 3D-Räume bessere Produktinformationen und eine personalisierte und stärkere Kundenbeziehung. Die Unterschiede zwischen Second Life und Metaverse sind groß: heute unterstützt die Technologie die Vision und Firmen wurden zu Beginn gezielt in dieses stark wachsende Ökosystem eingebunden. Metaverse verfolgt klar geschäftliche Interessen und es soll kein Nischensystem für Minderheiten mit Videospiel-Interessen sein. Die Konvergenz von virtueller und physischer Realität ist Teil der digitalen Transformation (siehe Kap. 2) und spielt eine entscheidende Rolle für den zukünftigen Geschäftserfolg von Unternehmen. Wie auch immer, Second Life war der Zeit voraus, konnte aber kein nachhaltiges Geschäft etablieren und mit der Finanzkrise hat 2009 der Gründer das Unternehmen dann verlassen. Der Vertrauensverlust und die Unzufriedenheit in Banken haben sich seit der Finanzkrise nicht merklich verbessert und sind 2023 mit Bankrotten der Silicon Valley Bank, First Republic Bank und der Credit Suisse wieder allgegenwärtig. Fintech-Firmen bewegen sich an der Schnittstelle zwischen Innovation, Digitalisierung und Kundenbetreuung und versuchen das Kundenerlebnis (engl. user experience oder customer experience, UX) positiv zu beeinflussen. Sie spielen eine immer wichtigere Rolle, indem sie Daten mit technologischen Tools veredeln und die Kundeninteraktionspunkte mit digitalen ­Innovationen vereinfachen und effizienter gestalten. Sie sind nicht nur agiler, sondern be-

1.1 Ziele des Buches

3

setzen mit ihrem Ansatz gezielt die Kundenschnittstelle. Dies hat in den letzten zehn Jahren zu großer Unruhe bei etablierten Unternehmen geführt. Auch die Trennlinie zwischen etablierten und neuen Akteuren, welche ihren Ursprung nicht im Finanzsektor haben, zersetzt sich. Fintech-Firmen erreichen heute Marktbewertungen, welche diejenigen von Banken weit überschreiten. Aktuell sind die größten Fintech-Firmen Square, Stripe, Ant Group, PayPal, Coinbase, Shopify, Klarna, Revolut, Robinhood, Nubank – alle mit Marktkapitalisierungen zwischen 30 und 130  Mrd. US-Dollar (Volenik und Gallagher 2023). Firmen wie Visa (470  Mrd. US-Dollar) und Mastercard (350  Mrd. US-Dollar) sind so technologielastig geworden, dass sie neu zur Fintech-Industrie gezählt werden. Per Ende Februar 2023 zählte die Welt 334 Fintech-Einhörner (engl. unicorns), also Firmen mit einer Marktbewertung von über einer Milliarde US-Dollar vor dem Börsengang (FintechLabs 2023). Alle diese Firmen haben disruptive Technologien in ihre Geschäftsmodelle integriert und gewinnen auf Kosten traditioneller Unternehmen Marktanteile. Das heißt sie fokussieren auf Mehrwertgenerierung mittels Künstlicher Intelligenz, erweiterter Datenanalyse oder maschinellem Lernen und verstehen es, die Kundenschnittstelle über mobile Kanäle mit digitalen Dienstleistungen zu bedienen. In den letzten Jahren wurde klar ersichtlich, dass einerseits die ganzheitliche Zufriedenstellung und andererseits die Hyper-Individualisierung von Kunden verschiedene Technologien in Anspruch nimmt und Branchengrenzen verschwimmen lässt. Diverse Studien bestätigen, dass es Kunden eigentlich egal ist, von welcher Firma Lösungen bereitgestellt werden. Zudem möchten Kunden in Zukunft vermehrt in den Innovationsprozess involviert werden. Entsprechend veranschaulichen die Praxisbeispiele  in diesem Buch, wie man gemeinsam mit Kunden innoviert und Partnerschaften mit Start-ups und Unternehmen außerhalb der angestammten Branche eingeht. Open Innovation unterstützt dabei die Konvergenz bei der Dienstleistungserbringung. Die gefundenen Erkenntnisse können auf andere Branchen projiziert werden, womit sich etliche Anwendungsfälle, welche auf den ähnlichen Konzepten und Modellen basieren, ergeben. Durch genetisches Engineering von Viren und Bakterien, die Kombination von Zellkultur und Grenzflächentechnik, DNA-Sequenzierung mit bioinformatischen Algorithmen sowie Interaktion von biologischem System und technischem Material entstehen neue Ansätze und innovative Lösungen für die industrielle Wertschöpfung. Während BioTech bereits seit vielen Jahren interessante Anwendungen hervorbringt, sind andere Branchen daran sich zu verbinden. Neue Anwendungen basierend auf digitaler Technologie entstehen gerade in Bereichen wie Versicherungen (InsureTech), Recht (RegTech), Immobilien (PropTech), Aus- und Weiterbildung (EdTech) oder jüngst innerhalb der Medizin (MedTech), welche sich wiederum mit BioTech verbindet. Festgestellt werden kann, dass es drei Hauptgründe gibt mit einer dieser diversen Tech-Firmen zusammen zu arbeiten: i) technologisches Wissen und digitale Innovationen nutzen, ii) den Markt und das Netzwerk erweitern und iii) ein Ökosystem zu bilden, welches Kundenwünsche besser bedienen kann. Letzteres ist geeignet, um Ressourcen zu teilen und Wettbewerbsvorteile und Wachstum durch ­ Netzwerkeffekte zu erlangen (siehe Kap.  4). In all diesen Verbindungen bildet das ­ ­Open-­Innovation-­Konzept die Grundlage für die organisationsübergreifende Nutzung von

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1 Einleitung

Technologien, um Kunden auf ihrem Weg ins digitale Zeitalter zu unterstützen. Die Ergebnisse der Forschung sollen das Verständnis von Ökosystemen fördern und zeigen, wie ein solches Modell die Organisation bereichert. Eine Ökosystem-Strategie gehört demzufolge ebenso wie eine Digitalstrategie zum modernen Führungsverständnis. Der Einsatz neuester Technologien, um bestimmte Kundensegmente anzusprechen, ist ein Schritt nach vorn, aber nicht genug. Wenn der nächsten Generation Kunden nur einfach zu bedienende digitale Tools zur Verfügung gestellt werden ohne neuen Mehrwert zu generieren, wird die entsprechende Branche als solche nicht wachsen. Dies hat auch nichts mit Disruption und dem Übergang zu neuen Geschäftsmodellen zu tun. Wie bei allen Innovationen müssen sich sowohl etablierte Unternehmen als auch Start-ups an verändernde Situation und Anforderungen anpassen – und dies nicht als Selbstzweck, sondern mit dem übergeordneten Ziel, Gewinne zu erzielen. Offene Ökosysteme können dazu beitragen, dieses übergeordnete Ziel zu erreichen. In den letzten Jahren wurden von innovativen Unternehmen viele Ideen und Prozesse entwickelt, die das Kundenerlebnis verbessern. Die meisten haben sich bislang darauf beschränkt, Services oder Anwendungen in die eigene Wertschöpfung zu integrieren. Die nächste Stufe besteht darin, Konstellationen zu schaffen, die über Organisationsgrenzen und sogar Sektoren hinweg Wert schaffen. Erste Forschungsergebnisse und empirische Daten dazu stammen aus dem ersten Buch Open Innovation in the Financial Services aus dem Jahr 2009, in dem der Wechsel von einem geschlossenen zu einem offenen Innovationsparadigma beschrieben wird (Fasnacht 2009). Zur Erinnerung: In einem geschlossenen Innovationsparadigma hinderte die Organisationsstruktur und vertikale Integration Unternehmen daran, Innovationen von außerhalb der Organisation zu prüfen, zu akzeptieren, zu finanzieren oder zu verbreiten. Während sich solche isolierten Unternehmen mit diesem Closed-Innovation-Ansatz auf ihre eigenen Ressourcen konzentrieren, setzen agile und flexible Organisationen auf kollaborative Innovation, um zu wachsen. Viele Unternehmen haben die Notwendigkeit von Open Innovation erkannt, nicht nur um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, sondern auch um zu überleben. Open Innovation ist ein Geschäftsmodell zum Erwerb von geistigem Eigentum und hat sich in letzter Zeit zu einer Denkweise entwickelt, die durch Offenheit, Flexibilität und Kundenintegration gekennzeichnet ist (siehe Kap. 5). Ein offenes Innovationsmodell gilt aktuell als der beste Weg zur Wertschöpfung und ist Voraussetzung für operative Effizienz und nachhaltiges Wachstum. Es hat jedoch weitreichende Auswirkungen auf das Management, da seine Umsetzung nur durch die Entwicklung einer Reihe neuer Fähigkeiten möglich ist. Die Führung ist verantwortlich für die Schaffung von für die Zusammenarbeit wichtigem, sozialem Beziehungskapital. Dabei wird eine Reihe von Ressourcen kultiviert, die in Beziehungen der zwischenmenschlichen Zusammenarbeit eingebettet sind, in die andere Ressourcen investiert werden können. Dies ist von entscheidender Bedeutung in einem Ökosystem, da die erfolgreiche Umsetzung von Innovationen auf dem Markt vertrauensvolle Partnerschaften mit verschiedenen Unternehmen voraussetzt. Alle bisherigen Erkenntnisse werden durch Theorien und Konzepte der systemorientierten Managementlehre mit Beziehungen zu Informatik, Ökonomie und Verhaltenspsycholo-

1.2 Konvergenz

5

gie gestützt. Spezieller Fokus wurde auf die Anwendung der Managementkybernetik zur Steuerung und Planung komplexer organisationübergreifender Zusammenarbeitsformen, welche in Ökosystemen herrschen, gelegt. Kybernetische, systemtheoretische Attribute, wie Offenheit, Flexibilität, Agilität und Resilienz, werden im Kontext der interorganisationalen Zusammenarbeit an Bedeutung gewinnen. Es gibt viele Konzepte und Theorien, die in einem offenen Ökosystem relevant sein können, je nach Kontext und Anwendungsfall. Die Relevantesten für die Themen im Buch sind vereinfacht zusammengefasst: • Open Innovation: Organisationen nutzen externe Ideen und Ressourcen, um Innovationen zu fördern. In einem offenen Ökosystem können Unternehmen von mannigfaltigen Ressourcen diverser Anbieter auf der Plattform profitieren. • Co-Innovation: Verschiedene Akteure arbeiten in einem System zusammen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. In einem offenen Ökosystem kann dies bedeuten, dass Anbieter kollaborieren, um neue Produkte oder Dienstleistungen zu entwickeln, zu vertreiben oder die Plattform selbst zu verbessern. • Plattform-Ökonomie: Produkte oder Dienstleistungen werden über eine gemeinsame digitale Plattform angeboten und ausgetauscht. Die Plattform selbst ist oft der Zugang zu einem umfassenden Ökosystem, da sie es verschiedenen Anbietern ermöglicht, Services aus allen Sektoren zu integrieren, anzubieten und zu verkaufen. • Netzwerkeffekte: Der Wert eines Produkts oder einer Dienstleistung erhöht sich für den Nutzer, wenn mehr Menschen es nutzen. In einem offenen Ökosystem können Netzwerkeffekte dazu führen, dass mehr Anbieter auf der Plattform erscheinen, was wiederum den Wert für den Nutzer erhöht, und mehr Nutzer anzieht. Durch Netzwerk­ effekte kann exponentielles Wachstum erreicht werden. • Wissensmanagement: Bezieht sich auf den Prozess der Erfassung, Speicherung, Auswertung und Verbreitung von Wissen innerhalb eines Systems. Es beinhaltet aber auch die Beziehungskompetenz und dynamische Fähigkeiten, wie Offenheit, Agilität und Ambidexterität. In einem offenen Ökosystem können verschiedene Akteure ihr Wissen über digitale Tools teilen und gemeinsam neue Lösungen entwickeln.

1.2 Konvergenz Konvergenz (spätlateinisch convergere) beschreibt allgemein eine Annäherung, ein Zusammenlaufen von unterschiedlich voneinander getrennten Dingen oder das Zusammenwachsen verschiedener Dienste. Im betriebswirtschaftlichen Kontext ist Branchenkonvergenz ein relativ neues Phänomen und bezieht sich auf die Zusammenführung von Unternehmen und Branchen, die früher voneinander unabhängig waren, aber aufgrund von technologischen Fortschritten, veränderten Marktbedingungen oder anderen Faktoren beginnen, sich zu überschneiden oder miteinander zu verschmelzen. Zum Beispiel haben sich die Branchen der Telekommunikation und der Unterhaltungselektronik durch die Entwicklung von Smartphones und anderen mobilen Geräten zunehmend konvergiert. Die

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1 Einleitung

Sektorgrenzen verschwinden beim elektronischen Handel, Finanzdienstleistungen und sozialen Medien ebenso wie im Gesundheitswesen, wo digitale Technologie zu neuen Geschäftsmodellen und Partnerschaften zwischen traditionellen Unternehmen im Gesundheitswesen und Technologiefirmen führen. Großes Disruptionspotenzial von Konvergenz besteht auch im Verkehrs- und Transportsektor und der Automobilbranche. Neue Technologien, wie Hyperloop-Schwebebahnen, autonome Passagierdrohnen und Virtual Reality-­ Technologien, werden die Mobilität komplett verändern und dazu führen, dass immer weniger Menschen zum Arbeitsplatz pendeln oder Urlaubsreisen machen. In der Uhrenbranche entwickelt Breitling, eine hoch angesehene Schweizer Marke, die für ihre Präzision, Langlebigkeit und funktionales Design bekannt ist, Communities über ihren eigentlichen Geschäftszweck hinweg. Mit Breitling Kitchen betreibt der Uhrenhersteller neu in London ein Café und in Seoul und Genf gleich neben ihrem Flagshipstore einen Gastrobetrieb, wo die Marke erlebbar wird. Community building bedeutet für Breitling ungezwungenen Luxus mit Hilfe von Starköchen in sozialen Räumen erleben; Kunden sollen die Marke fühlen und schmecken. Neue Konzepte wie diese machen keinen Halt vor Sektoren, sondern orientieren sich an erlebnisorientierten Kundenreisen. In Kap. 5 wird das erlebnisorientierte Geschäftsmodell vertieft und gezeigt, wie ein Autobauer zu einem Lifestyle-Unternehmen wurde. In der akademischen Wirtschaftsforschung wird Branchenkonvergenz und deren Auswirkungen in Zusammenhang mit Industrie 4.0 (Masini et al. 2017), Innovation oder Geschäftsstrategien von Unternehmen (Shivendu et al. 2019; Kim et al. 2015), die Regulierung und das rechtliche Umfeld sowie die Arbeitskräfte und den Arbeitsmarkt untersucht. Branchenkonvergenz hat vielschichtige Auswirkungen auf die Gesellschaft, die Umwelt und die öffentliche Politik. Die digitale Transformation trägt maßgeblich zur Branchenkonvergenz bei. Der Grund ist, dass Unternehmen auf Technologie angewiesen sind, um zu innovieren und zu wachsen. Dadurch werden sie immer stärker vernetzt, was wiederum zu einer stärkeren Konvergenz zwischen Branchen führt. Dieser sich gegenseitig verstärkende Prozess benötigt einen hohen Grad an Agilität und Flexibilität, damit eine gemeinsame Leistungserbringung von verschiedensten Anbietern in einem Ökosystem zu einer Innovation und schließlich zu Mehrwert für Kunden führt. Dazu gehört auch die Angleichung und das Zusammenführen von Prozessen über Organisationsgrenzen hinweg und der Abbau von Schranken zwischen Branchen. In der Informatik wird Konvergenz oft als das Zusammenwachsen verschiedener Technologien und Anwendungen zu einem inte­ grierten System definiert (Rouse et al. 2005). Metaverse ist ein gutes Beispiel von Technologiekonvergenz. In solchen Parallelwelten spielen Daten und Analysen mit Künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen, Kryptowährungen, Augmented- und Virtual Reality und Cloud Computing eine wichtige Rolle. Die Geschwindigkeit der Konvergenz zwischen neuen Technologien und die zunehmende globale Konnektivität wird die Wirtschaft in vielen Bereichen disruptieren. Die Zukunft der Konvergenz ist exponentiell und unvorhersehbar. Es ist schwer zu sagen, welche Formen sie konkret annehmen wird. Konvergenz kann auch Gesellschaftsmodelle nachhaltig beeinträchtigen. Im Gegensatz zu früheren Gesellschaftsmodellen, die sich auf industrielle oder informationstechnologi-

1.3 Offenheit, Agilität und Ambidexterität

7

sche Fortschritte konzentrierten (Industrie 4.0), hat die japanische Regierung 2016 ein Szenario einer Gesellschaftsform beschrieben, in dem die Vorteile der Digitalisierung und Technologie genutzt werden, um die Lebensqualität, das Wirtschaftswachstum und das Wohlbefinden der Menschen zu verbessern (Cabinet Office 2016). Mit Society 5.0 strebt das hoch technologisierte Land an, die gesellschaftlichen Herausforderungen durch den Einsatz von Technologien wie Künstliche Intelligenz, Internet der Dinge, Robotik, Blockchain und anderen disruptiven Innovationen zu bewältigen. Die Konvergenz verschiedener Technologien kann nach der Vernetzung von Firmen eine vernetzte und intelligente ­Gesellschaft schaffen. Beispiele für Anwendungsbereiche in Society 5.0 umfassen intelligente Städte, digitale Gesundheitsversorgung, nachhaltige Energie, autonomes Fahren, Bildungstechnologien und viele andere Bereiche, in denen Technologie zur Lösung sozialer Herausforderungen beitragen kann. Das Konzept von Society 5.0 betont auch die Notwendigkeit einer inklusiven Gesellschaft, in der niemand zurückgelassen wird und die Vorteile der technologischen Entwicklung für alle zugänglich sind. Es ist ein visionärer Ansatz, der die Integration von Technologie und Menschlichkeit vorantreibt und zeigt, wie in Folge der Zusammenarbeit in einem offenen und digitalen Ökosystem eine nachhaltige und zukunftsorientierte Gesellschaft entstehen kann. Disruptionen können einzelnen Unternehmen schaden und dennoch insgesamt eine Bereicherung für die Menschheit darstellen. Die Konvergenz zwischen verschiedenen Branchen und Technologien und realen und virtuellen Welten kann dazu beitragen, Probleme ganzheitlich anzugehen und Lösungen gezielt auf das Kundenverhalten auszurichten. Konvergenz kann also Chancen als auch Herausforderungen für Unternehmen mit sich bringen. Unternehmen, die in der Lage sind, sich schnell an das Umfeld anzupassen und innovative Produkte und Dienstleistungen anzubieten, können von dieser Konvergenz profitieren und Marktanteile gewinnen. Auf der anderen Seite können Unternehmen, die sich nicht mit diesem Phänomen auseinandersetzen, benachteiligt sein. Bei offenen Ökosystemen kommt es zu einer Konvergenz diverser Artefakte. Dazu gehören neben den bereits diskutierten Branchen und Technologien auch Daten, Anbieter, Kundenbedürfnisse oder Geschäftsmodelle. Vor allem Daten werden aus verschiedenen Quellen zusammengeführt und analysiert und führen so zu neuen Erkenntnissen, um personalisierte Angebote und Empfehlungen zu erstellen. Die vielschichtigen Wege der Konvergenz führen, wie erwähnt, zu Disruptionen und größeren gesellschaftlichen Veränderungen. Deshalb braucht es neue Fähigkeiten, welche in der Konklusion des Buches näher betrachtet und im nächsten Abschnitt kurz vorbesprochen werden.

1.3 Offenheit, Agilität und Ambidexterität Bisherige Forschungsarbeiten haben das Konzept von Open Innovation für den Finanzsektor adaptiert und erklärt, dass Offenheit, Flexibilität und Kundenzentriertheit Innovationen und Wachstum fördern (Fasnacht 2005; Fasnacht 2009). Dieser Grundsatz wurde mit der zunehmenden Öffnung der Gesellschaft und Verknüpfung von Technologien, dem Auf-

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1 Einleitung

kommen von neuen Zusammenarbeitsformen über digitale Plattformen und Ökosysteme weiterentwickelt, was zur Erkenntnis führte, dass die Öffnung von Organisationsgrenzen neue Wertschöpfungskonstellationen zulässt (Fasnacht 2018). Die Beobachtungen der letzten fünf Jahren zeigen, dass dann Wert für Nutzer entsteht, wenn ein Erlebnis geschaffen wird. Bei dieser Reise bewegen sich Nutzer in der realen und der virtuellen Welt und kaufen Services, aber auch physische Güter. Nutzer orientieren sich in Zukunft nicht mehr an Sektoren bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Die durch diese Öffnung anstehenden Anforderungen für Unternehmen unterliegen ähnlichen Mustern wie das von biologischen Ökosystemen bekannt ist. Denn was in der Natur die ständige Zufuhr von Energie in Form von Sonnenlicht für die Fotosynthese oder Nahrung ist, sind für das ökonomische Ökosystem Daten. Zweitens muss es lebende Organismen geben, die die Energie in organische Verbindungen umwandeln können. Die Analogie dazu sind Ressourcen und Wissensaustausch im Ökosystem, um innovativ zu sein und wachsen zu können. Und schließlich muss es Vielfalt geben, das bedeutet ein breites Spektrum verschiedener Arten von Organismen, die miteinander leben und interagieren. In unserem offenen Ökosystem erfolgt die Wertschöpfung nicht in einer linearen Kette, sondern durch die Interaktionen diverser Teilnehmer in einem Netzwerk. Linear-kausale Managementmodelle, wo eine Veränderung einer Variable zu einer Veränderung in einer abhängigen Variable führt, funktioniert mit neuen Zusammenarbeitsformen, über digitale Plattformen und Ökosysteme nicht mehr. Im heutigen digitalen und global vernetzten Zeitalter herrschen eine hohe Dynamik und Komplexität und das Ursache-Wirkungs-Denken weicht Wechselwirkungen, die nur mit ganzheitlichem und vernetztem Denken verstanden und beherrscht werden können. Ein umfassendes Verständnis der Korrelationen Technologie, Innovation und Wachstum ist für Unternehmen überlebenswichtig. Die Geschichte hat gezeigt, dass Technologie gezielt und überlegt eingesetzt werden muss, um Innovationspotenziale freizusetzen. Um nachhaltig erfolgreich zu sein, braucht es eine Digitalstrategie, die Plattform-­ Geschäftsmodelle und Ökosysteme integriert. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, müssen Manager sich zuerst einmal öffnen und sich dann mit einer interdisziplinären Betrachtungsweise an die Herausforderungen machen. Sich an die neue Situation und deren Gesetzmäßigkeiten anzupassen ist unausweichlich. Für den nächsten Schritt  – also die Umsetzung – braucht es dann Agilität in der Organisation und in der Führung. Apple, eine der größten und am höchsten bewerteten Marken weltweit, durchbrach Mitte 2018 als erstes Unternehmen die Marktkapitalisierungs-Schallmauer von einer Billion US-Dollar. Vier Jahre später ist die Firma bereits 2,5 Billionen US-Dollar wert. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass Apple in der Firmengeschichte mehrere Male nur knapp dem Bankrott entging. Heute gilt Apple nicht nur als eines der innovativsten Unternehmen, die Firma besticht auch durch Agilität und Anpassungsfähigkeit und hat sich seit den 1980er-Jahren dreimal neu erfunden. Neben technologischen Spitzenprodukten, Design und gutem Marketing braucht es ein Innovationsmanagement, welches für die kontinuierliche Verbesserung und Optimierung bestehender Produkte und Dienstleistungen steht und gleichzeitig ständig Neues entwickelt. Letzteres können auch Geschäftsmodell-Innovationen, ein durchdachtes Betriebskonzept oder ein agiles Führungsverständnis sein. Die Art und

1.4 Transformationszyklen

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Weise, wie Appleihre Produkte und Dienste in einem Universum untereinander verbindet, ist einmalig. Offenheit für Neues und Persistenz führten letztendlich zu diesem sich selbst organisierenden und mächtigen Ökosystem. Als Orchestrator bestimmt Apple nicht nur die Zusammenarbeit der Wertgeneratoren, sondern auch, welche technologischen Ressourcen eingesetzt werden und in welche Forschungsprojekte investiert wird. Wie der Leser in diesem Buch später noch erfährt, könnte Apple längst mit dem iPhone auf den Mond und vielleicht auch bald auf den Mars fliegen. Apple macht uns bewusst, wie der Tech-Gigant mit seiner Plattform- und Ökosystemstrategie über die letzten Jahre die globale Reichweite über alle Sektoren hinweg ausbauen, lokale Vorteile nutzen und Kunden einen Mehrwert bieten konnte. Solch ein System neu aufzubauen ist schwierig, aber möglich. Auf diesem Weg müssen Führungskräfte Flexibilität beweisen und sich kontinuierlich an neue Gegebenheiten anpassen. Disruptive Innovationen gelten als Motor der Schöpferischen Zerstörung, um den Begriff von Joseph A.  Schumpeter, einem der einflussreichsten Ökonomen und Politikwissenschaftler des zwanzigsten Jahrhunderts, aufzugreifen. Demnach können Unternehmen mit der richtigen Strategie erstarken und Unternehmen mit der falschen Strategie oder relativ ineffizienten Abläufen sterben. Durch die Zerstörung und die anschließende Neuverteilung der Ressourcen kann der Zyklus von Aufbau und Zerstörung von neuem beginnen. Das ist es, was derzeit in vielen Branchen geschieht. Das Wissen in Bezug auf die Schumpeter’schen Theorien sollte aufgefrischt und Ideen aus diesem Buch in Workshops vertieft werden. So kann ein besseres Verständnis für dramatische und komplexe Veränderungen in Zeiten der digitalen Disruption erlangt werden. Mit Offenheit, Agilität und Ambidexterität können Geschäftsmodelle an Trends angepasst und die Effizienz und Flexibilität gesteigert werden. Verschiedene Initiativen und Strategien aufeinander abgestimmt, können mehr Wirkung erzielen. Zu diesem Zweck wurden Anwendungsfälle gesucht, die den Prozess und nicht nur die Ergebnisse strategischer Maßnahmen erklären. Ein Unternehmen kann nur dann zu neuem und nachhaltigem Wachstum geführt werden kann, wenn alle Wirkungszusammenhänge in einem Geschäftsnetzwerk verstanden werden. Synergetische und systemische Führungsansätze gelten als Schlüsselprinzipien, welche in einer Organisation verankert werden müssen, um den nächsten Transformationszyklus anzustoßen. Die Kombination relevanter  Managementpraktiken ist entscheidend: für die Gestaltung eines Ökosystems, die Teilnahme in einem Ökosystem und darüber hinaus für die Zukunft der Arbeit im Ökosystem (siehe Kap. 9).

1.4 Transformationszyklen Nach der Gesundheit scheint Geld einer der wichtigsten Bezugspunkte in den meisten Leben. Alles, was wir tun, muss bezahlt werden und Werterhalt und die Entwicklung von Vermögen ist seit Jahrhunderten einer der Hauptsorgen von uns Menschen. Beide Sektoren sind mit Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft verwoben und stark reguliert. Da es in regelmäßigen Abständen immer wieder zu globalen Krisen, aus-

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1 Einleitung

gelöst durch Pandemien oder Spekulationen kommt, stehen sie unter politischem und gesellschaftlichem Druck wie kaum ein anderer Wirtschaftszweig. Beide, Finanz- und Gesundheitssektor, arbeiten mit sensiblen und schützenswerten Daten und es wird versucht mit neuen Technologien Effizienzen zu erhöhen oder bessere Patienten- respektive Kundenerlebnisse zu schaffen. Sozioökonische Trends, neue Wertemodelle und personalisierte und digitale Kundenwünsche, zusammen mit neuen technologischen Möglichkeiten, führen dazu, dass sich Finanzen und Gesundheit immer stärker miteinander verbinden. Trends treten, wie nie zuvor alle zur gleichen Zeit ein (siehe Kap. 3). Während sich einige auf den Aufbau eines Ökosystems für die nächste Generation konzentrieren, haben andere gerade erst begonnen, sich von der Rezession nach Covid-19 zu erholen. Der Einfachheit halber wurde die Vergangenheit analysiert, die Gegenwart beurteilt und Szenarien für die Zukunft bis 2028 erstellt. Die wichtigsten Strategien und Auswirkungen betreffen die Jahrzehnte vor der Finanzkrise 2008, die Zeit von  2008 bis 2018 und die nächsten Jahre bis 2028. Die digitale Transformation vollzieht sich in sich überschneidenden Phasen und ist seit rund zehn Jahren ein fortlaufender Prozess mit vielen Nuancen und verschiedensten Auswirkungen. Abb. 1.1 veranschaulicht die Entwicklung, wobei die blaue Linie den globalen Wirtschaftsverlauf darstellt, ohne dabei auf präzise Konjunkturkennzahlen einzugehen. Die Schwankungen einzelner Branchen und Regionen sind in der Grafik nicht berücksichtigt und wurden im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung zu einem stark vereinfachten Gesamtbild zusammengesetzt. Vor 2008 pflegten die meisten Branchen ihre lukrativen Geschäfte hinter Vorschriften zu verstecken und musste nicht außerordentlich innovativ sein, um Kunden anzuziehen und zu halten. Viele Finanzinstitute wurden zu globalen Kraftpaketen und galten als zu groß, um zu scheitern (too big to fail). Jahrzehntelang wurde die Weltwirtschaft von Banken dominiert, bis die Finanzkrise das Gegenteil bewies. Seitdem befinden sich viele Akteure immer noch in einer Stagnation. Vor allem in Westeuropa sind die Innovationsfähigkeit gelähmt und der Digitalisierungsgrad unterdurchschnittlich, da viele Unternehmen nach wie vor mit regulatorischen Anforderungen beschäftigt sind. Die Kunden verloren das Vertrauen in ihre Banken und obwohl sie unzufrieden waren, blieben viele mangels Alternativen bei ihren Beratern. Die Innovationslücke in fast allen Bereichen des Bankwesens wurde während der Finanzkrise von neuen, agilen Unternehmen erkannt, die sich offene Geschäftsmodelle und Technologien zu eigen machten, um die unflexible und starre Finanzdienstleistungsbranche zu stören. Bei den meisten Fintechs handelte es sich um neue Marktteilnehmer. Viele verschwanden wieder und einige von ihnen sind unterdessen für die digitalen Innovationen im Finanzsektor unverzichtbar geworden. Stark wachsende Technologiefirmen haben in den letzten fünf Jahren etablierte Unternehmen bedroht, welche die Digitalisierung verpassten. Das wurde uns besonders während dem Lockdown bewusst. Der Welthandel erholte sich allmählich und von 2012 bis 2022 erlebte die Welt einen Aufschwung. Die Zinsentwicklung hat dies begünstigt und wer dachte Covid-19 wird die Märkte nachhaltig einfrieren, der lag falsch: denn wer investiert blieb, dessen Geldanlage







Fusionen & Akquisitionen

Effizienzsteigerungen

Vertikale Integration







Transparenz • •

Technologiemonopole Nachhaltigkeitsziele

• •

2018











Soziale Medien

Digitalisierung

Open Innovation

Disruption

Transformation











Rezession & Depression

Konsolidierung

Regulierungen

Bankrotte

Globale Krise

Abb. 1.1  Transformationszyklen und Projektionen (eigene Darstellung)

2008



Wachstum



Boom



Globalisierung













Quantum Computing

Web3

Generative KI

Neue Welten (Mars)

Virtuelle Welten

Aufschwung & Boom 2023

Everything-as-a-Service

Offene Ökosysteme

Digitale Plattformen

Augmented Reality

Open Data

Neue Werte

Neue Weltordnung

2028

1.4 Transformationszyklen 11

12

1 Einleitung

hat den Corona-Schock binnen weniger Monate verdaut. Die Aktienmärkte haben sich schnell erholt und sich seither sogar stark entwickelt. Das Entsetzen über den Ukraine-­ Krieg im Februar 2022 und die anhaltende geopolitische Unsicherheit haben Lieferketten und Energiesicherheit in Frage gestellt und sich auf den globalen Aktienmärkten ausgewirkt. Auch wenn sich diese Schocks zu häufen scheinen, hat es Krisen immer gegeben und die jüngste Geschichte hat gezeigt, dass die Weltwirtschaft – vielleicht aufgrund der zunehmenden Verflechtung  – resilient ist. Die Fähigkeiten einer Volkswirtschaft ­Krisenfolgen durch präventive Maßnahmen abzumildern und sich rasch neuen Situation anzupassen, kommt von unten. Wenn unzählige kleine und mittelständische Unternehmen eine hohe Adaptionsfähigkeit an den Tag legen, so hilft dies in der Summe der Volkswirtschaft. Der sogenannte Resilienzgrad ist aber auch davon abhängig, wie gut die Wirtschaft mit der Wissenschaft, Politik und Gesellschaft zusammenarbeitet. Proaktivität und Adaption gehen also einher mit der Form und Art der Zusammenarbeit, was zum Metathema dieses Buches führt – Ökosysteme. Auch wenn die eingezeichneten Dekaden nicht scharf abgrenzbar sind, ist ersichtlich, dass sich um 2018 herum etliche Unternehmen einer transformativen Veränderung unterzogen. Ziele waren oft durch einen besseren Einsatz von Technologien Effizienzen zu steigern. Seitdem scheint die Zeit der Banken vorbei und Technologieunternehmen rücken mit ihren Daten in den Vordergrund.  In der Praxis ist ersichtlich, dass sich etliche Unternehmen fit für die Zukunft machen wollen und dabei disruptive Technologien einsetzen, um neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Exogene Schocks, wie Covid-19 oder der Ukraine-­ Krieg, können Trends verschärfen oder Innovationsbemühungen abschwächen. In einem globalen Wirtschaftssystem, wo alle voneinander abhängig sind, werden allerdings Schocks wie bereits erwähnt gut ausbalanciert. Wie in der Natur kann auch ein Business-­ Ökosystem resilient sein, auch wenn die Marktaussichten unsicher sind. Das Risiko einer anhaltenden Inflation und die Liquiditätsversorgung durch etliche Zentralbanken ist temporär gestört. Darüber hinaus erzeugen der Krieg in der Ukraine und die geopolitischen Spannungen zwischen China und Taiwan, respektive der USA, eine neue Weltordnung. Durch eine multipolare Weltordnung könnten sich globale Wachstumsmärkte bis 2028 verschieben und eine De-Globalisierung hätte Auswirkungen auf viele Volkswirtschaften. Globalisierungswellen, ausgelöst durch Kriege, Verschuldung, Handelsbarrieren oder Immigration, gab es schon immer. Es gibt diverse Szenarien, welche Menschen oft falsch einschätzen, unabhängig davon, ob sie von Konjunkturforschungsstellen oder Trendinstituten kommen. Unternehmen müssen sich zwar auf einen grundlegenden makroökonomischen und geopolitischen Regimewechsel vorbereiten, sollten sich aber auf eine der ­Zukünfte einlassen. Egal welches Zukunftsszenario eintrifft, die digitale Transformation ist immer Teil davon und darf nicht aus den Augen verloren werden. Unternehmen, welche über keine Anpassungskompetenz verfügen, werden bis 2028 aufgrund der Trends und neuer Krisen große Schwierigkeiten haben. Die Chancen generativer Künstlicher Intelligenz und allumfassender Plattform-Geschäftsmodelle sind ersichtlich, aber auch Risiken und Ängste sind nicht abzustreiten. Eine zentrale Rolle werden in naher Zukunft Daten und digitale Prozesse und Zusammenarbeitsmodelle bekommen. E-Commerce, Technologie- und Internet-Giganten gewinnen durch die frühe Adaption dis-

1.4 Transformationszyklen

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ruptiver Technologien Marktanteile in allen Sektoren. Ihre sektorübergreifenden Ökosysteme integrieren bereits heute mehrere digitale Plattformen und bieten damit diverse Services an. Neue Akteure aus den Wachstumsregionen Asiens, die Größenvorteile nutzen und bereits seit einigen Jahren ihre Produkte und Geschäftsstrategien mit Millionen von Kunden testeten, starten ihre internationale Geschäftsfeldentwicklung. Tencent oder Alibaba haben bereits mehrere Niederlassungen in Europa. Das bedeutet, nach den organisatorischen, verschwimmen nun auch die Ländergrenzen. Digitale Plattformen werden unausweichlich zu einem neuen Modell für das Angebot und den Vertrieb aller Arten von Waren, und Dienstleistungen. Während die gemeinsame Wertschöpfung in Ökosystemen von vielen Akteuren erprobt wird, ist gleichzeitig eine globale und regionale Konsolidierung auffallend. Insolvenzen, Geschäftsschließungen aufgrund von Verstößen gegen internationale Vorschriften und Richtlinien, Cyberkriminalität, Datenlecks und Betrug sowie andere Misserfolge im Zusammenhang mit Datenschutz- und Datensicherheit häufen sich. Während die Blockchain die Handelsfinanzierung effizienter macht und sich intelligente Verträge (engl. smart contracts) weiterverbreiten, um kommerzielle Transaktionen und Vereinbarungen automatisch auszuführen, haben erste Zentralbanken Blockchain-­ basierte Währungen als Alternative zum Fiat-Geldsystem (Währungen, die von Regierungen reguliert und kontrolliert werden und nicht an den Preis von Gold oder Silber gebunden sind) und zur Vereinfachung grenzüberschreitender Zahlungen eingeführt. Während einige Regierungen Bitcoin verbieten wollen, wird Bitcoin seit 2021 in El Salvador und seit 2022 in der Zentralafrikanischen Republik als zusätzliche offizielle Landeswährung geführt. Viele Kommunalbezirke akzeptieren unterdessen Kryptowährungen als Zahlungsmittel. Amerikanische Staaten wie Colorado und Utah waren 2022, respektive 2023 die ersten, wo Steuern so beglichen werden dürfen und auch die Kantone Zug und Jura in der Schweiz akzeptieren Kryptowährungen. Auch wenn die Blockchain-Technologie aktuell noch Anwendungen sucht, der verteilte Charakter könnte viele Prozesse revolutionieren, so wie es einst das Internet Ende der 1990er-Jahre tat (Bieser und Fasnacht 2023). Nach einer ersten Euphorie, oder wie diese das Marktforschungsunternehmen Gartner mit dem Hype-Cycle erklärt, wird sich die Spreu vom Weizen trennen. Unerwünschte, utopische und inakzeptable Geschäftsmodelle werden in den nächsten Jahren aussortiert und viele Start-ups vom Markt verschwinden. Profitable und robuste Anwendungen hingegen werden auf Benutzerakzeptanz stoßen und können sich nachhaltig entfalten. Die skizzierten Szenarios weiterdenken, bedeutet demografische Entwicklungen zu berücksichtigen. Nach den Millennials werden entsprechend auch andere Kundensegmente den stationären Handel verlassen. Bald wird alles als Service in der Cloud angeboten, wie Selina Yuan, Chefin von Alibaba Cloud, im Vorwort erklärte. Mehr Offenheit und offene Ökosysteme gewinnen entsprechend an Akzeptanz und die Verbraucher werden sich daran gewöhnen, Finanzdienstleistungen im Vorbeigehen beim Einkaufen auf digitalen Plattformen zu erhalten oder über soziale Medien einzukaufen. Und wie bereits erläutert, wird dazu viel mehr Rechenkapazität benötigt als heute mit herkömmlichen Computern geleistet werden kann. Der Quantencomputer wird folglich in den nächsten fünf Jahren erste kommerzielle Erfolge feiern. Wer als Gewinner aus dieser Transformation herausgehen will, muss sich als globaler Innovationsführer in der Plattform-­

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1 Einleitung

Ökonomie positionieren. Dies ist allerdings nur möglich, wenn die Digitalisierungsphase abgeschlossen ist, was in Kap. 2 mit den drei Phasen der digitalen Transformation beschrieben wird (siehe Kap. 2). Unternehmen, die in diesem Transformationsprozess nicht teilnehmen oder die die frühe Adoption von neuen Technologien als Gefahr einstufen, werden verlieren. Anhand des Beispiels der Adoption von disruptiven Technologien hat McKinsey (2018) ein Modell entwickelt, wonach Unternehmen welche früh in Künstliche Intelligenz investieren und diese anwenden (engl. front runner), überdurchschnittliche Cash-Flows bis 2030 erwirtschaften und wer zu spät auf diesen Zug aufspringt (engl. laggards), Cash-Flow-Einbußen von bis zu 20 % verzeichnet. Dies gilt nicht nur für einzelne Unternehmen, sondern auch für Branchen und Länder, wobei die Reisebranche, Transport und Logistik und Retail am meisten von den Analysen mit Hilfe Künstlicher Intelligenz profitieren. Die Art und Weise, wie die täglichen Bedürfnisse befriedigt und Geschäfte getätigt werden, wird sich zugunsten digitaler Plattformen und Ökosysteme völlig verändern. Im aktuellen Transformationszyklus sammeln staatliche Einrichtungen und Unternehmen so viel Informationen wie nie zuvor und analysieren diese mit Künstlicher Intelligenz. Die Verfügungsgewalt über sensible Daten der Menschen, allen voran Gesundheits- und Finanzdaten, wird sich ändern. Dateneigentümer werden in Zukunft selbst darüber entscheiden, in welcher Form, welche Institution ihre Daten nutzen dürfen. Erste Anwendungen dafür gibt es mit Blockchain-Technologie. Mit Quantencomputing wird sich die Datenverarbeitung dann nochmals stark verändern. Die unvorstellbare Beschleunigung der Rechenleistung kann in der prädiktiven Datenanalyse, ebenso wie in der virtuellen Realität und bei Simulationen, die Welt nachhaltig prägen. Während Blockchain noch mit Akzeptanz- und Energieproblemen kämpft und vor einer Bereinigung steht, ist der Quantenrechner technisch noch zu instabil und dürfte noch lange nicht kommerziell einsetzbar sein. Die beiden disruptiven Schlüsseltechnologien benötigen also noch mehrere Jahre bis sie sich durchsetzen. Der generationenübergreifende Vermögenstransfer von den Babyboomern zu den Millennials ist in vollem Gange, und im Rahmen dieses Prozesses werden viele neue Akteure jüngere Kunden begeistern müssen. Ein digitales und personalisiertes Kundenerlebnis ist für die nächste Generation Pflicht in allen Branchen. Die Kombination von disruptiven Technologien wird reale und virtuelle Welten verschmelzen lassen. Die Vermögensakkumulation von altem Geld von historisch gewachsenen Finanzzentren in London oder Zürich verschiebt sich zu neuen Hotspots in aufstrebenden Regionen in Shanghai, Peking, Shenzhen oder Guangzhou. Neue Wirtschafts- und Vermögensregionen in Asien gewannen auch durch die Unterstützung ihrer Regierungen an Bedeutung. Auch wenn die erste Euphorie der neuen Seidenstraße (engl. Belt and Road Initiative, BRI) der chinesischen Regierung verflogen ist, die seit 2013 massiven Auf- und Ausbauarbeiten laufen auf Hochtouren. Seit 2019 ist Italien offizieller Partner des Projektes und Logistikzentren in Verona und Triest, aber auch Piräus, Rostock, Hamburg und Duisburg werden ihre Kapazitäten in den nächsten Jahren noch einmal massiv steigern können. Schätzungen gehen davon aus, dass bis um 2030 60 % der Weltbevölkerung und ein Drittel des globalen Handels über die Neue Seidenstraße abgewickelt werden (OECD 2018). Dieses Jahrhundertprojekt wird

1.4 Transformationszyklen

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den globalen Handel und Investitions- und Finanzströme der meisten Länder nachhaltig verändern (CFR 2023). Es wird das mit Abstand mächtigste Ökosystem – über Organisations- und Landesgrenzen sowie über Kontinente hinweg (siehe Kap. 3). Heute, 2023, leben die meisten Menschen bereits in einer digitalen und vernetzten Welt. Dennoch wird die Interaktion zwischen, Menschen, Robotern und Algorithmen – getrieben durch Künstliche Intelligenz und das Internet der Dinge (IoT) – weiter exponentiell zunehmen. Viele Unternehmen werden sich in sektorübergreifende Ökosysteme integrieren müssen, welche dann von Technologiefirmen orchestriert werden. Es ist der Kundenwunsch (nahtlos ineinander gehenden Erlebnisse für alle Bedürfnisse), der diese Entwicklung weitertreibt. Es ist allerdings schwierig, eine Prognose für die Zeit nach 2030 abzugeben. Aufgrund der Komplexität vieler voneinander abhängiger Faktoren ergeben sich verschiedene Zukünfte, auf die sich Unternehmen vorbereiten müssen. Dazu können optimistische, realistische oder pessimistische Szenarien, wie in Abb. 1.1. mit grün, blau und rot gekennzeichnet, formuliert werden. Ein realistisches und beliebtes Szenario ist die Fortentwicklung des Internets. Was seit der Jahrtausendwende als interaktives, marktplatzorientiertes Internet (Web2) bekannt ist, wird sich in Richtung eines auf Blockchain-Technologie basierendes Internet, dem sogenannten Web3, für fast alle sozioökonomischen Aktivitäten weiterentwickeln. Web3 bietet neben dem Handel von digitalen Werten viele Vorteile. Blockchain ist ein dezentrales und verteiltes System und Benutzer hätten in so einem Internet mehr Kontrolle über ihre Daten und Identitäten und könnten Transaktionen direkt durchführen ohne auf zentrale Vermittler wie Regierungsbehörden, Banken, Händler, Technologiefirmen oder soziale Netzwerke angewiesen zu sein. Im aktuellen Demokratisierungsprozess werden Menschen weiterhin mehr Kontrolle über ihre Daten und Identitäten fordern, wie die Studie von Bieser und Fasnacht (2023) ausführt. Dezentrale Technologien ermöglichen es, dass Daten und Identitäten nicht mehr zentral auf einem Server oder bei einem Vermittler gespeichert werden müssen. Stattdessen können Nutzer ihre Daten und Identitäten auf der Blockchain speichern, die als dezentrales, verteiltes System fungiert, auch bekannt unter Distributed Ledger Technology (DLT). Dies bedeutet, dass Nutzer die Kontrolle über ihre Daten und Identitäten haben und entscheiden können, wer darauf zugreifen darf und wer nicht. Ein Beispiel dafür ist die Verwendung von dezentralen Identitätslösungen, wie beispielsweise Self-Sovereign Identity (SSI). SSI ermöglicht es Nutzern, ihre Identität direkt auf der Blockchain zu speichern und sie dann für verschiedene Zwecke zu verwenden, wie zum Beispiel für den Zugriff auf eine dezentrale Anwendung (dApp) oder für die Durchführung von Transaktionen. Eine dApp wird dabei nicht von einem Anbieter zentral verwaltet, sondern ist eine Anwendung, welche in einem Blockchain-Netzwerk betrieben wird. Die Verwendung von SSI gibt Nutzern die vollständige Kontrolle über ihre Identität und verhindert, dass Vermittler unberechtigt auf ihre Daten zugreifen können. dApps ermöglichen es Entwicklern, neue Anwendungen zu erstellen, die von der Community genutzt und weiterentwickelt werden können. Die Nutzung von Open-Source-Technologien fördert die Zusammenarbeit und schafft neue Möglichkeiten für Innovationen. Weitere dezentrale Anwendungen sind Smart Contracts, welche Transaktionen und Interaktionen di-

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1 Einleitung

rekt zwischen Nutzern durchführen. All diese Möglichkeiten schaffen ein sichereres und transparenteres Ökosystem, in dem Nutzer direkt miteinander interagieren und voneinander profitieren können. Web3 und offene Ökosysteme sind eng miteinander verbunden. Neben Kryptowährungen werden in Zukunft auch digitale Vermögenswerte wie Kunstwerke oder Musikstücke vermehrt über sogenannte Non-fungible Token (NFT) gehandelt und direkt zwischen Nutzern ausgetauscht. Erste kommerzielle Anwendungen sind im Metaverse offensichtlich. Insgesamt ermöglicht Web3 eine dezentralere und offene Internet-Infrastruktur, die es Entwicklern und Nutzern ermöglicht, zusammenzuarbeiten und innovative Anwendungen und digitale Werte zu schaffen. Es ist wie mit Blutgefäßen: das Internet in seiner heutigen Form braucht eine Erneuerung, um weiterhin zuverlässig und sicher Werte in Form eines interoperablen Wertschöpfungsnetzwerkes zu liefern. Die Erweiterungen sind auch notwendig, um die Anforderungen der Benutzer an zukünftige Ökosysteme zu bedienen. Als Folge der Evolution des Internets wird sich hinsichtlich des Angebotes und der Nutzung eine Verschiebung von der Verbreitung von Informationen oder dem Produktverkauf durch Internetseitenbetreiber, hin zu einer Beteiligung der Nutzer im Internet geben. Dabei steht durch die Nutzung von sozialen Medien der Austausch und damit die Generierung von zusätzlichem Wert im Vordergrund. Durch diese Verbindungen ergeben sich beispielsweise mit Social Commerce neue Geschäftsmöglichkeiten (siehe Kap. 7). Es ist nicht das Kernziel dieses Buches Zukunftsszenarien zu entwickeln. Vielmehr erhalten Führungskräften Impulse, die aufzeigen, mit welchen Strategien sie die aktuellen Herausforderungen meistern und dabei in der Zukunft relevant bleiben können. Die nächsten Jahre werden in jeden Fall radikaler sein als die letzten 30 Jahre. Es liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen, die Triebkräfte der heutigen Veränderungen und die verschiedenen Herausforderungen anzugehen. Von diesem Punkt aus können neue Opportunitäten entwickelt werden, um zu wachsen und einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil zu erlangen. Wer das Momentum der digitalen Transformation verpasst, für den wird es schwierig, sich nach einer ersten Formation in global tätige Ökosysteme einzubringen. Diese Gefahr droht etablierten Großkonzernen gleichermaßen wie familiengeführten Firmen aus dem Mittelstand oder Start-ups.

1.5 Das Ökosystem als Katalysator In der Biologie versteht man unter einem Ökosystem das Zusammenspiel von Lebewesen und ihrem Lebensraum. Ein ökologisches Ökosystem ist dementsprechend ein natürlicher Lebensraum, der durch eine komplexe Wechselbeziehung zwischen Organismen und ihrer Umwelt geprägt ist. Es handelt sich um ein dynamisches System, das aus biotischen, also aus Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen, sowie aus abiotischen Komponenten wie Luft, Wasser, Boden und Klima besteht. Ein solches Ökosystem ist im Gleichgewicht, wenn alle Komponenten miteinander interagieren. Nur so kann ein stabiles ökologisches System aufrechterhalten werden. Ein ökologisches Gleichgewicht kann jedoch durch menschliche Einflüsse, wie Klimawandel, Luftverschmutzung, Abholzung oder Überfischung, gestört

1.5 Das Ökosystem als Katalysator

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werden. Auch gibt es in so einem System verschiedene Beziehungen unter den Lebewesen (Räuber und Beute). Da der Lebensraum, also das Biotop, durch Faktoren wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit oder der Sonneneinstrahlung gekennzeichnet ist, gibt es verschiedene Ökosysteme mit unterschiedlichen Lebensbedingungen. Das Ökosystem Kältewüste ist also nicht mit dem Ökosystem Wüste in der Sahara kompatibel. Allerdings sind alle Ökosysteme durch drei Eigenschaften charakterisiert – sie sind offen, dynamisch und komplex. Ähnliches gilt für Ökosysteme im Kontext der Betriebswirtschaft, Innovation, Wissen oder des Unternehmertums, natürlich mit anderen Attributen. Die Offenheit von Ökosystemen lässt sich durch einen fließenden und nahtlosen Übergang von verschiedenen Systemen erklären. Während in der Natur so organische und anorganische Stoffe und Energie ausgetauscht werden, hat ein betriebswirtschaftliches Ökosystem Informations-, Kapital-, Güter und Dienstleistungsflüsse. Die Dynamik kommt von der ständigen Veränderung von inneren Beziehungen und äußeren Einflüssen. Das betriebswirtschaftliche Ökosystem verändert sich kontinuierlich durch neue Trends, Mitbewerber, Wertgeneratoren oder aufgrund externer Schocks. Um weiter zu funktionieren, muss das Ökosystem auf diese Marktdynamik reagieren. Die Akteure werden dazu gezwungen ihre spezialisierten Fähigkeiten, Ressourcen und Kundenbeziehungen ständig anzupassen, um das Ökosystem am Leben zu erhalten. Schließlich macht die zunehmende Konnektivität und Interoperabilität mit oft schwer durchschaubaren Beziehungen und Verbindungen zwischen den einzelnen Teilnehmern ein Ökosystem komplex. Der einzige Unterschied ist, dass sich ein Wald ständig verändert und alle Anspruchsgruppen sich automatisch anpassen. Was in der Natur eines biologischen Ökosystems liegt, muss für ein betriebswirtschaftliches Ökosystem mit strategischen Maßnahmen eingestellt werden. Mehrere Unternehmen, innerhalb einer geografischen Region oder weltweit, aus einer bestimmten Branche oder branchenübergreifend, traditionelle und disruptive Unternehmen, große Firmen und Start-ups, schließen sich in einer symbiotischen Beziehung zusammen. Trotzdem sind alles autarke Organisationen und sie müssen sich um die Anpassungen eigenständig sorgen. Einzig das Metaziel – die Interoperabilität und durch Zusammenarbeit einen größeren Wert für sich selbst zu erzielen, als wenn alle allein operieren würden – verbindet alle Teilnehmer eines Ökosystems. Offene Ökosysteme fördern Innovationen und werden Verhalten, Zusammenarbeit und die Zukunft der Arbeit grundlegend verändern. Im Hauptkapitel des Buches sind dazu verschiedene Formen von Ökosystemen anhand von Beispielen aus unterschiedlichen Sektoren beschrieben (siehe Kap. 6). Das eigentliche Neue an einem offenen Ökosystem, im Vergleich zu älteren Definitionen, sind digitale Aspekte wie der gemeinschaftliche Konsum (Sharing), Plattformen und digitale Marktplätze zum Informationsaustausch über Nachrichtendienste und soziale Medien und die Vernetzung von physischen und virtuellen Gegenständen (Fasnacht 2020). In diesem Buch liegt der Fokus auf dem neu konzipierten Begriff offene Ökosysteme, charakterisiert durch Offenheit, Dynamik und Komplexität. „Ein offenes Ökosystem ist ein dynamisches, komplexes und verteiltes Wertschöpfungsnetzwerk, in dem diverse Akteure Technologie, Wissen und Ressourcen austauschen und rekonfigurieren, um damit gemeinsam und kundenfokussiert Mehrwert zu generieren.“

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1 Einleitung

Die Unternehmensberatungsfirma McKinsey prognostiziert, dass bis 2030 30 % der globalen Wirtschaftsleistung, also mindestens 70 Billionen US-Dollar, durch rund zwölf Ökosystem-Cluster erwirtschaftet werden (McKinsey 2021). Offene Ökosysteme in einer Welt der Sektoren ohne Grenzen konkurrieren und ergänzen sich gleichermaßen. Dies wird Unternehmen in allen Bereichen bedrohen, aber auch neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit schaffen. Dabei verstärken digitale Aspekte das offene Ökosystem. Denn durch die Integration von komplementären Services kann mehr Wert geschaffen werden, als einzelne Marktteilnehmer erbringen könnten. Wenn Unternehmen ihre Konkurrenten bei digitalen Innovationen abhängen und neue Leistungsniveaus erreichen wollen, sind Ökosysteme eine wirksame Strategie. Wer sich jetzt mit offenen und digitalen Ökosystemen befasst, kann mit Partnerschaften Mehrwert generieren und die Zukunft mitgestalten, frei nach Aristoteles: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“

1.6 Struktur des Buches In allen neun Kapiteln des Buches wird versucht, Beobachtungen, Annahmen und Studien mit Beispielen und Anwendungsfällen aus verschiedensten Sektoren zu untermauern. Wichtige Erkenntnisse lieferten Strategien und Geschäftspraktiken von Accenture, Adecco, Alibaba, Alphabet, Amazon, Ant Group, Apple, Charles Schwab, IBM, Julius Bär, Meta, Migros, Nio, Tencent, Nat West oder der Universität Zürich. Die Organisationen sind alphabetisch aufgelistet und es wurden ausschließlich vertrauenswürdige Repräsentanten auf allen Hierarchiestufen, beider Geschlechter und mit verschiedenen kulturellen Hintergründen in Interviews, Diskussionen und Workshops berücksichtigt. Die Inhalte des Buches sind wissenschaftlich abgestützt. Es wurden nur so viele Quellen wie notwendig genutzt und darauf geachtet, dass die Ausführungen nicht zu akademisch werden. Die wissenschaftliche Integrität wurde durch Transparenz gewahrt und dabei bewusst auf die akademische Vollständigkeit verzichtet. Die Referenzen der aufgenommenen Themen sind entsprechend nicht vollständig. Mit diesem Ansatz konnte das Buch praxisorientiert gehalten werden. Beim Bezug auf Studien und Forschungsarbeiten wurden anerkannte akademische Journale und Zeitschriften zitiert und Analysen von Verbänden (OECD, Vereinigte Nationen), Think Tanks und Unternehmensberatungen integriert. Nach einer kurzen Einleitung in Kap. 1, mit den Zielen und Kernthemen des Buches, dargestellt in Transformationszyklen, werden im Kap. 2 einige zugrunde liegende Definitionen im Kontext der digitalen Transformation erklärt. Es ist wichtig, dass die Eigenheiten der digitalen Transformation, Disruption oder der Paradigma-Wechsel verstanden und eingeordnet werden können und nicht Schlagwörter (buzzwords) bleiben. Im Kap. 3 werden die Triebkräfte des Wandels, eingeteilt in Markttrends und Technologietrends erläutert. Der Fokus liegt auf disruptiven Technologien, weil diese mit Innovation und Dis-

Literatur

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ruption korrelieren. Wie diese Technologien das Wachstum beschleunigen und welche Formen des Wachstums es im digitalen Paradigma gibt, ist im Kap.  4 ersichtlich. Ein Grundverständnis über Open Innovation als Basis der interorganisationalen Zusammenarbeit wird in Kap. 5 gelegt. Davon ausgehend gelangt der Leser ins Hauptkapitel (Kap. 6) des Buches – offene Ökosysteme. Hier wird im Detail ausgeführt und mit Praxisbeispielen untermauert, was unter einem offenen und digitalen Ökosystemen verstanden wird. Nach diesem vertieften Einblick sollte der Leser den Mehrwert der Branchen- und Technologiekonvergenz verstanden haben. In Kap. 7 unterstützen aktuelle Theorien und Praxisanwendungen den Leser dabei, den für sein Unternehmen relevanten Zugang zum Ökosystem zu finden. Was es braucht, um ein Ökosystem zu schaffen oder sich in einem Ökosystem zu integrieren wird in Kap. 8 erklärt. Die drei identifizierten Schlüsselprinzipien gelten dabei als neue dynamische Ökosystemfähigkeiten, welche die größte Wirkung erzielen, wenn sie in die Organisationkultur verankert werden. Das Kap. 9 bildet die Konklusion, wobei hier auf einige Szenarios und die Zukunft der Arbeit im Ökosystem eingegangen wird. Zudem werden Forschungsrichtungen gezeigt, welche die Branchen und Technologiekonvergenz nutzen könnten, um eine nachhaltige und verantwortungsvolle Gesellschaftsform zu schaffen. Die Struktur dieses Buches ermöglicht es dem Leser, einzelne Kapitel nach Interesse zu lesen. Wem also das Konzept von Open Innovation bekannt ist, der kann zum Hauptkapitel übergehen und sein Wissen bezüglich der offenen Ökosysteme erweitern und da wertvolle Erkenntnisse für Theorie und Praxis holen. Der größte Wissenserwerb ergibt sich allerdings, wenn alle Kapitel in ihrer Sequenz durchlaufen werden. Das Gelesene wird am besten verstanden und verinnerlicht, wenn es in den eigenen Worten wiedergeben oder in Workshops innerhalb der Organisation vertieft wird. Es empfiehlt sich, die gewonnenen Erkenntnisse auf kreative Art und Weise aktiv anzuwenden und so proaktiv wertvolle Erfahrungen für die Zukunft zu sammeln. „Die erfolgreichsten Unternehmen der Zukunft werden die sein, die ihre Mitarbeiter kontinuierlich weiterbilden und das Lernen in ihrer Kultur verankert haben.“ Bill Gates

Literatur Bieser, J. & Fasnacht, D. (2023). Hype oder Hilfe: Was die Blockchain wirklich leistet. Gottlieb Duttweiler Institute, Economic and Social Studies, Rüschlikon. Cabinet Office (2016). Society 5.0. Government of Japan, Fifth Science and Technology Basic Plan. CFR (2023). China’s Massive Belt and Road Initiative. Council on Foreign Relations. Fasnacht, D. (2020). Die Ökosystemstrategie. Zeitschrift Führung und Organisation (zfo), 89(3), 168–173. Fasnacht, D. (2018). Open Innovation Ecosystems: Creating New Value Constellations in the Financial Services. Springer, Cham. Fasnacht, D. (2009). Open Innovation in Financial Services: Growing Through Openness, Flexibility and Customer Integration. Springer, Berlin.

20

1 Einleitung

Fasnacht, D. (2005). The Transition to Open Innovation: A Case Study in the Banking Industry. PhD Thesis Nr. 56906, University of Nottingham. FintechLabs (2023). The 334 Fintech Unicorns of the 21st Century. FintechLabs, 15. Februar. Gartner (2022). Gartner Predicts 25% of People Will Spend At Least One Hour Per Day in the Metaverse by 2026. Gartner, 7 Februar. Kim, N., Lee, H., Kim, W., Lee, H. & Suh, J. H. (2015). Dynamic patterns of industry convergence: Evidence from a large amount of unstructured data. Research Policy, 44(9), 1734–1748. Masini, A., Di Minin, A. & Frattini, F. (2017). The Rise of Industry 4.0 and Its Impact on Business Models. Business Horizons, 60(5), 651–68. McKinsey (2022). Value creation in the metaverse. McKinsey & Company, Juni. McKinsey (2021). A design-led approach to embracing an ecosystem strategy. McKinsey & Company, Juli. McKinsey (2018). Notes from the AI frontier: Modeling the impact of AI on the world economy. McKinsey Global Institute, September. OECD (2018). China’s Belt and Road Initiative in the Global Trade, Investment and Finance Landscape. OECD Business and Finance Outlook. Rouse, W.B., Boff, K.R. & Kruschke, J.K. (2005). Multi-Service Networks: Next Generation Infrastructure for Next Generation Services. John Wiley & Sons, Inc. Second Life (2023). Erforschen. Entdecken. Schaffen. https://secondlife.com/. Zugegriffen: 30 März 2023. Shivendu, S., Saini, S. & Papadopoulos, T. (2019). Industry Convergence and Its Implications for Business Strategy: A Review and Future Research Agenda. Journal of Business Research, 103, 558–570. Volenik, A. & Gallagher, T. (2023). 19 Biggest Fintech Companies in 2023. Top Mobile Banks, 29. Januar.

2

Das digitale Paradigma

Zusammenfassung

Ist die Schöpferische Zerstörung eine Dystopie oder Chance? Das Leben der meisten Menschen wird längst von digitalen Aspekten wie Daten, Künstliche Intelligenz, Vernetzung, Plattformen und digitalen Kundeninteraktionen bestimmt. Die digitale Transformation ist ein Prozess und hat längst begonnen und trotzdem gibt es immer noch Unternehmen, die ihre Geschäftsmodelle nicht an die neue Realität angepasst haben. Um in Zukunft erfolgreich zu sein, müssen Unternehmen die Auslöser und Charakteristiken der digitalen Transformation verstehen und lernen mit Diskontinuitäten umzugehen. Der Finanzsektor hat ein verlorenes Jahrzehnt hinter sich, andere Sektoren konnten aber von disruptiven Technologien profitieren und erfolgreiche Ökosysteme aufbauen. Digitale Innovationen haben einen hohen strategischen Wert und Disruption wird dann zu einer Chance, wenn sich Unternehmen an die neuen Wettbewerbsregeln anpassen und sich mit branchenfremden und agilen Start-ups einlassen. Das digitale Paradigma ist digital, modular und offen für alle, die einen Beitrag zu Kundenmehrwert und dem Gemeinwohl leisten können.

2.1 Die digitale Transformation 2.1.1 Von der Digitisierung zur Digitalisierung Die Computerisierung von Unternehmen und Prozessen begann bereits in den 1990er-­ Jahren. Mit der systematischen Gestaltung der Zukunft der digitalen Wirtschaft und Gesellschaft – auch bekannt unter Industrie 4.0 – wurde am Weltwirtschaftsforum in Davos im Jahr 2016 ein Meilenstein gelegt (WEF 2016). Demzufolge ist die digitale Wirtschaft © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Fasnacht, Offene und digitale Ökosysteme, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42494-7_2

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22

2  Das digitale Paradigma

ein globales Netzwerk wirtschaftlicher Aktivitäten, kommerzieller Transaktionen und geschäftlicher Interaktionen, die durch Informations- und Kommunikationstechnologie ermöglicht wird. Digitale Transformation ist ein Modewort, das für verschiedene Dinge verwendet wird, in der Regel für die Bemühungen von Unternehmen, digitale Reife zu erreichen. Im Rahmen dieses Prozesses, ergeben sich Möglichkeiten, Daten, Prozesse, Geschäftsmodelle und natürlich Menschen zusammenzubringen, um mit digitalen Tools Wert zu generieren. Digitalisierung und digitale Transformation werden oft als Synonyme verwendet. Diese Begriffe sollten aber differenziert betrachten und vor allem die Phasen der digitalen Transformation im Kontext der Diffusionstheorie (Tarde 2008; Everett 2003) verstanden werden. Dies ist wichtig, weil die Auswirkungen durch die Einführung oder Übernahme (Adoption) und Verbreitung (Diffusion) von Innovationen, basierend auf technologischen Verbesserungen bei Unternehmen, Kunden und im Markt, unterschiedlich ausfallen. Um ein digitales Geschäftsmodell am Markt zu etablieren, müssen dabei zwei wesentliche Schritte sequenziell durchlaufen werden. Zuerst muss eine digitale Repräsentation von physischen Objekten, Ereignissen oder analogen Medien erreicht werden. Hierzu wird in der angelsächsischen Welt vorwiegend der Begriff Digitisierung verwendet. Damit ist die Überführung von analog zu digital oder von Atomen zu Bits gemeint. Beispiele sind Briefe zu E-Mail, Ablage von Dokumenten in einem Bundesordner zu Dateien oder Handbüchern zu digitalen Anleitungen im Internet. Die digitale Repräsentation ist der Ausgangspunkt für den zweiten Schritt, wo analoge Prozesse digitalisiert und automatisiert werden. Mit dieser Digitalisierung wird die Prozesseffizienz durch aufeinander abgestimmte Arbeitsschritte, sogenannte workflows, verbessert. Unternehmen sollten aber nicht nur Bestehendes digitalisieren, sondern alte Prozesse auch kritisch hinterfragen und mit digitalen Innovationen neue und bessere Lösungen suchen. Eine Organisation erhält nach diesem zweiten Schritt Zugriff auf alles in einem digitalen Format. Dies macht einerseits die Arbeit und das Leben von Kunden einfacher und bequemer – viel wichtiger ist aber, dass dadurch Grenz- und Transaktionskosten sinken. Unter Grenzkosten werden diejenigen Kosten subsumiert, welche bei der Herstellung einer zusätzlichen Mengeneinheit eines Produktes entstehen. Bei Software sind diese praktisch null, da mit dem Verkauf eines zusätzlichen imaginären Produktes keine zusätzlichen Material- oder Herstellkosten anfallen. Die Transaktionskosten sind dahingegen die Kosten, die durch die Nutzung des Marktes, respektive des Handels entstehen. Digitale Plattformen koordinieren die Interaktionen der Anbieter und Nachfrager und schaffen so einen reibungslosen und intelligenten Marktplatz, wo es kaum Markteintrittsbarrieren gibt und sich Netzwerkeffekte auf beiden Seiten des Marktes etablieren können. Der Nobelpreisträger Jean Tirole und Jean-Charles Rochet von der Universität Zürich haben bereits 2003 herausgefunden, dass Märkte zweiseitig funktionieren (Rochet und Tirole 2003). App-Stores von Apple oder Android, Immobilien- oder Datingplattformen oder klassische E-Commerce-Plattformen wie sie Amazon oder Alibaba betreiben, handeln nach dem Prinzip, dass je mehr Transaktionen über eine Anbieter-/Nachfrageplattform laufen, je tiefer die Transaktionskosten sind. Neben

2.1 Die digitale Transformation

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sinkenden Grenz- und Transaktionskosten ergibt sich durch die Digitalisierung erst die Möglichkeit einer Teilnahme auf digitalen Plattformen. Der dritte und umfassendste Schritt ist dann die eigentliche digitale Transformation, welche etwas Neues hervorbringt, was es so weder in analoger noch in digitaler Form vorher gab. Dies eröffnet neue Möglichkeiten der interorganisationalen Zusammenarbeit, wo mit Partnern außerhalb der Organisation oder Branche neuer Wert für Kunden geschaffen werden kann. Mit digitalen Geschäftsmodellen und durch die Entwicklung interdisziplinärer Geschäftstätigkeiten entstehen neue Wertschöpfungsnetzwerke, welche alte und traditionelle Modelle verdrängen. Der Grad, wie stark sich diese Veränderungen auf Wirtschaft und Gesellschaften auswirken, ist abhängig davon, wie die transformativen Innovationen von der Organisation aufgenommen werden. Neben der eigentlichen Veränderungsbereitschaft ist dies ein sozio-ökonomischer Prozess, bei dem es nicht nur um die Einführung neuer Technologien geht, sondern darum, Ängste und Unsicherheiten zu beseitigen. In Abb. 2.1 sind die wichtigsten Eigenschaften der drei Phasen der digitalen Transformation zusammengefasst. In den letzten Jahren ist die Erkenntnis bei den meisten Unternehmen stark gewachsen, dass bisherige Geschäftsmodelle nicht mehr funktionieren und Wissen und Fähigkeiten für Neues nicht mehr ausreichen. Der digitale Veränderungsprozess ist zwingend notwendig, um der Omni-Channel-Kundeninteraktion gerecht zu werden. Kunden sind heute digital, mobil und in Echtzeit unterwegs und möchten dann mit einer Firma in Kontakt treten, wenn sie das Bedürfnis haben. Und weil Kunden vermehrt aus dem Home-Office arbeiten und international unterwegs sind und sich nicht an Öffnungszeiten halten, braucht es eben digitale Plattformen und Chatbots. Der Kunde profitiert dabei von nahtlos inte­ grierten Prozessen ohne Medienbrüche (Papier), wenn beispielsweise alles digital über eine App auf dem Mobiltelefon erledigt werden kann. Kundeninteraktionen über verschiedene Kanäle hinweg zu bedienen, haben einen Einfluss auf die Unternehmensstrategie, Prozesse, Organisationsstruktur, Kultur, Systeme und Applikationen. Die digitale Wertschöpfung, Plattformen und Ökosysteme sind entsprechend alles Ergebnisse der digitalen Transformation. „Die digitale Transformation ist ein Veränderungsprozess, welcher Daten, Prozesse, und Geschäftsmodelle durch Technologien unterstützt und dadurch Grenz- und Transaktionskosten senkt und letztendlich Kundenmehrwert schafft.“

2.1.2 Digitale Aspekte Grundlegend wird die digitale Transformation durch digitale Daten, der Vernetzung über digitale Plattformen und über digitale Kundeninteraktionen getrieben. Basierend auf diesen drei digitalen Aspekten ist ersichtlich, wie branchenfremde Disruptoren traditionelle lineare Wertschöpfungsketten auflösen und sie dank niedriger Transaktionskosten neu definieren. Besonders für Dienstleistungen entfallen dabei teure Anlagen für Produktion und

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2  Das digitale Paradigma

Digitale Transformation

Digitalisierung

Digitisierung

3

2

1 Digitisierung (engl. digitization )

Digitalisierung (engl. digitalization)

Digitale Transformation

Fokus

- Daten

- Prozesse

- Geschäftsmodelle

Prozess

- Informationen von analog zu digital

- Automatisierung von Geschäftstätigkeiten

- Transformation von Geschäftsmodellen

- Digitale Repräsentation von physischen Objekten

- Zugriff auf alles in einem digitalen Format - Zusammenspiel realer und digitaler Welt - Macht das bestehende System besser

- Etwas Neues was es zuvor so nicht gab - Interorganisationale Zusammenarbeit - Schafft ein neues System

Diffusion/ Adoption

- Wird von allen Unternehmen gut aufgenommen, da notwendig und zeitgemäss - Verändert die Organisation

- Weitreichende Auswirkungen auf Prozessund Systemebene - Wird von etablierten Unternehmen oft nicht konsequent genug angegangen (Teilprozesse, Medienbrüche) - Verändert die Organisation und Kundeninteraktion

- Umfassende Änderungen in allen Organisationsbereichen - Neue Partnerschaftsbeziehungen - Wird von etablierten Unternehmen schwer aufgenommen - Verändert Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig und global

Vorteile

- Effizienzsteigerungen - Möglichkeit für Open Innovation

- Sinkende Grenz- und Transaktionskosten - Teilnahme auf digitalen Plattformen

- Neue Märkte und Kunden - Interdisziplinäre Geschäftstätigkeiten - Wertschöpfung in digitalen und offenen Ökosystemen

Nachteile

- Anschaffung von neuer Technologie

- Anschaffung von neuen Systemen - Abbau von repetitiven Tätigkeiten - New Work

- Kann altbewährtes verdrängen (Disruption) - Benötigt neue (oft nicht vorhandene) Kompetenzen

Ergebnis

Abb. 2.1  Die drei Phasen der digitalen Transformation (eigene Darstellung)

Logistik, denn eine Dienstleistung kann einfach über eine digitale Plattform vertrieben werden. Der positive Einfluss auf die Grenzkosten geht einher mit leichteren Markteintrittsbarrieren und einem hohen Automatisierungsgrad. Weitere Vorteile, die durch digitale Wertschöpfungsmodelle entstehen, sind der höhere Wertschöpfungsanteil am Kunden. In der Praxis hat sich die Kundenreise (engl. customer journey) etabliert, womit die Erfahrung vom ersten Kontakt bis zum Kauf eines Produktes oder einer Dienstleistung gemeint ist. Die Beherrschung der Kundenschnittstelle mit allen relevanten Berührungspunkten (engl. touchpoints) während der Customer Journey ist entsprechend wettbewerbsentscheidend. „Digitale Daten, digitale Plattformen und digitale Kundeninteraktionen verstärken die Zusammenarbeit und gemeinsame digitale Wertschöpfung in einem offenen Ökosystem.“

2.1 Die digitale Transformation

25

Beobachtungen zeigen, dass etliche Technologiefirmen die erwähnten digitalen Aspekte nutzen, um entlang ihrer Kernkompetenzen neue Geschäftsmodelle zu entwickeln und so relativ einfach in andere Sektoren eindringen. Des Weiteren nehmen die Umsatzanteile bei großen Plattform-Betreibern in ihrem Kerngeschäft zugunsten von neuen Geschäftsfeldern kontinuierlich ab. Einige bewegen sich auch klar vom Endkonsumenten Richtung Firmenkundengeschäft – also von B2C (Business to Consumer) nach B2B (Business to Business). Alphabet’s Kernkompetenzen sind Daten und Datenanalysen und dessen Materialisierung. Die Firma kann somit in fast alle Sektoren eindringen und Mehrwert generieren. Die Partnerschaft mit Waymo hat bereits erhebliche Fortschritte beim autonomen Fahren erzielt. Allein in Kalifornien sind über 700 Roboterautos ohne Sicherheitsfahrer zugelassen. Mit Google Nest dringt die Firma in die Smart-Home- und Sicherheitsbranche ein, wobei lernfähige Thermostate nur ein kleiner Teil der Wertschöpfung ausmachen. Auch Amazon hat sich von einen Online-Bücherhändler (digitale Plattform) mit Amazon Web Services (AWS) zum führenden Cloud-Anbieter hin entwickelt. Der dabei erzielte Umsatz ist größer als derjenige der vier Hauptkonkurrenten zusammen, i.e. Microsoft Azure, Google, Alibaba und Huawei. Mit Amazon Go, den Supermärkten ohne Kasse, ist Amazon seit einigen Jahren daran den Retail-Sektor neu zu definieren. Online-to-Offline (O2O) nennt sich das und es ist ein weiterer Beweis, wie digitale Aspekte ein Hebel für neue Geschäftsmodelle bieten. Bei Alibaba wurde O2O sogar eines der Kerngeschäfte (siehe Kap. 6). Es gibt etliche Beispiele, die aufzeigen, welche Branchen damit in Zukunft alle angegriffen werden. Technologien schalten einerseits Intermediäre aus, wie dies bei Künstlicher Intelligenz und Blockchain der Fall ist, aufgrund der digitalen Aspekte ergeben sich aber unzählige Möglichkeiten für neue Marktteilnehmer. Um Branchenkonvergenz zu verstehen, muss nur ein großer Plattform-Anbieter analysiert werden. In der Regel kann schnell festgestellt werden, in welche Geschäftsfelder das Unternehmen, ausgehend von ihrem Kerngeschäft, reingewachsen ist. Alibaba nutzt gleich zwei Kernkompetenzen: mit digitalen Plattformen entstand ein umfangreiches Ökosystem, welches alle Bereiche unseres täglichen Lebens mit einer Super-­ App (digitale Kundeninteraktion) verknüpft. Alibaba geht noch einen Schritt weiter und verschiebt sich mit ihrer auf Hochleistungs-Chips spezialisierten Firma T-Head in die Computerchip-Forschung. Die Plattform Wujian 600 entwickelt auf RISC-V-Technik basierende Chips für Edge-KI (Alibaba Cloud 2022). Edge-KI verbindet Edge-Computing und Künstliche Intelligenz (KI). Bei Edge Computing werden Daten lokal von einem Gerät ohne Internetverbindung und nicht von einem Remote-Rechenzentrum aus generiert, gespeichert und verarbeitet. In Kombination mit Künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen sorgt Edge-KI dafür, dass virtuelle Assistenten wie beispielsweise Amazon’s Alexa aus den Worten von Benutzern lernen und neues Wissen lokal abspeichern, verwalten und mit der Zeit eigene Entscheidungen treffen. Erste Erfolge feierte der XuanTie-­Chip, der bisherigen Modellen weit überlegen sein soll und für Sicherheitslösungen eingesetzt wird (RISC-V 2022). Interessant ist, dass Alibaba alles unter Open Source, also für alle Konkurrenten zugänglich zur Verfügung stellt. Mit dieser offenen Haltung baut der E-Commerce-Riese ein Shareware-Ökosystem auf, welches die Wujian 600 E ­ ntwicklungsplattform mit der Alibaba IoT Plattform verbindet und dabei kompatibel ist mit dem globalen TEE-Soft-

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2  Das digitale Paradigma

ware-Ökosystem (Dayeol et al. 2020). Alibaba weitet also ihr Geschäftsfeld in industrielle Bereiche aus und versucht in naher Zukunft hochleistungsfähige Chips effizient und kostengünstig zu produzieren. Die weltgrößten Chiphersteller TSMC, Samsung und UMC könnten so Konkurrenz von einem Giganten aus einer anderen Branche bekommen. Die digitale Transformation eröffnet Möglichkeiten Wertschöpfungsteile im Verbund eines Ökosystems anzubieten, bietet aber auch komplett neue Geschäftsmöglichkeiten. Möglich machten dies die exponentiellen Leistungssteigerungen vieler Technologien, welche gleichzeitig zu exponentiellen Kostensenkungen führten. Diese digitalen Wachstumseffekte sind entscheidend und werden in Kap. 3 ausführlich diskutiert (siehe Kap. 3). Die Frage ist, wieso die digitalen Aspekte gerade jetzt Plattform-Anbieter zu den Gewinnern machen, denn vor 20 Jahren gab es ja auch bereits Computer im Einsatz. „Exponentielle Technologien sind eine Quelle für Innovationen und haben eine disruptive Kraft, welche Strukturen, Prozesse, Kultur, Fähigkeiten und Führung transformieren und damit die Organisation auf ein neues digitales Geschäftsparadigma umstellt.“

2.1.3 Auslöser der digitalen Transformation Entlang der Informations-Wertschöpfungskette Datensammlung, Datenspeicherung, Datenverarbeitung, Datenübertragung und Datennutzung (Schwolow und Jungfalk 2009; Stocker und Tochtermann 2009) gab es mit der stark zunehmenden Rechenleistung der letzten Jahre exponentielle Entwicklungen. Von 2014 bis 2019 war die jährliche Wachstumsrate an Daten 35 %, erzeugt durch allerlei Computer, Smartphones, Smart TV’s und vor allem durch Internet of Things (IoT). Schätzungen gehen davon aus, dass es 2020 rund 30 Mrd. Geräte zur Datensammlung auf der Erde gab, was zu 64 Zettabytes führte. Ein Zettabyte entspricht übrigens einer Milliarde Terrabytes (Zahl mit 21 Nullen), worauf sich der Inhalt von etwa 250 Mrd. DVDs speichern lässt. Interessant ist, dass Geschäftsdaten nur langsam wachsen, Sensordaten dafür 50-mal schneller (InsideBIGDATA 2017). Daten sollen aufgrund von IoT und Videoanwendungen, welche ein Drittel des Wachstums ausmachen, bis 2025 auf 181 Zettabytes anwachsen (IDC 2022). Auch wenn die Kosten für die Datenspeicherung exponentiell sinken und die Cloud eigene Hardware überflüssig macht, wurden 2020 aufgrund von limitierten Speichermöglichkeiten „nur“ knapp sieben Zettabytes permanent gespeichert. Im Bereich der Datenverarbeitung lassen Cloud-­ basierte Data-as-a-Services (DaaS) Lösungen und Analysen mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz die Kosten weiter sinken, was die Verbreitung erhöht. Cloud Computing ist eine Schlüsseltechnologie, was auch dem Vorwort von Selina Yuan zu entnehmen ist. Die Funktionsweise und der Nutzen werden in Kap. 3 vertieft (siehe Kap. 3). Eine Analyse der Bandbreiten, welche für die Datenübertragung genutzt werden, lässt feststellen, dass die Beschleunigung in den letzten zehn Jahren stattgefunden hat. In einer vernetzten Welt gehört es dazu, dass Informationen zwischen verschiedensten Organisationen und Privatpersonen ausgetauscht werden. Die Bandbreite  – also das Volumen der

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gleichzeitig übertragbaren Daten – beträgt mit 5G etwa 10 Gbit pro Sekunde, womit nahezu eine Echtzeit-Übertragung vorliegt. Die Ansprüche an Funknetze werden mit Virtual Reality, autonomen Fahrzeugen und vor allem dem zunehmenden Videoverkehr (Netflix, TikTok, YouTube) weiter steigen. Telemedizin und Fernchirurgie wären ohne die geringe Latenz von 5G unmöglich. Vitalparameter müssen über Distanzen überwacht werden und Patienten aus der Ferne zu diagnostizieren und mit Hilfe von Robotern zu operieren ist, auch nur in Echtzeit möglich. Solche Anwendungen werden die medizinische Versorgung in Krisengebieten oder Regionen ohne Fachpersonal revolutionieren. Alle erwähnten Verbesserungen entlang der Informations-Wertschöpfungskette entstanden durch die exponentielle Steigerung der Rechenleistung in einzelnen Bereichen und die Kombination verschiedener Schlüsseltechnologien. Die digitale Transformation ist deshalb erst seit rund zehn Jahren flächendeckend spürbar. Digitale Wertschöpfungsmodelle haben die Datennutzung als Grundlage: mit innovativen Anwendungen können das Werteversprechen, die Wertschöpfung und das Ertragsmodell beeinflusst werden. Während die Digitalisierung entscheidend für den effizienten Betrieb bei vielen Unternehmen ist und bleibt, stellt sie den Ausgangspunkt für Neues dar. Technologie ist zu einer essenziellen strategischen Komponente geworden. Entsprechend muss die digitale Transformation als Ganzes verstanden werden. Entsprechend bieten technologische Entwicklungen Gestaltungsmöglichkeiten für neue – teilweise auch disruptive – Geschäftsmodelle.

2.2 Disruption als Chance Der österreichische Ökonom und Evolutionstheoretiker Joseph A. Schumpeter bezeichnete Innovation als die entscheidende Dimension des Wandels (Schumpeter 1975). In seinen wissenschaftlichen Werken stellte er fest, dass die steigende Produktivität zu Diskontinuitäten führt, neue Industrien schafft, alte zerstört und dabei das globale Wirtschaftswachstum beschleunigt. Das in der Organisationstheorie angewandte Modell des punktuellen Gleichgewichts des Wandels geht davon aus, dass lange Phasen kleiner inkrementeller Innovationen von kurzen Phasen diskontinuierlicher, radikaler Innovationen unterbrochen werden (Tushman und Romanelli 1985). Bei diesen Innovationen kann es sich um geringfügige inkrementelle Verbesserungen in einer bestimmten Industrie handeln, sie können aber auch so umfangreich sein, dass sie bestehende Märkte und Sektoren umgestalten und die Gesellschaft nachhaltig verändern. In der Wirtschaft gibt es heute drei verschiedene Innovationsansätze: inkrementelle, disruptive und radikale. Sie können auf unterschiedlichen Wegen zur Innovation führen, erfordern unterschiedliche strategische Ansätze und haben unterschiedliche Auswirkungen auf den Wettbewerb, da sie unterschiedliche organisatorische Fähigkeiten erfordern. • Inkrementelle Innovation steht für geringfügige Änderungen und die Nutzung bestehender Technologien, wobei der Schwerpunkt auf Kosten- oder Funktionsverbesserungen bei bestehenden Produkten, Dienstleistungen oder Verfahren liegt. Dies spiegelt

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2  Das digitale Paradigma

sich am besten in mehreren Konzepten wider, die Japan zur industriellen Macht verholfen haben. Japanische Unternehmen übernahmen die westlichen Konzepte des Total Quality Management und entwickelten die Ideen zu einer Philosophie der kontinuierlichen und schrittweisen Verbesserung weiter. Kaizen – die Kunst der kontinuierlichen Verbesserung – und Just-in-Time-Bestandsmanagement sind schlanke Produktionsphilosophien, die der japanischen Industrie in den 1970er- und 1980er-Jahren zum weltweiten Erfolg verhalfen. • Disruptive Innovation legt den Schwerpunkt auf das Geschäftsmodell und nicht auf die Technologie. Um disruptiv zu sein, muss die Technologie nicht neu sein – es kann sich auch um eine Verbesserung einer bestehenden Technologie handeln. Disruption ist ein Prozess, bei dem beispielsweise Start-ups mit weniger Ressourcen die Geschäftsmodelle konventioneller Unternehmen in Frage stellen, indem sie Lösungen und Dienstleistungen für ein Segment finden, das entweder von etablierten Unternehmen vernachlässigt wird oder für sie neu ist. Disruptive Veränderungen unterliegen einem Prozess, der Zeit braucht; sobald die neuen Marktteilnehmer jedoch erfolgreich sind, untergraben sie den Marktanteil, die Rentabilität und den Ruf der etablierten Unternehmen. In jüngster Zeit haben vor allem Plattformbetreiber verschiedene Schlüsseltechnologien kombiniert und so Märkte außerhalb ihres Kerngeschäftes mit neuen Geschäftsmodellen angegriffen. • Radikale Innovation beruht auf einer neuen Technologie und schafft häufig neue Märkte und Anwendungsmöglichkeiten. Der Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, Produkte, Dienstleistungen und Prozesse, die erhebliche Auswirkungen haben, indem sie bestehende Technologien, Produktionsmethoden und Vertriebskanäle vollständig ersetzen. Radikale Innovationen treten in Wellen auf und verändern das wirtschaftliche Umfeld eines Unternehmens sowie die Gesellschaft. Historisch gesehen basierte der Aufstieg der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreichs und Deutschlands zu führenden Industrienationen größtenteils auf radikalen Innovationen und sekundär auf Verbesserungen der Produktionsprozesse. Eine radikale Veränderung kann gemäß Schumpeter nur erfolgen, wenn eine sogenannte Basisinnovation vorangeht. Er knüpft damit an die von Nikolai Kondratjew erforschten Wirtschaftszyklen an (Kondratjew 1926). Die wirtschaftliche Entwicklung war in marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaftssystemen schon immer zyklischen Wellenbewegungen unterworfen  – sie verläuft nie linear. Diese sogenannten langen Wellen haben eine Zeitspanne von 40 bis 60 Jahren und beginnen stehts mit einer neuen Technologie, welche Produktivitätswachstum und Aufschwung über einen Boom bis zum Abschwung, wo sie dann in einer Rezession entladen werden. Der Theorie folgend, hat der 1. Kondratjew-­ Zyklus um 1780 mit der Erfindung der Dampfmaschine eingesetzt, gefolgt vom 2. Kondratjew, 1830 mit Stahl und Eisenbahn; der 3. Kondratjew um 1880 mit der Elektrifizierung und Chemie und der 4. Kondratjew, um 1930 mit dem Auto und Petrochemikalien. Seit den 1970er-Jahren befindet sich die Weltwirtschaft im 5. Kondratjew-Zyklus mit der Informations- und Kommunikationstechnologie, basierend auf der Erfindung des Transistors

2.2 Disruption als Chance

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1947 und des integrierten Schaltkreises 1957. Dieser Zyklus wird in den nächsten Jahren durch eine neue Technologie abgelöst werden müssen. Der Grund ist, dass die Transistortechnologie nicht mehr weiter verdichtet respektive skaliert werden kann. Für wenige Jahre kann die Chipindustrie die Miniaturisierung noch ausreizen, aber physikalische Effekte werden dem Siliziumchip bald ein Ende bereiten, denn kleiner als wenige Atome geht einfach nicht. Bereiche wie Ökologie oder Gesundheit könnten Anwärter für den 6. Kondratjew sein. Dies greift aber zu kurz, denn es braucht eine Basistechnologie und darauf basierend können erst Basisinnovationen entstehen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass mit herkömmlichen Transistoren das Wachstum der nächsten Jahrzehnte nicht bestritten werden kann. Vor allem auch deshalb, weil in beinahe allen Dingen Transistoren verbaut werden und der Ressourcenverbrauch von Software und komplexen Algorithmen ständig zunimmt. Es gibt verschiedene Prognosen, welche Technologie den Impuls zur nächsten langen Welle anstoßen könnte. Favoriten sind der Quantencomputer, weil er nicht auf Silizium-Halbleitertechnologie basiert, sondern mit Elektronen und Photonen operiert. Die Ablösung des dualen Zahlensystems von 0 und 1 zu sogenannten Qubits, wo mit einem Kontinuum aller dazwischenliegenden Werten gerechnet wird,  führt zu exponentiellen Performancesteigerungen. Mit dieser neuen Technologie kann millionenfach schneller gerechnet werden, was im Kap.  3 ausführlich und anwendungsbezogen betrachtet wird (siehe Kap. 3). Am anderen Ende von radikalen Innovationen befindet sich die inkrementelle Innovation. Aus Managementsicht kann und sollten inkrementelle und kontinuierliche Verbesserungen in jeder Organisation systematisch geplant werden. Optimierungen können nämlich gut mit präskriptiven Strategien gesteuert werden, bei denen im Voraus detaillierte Geschäftspläne für einen längeren Zeitraum entwickelt werden. Dies ist stark im Gegensatz zu radikalen Innovationen, welche sich nicht ohne weiteres planen lassen. Daher besteht eine wichtige Aufgabe der Unternehmensführung darin, ein Umfeld zu schaffen, in dem Innovationen jeglicher Art gedeihen können. Viele multinationale Unternehmen kombinieren heute traditionelle Prozessinnovationen und japanische Optimierungs-Methoden mit Grundlagenforschung und sind so in der Lage, die Produktqualität und die Liefertreue kontinuierlich zu verbessern während gleichzeitig neuer Produkte oder Kundenservicemodelle entstehen. Ambidextrie, erklärt die Fähigkeit verschiedene, sich gegensätzliche Dinge, gleichzeitig anzugehen. Diese Zweihändigkeit ist eine wichtige Strategie, um Bestehendes zu verbessern und Neues zu erforschen. Ambidextrie hat in einer ambivalenten Welt stark an Bedeutung gewonnen und wird als wichtige Fähigkeit oder Service im Umgang mit Ökosystemen bezeichnet und entsprechend weiter im Kap. 8 ausgeführt (siehe Kap. 8). Die Geschichte hat gezeigt, dass nach der letzten radikalen Phase in den 1990er-Jahren, die durch die Informationstechnologie und das Internet vorangetrieben wurde, inkrementelle und kontinuierliche Verbesserungen große Beachtung gefunden haben. Anhaltende inkrementelle Verbesserungen sind allgegenwärtig und haben sich als kontinuierliche Verbesserungsprozesse etabliert. Daraus ergibt sich eine ständige Wechselwirkung zwischen Betrieb, Optimierung und Lernen. Kontinuierliche Innovation zur Bewältigung von Dis-

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2  Das digitale Paradigma

kontinuitäten hilft bei der Bewältigung der contradictio in terminis. Forschungsarbeiten von March (1991) haben die Kombination von operativer Effizienz und Ausbeutung (engl. exploitation) bei gleichzeitiger Erkundung von Neuem (engl. exploration) bekannt gemacht. Das Konzept der kontinuierlichen Innovation schlägt einen Mittelweg vor, um radikale und inkrementelle Veränderungen auszugleichen. Dies ist wichtig, da sich ­Organisationen und dessen Umfeld ständig verändern. Eine Organisation mit seinen sozialen Interaktionen und Strukturen entspricht somit einem dynamischen und komplexen System. Es kann sogar sinnvoll sein, die Organisation an der Grenze zwischen Ordnung und Chaos zu positionieren, um damit eine gleichzeitige Aufmerksamkeit und Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu erzwingen. Durch viele kleine Verbesserungen in kurzen Zyklen können im Laufe der Zeit große Wirkungen entfaltet werden. Dieser Kaizen-­Ansatz hat in Japan viele Unternehmen hervorgebracht, die sich durch perfekte Abläufe im Markt manifestierten und so von neuen Marktteilnehmern kaum angreifbar sind. In einem wettbewerbsintensiven und schnelllebigen Umfeld kann dies heute ein Wettbewerbsvorteil, morgen aber ein Hindernis sein. Unternehmen, die über lange Zeit technologische Innovationen dominieren, sind oft nicht in der Lage, ihre Führungsrolle bei der nächsten Welle, nämlich der inkrementellen Innovation, beizubehalten. So waren Karstadt oder Quelle innovativ, sogar disruptiv und mussten dann, nachdem sie die Vorteile digitaler Aspekte nicht erkannten, Insolvenz anmelden. Ein weiteres Beispiel ist Kodak. Die Firma wurde 1888 gegründet und beherrschte Kamera, Film, Dunkelkammergeräte, Chemikalien, Fotopapier und vieles mehr. Das lu­ krative Filmgeschäft wurde ständig verbessert und optimiert und Kodak galt jahrzehntelang als unerreichbarer Marktführer. Auch als Kodak 1975 die Digitalkamera erfand, wurde das Kerngeschäft nicht angetastet. Als die Digitalkamera den Massenmarkt disruptierte und Kodak dann später auch noch die Handyfotografie unterschätze, musste das Unternehmen 2012 Insolvenz anmelden. Kodak wurde von einer Technologie verdrängt, die es selbst erfunden hatte. Fujifilm war der größte Konkurrent von Kodak und konnte sich stets erfolgreich anpassen und weiterentwickeln. Basierend auf der Kernkompetenz Chemikalien ist Fujifilm seit Jahren ein überdurchschnittlich wachsender führender Anbieter von Film- und Fototechnik, Computer- und Drucktechnologie, Bildgebung, Werkstoffprüfung, Kosmetik, Pharma- und Medizintechnik mit über 80.000 Mitarbeitenden (Fujifilm 2022). Die Beispiele illustrieren die Herausforderungen heutiger Unternehmen. Die Lebenserwartung von Unternehmen im S&P war in den 1920er-Jahren 67 Jahre, heute sind es weniger als 15 Jahre. Seit der Industriellen Revolution nimmt die Geschwindigkeit des Wandels zu. Gegenwärtig birgt die exponentielle Entwicklung der Rechenleistung großes disruptives Potenzial. Aktuell sehen wie immer mehr Disruptoren, die ihr Geschäftsmodell auf der Grundlage von Fehlern und Lücken etablierter Unternehmen aufbauen. Ihr strategischer Plan ist einfach: Wertschöpfung im unteren Marktsegment (dem am wenigsten profitablen Segment der etablierten Unternehmen) oder Schaffung von Nachfrage in einem Markt, der noch nicht existiert. Christensen und Raynor erörtern in ihrem Buch zwei verschiedene Kategorien, die zum Innovatoren-Dilemma führen  – nachhaltige und disruptive Innovationen

2.2 Disruption als Chance

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(Christensen und Raynor 1997). Während nachhaltige Innovationen inkrementelle Verbesserungen von Jahr zu Jahr bedeuten und am unteren Ende eines etablierten Marktes konkurrieren, gelten Innovationen, die darüber hinaus einen eigenen Markt schaffen, als disruptive Innovationen. Letztere stören den bestehenden Markt, weil sie neue oder weniger anspruchsvolle Kunden mit Produkten ansprechen, die nicht so gut sind wie die derzeit verfügbaren Produkte. In der Regel sind sie einfacher, bequemer oder billiger. Diese Art von Innovation erfordert eine erhebliche Veränderung des Kundenverhaltens, aber auch der Geschäftsmodelle. Sobald diese neuen Marktteilnehmer auf dem Markt Fuß gefasst haben, beginnt der Verbesserungsprozess mit dem Ziel, die etablierten Unternehmen zu verdrängen. Mit zunehmenden Skaleneffekten und zunehmender Kundenakzeptanz dringen sie sogar in die gehobenen und profitablen Segmente vor. Das (Innovations)-Dilemma besteht also darin, dass sich große Konzerne oft zu sehr auf die Verbesserung ihrer bestehenden Lösungen für ihre bestehenden Kunden konzentrieren und die Bedürfnisse anderer Segmente vernachlässigen, oder es versäumen, neue Geschäftsfelder zu entwickeln. Start-­ ups haben keine Altlasten und deren Eigentümer sind meist agile Unternehmer, die das Ziel haben, viel größere etablierte Unternehmen in einem Markt zu verdrängen, indem sie genau die Segmente und Märkte anvisieren, die diese übersehen haben. Um das angestrebte Unternehmenswachstum zu erreichen, müssen Unternehmen lernen disruptive Innovationen erfolgreich zu entwickeln und zu vermarkten und kontinuierlich neue Geschäftsfelder zu erschließen. Dazu braucht es eine Prozessstruktur, die den Nutzen des Kunden ins Zentrum setzt und es ermöglicht Lösungen systematisch zu entwickeln, was Christensen und Raynor (2003) als Innovatoren-Lösung beschreiben. Der Begriff Disruption gehört heute zum alltäglichen Sprachgebrauch, vor allem seit Tausende von Start-ups ihre Lösungen oder sogar Wertversprechen damit anpreisen. Da viele Menschen Disruption als Schlagwort verwenden, ohne das Konzept verstanden zu haben, hielten es Christensen, Raynor und McDonald (2015) für notwendig, die wahre Definition in einem 2015 erschienenen Artikel in der Harvard Business Review nach 20 Jahren ihrer bahnbrechenden Forschung zu präzisieren. Die Autoren verstehen unter disruptiven Technologien, Technologien, die einen weitaus besseren oder sogar gänzlich neuen Kundennutzen bieten als mit etablierten Technologien möglich war. Demzufolge entwickelt sich eine neue (disruptive) Technologien zunächst mit moderatem Erfolg über eine gewisse Zeit, um dann exponentiell zu wachsen. Obwohl in diesem Buch oft disruptive Technologien erwähnt werden, ist nie die Technologie an und für sich disruptiv, sondern nur der Einfluss auf den kommerziellen Nutzen. Unternehmen müssen daher in der Lage sein, die Nachfrage nach diesen neuen Technologien zu erkennen und sie in ihre Strategie einzubeziehen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. In der Praxis verstehen immer noch viele Unternehmen unter disruptiver Innovation etwas, das einen zusätzlichen Wert durch neue oder verbesserte Produkte oder Dienstleistungen schafft. Die eigentliche Theorie erklärt aber, wie mit digitalen Innovationen bestehende Märkte von unten nach oben angegriffen werden können. Die Assoziationen aus Theorie und Praxis sind beide unzureichend und sollten nicht mit schwarz oder weiß voneinander abgegrenzt werden. Obwohl viele agile Start-ups neueste Technologien einset-

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2  Das digitale Paradigma

zen, um bestehende Geschäftsmodelle anzugreifen, kann eine disruptive Innovation im Gegensatz zu einer radikalen Innovation buchstäblich einen großen technischen Durchbruch bedeuten oder auch nicht. Und das ist de facto der Unterschied zur radikalen Innovation. Es gibt viele gute Beispiele, die diese Annahme belegen. So hat sich die Mikrofinanzierung nicht aufgrund des technologischen Fortschritts entwickelt, sondern sie hat bestehende Geschäftsmodelle durchbrochen und neue Märkte geschaffen, weil ein Bedürfnis nicht abgedeckt war. Auch Crowdfunding-Plattformen sind technologisch gesehen kein Hexenwerk. Viele große Banken könnten solche Peer-to-Peer-Plattformen problemlos innerhalb ihrer IT-Abteilungen entwickeln. Aber sie tun es nicht. Beschränkungen bei den Entwicklungsrichtlinien und der Anwendungsstrategie sowie prozessuale und organisatorische Feinheiten lassen sie diese Opportunität verpassen. Hinzu kommt, dass das traditionelle Kreditgeschäftsmodell der Banken einfach nicht zu dieser neuen kollaborativen und sozialen Wirtschaftsidee passt. Solange die traditionellen Bankprozesse bessere Informationen über die Projekte und Pläne der Kunden versprachen, fühlten sich viele Banken sicher und sahen keine Notwendigkeit für Veränderungen. Es sind die Kunden, die den Wandel auslösen, da sie die relativ hohen Gebühren und die dominante Stellung ihrer Banken nicht mehr akzeptieren. Preisgünstige Kreditplattformen, die Transparenz und bequeme Nutzung (24 Std. und 7 Tage die Woche) bieten, finden entsprechend immer mehr Zulauf. Um Disruption zu verstehen, müssen Gesetze der Evolution herangezogen werden. Diese Prozesse sind adaptiv, dynamisch und komplex. Die Evolution ist in der Lage sich anzupassen und sich selbst immer wieder aufs Neue zu erfinden. Wenn ein Wirtschaftszyklus von einem anderen abgelöst wird, kann das mit Transformationsphasen erklärt werden. Schumpeters zerstörerische Grundgedanken können hier Verständnis schaffen. Demnach kann Disruption als konstruktive Störung (creative destruction) gesehen werden. Diese Störung muss aber nicht unbedingt etwas bestehendes gänzlich auslöschen (zerstören). Um nicht weiter in den philosophischen Diskurs zu verfallen kann abschließend vereinfacht gesagt werden, dass Veränderungen und Verbesserungen eher inkrementelle und Transformationen eher disruptive Charakteristiken aufweisen. Während ersteres irgendetwas besser macht, kann die digitale Transformation auch so ausgelegt werden, dass sie Organisationen, Teams, Strategien, Kundeninteraktionen und vieles mehr besser machen kann aber vor allem nach dem Transformationsprozess etwas nachhaltig anders ist als davor.

2.3 Der Paradigmenwechsel Der Begriff Paradigma kommt von Thomas Kuhn, einem bedeutenden Wirtschaftstheoretiker des 20. Jahrhundert. Kuhn bezeichnet ein Paradigma als sozialen Kontext, was akzeptierte Regeln, Normen und Praktiken beinhaltet, die tief verwurzelt sind und von Menschen geteilt werden (Kuhn 1970). Demnach kann es keinen streng logischen Grund für den Wechsel eines Paradigmas geben. In einem dynamischen Umfeld sind Unternehmen gezwungen sich ständig zu erneuern. Das bedeutet, sie müssen ihr Geschäft umgestalten

2.3 Der Paradigmenwechsel

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und durch neue Kombinationen von Ressourcen Wert schaffen. Die Fähigkeit, Veränderungen mit der Strategie zu verknüpfen und diese Verknüpfung im Laufe der Zeit zu modifizieren, wird in der Literatur über organisatorische Gestaltung und Erneuerung (Agarwal und Helfat 2009) und organisatorischen Wandel theoretisiert (Barney 1991). Es muss aber unterschieden werden zwischen organisatorischem Wandel, der in jeder Organisation stattfindet und unvermeidlich ist und strategischem Wandel, bei dem es sich um das proaktive Management von Veränderungen in Organisationen zur Erreichung bestimmter strategischer Ziele handelt. Während der organisatorische Wandel ständig stattfindet, tritt die Transformation als Prozess des Wandels nur dann auf, wenn eine Neuausrichtung in der ganzen Organisation oder in Teilbereichen erfolgt. Eine transformative Wirkung wird in erster Linie radikalen und disruptiven Innovationen zugeschrieben, sofern die Tragweite für das finanzielle, wirtschaftliche und soziale Umfeld erheblich ist. Der strategische Wandel verändert die Organisation über einen bestimmten Zeitraum und entspricht im weiteren Sinne dem, was Schumpeter als Schöpferische Zerstörung bezeichnete. Die Kraft der Innovation ist dabei die ständige Erneuerung der Wirtschaftsstruktur, welche unnachgiebig die alten Strukturen zugunsten neuer Produktionsmethoden zerstört (Schumpeter 1975). Mit anderen Worten: Der transformative Wandel ist ein Mittel zur Schaffung grundlegend neuer und überlegener Werte zugunsten der Irrelevanz bestehender Dinge und Vorgehensweisen. Dieser Prozess umfasst die Umsetzung neuer Strategien, die sich auf die Menschen, die Prozesse und die Aufgaben, die sie ausführen, auswirken. Es handelt sich um eine vielseitige Disziplin ohne klar definierte Grenzen. Ein praktisches Beispiel dazu ist, dass wenn sich der Produkt- und Dienstleistungsmix und die Kundschaft in Richtung Millennials verschieben, dies auch ein neues Wertversprechen bedingt. Auf dieser Grundlage muss ein anderer Wert geschaffen werden. Zu diesem Zweck fordern die Unternehmen die Zusammenarbeit mit Partnern, die wiederum die traditionelle Wertschöpfungskette auflösen. Vereinfacht gesagt, ist es die Art und Weise, wie Anbieter Produkte und Dienstleistungen entwickeln und vertreiben. Im Rahmen des Wandels wurde die Kraft von Technologien thematisiert und darauf hingewiesen, dass dadurch Innovationen mit disruptivem Charakter entstehen können. Das transformiert die Angebots- wie auch die Nachfrageseite. Neue Zusammenarbeitsformen, Vertriebsmodelle und flachere und spezialisiertere Organisationsformen verbinden Kunden und Hersteller, um ein breiteres, offeneres Wertschöpfungsnetz zu bilden. Neben disruptiven Technologien ist auch die digitale Transformation und Konvergenz eine Triebkraft des Wandels, welche eine strategische Erneuerung der Organisation verlangt (Tushman et al. 2002; Kretschmer und Khashabi 2020; Hanelt et al. 2021). Dieses Buch untersucht den Paradigmenwechsel anhand etlicher Anwendungen aus diversen sich gegenseitig ergänzenden Branchen. Diese Konvergenz wiederum ist Teil des Paradigmenwandels. Zudem wird das digitale Paradigma als ein sich nicht klar definierter und abgrenzbarer Bezugsrahmen erklärt, bestehend aus digitaler Transformation, digitalen Unternehmen, digitaler Wertschöpfung, digitaler Plattformen, digitalen Geschäftsmodellen, digitalen Dienstleistungen und digitalen Kundenerlebnissen. Unabhängig von allen exogenen Schocks wird das nächste Jahrzehnt voraussichtlich ein digitales Paradigma. Das Verände-

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2  Das digitale Paradigma

rungs- und Erneuerungspotenzial von Unternehmen wird dabei über ihr nachhaltiges Wachstum und über ihre Wettbewerbsfähigkeit entscheiden. Die Frage ist, wie die Transformation beherrscht werden kann. Es gibt keinen universellen Ansatz zur Beherrschung des Wandels. Aber was für langfristigen Wohlstand gilt, gilt auch für Veränderungen. Unternehmen, die kontinuierlich offen für neue Ideen und unabhängig von ihrer Größe agil und flexibel sind und die Fähigkeit haben, ihre Strategie schnell zu ändern und neue Geschäftsmodelle anzuwenden, sind in einer guten Position, um jede Art von Paradigmenwechsel erfolgreich zu bewältigen. Pioniere entwickeln sich anders und haben oft größere Probleme mit der Adaption an neue Situationen. Ein Grund ist Tradition und eine lange Geschichte, welche bei Kunden und in der Gesellschaft stark verankert sind. Organisatorische Erneuerungen ist Pflicht, um im Markt über Generationen hinweg relevant zu bleiben. Langlebigkeit gilt als Zeichen der Stärke. Untersuchungen zeigen aber, dass die Lebensdauer von Unternehmen in den letzten 80 Jahren von durchschnittlich 67 Jahren auf weniger als 15 Jahre gesunken ist (Hill et al. 2018). Im Zuge der digitalen Disruption werden viele etablierte Unternehmen durch Technologiekonzerne und Start-ups verdrängt. Allerdings verändern sich Branchen langsamer als erwartet und Großkonzerne können agile Praktiken erlernen (Birkinshaw 2022). Innovation, Zusammenarbeit und organisatorischer Wandel fordern Forscher heraus, nicht nur zu untersuchen, was sich in bestimmten Branchen verändert hat, sondern auch, wie Branchen zusammenwachsen und was traditionelle Unternehmen brauchen, um erfolgreich zu bleiben. Innovationen müssen als eine dynamische Form des Wandels verstanden werden. Sie haben das Potenzial große Unternehmen mit langer Geschichte zu verändern. Wenn ein etabliertes und großes Unternehmen in der Lage ist, sich zu erneuern und über Jahrzehnte, ja sogar Jahrhunderte hinweg zu überleben, gilt dies als Beleg, dass eine solche Organisation auch Phasen von Unsicherheit, Dynamik und Komplexität bewältigen kann. Sie können langjährige Stärken nutzen und Chancen in neuen Situationen und Märkten ergreifen und sind agil genug, um auf neue Wettbewerber zu reagieren (Birkinshaw 2022). In diesen Firmen sehen die Verantwortlichen Veränderungen und den Wandel als Chancen und nicht als Risiken. Zudem können sie digitale Technologien rasch integrieren und erfolgreich für ihre Geschäftszwecke einsetzen und die Kompetenzen der Mitarbeiter an die erforderliche Umgebung anpassen.

2.4 Diskontinuitäten Diskontinuität ist das Gegenteil von Kontinuität und beziehen sich auf signifikante Veränderungen oder Brüche in einem System oder Prozess, die eine plötzliche Unterbrechung oder Abweichung von vorherigen Entwicklungen darstellen. Diskontinuitäten können sowohl positiv als auch negativ sein und werden oft als schwer vorhersehbar und unerwartet wahrgenommen. Sie können aufgrund von technologischen Durchbrüchen, politischen Umwälzungen, wirtschaftlichen Krisen oder sozialen Veränderungen auftreten und haben oft tiefgreifende Auswirkungen auf Organisationen, Märkte und Gesellschaften. Diskonti-

2.4 Diskontinuitäten

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nuitäten müssen verstanden werden, weil sie einen Einfluss auf Strategieentwicklung, Innovations- und Risikomanagement haben. Diskontinuitäten und die Ungewissheit erforderten in vielen Branchen die Entwicklung und den Ausbau von Kompetenzen anstelle von statischem Wissen. Letzteres genügte in einem stabilen und sicheren Umfeld mit einem hohen Maß an Kontinuität. Je mehr Zusammenarbeit, desto höher ist der Grad an Dynamik und Unsicherheit. Es braucht also mehr Wissen über Beziehungen zwischen Menschen. Wenn eine Organisation dieses Wissen inkorporiert hat, kann es als Beziehungskapital wiederverwendet werden. Das Beziehungskapital ergibt sich aufgrund der Qualität der Beziehungen, dem Vertrauen und den gegenseitigen Verpflichtungen zwischen den Teilnehmern. Das Beziehungskapital ist besonders wichtig in Ökosystemen, um im Rahmen eines gemeinsamen Zweckes Innovationen zu schaffen (Russell et al. 2015). Die Fähigkeit, Beziehungskapital zu nutzen, wird als eine Art soft skill verstanden und dient dazu, dass von den Kunden gewonnene Wissen mit dem notwendigen, wenn auch firmeneigenen Wissensschatz zu verbinden. Beziehungskapital in offenen Ökosystemen ist entscheidend, weil es dabei darum geht, durch Kooperation und Kollaboration mit anderen Akteuren gemeinsam Wert zu schaffen. In diesem Kontext kann Beziehungskapital dazu beitragen, dass die Akteure im Ökosystem Vertrauen zueinander aufbauen, sich auf gemeinsame Ziele und Werte verständigen und durch Kooperation und Wissensaustausch Synergien schaffen. Darüber hinaus kann Beziehungskapital in offenen Ökosystemen dazu beitragen, dass Organisationen Zugang zu Ressourcen und Netzwerken haben, die sie allein nicht erreichen könnten. Beziehungen zu anderen Akteuren können dazu beitragen, dass Organisationen schneller und effektiver auf neue Trends und Entwicklungen reagieren und sich an die sich verändernden Bedürfnisse des Marktes anpassen können. Somit ist Beziehungskapital ein wichtiger Faktor für den Erfolg von Organisationen in offenen Ökosystemen und kann dazu beitragen, dass sie agil und innovativ bleiben und sich langfristig am Markt behaupten können. Interaktionen werden mit digitalen Kommunikationsmitteln und mit offenen Geschäftsmodellen und neuen Zusammenarbeitsformen weiter zunehmen. Dies hat einen Einfluss auf die Kundenbindung, welche vom Anbieter kommt und der Kundenloyalität, welche vom Kunden ausgeht. Die Tendenz vom Markt erhöht die Bedeutung von Beziehungskapital. Kunden sind heute entspannter, wenn es darum geht, woher eine Leistung stammt. Die Entscheidungskriterien verlagern sich von Tradition und Marke Richtung ­Nachhaltigkeit, Soziales und Verantwortung (PwC 2022). Konsumenten sind heute besser informiert über die ethischen Werte von Anbietern und verlangen immer mehr Transparenz. Die Beziehung zwischen Anbieter und Konsument kann leicht gestört werden und es ist immer seltener, dass automatisch aus Tradition am selben Ort wie immer eingekauft wird. Etliche Studien bestätigen, dass die Loyalität zu Marken vor allem in unsicheren und volatilen Zeiten abnimmt (TechSee 2022); Casteran et al. 2019; Dawes et al. 2015). Der Global-­Loyalitäts-­Index ist vom Coronajahr 2021 im Jahr 2022 um 13 Prozentpunkte gestiegen (Emarsys 2022). Gemäß dieser Selbsteinschätzung sehen sich 2022 zwei Drittel aller Konsumenten als loyal zu einer oder mehrerer Marken. Werden rein ethische Kriterien betrachtet, sind nur noch 14 % aller Kunden loyal. Interessant sind al-

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2  Das digitale Paradigma

lerdings die Art der Einkäufe und Unterschiede im Omnichannel. So zeigen sich 55 % der Kunden bei Modemarken und Essenseinkäufen in Warenhäusern loyal, wogegen Medizin, Autos oder Flüge alle unter 15 % Loyalität auswiesen. Einer Analyse der Marktforschung Forrester (2022) zufolge, haben Unternehmen, die agil auf Marktbedürfnisse eingehen und eine große Bandbreite von digitalen Kanälen bedienen, weitaus bessere Chancen für eine hohe Kundenloyalität, was sich auch in bis zu 45  % höheren Margen niederschlägt. Für E-Commerce-­Plattformen bedeutet dies, dass es einfacher ist, in Produktgruppen, wo die Loyalität tief ist, Marktanteile zu gewinnen. Andererseits sind aber genau diese Konsumenten nicht loyal, wenn auf einer anderen Plattform bessere Angebote oder Services geboten werden. Kundenbindungsmaßnahmen sind entsprechend mit mehr Aufwand verbunden und auch der Einsatz digitaler Plattformen erfordert mehr Ressourcen. Der Wertewandel der Konsumenten zwingt Unternehmen dazu, einerseits den Zugang über das eigene Geschäftsmodell und andererseits einen Weg anzubieten, auf dem interne Ideen an andere Unternehmen weitergegeben werden können, damit diese sie in ihren Geschäfts- und Vertriebsmodellen nutzen können. Der Open Innovation-Ansatz wird in Kap. 5 weiter ausgeführt. In offenen Ökosystemen können Diskontinuitäten aus technologischen Durchbrüchen, Veränderungen in den Kundenpräferenzen, inklusive der Loyalität, regulatorischen Änderungen oder Marktverschiebungen entstehen. Um mit diesen Diskontinuitäten umzugehen, müssen alle Marktteilnehmer offen zusammenarbeiten und Wissen, Ressourcen und Expertise teilen, was starke Beziehungen und Vertrauen untereinander erfordert. Umgekehrt können starke Beziehungen und Vertrauen Organisationen helfen, Diskontinuitäten effektiver zu identifizieren und darauf zu reagieren, indem sie die Kommunikation, den Austausch von Informationen und die gemeinsame Problemlösung erleichtern. Somit korrelieren Diskontinuität und Ökosysteme miteinander, da die Fähigkeit der Akteure, mit Diskontinuitäten umzugehen, von der Stärke ihrer Beziehungen und Zusammenarbeit in Ökosystemen abhängt. Durch die Zusammenarbeit und den Aufbau von Beziehungen auf der Grundlage von Vertrauen können die Akteure in offenen Ökosystemen besser durch Diskontinuitäten navigieren, neue Chancen identifizieren und Werte für sich selbst und das Ökosystem als Ganzes schaffen.

2.5 Finanz- und Innovationszentren 2.5.1 Globalisierung Arbeit und Geld sind heute global verfügbar, mobil und austauschbar. Das Ziel international tätiger Unternehmen ist es, die Nachfrage der Kunden überall dort zu befriedigen, wo es Bedürfnisse gibt. Mit der zunehmenden Globalisierung ist eine neue Wettbewerbslandschaft entstanden. Darüber hinaus bieten neue Marktteilnehmer und Vermittler innovative Lösungen an und bedienen die Kunden mit neuen digitalen Geschäftsmodellen. Dies stellt eine Bedrohung für traditionelle Unternehmen dar, welche Erträge

2.5 Finanz- und Innovationszentren

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und Margen unter Druck setzt. Während viele Unternehmen ihr Geschäft auf den globalen Märkten ausbauen müssen, um zu wachsen, fürchten sie die ausländische Konkurrenz auf ihren Heimatmärkten. International tätige Unternehmen bauen seit Jahren ihre Aktivitäten in Wachstumsmärkten in Asien aus. Denn es wird erwartet, dass diese Märkte doppelt so schnell wachsen werden als der weltweite Durchschnitt und somit neuen Wohlstand schaffen. Um die Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirtschaften zu vervollständigen, gibt es quantitativ ermittelte Ranking, welche Faktoren wie die Entwicklung des Finanzsektors, Geschäftsumfeld, Infrastruktur, Humankapital, Tradition, Bildung, Unternehmertum, Innovationsfähigkeit und Sicherheit berücksichtigen. Die Top-Standorte haben sich in den letzten Jahren kaum geändert. Wichtiger als Rankings sind eine politisch offene und gut integrierte Wirtschaft, ein stabiles Finanzsystem und die Förderung von Innovationen und Unternehmertum. Das für die Volkswirtschaften so wichtige Finanzwesen kann nur dann seine Vorteile voll ausschöpfen, wenn die strukturellen Rahmenbedingungen auch in den kommenden Jahren günstig bleiben. Der Umgang mit makroökonomischer Unsicherheit, Diskontinuitäten und der Volatilität auf den Finanzmärkten sind Herausforderungen. Nach der Finanzkrise hat die Europäische Zentralbank (EZB) sogar Negativzinsen für Bankeinlagen eingeführt, um zu verhindern, dass die Eurozone in eine Deflationsspirale gerät. In Japan, Schweden, Dänemark und der Schweiz gab es Negativzinsen von bis zu −0,75 %. Das von den Notenbanken billige Geld hat die Inflation niedrig gehalten und das globale Wachstum in den meisten Industrieländern und die Aktienmärkte bis vor Kurzem auf Allzeithochs getrieben. In Zahlen ausgedrückt: Der MSCI All-Country World Index, der eine Sammlung von Aktien aller entwickelten Märkte der Welt umfasst, legte von 2012 bis 2022 um 315 % zu (MSCI World 2023). Trotz dieser Boom-Phase hat der systemrelevante Finanzsektor paradoxerweise Werte vernichtet. Dies beeinträchtigt Innovationen, weshalb hier kurz ein Diskurs in die Finanzwelt gemacht wird.

2.5.2 Ein verlorenes Jahrzehnt im Finanzsektor Der nachfolgende Abschnitt wurde im gemeinsamen Austausch mit der Unternehmensberatung Accenture verfasst und referenziert auf eine Studie mit SwissBanking (Accenture und SwissBanking,  2021). Die Untersuchung identifiziert belastende Einflussfaktoren, beschreibt die neue Realität und skizziert zukünftige digitale Wertschöpfungsmodelle. Während 2008 die Aktienmärkte ihren Tiefpunkt erreichten und dann bis 2022 global haussierten und die Ökonomien stark vom günstigen Geld der Zentralbanken profitierten, fiel bei den Banken mit dem Niedrigzinsumfeld eine wesentliche Einkommenssäule weg. Das Geschäft mit der Fristentransformation von Einlagen wurde vom Ertragsbringer zum Sorgenkind der Branche. Unter Fristentransformation (engl. maturity transformation) werden in der Finanzwelt die unterschiedlichen Laufzeitinteressen von Schuldnern (Staat, Unternehmen, Privatpersonen und Gläubigern (Sparern) verstanden. Der dramatische Einbruch des Zinsgeschäfts belastete die Aktienkurse der Banken stark und trug seinen Teil dazu bei, Bankaktien zu

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2  Das digitale Paradigma

einer der unglücklichsten Anlageklassen der letzten Dekade werden zu lassen. Dies führte dazu, dass sich die Wertschöpfung von Banken stark verschlechterte. Bei Schweizer Banken war das beispielsweise ein Drittel unter dem Vorkrisenniveau von 2005, obwohl das Bruttoinlandsprodukt der Schweiz in der Zwischenzeit deutlich stärker gestiegen ist. Bei Schweizer Privatkunden wurde ein verändertes Kundenverhalten beobachtet, da diese heute bereits zu über 70  % über digitale Kanäle mit der Bank interagieren. Sie schauen dabei vermehrt kritischer auf den persönlichen Mehrwert und das Leistungsergebnis, wobei sie selbst verschiedene digitale Produkte vergleichen können. Dadurch kommt die Kundenschnittstelle unter Druck und der persönliche Einfluss der Kundenbindung sinkt. Zusätzlich werden die Bedürfnisse der Kunden zunehmend komplexer und die Erwartung an digitale Lösungen, sowie der Einfluss gesellschaftlicher Trends, wie beispielsweise der Nachhaltigkeit, nimmt zu. Bei Geschäftskunden und im Private Banking wird diese Entwicklung ebenfalls, jedoch verlangsamt und in einem geringeren Ausmaß, beobachtet. Ein weiterer Faktor neben dem veränderten Kundenverhalten ist gemäß den Studienautoren die Wettbewerbsintensität. Diese steigt vor allem aufgrund der Bedrohung durch neue Wettbewerber, neuer Ersatzprodukte, sowie erhöhter Verhandlungsmacht der Kunden und Zulieferer. Obwohl regulatorische Anforderungen auch zukünftig für hohe Markteintrittsbarrieren im klassischen Bankengeschäft sorgen, nutzen neue Wettbewerber vermehrt Vermittlungs- und Plattformgeschäftsmodelle, um diese zu umgehen. Weiter sorgt die zunehmende Digitalisierung für geringe Wechselkosten, wodurch Kundenwechsel aufgrund der geringen Angebotsdifferenzierung wahrscheinlicher werden. Diese und weitere Einflussfaktoren widerspiegeln sich entsprechend in einer gesunkenen Marktkonzentration führender Banken (siehe Abb. 2.2). Zudem lässt sich eine, durch neue Technologien und Digitalisierung vorangetriebene, Angebotskommoditizierung beobachten. Diese beschreibt, wie sich ehemals monolithische Kernbankensysteme durch die technologische Entwicklung zunehmend in eine modularisierte Architektur gekoppelter Teilsysteme weiterentwickeln. Diese Entwicklung wird unter anderem gestützt durch die Erweiterung und Öffnung der Integrationsdienste, die Entkopplung digitaler Front-Kanäle, den Auf- und Ausbau von Ökosystemen und Cloud Computing sowie die Datenbereinigung und -strukturierung. Diese oben genannten Faktoren lassen einerseits die signifikante Margenerosion erklären, andererseits erweisen sich viele auch als Chancen, wenn entsprechende Anpassungen am Wertschöpfungsmodell vorgenommen werden. In Reaktion darauf haben Banken in den letzten Jahren intensiv in ihre Effizienz und Kundenerfahrungen investiert – primär durch eine Forcierung ihrer digitalen Agenda. Die Finanzwirtschaft hat ihren Rückstand in Digitalthemen teilweise abgebaut, wenn auch nicht ganz geschlossen. Ergebnis der verloren geglaubten Dekade ist somit nicht eine Perspektivlosigkeit der Branche, sondern ein zunehmend zukunftsorientierter Ansatz. Die Branche sieht sich nun, befeuert durch die Wiederbelebung des Zinsgeschäfts in verbesserter technologischer Verfassung. Wenn die Branche selbst Vertrauen in digitale Technologien hat, erhöht dies auch Investitionen in Technologieunternehmen. Diese wiederum sind die Treiber für Innovationen in allen anderen Branchen.

2.6 Das digitale Zeitalter

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Niedrigzinsumfeld

Verändertes Kundenverhalten

Margenerosion

Steigende Wettbewerbs intensität

Angebotskommodifizierung

Neue Technologien Digitalisierung

Abb. 2.2  Belastende Einflussfaktoren für das Banking 2005–2019. (Quelle: Accenture)

2.6 Das digitale Zeitalter Viele traditionelle Sektoren sind eher konservativ und resistent gegen Veränderungen. Märkte waren vor der Globalisierung und Digitalisierung jahrzehntelang mäßig dynamisch. Stabile Branchenstrukturen, definierte Organisationsgrenzen, klare Geschäftsmodelle und identifizierbare Konkurrenten machten den Wandel in der Vergangenheit linear und vorhersehbar. Diese Kontinuität ist vorbei und vieles hat sich in kurzer Zeit erheblich verändert. Gegenwärtig kann beobachtet werden, wie sich in vielen Sektoren diese Zustände zugunsten unklarer Strukturen, neuer Marktteilnehmer und Vermittler mit disruptiven Geschäftsmodellen, auflösen. Geschwindigkeit, Flexibilität, Vertrauen und Effizienz sind zu gleich wichtigen Erfolgsfaktoren geworden. Dies stellt Unternehmen vor die He­ rausforderung, sich an das sich verändernde Umfeld anzupassen und vermehrt in digitale Innovationen als Quelle für mehr Kundenzufriedenheit, Wachstum und Profitabilität zu investieren. Der letzte Abschnitt hat gezeigt, dass ein funktionierendes Finanzsystem wichtig ist. Denn nur wenn die Finanzströme global reibungslos fließen, können Daten- Informations- und Güterströme das globale Wirtschaftssystem am Leben erhalten. Die Veränderung von Geschäftsmodellen sowie die Vielzahl von Produktangeboten, die Betreuung und Beratung von Kunden auf der ganzen Welt rechtfertigen eine zunehmende Konzentration Innovationen durch Zusammenarbeit. Führungskräfte müssen ihre Innova-

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2  Das digitale Paradigma

tionsnetzwerke ausbauen und verstärkt mit politischen Entscheidungsträgern und ­Regierungen zusammenarbeiten, um die Risiken im Griff zu behalten. Dieses kollaborative Model führt zu neuen Arbeits- und Organisationsformen und hat Investitionen in organisatorische und technologische Infrastrukturen ausgelöst. Auf das Arbeitsmodell im Plattform-­Zeitalter wird in Kap. 8 eingegangen (siehe Kap. 8). Die Perspektive ändern und über Unternehmensgrenzen hinausschauen, hilft einen besseren Zugang zu Innovation und Technologie zu erhalten und diese symbiotischen Disziplinen zu kombinieren. Denn die Art und Weise, wie Ideen ermittelt, erforderliches Wissen aufgenommen und genutzt sowie Innovationen entwickelt und verbreitet werden, hat sich in den letzten zehn Jahren erheblich verändert. Die Gründe für diesen Wandel sind das unbeständige, unsichere geopolitische Klima, das durch zunehmenden Wettbewerb, wirtschaftlichen Druck, regulatorische Veränderungen, technologische Innovationen und die sich ändernde Nachfrage angetrieben wird. Das aktuelle Jahrzehnt wird eindeutig von allen Aspekten der Digitalisierung bestimmt, was zu stärkeren wirtschaftlichen Verflechtungen führt. Um im digitalen Zeitalter erfolgreich zu sein, müssen sich Unternehmen von Geschäftsmodellen lösen, bei denen Größe und ein globaler Kundenstamm über Jahrzehnte hinweg Vorteile waren. Heute sind flexible und agile Modelle gefragt, wo die Wünsche und der Tagesablauf digital-affiner Kunden im Zentrum stehen. Den Konsumenten als Mitentwickler im Innovationsprozess zu integrieren, hilft die richtigen Interaktionspunkte mit Service-Anbietern zu finden. Ergänzt durch andere Wissensvermittler, darunter Universitäten, Forschungslabors, Think Tanks und virtuelle Gemeinschaften, können so die Vorteile eines Wertschöpfungsnetzes genutzt werden. Neue Zusammenarbeitsformen und digitale Tools machen derartige Systeme komplex, iterativ, nicht linear, kaum kontrollierbar, dafür aber auch innovativ und interessant. Die digitale Transformation unter Berücksichtigung der Ökosystem-Strategie ist entsprechend umfassender und radikaler als der Übergang von analog zu digital oder einem geschlossenen zu einem offenen Innovationsansatz. Eine der bedeutendsten Innovationen im Dienstleistungsbereich ist die Digitalisierung selbst, welche darauf abzielt, die Effizienz und Qualität der erbrachten Dienstleistungen zu verbessern und neue Geschäftsmöglichkeiten zu schaffen. Das Innovationsbewusstsein in vielen Branchen kann noch weiter gesteigert werden. Allerdings sind die Innovationsmerkmale der verschiedenen Branchen innerhalb des Dienstleistungssektors sehr unterschiedlich. Das bedeutet, dass einige technologie- und wissensbasierte Branchen innerhalb des Dienstleistungssektors in Bezug auf ihren hohen Forschungs- und Entwicklungsaufwand oder ihre Technologieintensität dem verarbeitenden Gewerbe ähneln. Einige dieser Unternehmen haben ihre Geschäftsmodelle in den letzten Jahren stark umgestellt. Mercedes, bekannt für die Erfindung des Automobils, verkauft über zwei Millionen Autos pro Jahr und erwirtschaftet bereits über ein Fünftel des Umsatzes mit seinen Finanz- und Mobilitäts-Services, zu denen auch eine Bank gehört (Mercedes-Benz Group 2022). Die Mercedes-Benz-Mobility-Strategie hat vollständige digitale Prozesse zum Ziel und offeriert eine nahtlos integrierte Online-Kundenerfahrung für Finanzierung, Leasing und Versicherungen. Zudem möchte sich der Konzern in Richtung eines datengetriebenen Unter-

2.7 Technologie als Treiber im Kundenverhalten

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nehmens entwickeln. Äußerst interessant ist, dass Mercedes zusammen mit einem ihrer Hauptkonkurrenten BMW ein Mobilitäts-Services-Ökosystem mit moovel als zentrale Plattform und mytaxi und car2go aufbauten. Dabei werden die Sharing-Economy und die nachhaltige Elektromobilität gefördert, was einen bedeutenden Beitrag zu einer Smart City leisten kann. Die Idee, dass sich Konkurrenten zusammenschließen und neue Wege gehen, um den Wandel zu beherrschen ist neu und mutig. Mercedes und BMW disruptieren damit ihre Kerngeschäfte, könnten allerdings als Pioniere ins digitale Dienstleistungszeitalter eingehen. Solche Entwicklungen im Dienstleistungssektor haben die Bedeutung der verschiedenen Wechselbeziehungen zwischen Technologie, Wissen und Innovation in der Wirtschaftstätigkeit erhöht. Das digitale Jahrzehnt fördert informationsbasierte, wissensintensive und dienstleistungsorientierte Unternehmen und transformiert die traditionelle Art und Weise, in der Unternehmen ihre Geschäfte tätigen.

2.7 Technologie als Treiber im Kundenverhalten Die prägende Rolle von Technologie widerspiegelt sich in verschiedenen Branchen im veränderten Kundenverhalten in der heutigen digitalen Gesellschaft. Konsumenten haben sich längst daran gewöhnt, mit Maschinen und Algorithmen anstatt Menschen zu interagieren, was beim Fitness-Coach, Übersetzungsdienst, Finanzberater und vielen weiteren Apps als selbstverständlich gilt. Weltweite Schätzungen gehen davon aus, dass 2030 zwei Drittel aller Kundeninteraktionen von intelligenten Maschinen abgewickelt werden und dass bis dann die meisten Menschen Chatbots, Produktlieferungen per Drohne und Intelligente Assistenten nutzen (Newman und McClimans 2019). Verschwimmende Grenzen zwischen Online und Offline sind existent. Neu ist der Shift von realen zu virtuellen Pa­ rallelwelten, wo aktuell gerade im Metaverse neue Nutzerverhalten getestet werden. Nutzer akzeptieren bewusst (oft auch unbewusst), dass Entscheidungen durch Algorithmen vorbereitet und unterstützt werden. Digitale Innovationen und Plattformen haben Konsumenten besseren Zugang zu Wissen verschafft: durch Online-Quervergleiche über ­Konkurrenzprodukte und Dienstleistungen, gibt es mehr Abwechslung anstatt jahrelange Kundentreue. Die Verhandlungsmacht von Kunden ist in den letzten Jahren über alle Branchen stark gestiegen. Gemäß Accenture und SwissBanking (2021) sind die Hauptfaktoren dieser Entwicklung vor allem eine geringere Angebotsdifferenzierung, sowie eine erhöhte Informationstransparenz und Preissensitivität. Zudem sorgt das Verschwimmen geografischer Grenzen durch ansteigende Nutzung digitaler Kanäle dafür, dass auch vermehrt internationale Anbieter in lokalen Märkten ihre Produkte und Dienste anbieten können. Dies resultiert in einer Verschärfung der Wettbewerbsintensität, was sich in einer gesunkenen Marktkonzentration führender Unternehmen widerspiegelt. Technologie bietet die Möglichkeit, die Weiterentwicklung der Wertschöpfungsmodelle aktiv voranzutreiben. Hier wird vor allem ein Trend hin zu offeneren Modellen be-

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2  Das digitale Paradigma

obachtet, die mit einer digitalen Entkoppelung monolithischer Computerarchitekturen einhergeht. Bisher war nur eine schwach ausgeprägte Untergliederung von Teilsystemen möglich und es herrschte eine hohe Abhängigkeit vom jeweiligen System. Externe technologische Innovationen waren so nur begrenzt möglich und Erweiterungen der Systeme mit einer erhöhten Komplexität verbunden. Inzwischen schreitet die technologische Entwicklung jedoch deutlich voran und ermöglicht eine modularisierte Architektur miteinander gekoppelter Teilsysteme. Diese Entwicklung beinhaltet die Erweiterung und Öffnung der Integrationsdienste (Open-API Integration Layer durch Dritte), eine Entkopplung ­digitaler Front-Kanäle (flexible und unabhängige Lösungen in der Kundenbetreuung und -interaktion), den Auf- und Ausbau von Ökosystemen (Zusammenarbeit mit Produktund Technologiepartnern), die Datenbereinigung und -strukturierung (skalierbare Masterund Metadatenmodelle), sowie Cloud Computing. Diese fünf Komponenten ermöglichen Unternehmen auf offenere Wertschöpfungsmodelle zu setzen und somit auch zukünftig im digitalen Paradigma zu bestehen.

2.8 Unregulierte Plattform-Ökonomie Wenn eine Bank wächst, bis sie im Verhältnis zu ihrer jeweiligen Branche zu groß wird oder einen bedeutenden Teil der Wirtschaft eines Landes oder einer Region ausmacht, oder wenn Unternehmen zu stark miteinander vernetzt und voneinander abhängig sind, kann das zu Instabilitäten führen. Eine Kettenreaktion von Insolvenzen hat für die Wirtschaft katastrophale Folgen und kann sich auf das globale Wirtschaftssystem auswirken. Finanzinstitute stellen ein systemisches Risiko dar, weil beispielsweise Kredite oder Unternehmenskredite nicht kurzfristig durch andere Institute ersetzt werden können. Regierungen sind entsprechend dafür verantwortlich, Großbanken als systemrelevant einzustufen und die Widerstandsfähigkeit der Banken gegenüber Liquiditätsschocks zu ü­ berwachen. Der Finanzstabilitätsrat (Financial Stability Board), ein Gremium bestehend aus den wichtigsten Industrie- und Schwellenländern (G20) hat deshalb für systemrelevante Banken besondere Kapital- und Liquiditätsanforderungen durchgesetzt. Regulierungsbehörden in vielen Ländern haben daraufhin zahlreiche neue Gesetze erlassen, um das Systemrisiko zu begrenzen. Wenn also heute eine Bank Risikopositionen eingeht, die in gefährlicher Relation zur Höhe des Eigenkapitals stehen, so ist nach wie vor der Verwaltungsrat dafür verantwortlich, Maßnahmen zur Risikooptimierung vorzuschlagen. Da die Risikolage des europäischen Bankensektors permanent überprüft wird, können Großbanken zusätzlich bei Gefährdung dazu gedrängt werden, ihre Größe zu verringern und Teile ihres Geschäfts abzuspalten. Die politische Diskussion über „too big to fail“ (zu groß, um zu scheitern) ist allgegenwärtig und brisant. Denn während Aktionäre von Geschäftsaufspaltungen stark betroffen sind, müssen letztendlich die Steuerzahler für die Rettungsaktionen von möglicherweise ausfallenden Instituten aufkommen, um Kollateralschäden für die gesamte Wirtschaft zu vermeiden. Ein weiteres Risiko sind diejenigen Institute, die nicht reguliert werden, so genannte Schattenbanken wie Investmentfonds oder Hedgefonds. Diese

2.8 Unregulierte Plattform-Ökonomie

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geraten regelmäßig unter Druck und es ist eine Frage der Zeit, bis auch sie unter eine Finanzmarktaufsicht fallen. Auch Kryptobörsen sind nicht reguliert und die Liquiditätskrise, der auf den Bahamas domizilierten Firma FTX, macht uns bewusst, dass es hier weder eine Rettung durch den Staat noch einen Einlagenschutz gibt. Auch wenn viele dachten, die Handelsplattform für digitale Währungen sei zu groß, um zu scheitern, hat FTX im November 2022 Insolvenz angemeldet und die ganze Kryptoindustrie in eine Abwärtsspirale getrieben. Eine Kryptobörse ist eben weder eine Bank noch steht sie unter Börsenaufsicht. Regulierungsmaßnahmen sind wichtig für Stabilität und Vertrauen und haben erhebliche Auswirkungen auf den Finanzsektor und das gesamte Wirtschaftssystem. Krisen machen uns immer wieder die Notwendigkeit einer besseren Governance und Transparenz bewusst (siehe Kap. 8). Deshalb müssen sich Führungskräfte permanent mit den Abhängigkeiten zwischen Finanzsystem und Wirtschaftspolitik auseinandersetzen und Gesetze und Regulierung anpassen und optimieren. Obwohl es respektable Theorien zu den letzten Krisen gibt, in denen die Deregulierung und insbesondere unkontrollierte Finanzinnovationen eine Rolle spielten, werden in diesem Abschnitt nur einige Implikationen der Regulierung hervorgehoben. Die globalen Finanzmärkte, die Wirtschaft, die Demografie, die Kunden, die Technologie, die Politik und die Gesetzgebung haben sich in den letzten zehn Jahren stark verändert. Verständlicherweise haben die Aufsichtsbehörden den Druck auf die Geschäftsbanken erhöht, die verschiedenen Risikokategorien zu managen und die Finanzinstitute werden weltweit einer strengen Überwachung in Bezug auf Eigenkapitalausstattung, Corporate Governance und Transparenz unterzogen. Traditionelle Strategieansätze erweisen sich als unzureichend, um mit diesen Veränderungen fertig zu werden. Unternehmen, die in einem wettbewerbsintensiven globalen Umfeld überleben und erfolgreich sein wollen, brauchen Führungskräfte mit dynamischeren, innovativeren, interdisziplinären und systemischen Ansätzen für das strategische Management. Wenn die Entwicklung des Finanzsektors über die letzten 20 Jahre betrachtet wird, zeigen Marktberichte und Studien, dass die altmodischen Geschäftsmodelle der Banken im Niedergang begriffen sind. Unterdessen wurde Technologie eine strategische Komponente, was Bill Gates bereits bei seiner Rede Information at your fingertips, a prediction to 2005 auf der Computermesse Comdex im November 1995 erwähnte (Gates 1995). Der berühmte Satz „Banking is necessary, banks are not“ wird bis heute Bill Gates zugeschrieben. Er soll dies bereits 1994 gesagt haben, obwohl die genaue Quelle dafür bis heute fehlt. Bewahrheitet hat sich, dass durch die Nutzung von Informationstechnologie Finanzdienstleistungen zwar relevant bleiben, es aber nicht mehr klar ist, ob diese von einer Bank, einem Fintech oder einem Anbieter außerhalb des Finanzsektors geliefert werden. Recherchen ergaben, dass Richard Kovacevich, ehemaliger Chairman und Chief Executive Officer von Wells Fargo, 1998 erklärte, dass das Bankwesen als eigenständiges Geschäft tot sei. Er prägte tatsächlich den Satz „Banking is necessary, banks are not“ (Nocera 1998, S. 85). Während sich Kovacevich auf die Ersetzung des Bankwesens durch die Kapitalmärkte bezog, ging Bill Gates davon aus, dass die Technologie die traditionellen Bankprozesse komplett verändern wird. So unterschiedlich die Perspektiven waren, Disruption kommt oft von verschiedenen Seiten und letztendlich hatten beide recht.

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2  Das digitale Paradigma

Die Wichtigkeit globaler Finanzströme ist eminent, was zum nächsten relevanten Regulierungsthema führt – die Regulierung von digitalen Plattformen. In diesem Zusammenhang gibt es einige Bestrebungen innerhalb des Wettbewerbsrechts. So könnten digitale Plattformanbieter wie Alphabet, Amazon, Facebook, Alibaba oder Tencent ihre Marktmacht missbrauchen, indem sie Konkurrenten benachteiligen oder den Wettbewerb einschränken. Um dies zu verhindern, müssten Regulierungsbehörden Maßnahmen wie Kartellrecht und Monopolregulierung anwenden, um sicherzustellen, dass ein fairer Wettbewerb besteht. Der wohl dringendste Regulierungsbedarf besteht innerhalb des Datenschutzes. Digitale Plattformen sammeln in der Regel große Mengen an Daten von Nutzern und können diese Daten für kommerzielle Zwecke nutzen. Um sicherzustellen, dass die Privatsphäre der Nutzer geschützt ist, gibt es in vielen Ländern Datenschutzgesetze, die digitale Plattformen dazu verpflichten, bestimmte Standards einzuhalten. Die Haftung ist ein weiterer Bereich, denn digitale Plattformen sind oft nicht für die Inhalte verantwortlich, die von Nutzern auf der Plattform veröffentlicht werden. Dennoch können sie in einigen Fällen für rechtswidrige Inhalte haftbar gemacht werden. Auch das Arbeitsrecht steht oft in der Kritik. Denn die Arbeitsbedingungen von virtuellen Mitarbeitern oder Nutzern, die Inhalte für Plattformen generieren, sind nicht klar geregelt. Im Bereich der Steuern kommen vor allem US-Amerikanische Plattformbetreiber zunehmend unter Druck, da sie Steuerdomizile nicht dort haben, wo ihr Hauptgeschäft ist, sondern in steuergünstigen Ländern. Diese und weitere Aspekte der Regulierung im Kontext von digitalen Plattformen sind wichtig, um sicherzustellen, dass digitale Plattformen fair und verantwortungsbewusst agieren und die Rechte und Interessen aller Beteiligten respektiert werden. In dem Maße, in dem traditionelle Sektorgrenzen verschwinden und die Digitalisierung den Konsum von Produkten auf erlebnisorientierte Kundenreisen verlagert, gewinnen Plattformen und die von ihnen unterstützten Ökosysteme an Bedeutung. Die Machtkonzentration großer Plattformbetreiber ist erkennbar. Da die Betreiber sektorübergreifender Ökosysteme die Wirtschaft vorantreiben und viele Menschen beschäftigen, überdenken die Regulierungsbehörden ihr Regelwerk immer wieder. Tendenziell gibt es einen zunehmenden regulatorischen Gegenwind gegen dominante Technologiefirmen. Da viele Unternehmen von den Plattformbetreibern abhängig sind, sollte dies ein Grund zur Sorge sein. Zukünftige Regulierungen werden bestimmen, in welche Märkte und Sektoren Plattformbetreiber auf der Suche nach Profit als nächstes expandieren (Jacobides 2021).

2.9 Branchenfremde Disruptoren Digitale Plattformen ermöglichen die Sammlung von Daten, indem sie einen wachsenden Teil der täglichen Aktivitäten von Menschen erfassen, sei es der Einkauf von Lebensmitteln, die Buchung von Hotels, Flügen und Restaurants oder der Gang zum Zahnarzt. Die zunehmende Rolle datenbasierter Geschäftsmodelle wird deutlich, wenn man sich die größten Unternehmen der Welt in Bezug auf ihre Marktkapitalisierung ansieht. Vor der Fi-

2.9 Branchenfremde Disruptoren

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nanzkrise waren es 40 % Öl und Gas, 20 % Banken, der Rest Mischkonzerne und andere. Heute sieht diese Liste völlig anders aus: die meisten sind Technologiefirmen, wie Apple, Amazon, Alphabet, Microsoft, Meta, Alibaba, Tencent, Tesla, TSMC, NVIDIA.  Diese Verschiebung drückt sich auch im S&P 500 aus, wo über ein Viertel der größten 500 börsennotierten Unternehmen der USA heute aus dem Technologiesektor stammen (Tendenz zunehmend). Um die Evolution von Wertschöpfungsmodellen im Kontext der digitalen Transformation unter Einbeziehung branchenfremder Disruptoren zu erklären, kann nochmals auf die Studie von Accenture und Swissbanking (2021) referenziert werden. Der Grund ist, dass die Schweiz immer noch ein bedeutender Finanzplatz ist und dass der Finanzsektor zu fast 10 % des Bruttoinlandproduktes ausmacht (BIP), obwohl der Beitrag von Banken zugunsten von Versicherungen abgenommen hat. Die Zukunft des Schweizer Banking wird demzufolge dadurch bestimmt, inwiefern traditionelle Finanzinstitute Technologiefirmen und Fintechs in ihre Finanzlandschaft einbinden. So gibt es inzwischen viele Open-­Banking-­ Plattformen, welche den effizienten und sicheren Austausch von Daten über standardisierte Schnittstellen zwischen Banken, Fintechs und weiteren Drittparteien ermöglichen. Banken können damit die Weiterentwicklung des Geschäftsmodells, sowie Skalierungseffekte und Effizienzsteigerungen erzielen. Es besteht zum einen die Möglichkeit die bestehende Wertschöpfung zu optimieren. Zum anderen ergibt sich weiter die Opportunität der vertikalen Diversifikation und Vertriebserweiterung. Dies begünstigt beispielsweise den Zugang zu neuen Märkten über digitale Plattformen, was wiederum zu diversen Daten führt. Damit kann die Erweiterung der Angebotspalette voranschreiten. Durch die Kombination anonymisierter eigener Kundendaten mit denen von Drittbanken, besteht die Möglichkeit einzelne Aktivitäten der Wertschöpfungskette durch Dritte abwickeln zu lassen. Diese Entwicklung geht einher mit dem Industrietrend hin zum Vertriebsbankenmodell, mit dem Hintergrund, dass viele Banken das strategische Ziel haben, die Kundenschnittstelle bei sich zu halten. In diesem Modell sollen nicht-differenzierende Produkte und Leistungen konsequent digitalisiert, automatisiert oder von spezialisierten internen oder externen Anbietern bezogen werden. Im optimierten Vertriebsbankenmodell geht es insbesondere darum, den Kunden einen Mehrwert zu bieten, in dem das Kundenproblem ganzheitlich gelöst wird. Anwendungen solcher Ökosysteme bilden den roten Faden durch das ganze Buch. Die durch Fintechs und Open Banking bedingte, Entwicklung der Branchen-­Konvergenz hat erhebliches Zukunftspotenzial, da die Vernetzung der Open-Banking-Plattformen erst in ihren Anfängen steht. Zwar integrieren Banken bereits individuell Drittparteien oder Fintechs über eigene Schnittstellen (APIs), jedoch findet dies isoliert vom Markt statt und ist stets mit Einzelkosten verbunden. Dies verhindert aktuell die notwendigen Synergieeffekte für eine bessere Skalierbarkeit von neuen Technologien und Geschäftsinnovationen sowie die Entfaltung einer entsprechenden Marktdynamik, um weitere Vorteile der nächsten Stufe (Open Finance) auszuschöpfen. Die Evolution von Open Banking, Open Finance und offene Ökosysteme ist interessant. Letzteres hat Implikationen aus daten-, ökonomischer- und gesellschaftlicher Sicht.

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2  Das digitale Paradigma

2.10 Fintechs als Pioniere des digitalen Zeitalters Fintech-Firmen gelten als Pioniere digitaler Plattformen, da sie innovative Technologien und Geschäftsmodelle einsetzen, um Finanzdienstleistungen effizienter, kostengünstiger und zugänglicher zu machen. Durch den Einsatz innovativer Technologien und Geschäftsmodelle haben sie den Finanzsektor grundlegend verändert. Viele Fintechs haben digitale Plattformen entwickelt, die es Verbrauchern ermöglichen, Finanzdienstleistungen online zu nutzen und abzuschließen, ohne einen physischen Standort besuchen zu müssen. Diese Plattformen bieten oft eine bessere Benutzererfahrung als herkömmliche Banken und Finanzinstitute und ermöglichen es den Verbrauchern, Finanzdienstleistungen schnell und einfach zu nutzen. Die Kernfrage ist, warum die Fintech-Revolution erst vor 15 Jahren begann. Über Jahrzehnte hinweg verstanden es die traditionellen Banken recht gut, Technologien zur Verbesserung der Back-Office-Abläufe zu integrieren, um Kosten zu senken und ihre Kunden besser zu bedienen. Das wichtigste Ereignis, das die Innovationstätigkeit unterbrach, war die Finanzkrise von 2007/08. Während und Jahre nach der Krise waren die Banken damit beschäftigt, sich mit neuen Richtlinien, regulatorischen Anforderungen, Sammelklagen und auferlegten Geldstrafen auseinanderzusetzen. Während die etablierten Banken ums Überleben kämpften und nicht offen für Innovationen waren, kamen andere Branchen mit bahnbrechenden technologischen Innovationen und Geschäftsmodellen auf den Markt. Zu Beginn der Finanzkrise führte Apple sein iPhone und einige Jahre später sein iPad ein. Während der Boom der mobilen Geräte in vollem Gange war, befeuerten mehrere Tools die sozialen Medien und veränderten, wie Menschen kommunizieren, Nachrichten empfangen und Entscheidungen und Meinungen treffen. Andere ­Dienstleistungen, die den Komfort erhöhten und die Erwartungen der Kunden veränderten, kamen mit Uber, Airbnb, Spotify, Twitter, Instagram, TikTok, WhatsApp und WeChat, um nur einige zu nennen oder mit innovativen Produkten von Tesla oder autonomen Fahrzeugen von Waymo (Google). Innerhalb von wenigen Jahren hat sich das Verbraucherverhalten in vielen Bereichen nachhaltig verändert. Die Vernachlässigung von Kundenbedürfnissen und ein Jahrzehnt mangelnder Innovationen haben es Technologiefirmen einfach gemacht, in diese Lücke zu springen und bessere, billigere, bequemere und digitale Dienstleistungen anzubieten. Die exponentiellen technologischen Entwicklungen haben dazu beigetragen, dass Fintech-­Unternehmen ihren Einsatz in Open Banking sehen. Die digitale Vernetzung erleichtert die Zusammenarbeit mit etablierten Unternehmen, womit Geschäftsmodelle so umgestaltet werden können, dass sie Innovationen vorantreiben und gleichzeitig das Vertrauen der Kunden unterstützen (Capgemini et al. 2018). Apple Pay, Alipay, Google Pay, Paypal, Amazon Pay, Samsung Pay, WeChat Pay und viele mehr sind allesamt Paradebeispiele für die digitale Zahlungsabwicklung, die übrigens ein Viertel aller Fintech-­ Leistungen ausmacht. Mit Covid-19 hat sich die Adoptionsrate aller digitaler Apps nochmals massiv erhöht, wie zwei Studien des Institutes für Banking und Finance an der Universität Zürich belegen (Fu und Mishra 2022; Fasnacht 2022). Etliche Fintechs sind dabei, profitable Wertschöpfungsketten etablierter Unternehmen zu unterbrechen. Insbesondere China mit einem Wert des mobilen Zahlungsverkehrs im Zusammenhang mit dem Kon-

2.10 Fintechs als Pioniere des digitalen Zeitalters

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sum von Privatpersonen in der Höhe von 900 Billionen US-Dollar (11-mal so viel wie in den Vereinigten Staaten) wird das Investitionsvolumen beschleunigen und den Zahlungsmarkt nachhaltig verändern. Es gibt bereits Millionen von Verbrauchern, die ihre Mahlzeiten, Einkäufe, Kinobesuche, Museumsbesuche und Mietwagen mit ihren Smartphones bezahlen, indem sie QR-Codes scannen und viele von ihnen haben nicht einmal eine Kreditkarte. Tech-Giganten wie Alibaba und Tencent mit Alipay, respektive WeChat Pay haben den heimischen Markt bereits erobert. China hat eine wachsende, technologiebegeisterte junge Bevölkerung und einen sehr großen Inlandsmarkt mit steigender Kaufkraft. Die Regierung hat zudem eine Reihe von technologie- und innovationsfördernden Programmen verabschiedet, welche sich optimal in das stark wachsende Start-up-Ökosystem einfügen. Da alles mit Daten, maschinellem Lernen und Künstlicher Intelligenz zu tun hat, entstehen durch die chinesischen Anwendung immense Wettbewerbsvorteile, welche im Buch vorgestellt werden (siehe Kap. 6). Andere innovative Geschäftsmodelle, wie alternative Finanzplattformen, werden den Banken ebenfalls das Wasser abgraben. Crowdlending und Peer-to-Peer-Lending sind digitale Plattformen, die es Einzelpersonen oder Investoren ermöglichen, anderen Einzelpersonen oder Unternehmen Geld zu leihen. Beim Crowdlending kommt eine Gruppe von Anlegern zusammen, um ein bestimmtes Projekt oder eine bestimmte Kreditanfrage zu finanzieren. Das bedeutet, dass ein Kreditnehmer Geld von mehreren verschiedenen Personen, aber von einer einzigen digitalen Plattform oder einem einzigen Unternehmen leihen kann. Bei P2P-Lending leihen die Anleger ihr Geld direkt an den Kreditnehmer, ohne dass eine Gruppe von Anlegern beteiligt ist. Die Plattform, die das P2P-Lending-System bereitstellt, fungiert lediglich als Vermittler zwischen Kreditnehmern und Anlegern. Ein weiterer Unterschied ist, dass Crowdlending in der Regel für größere Projekte wie Immobilien oder Unternehmensinvestitionen verwendet wird, während P2P-Lending häufig für persönliche Kredite wie Schuldenkonsolidierung oder Autokredite verwendet wird. Lending Club, die Vorreiterin von P2P, startete zunächst als Facebook-Anwendung und wurde 2008 zum ersten Online-Kreditmarktplatz, welcher Kreditnehmer und Investoren über eine P2P-Plattform zusammenbrachte und bei der Securities and Exchange Commission (SEC) registriert wurde. Kreditnehmer können auf der LendingClub-Plattform Kredite beantragen. Algorithmen bewerten das Risiko des Kreditnehmers und treffen automatisch eine entsprechende Zinssatzentscheidung. Investoren können dann in die zugelassenen Kredite investieren und erhalten Zinszahlungen auf ihre Investitionen. LendingClub ist ein klassisches Fintech-Unternehmen aus dem Silicon Valley und schloss seinen Börsengang 2014 ab. Es war einer der weltweit größten Online-Kreditmarktplätze und wurde von tausenden Firmen in der ganzen Welt kopiert. Auch wenn Crowdlending-Plattformen bislang nur kleinere Projekte (in der Regel bis 20 Mio. US-Dollar) finanzierten und vor allem in den USA populär sind, könnte das Geschäftsmodell mittelfristig traditionelle Finanzintermediäre verdrängen. Immerhin sammelte Star Citizen, ein Projekt für ein Weltraumkampf-­ Videospiel, bis heute über 500 Mio. US-Dollar über Plattformen wie Kickstarter ein. Der globale Crowdlending-Markt wird aktuell auf etwa 20 Mrd. US-Dollar geschätzt und soll von 2022 bis 2030 um jährlich 16 % auf 60 Mrd. US-Dollar anwachsen (Polaris 2022).

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2  Das digitale Paradigma

Einige etablierte Unternehmen haben erkannt, dass sie ihren Kunden einen Mehrwert bieten und einen Wettbewerbsvorteil erzielen können, wenn sie Dienstleistungen von innovativen Unternehmen außerhalb der Finanzdienstleistungsbranche in ihre Angebote und Prozesse integrieren (Fasnacht, 2009). In diesem Zusammenhang kann auf eingebettete Finanzdienstleistungen (engl. embedded finance) referenziert werden. Die nahtlose Inte­ gration in ein Kernangebot ist entscheidend und oft ist der eigentliche Anbieter hinter dem Angebot nicht ersichtlich. Die Bank of America, unternahm bereits 2016 erste Versuche mit Facebook, um die soziale Verbindung zwischen der Bank und ihren Kunden durch Echtzeit-Warnungen und Mitteilungen der Bank über deren Plattform zu verbessern. Da die Bank ständig auf der Suche nach neuen Wegen ist, um Kunden über die traditionellen Kanäle hinaus anzusprechen, zielt die Integration des Facebook-Messengers darauf ab, jüngere Kunden anzuziehen und sie dabei zu unterstützen, mit ihren Finanzen in Verbindung zu bleiben, wann und wo immer sie wollen. Immer mehr Unternehmen stellen ihren Kunden nur noch die Infrastruktur und Technologie zur Verfügung, damit die Kunden viele Aufgaben selbst erledigen können. Heute nutzen über die Hälfte aller Kunden der Bank of America eine der über 30 Robo-Filialen oder digitale Plattformen. Der hauseigene Chatbot Erica wurde um die maschinelle Verarbeitung natürlicher Sprache (NLP) erweitert und ist seitdem ein zentrales Unterstützungselement mit jährlich 123 Mio. Interaktionen. Das Ziel der Bank ist, 2023 sämtliche Produkte und Dienstleistungen in einer einzigen Super-App zu integrieren (Marous 2022). Auch Facebook plant Berichten zufolge die Schaffung einer umfassenden Super-App, nach chinesischem Vorbild, welche Finanzdienstleitungen umfassen soll (Cross,  2022). Dabei soll die große Nutzerbasis für ­Finanzprodukte und -dienstleistungen wie Zahlungen, Überweisungen und Kredite begeistert werden. Die App soll so konzipiert sein, dass Benutzer alle ihre finanziellen Transaktionen innerhalb des Facebook-Ökosystems durchführen können, ohne auf andere Apps oder Plattformen wechseln zu müssen. Dadurch würde Facebook direkt mit traditionellen Banken und Fintech-Unternehmen konkurrieren. Facebook arbeitet mit etablierten Finanz­ instituten wie BBVA und Paypal zusammen, um die App zu entwickeln und eine regulatorische Compliance zu gewährleisten. Die Super-App wird derzeit für Schwellenländer entwickelt, in denen mobile Zahlungen und finanzielle Inklusion Prioritäten sind. So wird es in Indien bald möglich sein, Lebensmittel über WhatsApp zu bestellen. WhatsApp-­ Mutterkonzern Meta ging dafür eine Partnerschaft mit JioMart, einem Online-­ Lebensmittelgeschäft ein, das dem indischen Konglomerat Reliance Industries gehört, wo Meta mit 5,7  Mrd. US-Dollar einen 9,9  % Anteil an dessen Technologiefirma Jio Platforms hält (McGregor 2022). Die Partnerschaft ermöglicht es WhatsApp-Nutzern in Indien, direkt über die WhatsApp-App Lebensmittel zu bestellen. Sobald das Wort „hi“ an die Nummer von JioMart gesendet wird, kann mit dem Einkaufen begonnen werden. JioMarts Chatbot antwortet dann mit einem Katalog von Lebensmitteln, die bestellt werden können. Benutzer geben ihre Adresse ein und bezahlen die Lebensmittel über die App. Damit drängt Meta mit End-to-End-Shopping über WhatsApp in die Bereiche Social Commerce und Finanzdienstleistungen ein. Die Plattformen von Meta werden so sukzessive in eine All-in-One-Plattform integriert, welche Anrufe, Video-Chats, Communities,

2.10 Fintechs als Pioniere des digitalen Zeitalters

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Stories, Unternehmen, Zahlungen, Handel und viele andere Arten von privaten Diensten zentralisiert. Die Strategie WhatsApp in Indien auszubauen, macht durchaus Sinn: Indien ist mit 570  Mio. WhatsApp-Nutzern der größte Markt (Wendt 2022; Statista 2023). Wenn die Super-­App von Facebook erfolgreich ist, könnte sie die Bank- und Fintech-Industrien stören und potenziell zu einem wichtigen Akteur im Finanzdienstleistungssektor werden. Der Social-Media-Gigant wird jedoch regulatorische Hürden überwinden und das Vertrauen der Benutzer aufbauen müssen, die möglicherweise zögern, sensible finanzielle Informationen mit dem Unternehmen zu teilen. Elon Musk’s Kauf von Twitter hat ähnliche Ziele: Mit „X“ soll Twitter zu einer Super-App mutieren. Auch Apple und Goldman Sachs haben eine Partnerschaft, wobei Apple seinen Nutzern ein Sparkonto mit 4,15 % anbietet (Apple 2023). Dies ist das Zehnfache des durchschnittlichen Zinssatzes in den USA. Goldman Sachs gilt als eines der innovativsten der Welt und bietet bereits seit einigen Jahren Apple Cards (Kreditkarten) an, womit in den letzten zwei Jahren die höchsten Kundenzufriedenheitswerte in den USA erreicht wurden (Apple 2022). Für Goldman Sachs ist die Partnerschaft gewinnbringend, will die Bank doch ihre Einnahmen aus dem institutionellen Bereich in neue Kundensegmente diversifizieren, insbesondere in das Privatkundengeschäft mit Einlagen und Privatkrediten. Die zwei Milliarden iPhone-Nutzer sind ein Riesenpotential. Die obigen Beispiele unterstreichen Mehrwerte durch die Zusammenarbeit über Sektorgrenzen hinweg, was in Kap. 6 mit den chinesischen Branchenführern vertieft wird. In den letzten Jahren wurde viel Risikokapital und privates Beteiligungskapital in Fintech-­Start-­ ups investiert. Auch wenn Fintech-Services nicht klar eingeordnet und abgegrenzt werden können, gab es Ende 2022 rund 30.000 als Fintech deklarierte Firmen (Statista 2022; Siegemedia 2022). Die Erträge in dieser Industrie stiegen von 2017 bis 2022 um 100 % auf fast 200 Mrd. US-Dollar (Deloitte 2020). In Deutschland gab es 2021 gemäß dem Bundesverband Deutsche Startups (2021), 714 Firmen in der Finanz- und Versicherungsbranche und in der Schweiz zählte Swisscom (2021), 374 Fintechs und 50 Insuretechs. Die Adaptionsraten steigen weiter und sind in China am höchsten. Dort nutzen bereits über 90 % der Bevölkerung Fintechs, meist für Banking und Zahlungsverkehr, Finanzmanagement, Finanzierung und Versicherungen. Zum Vergleich, in den USA ist die Adaptionsrate bei rund 50 %. Die stetigen Wachstumszahlen führen zu wöchentlichen Ankündigungen von Banken, Vermögensverwaltern und Asset Managern, die mit Fintechs zusammenarbeiten, um Innovationen zu beschleunigen und das Kundenerlebnis zu verbessern. Die Umgestaltung der Kundenerwartungen gelingt, wenn das Beste diverser Branchen kombiniert wird. Ein Merkmal der digitalen Disruption ist, dass Kunden sich von traditionellen Modellen entfernen und lieber digitale und fragmentierte Leistung über eine inte­ grierte Plattform beziehen. Der Finanzsektors liefert Erklärungen für diese Branchenkonvergenz. Fintechs haben die Richtung von Open Innovation und Embedded Finance aufgezeigt und einige konnten ihre disruptiven Geschäftsmodelle bereits etablieren. Im letzten Abschnitt wird darauf eingegangen, was Fintech-Firmen realisieren können und was außerhalb ihrer Reichweite liegt und wo die Fallstricke für branchenfremde Unternehmen liegen, welche über ihre digitalen Plattformen Finanzdienstleistungen anbieten möchten.

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2  Das digitale Paradigma

2.11 Digital, modular, offen und agil Um sich im veränderten Marktumfeld nach der Covid-19-Pandemie erfolgreich zu behaupten und die geopolitischen Unsicherheiten und Inflation zu überstehen, brauchen Schweizer Banken zukunftsorientierte Wertschöpfungsmodelle. Daraus resultieren vier Hauptanforderungen (Accenture und Swissbanking 2021), welche die zuvor herausgearbeiteten digitalen Aspekte umfassen, und für alle Branchen gelten. Die digitale Interaktion mit Kunden und Vertriebspartnern ist nicht mehr wegzudenken und Unternehmen müssen sich in Zukunft vermehrt über das Kundenerlebnis differenzieren. Dazu bedarf es einer umfassenden Digitalisierung von Vertriebs- bis zu Verarbeitungsprozessen entlang der gesamten Wertschöpfung, inklusive entsprechender Arbeitsmodelle. Ein zusätzlicher Nutzen dieser Entwicklung besteht in einer Effizienzoptimierung existierender Prozesse. Kunden setzen in Zukunft zunehmend auf modulare – ungebündelte – Leistungen und Produkte. Da diese meist losgelöst von ihrer Hausbank sind und vermehrt durch neue Wettbewerber angeboten werden, besteht die Anforderung an zukünftige Wertschöpfungsmodelle eine solche Modularisierung aktiv voranzutreiben. Zukünftige Wertschöpfungsmodelle müssen damit im richtigen Mix aus Ressourcen, Fähigkeiten und Partnern transformiert werden, um kundenzentrierte Angebote modular und kosteneffizient zu offerieren. Offene Bankensysteme werden die heute weitestgehend monolithischen, Kernbankensysteme ersetzen. Diese Öffnung ist zentral, um Innovationen und die Weiterentwicklung der Wertschöpfungsmodelle zu ermöglichen. Durch einen Ökosystemansatz mithilfe von Partnern lässt sich so die Herausforderung der begrenzten Skalierbarkeit im Schweizer Markt überwinden. Um der erhöhten Geschwindigkeit sich stetig verändernder Anforderungen und Einflüsse gerecht zu werden, werden agile Unternehmensformen zunehmend zu einem Hauptdifferenzierungsfaktor. Dies betrifft insbesondere die Faktoren Organisation und Technologie und ermöglicht sowohl eine erhöhte Krisenfestigkeit als auch bedeutende Wettbewerbsvorteile. Im Speziellen wird die Aufspaltung von traditionellen Wertschöpfungsketten und digitalen Dienstleistungen die Wirtschaft und Gesellschaft verändern. Diesen Wandel können Unternehmen beherrschen, wenn sie ihre organisatorischen Fähigkeiten an die zukünftigen Anforderungen anpassen. Agile Organisationsstrukturen stehen hier im Vordergrund, um in Zukunft schneller und robuster auf Ungewissheiten reagieren zu können. Ein Fokus liegt dabei auf dem Betrieb der Firma, also Bereiche, die zurzeit meist noch funktional ausgerichtet sind. Nur einzelne Teams in diesen Bereichen haben ihre Zusammenarbeit agil ausgerichtet und oft wird zuerst eine Änderung des Mindsets benötigt, um einen entsprechenden Wandel anzustoßen. Damit soll letztlich auch die weitere Beschleunigung der verschiedenen Komponenten der digitalen Entwicklung ermöglicht werden: Aufbau einer digitalen Kultur, des optimierten Vertriebs, einer flexiblen IT-Architektur, sowie End-to-End-Prozess-Digitalisierung. Unternehmen, die Finanzdienstleistungen anbieten, sind in praktisch allen Ländern der Welt vertreten und konzentrieren sich in der Regel in internationalen, nationalen und regi­

Literatur

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onalen Finanzzentren. Ein funktionierendes und resilientes Finanzsystem ist eine der zentralen Säulen einer Volkswirtschaft. Damit sind die Grundvoraussetzungen für ein Innovations-­Ökosystem geschaffen. Für die Erschließung der neuen digitalen Welt werden alle Branchen maßgeblich von digitalen Plattformen und Ökosystemen beeinflusst. Die Anpassung an die neuen Spielregeln eines global vernetzten Wettbewerbs erfordert einen Wandel. Man könnte sagen, dass einige Initiativen wie ein Tropfen im Ozean der Innovation aussehen, wenn man die harten buchhalterischen Fakten betrachtet, die bestätigen, dass etablierte Unternehmen weniger Innovation betreiben, als sie behaupten. Die Umsetzung von Ökosystemstrategien ist für das Überleben vieler Unternehmen entscheidend (Fasnacht, 2020). Diejenigen, die Veränderungen als Chance verstehen und ihre Fähigkeiten erneuern, werden in Zukunft Wert für neue Kunden und Märkte und diverse Anspruchsgruppen schaffen. Unternehmen, die Trends nicht ernst nehmen, strategisch blind und selbstzufrieden sind und sich aus Übermut oder Gier falsch einschätzen, laufen Gefahr die immer kürzer werdenden Unternehmenszyklen nicht zu überleben. Die Managementliteratur hat mehrmals aufgezeigt, dass während Boom-Zyklen der Grundstein des Unterganges gelegt wird. Die Mitarbeitenden einer Organisation müssen offen für Veränderungen sein und auch während des Wandels begleitet werden. Damit sich Neues gegen Widerstand durchsetzen kann, müssen die Möglichkeiten der digitalen Transformation verstanden sein. Es braucht also die Erkenntnis, dass beispielsweise riesige Mengen an Daten nur dann Vorteile bringen, wenn sie effizient und effektiv erfasst, verwaltet und analysiert werden. Erst dann kann eine Plattform-Strategie verfolgt werden, in der sich die Organisation als Eigentümerin der Daten stark macht. Diese Positionierung liegt in der unternehmerischen Verantwortung, denn damit sind auch regulatorische Herausforderungen und Kosten verbunden. Eines ist klar, Führungskräfte sind dafür verantwortlich, den Wandel proaktiv anzugehen und die Belegschaft auf die Reise mitzunehmen. Unternehmen müssen sich transformieren, um den Übergang ins digitale Paradigma zu schaffen. Dabei spielen die Branche, Historie und Größe der Organisation kaum eine Rolle. Wenn sie das Momentum verpassen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich den Gesetzen der Disruptoren zu fügen oder, um es mit den Worten von Jack Ma, dem Gründer von Alibaba, auszudrücken: „Wenn sich die Banken nicht ändern, werden wir die Banken ändern“.

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2  Das digitale Paradigma

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3

Trends und die Dynamik des Wandels

Zusammenfassung

Welche Faktoren treiben den Wandel und wie reflektieren sich Veränderungen in Trends? Es ist von entscheidender Bedeutung, die Geschwindigkeit und das Ausmaß von Trends mit disruptivem Potenzial zu erfassen und den strategischen Wandel proaktiv anzugehen. Veränderungen kommen von Markttrends, Technologietrends und unplanbaren Ereignis­ sen. Letztere können Menschen kaum prognostizieren und nur verarbeiten, wenn Acht­ samkeit, Agilität und Resilienz vorliegen. Demografische Trends, die Entwicklung des Vermögens, neue Wachstumsmärkte und geopolitische Spannungen sind bekannt und Un­ ternehmen können darauf basierend ihre Geschäftsstrategien anpassen. Technologische Trends sind vielschichtig und da aktuell generative Künstliche Intelligenz, Blockchain, Daten (irgendwo) in der Cloud und komplizierte Quantencomputer kombiniert werden, können uns diese Entwicklungen überfordern. Technologien können disruptiv wirken und neue Geschäftsmodelle hervorrufen, die Altes und Bewährtes ablösen. In Zukunft werden verschiedene Technologien die immer anspruchsvolleren Benutzer mit digitalen Kunden­ erlebnissen bedienen, ohne dass die Schnittstellen wahrgenommen werden. Reale und vir­ tuelle Welten werden verschmelzen, was zu Ambiguität und Unvorhersehbarkeit führt. Un­ ternehmen müssen die Wechselwirkungen von Trends und die Dynamik des Wandels bes­ ser verstehen, um die eigene Zukunft proaktiv gestalten zu können.

3.1 Die Triebkräfte des Wandels verstehen Die Treiber von Diskontinuitäten und des strategischen Wandels lösen Veränderungen aus. Wenn diese Kräfte frühzeitig erkannt werden, können die Ressourcen des Unternehmens darauf ausgerichtet werden. Es ergeben sich dann Chancen zu reagieren und die Strategie © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Fasnacht, Offene und digitale Ökosysteme, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42494-7_3

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3  Trends und die Dynamik des Wandels

anzupassen. Dass verschiedene externe Umweltfaktoren und Entwicklungen zu Verände­ rungen der internen Organisationsstruktur, Prozessen und Verhaltensweisen führen ist nicht neu. Politische, wirtschaftliche, soziale, technologische, regulatorische und viele an­ dere Veränderungen wirken seit Jahrzehnten auf Menschen. In diesem Zusammenhang spricht man allgemein von Trends. Trends sind nicht einheitlich definiert, vielfältig und bewirken eine Veränderung im Verhalten, in der Nachfrage oder in der Akzeptanz von etwas. Trends können zu kleinen Veränderungen führen, haben je nach Intensität aber oft auch Transformationspotenzial. Globalisierung und internationaler Wettbewerb, Konsoli­ dierung und Konvergenz, zunehmende Regulierung, Technologie und Digitalisierung, de­ mografische Veränderungen sowie neue Kundenerwartungen und -Verhaltensweisen be­ einflussen uns Menschen permanent. Trends wurden für diesen Zweck in drei Kategorien eingeordnet, nämlich Mega-Trends, sozio-ökonomische Trends und technologische Trends. Dazu kommen noch Events, also externe Schocks, die meist unterwartet eintreffen und alle anderen Trends verstärken oder abschwächen können. Die letzten dieser Schocks waren Covid-19 und der Ukraine-Krieg – beide wurden nicht vorausgesagt und beschäf­ tigten weite Teile der Erde. Es ist zu beachten, dass sich einige Themen, die zu einer Trendkategorie gehören, mit anderen überschneiden und interagieren können. Auch ist wichtig, dass, wie nie zuvor, verschiedene Trends heute gleichzeitig eintreffen. Dieses Wirkungsgefüge führt zu neuen Wertvorstellungen, neuen Produkten und Dienstleistun­ gen, neuen Zusammenarbeitsformen und neuen Geschäftsmodellen. Da Menschen alle Teil eines Systems sind, wirken Trends je nach Intensität auf Organisationen, Sektoren, Regionen, Länder oder auf die ganze Welt. In Abb.  3.1 sind verschiedene Trend-­ Dimensionen und mögliche Auswirkungsbereiche dargestellt, welche nachfolgend kurz erläutert werden.

Neue Werte

Neue Produkte & Services

Neue Zusammenarbeitsformen

Neue Geschäftsmodelle

Abb. 3.1  Trend-Dimensionen (eigene Darstellung)

3.1 Die Triebkräfte des Wandels verstehen

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Megatrends beschäftigen die ganze Welt für rund 50 Jahre und es sind davon alle Le­ bensbereiche betroffen. Die Vereinten Nationen identifizieren fünf von uns Menschen er­ zeugte Megatrends, welche die Gesellschaft und Welt nachhaltig prägen werden (United Nations 2020). Darauf hat auch beispielsweise die Europäische Union ihre kurzfristigen Trendprognosen aufgebaut (ESPAS 2019). Die Globalisierung wird demnach weiter zu­ nehmen und sich auf Handel, Migration und kulturelle Interaktion auswirken. Die Urbanisierung wird die Nachfrage nach Infrastruktur und Dienstleistungen stark erhöhen, weil die meisten Menschen in Städten leben. Der demografische Wandel, wird die Weltbevöl­ kerung weiter anwachsen lassen, jedoch langsamer als in der Vergangenheit, und die Men­ schen werden länger leben. Dies stellt neue Anforderungen an Gesundheitssysteme und soziale Sicherungssysteme. Der Klimawandel wird sich auf verschiedene Bereiche ­auswirken, darunter Landwirtschaft, Wasserressourcen und Energieversorgung. Und zu­ letzt und im Fokus der Betrachtungen sind technologische Entwicklungen. Wie durch das ganze Buch erklärt, werden die technologischen Fortschritte die Zukunft der Arbeit verän­ dern, aber auch die Kommunikation und das Leben vieler Menschen. Alle Megatrends sind komplex und vielschichtig und werden in den kommenden Jahren und Jahrzehnten eine wichtige Rolle spielen. Neben den externen Faktoren, die einen globalen Wandel auslösen, kommen Trends oft aufgrund sozio-ökonomischer Veränderungen zustande. Dabei wird auf die Sozialpolitik als politische Reaktion auf Funktionsprobleme arbeitsteiliger Gesellschaften durch tech­ nologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandel hingewiesen (Obin­ ger und Schmidt 2019). Die Sozialökonomie ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, die sich an Schumpeter (1975) anlehnt und versucht Wechselwirkungen zwischen Gesell­ schaft, Wirtschaft, Ökonomie und Politik zu verstehen, eigentlich genau passend, wenn eine Ökosystem-Perspektive eingenommen wird. Sozio-ökonomische Trends sind kom­ plex und mit den Megatrends verbunden, wobei vor allem Marktveränderungen und neue Kundenbedürfnisse hier die treibenden Kräfte sind. Diese Trendkategorie hat einen direk­ ten Bezug zur Organisation, denn es sind Marktentwicklungen, welche häufig Unterneh­ men dazu zwingen, ihr Geschäftsmodell zu überdenken und umzustrukturieren. Der stra­ tegische Imperativ des radikalen Wandels ist vor allem durch Technologie und Wissen be­ stimmt und im Rahmen der digitalen Transformation, allgegenwärtig. Alvin Toffler, Zukunftsforscher und Soziologe, bekannt durch seine Arbeiten im Be­ reich der digitalen Revolution, meinte, dass es bei Trendbeobachtungen nicht darum geht, die Zukunft vorauszusagen, sondern darum, die Zukunft früher zu erkennen (Toffler Asso­ ciates 2023). Agile Organisationen passen sich viel schneller an externe Veränderungen an und sind viel besser in der Lage, Chancen zu nutzen, wenn die Triebkräfte für strategische Veränderungen richtig erkannt werden. Diesen Unternehmen fällt es viel leichter, ein Gleichgewicht zwischen kurzfristig orientierter, operativ effektiver Ausnutzung und län­ gerfristiger, strategisch flexibler Erkundung neuer Geschäftsmodelle zu finden. Die effek­ tive Kombination von beidem, Ausbeutung (engl. exploitation) und Erkundung (engl. exploration), ist zwar schwierig, sollte aber das Ziel eines Unternehmens sein, wie in Kap. 6 unter dem Begriff Ambidexterie weiter ausgeführt wird (siehe Kap. 6).

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3  Trends und die Dynamik des Wandels

Im Folgenden wurden Trends in zwei grobe Kategorien aufgeteilt: Trends, die vom Markt heraus auf Organisationen und Gesellschaft wirken (Markt-Trends) und Trends, die durch Technologien getrieben werden (Technologie-Trends). Beide Kategorien erzeugen ein dynamisches Geschäftsumfeld, welches neue Spielregeln und Möglichkeiten für of­ fene Ökosysteme bietet.

3.2 Markt-Trends 3.2.1 Neue Weltordnung Die Welt hat sich in den letzten zehn Jahren stark verändert und ist im Umbruch. Durch den Ukraine-Krieg hat sich vieles noch verstärkt. Nicht nur ist Europa durch die Energie­ knappheit bedroht, Märkte in Afrika und Asien sind von der Ukraine als größtem Weizen­ lieferant der Welt abhängig. Wenn die Transportwege unterbrochen werden, kann das schnell zu Hungersnöten in Afrika führen. Die Globalisierung hat zu den internationalen Verflechtungen beigetragen. Die Auswirkungen solcher Schocks sind eng verknüpft mit geopolitischer Wirtschaftsstabilität und beeinträchtigen vor allem die Makroökonomie. Im Gegenzug beschäftigt sich die Mikroökonomie damit, was auf Unternehmensebene pas­ siert, welche Auswirkungen Trends auf Angebot und Nachfrage haben. Diese Betrach­ tungsweise verändert zuerst Organisationen, dann einzelne Branchen, die Wirtschaft und schließlich die Gesellschaft. In Bezug auf makroökonomische Trends hat sich der Anteil von Entwicklungsländern an der globalen Wirtschaftsleistung in den letzten 20 Jahren verdoppelt. Die vierte indus­ trielle Revolution wirkt sich auf Wachstum, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit aus und wird im 21. Jahrhundert Machtverhältnisse nach Asien verschieben. Asien und insbe­ sondere China nehmen zunehmend an der Weltwirtschaft teil. Seit der Öffnung Chinas in den 1990er-Jahren und dem Beitritt in die Welthandelsorganisation (WTO) 2001 konnte China auf dem Weg des Sozialismus chinesischer Prägung zu einem Wirtschaftsmotor aufsteigen. Bislang wurde beinahe alles nach kapitalistischem Vorbild privatisiert, außer dem Energie- und Finanzsektor. Prognosen gehen heute davon aus, dass China bis 2030 die USA als Wirtschaftsmacht überholt. Indien hat kürzlich China als bevölkerungsreichs­ tes Land überholt. Es ist eines der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt und hat in den letzten Jahrzehnten in vielen technologischen Bereichen bedeutende Fort­ schritte erzielt. Indien hat sich als globales Zentrum für IT- und Software-Dienstleistungen etabliert,  ein weitreichendes Telekommunikationsnetz entwickelt und investiert stark in Bereiche wie Elektromobilität und erneuerbare Energien, insbesondere Solar- und Wind­ energie. Die Indian Space Research Organisation (ISRO) hat im September 2023 eine un­ bemannte Sonde auf den Südpool des Mondes gesetzt und will als Raumfahrtnation die Sonne und bald den Mars erkunden. China und Indien zusammen können aufgrund ihrer Grösse und Ambitionen die Weltordnung neu definieren, sofern sie eine strategische Bün­ delung ihrer Kräfte hinkriegen.  Macht ist dabei das richtige Wort, denn ökonomischer

3.2 Markt-Trends

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Aufstieg steigert politische Macht und solange Europa schwächelt und die USA zerstritten sind, wird sich dieses Zukunftsnarrativ auf die Geopolitik auswirken.

3.2.2 Demografie Der demografische Wandel, als einer der Megatrends, wird Gesellschaftsstrukturen und die Leistungserbringung vieler Unternehmen verändern. Gemäß einer Prognose der Ver­ einten Nationen wird die Weltbevölkerung bis 2030 um über eine Milliarde Menschen wachsen (United Nations 2022). Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass der Großteil auf Schwellenländer entfällt. Die Demografie bestimmt in der Regel das Schicksal der Men­ schen, wobei der Ruhestand ein wichtiger Meilenstein in unserem Leben ist. Wenn der Al­ terungsprozess der Gesellschaft beobachtet wird, ist unbestritten, dass dieser unumkehr­ bar ist, da die Saat für die Demografie von morgen schon vor Jahrzehnten gelegt wurde. Tatsache ist, dass die Menschen vor allem in den Industrieländern immer weniger Kinder bekommen. Die Zahl der Kinder ist unter 2,1 Geburten pro Frau gesunken, die für ein Be­ völkerungswachstum erforderlich sind (auch abhängig von der Sterblichkeitsrate). Darü­ ber hinaus leben die Menschen länger. Ausgehend von der makroökonomischen Produkti­ onstheorie werden sich die Auswirkungen der alternden Bevölkerung zumindest in einem Teil der Welt in weniger Arbeitskräften und mehr Rentnern niederschlagen. Die Weltbe­ völkerung der über 65-Jährigen wird auf 2,1 Mrd. stark ansteigen, was in der westlichen Gesellschaft einen erheblichen Einfluss auf das Gesundheitssystem hat. Während die al­ ternden Menschen die Kosten der Gesundheitsversorgung antreiben, fehlen auf dem Ar­ beitsmarkt jüngere Fachkräfte. So werden in den USA die Gesundheitsausgaben zwischen 2016 und 2040 pro Jahr um 8 % des BIP steigen, was rund 3,4 Billionen US-Dollar ent­ spricht (WEF 2016). Bald wird in vielen entwickelten Volkswirtschaften die Bevölkerung im Ruhestand größer sein als die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Im Gegensatz dazu wächst der Anteil an Menschen unter 25 Jahren in Ländern wie Indien, Nigeria, Uganda und Tansania. Die Pandemie hat China stark zugesetzt und der tendenzielle Ge­ burtenrückgang hat Auswirkungen: bis Ende des Jahrtausends wird China von 1,4 Mrd. auf 766 Mio. Menschen sinken. Von den rund 10 Mrd. Menschen auf unserer Erde sind dann nur noch 7 % Chinesen (heute 18 %) und Indien wird mehr als doppelt so viele Men­ schen zählen wie China (Roser 2013). Demografische Verschiebungen  führen zu wirtschaftlichen Vor- oder Nachtei­ len. Ein großes Arbeitskräftepotenzial junger Menschen ist auch eine Herausforderungen in Bezug auf Bildung und Arbeitsplatzschaffung. Aber auch bei Vermögen bahnt sich eine Verschiebung an. Allein in Nordamerika werden voraussichtlich im nächsten Jahrzehnt von den Babyboomern (Jahrgänge 1946–1964), zwischen 15 und 30 Billionen US-Dollar an die Generation X (Jahrgänge 1965–1980) und die Generation Y (Jahrgänge 1981–1995) ver­ erbt (Wealth-X 2019). Dieser generationenübergreifende Vermögenstransfer veranlasst Banken dazu, neue Kapazitäten aufzubauen, um die drei wichtigen Kundensegmente gleichzeitig zu bedienen  – alle mit unterschiedlichen Erwartungen und Verhaltenswei­

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3  Trends und die Dynamik des Wandels

sen. Da jüngere Menschen eher dazu neigen Geld für Konsumgüter auszugeben oder Kauf­ entscheidungen basierend auf ethischen und nachhaltigen Kriterien zu treffen, hat dies auch Konsequenzen auf die Wirtschaft. 

3.2.3 Vermögenswachstum Die Wachstumsraten sind für eine Region oder eine Volkswirtschaft Indikatoren für die Gesundheit einer Volkswirtschaft. Deshalb müssen Entscheidungsträger wissen, wo das Wachstum stattfindet. Im Jahr 2007 gab es weltweit etwa 1000 US-Dollar-Milliardäre, heute gibt es 2700 Milliardäre. Das weltweite Vermögen, inklusive Immobilien und sons­ tige Vermögenswerte, ist Ende 2022 auf 256 Billionen US-Dollar angestiegen und soll 2026 600 Billionen US-Dollar erreichen (BCG 2022). Der Marktanteil des globalen Ver­ mögens in den Vereinigten Staaten, Kanada, Japan und den westeuropäischen Ländern blieb in den letzten zehn Jahren relativ stabil. Das weltweite Vermögen ist ungleich ver­ teilt. Im Großen und Ganzen deuten die Markttrends darauf hin, dass es weiterhin viel Ge­ schäft mit dem sogenannten „alten“ Geld geben wird, da sich schätzungsweise 80 % des Vermögens in Europa auf Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien (in dieser Reihenfolge) konzentrieren. Auffallend ist aber, dass es schnell wachsende Volkswirtschaften gibt und im asiatisch-pazifischen Raum in erster Linie neues Vermögen geschaffen wird, wobei die Wachstumsraten in China überproportional zum Rest der Welt sind. Die größten Potenziale für die nächsten Jahre sehen Experten bei Frauen, Millennials und technologieorientierten Vermögenden (Capgemini 2022). Entsprechend müssen Un­ ternehmen, die mit vermögenden Kunden zu tun haben, Daten und digitale Technologien nutzen, um personalisierte Services anzubieten. Dazu gehören neben Finanzdienstleistern, die Immobilien-, Kunst-, Reise- und Luxusgüterbranche. Neben vielen anderen Rankings und Listen durchforstet Forbes seit 1987 den Globus nach dem Vermögen der reichsten Menschen der Welt (Forbes 2022). Die globale Liste der Reichen ist mehr als ein Katalog des individuellen Reichtums und spiegelt den Wandel der Weltwirtschaft wider. Seit Beginn der Erhebung  haben alte Weltmächte wie Japan und Deutschland – zusammen mit den Milliardären, die ihre Unternehmen dominieren – Platz gemacht für die neuesten globalen Hotspots wie das boomende China oder Indien. Auffal­ lend ist der Anstieg des Gesamtnettovermögens und die Veränderung der Zahl der Milliar­ däre – beides Rekorde in den 31 Jahren, in denen Forbes die Milliardäre weltweit erfasst hat. Auch  die Vermögen einzelner Menschen sind  sehr stark angestiegen. Der reichste Mensch war 2022 Elon Musk, der Gründer von Tesla, mit einem Vermögen von rund 220 Mrd. US-Dollar, gefolgt von Jeff Bezos (Amazon) mit 171 Mrd. US-Dollar. Eine wei­ tere Analyse zeigt, dass 90 % der Milliardäre Männer sind und dass das Durchschnittsalter von 62 Jahren im Jahr 2007 auf 64 Jahre im Jahr 2017 gestiegen ist. Mit den neuen Vermö­ genszuwächsen in der Internet- und Technologiebranche ist das Alter in den letzten fünf Jahren stark gesunken. Der generationenübergreifende Vermögenstransfer hat noch nicht richtig begonnen. Während etwa 90 % der männlichen Milliardäre verheiratet sind, sind

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nur 65 % der Frauen verheiratet. Interessant auch, dass nur 2 % der Männer verwitwet sind, im Gegensatz zu 21 % der Frauen. Folglich wird der Reichtum der Frauen weiter zu­ nehmen, da sie seltener verheiratet sind und etwa zwei Drittel ihres Reichtums geerbt haben. Dieser Umstand wird in Kap. 7 betrachtet, wo Frauen ins Zentrum der Vermögens­ verwaltung gerückt werden.

3.2.4 Irrationale Entscheidungen und Wachstumsmärkte Wirtschaftswachstum ist von vielen Faktoren abhängig, einschließlich politischer, wirt­ schaftlicher und demografischer Entwicklungen. Wachstum durch technologische Innova­ tionen kann auch aufgrund propagandistischer oder militärischer Motive angeregt werden. In der Geschichte gibt es immer wieder irrationale Entscheidungen mit dem Ziel, die Überlegenheit des eigenen Gesellschaftssystems aufzuzeigen. Als 1957 der sowjetische Satellit Sputnik erstmals die Erde umkreiste, war das ein Schock für die westliche Welt. Der damalige Präsident Dwight Eisenhower reagierte sofort und hinterfragte das Hervor­ treten dieser neuen Welt mit der Sowjetunion als technisch überlegene Weltraummacht. Bereits 1958 wurden als Folge die DARPA (Defense Advanced Research Project Agency) und NASA (National Aeronautics and Space Administration) gegründet, um Innovati­ onskräfte zu bündeln und den Wettlauf zum Mond zu gewinnen. Es folgten eine Reihe von Projekten und Raumfahrtprogrammen. Mitte der sechziger Jahre arbeiteten über 400.000 Personen für das Apollo-Programm. Die Gesamtkosten waren 112 Mrd. US-Dollar (NZZ 2019). 1969 wurde schließlich der Wettlauf zum Mond mit der Apollo-11-Mission ent­ schieden. Fazit ist, dass der Sputnik-Schock das NASA-Programm ausgelöst hat, durch das über 2000 bahnbrechende technologische Innovationen entstanden. Alle Entwicklun­ gen, Innovationen und Patente wurden seitdem in den NASA Tech Briefs (2019) dokumen­ tiert und öffentlich verfügbar gemacht, was wieder unzählige Innovationen auslöste. Dem gleichen Muster folgte die chinesische Regierung 2017, welche bis 2030 zur Su­ permacht im Bereich Künstlicher Intelligenz werden will. Der Sputnik-Schock kam für China 2017 mit der 3:0 Niederlage des chinesischen Weltmeisters Ke Jie gegen AlphaGo Zero im Spiel Go. Das in China seit Jahrhunderten bekannte Strategiespiel mit einem 19-­mal- 19 Brett und schwarzen und weißen Steinen Go gilt als viel komplexer als Schach und erfordert ein hohes Maß an Intuition und strategischem Denken. AlphaGo wurde von der Firma DeepMind 2016 speziell für das Spiel Go entwickelt. AlphaGo verwendet Deep-­Learning-­Methoden und nutzt eine Kombination aus Monte-Carlo-Baum-Suche und neuronalen Netzwerken, um die besten Züge zu finden und die Wahrscheinlichkeit zu ­bewerten, dass ein Zug gewinnt. Es wird also versucht, eine vom menschlichen Gehirn in­ spirierte Architektur von künstlichen Neuronen und ihren Verbindungen untereinander künstlich herzustellen. AlphaGo wurde durch maschinelles Lernen trainiert und studierte eine große Anzahl von Go-Spielen und lernte dabei Muster in den Spielzügen zu erkennen. Das Programm lernte selbstständig weiter und verfeinerte seine Züge, indem es gegen sich selbst spielte. Der Gesichtsverlust dieser Niederlage für China war sehr groß und vor

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3  Trends und die Dynamik des Wandels

allem merkte die Regierung, dass sie den Anschluss zur Künstlichen Intelligenz gegenüber dem Westen verpasst hatte. Noch in der Neujahrsrede 2017/2018 des Präsidenten Xi Jin­ ping wurde bekannt, dass sich China in Bereichen wie Künstliche Intelligenz, maschinel­ lem Lernen, neuronalen Netzen stark engagieren möchte. Was dann folgte, war der erste Dreijahres-Aktionsplan zur Förderung der Entwicklung einer neuen Generation der Künst­ lichen Intelligenz (2018–2020) und Pläne bis 2030, die Weltführung im Bereich der Künst­ lichen Intelligenz zu erlangen. Schätzungen zufolge, hat die chinesische Regierung zusammen mit privaten Investoren seitdem über 300  Mrd. US-Dollar in KI investiert. Der jährlich publizierte Bericht der Stanford Universität (The AI Index 2022 Annual Report) zeigt, dass China im Jahr 2021 weltweit die Führung bei der Anzahl der KI-Publikationen in wissenschaftlichen Zeit­ schriften und Konferenzen übernommen hat (Zhang et al. 2022). China hat in der kurzen Zeit von 2017 bis 2021 die USA überholt (63 % höheren Anzahl an Publikationen als die USA). Zudem sind die Anzahl der im Jahr 2021 eingereichten KI-Patente mehr als 30-mal höher als im Jahr 2015, was auf eine jährliche Wachstumsrate von 77 % hinweist. Der nächste Schritt im Kontext der Technologiekonvergenz ist, dass sich KI mit Quantum Computing verbindet. Die öffentlichen Forschungsaufwände für Quantum Computing werden auf aktuell 36 Mrd. US-Dollar geschätzt, davon entfallen gut die Hälfte der Aus­ gaben auf China (15 Mrd. US-Dollar), ein Viertel auf die EU und ein Viertel auf die USA und den Rest der Welt (Quereca 2023). Im Jahr 2021 wurde die Quantentechnologie in Chinas jüngste nationale Wirtschaftsstrategie, den 14. Fünfjahresplan, aufgenommen. Chinas Schwerpunkt auf Quantentechnologien spiegelt ein größeres Bestreben wider, bei globalen technologischen Fortschritten eine Führungsrolle zu übernehmen.  Die politi­ schen Bemühungen Chinas unterstreichen die zunehmende Bedeutung und das Interesse an disruptiven Technologien. Einem Bericht des Weltwirtschaftsforum zufolge, werden die Auswirkungen der Quan­ tentechnologie weitreichend sein – von der Cybersicherheit bis zur Arzneimittelentwick­ lung (WEF 2022). Derzeit haben 17 Länder in ein nationales Programm für Forschung und Entwicklung im Bereich der Quantentechnologie investiert, während mehr als 150 Länder dies nicht getan haben. Man kann also davon ausgehen, dass es beim Quantenwis­ sen keine Inklusion absehbar ist und sich eine Kluft zwischen den Ländern, welche diese Technologie als strategisch betrachten und dem Rest der Welt auftun wird. Die KI-­ Weltherrschaft wird bereits jetzt China zugesprochen. Der moralische und technologische Rüstungswettlauf China gegen die USA ist evident und der als Wettbewerbsvorteil einge­ brachte mangelnde Datenschutz in China ist wohl eher nur eine Ausrede der westlichen Welt das Rennen bereits verloren zu haben, wie der Investor und KI-Forscher Kai-Fu Lee in seinem Buch zur Künstlichen Intelligenz als Mittel der neuen Weltordnung bemerkt (Lee 2018). Wie ernst die Lage ist, zeigen auch verschärfte Ausfuhrkontrollen für hoch­ leistungsfähige Halbleitertechnologien nach China (The Economist 2023), zusätzlich zu den Bestrebungen der USA sämtliche Investitionen von US-Bürgern in chinesische KIund Quantum Computing-Unternehmen zu verbieten (Alper 2023). Diese Maßnahmen sind protektionistischer Natur, verschärfen die Lieferkettenproblematik, trüben die globa­

3.2 Markt-Trends

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len Handelsbeziehungen und sind in einem kapitalistischen und offenen Gesellschaftsmo­ dell eher ungewöhnlich. Trendprognosen deuten darauf hin, welche Länder in Zukunft stark wachsen werden. Wachstumsmärkte hingegen werden von Ereignissen getrieben und hängen oft von irrati­ onalen Entscheidungen ab (siehe Sputnik-Schock und Go-Schock). Politische Faktoren haben demzufolge einen bedeutenden Einfluss auf Technologie und Innovation, was auch das nächste Beispiel aufzeigt. In wenigen Jahrzehnten werden Indien, Indonesien, Nigeria und Pakistan zu den größten Ländern gehören und wichtige Volkswirtschaften werden. Diese Länder engagieren sich bereits heute stark mit dem Jahrhundertprojekt der Neuen Seidenstraße und es ist absehbar, dass, wenn Amerika von diesen Ländern eine Ausgren­ zung Chinas verlangt, ohne einen ausreichenden Teil seiner eigenen Märkte zugänglich zu machen, dies wohl eher auf Ablehnung bei den neuen Wirtschaftsmächten stoßen wird.

3.2.5 Die Neue Seidenstraße Im September 2013 startete die chinesische Regierung die Seidenstraße-Initiative (Belt and Road  Initiative), um den Handel mit dem Rest der Welt zu beschleunigen (OECD 2018). Während sich der „Gürtel“ auf die historischen Handelsrouten der Seidenstraße bezieht, die China auf dem Landweg mit Zentralasien, dem Persischen Golf und Europa verbanden, bezieht sich die „Straße“ auf den Seeweg im Süden, der China, Südostasien, Indien und Afrika verbindet. Der Plan sieht sechs Wirtschaftskorridore vor, welche Asien, Europa und Afrika miteinander vereinigen. Ein Netz von Eisenbahnen, Straßen und See­ häfen soll die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen China und Zentral-, Süd- und Westasien beschleunigen. Das übergeordnete Ziel besteht darin, ein Umfeld zu schaffen, das über die wirtschaftliche, handelspolitische und finanzielle Zusammenarbeit hinaus­ geht. Sie umfasst auch die politische Koordination und soll auch die soziale und kulturelle Zusammenarbeit fördern. Auf die rund 100 beteiligten Länder entfallen ein Drittel des weltweiten BIP und zwei Drittel der Weltbevölkerung. Dieses Mega-­Infrastrukturprojekt wird die Handels-, Kapital-, Informations- und Dienstleistungsströme zwischen China und dem Rest der Welt neu definieren. Es wird erwartet, dass die neue Seidenstraße in den nächsten zehn Jahren jährlich 2,5 Billionen US-Dollar einbringen wird. Chinas Präsident Xi Jinping erklärte in einer Grundsatzrede für internationale Zusammenarbeit im Nationa­ len Kongresszentrum in Peking am 14. Mai 2017: „Wir haben nicht die Absicht, eine kleine Gruppe zu bilden, die der Stabilität abträglich ist … was wir damit zu schaffen hoffen, ist eine große Familie des harmonischen Zusammenlebens“ (China Daily 2017). Diese Aussage kann auch dahingehend interpretiert werden, dass China ein unglaublich leistungsfähiges und dominantes Ökosystem aufbaut und steuert, welches den globalen Handel nachhaltig verändern wird. Ein derartiges umfassendes Projekt hat die Welt noch nie zuvor gesehen. Obwohl die Initiative offiziell darauf abzielt, den geordneten freien Fluss aller Arten von Waren und Dienstleistungen und die effiziente Allokation von Res­ sourcen zu fördern, sind Chinas Absichten die Marktintegration und die Schaffung eines

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3  Trends und die Dynamik des Wandels

regionalen wirtschaftlichen Kooperationsrahmens, der seine Wachstumsambitionen unter­ stützt. Die Initiative scheint zu groß zu sein, um zu scheitern, und wird unbestreitbar enorme Auswirkungen auf Gesellschaft, Wirtschaft und Politik für das 21.  Jahrhundert haben. Dazu muss man wissen, dass das Projekt längst kein rein wirtschaftliches Vorhaben mehr ist. Seit 2020 geht die chinesische Regierung gezielt militärische Kooperationen ent­ lang der Neuen Seidenstraße ein, einschließlich des Baus von Marinebasen im indischen Ozean, in Pakistan und Afrika und der Installation von Raketenabwehrsystemen entlang der Seidenstraße. Diese Initiative verändert auch den Finanzsektor und kann zu einer finanziellen Regio­ nalisierung führen – ein Gegentrend zum globalen Finanzmarkt. Der Wettbewerb in stark wachsenden Regionen und neue spezielle Anforderungen an das Bankwesen rund um die neue Seidenstraße werden einige Geschäftsmodelle etablierter ausländischer Banken ob­ solet machen. Dies führt zu einem Strukturwandel, bei dem international tätige Firmenund Geschäftsbanken die Region verlassen. Der Grund dafür ist, dass kommerzielle Ge­ schäfte, wie Cash Management, Kredite und gewerbliche Hypotheken, Eröffnung und Verwaltung von Privat- und Girokonten und länderspezifische Zahlungslösungen besser von lokalen Anbietern mit einem regionalen Netzwerk und spezifischen und kulturellen Kenntnissen in Bezug auf abweichende regulatorische Fragen angeboten werden können. Wie in China bereits üblich, können solche Aufgaben auch von Fintechs oder Nichtbanken erbracht werden. Die Anwendung neuester Technologien ist immer dann eine große Chance, wenn es an Infrastruktur mangelt. In den meisten Ländern entlang der neuen Sei­ denstraße gibt es Potenzial für die Entwicklung finanzieller Inklusion mit Online-Banken, mobilen Diensten und anderen digitalen Tools. Da viele Regionen schlecht erschlossen sind, müssen keine Parallelinfrastrukturen aufgebaut oder Altlasten (legacy systems) be­ rücksichtigt werden. Den Kunden – einige mit neuem Reichtum – geht es nur darum, effi­ zient, sicher und bequem Finanztransaktionen abzuwickeln.

3.2.6 Finanzielle Inklusion durch digitale Banken Da Veränderung und Transformation nicht dasselbe sind, ist nicht in jedem Fall eine bahn­ brechende technologische Innovation erforderlich (siehe Kap. 1). Innovative Geschäfts­ modelle können auch auf vorhandenen Technologien aufbauen. Eine Disruption kann also darin bestehen, dass neue Marktteilnehmer mit Kerngeschäft außerhalb der Branche die traditionellen Geschäftsmodelle von etablierten Unternehmen stören und im Laufe der Zeit verdrängen. In China wurden MyBank von Alibaba und WeBank von Tencent als erste Digitalbanken 2015, respektive 2014 eingeführt. Das Ziel dieser Neobanken ist es, die von etablierten Großbanken vernachlässigten Märkte für sich zu gewinnen und so von unten herauf langsam in andere Kundensegmente vorzustoßen und Marktanteile zu gewin­ nen. WeBank gilt unterdessen als größte Digitalbank der Welt und ist 21 Mrd. US-Dollar wert (CBInsights 2023). 2021 generierte die Bank mit 2000 Mitarbeitern und über 200 Mio. Kunden, unter anderem, mit ihrem Ableger WeiLiDai für Mikrodarlehen einen

3.2 Markt-Trends

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Umsatz von vier Milliarden US-Dollar und weist verwaltete Vermögen von 145  Mrd. US-Dollar aus. MyBank ist eine der vielen Spin-offs der Ant Group und stark mit den Ökosystemen von Alibaba verzahnt. Die Bank vergibt Kredite an kleine und mittlere Un­ ternehmen in ländlichen Gegenden und zählt über 20 Mio. Firmenkunden. Der Bonitätsund Kreditvergabeprozess ist komplett digital und basiert auf künstlicher Intelligenz, womit ein Kreditentscheid innerhalb weniger Minuten gefällt werden kann. Beide Neoban­ ken wuchsen in den letzten Jahren jährlich um 40 %. Gemeinsam ist die Geschäftsidee: weniger privilegierte Menschen überall zu erreichen und mit Kleinstbeträgen in das for­ melle Finanzsystem einzubeziehen. Dies wurde lange von den meisten etablierten Ge­ schäftsbanken in China nicht ernst genommen. Das verwundert, denn heute leben die Hälfte aller Erwachsenen (zwei Milliarden Menschen) außerhalb des Finanzsystems und erledigen ihre Geschäfte ausschließlich mit Bargeld. Digitale Banken und Zahlungen sind eine Möglichkeit zur finanziellen Inklusion (siehe Kap.  5). So können weltweit viele Leben verbessert und Wirtschafts- und Sozialsysteme gestärkt werden. Auch die Vereinten Nationen sehen finanzielle Inklusion als ein wichtiges Mittel zur Erreichung der 17 globa­ len Nachhaltigkeitsziele (UNRIC 2023). Zum besseren Verständnis muss man wissen, dass China heute die größte mobile Be­ völkerung der Welt hat und dass es immer noch an Bankangeboten für Verbraucher von E-Commerce- und mobilen Lösungen mangelte. Die schnelle Akzeptanz mobiler Zah­ lungslösungen durch die große Zahl chinesischer Verbraucher spielte den E-Commerceund Technologieunternehmen in die Hände, die über ihre Internetplattformen bereits Hunderte von Millionen Konsumenten  bedient. Das Potenzial ist riesig, und so über­ rascht es nicht, dass Ant Group, ein Fintech mit rund einer Milliarde Kunden, zeitweise doppelt so hoch bewertet wurde, wie beispielsweise Goldmann Sachs oder eine höhere Marktkapitalisierung hat als alle Banken in Deutschland, der Schweiz und Österreich zu­ sammen. Neobanken haben Innovation und Technologie gezielt eingesetzt, um ihr Wachs­ tum anzukurbeln. Sie nutzten digitale Plattformen und den Netzwerkeffekt, um ihr Ge­ schäft anzukurbeln, während die etablierten Unternehmen über Jahrzehnte hinweg auf der Grundlage langfristiger Geschäftsplanung wuchsen. Infolgedessen entsteht exponen­ tielles Wachstum der Disruptoren durch Hyperskalierbarkeit mit Millionen von Kunden, die innerhalb weniger Jahre leicht zu gewinnen waren, weil Großbanken etliche Märkte vernachlässigten. Solche neuen Akteure können bis zu einem gewissen Grad auf die Unterstützung der Regierung in ihrem Heimatmarkt zählen, welche mit Programmen wie der Neuen Sei­ denstraße zusätzliche Geschäftsmöglichkeiten bieten. Sie haben sogar das Potenzial durch globale Expansion in Europa angestammte Banken zu verdrängen. Bekannt ist Bill Gates’ Vision, dass die Technologie oder ein Technologieriese die traditionellen Geschäftsmo­ delle der Banken verändern wird (Gates 1995). Die Aussage „Banking is necessary, banks are not“ könnte theoretisch mit digitalen Innovationen Realität werden. Was Bill Gates nicht voraussah, ist, dass die neuen Marktteilnehmer im Bankwesen, die die stationären Banken überflüssig machen könnten, aus China und nicht aus dem Silicon Valley kom­ men. Auch waren damals Unternehmen überzeugt, dass sie alles aus eigener Kraft leisten

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3  Trends und die Dynamik des Wandels

müssen – Open Innovation und Ökosysteme gab es in diesem Sinne noch nicht. Banken werden auch deshalb weiter notwendig sein, weil sie, im Gegensatz zu Fintechs, im Rah­ men von Finanzmarktgesetzen reguliert sind. Kunden brauchen digitale, bequemere und transparentere Produkte und Dienstleistungen. Entsprechend werden Finanzdienstleistun­ gen über digitale Plattformen integriert und neu gebündelt (siehe embedded services). In Zukunft gibt es wohl eher eine Koexistenz alter und neuer Geschäftsmodelle und ver­ mehrte Zusammenarbeit großer und traditioneller Banken mit Technologiefirmen und Fin­ techs in Ökosystemen.

3.3 Technologie-Trends 3.3.1 Der Siliziumchip als Basistechnologie Als John Bardeen, Walter Brattain, und William Shockley von den Bell Labs, 1947 den Transistor erfanden (Antébi 1983), dauerte es bekanntlich noch zehn Jahre bis die Phasenschieber-­Oszillatorschaltung, später bekannt unter dem Integrierten Schaltkreis (IC), von Jack Kilby von Texas Instruments erfunden wurde (MIT 2023). Ein Transistor ist ein elektronisches Halbleiter-Element aus Silizium, welcher als Ein- und Aus-Schalter dient. Aufgrund der Einfachheit der zwei möglichen Zustände (0 oder 1) bildete sich da­ raus das Binärsystem als Grundlage für die Verarbeitung digitaler Informationen. Nach­ dem alle ihre Nobelpreise erhielten, haben in den 1970er-Jahren Innovationen im Bereich der Computerindustrie für einen wirtschaftlichen Aufschwung gesorgt. Heute basieren alle herkömmlichen Computer auf dem Binärsystem und verwenden den IC als Informa­ tionsspeicher. Die nach Schumpeter benannte Basistechnologie, in diesem Fall der Mikro­ prozessor, hat den 5. Kondratieff-Zyklus initiiert, in dem sich die Menschheit immer noch befindet. Seit nunmehr fast 50 Jahren wächst die Rechenleistung exponentiell, was Inno­ vationen vorantreibt und neue Geschäftsmöglichkeiten hervorbringt. Die Erstellung eines DNA-Profils kostete 2007 10 Mio. US-Dollar und heute weniger als 100 US-Dollar und das in einem Bruchteil der Zeit (School of Disruption 2023). Ein iPhone 12 hat die 100.000-fache Rechenleistung des Apollo-Guidance-Computers (AGC), der vor 50 Jahren die Mondlandung der Apollo 11 ermöglichte. Berechnungen der Universität Nottingham zeigen, dass entsprechend mit einem iPhone 12 120  Mio. Mondlandungen gleichzeitig bewältigt werden könnten (Kendall 2019). Als erster Com­ puter der Siliziumchips verwendete erfüllte der AGC mit 4100 Mikrochips seine Mission. Im Vergleich: ein iPhone 13 besteht aus 15 Mrd. Transistoren, basierend auf der 5 Nano­ meter Chipgeneration der Taiwanesischen Firma TSMC. Der herkömmliche Intel Com­ puterchip (CPU) konnte nur sequenziell arbeiten und war mit zehn Gleitkommaoperatio­ nen pro Zyklus für statistische Modelle geeignet. Er wich sogenannten Grafical Processing Units (GPU), die parallel prozessieren und bereits 10.000 Operationen schaffen. In der Praxis bedeutet dies, dass für die Berechnung eines neuronalen Netzwerkes, welches mit 15  Mio. Bilder trainiert, herkömmliche CPU’s sechs Tage brauchen, während der

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Nvidia GPU für die gleiche Arbeit 18 Minuten benötigt. Die jüngste parallele Chiparchi­ tektur von Google kommt mit der Tensor Processing Unit (TPU) auf 130.000 Operatio­ nen, was bei neuronalen Netzen und maschinellem Lernen Arbeitslasten drastisch ver­ kürzt. Diese Tensor-Prozessoren wurden auch 2017 eingesetzt, als AlphaGo Zero das Brettspiel Go zuerst selbst erlernte (Deep Learning) und dann den amtierenden Welt­ meister Ke Jie aus China besiegte. Meta setzt auf die neuste GPU-Architektur von Nvidia und betreibt seit Ende 2022 ein KI-Forschungs-Rechenzentrum in den USA, den Research SuperCluster (RSC) mit 16.000 parallel arbeitenden GPU’s, der im Endausbau 5 Exaflops (Gleitkommaoperatio­ nen pro Sekunde) erreichen soll (Lee und Sengupta 2022). Der derzeit schnellste Super­ computer Fugaku aus Japan liefert 442 PetaFlops. Damit wäre das RSC leistungsfähiger als die schnellsten 500 Computersysteme der ganzen Welt zusammen. Der RSC soll in der ersten Phase für das Training von großen Modellen für Natural Language Processing (NLP) und später als zentrales System für das Metaverse eingesetzt werden. Ein Ziel ist die simultane Übersetzung von hunderten Millionen von Metaverse-Teilnehmern aus der ganzen Welt und natürlich ihre gleichzeitigen Bewegungen in den verschiedenen virtuel­ len Welten zu steuern. Interessantes Detail ist dabei, dass das RSC auf proprietärer Silizi­ umtechnologie basiert und vom regulären Internet entkoppelt ist.

3.3.2 Die Konvergenz von Schlüsseltechnologien Digitale Technologie definieren gerade viele Branchen neu, und obwohl sich viele Unter­ nehmen bereits seit zehn Jahren im Umbruch befinden, kommt es erst in jüngster Zeit zu einem Zusammentreffen mehrerer Schlüsseltechnologien, die alle gleichzeitig zum Einsatz kommen. Dies führt zur Technologiekonvergenz. Da das Ganze mehr ist als ein einzelner technologischer Fortschritt, ist dieses Phänomen zwangsläufig transformativ. Ein Grund für diese Annahme ist, dass technologische Innovationen in den letzten Jahren den Druck zum strategischen Wandel in vielen Unternehmen beschleunigt haben. Während diese Verände­ rungen meist auf inkrementelle Innovationen und betriebliche Effizienz ausgerichtet waren, bestätigen etliche Beobachtungen, dass Start-ups, sich digitale Technologien zu eigen ma­ chen und entschlossen versuchen damit Geschäftsmodelle etablierter Unternehmen anzu­ greifen. Viele Aktivitäten dienen als Hebel zur Steigerung der betrieblichen Effizienz. Die Notwendigkeit von Transaktionsverarbeitung, Marktintelligenz, Echtzeitszenarien und -ana­ lysen oder Risiko- und Chancenbewertung in Verbindung mit anderen Geschäftsaktivitäten beruht auf Technologie, Partnerschaften und Plattformen, die in neuen Geschäftsmodellen verortet sind. Das Geschäftsmodell bildet dabei das kognitive Element, welches technische Aspekte von Produkten und Dienstleistungen in ­Geschäfts- und Kundenwert umwandelt. Der gezielte Einsatz von digitalen Technologien kann neue Wege aufzeigen, wie man tradi­ tionelle Prozesse umgehen kann, um Zugang zu Endkunden zu erhalten. Mit diesem Ansatz haben beispielsweise die erwähnten Digitalbanken MyBank und WeBank die profitabelsten

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3  Trends und die Dynamik des Wandels

Elemente der Wertschöpfungskette chinesischer Großbanken angegriffen, konkret Vermö­ gensverwaltung, Kreditvergabe und mobile Zahlungen. „Technologiekonvergenz tritt auf, wenn verschiedene Technologien miteinander verknüpft werden, um eine Innovation zu erzeugen, die effektiver ist als die isolierte Nutzung der ein­ zelnen Technologie.“

Es gibt etwa zehn relevante Schlüsseltechnologien, welche aber alle in einem unter­ schiedlichen Reifegrad zueinanderstehen. Die Verbreitung und die Einsatzgebiete variie­ ren stark. Einige Technologien gelten eher in der Dienstleistungsbranche als Zu­ kunftstechnologien, andere eher in der produzierenden Industrie. Auch die Region, das Volkseinkommen oder Staats- und Gesellschaftsform bestimmen die Forschung und Ent­ wicklungstätigkeiten. Die Schlüsseltechnologien, welche die School of Disruption (2023) exponentielle Technologien nennt, sind: Blockchain, Künstliche Intelligenz, Virtual/Aug­ mented Reality, Drohnen, Robotik, 3D-Druck, Internet of Things, 5G, Cloud- und Quan­ tum Computing. Derivate davon sind meistens Anwendungen, welche relevant in einer Branche sind. So sind in der Automobilbranche autonomes Fahren, Brennstoffzellen oder die Batterietechnik für die Zukunft interessant und für den Gesundheitssektor Mikro­ biome und neue Impfstoffe. Technologien wie Blockchain, Künstliche Intelligenz, Virtual/ Augmented Reality, Cloud- und Quantum Computing wirken sektorübergreifend, weshalb ein Fokus auf diese Schlüsseltechnologien gelegt wird.

3.3.3 Generative Künstliche Intelligenz Innerhalb des Forschungsgebietes der Informatik erkennt die Wissenschaft kognitive Tech­ nologien als eine Teilmenge der Künstlichen Intelligenz (KI), worunter maschinelles Ler­ nen (ML) und Deep Learning (DL) fallen. Gemäß Definition der School of Disruption (2023) ist Künstliche Intelligenz die Fähigkeit eines Computerprogramms oder einer ­Maschine wie ein Mensch zu denken, und maschinelles Lernen verleiht Maschinen die Fä­ higkeit, aus Beispielen zu lernen, ohne ausdrücklich dafür programmiert zu werden. Deep Learning ist eine spezielle ML-Technik, die das Verhalten des menschlichen Gehirns nachahmt und es Maschinen ermöglicht, sich selbst für die Ausführung von Aufgaben zu trainieren. Während KI für Computer Vision, Data Mining, maschinelles Lernen, Verarbei­ tung natürlicher Sprache, Robotik, Muster- und Spracherkennung steht, geht das kognitive Computing noch weiter und kombiniert diese Methoden mit der Kognitionswissenschaft, um durch das Verständnis des menschlichen Gehirns und seiner Funktionsweise auf natür­ liche Weise mit dem Menschen zu interagieren. Durch selbstlernende Algorithmen lernen kognitive Computersysteme, Probleme zu lösen und Aufgaben auszuführen, die normaler­ weise menschliche Intelligenz erfordern. Produkte sind IBM Watson, Amazon Alexa, Al­ phaGo oder ChatGPT.  Mit der explosionsartigen Adoptionsrate und Popularität von ChatGPT 2022, hat die sogenannte generative Künstliche Intelligenz (GKI) globalen Be­

3.3 Technologie-Trends

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kanntheitsgrad erlangt. Dabei handelt es sich um eine spezifische Form der KI, welche in der Lage ist, neue Inhalte oder Daten zu generieren, indem sie eine bestehende Musterer­ kennung und -analyse verwendet. Im Gegensatz zu anderen Formen der KI, die darauf ausgelegt sind, bestimmte Aufgaben zu erfüllen oder Entscheidungen auf der Grundlage von Daten zu treffen, konzentriert sich die GKI auf die kreative Verarbeitung und Generie­ rung von Daten. GKI verwendet in der Regel Deep Learning und neuronale Netze. Ein weiteres gutes Beispiel neben dem Textgenerierungssystem ChatGPT ist der DeepDream-­ Algorithmus von Google. Dieser ist in der Lage, Bilder zu generieren, indem er neuronale Netze verwendet, um bestehende Muster in Bildern zu erkennen und dann neue Bilder auf der Grundlage dieser Muster zu generieren. GKI hat viele Anwendungen, darunter in der Kunst, der Musik, der Literatur und in der Geschäftswelt, wo sie zur Generierung von Inhalten wie Marketingmaterialien, Produkt­ beschreibungen und E-Mails eingesetzt werden kann. Es gibt jedoch auch Herausforde­ rungen und Bedenken hinsichtlich der Verwendung von GKI, einschließlich der mögli­ chen Verbreitung von Fehlinformationen und der Ethik bei der Erstellung von Inhalten, die menschlicher Erstellung ähnlich sind. Insgesamt bietet die generative Künstliche Intelli­ genz eine Möglichkeit, neue und kreative Inhalte zu generieren und zu erstellen. Durch die Kombination von Mustererkennung und kreativer Verarbeitung kann die GKI ein wertvol­ les Instrument zur branchenunabhängigen Zusammenarbeit in Ökosystemen sein. In der Medien- und Unterhaltungsbranche könnte ein Ökosystem eine Plattform bereitstellen, auf der Benutzer auf eine Vielzahl von Medieninhalten zugreifen können, während ein GKI-System auf der Grundlage von Mustern in den Benutzerdaten neue, einzigartige In­ halte generiert. Diese Inhalte können dann den Kunden neue, spannende Erlebnisse bieten und das Engagement und die Zufriedenheit der Benutzer steigern. Im Bereich personali­ sierter Empfehlungen könnte GKI diverse Daten aus dem Internet zusammentragen, diese mit Trendprognosen abgleichen und so proaktiv Kundenwünsche ansprechen. Erste GKI-Systeme sind bereits in Ökosysteme in Form virtueller Assistenten oder Chatbots in­ tegriert. Es herrscht in der Bevölkerung immer noch etwas Angst, wenn es um Künstliche In­ telligenz geht. Im Roman „Brave New World“ von 1932 macht der Autor Aldous Huxley einen bemerkenswerten Ausflug ins Jahr 2540 (Huxley 1932). Er beschreibt in seinem Roman eine Welt, in der es gelungen ist, mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz und künstlicher Fortpflanzung sowie mit Konditionierung und Indoktrination eine perfekt funktionierende Gesellschaft zu züchten, wobei die Menschen physisch und psychisch ihrer zukünftigen Funktion im Staat angepasst werden. Es gibt Länder, die erste Schritte in diese Richtung machen. China betreibt bereits eine umfassende Überwachung ihrer Bürger, indem sie jegliche Daten sammelt und durch Künstliche Intelligenz auswertet. Neben der Überwachung können Datenakkumulation und prädiktive Analysefähigkei­ ten zu neuen Geschäftsmodellen und Wettbewerbsvorteilen führen. Solche Anwendun­ gen der Digitalisierung werden in der westlichen Welt aktuell kritisch hinterfragt und diskutiert.

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3  Trends und die Dynamik des Wandels

3.3.4 Cloud Computing Die sogenannte Cloud ist, entgegen der häufig vertreten Ansicht, kein Ort, vielmehr eine Menge an technischen und kommerziellen Prinzipien und Merkmalen, die es Unterneh­ men erlauben, ihre digitalen Dienstleistungen in nie dagewesener Geschwindigkeit kosten­ effizient auf den Markt zu bringen. Ganze Branchen werden umgekrempelt und neu ge­ dacht, oft auch von Start-ups, die die Cloud als Innovationstreiber verstehen und dank ihr auf Augenhöhe mit etablierten Marktteilnehmern konkurrieren können. Laut Berichten der Marktforschungsunternehmen Gartner und Forrester werden bis 2025 mehr als 95 % der neuen digitalen Arbeitslasten auf Cloud-Plattformen bereitgestellt werden, gegenüber 30  % im Jahr 2021 (Gartner 2022; Forrester 2022). Das totale Ausgabevolumen für Cloud-Leistungen wird demzufolge auf weit über eine Milliarde US-Dollar ansteigen. Woraus aber bestehen die nun eingangs erwähnten Prinzipien und Merkmale? Alibaba Cloud hat dazu drei Dimensionen (Verantwortlichkeiten, Kostenverlagerung und Ressourcen-­ Provisionierung und -verwaltung) beschrieben, welche im Abschnitt IT-Dienstleistungserbringung kurz erläutert werden (Arafat 2022).

3.3.4.1 IT-Dienstleistungserbringung Die Art und Weise, wie eine cloud-basierte IT-Dienstleistung erbracht, geplant, konsu­ miert und abgerechnet wird, unterscheidet sich fundamental von der einer traditionellen IT-Dienstleistung. Gartner (2023) hat hierfür den Begriff der bimodalen IT geprägt. Mode 1 bezeichnet hierbei eine Strategie, die sich auf einen linearen und vorhersagbaren Ansatz fokussiert, bestehende IT-Landschaften zu verwalten. Mode 2 steht für einen explorativen und experimentierfreudigen Ansatz, um das Potenzial der digitalen Transformation voll auszuschöpfen. Drei wesentliche Aspekte mit weitreichenden Implikationen unterschei­ den die beiden Strategien und Dienstleistungen. Das Prinzip der geteilten Verantwortlichkeit ist relevant für die Sicherheit der Cloud und die Sicherheit in der Cloud. Ersteres liegt in der Verantwortung des Cloud-Anbieters. Dies beinhaltet Aspekte der Rechenzentrumsicherheit, wie Gebäude- und Brandschutz sowie Betrieb und Wartung der physischen Rechen-, Speicher- und Netzwerk-Ressourcen. Die Sicherheit in der Cloud liegt in der Verantwortlichkeit des Kunden. Dazu gehören bei­ spielsweise der Betrieb und die Wartung der selbstentwickelten digitalen Dienstleistun­ gen, aber auch das Authentifizierungs- und Autorisierungs-Konzept sowie die Umsetzung der jeweiligen Datenschutz-Regularien. Diese Aufteilung von Verantwortlichkeiten er­ möglicht es Firmen, sich mehr den eigenen Kern-Kompetenzen zu widmen. Die Innovati­ onskraft wird maßgeblich erhöht, da mehr Zeit und Ressourcen für Leistungen erbracht werden können. Dies schlägt sich in aller Regel in einer stärkeren Differenzierung des ei­ genen Marktangebots nieder. Diese Aufteilung von Verantwortlichkeit ist keine klar defi­ nierte Linie und variiert. Dies zeigt sich zum Beispiel in den verschiedenen Taxonomien von Cloud-Services. Häufig genannt werden hierbei Infrastructure as a Service (IaaS), Platform as a Service (PaaS) und Software as a Service (SaaS). Gemäss Arafat (2022) ist das wesentliche Unterscheidungsmerkmal die Grenze der Verantwortlichkeiten im IT-­

3.3 Technologie-Trends

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Betrieb, die es abzuwägen gilt gegen Flexibilität. Als Faustregel gilt, je mehr Flexibilität, desto mehr Verantwortung auf der Seite des Kunden. Das Höchstmaß an Flexibilität kann auf IaaS hergestellt werden, ein Minimum an operativer Verantwortung erfährt ein Kunde mit SaaS. Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist die Kostenverlagerung von den Investitionsausga­ ben zu den Betriebsausgaben eines Unternehmens durch den Einsatz von Cloud-­ Technologie. Durch die Umstellung reduzieren sich die Investitionsausgaben deutlich, weil auf Teile der physischen Infrastruktur, wie zum Beispiel Server, Festplatten, und Ser­ verräume, verzichtet werden kann. Diese Ausgaben verlagern sich außerdem nicht zwangs­ läufig in gleicher Höhe auf die Betriebskosten, denn ein weiterer Vorteil von Cloud-­ Lösungen ist deren bedarfsgerechte Skalierbarkeit und oft sekundengenaue Abrechnung. So kann zu Zeitpunkten eines hohen Bedarfs mehr Kapazität hinzugebucht werden, und bei niedrigerem Bedarf Kapazität einfach verringert werden. Nicht zuletzt lässt sich durch Cloudnutzung das Investitionsrisiko senken, denn anfänglich hohe Investitionsausgaben fallen erst gar nicht an. Dies hat eine erhöhte Innovationskraft in Unternehmen zur Folge, da ein geringeres finanzielles Risiko in der Regel eine experimentierfreudigere Firmenkul­ tur zur Folge hat. Als dritter und letzter Aspekt ist die Schnittstelle für die Ressourcen-Provisionierung und -verwaltung zu nennen. Diese ist in cloud-basierten Plattformen eine maschinen-­ lesbare Schnittstelle, die über ein privates oder öffentliches Netzwerk zu erreichen ist. Ein manuelles Ausfüllen von Bestellungsformularen, oder ein Öffnen eines entsprechenden IT-Liefertickets ist nicht vorgesehen. Dies hat weitreichende Konsequenzen in der Art und Weise, wie Software und IT-Landschaften in der Cloud gebaut, betrieben und gewartet werden. Ein Höchstmaß an Automatisierung ist die Folge, mit deren Auswirkungen sich der nächste Abschnitt beschäftigt.

3.3.4.2 Cloud-Native Unter cloud-native versteht Alibaba Cloud einen Ansatz, um Softwareanwendungen zu entwickeln, die speziell auf Cloud-Infrastrukturen zugeschnitten sind und die Flexibili­ tät, Skalierbarkeit und Ausfallsicherheit der Cloud nutzen (Alibaba Cloud 2023). Er um­ fasst verschiedene Tools, Techniken, und Methoden, die von Softwareentwicklern ver­ wendet werden, um Anwendungen für die Cloud zu erstellen (Arafat 2023). Eines der Hauptmerkmale ist ein hoher Grad der Automatisierung, um den Administrationsauf­ wand einer Anwendung zu minimieren und die operationelle Exzellenz zu erhöhen. Selbstheilende und selbstständig skalierende Systeme sowie automatisierte und repro­ duzierbare Bereitstellungen von Diensten und Applikationen sind Merkmale von cloud-native basierten Umgebungen. Dies ist kein Selbstzweck, sondern dient vornehm­ lich einem ganz bestimmten Ziel: Die Feedback-Schleife zwischen Kunden und Fachab­ teilungen zu verkürzen und somit digitale Serviceleistungen genauer und schneller an die realen Kundenanforderungen anpassen zu können. Das kontinuierliche Veröffentli­ chen und Bereitstellen neuer Software-­Versionen bedingt ein hohes Maß an Automati­ sierung und der Fähigkeit, beobachten und verstehen zu können, wie eine Applikation

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3  Trends und die Dynamik des Wandels

von Kunden genutzt wird, was von ihnen angenommen wird, was abgelehnt wird, und was verbesserungswürdig ist. Je schneller diese Feedback-Schleife abgebildet werden kann, desto besser sind die Chancen, die konkreten Bedürfnisse eines Kunden mit dem richtigen Produkt zur richtigen Zeit adressieren zu können, und damit einen Wettbe­ werbsvorteil erarbeiten zu können. Cloud-­Plattformen bieten hierfür den idealen techni­ schen Unterbau.

3.3.4.3 Cloud-basierte Ökosysteme Cloud-Plattformen als reine Anbieter von Diensten im Bereich IaaS, PaaS, und SaaS an­ zusehen, greift zu kurz. Eine Betrachtung als eigenständiges und komplexes Ökosystem aus IT-Diensten und Dienstleistern, Lösungen und Lösungsanbietern, Kunden, Partnern, Consultants, und Entwicklern ist angebrachter. Hierbei ist die Cloud-Plattform als zentra­ les Drehkreuz zu verstehen, um das sich alles andere anordnet und orientiert. Lösungsan­ bieter, wie beispielsweise SAP, bringen hierbei wiederum ihr eigenes Ökosystem mit, so­ dass sich vielfältige Überschneidungen ergeben können. Lösungsanbieter können ihre An­ gebote auf digitalen Marktplätzen der jeweiligen Cloud-Plattform für ihre Endkunden verfügbar machen. Sie können aus einem zentralen Katalog unterschiedlichste Lösungen und Produkte von Drittanbietern wählen, die für die Cloud-Plattform angepasst und unter­ stützt werden. Die Installation sowie die Abrechnung von Ressourcen und gegebenenfalls Lizenzen erfolgt hierbei zentral über den Cloud-Anbieter selbst. Beratungsleistungen wie­ derum können für die Millionen Kunden aus unterschiedlichsten Branchen und Regionen nicht allein von den Cloud-Plattform-Anbietern geleistet werden. Ein breit aufgestelltes Consulting- und Partnernetzwerk ist somit unabdingbar für den Erfolg der jeweiligen Cloud-Plattform. Auf diese Weise ermöglicht ein derart vielschichtiges Ökosystem eine gewinnbringende Situation für alle Beteiligten, und ermöglicht die gegenseitige Partizipa­ tion an den verschiedenen Kundenstämmen. Obwohl, wie eingangs erwähnt, die Cloud kein Ort ist, verlangen Regularien der Da­ tensouveränität, wie die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO 2023), die Einhaltung be­ stimmter Vorgaben hinsichtlich der Datenlokalität, insbesondere von personenbezogenen Daten. Insofern ist es keine Überraschung, dass Cloud-Anbieter ihre Dienste und Lösun­ gen in unterschiedlichen Regionen und Ländern in dedizierten lokalen Rechenzentren an­ bieten. Anbieter, wie Alibaba Cloud, tun dies in aktuell über 28 Regionen weltweit, darun­ ter USA, Deutschland, UK, Japan, Indien, Thailand, und China, um nur einige zu nennen. Wichtig hierbei ist hervorzuheben, dass Cloud-Anbieter dies gemäß den lokalen Regula­ rien und Gesetze tun, was regelmäßig von unabhängigen Auditoren bestätigt wird. Das Vertrauen der Kunden in die Cloud-Anbieter, ihre Daten vertraulich und gemäß den loka­ len Gesetzen und Regularien zu behandeln, ist zentraler Bestandteil des Business-Modells von Cloud-Anbietern. Und dennoch gibt es unterschiedliche Gründe, warum Unterneh­ men nicht alle Daten und Applikationen in die Public Cloud migrieren wollen. Gerade in hochregulierten Branchen wie der Finanz- oder auch Rüstungsindustrie stehen dem in Tei­ len gewisse rechtliche und geopolitische Bedenken entgegen. In anderen Fällen mag dies einem generellen Mangel an Vertrauen geschuldet sein oder einem vermeintlichen Kon­

3.3 Technologie-Trends

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trollverlust. Aus diesem Grund haben sich verschiedene Formen des Cloud Computing etabliert, mit denen unterschiedliche Anforderungen hinsichtlich Mandantenfähigkeit, Datenhaltung, Isolation, und Redundanz abgebildet werden können. Grundsätzlich teilt man diese Ausprägungen ein in Public Cloud, Privat Cloud, Hybrid Cloud, und Multi Cloud. Im Gegensatz zu Public Cloud, ist eine Privat Cloud in der Regel nicht über ein öf­ fentliches Netzwerk erreichbar und wird für nur einen Mandaten betrieben. Man teilt sich also keine physischen Ressourcen mit anderen Kunden. Der Betrieb dieser Privat Cloud kann dabei von einem Drittanbieter geleistet werden oder auch von der eigenen IT-Abtei­ lung. Viele Public-Cloud-Anbieter bieten ihre Cloud-Services auch auf dedizierten Hard­ waregeräten an, die dann in Eigenregie betrieben werden können. Bei Bedarf können sie auch in Public-Cloud-Dienste integriert werden können, um beispielsweise Lastspitzen schnell ausgleichen zu können. Bei solchen Integrationen von Private Cloud oder auch tra­ ditionellen Vor-Ort-Umgebungen mit einer Public Cloud spricht man von Hybrid-Cloud. Sieht man sich die Cloud-Strategie von mittelständischen und internationalen Großunter­ nehmen an, so findet man zudem oft eine Multi-Cloud-Strategie vor. Häufig ist der Grund, dass die unterschiedlichen Cloud-Anbieter unterschiedliche Stärken haben. So kann für die jeweilige Applikation die beste Cloud-Plattform gewählt werden. Geopolitische Erwägungen sind oft einer der Hauptgründe, um Daten in der Cloud zu halten und vor allem auf mehrere Cloud-Plattformen zu setzen, um die Abhängigkeit von einem Anbieter oder auch Legislatur zu minimieren. Viele Anwendungen, wie beispiels­ weise Metaverse, werden ausschließlich auf Servern in verschiedenen Rechenzentren über den ganzen Globus in der Cloud betrieben. Wie dargelegt, hat dies neben der skalierbaren und zugänglichen Infrastruktur für Benutzer viele Vorteile für die Betreiber, wie die Nut­ zung von Cloud-Diensten für die Analyse von großen und verteilten Datenvolumen mittels KI und ML.

3.3.5 Quantum Computing 3.3.5.1 Die Leistungsgrenzen sind erreicht Der Mitgründer von Intel, Gordon Moore, hat die Kapazitätssteigerungen in der Compu­ terindustrie bereits vor 50 Jahren erfasst und erklärte, dass sich durch eine empirische Re­ gelmäßigkeit die Zahl der Transistoren in integrierten Schaltkreisen alle zwei Jahre ver­ doppelt. Zusammengefasst ist das Moore’sche Gesetz nur eine Faustregel, wobei alle rund 18 Monate eine neue Chip-Generation auf den Markt kommt, die halb so viel Platz benö­ tigt, halb so teuer ist und dabei doppelte Rechenleistung erbringt. Um die Leistung zu stei­ gern, müssen daher zwangsläufig immer mehr Mikroprozessoren auf der gleichen Fläche untergebracht werden. Mit dieser exponentiellen Funktion war die digitale Revolution ein­ geleitet worden. Wie jede exponentielle Entwicklung, stößt diese irgendwann an eine Grenze. Stellen wir uns einen Teich, der nach und nach von Seerosen überwuchert wird vor. Jeden Tag verdoppelt sich die Anzahl der Seerosen. Wenn eines Tages die Hälfte des Teichs bedeckt ist, wie viel Zeit wird dann benötigt, bis er vollständig voller Seerosen ist? Natür­

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3  Trends und die Dynamik des Wandels

lich nur ein weiterer Tag! Das Gedankenbeispiel mit den Seerosen kann man als Vergleich für die Miniaturisierung von Mikroprozessoren sehen. Theoretisch müssten sie sich bei jeder Leistungsverdopplung in ihrer Größe halbieren. Somit wäre nie der gesamte „Platz“ aufgebraucht, ähnlich wie der Teich, der niemals völlig mit Seerosen bedeckt wäre. Doch wie die Seerosen an ihre Grenzen stoßen und das Ökosystem aus der Balance heben, so er­ reicht auch die stetige Steigerung der Computerleistung irgendwann ihre Limits. Da der Transistor nach quantenphysikalischen Prinzipien arbeitet, können diese Ef­ fekte genutzt werden. Im Wesentlichen geht es darum, mit einem Atom Strom zu lenken. Es gibt Versuche einen möglichst kleinen Prozessor (Nanocomputer) mit Siliziumtech­ nologie herzustellen und auch Anwendungsbeispiele sind genügend vorhanden. So könnten Nanobot in den Blutkreislauf eingeschleust werden, um dort vor Ort und in Echtzeit Analysen von Blutwerten durchzuführen. Wenn nun ganze Schwärme mit einer Pille geschluckt werden, könnten diese Nanocomputer vielleicht das Cholesterin im Blut aufspalten, Nierensteine eliminieren oder Krebszellen bekämpfen. Die Forschung ist hier noch in den Anfängen. Aktuell befindet sich die Halbleitertechnologie kurz vor dem Moment, wo weitere Verdichtungen von Mikroprozessoren kaum noch möglich sind. Die kleinsten Chips messen heute zwei Nanometer (Milliardstel Meter). Dies ist kleiner als die meisten Viren und umfasst weniger als zehn Atome. Auf einem branchen­ üblichen 300 Millimeter Chipwafer können so fast zehnmal mehr Transistoren unterge­ bracht werden, als es Bäume auf der Erde gibt. Spätestens an der Schranke von einem Nanometer, führen Umgebungswärme und Quanteneffekte zu Störungen und Fehlver­ halten, das heißt Elektronen können, die ein Nanometer Barriere durchtunneln. Expo­ nentielles Wachstum mit Siliziumtransistoren kann, nach heutigem Wissensstand, dann aufgrund von Naturgesetzen nicht mehr anhalten und würde abflachen. Da eine weitere Verkleinerung nicht mehr möglich ist, wäre damit das Moore’sche-Gesetz aufgehoben.

3.3.5.2 Der Quantencomputer Die nächste Basistechnologie könnte der Quantencomputer sein. Dieser arbeitet anders als das duale System, welches mittels einer Transistorschaltung nur 0 (kein Strom) oder 1 (Strom) verarbeiten kann. Die Zustände in einem Quantencomputer werden mittels tunneln beeinflusst, das heißt die Grenzen eines Transistors können so umgangen werden. Durch die physikalische Überlagerung verschiedener Zustandskombinationen entstehen also nicht nur zwei Möglichkeiten wie im Binärsystem, sondern unendlich viele Zustände, die auch nicht sequenziell, sondern gleichzeitig verarbeitet werden können. Das Bit als kleinste digitale Informationseinheit in einem herkömmlichen Computer ist beim Quan­ tencomputer das Quantenbit (Qubit) als analoge kleinste Speichereinheit. Mit jedem zu­ sätzlichen Qubit erhöht sich die Rechenleistung exponentiell. IBM’s Deep-Blue-Rechner, der 1997 den Schachweltmeister Garry Kasparov besiegte, berechnete 200 Mio. mögliche Züge pro Sekunde. Ein Quantencomputer hätte 1 Trillion Züge pro Sekunde, 4 Trillionen in 2 Sekunden und 9 Trillionen in 3 Sekunden berechnet (Medium 2021). Quantencompu­ ter können viele Rechenoperation mehrere Millionen Mal schneller ausführen und haben unvorstellbares Potenzial. Haupteinsatzgebiete und Anwendungsmöglichkeiten werden in

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verschiedenen Branchen  innerhalb  Optimierung, Simulation, Künstliche Intelligenz und Kryptografie gesehen. Fasnacht und Straube (2023) erwähnen in ihrer Bertrachtung etliche Anwendungsbei­ spiele im Bereich der Simulation. Demzufolge hat die Deutsche Börse in einem Pilotprojekt eine vollständige Sensitivitätsanalyse für Geschäftsrisiken mit 1000 Eingabeparametern, welche mit herkömmlichen Computern zehn Jahre in Anspruch nehmen würde, mit Quan­ tenalgorithmen auf weniger als 30 Minuten Rechenzeit reduziert. Auch Goldman Sachs ex­ perimentiert schon seit einigen Jahren mit Quantum-Monte-Carlo-Simulationen. Diese Art der Simulation beruht auf einem rein mathematischen Modell, welches durch wiederholte Zufallsstichproben mögliche Ergebnisse (Wahrscheinlichkeiten) eines unsicheren Ereignis­ ses vorhersagen soll. Sollen beispielsweise Risiken und der Wert von Wertpapieren in der Zukunft abgeschätzt werden, benötigt eine Monte-Carlo-Simulation bei Tausenden von Si­ mulationsparametern enorme Rechenleistung und entsprechend viel Zeit für die Berech­ nung. Die überragende Rechengeschwindigkeit des Quantencomputer könnte die Finanz­ markt-Konkurrenz bei kritischen Transaktionen obsolet machen. Weitere Anwendungsge­ biete sind Klimaphänomene und Wettervorhersagen, Luftstrom-­ Simulationen bei der Flugzeugentwicklung, um den CO2-Ausstoss zu reduzieren oder das chemische Verhalten von Proteinen zu Molekülen, was abstrahierbar gemacht werden muss, um Simulation mit herkömmlichen Computern durchzuführen. Der Quantencomputer ist nicht auf mathemati­ sche Modelle angewiesen und könnte in diesen Bereichen erhebliche Vorteile bringen. Auch in der Verschlüsselungstechnologie könnten kryptografische Quanten-­ Algorithmen die Welt verändern. Bei der 128-Bit-Verschlüsselung geht man heute davon aus, dass die Zeitspanne, um mit der sogenannten Brute-Force-Methode (alle Varianten durchprobieren) einen Code zu knacken um Faktoren länger dauern würde als das Alter unseres Universums. So astronomisch dies klingt, der Quantencomputer könnten die meis­ ten heutigen Formen von öffentlichen Schlüsseln, die bei alltäglichen Transaktionen über Smartphones verwendet werden, theoretisch innerhalb von Minuten knacken. Bitcoin, zum Beispiel, verwendet die SHA-256-Kryptografie für das Mining und die Verschleie­ rung des öffentlichen Schlüssels. Es gibt hierzu etliche akademische Forschungsmeinun­ gen und Experten sind sich nicht einig, ob dies einfach gehackt werden könnte, denn Bit­ coin obliegt einer komplizierten Struktur (Aggarwal et al. 2017). Beim aktuellen Proof of Work (PoW) Bitcoin-Mining-Prozess müssten 51 % aller Rechner gehackt werden, was auch mit Quanten-Algorithmen eine Herausforderung wäre. Das National Institute of Standards and Technology (NIST) und das Quantum Economic Development Consortium prognostizieren, dass Quantencomputer um das Jahr 2035 zuverlässig genug sein werden, um aktuelle Verschlüsselungsstandards zu knacken. Egal wie lange es dauern wird, Quantencomputer werden die Verschlüsselungstechno­ logie neu definieren und eine Bedrohung für alle werden, die mit schützenswerten Daten arbeiten. Es wird immer mehr Meldungen geben, wonach Firmen oder Staaten den Quan­ tencomputer einsetzen. Google QC, in Zusammenarbeit mit der NASA, kommunizierte bereits 2019, dass ihr Quantenrechner 158 Mio. Mal schneller ist als der schnellste Super­ computer der Welt. Demnach kann der Rechner Berechnungen in Sekundenschnelle

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3  Trends und die Dynamik des Wandels

durchführen, für die ein herkömmlicher Computer Tausende von Jahren brauchen würde (Murgia und Waters 2019). Auch China verkündete, im Rahmen ihrer Künstlichen-­ Intelligenz-­Weltmacht-Strategie, dass sie einen 66-Qubit Rechner im Einsatz haben, der 10 Mio. Mal schneller als der schnellste digitale Rechner ist und IBM kündigte zwei Wo­ chen später ihren 127 Quibit-Rechner namens Eagle an (Gusbeth et al. 2021). Das Rennen ist eröffnet und Quantencomputer werden definitiv eine disruptive Technologie in einer anderen Liga sein. Der Trend ist klar und es empfiehlt sich frühzeitig, sich mit dieser neuen Technologie auseinander zu setzen.

3.4 Konvergenz in Parallelwelten 3.4.1 Das Verschmelzen realer und virtueller Welten Der Autor Neal Stephenson hat 1992 in seinem Roman „Snow Crash“ den Begriff Meta­ verse als literarische Fiktion einer virtuellen Welt erstmals verwendet (Stephenson 1992). Im Roman wurde die virtuelle Realität durch eine Netzwerkverbindung und eine Laser­ projektion auf eine Brille zugänglich gemacht. Reale Personen mussten virtuelle Kämpfe austragen und zum sozialen Austausch zusammenkommen. Dies ist heute mit Roblox und auf Social-Media-Plattformen wie Facebook möglich. Metaverse ist eine neue Version von Second Life (2023), wie in der Einleitung erklärt wurde (siehe Kap. 1). Im Gegensatz zum ersten Versuch von 2003, wo versucht wurde in einer Nische eine virtuelle Parallelwelt mit Technologien aufzubauen, die noch nicht dazu geeignet waren, ist Metaverse eine interak­ tive, virtuelle und erweiterte 3D-Welt, die auf einer offenen Blockchain-Technologie auf­ baut. Der technologische Reifegrad unterstützt das Vorhaben bestimmt. Zudem hat Meta­ verse, welche von einer der bekanntesten und wertvollsten Unternehmen der Welt, Meta, betrieben wird, vor allem globale kommerzielle Ziele. Die Mission ist: „Menschen die Möglichkeit geben, Gemeinschaften aufzubauen und die Welt näher zusammenzubringen“ (Meta 2023). Mittlerweilen ist ein Ökosystem entstanden, wo Entwickler aus der ganzen Welt digitale Innovationen und Funktionen bauen, um die virtuellen Welten zu verbessern. Dabei werden verschiedene disruptive Technologien eingesetzt. Das Zusammenspiel der Technologien und der daraus resultierende Einfluss auf Geschäftsmodelle in unterschied­ lichen Branchen ist, was letztendlich Metaverse-Plattformen wie Decentraland und The Sandbox schnell populär machten. Tamadoge und Lucky Block sind Kryptowährungen. Tamadoge ist eine sogenannte Meme-Coin und setzt auf NFT’s und Play-2-Earn. Derartige Kryptowährungen werden mit sozialen Medien beworben und versuchen einen emotiona­ len Bezug zu realen Dingen herzustellen. Im Fall von Tamadoge verwendet dieser Meme-­ Coin Tiere, welche im Mittelpunkt des Tamaverse stehen. Über NTF’s kann man Teile von Tamadoge-Haustiere kaufen. Jedes Tamadoge-Haustier kommt als Kind und durchlebt dann einen Entwicklungszyklus mit eigenen Stärken und Schwächen. Es ist ähnlich wie das aus Japan stammende Elektronikspielzeug Tamagochi, welches Ende der Neunziger­ jahre weltweit populär war. Damals musste man ein aus einem Ei geschlüpftes Küken

3.4 Konvergenz in Parallelwelten

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hüten, füttern und umsorgen. Lucky Block steht für eine dezentralisierte Metaverse Glücksspielplattform. Die Idee ist, das Spielerlebnis durch die Verlagerung auf die Block­ chain zu verbessern und so geografische Grenzen aufzuheben. Als Nebenprodukt wird dabei auch der Gewinnprozess transparenter als bei Verlosungssystemen in der realen Welt. Microsoft ist ein weiteres Schwergewicht im Metaverse. Neben Software und den Azure-Cloud-Diensten hat Microsoft das Mixed-Reality-Headset HoloLens entwickelt, um mit dem Benutzer in die neue virtuelle Realität eintauchen können. HoloLens ermög­ licht beispielsweise Immobilien-Unternehmen Objekte im Metaverse anzubieten, dient der virtuellen Kommunikation mit Kunden und wird in der Spieleindustrie eingesetzt. Microsoft Mesh unterstützt dabei die Zusammenarbeit in den vorgefertigten immersiven Meeting-Räumen und das Erstellen von Avataren. Sony, ist eines der führenden Elektronik­ unternehmen und bekannt für Spiele, Musik und Filmproduktionen. Als Erfinder der PlayStation und Social Gaming beliefert Sony das Metaverse mit vielen Produkten und Dienstleistungen. Die Social-Media-Plattform Snapchat fokussiert auf Basis von Aug­ mented Reality, wobei digitale Erlebnisse über die Sicht des Nutzers auf die reale Welt gelegt werden. Mit einer eigens für diesen Zweck entwickelten Brille namens Spectacles wird so die Interaktion mit der physischen Welt verbessert. Es gibt etliche Unternehmen, welche Technologien verschmelzen, um neue Erlebnisse zu schaffen. ByteDance, die Muttergesellschaft von TikTok mit einer Bewertung von über USD 300 Mrd. eines der größten Einhörner, könnte ein Werttreiber im Metaverse werden, sofern es in absehbarer Zeit keine Nachahmer gibt. TikTok wäre gut positioniert, um die soziale und kulturelle Landschaft des Metaverse mitzugestalten. Darüber hinaus könnte das algorithmische Empfehlungssystem von TikTok-Benutzern dabei helfen, neue und in­ teressante virtuelle Räume und Erfahrungen innerhalb des Metaverse zu entdecken. Die Firma hat zu diesem Zweck in fast allen technologischen Bereichen Akquisitionen getä­ tigt, einschließlich Plattformen für nutzergenerierte Inhalte (Code Qiankun), Spiele (Ohayoo, Pixmain, NVS Games), Chip-Entwicklung (Steam Computing), VR-­Technologie (Vital Visions, MIXED, PoliQ), Film- und Fernsehproduktionen (Wuli-Kultur) und viele mehr (Crunchbase 2023). Zudem entwickelt ByteDance eigene Metaverse-Apps. Das Roblox-Metaverse hingegen ist eine Multiplayer Online- und Spiele-­Entwicklungs-­ Plattform, die es ermöglicht, eigene Spiele ohne Programmierkenntnisse zu entwerfen. Die Firma beschäftigt etwas mehr als 1000 Mitarbeiter und hat etwa 10 Mio. Spieleent­ wickler auf ihrer Plattform. Einer der größten Spieleanbieter, Tencent, ist bei Roblox in­ vestiert und strategischer Partner. Gucci arbeitet mit Roblox zusammen und hat virtuelle Gartenausstellungen erschaffen mit Läden und digitalen Gucci-Waren und Tommy Hilfi­ ger betreibt digitale Modekollektionen. Daneben gibt es Nike, Walmart, Samsung und viele mehr, die Roblox zu einem florierenden Ökosystem verhelfen. Wie kann ein solches Ökosystem mit Hunderten Millionen Benutzern funktionieren, wenn die darin gehosteten Spiele größtenteils kostenlos spielbar sind und wie verdient Roblox Geld? Was für die reale Welt Cash, Kreditkarten oder Zahlungen über QR-Codes sind, geht bei Web3 über digitale Währungen. Die Einnahmequelle für das Unternehmen Roblox stammt aus dem Kauf von sogenannten Robux. Im Gegensatz zu MANA oder SAND, den Zahlungsmitteln

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3  Trends und die Dynamik des Wandels

im Decentraland oder der Sandbox, welche auf der Ethereum-Blockchain aufbauen, ba­ siert Robux nicht auf Blockchain. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, um Robux zu er­ halten. Benutzer können sie kaufen oder verdienen, indem sie ihre eigenen Spiele erstellen und verkaufen oder durch den Verkauf von virtuellen Gegenständen, die sie erstellt haben, um Robux verdienen. Wenn ein Benutzer Robux hat, kann er sie verwenden, um virtuelle Gegenstände wie Kleidung, Accessoires oder Werkzeuge für seine Charaktere im Spiel zu kaufen. Diese Gegenstände können von anderen Spielern erstellt oder von der Roblox-­ Entwicklergemeinschaft erstellt werden. Einige virtuelle Gegenstände können auch von Entwicklern erstellt werden, um bestimmte Funktionen im Spiel freizuschalten oder um den Spielfortschritt zu erleichtern. Seit kurzem kann die digitale Währung auch in echte Währungen umgetauscht werden. Obwohl Roblox 2022 2,2  Mrd. US-Dollar Umsatz machte, steigt das Unternehmen anfangs 2023 in die 3D-Werbung ein, um zusätzliche Er­ tragsströme aufzubauen (Curry 2023).

3.4.2 Metaverse benötigt mehr Rechenleistung Neben den oben erwähnten Firmen gibt es noch etliche Chiphersteller wie Samsung, TSMC, Google oder Nvidia, die mit ihren Mikroprozessoren das Metaverse überhaupt erst möglich machen. Metaverse ist ein gutes Beispiel, welches zeigt, dass die Kombination verschiedener disruptiver Technologien irgendwann zu Leistungsgrenzen führt. Denn die benötigte Rechenleistung für den Betrieb des Metaverse ist enorm. Der Chiphersteller Intel hat berechnet, dass das Metaverse mit über einer Milliarde gleichzeitiger Nutzer, welche alle KI, maschinelles Lernen, Augmented Reality und Blockchain-Anwendungen kombiniert nutzen, etwa 1000-mal mehr Rechenleistung benötigt als konventionellen 3D-Grafikprogramme und Simulationen (Koduri 2021). Das ist unvorstellbar viel und darin sind Avatare, die ausschauen und sich wie Menschen in Echtzeit bewegen noch nicht enthalten. Entscheidend ist auch das Zusammenspiel zwischen Rechenleistung, Speicher­ kapazität und Datenübertragung. Echtes persistentes und immersives Computing verlangt neue System-Architekturen und Algorithmen. Aktuell hat das Meta-Rechenzentrum des RSC eine Übertragungsrate von 200 Gigabit pro Sekunde. Highspeed-Glasfaser-­ Datentransferraten liegen heute bei 100 Megabits pro Sekunde und können maximal bis zu 1 Gigabit pro Sekunde erreichen. Menschen akzeptieren und nutzen digitale Plattformen und virtuelle Interaktionen auf allen Ebenen des Lebens, und diese Akzeptanz wird sich in Zukunft noch weiter verstär­ ken. Das Metaverse ist also eine vom Markt getriebene Weiterentwicklung dieser Bedürf­ nisse. Es hat sich von einer Nischenanwendung von Teenagern zum Spielen von Games rasant auf andere Bereiche ausgebreitet, insbesondere in Branchen des Konsums und So­ cial Commerce. Durch virtuelle Avatare können die Menschen neue Erfahrungen beim Einkaufen machen oder dank virtueller Räume an Geschäftstreffen teilnehmen. Technolo­ gien wie 5G und AR-Brillen entscheiden, wie schnell die Adoptionsraten steigen. Die Übertragung von Daten in beinahe Echtzeit ist ein Muss, aber auch AR-Brillen könnten für

3.5 Strategische Neuausrichtung

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den Durchbruch in den Massenmarkt entscheidend sein. Träger können damit chatten, spielen, News anschauen, Konzerte besuchen oder sie für Online-Dating benutzen und wie heute das Smartphone, könnten diese bald in den Alltag integriert werden.

3.5 Strategische Neuausrichtung In diesem Kapitel wurden Trends in Kategorien eingeordnet und aufgezeigt, wie diese aus dem Markt heraus entstehen oder von Technologien getrieben werden. Wie nie zuvor wir­ ken Trends aus verschiedenen Dimensionen alle gleichzeitig auf Unternehmen und Ge­ sellschaft ein. Einige verbessern Produkte, Dienstleistungen, Prozesse, Geschäftsmodelle, Strategien, Organisationen und das Leben, andere reizen Effizienzen aus oder verdrängen etablierte Unternehmen und sind transformativ. Demografische Trends, geopolitische Fak­ toren und neue Wachstumsregionen werden nachhaltige Auswirkungen auf die Weltwirt­ schaft haben. Die Vermögensbildung in den entwickelten Volkswirtschaften und das Wachstum, insbesondere in China, werden durch staatliche Programme, wie beispiels­ weise die Neue Seidenstraße, angekurbelt. Die Geschichte zeigt aber auch, dass es immer wieder Innovationsschübe und Wachstum aufgrund irrationaler Entscheidungen oder auf­ grund von unerwarteten Ereignissen gab. Technologische Trends können disruptive Auswirkungen haben und schaffen oft gänzlich neue Möglichkeiten, wie Menschen Leben und Geschäfte machen. Eine Schlussfolgerung ist, dass die exponentielle Wachstumskurve bei der Rechenleistung aufgrund physikalischer Störeffekte bei der Verdichtung von Transistoren abflacht. Das von Meta betriebene Rechen­ zentrum kann die Rechenleistung einzelner herkömmlicher Computer mit GPU-Architektur durch deren intelligente Verknüpfung stark erhöhen (siehe RSC). Diese kombinierte Re­ chenleistung vieler verbundener Geräte nutzt auch Cloud Computing als Prinzip, wird aber bald an ihre Grenzen kommen. Die Kapazitätsgrenzen ausreizen kann man durch die Kom­ bination von Schlüsseltechnologien. So gibt es neben der Speicherung von Daten und Soft­ ware bereits etliche Cloud Services für die Analyse von Daten durch Künstliche Intelligenz und maschinellem Lernen. Quantum-Cloud-Services sind bereits über ein Portal für die Wei­ terentwicklung von Quantencomputer-Technologien durch das Jülich Forschungszentrum (2023) abrufbar. Wie bei der Lebenserwartung von Unternehmen, sind diverse technologische Entwick­ lungen getrieben durch immer kürzer werdende Adoptionsraten. Es scheint, als würde sich die Welt effektiv schneller drehen. Bei der Benutzung von digitalen Innovationen werden immer mehr Daten gespeichert, verarbeitet und mobil abgerufen. Der Computer benötigte beispielsweise für eine globale Adoptionsrate von 90 % 36 Jahre (1994 bis 2020), während das Smartphone dies in zehn Jahren erreichte. Hierzu muss erwähnt werden, dass als Apple 2007 das erste Smartphone vorstellte, kaum jemand an eine rasche Verbreitung glaubte. Steve Ballmer, ehemaliger CEO von Microsoft, meinte, dass das iPhone keine Chance hätte auf dem Markt zu bestehen. Die Akzeptanz, Daten in der Cloud abzulegen, ist bei Endbe­ nutzern und Firmen erst seit wenigen Jahren spürbar, hat aber bereits dazu geführt, dass

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3  Trends und die Dynamik des Wandels

über die Hälfte der Unternehmen heute Cloud Services verwenden. Everything-­as-aService wäre dann das ultimative Betriebsmodell. Einige Unternehmen sind vom Wandel stärker betroffen als andere. Alle müssen aber re­ gelmäßig die jüngsten Entwicklungen identifizieren, bewerten und relevante Trends in ihren Strategien aufnehmen. Ohne das Verständnis der Trends ist weder eine proaktive Stra­ tegie noch eine schnelle Reaktion möglich. Es ist ersichtlich, dass die diskutierten Trends miteinander zusammenhängen und einen Einfluss auf die Konvergenz von Branchen und Technologien haben. Technologische Trends und Marktbedürfnisse befeuern sich gegensei­ tig und sind voneinander abhängig. Ob bestimmte Märkte einer Disruption ausgesetzt sind, hängt davon ab, inwiefern neue Lösungen die teils verborgenen Bedürfnisse der Kunden besser erfüllen können. Dabei ist die Technologie selbst oft nicht der Haupttreiber, sondern die Veränderungen im Verhalten der Konsumenten, die durch technologische Lösungen hervorgerufen werden. Zudem stärkt die Verschiebung von einem anbieterdominierten zu einem nachfragerzentrierten Markt die Position der Konsumenten. Kunden nehmen heute nicht mehr nur die passive Rolle des Verbrauchers ein, sondern agieren immer häufiger als aktive Marktteilnehmer. Durch Kritik, Verbesserungsvorschläge und teilen von Erfahrun­ gen und Ideen in ihrem Netzwerk entsteht zusätzlicher Wert, respektive eine gemeinsame Wertschöpfung in einem Ökosystem. Durch diesen Prozess entstehen schwache Signale, welche sich wiederum zu einem Trend manifestieren können. Trends sind Treiber, indem sie Anstöße für den Wandel bieten, gleichzeitig werden diese Veränderungen jedoch auch von den Trends geprägt. Dieses Wirkungsgefüge hat Industrienationen innerhalb weniger Jahre in ein digitales Zeitalter katapultiert. Im neuen digitalen Paradigma herrschen Dynamik und Komplexität. Ein strategischer Vorteil ergibt sich aus der Fähigkeit zur Adaption und Erneuerung des Unternehmens. Trends haben neue Wertemodelle erzeugt, während neue Ansichten und Weltvorstellungen Trends ausgelöst haben. Um dies organisatorisch in Produkte, Dienstleistungen und Erleb­ nissen abzubilden, braucht es eine neue strategische Ausrichtung, welche die Dynamik des Wandels einbezieht. Im nächsten Kapitel wird die Bedeutung von profitablem Wachstum und neuen Wachstumsmodellen vorgestellt, die vor allem durch digitale Plattformen und Ökosystem-Modelle begünstigt werden.

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Digitale Wachstumsgesetze

Zusammenfassung

Wie funktioniert erfahrungsorientiertes, exponentielles und nachhaltiges Wachstum im digitalen Paradigma? In der Plattform-Ökonomie führt Hyperkonnektivität zu Netzwerkeffekten, die Unternehmen zu rasantem Wachstum verhelfen. Es erstaunt nicht, dass die größten Unternehmen der letzten Dekade allesamt aus dem Technologie- und Internetumfeld kommen. Mit ihrer Größe, technischen Kompetenzen und ihrem globalen Netzwerk dringen sie in diverse, ursprünglich fremde Geschäftsfelder ein und fördern die Konvergenz von Branchen und Technologien. Dies unterstützt den sektorübergreifenden Verkauf von ergänzenden Lösungen, was für die Skalierung förderlich ist. Im Hinblick auf den Einsatz von digitalen Plattformen müssen die digitalen Risiken, welche durch die Zusammenarbeit mit diversen Akteuren in einem Ökosystem entstehen, kontinuierlich beobachtet werden.  Entscheidungsträger müssen sowohl traditionelle als auch digitale Wachstumsmetriken verstehen und ständig ein profitables Wachstum verfolgen. Erfahrungsorientierte Wachstumsstrategien können  eine Lösung sein, um das Wachstums- und Gewinnparadoxon zu überwinden. Durch umfassende Information über Kunden und den Einsatz von prädiktiven Analysen können Bedürfnisse antizipiert, maßgeschneiderte Lösungen entwickelt und ein positives und nahtloses Kundenerlebnis geschaffen werden. Innovation, Wachstum und Wohlstand korrelieren und verlangen  Unternehmen eine erhöhte Verantwortung ab, um nachhaltig relevant zu bleiben.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Fasnacht, Offene und digitale Ökosysteme, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42494-7_4

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4  Digitale Wachstumsgesetze

4.1 Der Einfluss von Größe In einem globalen Geschäftsumfeld spielt die Größe eine wichtige Rolle beim Streben nach Wachstum. Um sich auf künftige Herausforderungen wie internationales Wachstum konzentrieren zu können, müssen die Unternehmen in der Lage sein, im Ausland zu investieren. Größe gibt ihnen die Identität, die Positionierung und die Macht, in die Expansion internationaler Geschäfte zu investieren. Ein Vorteil von großen Unternehmen, meist mit einer starken internationalen Ausrichtung, ist, dass sie ihre Wachstumsinitiativen mit a­ nderen lukrativen Geschäften subventionieren können. Für Wachstum braucht es immer finanzielle Mittel, die in der Regel über den privaten oder öffentlichen Finanzmarkt ­beschafft werden. Einige Unternehmen konnten durch Beteiligungen an anderen Unternehmen nicht nur sehr stark wachsen, sondern können durch ihre Rechte an Aktionärsversammlungen großen Einfluss auf die Strategie ausüben. BlackRock und Vanguard beispielsweise verwalten Vermögen von 9,6 respektive 8,1 Billionen US-Dollar (ADV Ratings 2023). Daneben gibt es Sovereign Wealth Funds, staatliche Investmentfonds, die weltweit in alle Arten von Vermögenswerten (Aktien, Anleihen, Immobilien, Gold, Silber oder in alternative Anlagen wie Private Equity oder Hedgefonds) investieren. Sie werden in der Regel in Zeiten aufgelegt, in denen die Regierungen Überschüsse erwirtschaften und wenig oder gar keine internationalen Schulden haben. Der größte seiner Art, der norwegische staatliche Pensionsfonds, auch als Ölfond bekannt, wurde 1990 eingerichtet, um die Überschüsse des norwegischen Erdölsektors zu investieren. Der Fonds verwaltet aktuell Gelder von 1,35 Billionen US-Dollar und ist gleich groß wie die China Investment Corporation (SWFI 2023). Da die Vermögensverwalter und einzelnen Fonds größer sind als viele Volkswirtschaften, gibt es auch Kritik. Diese Form der Zusammenlegung von Vermögenswerten führt nicht nur zu Größe, sondern vor allem zu Macht, was Auswirkungen auf verschiedene Finanzmärkte hat. Die Risiken sind durch diese globalen Verflechtungen schwierig abschätzbar. Die Regulierungsbehörden wiederum bemängeln die Transparenz der Anlageentscheidungen und der Portfoliokonstruktion. Sowohl Investmentmanager als auch Staatsfondsmanager haben eine unglaubliche Macht, was auch die Nähe zur Politik zeigt. Durch Investitionen in börsennotierte Unternehmen können sie zu großen Anteilseignern werden und laut Gesetz die Strategie beeinflussen. BlackRock und Vanguard kontrollieren beispielsweise 90  % aller Aktien von US-Medien-Konzernen (Fox, CBS, NBC, MSNBC, CNBC, Sky Media Gruppe, CNN, und Disney). BlackRock ist zudem der größte Einzelaktionär bei Apple, McDonalds, ExxonMobile, JPMorgan Chase, Bank of America, Citibank, Shell, Lufthansa, Bayer, BASF, Deutsche Börse, Allianz, Nestle und vielen mehr – die Liste könnte noch viel länger weitergeführt werden. Blackrock hat bei beinahe allen multinationalen Firmen der Welt investiert und hält auch 7 % am staatlichen globalen Pensionsfond von Norwegen oder 5 % an der Norges Bank. Zudem gibt es viele weitere Investmentaktivitäten in Norwegen durch ihre aktiven und passiven Fonds. Insgesamt verdeutlicht dies die Bedeutung von BlackRock für die norwegische Wirtschaft und die P ­ ensionen norwegischer Bürger. Für ein kleines Land mit einem BIP von rund 500 Mrd. US-Dollar führen solche Verbindungen zu risikoreichen und fragwürdigen Abhängigkeiten.

4.2 Wie Wachstum entsteht

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Neben den finanziellen Verflechtungen sind Daten ebenso wichtig. BlackRocks Aladdin (Asset, Liability, and Debt and Derivative Investment Network) Plattform bildet dabei das Herzstück (Aladdin 2023). Bestehend aus einem Supercomputer mit über 5000 Großrechnern in vier geheimen Rechenzentren, betrieben in der Microsoft Azure Cloud, wird Aladdin von über 2000 Entwicklern und Analysten bedient. Es ist zu einem überaus mächtigen Datenanalysesystem geworden, wodurch alle Investitionen und Beteiligungen verwaltet werden. Aladdin unterstützt derzeit 25.000 Anlageexperten, indem mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz anspruchsvolle Risikoanalysen mit umfassendem Portfoliomanagement, Handelsausführung und Anlageoperationen kombiniert werden. Der Algorithmus analysiert, unter anderem mit Monte-Carlo Simulationen, historische Daten und erstellt daraus Szenarien für die Zukunft, wobei der Einfluss verschiedener Faktoren auf die Rentabilität von Wertpapieren und anderen Vermögenswerten geschätzt und Risiken kalkuliert werden. Es wird geschätzt, dass derzeit über 21 Billionen US-Dollar an Vermögenswerten über Aladdin verwaltet werden, was fast 10 % aller Aktien, Anleihen und ­Kredite in der Welt entspricht. Es liegt auf der Hand, dass eine derartige Machtkonzentration die Stabilität des internationalen Finanzsystems beeinträchtigen kann. Die too-big-to-fail-Diskussion im Bankensektor ist auch für Blackrock relevant. Was aber noch viel interessanter ist, was Blackrock mit dem unglaublichen Datenvolumen ihrer Kunden macht. Längst könnten daraus Schlüsse gezogen werden, wie sich Staaten in Krisen verhalten oder wo die nächsten Konflikte entstehen. Aladdin trifft Entscheidungen durch selbstlernende Algorithmen und es kann im Nachhinein nicht mehr nachvollzogen werden, wie die Künstliche Intelligenz zu einer Entscheidung kam. Aladdin kontrolliert einen großen Teil des globalen Vermögens, ist Herr über den größten Datenschatz und gleichzeitig ist es eine Blackbox. Die Größe von einzelnen Unternehmen kann einen erheblichen Einfluss auf die Gesellschaft und die Stabilität haben. Wirtschaftliche, politische und technologische Dominanz und Macht sind relevante Punkte, aber da es meist auch um riesige Datenvolumen geht, müssen bezüglich Datenschutz und Privatsphäre auch kritische Fragen gestellt werden. Kernfragen sind, ob die Daten nur für den angegebenen Zweck oder auch für andere Zwecke verwendet werden, oder wie der Zugang zu den Daten geregelt ist. Größe hat aber auch etwas mit Wettbewerbsverzerrung und Machtungleichgewicht zu tun. Wenn der Datenschatz von Aladdin weiter stark anwächst, wird Blackrock in naher Zukunft auf unglaubliche Rechenleistungen angewiesen sein, um das Wachstum zu beherrschen. Unternehmen mit so umfangreichen Daten und finanziellen Möglichkeiten könnten zu einem Moloch verschmelzen, der weder kontrollier- noch berechenbar ist. Ob wir solches Wachstum brauchen und wo die Grenzen sind, wird in den folgenden Abschnitten diskutiert.

4.2 Wie Wachstum entsteht In der Biologie bezeichnet Wachstum die Zunahme von Größe und Masse während der Entwicklung eines Organismus über einen bestimmten Zeitraum. Das Wachstum wird häufig als Zunahme der Biomasse (Masse des organischen Materials) gemessen, die mit

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4  Digitale Wachstumsgesetze

der Differenzierung der Zellen zur Erfüllung bestimmter Funktionen einhergeht. Alle Organismen wachsen, wenngleich die Wachstumsrate im Laufe eines Lebens variiert. Normalerweise folgt das Wachstum eines Organismus einer S-förmigen Kurve, bei der das Wachstum zunächst langsam, dann schnell und gegen Ende des Lebens gar nicht mehr stattfindet. In der Zeit vor dem Tod kann das Wachstum sogar negativ sein. Ähnlichkeiten zwischen biologischem Wachstum und Wirtschaftswachstum ist leicht feststellbar. Im wirtschaftlichen Kontext bezieht sich Wachstum auf den Wertzuwachs der von einer Volkswirtschaft produzierten Waren und Dienstleistungen, was mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) eines Landes oder einer Region gemessen wird. Das BIP ist ein internationales Maß für die wirtschaftliche Aktivität eines Landes und wird üblicherweise als prozentuale Steigerungsrate gemessen. Ein starkes Wachstum widerspiegelt sich in der Steigerung des durchschnittlichen Lebensstandards der Menschen in einem Land. Das Wachstum des BIP kann durch eine Erhöhung der Produktion von Waren und Dienstleistungen, eine ­Erhöhung des Arbeitskräfteangebots, eine Erhöhung der Produktivität oder durch eine Erhöhung des Kapitals (z. B. Investitionen in Infrastruktur) erreicht werden. Wachstum wird oft als Indikator für eine gesunde Wirtschaft betrachtet, da es dazu beitragen kann, Arbeitsplätze zu schaffen, Einkommen und Lebensstandard zu erhöhen und die Steuereinnahmen für Regierungen zu steigern. In den letzten Jahren gab es eine stetige Zunahme der Anzahl wohlhabender Menschen in der Welt. Die Zahl der Vermögensmillionäre nimmt global jährlich zu und hat einen direkten Einfluss auf das BIP einer Volkswirtschaft. Die Vermögen wachsen in Asien aufgrund der Demografie, Auslandsinvestitionen, Unternehmertum und hohen Unternehmensgewinnen und Börsengängen (IPOs) überproportional zur Welt (siehe Kap. 3). Über lange Zeiträume hinweg können selbst geringe jährliche Wachstumsraten große Auswirkungen auf eine Volkswirtschaft haben. Mathematisch führt eine Wachstumsrate von nur 2,5  % pro Jahr zu einer Verdoppelung des BIP innerhalb von 28 Jahren, während eine Wachstumsrate von 8 % pro Jahr (wie sie in einigen Schwellenländern zu verzeichnen ist) zu einer Verdoppelung des BIP innerhalb von 9 Jahren führt. Ein Wachstum von acht Prozent ist beispielsweise für Indien erforderlich, um den jährlichen Bedarf an Millionen neuer Arbeitsplätze zu decken und die Armut unter Kontrolle zu halten. Es liegt auf der Hand, dass Wachstum die wichtigste Stütze der Wirtschaftstätigkeit ist – und für Länder wie Indien ein Muss. Finanzmärkte sind seit den 1980er-Jahren sehr stark gewachsen und viel größer und mächtiger geworden als ganze Volkswirtschaften. Tatsächlich entsprach das gesamte globale Finanzvermögen, einschließlich Aktien, Staats- und Unternehmensschuldtiteln sowie Bankeinlagen, 1980 in etwa dem globalen BIP. Bis 2005 war der globale Kapitalmarkt auf etwa das Dreifache des weltweiten BIP oder 150 Billionen US-Dollar angewachsen und stieg bis Ende 2010 auf 212 Billionen US-Dollar an, womit der vorherige Höchststand von 2007 übertroffen wurde (Farrell et al. 2005; Roxburgh et al. 2011). 2022 lag das globale BIP bei 101 Billionen US-Dollar (OECD 2023) und das globale Vermögen bei 256 Billionen US-Dollar (BCG 2022). Auch wenn der durchschnittliche Anstieg weltweit höher ist als in der Schweiz und Deutschland, wuchsen die privaten Vermögen in den letzten zwei

4.2 Wie Wachstum entsteht

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Jahren signifikant an. 2021 stieg in Deutschland die Anzahl der Vermögensmillionäre um 98000 auf total 1,6 Mio. HNWI. Von 2014 bis 2022 erlebte die Welt Negativzinsen. Allerdings war es nicht verwunderlich, was passiert, wenn Notenbanken ihre Geldschleusen fluten. Allein die US-Notenbank hat über 10 Billionen US-Dollar ohne Gegenleistung vergeben. Dieses Geld wurde automatisch an der Börse investiert und hat zu einem florierenden Aktienmarkt geführt. Diese sogenannte Hause wurde nun durch Zinserhöhungen gestoppt und die schnell ansteigende Inflation wird zeigen, was aus diesen neu erstandenen Vermögen wird. Das Verhältnis zwischen Wachstum und Staatsverschuldung muss uns beschäftigen. Insbesondere die chinesische Kreditvergabe, da diese den Großteil des weltweiten Kreditwachstums ausmacht und in den letzten Jahren die meisten Milliardäre aus China entsprangen. Die weltweite Verschuldung der Industrieländer ist seit der Finanzkrise auf ein noch nie dagewesenes Niveau angestiegen. Und es ist bekannt, dass die Vereinigten Staaten nicht nur die größte Volkswirtschaft, sondern auch der größte Schuldner der Welt mit über 32 Billionen US-Dollar sind – das entspricht etwa 20 % mehr als ihrem BIP (US Debt Clock 2023). Man könnte meinen, dass eine bessere Liquidität und ein besserer Zugang zu Kapital für Kreditnehmer sowie effizientere Preise im Allgemeinen eine gute Sache sind, allerdings birgt ein globaler Kapitalpool auch Gefahren. Stark wachsende, globale Kapitalmärkte zeichnen ein Bild von einer Welt mit hohen Aktienkursen, niedrigen Zinsen und einem erhöhten Schuldenstand. Um die Wirtschaft anzukurbeln, wird immer wieder die Zinspolitik bemüht. Die Negativzinsphase ist seit Sommer 2022 vorbei, was zu einer Zeitenwende geführt hat. Seitdem kämpfen viele Menschen mit der Inflation und hohen Rohstoff- und Lebenshaltungspreisen, was zu einer Rezession führte. Wie bei Leviathan, der allmächtigen Figur des englischen Mathematikers und Philosophen Thomas Hobbes, kommt dem Staat ein absolutistisches Machtverhältnis zu – unabhängig davon, ob er das Wirtschaftswachstum mit geldpolitischen Maßnahmen ankurbelt oder gegen die Inflation kämpft (Brooke 2017). Demnach kann Ordnung nur durch eine starke Zentralgewalt gewährleistet werden. Da ein stetiges Wachstum zu den wichtigsten Zielen der Finanz- und Wirtschaftspolitik gehört, muss der Staat diese Rolle einnehmen und Zinsen erhöhen oder senken. Dies hat einen Einfluss auf die Staatsquote, denn wenn das BIP ansteigt, verringert sich automatisch die Schuldenquote, sofern der Staat nicht neue Schulden anhäuft. Nebeneffekte der aktuell steigenden Inflation können sein, dass der Wunsch nach vertikaler Integration aufkommt. Damit erhofft man sich mehr Sicherheit in der Lieferkette. Eine zu große Zerstückelung der Wertschöpfung führt demnach zu Unsicherheit und Fragilität, was eigentlich ein Gegenargument zur fragmentierten Wertschöpfung in  Ökosystemen wäre. Ein weiterer Gegentrend, der festgestellt werden kann, ist die Regionalisierung. Ohne weiter auf die zunehmende Machtposition von Nationalstaaten einzugehen, scheint es, als hätte die Wirtschaft und deren Modelle an Resilienz gewonnen. Auch wenn geopolitische Verschiebungen stattfinden, überwiegen die Vorteile von kollaborativen Zusammenarbeitsmodellen. Volkswirtschaftler neigen dazu, der jährlichen prozentualen Veränderung des BIP einen besonderen Wert beizumessen, vielleicht weil sie uns sagt, was mit unseren Löhnen pas-

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4  Digitale Wachstumsgesetze

siert. Während Arbeitnehmer Wachstum als Gehaltserhöhung empfinden, ist für Unternehmen, Wachstum ein Muss und keine Option. Auf die ultimative Frage, warum Wachstum essenziell ist, gibt es mehrere Antworten. Unabhängig davon, ob die Perspektive einer Volkswirtschaft oder eines Unternehmens eingenommen wird, Wachstum braucht es, um die Wettbewerbsfähigkeit eines Landens oder eines Unternehmens zu erhalten. Wachstum ist erforderlich, um Marktanteile zu halten und zu vergrößern. Wachstum gleicht auch steigende Kosten durch Größenvorteile aus. Der Zufluss von Mitteln kann in der Mikroökonomie (also auf Unternehmensebene) als organisches Wachstum bezeichnet werden. Geld kann aber auch eingesetzt werden, um Akquisitionen zu tätigen. Organisches und anorganisches Wachstum sind also zwei völlig unterschiedliche Wachstumsstrategien. Während das organische Wachstum als erfahrungsorientiertes Wachstum gilt, funktioniert das anorganische Wachstum anhand von Akquisitionen und Fusionen (M&A). Letzteres ist allgemein bekannt und nicht Thema dieses Buches, auch weil Ökosysteme meist nicht aufgrund von Akquisitionen wachsen, sondern anderen Wachstumsgesetzen unterliegen.

4.3 Erfahrungsorientiertes Wachstum Aus dem Inneren der Organisation heraus kann das Geschäftsfeld erweitert oder eine überlegene Kundenbegeisterung erreicht werden. Ein Unternehmen, das über Jahre hinweg wächst, ist auch für Lieferanten und Kunden interessanter. Dies gilt speziell in Ökosystemen, da dort durch den Beitrag der einzelnen Teilnehmer der Wert des gesamten Systems steigt. Neben der Bedeutung von Größe und Wachstum beinhalten Übernahmen Risiken und führen oft zu langwierigen organisatorischen Transformationsprojekten. Die Studienlage beweist, klar, dass die meisten Akquisitionen scheitern. So erreichen 70–80 % der M&A-Transaktionen ihre strategischen Ziele nicht (Bain&Company 2023; Giersberg et al. 2020). Diese Quoten sind in der ganzen Welt gleich und scheinen nicht mit kulturellen oder wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verknüpft. Auch der Sektor scheint kaum relevant, auch wenn im Bereich von Technologiezusammenschlüssen etwas weniger Transaktionen scheitern – nur etwa 60 % (Roger 2016). Obwohl Größe, Umfang und globale Reichweite viele Vorteile haben, können große Unternehmen die Notwendigkeit bürokratisch geführter, starrer Organisationsstrukturen mit sich bringen. Die Herausforderung besteht darin, das Momentum von Wachstum zu nutzen und gleichzeitig agil, unternehmerisch und kundenorientiert zu denken. Diese mentale Orientierung setzt einen emotionalen Führungsstil voraus, der Werte wie Partnerschaft und Teamarbeit stärkt. Im Allgemeinen sollten Unternehmen nur dann für Übernahmen offen sein, wenn neben der Verwaltung der Größe die Übernahme auch strategisch und kulturell verdaut werden kann. Wachstum aus eigener Kraft wird auch assoziiert mit kundenorientiertem oder erfahrungsorientiertem Wachstum. Erfahrungs- und erlebnisorientierte Modelle sind bekannt aus der Philosophie, Soziologie und Erlebnispädagogik, wo die modernen Grundlagen auf die Natürliche Erziehung von Jean-Jacques Rousseau zurückgehen (Zumhof 2019). Spä-

4.3 Erfahrungsorientiertes Wachstum

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ter verschmolzen diese Ideen mit der Wirtschaftspsychologie im Rahmen der Gestalttherapie als ein erlebens- und erfahrungsorientiertes psychotherapeutisches Verfahren (Schmidt-Lellek 2023), welches in der Arbeit mit Einzelnen, ebenso wie in Gruppen Anwendung findet. In dieser humanistischen Psychologie geht es um ganzheitliche Zusammenhänge in Systemen unter Berücksichtigung von Beziehungen, Selbstentfaltung, Authentizität und Wachstum (Kriz 2023). Im betriebswirtschaftlichen Kontext sind diese Ansätze wissenschaftlich vage eingeordnet (Meehan et  al. 2016) und es gibt entsprechend mehrheitlich Definitionen aus der Praxis und von Marketingfirmen. Da wirtschaftliches Handeln Teil der menschlichen Natur ist und von Menschen gemacht wird, ist Wirtschaft Psychologie (Fichter 2018). Die Begriffe kunden-, erfahrungs- und erlebnisorientiert können als Synonyme im Kontext von Wachstum verwendet werden. In Kap. 6 werden speziell erlebnisorientierte Geschäftsmodellen ins Zentrum der Betrachtung gestellt (siehe Kap. 6). Im Wesentlichen wird mit einer erfahrungsorientierten Wachstumsstrategie auf die Bedürfnisse und Wünsche der Kunden als treibende Kraft für das Wachstum des Unternehmens eingegangen. Diese Herangehensweise priorisiert das Verständnis des Kunden und seiner Vorlieben und nutzt dieses Wissen, um Produkte, Dienstleistungen und Erfahrungen zu entwickeln, die seinen Bedürfnissen entsprechen und seine Erwartungen übertreffen. Kundenorientiertes Wachstum beinhaltet kontinuierliches Sammeln und Analysieren von Kundenfeedback und die Verwendung dieser Informationen zur Verbesserung und Innovation des Unternehmens. Das Ziel von kundenorientiertem Wachstum ist es, langfristige Beziehungen zu Kunden aufzubauen, Markenloyalität zu schaffen und letztendlich Umsatzwachstum durch erhöhte Kundenakquise, -bindung und -befürwortung zu erreichen. Die Optimierung der Qualität von Erfahrungen und die Erreichung tatsächlicher Kundenziele steht in einem ersten Schritt im Fokus. Anschließend strebt der Ansatz danach, die Organisation und ihr Ökosystem zusammenzubringen, um Erfahrungen als Hauptangebot zu konzipieren, zu erstellen, zu orchestrieren, zu liefern und weiterzuentwickeln. Diese Art von Wachstum priorisiert Emotionen, Erfahrungen und Ergebnisse und stellt digitale Innovationen als treibende Kraft für den Erfolg der Organisation und des Kunden in den Mittelpunkt. Damit das gelingt braucht es eine Kultur des Vertrauens in der Erlebnisse and Ergebnisse miteinander verknüpft sind. Um personalisierte und interaktive Erlebnisse zu schaffen und diese für Wachstum zu nutzen, empfehlen sich vereinfacht folgende Prinzipien: • den Kunden in den Mittelpunkt stellen, indem man Bedürfnisse, Wünsche und Vorlieben versteht und darauf eingeht, • das Erlebnis über den gesamten Kundenlebenszyklus hinweg gestalten, um eine kontinuierliche Bindung und Interaktion zu gewährleisten, • die Kanäle aufeinander abstimmen, um eine nahtlose und konsistente Erfahrung zu schaffen, • Daten und Technologie nutzen, um personalisierte Erlebnisse zu ermöglichen und Kundenbedürfnisse in Echtzeit zu erkennen, • die Mitarbeiter engagieren und befähigen, um das Kundenerlebnis kontinuierlich zu verbessern.

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4  Digitale Wachstumsgesetze

Man geht davon aus, dass 80 % der Wertschöpfung von Unternehmen von bestehenden Kunden ausgeht. Das Kultivieren von Wachstum aus bestehenden Kunden wirkt sich da­ rauf aus, dass im Laufe der Zeit zufriedene Kunden immer mehr Produkte und Dienstleistungen des Unternehmens kaufen. Der Verkauf von Produkten über bereits bestehende Kundenkontakte (cross-selling) und der Anteil der Gesamtausgaben eines Kunden für eine bestimmte Produktgruppe bei einem bestimmten Anbieter (share of wallet) werden dadurch begünstigt. Die Unternehmensberatungsfirma McKinsey hat Wachstumsstrategien analysiert und festgestellt, dass erlebnisorientierte Ansätze zu i) Steigerung der Kundenzufriedenheit um mindestens 20 % führen, ii) Cross-Selling-Raten um 15–25 % erhöhen, iii) Share of wallet um 5–10 % vergrößern und iv) die Kundenzufriedenheit und -bindung um 20–30 % verbessern (Bough et al. 2023). Diese Erkenntnis ist höchst relevant, auch weil gemäß der Studie ein verlorener Kunde so viel kostet wie drei neue Kunden zu gewinnen. Kundenbindung ist ein wichtiges Element bei global tätigen Unternehmen. Denn oft werden bei Expansionsstrategien die Kundenwünsche in den entsprechenden Ländern unzureichend berücksichtigt. Die Schweiz ist als internationales Finanzzentrum bekannt für ihr Private Banking, weil die Hälfte der in der Schweiz verwalteten Vermögenswerte aus dem Ausland stammen (BAK 2022). Die Qualität der angebotenen Dienstleistungen lässt sich nicht ohne weiteres von Konkurrenten kopieren, auf andere Märkte übertragen oder durch Akquisitionen steigern. Sich auf den heimischen Markt zu konzentrieren und von den grossen Vermögen in der Schweiz zu profitieren ist eine Chance. Man könnte sagen, dass kleinere und spezialisierte Vermögensverwalter mit Hauptsitz in der Schweiz die Notwendigkeit für eine globale Expansion aufgrund von Risikoüberlegungen nicht spüren. Dies stimmt nicht ganz, wie das Beispiel von Julius Bär zeigt. Die Schweizer Private Bank stärkt ihr Geschäft in der Schweiz und nutzt gleichzeitig ihre Marke und Reputation als Drehscheibe für die globale Expansion. Die Etablierung ihrer Aktivitäten in Asien als Early Mover mit einer Banklizenz in Singapur im Jahr 2007 führte zu ihrem zweiten Heimatmarkt, in dem die Erträge bereits zehn Jahre später ein Drittel ihres Geschäfts ausmachten (Julius Bär 2022). Der Alltag ist in Asien viel digitaler geprägt als in Europa und auch die Wachstums­ prognosen sind überdurchschnittlich im Vergleich zum Rest der Welt. Eine hohe Durchdringung digital-affiner und stetig steigende Anzahl vermögender Kunden spricht dafür, dass digitale Innovationen in Asien entwickelt und getestet werden. Dazu hat Julius Bär Launchpad gegründet. Das Innovationslabor in Singapur bildet eine Plattform, auf der neue Ideen zu greifbaren Lösungen werden, die sich zeitnah im Unternehmen lancieren lassen. Dank Launchpad sollen Impulse von außen Veränderungen in Gang setzen. Es werden dabei Mark- und Technologie-Trends mit den Erfahrungen bestehender Kunden abgemischt. Das Labor dient als Inkubator für Kollegen, Kunden, Partner, Start-ups und Experten, die kooperieren, entwickeln und disruptive Lösungen testen. Open Innovation und Co-Innovation sind die Schlüsselwörter. Kunden und Besucher sind eingeladen, an Sitzungen zu Design-Thinking und Co-Innovation teilzunehmen und zusammen mit den Innovationsgruppen Neues zu erkunden. Erste Lösungen sind, eine auf Künstlicher Intelligenz beruhende Empfehlungsmaschine und ein Chatbot, der automatisch Anfragen zu Risiko

4.4 Profitables Wachstum

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und Compliance beantwortet. Im Rahmen 90-tägiger Innovationszyklen wurde die wirtschaftliche Machbarkeit der Ideen durch Co-Innovationen mit Nutzern im Unternehmen belegt. Neu ist, dass mit Launchpad Lösungen in Asien entwickelt und von da in die Schweiz und andere Märkte verteilt werden können. Das Beispiel zeigt, dass Unternehmen von innen heraus wachsen können, indem sie Markttrends, und Kundenerfahrungen aufnehmen und neue innovative Lösungen, mit Fokus auf Kundenerlebnisse, gemeinsam entwickeln und anbieten. Allerdings dürfen Unternehmen, die im digitalen Jahrzehnt Wachstum erreichen möchten, ihre Kernfunktionen nicht ausschließlich auf digitale Plattformen, generative Künstliche Intelligenz oder prädiktive Analyse ausrichten, sondern müssen versuchen mit persönlichen Beziehungen die Erwartungen ihrer Kunden zu übertreffen. Dabei ist es wichtig, den Aspekt der Profitabilität nicht aus den Augen zu verlieren  – basierend auf den Kundenerfahrungen müssen stets Ergebnisse geliefert werden.

4.4 Profitables Wachstum Das Ziel eines jeden Unternehmens besteht darin, den Aktionären überdurchschnittliche Erträge zu verschaffen. Deshalb ist es äußerst wichtig, die in der Praxis verwendeten Rentabilitätskennzahlen zu verstehen, da sie die Fähigkeit des Unternehmens, Gewinne zu erwirtschaften, im Vergleich zu den Ausgaben ausdrücken. Oft verkaufen aufstrebende Unternehmen Erwartungen in der Zukunft. Intrinsischer Wert, Ungewissheit und unzureichende Finanzierung sind normal bei Start-ups. Eine differenzierte Perspektive macht ersichtlich, dass traditionelle Messgrößen des Wachstums bei Unternehmen der herstellenden Industrie Umsatzerlöse oder die Bilanzsumme, bei Kreditinstituten das Geschäftsvolumen, bei Versicherungen das Prämienvolumen und bei Händlern und digitalen Marktplätzen der Außenhandelsumsatz (Gross Merchandise Volume, GMV) sind. Obwohl Wachstum in verschiedenen Branchen unterschiedlich gemessen wird, ist der Kapitaleinsatz und der Ertrag auf diesem Kapital überall entscheidend. Ist die Höhe des investierten Vermögens in bestehende Ressourcen oder in neue Geschäftsopportunitäten kleiner als zukünftige Erträge, die dadurch entstehen, kann von profitablem Wachstum ausgegangen werden. Eine gewisse Unschärfe entsteht aufgrund von schwer quantifizierbaren Preisen bei Patenten, Humankapital, Markenwert oder Reputation. Es gibt viele Theorien der klassischen Investitionsrechnung und diverse Bewertungsansätze, welche aber hier nicht alle im Detail behandelt werden. Wichtige Kennzahlen sind die Eigenkapitalrendite (Return on Equity, ROE), die (durchschnittliche) Gesamtkapitalrendite (Return on Assets, ROA) und die Rendite des eingesetzten Kapitals (Return on Capital Employed, ROCE). Zur Messung der Effizienz gilt das Verhältnis zwischen Aufwänden und Erträgen (Cost/Income Ratio, CIR). Im dynamischen und wettbewerbsorientierten Umfeld von heute, in dem die Märkte im Laufe der Zeit steigen und fallen, müssen sich Unternehmen schnell, radikal und messbar verändern. Neue Konzepte der wertorientierten Unternehmensführung (Shareholder-­

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4  Digitale Wachstumsgesetze

Value-­Ansatz) haben nicht mehr unbedingt das Ziel, durch den Kapitalstock, auch Anlagevermögen genannt, zu wachsen und buchhalterische Renditemessgrößen für den Wachstumserfolg zu verwenden. In einer Volkswirtschaft, wie auch auf Unternehmerebene, wird damit gemeint, dass sämtliches Sachkapital, welches dem Produkt dient und im Eigentum des Staates oder des Unternehmens ist, bestmöglich genutzt wird. Je höher also der Kapitalstock, desto größer ist das Produktionspotenzial. Bei dieser vergangenheitsorientierten Methode kommt es immer wieder zu mangelnder Übereinstimmung des Marktwertes eines Unternehmens oder falschen Risikoeinschätzungen. Wertorientierte Ansätze beantworten die Frage, ob während einer bestimmter Zeitperiode Wert generiert oder vernichtet wurde. Der Fokus liegt auf einer nachhaltigen Wertsteigerung durch die Steigerung des Börsenwerts der Unternehmen. Die Finanzmärkte üben einen unerbittlichen Druck auf die Führungskräfte aus, immer schneller und globaler zu wachsen. Um den Aktionären in Zukunft eine Rendite zu bieten, die über dem risikobereinigten Marktdurchschnitt liegt, müssen Unternehmen schneller wachsen als ihre Investoren erwarten. Vereinfacht gesagt, kann der Aktienkurs nur dann nicht fallen, wenn die Wachstumsrate die Prognosen übertrifft und das Wachstum profitabel ist. Der Preis pro Aktie, geteilt durch den Gewinn pro Aktie, bekannt als Kurs/Gewinn-­ Verhältnis (KGV), ist ein gutes Maß für den Erfolg und ein zuverlässiges Zeichen dafür, ob ein Unternehmen gewinnt oder verliert. Das KGV dient als Indikator für geschäftliche Probleme und Chancen. Indem man den Preis und den Gewinn pro Aktie eines Unternehmens in Beziehung setzt, kann man die Marktbewertung der Aktien eines Unternehmens im Verhältnis zu dem Vermögen, das das Unternehmen tatsächlich schafft, analysieren. Das KGV zeigt mit welchem Vielfachen des Unternehmensgewinns die Aktie an der Börse bewertet wird. Demnach bedeutet ein KGV von 10, dass ein Unternehmen zehn Jahre benötigen würde, um seinen Börsenwert als Gewinn zu erwirtschaften. Entsprechend würde ein Anleger für jeden Euro Gewinn zehn Euro bezahlen. Es ist wichtig zu verstehen, warum ein KGV über dem Durchschnitt des Gesamtmarktes wünschenswert ist. Wenn zum Beispiel das KGV einer Aktie doppelt so hoch ist wie das einer anderen, ist sie wahrscheinlich eine weniger attraktive Investition. Vergleiche zwischen Branchen, zwischen Ländern und zwischen Zeiträumen sind jedoch gefährlich. Um einem Vergleich von KGVs vertrauen zu können, müssen vergleichbare Aktien verglichen werden. Das KGV war im September 2022 während der letzten 12 Monate (Trailing P/E) der US-Lebensversicherungsindustrie 99 und bei Allgemeinversicherungen 54. Zum Vergleich: Lebensversicherungen in Westeuropa hatten im gleichen Zeitraum einen KGV von 21. Nun könnte man sich fragen, wieso europäische Versicherer so tief bzw. billig bewertet sind. Die zweite Frage wäre dann, wann ein KGV als billig gilt. Auch müsste man hierzu ein durchschnittliches KGV über die letzten zehn Jahre anschauen und nicht nur ein Jahr. Alle Firmen des DAX haben beispielsweise einen 10-Jahresdurchschnitt von 16, der des S&P 500 liegt bei rund 18. Neben regionalen Gegebenheiten sind auch Branchenvergleiche schwierig. Jede Branche hat ihre eigenen Merkmale. In der Automobilbranche liegt das KGV in der Regel unter zehn, während Privatbanken bei etwa 15 und Universalbanken bei 10–12 liegen. Im Bankensektor war das Verhältnis immer viel niedriger als in

4.4 Profitables Wachstum

93

der High-Tech- oder Software-Branche. SAP beispielsweise hat seit 20 Jahren einen durchschnittlichen KGV von 25. In einem normalen Marktumfeld würde ein KGV unter zehn bedeuten, dass eine Aktie im Vergleich zu ihren Gewinnen sehr attraktiv ist und daher eine gute Investition darstellt. Als die Credit Suisse ein KGV von unter zehn aufwies, hätte man dies eigentlich als gutes Einstiegssignal deuten können. Das Problem ist aber die Ungewissheit über die Zukunft. Die Credit Suisse konnte nicht mehr allein bestehen und um die Insolvenz und eine Finanzkrise abzuwenden wurde sie im März 2023 von der UBS übernommen. Es gibt immer wieder überbewertete Unternehmen mit KGVs von über hundert, was aber Ausnahmen sind. So war Google beim Börsengang 2004 völlig überbewertet. Dies galt für fast alle Tech- und Software-Aktien. Wer zu Beginn in überbewertete Unternehmen wie Amazon, Alphabet (Google), Apple, Meta, Paypal, Salesforce investierte konnte im Laufe der Jahre trotzdem Gewinne von mehreren Tausend Prozent verbuchen. In der Regel sind hohe KGVs typisch für Unternehmen, die noch nicht viel Geld verdient haben, dies aber in den nächsten Quartalen oder Jahren erwarten. Das KGV eignet sich also nicht als Kennzahl bei Unternehmen mit hohen Investitionen und geringem Gewinn. Im Gegensatz dazu kann ein hohes KGV auch damit erklärt werden, dass das Unternehmen zuvor viel Geld verdient hat, aber im letzten Quartal oder Jahr eine besondere einmalige Ausgabe hatte. Kurz gesagt, es spiegelt den Preis auf der Grundlage der vergangenen Gewinne wider. Diese einmalige Belastung hat das Ergebnis erheblich geschmälert. Die Aktionäre verstehen jedoch, dass es sich um eine einmalige Ausgabe handelte und kaufen die Aktie weiterhin zum gleichen Preis wie zuvor und verkaufen sie nur zu mindestens dem gleichen Preis. Beachten Sie auch, dass der Kurs einer bestimmten Aktie vorübergehend hoch sein kann, wenn – aus welchem Grund auch immer – eine hohe Nachfrage nach ihr besteht. Diese Nachfrage muss nichts mit dem Unternehmen selbst zu tun haben, sondern kann damit zusammenhängen, dass ein institutioneller Anleger versucht, das Risiko zu streuen. Dies sind nur einige der Gründe, die das KGV beeinflussen. Ohne voreingenommen zu sein, sollten die Metriken von KGV’s verstanden werden. Finanzexperten erklären den Multiplikator mit wachstumsunabhängigen und wachstumsbezogenen Elementen. Das sogenannte wachstumsunabhängige Element zeigt an, dass ein Großteil des KGV aus der aktuellen Leistung des Unternehmens stammt. Das bedeutet, dass das Unternehmen in jedem Jahr in der Zukunft genau die gleiche Leistung erbringt wie in den vergangenen Jahren. In diesem Fall würde das wachstumsunabhängige Element sein gesamtes KGV ausmachen. Im Gegensatz dazu spiegelt das Wachstumselement die Erwartungen des Marktes in Bezug auf die rentablen künftigen Investitionsmöglichkeiten des Unternehmens wider. Es gibt den Anlegern gute Gründe für die Erwartung einer bedeutenden Leistung in der Zukunft; darin liegt also fast die gesamte Chance. Tatsächlich bestimmen nur vier Faktoren, ob das Wachstumselement des KGV eines Unternehmens groß, moderat, niedrig oder negativ ist. Jede Maßnahme, die ein Manager ergreift, um den Aktienkurs und das KGV zu erhöhen, ist auf die Beeinflussung eines dieser Faktoren zurückzuführen ist. Erstens misst die Rendite auf dem investierten Kapital (ROIC) zusammen mit den Kapitalkosten die tatsächliche Rentabilität künftiger Investitionsmöglichkei-

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4  Digitale Wachstumsgesetze

ten. Diese finanzielle Kennzahl gibt einfach an, wie gut ein Unternehmen Cashflow im Verhältnis zum investierten Kapital erwirtschaftet. Die Differenz zwischen den oben genannten Variablen, der Spread, ist ein guter Indikator für Investoren, um die Prognose eines Unternehmens zu erkennen. Zweitens sind die Investitionen, das heißt der Geldbetrag, den ein Unternehmen jedes Jahr über die Abschreibungen hinaus wieder in seine Geschäfte investiert, ein weiterer starker Wachstumshebel, der das KGV nach oben oder unten treibt. Um ein ansehnliches Wachstum zu erzielen, müssen die Investitionen mindestens ausreichen, um die Vermögenswerte des Unternehmens zu erhalten, besser noch, sie sollten höher sein als der Betrag, der zur Deckung der Abschreibungen erforderlich ist. Schließlich gibt es noch die Dauer, womit die Zeitspanne, in der ein Unternehmen die Erträge aus neuen Investitionen über den Kapitalkosten halten kann, verstanden wird. Natürlich kann ein Unternehmen ein bestimmtes KGV durch verschiedene Kombinationen der vier Faktoren erreichen. Sicher ist, dass Unternehmen mit einem über dem Marktdurchschnitt liegenden KGV die Gewinner im Wettbewerb, um Kapital sein werden. Sie werden am ehesten in der Lage sein, ihre Aktionäre zufrieden zu stellen, indem sie ihr Kapital in nachhaltiges Wachstum investieren. Zudem fällt es diesen Unternehmen einfacher die besten Mitarbeiter einzustellen und Kunden zu werben. Durch die Erklärung von Wachstumskennzahlen wird offensichtlich, dass profitables Wachstum bei digitalen Plattformen anders funktioniert. Digitale Plattformen sind in der Regel offene Systeme, die es vielen verschiedenen Akteuren ermöglichen, auf ihnen zu operieren. Durch die Schaffung eines Ökosystems von Anbietern und Nutzern können digitale Plattformen Wachstum generieren, indem sie die Anzahl der Nutzer und Anbieter erhöhen und so den Wert der Plattform für alle Beteiligten steigern. Wachstum basiert im digitalen Paradigma auf der Generierung von Netzwerkeffekten und Skaleneffekten und kann entsprechend exponentiell verlaufen.

4.5 Exponentielles Wachstum Skaleneffekte sind nicht dasselbe wie exponentielles Wachstum. Skaleneffekte entstehen, wenn ein Unternehmen durch beispielsweise Digitalisierung einen hohen Automatisierungsgrad erlangt. Vereinfacht gesagt, muss mit einem entsprechenden Einsatz an Ressourcen ein überproportionaler Ertrag erwirtschaftet werden. In der Produktion gilt, dass je höher die Stückzahl ist, desto kostengünstiger gefertigt werden kann. Der gleiche Effekt hat ein Unternehmen mit einem traditionellen Filialnetz bei der Umstellung auf ein Vertriebsmodell über eine digitale Plattform. Hier können fixe und variable Kosten eingespart werden. Es ist dann egal, ob 100 oder 1000 Produkte am Tag verkauft werden – die Kosten für den Vertrieb bleiben etwa gleich. Es gibt noch andere Formen von Skaleneffekten, wie konstante, dynamische, externe und interne oder sogar negative Skaleneffekte, auf die hier nicht eingegangen wird. Exponentielles Wachstum hingegen ist definiert als ein Prozess, bei dem sich ein Wert in gleichen zeitlichen Abschnitten immer um denselben Faktor vervielfacht. Wenn

4.5 Exponentielles Wachstum

95

Plattform-­ Geschäftsmodelle und Ökosysteme diskutiert werden, muss exponentielles Wachstum verstanden werden, da diese von Netzwerkeffekten abhängig sind. Denn anders als bei einer linearen Sichtweise, unterschätzen Menschen in der Regel das langfristige und unbegrenzte Wachstum. Weil eine lineare Entwicklung irgendwann aufhört und es zu Trendbrüchen oder Gegentrends kommt, müssen Führungskräfte verstehen, wie alternative Wachstumspfade funktionieren. Die Richtung des Wachstums oder ein erfolgreiches Geschäftsmodell können lange gleichmäßig verlaufen, plötzlich aber aufgrund von Veränderungen stark ansteigen. Zudem werden Marktteilnehmer oft lange getäuscht und das exponentielle Wachstum bleibt unbemerkt, weil die Verdoppelung der Zahlen auf einer Exponentialkurve zunächst so gering ist, dass die Zahlen unbedeutend oder linear erscheinen. Exponentiell bedeutet mathematisch eine Verdoppelung der Fähigkeit oder Leistung oder Halbierung der Kosten in jeder Periode. Der zu Beginn langsame Änderungsprozess, wo ein Wert sich in gleichen zeitlichen Abständen immer um denselben Faktor vervielfacht, beschleunigt sich irgendwann und zeigt dann den Knickpunkt der Exponentialkurve. Aus der Informations- und Kommunikationstechnologie ist die exponentielle Entwicklung von Datenvolumen durch die Vernetzung von Dingen (IoT) evident. Jeden Tag werden heute etwa 2,5 Trillionen Bytes (Exabytes) an Daten erzeugt, was dem Inhalt von 5 Mio. Laptops entspricht. Bis 2025 sollen es gemäß Schätzungen bereits 463 Exabytes sein (Vuleta 2021). Bei der Rechenleistung findet seit den 1970er-Jahren eine Verdichtung von Transistoren statt. Das bekannte Mooresche Gesetz besagt, dass sich die Anzahl der Transistoren in einem Mikrochip alle zwei Jahre verdoppelt und sich der Preis halbiert (Tardi 2023). Seitdem nimmt die Rechenleistung exponentiell zu. Der amerikanische Erfinder von Sprachverarbeitungssystemen, Futurologe und Mitgründer der Singularity University, Ray Kurzweil, geht noch einen Schritt weiter und meint, dass das Mooresche Gesetz nur ein kleiner Teil eines größeren allgemein gültigen Gesetzes ist, nämlich dem Gesetz des sich beschleunigenden Nutzens. Konkret bedeutet sein Law of Accelerating Returns (Kurzweil 2001), dass der technologische Wandel exponentiell verläuft, ebenso wie seine Erträge, inklusive Geschwindigkeit von Mikrochips, Verdichtung, Kosteneffizienz oder die Bandbreite bei der Datenübertragung von 4G nach 5G. Das iPhone unterstreicht diese Entwicklung. Das erste Smartphone von Apple kam 2007 auf den Markt und bereits 2014 kam das iPhone 6 mit einer 50-fachen Rechenleistung und mehr als die 84-­fachen Grafikbeschleunigung. Die Zinseszins-Formel ist eine weitere praktische Anwendung und führt zu wünschenswertem exponentiellem Wachstum des Kapitals. N ­ egative Beispiele der exponentiellen Funktion sind jegliche Formen von Schneeballsystemen. Aber auch ein Zerfall oder eine Abnahme kann exponentiell erfolgen. Mathematisch erklärt sich das mit einem negativen Wachstumskoeffizienten. Ein Beispiel ist der radioaktive Zerfall von Cäsium 137 oder der Preiszerfall bei Mikroprozessoren. In der Wirtschaft kann exponentielles Wachstum höchstens kurzfristig oder in einer Anfangsphase stattfinden. Es ist kein langfristiger Trend und ebenso unrealistisch wie eine nie endende Hyperinflation. Irgendwann hebt sich die Diskrepanz zwischen der Wachstumserwartung und dem tatsächlichen Verlauf auf. Auch das bakterielle Wachstum durch Zellteilung geht irgendwann in eine stationäre Phase über. Die Kurve flacht dann

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4  Digitale Wachstumsgesetze

ab, wenn die Nährstoffe aufgebraucht sind und die Absterbephase der Zellen einsetzt. Beispiele aus der Wirtschaft gibt es auch hierzu etliche. Ein Jahr bevor Accenture 2001 seinen Namen von Andersen Consulting wechselte und an die Börse ging, erwirtschafteten 70.000 Mitarbeitende 10 Mrd. US-Dollar Umsatz. Heute beschäftigt das Unternehmen über 700.000 Mitarbeitende und erzielt einen Umsatz von über 50 Mrd. US-Dollar. Dies ist nicht zehnmal mehr und zeigt die Grenzen von Wachstum. Amazon beschäftigte in den ersten zehn Jahren weniger als 10.000 Mitarbeitende und erwirtschaftete kaum Erträge. Von 2005 bis 2010 entwickelte sich Wachstum auf kleinem konstantem Niveau bis 2010 sehr starkes Wachstum einsetze und sich die Umsätze bis heute versechsfachten. 2022 erwirtschaftete Amazon mit über 1,5 Mio. Mitarbeitern 610 Mrd. US-Dollar Umsatz, also mehr als der ganze deutsche Einzelhandel zusammen (Statista 2023a, b). Solche Wachstumsraten entstehen bei etlichen Unternehmen innerhalb E-Commerce, Technologie, Internet und sozialer Medien. Diese Firmen gelten als exponentielle Organisationen (Rotax et al. 2019), obwohl das exponentielle Wachstum nur kurz nach einer ersten Phase von Unsicherheit, Ungeduld und Zweifel einsetzt. Denn wie in der Biologie können Accenture oder Amazon irgendwann das exponentielle Wachstum nicht mehr aufrechterhalten: die Wachstumsraten normalisieren sich dann von zehnfachen Beschleunigungen zu vielleicht 10 % pro Jahr. Eines haben alle exponentiellen Organisationen gemeinsam; sie nutzen digitale Plattformen und erzielen so Skaleneffekte, welche größer sind als bei vertikal integrierten Wertschöpfungsmodellen. Exponentielles Wachstum entsteht demzufolge durch Netzwerkeffekte. Diese treten ein, wenn ein Produkt oder eine Dienstleistung für seine Nutzer wertvoller wird, je mehr die Dienstleistung nutzen. Das Wachstum und der steigende Wert ziehen wiederum mehr Nutzer an und so weiter. Zur Erklärung von Geschäftsmodellen mit Netzwerkeffekten gibt es drei Grundgesetze, i.e. Sarnoff (linear), Metcalf (quadratisch) und Reed (exponentiell), alle mit verschiedenen Eigenheiten und Ausprägungen (Guides Publishing 2023). Der Rundfunktheoretiker David Sarnoff beschrieb 1920, dass der Wert eines Netzwerkes linear mit der Anzahl der Knoten wächst. So steigt der Wert eines Radiosenders für den Zuhörer nicht unbedingt mit zunehmender Hörerschaft, sondern proportional zur Anzahl der Hörer. Bob Metcalfe erfand 1980 das Ethernet und gründete  den System- und  Netzwerkausrüster 3Com. Er erkannte, dass sich der Wert eines Netzwerkes quadratisch zur Anzahl der Benutzer entwickelt. Telefon, Internet und E-Mail sind hier allgemein bekannte Anwendungen, welche steigenden Nutzen mit jedem weiteren Gerät versprechen, da diese einen erheblichen Einfluss auf die Interaktion der ­Teilnehmer hat. Dadurch können sich schnell Monopole bilden, die dann zur Aufrechterhaltung des Wettbewerbes reguliert werden müssen. Die Zerschlagung der Telefongesellschaft Bell oder das Verbot an Microsoft, ihre Kunden zur Nutzung des Internet-Explorers zu zwingen, sind Auswirkungen von dieser Art des Netzwerkeffektes. Basierend auf Metcalfe erklärte David Reed während des Internet-Booms Ende der 1990er-Jahre, das der Wert eines Netzes auch exponentiell mit der Anzahl der Knoten skaliert, wegen dem Einfluss der gegenseitigen Verflechtung. Damit meint Reed, dass Perso-

4.5 Exponentielles Wachstum

97

nen und Gruppen, Sub-Netzwerke bilden können. In einem Sozialen Netzwerk verwenden Nutzer das Netzwerk, um sich beispielsweise über Chatforen auszutauschen oder Communities mit ähnlichen Interessen zu bilden. Je mehr Teilnehmer in diesen Communities interagieren, desto höher der Wert für den einzelnen Nutzer. Der Wert der Community steigt mit jedem Teilnehmer überproportional. Auch der Gesamtwert des Netzwerk steigt stark überproportional mit jedem Beitritt, da jeder neue Nutzer sowohl die Verbindungen als auch die Community vergrößert. Im Kontext eines Ökosystems bedeutet dies nichts anderes als, dass über digitale Plattformen weitere Ökosysteme entstehen können  – also Ökosysteme von Ökosystemen. Mit Hilfe der Illustration in Abb. 4.1 ist ersichtlich, dass, wenn die Formeln angewendet werden, bei acht Benutzern der theoretische Wert für das Netzwerk bei Sirnoff 8, bei Metcalfe 64 und bei Reed 256 ergibt. In unserer heutigen vernetzten Welt sind das zweiseitige Skalierungs-Gesetz von Metcalfe und vor allem das mehrdimensionale Gesetz von Reed relevant. Dabei müssen Führungskräfte verstehen, wie die Modelle die Wertschöpfung bestimmen, welche strategischen Implikationen sie haben und welche ethischen oder regulatorischen Konsequenzen sie beinhalten. Strategisch muss ein Unternehmen unter Berücksichtigung des Gesetzes von Metcalfe erpicht sein, möglichst eine hohe Anzahl Interaktionen, sprich Transaktionen, zu erzeugen, während bei Reed auf die Kollaboration durch die Bildung von Communities innerhalb des Netzwerkes fokussiert werden sollte. Durch die Gesetzmäßigkeiten ergeben sich verschiedene Skalierungsmodelle (siehe Abb. 4.2). Das größte Potenzial ist innerhalb sozialer Netzwerke, welche sich in letzter Zeit, wegen des Reed’schen Effekts hin zu sozialen Medien entwickelten. Hier gibt es theoretisch einen kleinen Unterschied, obwohl sie als Synonyme verwendet werden und im Sinne der Konvergenz auch zusammenwachsen. Während Netzwerke das primäre Ziel haben, persönliche und geschäftliche Beziehungen in einer interaktiven Umgebung aufzubauen und zu pflegen (Facebook, LinkedIn), gehen soziale Medien noch einen Schritt weiter. Soziale Medien basieren auf einem breiteren Konzept, das alle digitale Plattformen umfasst, auf denen Nutzer Inhalte erstellen, teilen und konsumieren können. Sie Sarnoff’s Gesetz

Metcalfe’s Gesetz

V=n

V=n2

Abb. 4.1  Arten von Netzwerkeffekten (eigene Darstellung)

Reed’s Gesetz

V=2n

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4  Digitale Wachstumsgesetze Social Media Platform (Reed)

Wert des Netzwerkes

Telefon (Metcalfe)

linear

TV (Sarnoff)

Zahl der Teilnehmer

Abb. 4.2  Exponentielle Wachstumskurven anhand der Netzwerkgesetze (eigene Darstellung)

nutzen digitale Plattformen, die beinahe in Echtzeit Filme übertragen können, als Mittel zur Interaktion, Inhaltsvermittlung und vornehmlich Meinungsbildung durch den zusätzlichen Aufbau von Communities. So kann eine Meinung, oft in Form eines Videos, an eine bekannte, aber auch unbekannte Audienz kommuniziert werden. Da Medieninhalte über multiple Kommunikationsarten verbreitet werden, können Marketing- oder Propagandaziele erreicht werden, was eigentlich einer der wesentlichsten Unterschiede zu sozialen Netzwerken ist. Bekannte soziale Medien sind YouTube, TikTok, Reddit, Pinterest und andere, die nicht unbedingt auf die Verbindung von Menschen und die Pflege von Beziehungen fokussiert sind. Soziale Medien bieten oft eine breitere Palette von Inhalten wie Videos, Bilder, Nachrichten und Diskussionen, die von Nutzern erstellt und geteilt werden. Facebook gibt mit der Metaverse-Strategie, also dem Aufbau diverser Parallelwelten, je nach Thema und Geschmack von Benutzergruppen vor, wie in Zukunft noch mehr Wert mit Netzwerkeffekten generiert werden kann. Dazu wurde 2007 eine Plattform-Strategie entworfen, was bedeutete, Dienste wie Facebook-Logins Millionen von Webdiensten anzubieten. Zudem wurde eine offene Entwicklungsplattform und die Möglichkeit von Werbetools geschaffen, womit Daten monetarisiert werden konnten. Diese frühzeitige Ökosystem-­Strategie wurde begleitet von über 60 Akquisitionen wie Instagramm 2012 oder WhatsApp 2014. Auch wenn WhatsApp mit einem Kaufpreis von 19 Mrd. US-Dollar Verwunderungen auslöste, konnte die Benutzerzahl von 460 Mio. auf über 2 Mrd. innerhalb von sechs Jahren gesteigert werden. Schätzungen zufolge wurde der ROI im Jahr 2022 erreicht. Die Umsätze stiegen von 1,3 Mrd. US-Dollar im Jahr 2018 auf rund 9 Mrd. US-Dollar im Jahr 2022 an und damit ist der Wertzuwachs nach dem Gesetz von Reed für Meta als Konzern nicht einkalkuliert. Im Jahresbericht 2022 wies Meta einen durch-

4.6 Digitales Risiko

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schnittlichen Umsatz pro Benutzer von 15 US-Dollar aus und gehört zu einer der wertvollsten 20 Firmen der Welt (Meta 2023).

4.6 Digitales Risiko Ein sehr wichtiger Faktor, der immer berücksichtigt werden muss, wenn Wachstum und Rentabilität aufrechterhalten werden sollen, ist das Risiko. Bei exponentiell skalierenden Modellen sind die Risiken überproportional höher. Es liegt auf der Hand, dass die Bewertung und Vorhersage der vielen Arten von Risiken, die mit Fusionen und Übernahmen, globaler Expansion, Markenbildung, Innovation, Partnerschaften und Zusammenarbeitsformen schwierig sind. Im digitalen Paradigma hat das Risikomanagement eine zentrale Bedeutung. Die Zusammenarbeit zwischen Teilnehmern in Ökosystemen, seien es Kunden, Lieferanten, Produzenten, Plattformbetreiber, Regulatoren oder künstliche Wertgeneratoren wie IoT oder Chatbots basiert auf einem sicheren und zuverlässigen Austausch, der effizienten Verarbeitung und dem schnellen Transport von Daten. Gleichzeitig entstehen immer mehr Geschäftsideen, wie mit Daten Geld verdient werden kann. Der Data Intelligence Hub von T-Systems (Deutsche Telekom) beispielsweise ist eine Plattform ausschließlich für den sicheren und effizienten Austausch und die Verarbeitung und Analyse von Daten (T-Systems 2023). Dabei stehen eine große Anzahl von Anwendungen und Datenanalyse-­Werkzeugen zur Verfügung, um externe Daten miteinander ohne Programmieraufwand zu verknüpfen und damit Mehrwert zu generieren. Um technische Risiken zu minimieren, unterliegt der Daten-Marktplatz den strengen Sicherheitsvorgaben der International Data Spaces Association (IDSA 2023). Dank Datenschutzstandards und einer Datentreuhandarchitektur mit föderaler Datenhaltung und Teilnehmerzertifizierung werden die Daten sicher aufbewahrt und Zugriff sowie Kontrolle obliegen dem Nutzer. Während also die digitale Transformation den Prozess der Digitalisierung beschreibt, wobei die Datensicherheit eminent wichtig ist, ist das Ökosystem das System, welches digitale Risiken vereint. Digitale Risiken sind also nicht gleichzusetzen mit den Risiken der Digitalisierung. Bei digitalen Risiken kommen die potenziellen Risiken von den beteiligten Unternehmen  – eigentlich von den Beziehungen der Teilnehmer untereinander und nicht von der Technologie, welche den Datenaustausch ermöglicht. Aufsichtsbehörden stark regulierter Branchen verlangen, dass Unternehmen ihre digitalen Risiken verlässlich kontrollieren und steuern. Konkret müssen jegliche Daten, inklusive Kundendaten jederzeit verfügbar, vor ungewollten Veränderungen gesichert und vor unbefugter Einsichtnahme durch Prozesse und entsprechende Maßnahmen geschützt werden. Dies gilt für sensible Finanz- und Gesundheitsdaten ebenso wie für Konsumenten- oder Bewegungsdaten von Bürgern. „Digitale Risiken entstehen in einem Ökosystem primär durch die Interaktionen der Teilnehmer untereinander und nicht durch die Technologie an und für sich.“

100

4  Digitale Wachstumsgesetze

In einer dynamischen, unsicheren und volatilen Welt muss die Risikofunktion neu in der Organisationsstruktur verankert werden. Vor allem, wenn sich die Rahmenbedingungen durch exogene Ereignisse plötzlich komplett ändern. Auch Open-Innovation-Ansätze lassen Organisationsgrenzen und damit Verantwortungen zunehmend verschwimmen, was im nächsten Kapitel ausgeführt wird (siehe Kap. 5). Eine zentrale Risikokontrolle kann sich als schwierig erweisen, wenn das Unternehmen seine Wertschöpfung in einem Ökosystem erbringt, wo viele Marktteilnehmer auf dem Globus verteilt zusammenarbeiten. Unterschiedliche Risiken betreffen entsprechend nicht nur einzelne Organisationseinheiten, sondern das gesamte Wertschöpfungsnetzwerk. Es braucht also einen neuen ökosystemkonformen Risiko-Ansatz, bei dem alle kritischen Wertgeneratoren ihr Wissen teilen und beim Erreichen, im vornerein definierter Schwellwerte, Maßnahmen abstimmen. Die erwähnten digitalen Risiken nehmen mit jedem Teilnehmer in einem Ökosystem exponentiell zu. Auch die Einbeziehung von demografischen, politischen, finanziellen, umweltbezogenen und sozialen Trends erhöht die Komplexität des Risikomanagements erheblich. Mit dem Ukraine-Krieg konnte der kritische Beobachter feststellen, wie das präventive Risikomanagement nicht funktionierte. Niemand hätte gedacht, wie groß die Risiken der europäischen Energieversorgung sind oder wie wichtig die Logistik für die Weizenlieferungen aus der Ukraine für die Welt sind. Der Krieg stellte Außen-, Energieund Sicherheitspolitik neu in den Fokus und beeinflusst Exportnationen wie Deutschland und die Schweiz stark. Die Lieferkettenprobleme sind klar eine Folge von nicht vernetzter Risikobetrachtungen. Internationale Verflechtungen sind demnach nur so lange Garant für Frieden und Wachstum, solange die Risiken beherrscht sind. Folgen für die europäische Industrie sind Ertragseinbußen, längere Wartezeiten und generelle Planungsunsicherheit neben dem Risiko der Energieknappheit und steigender Kosten (DIHK 2022). Ökosysteme dienen in diesem Fall nicht nur der gemeinschaftsorientierten Wertgenerierung – sie können auch als ein selbstregulierendes System agieren, welches die Ausfallsicherheit von Lieferanten optimiert (Fasnacht 2022). Allerdings nur, wenn die Risiken ganzheitlich von allen Teilnehmern gleich beurteilt werden. Im Rahmen dieses Buches können nicht alle Risikokategorien beschrieben werden, da sie allen eigenen Modellen und Szenarien zur Überwachung folgen. Wichtig ist, dass eine ambidextre Sichtweise eingenommen (siehe Kap. 8) und zwischen traditionellen Risiken und digitalen Risiken unterschieden wird. Risikofunktionen sollten dabei immer aus zwei Perspektiven betrachtet werden. Es ist demnach unerlässlich, aus der Vergangenheit zu lernen, um wichtige Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Im digitalen Paradigma ist es von entscheidender Bedeutung das digitale Risiko thematisch richtig einzuordnen. Es gibt viele Risiken, wie Markt-, Betriebs-, Geschäfts-, Politik-, Agentur-, Plattform-, Rechts-, Liquiditäts-, Reputations-, Personal- oder Systemrisiken. Neben der thematischen Einordnung gibt es, gemäß dem Wirtschaftsprüfer Ernst & Young, drei Formen von Risiken: externe, Risiken, Aufwärtsrisiken und Abwärtsrisiken (Brachio 2018). Entsprechend, können externe Risiken einen positiven oder negativen Einfluss haben. Sie sind allerdings unvorhersehbar, da sie außerhalb des unternehmerischen Einflussbereichs liegen. Alle fünf von den Vereinten Nationen definierten Megatrends

4.6 Digitales Risiko

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(geopolitischer Shift, Klimawandel, Urbanisierung, Technologie, demografischer Wandel und soziale Veränderungen) mit Bezug zu den 17 Nachhaltigkeitszielen, fallen in diese Kategorie (United Nations 2020). Trends generell können einen direkten oder indirekten Einfluss auf Unternehmen haben. Aber auch ein verändertes Wettbewerbsumfeld mit neuen Spielregeln und Konkurrenten gehören zu den externen Risiken. Die sogenannten Aufwärtsrisiken beziehen sich direkt auf die Fähigkeit eines Unternehmens, seine Geschäftsstrategie und -ziele umzusetzen. Wachstumschancen, wie neue Kunden durch Innovationen zu gewinnen oder Marktanteile zu erobern oder datenbasierte Wertschöpfungsmodelle, gehören dazu. Aufwärtsrisiken können nur unter Einbeziehung der Unterneh­ mensstrategie bewertet werden. Es geht dabei immer darum, festzustellen, mit welchem Risiko der größte Wert geschaffen werden kann. Wie es der Name vermuten lässt, haben die Abwärtsrisiken einen ausschließlich negativen Effekt auf das Unternehmen. Zu diesen Risiken gehören IT Sicherheit, Datenschutz, Cyberkriminalität und jegliche Arten von Betrug. Diese Risiken müssen vollständig verstanden und dürfen nicht eingegangen werden, um Werte zu sichern und Schaden abzuwenden. Am Anfang des Buches wurden verschiedene Wege der Innovation erörtert (siehe Kap. 2). Inkrementelle Innovationen haben demnach zum Ziel, bestehende Prozesse, Produkte und Dienstleistungen schrittweise zu verbessern, um Marktanteile zu erhalten. Sie bergen in der Regel ein geringes Risiko bei geringem Ertrag. Radikale Innovationen hingegen folgen auf eine technologische Basisinnovation (Dampfmaschine, Eisenbahn, Elektrizität, Transistor). Das dies einen Einfluss auf einen langen Konjunkturzyklus, mit gesellschaftlichen Konsequenzen hat, sind sie unumkehrbar. Das Risikomanagement über eine Generation ist fast unmöglich und macht wenig Sinn. Als dritte Kategorie gelten disruptive Innovationen, die Produkte, Dienstleistungen und Märkte verdrängen und große Gefahr für Unternehmen darstellen können. Sie beziehen sich auf neue Geschäftsmodelle, die risikoreich sind, aber bewertet und überwacht werden können. Trends sind in der Regel volatil und schwer identifizierbar, da sie sich zuerst als schwache (unbedeutende) Signale erkenntlich zeigen und sich über komplexe soziale Interaktionen entwickeln. Um die mit solchen Innovationen verbundenen Risiken erfolgreich zu managen, braucht es agile Methoden, welche in der Regel Start-ups anwenden. Start-ups setzen meist auf Experimente und Iterationen. Dadurch entsteht ein iteratives Risikomanagement. In diesem Zusammenhang braucht es adaptives Management. Dabei werden Entscheidungen kontinuierlich überwacht und anhand neuer Informationen und Erkenntnisse angepasst. Ziel sollte es sein Ambiguitäten und Komplexität in dynamischen Systemen besser zu bewältigen. Dabei werden flexible Strategien und Experimente genutzt, um auf Veränderungen zu reagieren und die Effektivität der Maßnahmen zu verbessern. Adaptives Management betont die Lernprozesse und die Anpassungsfähigkeit in der Entscheidungsfindung, um langfristige Ziele zu erreichen. Risikomanagement ist eine Gratwanderung, denn es ist schwierig, das Risiko des Scheiterns zu messen. Das Potenzial von disruptiven Innovationen muss erkannt werden und Führungskräfte müssen Mut zum Risiko haben. Denn die Innovationen, welche letztendlich die Aktionäre zufrieden stellen, erfordern wirtschaftliches Wachstum und Risikobereitschaft. Der

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4  Digitale Wachstumsgesetze

­ isikomanager der Zukunft muss Technologie, Innovationen und erlebnisorientiertes R Wachstum ganzheitlich kontrollieren. Um diesen Auftrag erfolgreich zu erfüllen, müssen auch Daten, Strukturen, Prozesse und vor allem die Kräfte eines Ökosystems in die Arbeit integriert werden. Alle Anspruchsgruppen, die an der Wertschöpfung beteiligt sind, müssen in die Risikobetrachtung involviert werden. Die Herausforderung Wachstum, Innovation und Wandel zu bewältigen und gleichzeitig die Kosten und Risiken im Auge zu behalten ist groß. Wenn dann noch Disruption und exponentielles Wachstum durch digitale Plattformen angestrebt werden, wird es noch schwieriger – trotzdem ist es nicht unmöglich digitale Risiken zu überwachen. Ein modernes Risikomanagement im Kontext von digitalen Plattformen und Ökosystemen braucht einen Kulturwandel in der Organisation. Lineare und eindimensionale Sichtweisen, wo Risiken in Einfluss und Wahrscheinlichkeit eingeteilt werden, helfen in unserem schnelllebigen Zeitalter nicht. Die Geschwindigkeit, in welchem Maße ein Abwärtsrisiko Schaden und Verluste verursacht und wo exponentielles Wachstum stattfinden kann, wenn ein Aufwärtsrisiko genutzt wird, wurde aufgezeigt. Die Auswirkungen von Rentabilität und Wachstum auf die Wertschöpfung variieren zwischen großen und kleinen Unternehmen, Branchen und Ländern. Da Wachstum aber auch immer etwas mit Wohlstand zu tun hat, Vermögen ungleich verteilt sind und sich ungleich entwickeln, spielen immer mehr ethische Entscheidungen eine Rolle. Entsprechend müssen Unternehmen mehr Verantwortung übernehmen und das weite Feld von Nachhaltigkeitsaspekten berücksichtigen.

4.7 Nachhaltiges Wachstum als ultimatives Ziel 4.7.1 Das Gewinnparadoxon Strategische Initiativen dürfen nicht nur kurzfristig erfolgreich sein, sondern müssen langfristig einen Einfluss auf das Unternehmen haben. Diese Nachhaltigkeit im Sinne von langfristiger Existenzsicherung ist ebenso wichtig, wie die Nachhaltigkeit im Sinne von ökologischen und sozialen Zielen. Letzteres wurde von den Vereinten Nationen als die 17 Nachhaltigkeitsziele definiert (United Nations 2023). Die Welt ist eben doch ein großes Ökosystem, wo alle voneinander abhängig sind. Alle Staaten werden entsprechend angehalten und gleichermaßen aufgefordert, die drängenden Herausforderungen der Welt gemeinsam zu lösen und Wachstum immer auch aus einer Nachhaltigkeitsperspektive zu betrachten. Technischer Fortschritt und globale Verflechtung haben dazu geführt, dass es der Menschheit als Gesamtes noch nie so gut ergangen ist wie in den letzten Jahren. Doch seit der Zeitenwende, respektive der Zinsumstellung im September 2022 erleben viele Menschen eine starke Inflation, wobei nicht nur Energiepreise, sondern auch Krankenkassenprämien, Mieten und Mehlpreise stark ansteigen. Solche Veränderungen wirken unterschiedlich auf Volkswirtschaften und Gesellschaftsschichten. Konkret, die einen Unternehmen sind davon stark betroffen, während andere von Krisen sogar profitieren können. Der Wirtschafts-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz thematisiert den Zusammenhang zwi-

4.7 Nachhaltiges Wachstum als ultimatives Ziel

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schen Ungleichheit und Wachstum (Stiglitz 2016). Demnach besteht das Paradoxon darin, dass der Gewinn oft auf Kosten anderer geht, die durch eine Krise wirtschaftlich benachteiligt sind. In den letzten vierzig Jahren haben wenige sehr stark wachsende Unternehmen den größten Teil der Früchte des technologischen Fortschritts geerntet (Eeckhout 2021). So haben die größten Unternehmen Konkurrenten einfach aufgekauft und sich so riesige Gewinne gesichert und Ungleichheiten für die Arbeitnehmenden geschaffen. Anstatt die Vorteile von Technologien über niedrigere Preise an die Verbraucher weiterzugeben, nutzen diese Unternehmen die neuen Technologien, um noch höhere Preise für Produkte und Gebühren für Dienstleistungen zu verlangen und mit digitalen Plattformen Daten zu kontrollieren und Sektoren zu dominieren. Die Folgen sind unnötig hohe Preise und stagnierende Löhne für die meisten Arbeitnehmenden, während die Produktivität gleichzeitig stark steigt. Um beim Shareholder-Value-Ansatz zu bleiben, erklärt dies, wieso in der Plattform-Ökonomie, die nach Marktkapitalisierung größten Firmen alles Technologiefirmen mit Bewertungen von bereits bis zu 2,5 Billionen US-Dollar sind und Banken weiterhin eine systemrelevante Rolle im globalen Wirtschaftskreislauf spielen werden. Diese zunehmende Ungleichheit führt zu sozialen und gesellschaftlichen Herausforderungen. Wachstumskritik scheint angebracht, wenn die Sinnhaftigkeit von Wirtschaftswachstum unklar wird und es mehr Probleme als Vorteile schafft. Ab einem bestimmten Niveau ist nämlich eine Steigerung des BIP nicht mehr wirkungsvoll, weil Ziele, wie soziale Gerechtigkeit, Wohlstand und Ökologie, nicht mehr erreicht werden können. Vor allem dauerhaftes exponentielles Wachstum, wie wir es durch die neuen Technologien erlebt haben, ist ökologisch unverträglich. Ein Grund ist, dass Wirtschaftswachstum nicht vom Verbrauch natürlicher Ressourcen und Emissionen entkoppelt werden kann und auch sozialen Grenzen unterliegt. Die Schaffenskraft der Menschen hat immer wieder gezeigt, wie Innovationen auch für die Entwicklung von beispielsweise erneuerbaren Energien genutzt werden. Demzufolge könnte Wachstum bald klimaneutral stattfinden. Um dies zu erreichen, müssten Privatpersonen und Unternehmen alle ausgestoßenen Treibhausgasemissionen weltweit durch Kohlenstoffbindung ausgleichen. Nur wenn dies gelingt, haben wir auch bei einer wachsenden Bevölkerung weiterhin Wohlstand. Was aber ist Wohlstand?

4.7.2 Wohlstand neu definiert Die meisten Volkswirtschaften führen ein Indikatorensystem für die Wohlfahrtsmessung. Für die Schaffung, Verteilung und Erhalt der Wohlfahrt werden beispielsweise in der Schweiz Faktoren, wie materielle Situation Arbeit und Freizeit, Bildung, Gesundheit, ­soziales Netzwerk, Umweltqualität und subjektives Wohlbefinden (Zufriedenheit, psychische Gesundheit) erfasst (BFS 2022). Weil die eigentlichen Wachstumskennzahlen keinen Hinweis darüber geben, wie es der Bevölkerung tatsächlich geht (Suizidraten, Obdachlosigkeit, Gewalt, Unzufriedenheit), könnte der Erfolg eines Landes nach dem Wohlergehen der Bevölkerung gemessen werden. Indikatoren wie Gesundheit, Pro-Kopf-Einkommen, Lebenserwartung, soziale Unterstützung, Freiheit bei der Wahl des Lebens, Großzügig-

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4  Digitale Wachstumsgesetze

keit, Wahrnehmung von Freiheit und Korruption in Regierung und Wirtschaft, um nur einige Indikatoren zu nennen, könnten Glück und Zufriedenheit positiv beeinflussen. Zu beachten gilt, dass die Weltgesundheitsorganisation Gesundheit als einen Zustand definiert, welcher über das Freisein von Krankheit und Gebrechen hinausgeht, was psychisches und soziales Wohlbefinden einbezieht (WHO 2023). Diese Art von Wohlbefinden wird auch in der modernen Psychologie behandelt, wobei dies weitgehend mit Glück gleichgesetzt wird (Lyubomirsky 2007). Happiness ist der umgangssprachliche Überbegriff, der gemessen und international mit einem Happiness-Index verglichen wird. Gemäß dem Bericht sind die glücklichsten Länder Finnland, Dänemark, Island und die Schweiz. Deutschland ist auf Platz 14, gefolgt von Kanada und den USA.  Die unglücklichsten Länder sind Rwanda, Zimbawe, Libanon und Afghanistan (WHR 2022). Erste Länder führen bereits ein Wellbeing-Budget, wo der Zweck der Staatsausgaben (Steuereinnahmen) es ist, die Gesundheit und Lebenszufriedenheit der Bürger zu gewährleisten und nicht nur auf Wirtschaftswachstum zu setzten. Die Strategie der kanadischen Regierung zur Messung der Lebensqualität der Bevölkerung berücksichtigt wichtige soziale und ökonomische Aspekte, die traditionell nicht in der Berechnung des Bruttoinlands­ produkts (BIP) erfasst werden (Government of Canada 2021). Die neue Strategie zielt da­ rauf ab, die Wohlfahrt der Kanadier durch die Berücksichtigung von Faktoren wie Bildung, sozialer Zusammenhalt, Umweltqualität und Gesundheit genauer zu erfassen. Die Strategie wird die Politikgestaltung und Entscheidungsfindung der Regierung beeinflussen, indem sie Informationen darüber liefert, wie Kanadier tatsächlich leben und was ihnen wichtig ist. Die Regierung plant, regelmäßig Berichte über die Fortschritte bei der Umsetzung der Strategie zu veröffentlichen und basierend auf dem definierten Rahmenwerk bis 2030 messbare Verbesserungen zu erreichen. Auch Neuseeland, führt einen Wohlfahrtshaushalt (Government of New Zealand 2022). Mit ihrem Wellbeing-Budget möchten sie die Zukunft nachhaltig sichern. Im Bericht werden die Prioritäten der Regierung für einen nachhaltigen Haushalt und der Ansatz für dessen Entwicklung dargelegt, inklusive einer Zusammenfassung aller im Haushalt 2022 enthaltenen Initiativen und Projekte.

4.8 Zukünftiges Wachstum braucht neue Innovations-Modelle Der aktuelle Wertewandel in der westlichen Gesellschaft befeuert Wellbeing-Programme. Neben einem offenen Selbstverständnis muss auch der Beteiligungsprozess in der Bevölkerung gefördert werden, damit diese sozial-ökonomische Transformation gelingt. Open Social Innovation ist das Konzept dahinter, mit dem Deutschland versucht, gesellschaftliche Herausforderungen (social) mit neuen Lösungen (Innovation) offen anzugehen (Mair et al. 2022). Was ein offener und lernender Staat auf der einten Seite ist, dafür steht Open Innovation in der Organisation. Dieser Ansatz ist die Voraussetzung für weitere Überlegungen Richtung offener Ökosysteme und wird in Kap. 5 genauer erläutert. Studien bestätigen, dass etwa 90 % aller börsennotierten Unternehmen in den entwickelten Volkswirtschaften nicht in der Lage sind, länger als ein Jahrzehnt einen Wachs-

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tumskurs beizubehalten, der überdurchschnittliche Renditen für die Aktionäre bringt. In diesem Wachstumsparadoxon (Christensen und Raynor 2003) korrelieren Wachstum und Innovation. Das Scheitern von beständigem Wachstum ist weder auf einen Mangel an großartigen Ideen, unvorhersehbaren Innovationen oder fähigen Managern zurückzuführen, noch auf die sich ändernde Nachfrage und das unberechenbare Kundenverhalten. Nachhaltiges Wachstum scheitert oft daran, dass Unternehmen Trends verpassen oder unbewusst das disruptive Potenzial von Innovationen ausschalten, bevor sie das Licht der Welt erblicken. Ein nachhaltiges, rentables Wachstum zu erzielen, ist besonders für große, etablierte Unternehmen eine Herausforderung. Es ist verlockend, das Wachstum durch Übernahmen anzukurbeln. Ein überhitzter Akquisitionsmotor ist meist nicht nachhaltig – Kunden wandern oft wieder ab. Als Alternative empfiehlt sich das erfahrungs- oder erlebnisorientierte Wachstum, was den Benutzer in den Vordergrund stellt. Durch das Anbieten eines außergewöhnlichen Erlebnisses für bestehende Kunden können wichtige Kennzahlen wie Share of Wallet, Cross-Selling und Nettoumsatzbindung entlang des gesamten Kundenlebenszyklus optimiert werden (Bough et al. 2023). Dies führt zu neuen Skalierungsmöglichkeiten  und  langfristigem Wachstum, welches ökologische, soziale und wirtschaftliche Aspekte ganzheitlich vereint. Innovation, Wachstum und Wohlstand stehen in Wechselwirkung zueinander und fordern von Unternehmen eine ganzheitliche Risikobetrachtung und mehr  Verantwortung. Technologien müssen bewusst eingesetzt und die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, Regierungen und der Zivilgesellschaft gefördert werden. Nur so können gemeinsam Lösungen entwickelt werden. Das Konzept von Open Innovation, kann die soziale Akzeptanz erhöhen, indem die Einbeziehung des Konsumenten in einen offenen Innovationsprozess sicherstellt, dass Produkte und Dienstleistungen von der Gesellschaft akzeptiert werden. Im nächsten Kapitel wird Open Innovation als Basis für die interorganisationale Zusammenarbeit in Ökosystemen erklärt (siehe Kap. 5).

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Open Innovation als Grundlage

Zusammenfassung

Warum erlebt Open Innovation gerade jetzt eine Renaissance? Ursprünglich aus der High-Tech-Branche stammend, haben sich für Open Innovation  durch die digitale Transformation erweiterte  Kooperationsmöglichkeiten ergeben.  Viele Unternehmen sehen in Open Innovationeinen Weg, um mithilfe externer Ressourcen besser, schneller und kostengünstiger zu innovieren. Lieferanten, Kunden und viele andere Anspruchsgruppen können so nahtlos  in den Innovationsprozess integriert werden. Co-­ Innovationen führen zu einer besseren Abbildung der Kundenwünsche, was sich in einem immer größeren Wunsch nach Zusammenarbeit niederschlägt. Dies erzeugt Marktreaktionen, wodurch Unternehmen angehalten werden, Lösungen mit Kundenbeteiligung umzusetzten. In diesem Market-Pull-Ansatz gewinnen Apekte wie Beziehungen und soziales Kapital an Bedeutung. Open Innovation dient als Grundlage für interdisziplinäre Zusammenarbeit und Geschäftstätigkeiten in offenen Ökosystemen. Es reflektiert  die aktuellen Werte einer sich stetig öffnenden  Gesellschaft, in der das Austauschen  von Informationen und Wissen, sowie Kollaboration und Personalisierung von Lösungen zentral sind. 

5.1 Theorie, Prozess und komplementäre Services 5.1.1 Der Innovationsprozess Die Zeiten sind vorbei, wo es fast ein Jahr dauerte, bis ein Produkt oder eine Dienstleistung entwickelt und im Markt eingeführt wurde. Es wird immer Vorteile für Erstanbieter, sogenannte first mover geben. So kann Apple für neue Produkte so lange Spitzenpreise © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Fasnacht, Offene und digitale Ökosysteme, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42494-7_5

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5  Open Innovation als Grundlage

verlangen, bis die Konkurrenz in Funktionalität oder Design nachgezogen hat. Auch die Gewinnung von Informationen über künftige Kundenbedürfnisse weit, bevor die Konkurrenz daran denkt, ist ein gewichtiger Wettbewerbsvorteil. Der seit kurzem durch die digitale Transformation erzeugte Fortschritt bei der Sammlung von Daten aus verschiedensten Quellen und die Auswertungen durch Künstliche Intelligenz und deren Weiterverarbeitung sei hier erwähnt (siehe Kap. 1). In stärker regulierten Branchen dauern Markteinführungen von Produkten aber immer noch sehr lange. Bei Arzneimitteln hat sich die Erforschung von neuen Medikamenten seit 2020 stark beschleunigt. Die Gründe sind, dass die Corona-Pandemie eine globale He­ rausforderung war und dadurch sehr viele Institutionen und Personen gleichzeitig an einem Impfstoff forschten. Vorkenntnisse und Erfahrungen wurden, wie nie zuvor, global und offen ausgetauscht. Zudem wurde neben Forschung und Entwicklung auch der Zulassungsprozess vereinfacht. Digitale Prozessinnovationen und Tools fanden innerhalb weniger Monate hohe Adaptionsraten und die Vernetzung vereinfachte nicht nur den Informationsaustausch zwischen Forschern, sondern auch zwischen Gesundheitsämtern und Ländern. Einzig die Tests und Anforderungen bezüglich Wirksamkeit und Verträglichkeit blieben gleich wie bei einem herkömmlichen Zulassungsverfahren. Die Corona-Krise hat Innovationen in vielen Bereichen initiiert und neue soziale Werte und Arbeitsmodelle hervorgebracht. In Wirtschaft, Gesundheit und Gesellschaft haben sich offene Modell der Zusammenarbeit etabliert und digitale Tools erreichten die große Masse. Zoom Video Communications war 2019 noch eine kleine unbekannte Kommunikationsfirma aus dem Silicon Valley und erlebt seit 2020 exponentielles Wachstum. Dank einer Reihe von schnell eingeführten Innovationen und einem Marktplatz mit über 1500 Apps können Kundenbedürfnisse schnell in markttaugliche Lösungen umgesetzt werden. Mit der Übernahme des Karlsruher Institut für Technologie (KIT) 2021, hat sich Zoom endgültig bei Schulen und Universitäten auf der ganzen Welt mit Vorlesungen, Aufzeichnungen, Simultanübersetzungen und anderen Innovationen etabliert. 2022 erwirtschaftete das Unternehmen einen Umsatz von 4,1 Mrd. US-Dollar und hatte im Dezember 2022 einen Börsenwert von rund 30 Mrd. US-Dollar (Zoom 2023). Es gibt sicher dutzende weitere Unternehmen mit einer ähnlichen Geschichte, die als Krisengewinner gelten – allerdings braucht es für den Erfolg immer Innovationen und organisatorische Agilität, um Produkte und Dienstleistungen schnell, kosteneffizient und passgenau auf den Markt zu bringen. In der Pharmabranche braucht es immer zuerst ein zugelassenes Medikament, bevor ein billigeres, aber von der Wirkung gleichwertiges, Generikum auf den Markt kommen kann. Der Preisunterschied zwischen Generika und Originalpräparation kann bis zu 70 % ausmachen. Auch die Entwicklung eines neuen, komplexen und strukturierten Anlageproduktes dauert lange. Sobald dieses aber auf dem Markt ist, kann die Konkurrenz eine Finanz­ innovation relativ einfach und ohne Patentschutz kopieren. Dies hat einen Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit und die Gewinnspanne. Das dies eine Strategie ist, beweist einer der größten Asset Manager. Vanguard hat den ETF-Markt mit kosteneffizienten Produkten neu definiert. ETF’s (Exchange Tradable Funds) sind passive Fonds, die direkt einen Index

5.1 Theorie, Prozess und komplementäre Services

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nachbilden (wie zum Beispiel den SMI oder DAX) und an der Börse gehandelt werden. Vanguard bildet praktisch alles nach, was auf dem Markt verfügbar ist, und bietet es billiger an als die Konkurrenz. Seit einiger Zeit bieten deutsche Direktbanken wie FlowBank, Scalable Capital und Smartbroker, um nur einige zu nennen, Vanguard-ETF’s als Sparplan an. Zu einem der billigsten Produkte gehört eine Nachbildung des S&P für 0,07 % Gesamtkosten. Das Fondvolumen ist mit 30 Mrd. US-Dollar beträchtlich und da die Branche in der EU sehr stark überwacht wird, ist auch der Daten- und Anlegerschutz hoch. Kunden suchen immer mehr Transparenz und finden im Internet, in Communities und Chatrooms alle Informationen zu einem Produkt. Ein weiterer Trend ist das Bedürfnis nach sofortiger Bereitstellung und Lieferung von Produkten und Dienstleistungen. Es besteht die Notwendigkeit, Produkte nicht mehr nur als Einzelprodukte zu vermarkten, sondern als Lösung bestehend aus ergänzenden Services anzubieten. Loyalität und eine langfristige Kundenbindung spielen für die jüngere Generation eine immer geringere Rolle. Sie erwarten, dass Innovationen von verschiedensten Anbietern in Form von Embedded Services abgerufen werden können. Damit rücken der eigentliche Produktenwicklungsprozess und Vertrieb über traditionelle Kanäle in den Hintergrund. Kunden sind informierter und werden immer anspruchsvoller; sie verlangen auch nach Lösungen, welche ihren spezifischen Bedürfnissen, Lebenszielen und Werten gerecht werden. Dabei möchten sie in den Innovationsprozess einbezogen werden und die Lösung mitentwickeln, was unter dem Ansatz der Co-Innovation bereits zum de-facto- Standard bei vielen Unternehmen wurde. Da sich Schnelligkeit positiv auf die Kaufentscheidung von Kunden auswirkt, ist die Nachahmung von Lösungen und Geschäftsmodellen mit leichten Anpassungen und Zusätzen eine erfolgversprechende Strategie für neue Akteure. Alle Bemühungen zur Produktund Dienstleistungsentwicklung profitieren von Prozessinnovationen. Obwohl Prozessinnovationen zu besseren Leistungen und Kostensenkungen führen können, ist der Hauptantrieb hinter allen Innovationsbemühungen nicht die Kostensenkung an sich, sondern das Kundenerlebnis. Und weil sich Kundenerwartungen ständig ändern und situativ sind, muss eine digitale und nahtlose Integration aller Interaktionspunkte eines Kunden mit nicht nur einem Anbieter, sondern einem Verbund aus mehreren Wertgeneratoren aufgebaut werden. Damit kann die Erwartungshaltung an die Lösung optimiert, aber auch die Resilienz bei der Leistungserbringung erhöht werden. Viele Unternehmen denken, dass es darum geht, schnell und effizient ein Produkt intern zu entwickelt und dann aus eigener Kraft über Vertriebskanäle im Markt einzuführen. Dieser vertikale Integrationsgedanke ist überholt, denn ein Ziel von Open Innovation ist es, Drittanbieter in die Entwicklung und Vertriebswege zu integrieren. Flexible und schnelle Integrierbarkeit über offene Schnittstellen ist zu einem entscheidenden Kompetenz- und Erfolgsfaktor geworden. In Zukunft wird es immer mehr darauf ankommen, wie die Markteinführung beschleunigt und die Kosten gesenkt werden können, während gleichzeitig durch die Zusammenarbeit mit diversen Partnern ein Mehrwert für die Kunden geschaffen wird.

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5  Open Innovation als Grundlage

5.1.2 Von der Erfindung zur Innovation Eine Erfindung (Invention) ist noch keine Innovation. Das lateinische Verb innovare bedeutet sinngemäß etwas Neues machen. Innovation wird heute oft fälschlicherweise für jede Art von Neuheit verwendet, die es bislang nicht gab. In der Wirtschaft bezieht sich Innovation im Allgemeinen auf die Einführung eines neuen Produkts oder einer neuen Dienstleistung auf dem Markt oder auf die Verbesserung bestehender Dinge. Innovation wird nicht nur für Sach- und Dienstleistungen verwendet, sondern auch für Konzepte, Strategien und Paradigmen. Innovation gibt es in vielen verschiedenen Formen, von wahrhaft bahnbrechend und revolutionär bis hin zu fast alltäglich. Sie umfasst die Entwicklung neuer Konzepte und Vorgehensweisen, ihre kommerzielle Nutzung und die anschließende Verbreitung in der übrigen Wirtschaft und Gesellschaft. Innovation ist einer der wichtigsten Motoren für langfristiges Wirtschaftswachstum und strukturellen Wandel und hat den wirtschaftlichen Fortschritt schon immer vorangetrieben. Erst die Verwertung und Vermarktung einer Erfindung kann als Innovation bezeichnet werden. Die Grundlagenforschung trägt wesentlich zur Innovation bei, indem sie grundsätzlich neue Technologien hervorbringt und den Bestand an technischen Fähigkeiten ständig erneuert. Der Transistor wurde 1947 von John Bardeen, Walter Brattain und William Shockley aus den Bell Labs erfunden. Obwohl die Erfinder zehn Jahre später den Nobelpreis erhielten und daraufhin Wissenschaftler, wie Jack Kilby von Texas Instruments und Robert Noyce von Fairchild Semiconductors, die Idee hatten den Transistor mit anderen elektronischen Bauteilen zu einem integrierten Schaltkreis zusammen zu löten, dauerte es noch einmal über zehn Jahre bis mit dem Silizium-Chip Anfang der Siebzigerjahre der 5. Kondratjew-­Zyklus, respektive das Informationszeitalter, angestoßen wurde (siehe Kap. 1). Zu Beginn wusste nämlich noch niemand, was man genau mit dem Transistor anstellen kann. Noch 1968 haben sich IBM-Ingenieure über den Mikroprozessor wie folgt geäußert: „Schön, aber wozu ist das Ding gut?“ Erfindungen als Quelle der Innovation entsprechen einem linearen Innovationsmodel und werden gemeinhin mit Technology Push (Rothwell 1994) in Verbindung gebracht. Dies bedeutet, dass eine interessante Technologie identifiziert, ein neues Produkt daraus entwickelt und schließlich ein Markt dafür gesucht wird. Erfindungen agieren meist unabhängig von den am Markt identifizierten Kundenbedürfnissen. Wie bereits erläutert, bedeutet Technologiekonvergenz auch, dass emergierende Technologien kombiniert, eine höhere Innovationswirkung erzielen. Beispiele hierzu sind die Kombination von angewandten Technologien im Metaverse, wie Extended Reality (AR, VR, MR), Künstliche Intelligenz (KI), IoT, Edge-Computing, Blockchain und non-fungible Tokens (NFTs). Erfindungen sind radikale Innovationen, die den technologischen Schub für die Entwicklung neuer Produkte, Dienstleistungen, Verfahren oder Geschäftsmodelle erzeugen. Theoretisch sollte die Höhe der Forschungs- und Entwicklungsausgaben mit der Höhe der Einnahmen korrelieren. Um die Profitabilität eines Geschäftsmodells zu beweisen, muss sich auf der Ertragsseite möglichst rasch ein überproportionales Wachstum abzeichnen.

5.1 Theorie, Prozess und komplementäre Services

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Forschung und Entwicklung sind ein grundlegender Bestandteil des innovationsgetriebenen Wachstums. Dies ist von entscheidender Bedeutung, da neue Produkte und Dienstleistungen oder stark verbesserte Verfahren den eigentlichen Wettbewerbsvorteil von Unternehmen ausmachen. Innovationsgetriebenes Wachstum nutzt oft disruptive Technologien und entsteht durch Netzwerkeffekte über digitale Plattformen, ergo ist es bezeichnend für exponentielles Wachstum. Um die Konkurrenz auszuschalten, benötigt ein Unternehmen Wachstumsraten von mindestens 20–50 % pro Jahr. Im Gegensatz dazu führt inkrementelles Wachstum zu jährlichen Verbesserungen von 10–15 %. Darunter wird mehrheitlich nachhaltiges und gesundes Wachstum verstanden. Die Mercedes-Benz Gruppe wächst seit Jahrzehnten nachhaltig und gilt als solider, innovativer und globaler Konzern mit einem hohen Markenwert. Tesla gibt es seit 2003; das Wachstum ist innovationsgetrieben und Tesla heute eine der größten Firmen der Welt. Das Vermögen des Unternehmers Elon Musk ist mit rund 200 Mrd. US-Dollar mehr als drei Mal so hoch wie die Marktkapitalisierung von Mercedes-Benz (je nach Börsenlage). Im Gegensatz zu Technlogy Push geht der Market Pull-Ansatz davon aus, dass Innovationen ihren Ursprung in unbefriedigten Kundenbedürfnissen aus dem Markt haben und erst die Identifikation derartiger Bedürfnisse entsprechende Entwicklungsaktivitäten nach sich zieht (Chidamber und Kon 1994). Man kann argumentieren, dass generell Innovation nicht direkt von Erfindungen abhängig ist. Unternehmen müssen also nicht unbedingt erfinden, um innovativ zu sein. Es geht vielmehr um die kommerzielle Nutzung einer Erfindung. Ein bekanntes Sprichwort aus der Geschichte besagt, dass Innovationen kommen und gehen, während Erfindungen bleiben. Trotzdem haben Innovationen in der Wirtschaft eine wichtigere Rolle gespielt als Erfindungen, wie der Ökonom Joseph Schumpeter in den 1930er-Jahren behauptete (Schumpeter 1939). Demgemäß unterscheidet sich der soziale Entwicklungsprozess, der Innovationen hervorbringt, sowohl in wirtschaftlicher als auch in sozialer Hinsicht von dem Prozess, der für Erfindungen verantwortlich ist. Schumpeter bezeichnete Innovation als die wesentliche Funktion des Unternehmers, neben der Gewinnmaximierung und betonte immer wieder, dass Innovation ohne etwas möglich ist, welches als Erfindung bezeichnet wird, und dass Erfindung nicht notwendigerweise Innovation hervorruft, sondern von sich aus keinerlei wirtschaftlich relevante Wirkung erzeugt. Es braucht Unternehmertum, um eine Erfindung kommerziell zu nutzen. Die Erfindung ist lediglich der erste Schritt in einem Prozess, in dem neue Ideen zu einer weit verbreiteten und effektiven Nutzung gebracht werden. Entsprechend ist das Ziel von Innovation, den Wert von Erfindungen zu erhöhen und damit einen Kundennutzen zu stiften. Bei der Erfindung der Kreditkarte in den späten 1960er-Jahren, führten neben der Schaffung eines weltweiten Partnernetzes, verschiedene innovative Dienstleistungen, wie Versicherungen und Treueprogramme schließlich zu einer Wertsteigerung und machten die Kreditkarte zu einem akzeptierten Zahlungsmittel für die Masse. „Innovation bedeutet, Erfindung und Unternehmergeist so einzusetzen, dass eine Lösung ein Bedürfnis möglichst passgenau befriedigt.“

114

5  Open Innovation als Grundlage

Innovation ist eine entscheidende Kraft für Individuen, Organisationen und Volkswirtschaften. Das Verständnis von Innovation hängt jedoch von der Perspektive ab, aus der sie betrachtet wird. Aus allgemeiner wirtschaftlicher Sicht muss die Innovation den Wert für das Unternehmen, den Verbraucher oder den Produzenten erhöhen. Für die Verbraucher bedeutet Innovation eine höhere Qualität und einen besseren Wert der Waren, effizientere Dienstleistungen und einen höheren Lebensstandard. Unternehmen wiederum erwarten effizientere Produktionsprozesse, verbesserte Geschäftsmodelle oder neue Produkte und Dienstleistungen, die zu nachhaltigem, verbessertem Wachstum und höheren Gewinnen für ihre Eigentümer und Investoren führen. Für die Arbeitnehmer können Innovationen Vorteile wie neue und interessantere Aufgaben, verbesserte Fähigkeiten und höhere Löhne mit sich bringen. Aus organisatorischer Sicht würden Unternehmen ohne Innovation nicht überleben, da neue Produkte und Dienstleistungen sowie neue oder verbesserte Geschäftsmethoden für die Kontinuität und das Wachstum des Unternehmens unerlässlich sind. Wenn es nicht gelingt, innovativ zu sein, bedeutet dies, dass es nicht gelingt, sich von der Konkurrenz abzuheben und die Gewinne zu erzielen, die nötig sind, um für Investoren attraktiv zu sein und die finanziellen Mittel in Innovationsvorhaben zur Sicherung der Zukunft zu investieren. Der Kreis schließt sich also. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es bei der Innovation um die Schaffung von Werten und die Steigerung der Produktivität geht. Innovation kann zu höheren Erträgen, größerer Wertschöpfung und nachhaltigen Wettbewerbsvorteilen führen. Da die Kreativität und der Erfindungsreichtum von Unternehmen das größte Kapital eines Landes sind, ist Innovation für die Volkswirtschaft als Ganzes der Schlüssel zu höherer Produktivität und Wohlstand für alle. Es ist wichtig, Innovation und ihren Ursprung ganzheitlich zu erfassen. Dazu gehören nicht nur Management- und Führungsstile, Prozesse, Produkt- und Dienstleistungsentwicklung, sondern auch die Bedeutungen und Überzeugungen, die Mitarbeiter dem organisatorischen Verhalten und der Unternehmenskultur beimessen. Innovation beeinflusst die Motivation des Einzelnen und sein Verhalten. Innovation trägt dazu bei, ein besseres Verständnis für Kundenansprache und -betreuung, Produktionstechniken und -methoden, Produktqualität, Ansätze für Informations- und Wissensmanagement, Formen von Partnerschaften oder Management und Beteiligung von Interessengruppen zu entwickeln.

5.1.3 Innovationsarten Das Verständnis der verschiedenen Innovationsarten ist wichtig, da es einen Zusammenhang zwischen der Art der Innovation und der Unternehmensleistung gibt. Schumpeter war einer der ersten, der fünf Arten von Innovation nannte: Produktinnovation, Produktionsprozessinnovation, organisatorische Innovation, neues Marktverhalten und neue Rohstoffe (Schumpeter 1939). Unterdessen sind nicht mehr alle Innovationsarten gleich relevant. Nach dem heutigen Verständnis geht es bei der Produktinnovation wesentlich darum, was ein Unternehmen anbietet und neu entwickelt und marktfähig macht. Die Prozessinnovation ist die am meisten favorisierte Art von Innovation in groß- und mittelständischen

5.1 Theorie, Prozess und komplementäre Services

115

Betrieben. Sie dient dem Zweck der Einsparung von Betriebsmitteln, wie Energie oder Automatisierung. Hier geht es um die Art und Weise, wie produziert wird und wie diese Angebote auf den Markt gebracht werden. Das allgemeine Ziel von Prozessinnovationen ist es, Kosten zu senken, die Effizienz zu verbessern, die Produktivität zu steigern und die Rentabilität zu erhöhen. Während das Kundenerlebnis ein Prozess ist, der die Produkt- und Dienstleistungsinnovation ergänzt, verbessern Effizienzbemühungen die Prozesse auf inkrementelle Weise. Inkrementelle Prozessinnovationen konzentrieren sich in diesem Fall auf Betriebs- und Kostenfragen. Es ist zu beachten, dass Prozessinnovationen darauf abzielen, Kosten und Aufwand für interne und externe Kunden zu reduzieren. Durch operative Exzellenz kann ein Unternehmen seine Wettbewerbsfähigkeit steigern. Alle Initiativen zur Prozessinnovation sind daher nicht in erster Linie mit Produkten verbunden. Andererseits kann ein Unternehmen seine Einnahmen durch neue und verbesserte Produkte und Dienstleistungen steigern, wobei die Organisation nicht unbedingt ihre Unterstützungsprozesse ändern muss. Im Rahmen der digitalen Transformation ist die Prozessinnovation ein wichtiger Schritt, bevor Geschäftsmodelle angepasst oder neu entwickelt werden. Schließlich zielt die Literatur mit Innovationen innerhalb der Organisation auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen ab, insbesondere auf Innovationen bei Methoden und Management. Die Beherrschung der Kundenreise ist heute eine viel genannte Geschäftspriorität. Einen Mehrwert für Kunden zu schaffen ist ein übergeordnetes Ziel aller Innovationsbemühungen. Dieses Buch konzentriert sich auf Produkt-, Prozess- und Geschäftsmodellinnovationen, denen jeweils unterschiedliche Konzepte zugrunde liegen. Während die Innovation von Prozessen und Geschäftsmodellen häufig unter strategischen Gesichtspunkten betrachtet und dem Konzept der strategischen Innovation zugeordnet wird, ist die Entwicklung neuer Produkte häufig marketingbezogen.

5.1.4 Besondere Merkmale der Dienstleistungsinnovation Es herrscht Verwirrung zwischen Produkten und Dienstleistungen. Insbesondere für den Begriff der Dienstleistungen (engl. Services) selbst gibt es in der Wissenschaft und in der Praxis kein gemeinsames Verständnis (Hill 1977). Eine allgemeine Beschreibung von Dienstleistung findet sich bei den Vereinten Nationen (2002). Dienstleistungen sind keine separaten Einheiten, an denen sich Eigentumsrechte begründen lassen. Sie können nicht getrennt von ihrer Produktion gehandelt werden. Dienstleistungen sind heterogene Produkte, die auf Bestellung produziert werden und typischerweise aus Veränderungen im Zustand der konsumierenden Einheiten bestehen, die durch die Aktivitäten der Produzenten auf Wunsch der Kunden realisiert werden. Wenn ihre Produktion abgeschlossen ist, müssen sie den Verbrauchern zur Verfügung gestellt worden sein. Eine Dienstleistung ist in der Tat ein Prozess, bei dem der Output des Kunden in diesem speziellen Prozess erzeugt wird. Die charakteristischen Merkmale von Dienstleistungen sind ihre Intangibilität, Untrennbarkeit, Verderblichkeit, Heterogenität und ihr Eigentum (De

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5  Open Innovation als Grundlage

Brentani 1991). ­Inputs und Outputs von Dienstleistungen lassen sich im Gegensatz zu Produkten des verarbeitenden Gewerbes kaum voneinander trennen. Als Untrennbarkeit bezeichnet, werden Dienstleistungen gleichzeitig produziert und konsumiert und können nicht von ihren Anbietern getrennt werden, unabhängig davon, ob es sich bei den Anbietern um Menschen, Institutionen oder Maschinen handelt. Während es sich bei Produkten in den meisten Branchen um physische Güter handelt, kann es sich bei Dienstleistungen um jede Tätigkeit oder jeden Wert handeln, den eine Partei einer anderen anbieten kann, der im Wesentlichen immateriell ist und nicht gelagert werden kann, was als Vergänglichkeit von Dienstleistungen bezeichnet wird. Sie variiert je nach Anbieter der Dienstleistung und führt nicht zum Eigentum an irgendetwas. Dienstleistungseinrichtungen betrachten Produkte als immaterielle Angebote für ihre Kunden und Dienstleistungen als Dienstleistungsprozess für ihre Kunden. Dies liegt daran, dass alles, was sie produzieren, immateriell ist, unabhängig davon, ob es als Produkt oder Dienstleistung bezeichnet wird. Physische Produkte werden in der Regel vor ihrer Markteinführung als Prototypen hergestellt und getestet. Der Begriff Rapid Prototyping wurde erstmals in den 1980er-Jahren von der Firma 3D Systems geprägt, einem Pionier auf dem Gebiet der 3D-Druck-­ Technologie (Hanson 2020). Die Idee hinter Rapid Prototyping war, den Prozess der Prototypenentwicklung für Ingenieure und Designer zu beschleunigen, indem sie in der Lage waren, physische Modelle von Produkten schnell und einfach zu erstellen. Dieser Prozess ist bei immateriellen Dienstleistungen eine Herausforderung. Die Validierung von Konzepten ist eine der schwächsten Seiten und schmälert die Qualität der Markteinführung. Ein Ausweg aus diesem Dilemma für Dienstleister besteht darin, den Kunden einzubeziehen und als Co-Innovator in den Innovationsprozess zu integrieren. Das Unternehmen muss in kurzen Zyklen Vorschläge testen und dann vielversprechende Dienste prototypisieren und simulieren. Der Rapid-Prototyping-Ansatz hat in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Er ermöglicht es, die zugrunde liegenden Annahmen zu testen und schnell festzustellen, ob ein Business Case stichhaltig ist, bevor eine eventuelle Finanzierungsrunde beginnt. Die Notwendigkeit, die Kundenbedürfnisse und die Marktakzeptanz der Innovationen in die Entwicklung und Umsetzung zu integrieren, kann mit Testen und Experimentieren erfolgen (Thomke und Randal 2014). Bei Dienstleistungen, die den Erlebniswert für den Kunden erhöhen, ist es schwieriger, das gleiche Qualitätsniveau wie bei Waren zu gewährleisten, was zu einer größeren Heterogenität in Bezug auf Konformität und Qualität führt. Ein weiteres Merkmal von Dienstleistungen ist, dass neu entwickelte Dienstleistungen leicht imitiert und nachgeahmt werden können. Während geistige Eigentumsrechte und Patente eher ein Indikator für Erfindungen als für Innovationen sind, wird die erfolgreiche Nutzung von Wissen und anderen immateriellen Vermögenswerten zunehmend als unverzichtbar für Innovationen in Branchen wie der Computertechnologie, der Automobilindustrie, der Pharma- und Biotechnologie sowie der Elektronik- und Elektroindustrie anerkannt. Der Dienstleistungssektor weist eine andere Neigung zu Erfindungen und Patenten auf. Da neue Dienstleis-

5.2 Das traditionelle Innovationsparadigma

117

tungen keine technische Komponente haben und selten ausdrücklich eine neue Idee zum Ausdruck bringen, was eine Voraussetzung für das Urheberrecht wäre, kommt der ­Patentschutz nicht zur Anwendung. Die Rechte an geistigem Eigentum bieten daher nur einen losen Schutz vor unrechtmäßigem Kopieren.

5.1.5 Mehrwert durch komplementäre Services Um einen strategischen Vorteil zu erlangen, versuchen Unternehmen, ihre Wettbewerbsfähigkeit durch ergänzende Dienstleistungen zu steigern, die den Kunden einen Mehrwert bieten. Die Kunden sind nicht in erster Linie an dem Produkt selbst interessiert, sondern am Gesamtpaket der Lösung. Dieses Argument steht im Einklang mit der sogenannten Komplementaritäts-Theorie von Nalebuff und Brandenburger (1996). In jüngster Zeit hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Kunden nicht nur Produkte, sondern auch Erwartungen an zukünftige Leistungen kaufen. Aus der ressourcenbasierten Sicht des Unternehmens ist bekannt, dass die meisten Produkte die Leistungen mehrerer Ressourcen erfordern und die meisten Ressourcen in mehreren Produkten eingesetzt werden können (Wernerfelt 1984). Digitale Technologien sind eine der wichtigsten Ressourcen und sollten nicht nur als Ersatz für traditionelle Geschäftsmodelle dienen, sondern als Ergänzung zu bestehenden Geschäftsmodellen eingesetzt werden, um zusätzliche Wertschöpfung zu generieren. Beispielsweise kann ein Einzelhändler ein Online-Shop einrichten, der seine physischen Verkaufsstellen ergänzt, um seine Reichweite zu vergrößern und Kunden auf neue Weise anzusprechen. Dass dies auch umgekehrt geht, wird mit Online-to-Offline-­ Beispielen aufgezeigt (siehe Kap. 6). Um die beste Kombination von Gütern und Services und traditionellen und digitalen Geschäftsmodellen zu finden, müssen Unternehmen ihre Geschäftsmodelle und Technologien sorgfältig abstimmen, um sicherzustellen, dass sie sich ergänzen und zusätzlichen Wert schaffen, anstatt in Konflikt zu geraten. Das erfordert eine strategische Herangehensweise, ein tiefes Verständnis der Möglichkeiten von digitalen Innovationen und eine Öffnung des traditionellen Innovations-Paradigmas.

5.2 Das traditionelle Innovationsparadigma Organisationen, die ausschließlich ihre eigenen Ideen entwickeln und vermarkten, bewegen sich in einem geschlossenen Innovationsparadigma. Alle Innovationsaktivitäten werden innerhalb der Organisationsgrenzen und mit internen Ressourcen durchgeführt. Dieser Ansatz passt gut in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die bereits diskutierten sozio-ökonomischen und technologischen Trends haben die Wettbewerbslandschaft grundlegend verändert. Neu nutzen Unternehmen ihre Kernkompetenzen, um in andere Bereiche vorzustoßen. Speziell datenbasierte Geschäftsmodelle können

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5  Open Innovation als Grundlage

leichter nachgeahmt und für neue Zwecke angepasst werden. Die zunehmende Vielfalt hat nicht nur zu niedrigen Gewinnmargen geführt, sondern auch viele Produkte von einem differenzierten Status zu einem Massenprodukt abgewertet. Die vielen neuen Marktteilnehmer bieten immer ähnlichere Lösungen an, was die Kommodifizierung beschleunigt. Die Unterbrechung bestehender Wertschöpfungsketten und die Öffnung von Betriebsmodellen, um den Kunden mehr Flexibilität zu ermöglichen, sind der Fortschritt des digitalen Zeitalters. Etablierte Unternehmen mit einer nach innen gerichteter Philosophie und einer starren Organisationsstruktur werden Chancen verpassen. Externe Ideen, Forschung und Entwicklung, Wege über die Unternehmensgrenzen hinweg zu alternativen und neuen Märkten sind im geschlossenen Innovationsparadigma nicht vorgesehen. Infolgedessen wurden viele Ideen nicht realisiert, was im Laufe der Zeit zu einem Rückgang der Innovationskraft führte und schließlich die Wettbewerbsfähigkeit vieler etablierter Unternehmen beeinträchtigte. Neben der Tatsache, dass Ideen aufgrund des „not invented here“-Syndroms verworfen wurden, gab es etliche Entscheidungen gegen Innovationen für Neues, weil Wissen und Ressourcen innerhalb der Organisation nicht vorhanden waren. Die meisten Unternehmen waren bis Anfang 2000 gute Beispiele für ein geschlossenes autarkes Innovationssystem. Auch wenn ausschließlich interne Forschung und Entwicklung einmal die richtige Strategie war, hat sich die Gesellschaft geöffnet. In einem informationsbasierten, wissens­ intensiven, dienstleistungsorientierten und digitalen Zeitalter gelten andere Spielregeln. Die Logik der geschlossenen Innovation wurde innerhalb weniger Jahre obsolet. Mehrere Faktoren sind für die Erosion des geschlossenen Innovationsparadigmas verantwortlich. So haben beispielsweise die zunehmende Verfügbarkeit und Mobilität von Fachkräften dazu geführt, dass das Wissen, über das die Unternehmen verfügten, aus den Silos der internen Forschung und Entwicklung zu Lieferanten, Kunden, Partnern, Universitäten oder Start-ups gelangte. Seit Kurzem führt auch der Fachkräftemangel dazu, dass Unternehmen keine geeigneten Mitarbeiter einstellen können und temporär von anderen Anbietern Ressourcen beziehen müssen. Der Wertewandel Richtung mehr Selbstbestimmung und alternativen Arbeitsmodellen, befeuert durch die Home-Office Phase während der Corona-­ Pandemie, hat eine gewisse Öffnung bewirkt. Beobachtungen zeigen, wie sich Wissen innerhalb kurzer Zeit demokratisiert und sich durch digitale Tools rasch verbreitet und allgemein verfügbar wird. Die Trennung von Forschung und Entwicklung im Produktentwicklungsprozess hin zu unabhängigen Innovationszentren ist wirkungsvoller als ein nach innen ausgerichteter Innovationsansatz. Damit das volle Innovationspotenzial freigesetzt werden kann, müssen bestehende Geschäfte mit neuen Ideen von externen Ressourcen angereichert werden. Open Innovation als zentraler Ansatz kann hierbei als Katalysator für Agilität, Kreativität und Effizienz dienen. Eine Verlagerung von produktionsorientierten Innovationsbemühungen einzelner Unternehmen Richtung Open Innovation ist ein Paradigmenwechsel (Baldwin und Von Hippel 2011) und beginnt mit der Aufteilung der Ressourcen.

5.3 Ressourcenbasierte Sichtweise einnehmen

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5.3 Ressourcenbasierte Sichtweise einnehmen Innovation verläuft in Phasen und beginnt mit dem Aufkommen erster Ideen, die dann in Forschung und Entwicklung übergehen und schließlich in einem Markt abgesetzt werden. All diese Schritte erfordern eigene Fähigkeiten. In einer zunehmend fokussierten Wirtschaft ist es nicht mehr notwendig, dass ein Unternehmen diametral entgegengesetzte Aktivitäten, wie die Ideenfindung oder die Kommerzialisierung selbst abdeckt. Sie können dies mit spezialisierten Partnern tun. Der Transfer von Ressourcen und Kompetenzen zwischen Geschäftspartnern kann die Produktentwicklungszyklen verbessern. Wenn also ein Unternehmen Schlüsselphasen des Innovationsprozesses auslagert, kann dadurch der Prozess beschleunigt, Kosten und Risiken gesenkt werden. Der Grad der Unsicherheit und Komplexität von Innovationsaktivitäten kann eingeordnet werden. Wenn Innovationen in Kategorien von großer bis geringer Unsicherheit eingeteilt werden, wird ersichtlich, dass Grundlagenforschung und Erfindungen mit großer Unsicherheit verbunden sind. Auch bei Ökosystemen ist eher ungewiss, wie sich ein geplantes System entwickeln wird und wie Wert zwischen den vielen Teilnehmern geschaffen wird. Die Ertragslogik ist von sehr vielen Faktoren abhängig und eine Finanzplanung für die Zukunft daher schwierig. Im Gegensatz dazu sind bei Produkt- und Prozessinnovationen die Risiken kalkulierbar und bei inkrementellen Innovationen, Produktdifferenzierungen und Anpassungen bestehender Prozesse sogar prognostizierbar. Externalisierung ist eine Form des Outsourcings und bedeutet im weitesten Sinne, dass eine Reihe von Produkten oder Dienstleistungen nicht mehr innerhalb eines Unternehmens, sondern außerhalb erzeugt werden. Sie ist mit einer Zusammenarbeit über die Unternehmensgrenzen hinaus in allen Phasen des Innovationsprozesses verbunden. Die Gründe, die den Einsatz von externen Partnern fördern, können vielfältig sein. Es gibt immer eine zugrunde liegende Theorie wie Marktmacht, Wettbewerb oder Wachstum, die Gründe für eine Zusammenarbeit liefert. Betrachtet man die Organisation aus einer ressourcenbasierten Perspektive (Wernerfelt 1984), so ist das Wertschöpfungspotenzial der Ressourcen, wenn sie zusammengeführt werden, höher. Folgt man diesem Ansatz, ergeben sich dadurch nachhaltige Wettbewerbsvorteile (Barney 1991). Die Zusammenarbeit kann mit der Notwendigkeit einer schnellen Innovation oder dem Mangel an internen Ressourcen begründet werden  – aber auch damit, dass es in einem offenen und digitalen Ökosystem ohne gar nicht geht. In einem Ökosystem muss zwingend die Frage gestellt werden, wie verschiedene Ressourcen gemeinsam Wert schaffen können. Der Beitrag zum Wertangebot, Knappheit oder Komplementarität ist ein zentrales Anliegen eines bestehenden oder potenziellen Teilnehmers in einem Ökosystem (Gueler und Schneider 2021). Versteht man die Zusammenarbeit aus einer ressourcenbasierten Perspektive in einem Ökosystemkontext, so wird sie durch die Logik des strategischen Ressourcenbedarfs und der sozialen Interaktionsmöglichkeiten bestimmt. Letzteres hat eine zunehmende Bedeutung bei Social Commerce oder generell bei der Konvergenz von Branchen. Letztendlich bestimmt ein Bündel einzigartiger Ressourcen und Beziehungen die Wettbewerbsposition eines Teilnehmers in einem Ökosystem.

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5  Open Innovation als Grundlage

Die Notwendigkeit der Zusammenarbeit lässt sich auch mit der Sichtweise der Transaktionskosten eines Unternehmens begründen. Williamson (1985) bezieht sich dabei auf den finanziellen Aufwand für Aktivitäten, die für einen Austausch wie Verkauf, Kauf oder andere Aktivitäten durchgeführt werden. Auf der Grundlage dieser Theorie ist eine Zusammenarbeit gerechtfertigt, wenn die mit einem Austausch verbundenen Transaktionskosten mittelhoch sind und nicht hoch genug, um eine vertikale Integration zu rechtfertigen. Die Transaktionskostenökonomie der zwischenbetrieblichen Zusammenarbeit war lange Zeit das Leistungsmessungskonzept schlechthin. Die Hauptkritik an dieser 50 Jahre alten, auf den Wirtschaftswissenschaften basierenden Sichtweise der zwischenbetrieblichen Zusammenarbeit, besteht, obwohl sie zu den vorherrschenden Ansätzen gehört, vor allem darin, dass sie zu starr und zu sehr auf die finanziellen Aspekte ausgerichtet ist. Diese Annahme lässt die Wertschöpfung außer Acht, die sich aus den kombinierten Ressourcen der Partner in einem Ökosystem ergibt. In der Plattform-Ökonomie haben die Transaktionskosten entsprechend eine etwas andere Bedeutung erhalten, was auch neue Forschungsschwerpunkte eröffnet hat (Nagle et al. 2020). Über eine digitale Plattform erhalten Unternehmen einen einfacheren Zugang zu einem Netzwerk von Käufern und Verkäufern und bessere Möglichkeiten für die Suche von Geschäftspartnern. Ebenso können Dienstleistungen und Ressourcen geteilt werden, was ebenfalls zu einer Senkung der Transaktionskosten beitragen kann. Im Mittelpunkt der ressourcenbasierten Sichtweise und der Überlegungen zu den Transaktionskosten steht die Lehre, dass sich ein Unternehmen ausschließlich auf die Kernkompetenzen fokussieren sollte. Dieser Ansatz bestimmt die Entscheidung über die Auslagerung von Nicht-Kernaktivitäten an externe Partner (Prahalad und Hamel 1990). Durch stärkere Zusammenarbeit können dann Kernkompetenzen, die sich auf das Kerngeschäft konzentrieren, zu eigentlichen Wettbewerbsvorteilen führen. Eine Kernkompetenz kann im Allgemeinen sowohl materielle als auch immaterielle Ressourcen umfassen. Sie ist die besondere Fähigkeit eines Unternehmens, über Produkte und Märkte hinauszuwachsen. Kernkompetenzen sind in einer Organisation eingebettet und zeigen, was ein Unternehmen besser, schneller oder anders macht als seine Konkurrenten. Vereinfachte Kernkompetenzen sind Bereiche, in denen sich ein Unternehmen auszeichnen muss, um seine Führungsposition zu behaupten. Es handelt sich also um die Fähigkeit des Unternehmens, anders zu denken, zu handeln und zu operieren. Wenn ein Unternehmen systematisch bewertet, welche Art von Kompetenzen entwickelt und erhalten werden sollen, und welchen Wert es aus ihnen zieht, dann hat es seine Kernkompetenzen erfolgreich identifiziert.

5.4 Soziales Kapital im Ökosystem In einem sektorübergreifenden Ökosystem sind alle Teilnehmer voneinander abhängig und wiederum Kunden der anderen und so weiter. In der Wirtschaft werden ständig große Unternehmen umstrukturiert und verkleinert, um nur die Kernkompetenzen zu finden, die

5.4 Soziales Kapital im Ökosystem

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für ihre rentablen Wachstumsstrategien und ihr langfristiges Überleben entscheidend sind. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Prozesses ist das Definieren und Koordinieren der Beziehungen, nicht nur zu Kunden, sondern auch zu Mitarbeitenden unter externen Partnern. Wie erklärt, bezieht sich das Beziehungskapital auf die Qualität und Intensität der Beziehungen zwischen Individuen oder Gruppen (siehe Kap. 2). Beziehungskapital beinhaltet Aspekte wie Vertrauen, Respekt, Loyalität und Offenheit und ist insbesondere in digitalen Ökosystemen von Bedeutung, da hier keine direkte Interaktion zwischen den Akteuren stattfindet und das Vertrauen auf virtueller Ebene aufgebaut werden muss. Wenn ein Unternehmen die überorganisatorischen Aktivitäten in der Organisation verankern kann, wird es zu einer wichtigen Ressource – dem sogenanntem Sozialkapital. Was Putnam (1993) als social capital konzeptionalisierte, hat im digitalen Paradigma, wo soziale Netze zu einem grundlegenden Bestandteil für den zwischenmenschlichen Austausch geworden sind – privat und beruflich –, große Bedeutung erlangt. Soziales Kapital bezieht sich auf das Netzwerk von Beziehungen zwischen Individuen oder Gruppen, die auf Vertrauen, Normen und gemeinsamen Werten (shared purpose) beruhen. Es umfasst sowohl strukturelle Aspekte (wie Dichte und Stärke von Beziehungen) als auch kognitive Aspekte (wie gemeinsame Normen und Werte). Ein digitales Ökosystem kann durch das Vertrauen, die Zusammenarbeit und die Reziprozität gekennzeichnet sein, die zwischen den Teilnehmern existieren. Ökosysteme, welche die Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Benutzern erleichtern, können eine wichtige Rolle bei der Förderung von Sozialkapital spielen. Untersuchungen haben gezeigt, dass eine höhere Dichte von sozialen Beziehungen zwischen den Akteuren zu einer höheren Wahrscheinlichkeit von Kollaboration führt (Duan et  al. 2019) und soziales Kapital eine wichtige Rolle beim Wissensaustausch (Lyu et  al. 2022) und der Koordination (Nahapiet 2008; Thomas und Murphy 2019) zwischen verschiedenen Organisationen in digitalen Ökosystemen spielt. Das Vorhandensein von sozialem Kapital fördert dementsprechend die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteuren in einem digitalen Ökosystem und fördert die Entstehung von Synergien und Innovationen. Mitarbeiter mit sozialen Fähigkeiten handeln kooperativ und gemeinschaftlich und können dazu beitragen, Vertrauen zwischen den Teilnehmern eines digitalen Ökosystems aufzubauen. Sie sind auch gut darauf vorbereitet, ersten Anzeichen, bekannt als schwache Signale, frühzeitig von ihren Interaktionspartnern wahrzunehmen. Schwache Signale können sich über kurz oder lang in einem Trend manifestieren, in einen Gegentrend umschlagen oder wieder verschwinden (siehe Kap. 3). Wettbewerbsvorteile haben diejenigen Unternehmen, welche das Umfeld systematisch abhorchen und ständig mit externen Marktteilnehmern im Austausch sind. Man könnte argumentieren, dass man das Sozialkapital einfach auf dem freien Markt einkaufen könnte. Das ist falsch, denn das Sozialkapital beinhaltet das gesamte Geflecht aller institutionalisierter interner und externer Beziehungen einer Organisation. Solche Kompetenzen können entsprechend nur durch den Austausch mit anderen erlernt werden. Dementsprechend sind Kernkompetenzen in einer Organisation verankert und können nur in einem speziellen sozialen Umfeld Wert generieren; werden sie transferiert ist es höchst unsicher, ob die Kompetenzen in der anderen Organisation

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5  Open Innovation als Grundlage

auch Wert generieren. Sozialkapital wird pragmatisch als kollaborative Intelligenz eines Ökosystems verstanden (Fasnacht 2018). Als wichtiger Ökosystem-Service, muss Sozialkapital allerdings bei jedem Teilnehmer eigenständig aufgebaut und konserviert werden, wobei der Nutzen kontextabhängig, situativ und spezifisch ist. Sozialkapital dient dem gegenseitigen Nutzen alle Ökosystemteilnehmer. Ein Mangel an sozialem Kapital erhöht Transaktionskosten, verringert die Produktivität, das Wachstum und ist für Open Innovation und Ökosysteme keine Option. Aufgrund begrenzter interner Ressourcen, der Konzentration auf Transaktionskosten und Kernkompetenzen, Produktkomplexität, kürzerer Produktlebenszyklen und Risiken, sehen sich viele Unternehmen veranlasst, zusammenzuarbeiten. Innovationsprozesse haben heute einen kooperativen Charakter, was durch die wachsende Anzahl strategischer Allianzen und Partnerschaften bestätigt wird. Infolgedessen haben sich die Kernkompetenzen zukunftsorientierter innovativer Unternehmen verschoben und nicht nur ihre Prozesse und Routinen verändert, sondern auch die Art und Weise, wie sie sich organisieren. Wissen wird benötigt, um Lösungen zu finden und ist immer innerhalb als auch außerhalb der Organisation verfügbar. Der Sinn jeder Form der Zusammenarbeit besteht darin, dass ein nachhaltiges Kerngeschäft wirtschaftliche Vorteile, wie niedrigere Kosten oder höhere Qualität, im Vergleich zu anderen Marktteilnehmern haben muss. Kollaborationen funktionieren nur durch vertrauensvolle Beziehungen, womit soziales Kapital hilft, in Ökosystemen erfolgreich zu sein. Eine konsequente Zusammenarbeit über Organisationgrenzen hinweg ist unabdingbar, um Fähigkeiten zu erwerben, die erforderlich sind, um für immer anspruchsvollere Kunden einen Mehrwert zu schaffen.

5.5 Interorganisationale Zusammenarbeit Wie im vorangegangenen Abschnitt erörtert, gilt die Zusammenarbeit als eine Form des Ressourcenaustauschs, bei der die Nutzung, Erneuerung und Auffrischung vorhandener Wissensressourcen für die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens von wesentlicher Bedeutung sind. Eine Zusammenarbeit kann intern oder extern, entsprechend auf Abteilungsoder Team-Ebene oder organisationsübergreifend stattfinden. Die Zusammenarbeit mit externen Organisationen als eine Lösung bietet einen flexiblen Zugang zu externem Wissen und erleichtert die Innovation. Diese sogenannte interorganisationale Zusammenarbeit ist eine wichtige wissensschaffende Routine, die dem Unternehmen neue Ressourcen und Erfahrungen aus externen Quellen zuführt (Fasnacht & Proba). Externe Erfahrungen fördern in der Regel die Innovation, indem sie die Gedankenwelten aufbrechen, die dadurch entstehen, dass Menschen mit unterschiedlichem Fachwissen nicht nur unterschiedliche Dinge wissen, sondern diese Dinge auch unterschiedlich wissen. Charles Darwin bemerkte: „In der langen Geschichte der Menschheit (und auch der Tierwelt) haben sich diejenigen durchgesetzt, die gelernt haben, am effektivsten zusammenzuarbeiten und zu improvisieren“.

5.5 Interorganisationale Zusammenarbeit

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Während die Geschäftslogik des Industriezeitalters durch ein lineares, produktorientiertes Verständnis von Lieferketten gekennzeichnet war, hat sich das Verhältnis zu einer dienstleistungsorientierten, netzwerkbasierten und digitalen Geschäftslogik verschoben. Unabhängig von den externen und internen Triebkräften ist es unwahrscheinlich, dass die Motivation für kollaborative Innovation bei mehreren Geschäftspartnern dieselbe ist und daher einseitig motiviert sein könnte. Diese Faktoren beeinflussen, wie die Zusammenarbeit in Zukunft organisiert ist. Durch den hohen globalen Verflechtungsgrad und die digitalen Kooperationsmöglichkeiten stehen Organisationen heute in einer Art Beziehungsnetzwerk. Permanente Wechselwirkungen technologischer und organisatorischer Entwicklungen erhöhen dabei die Komplexität. In so einem Netzwerk sind interorganisationale Beziehungen und eine gewisse Agilität strategisch wichtig (siehe Kap. 8). Denn ohne kontinuierliche Anpassungen an das sich verändernde Umfeld ist eine nahtlose Zusammenarbeit und Co-Innovation innerhalb eines Wertschöpfungsnetzwerkes unmöglich. „In Zeiten von Unsicherheit, Dynamik und hoher Komplexität ist interorganisationale Agilität strategisch, um die Organisation auf das sich ständig veränderte Umfeld anzupassen und einen nachhaltigen Beitrag in einem offenen Ökosystem zu leisten.“

Die vertraglich geregelte Form der interorganisationalen Zusammenarbeit ist eine Allianz. Sie ist definiert als eine einzigartige Organisationsstruktur, welche die gleichwertige Zusammenarbeit zwischen Unternehmen ermöglicht. Allianzen sind instabile organisatorische Konstruktionen, die ständig in Bewegung sind, aber auch starre Strukturen darstellen können. Allianzen, die flexibler sind, sind Allianzen ohne Kapitalbeteiligung, das heißt es gibt keinerlei Kapitalveränderung oder Kapitalbildung zwischen den Partnern. Interorganisationale Beziehungen gehören zu den größten Veränderungen, wenn es darum geht, wie Unternehmen in Zukunft Geschäfte machen werden. Dabei basieren diese Beziehungen eher auf Partnerschaft als auf Eigentum und sind in der Praxis auch unter strategischen Netzwerken, Wertschöpfungsnetzen oder eben Ökosystemen bekannt. Speziell bei Ökosystemen ist die Flexibilität der Beziehungen unter den Akteuren notwendig, um Risiken zu kontrollieren, begrenzte Ressourcen zu binden, sich an veränderte Bedingungen anzupassen und den Ausstieg eines Marktteilnehmers zu erleichtern. Andererseits sind starre Kapitalallianzen, zu denen auch Joint Ventures gehören, erforderlich, um die Interessen der Partner aufeinander abzustimmen, eine starke Kontrolle auszuüben, opportunistische Handlungen zu verhindern und einen Mechanismus zur Verteilung der Residuen zu schaffen. Die meisten wirtschaftswissenschaftlichen Theorien zu Marktmacht, Wettbewerb, Wachstum, Transaktionskosten, wissensbasierten Unternehmen, Kernkompetenzen, Innovationsmanagement, Dynamik, Komplexität oder Ökosystemen tangieren in irgendeiner Form die Zusammenarbeit. Führungskräfte müssen sich mit der Frage befassen, wie externe Ressourcen systematisch integriert werden können, um Innovation und Partnerschaften über Organisationsgrenzen hinweg zu fördern. Ein umfassendes Verständnis interorganisationaler Beziehungen und damit verbunden die Kombination verschiedener Modelle, hilft Unternehmen bei der Bewältigung der Transformation in das digitale Paradigma.

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5  Open Innovation als Grundlage

5.6 Der Weg zur offenen Gesellschaft Eine offene Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die auf den Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Solidarität basiert. In einer offenen Gesellschaft haben die Bürgerinnen und Bürger das Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit und Religionsfreiheit. Es gibt keine Diskriminierung aufgrund von Rasse, Geschlecht, sexueller Orientierung oder anderen Merkmalen. Dieser Grundsatz wurde vom französischen Philosophen und Nobelpreisträger Henri Bergson vor fast hundert Jahren formalisiert (Bergson 1935). In einer offenen Gesellschaft ist die Regierung reaktionsfähig und tolerant und die politischen Mechanismen sind transparent und flexibel. Der Staat hütet keine Geheimnisse vor sich selbst im öffentlichen Sinne; vielmehr wird in einer nicht-autoritären Gesellschaft allen das Wissen aller anvertraut. Der Philosoph Karl Raimund Popper, versicherte, dass die politischen Führer in einer offenen Gesellschaft ohne Blutvergießen gestürzt werden können, im Gegensatz zu einer geschlossenen Gesellschaft, in der eine blutige Revolution oder ein Staatsstreich erforderlich ist, um die Führer zu wechseln (Popper 1945). Demzufolge müsste sich eine offene Gesellschaft auf Skepsis als Modus Operandi stützen. Was Bergson definierte und Popper als liberale Demokratie verstand, in der alle Teile der Gesellschaft mitdenken und gestalten, ist heute in sozialer Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit oder Umweltgerechtigkeit verortet. George Soros, der mit seinem Quantum Fund, der von seiner Gründung 1973 bis 2016 der erfolgreichste Investmentfonds der Geschichte war, und so zu einer Legende in der globalen Finanzwelt wurde, hat den Begriff der offenen Gesellschaft als eine Erklärung für einen gerechten globalen Kapitalismus übernommen (Soros 2000). Soros’ Open Society Foundation ist heute eine der größten Stiftungen der ganzen Welt und setzt sich für Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechte ein. Eine offene Wirtschaft ist ein transparentes System, wo alle Teilnehmer Transaktionen mit dem Rest der Welt haben. Dazu kann der Handel mit Waren und Dienstleistungen, Kapitalbewegungen, der Transfer von Informationen und technischem Know-how sowie die Migration von Arbeitskräften gehören. Der Gedanke, dass Arbeit als Ware behandelt wird, die auf dem offenen Markt gekauft und verkauft werden kann, geht auf die industrielle Revolution zurück. In diesem Kontext verstand Karl Marx die Kommodifizierung des Menschen und wie dieses Profitmotiv durch eine soziale Revolution überwunden werden kann (Marx und Engels 2015). Da die meisten Volkswirtschaften das Scheitern der kommunistischen Planwirtschaft erkannt haben, weisen freie Länder diese Ansicht zurück. Besonders der Kauf von Wissen von Menschen in einer offenen, von Angebot und Nachfrage dominierten Marktwirtschaft, ist heute weit verbreitet. Ist ein Markt aber völlig unreguliert und zu offen, kann das Pendel der wirtschaftlichen Prosperität zurückschwingen. Während der Finanzkrise haben Regierungen die Banken zentralisiert, was einen folgenschweren Bruch mit der jahrzehntelangen Philosophie des freien Marktes darstellte. Es war niemand anderes als Marx, der in seinem 1848 veröffentlichten Kommunistischen Manifest die „Zentralisierung des Kredits in den Händen des Staates durch eine Nationalbank mit Staatskapital und exklusivem Monopol“ propagierte. Mit dieser Art der Zentralisierung können kapitalistische Länder leben, da das Staatskapital aus Steuergeldern besteht und verwendet werden soll, um Krisen zu bewältigen und Wohlstand zu sichern.

5.6 Der Weg zur offenen Gesellschaft

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Eine offene Gesellschaft und Wirtschaft sind die Voraussetzungen für den Wertewandel zu noch mehr Offenheit. Die Computerindustrie beispielsweise versteht unter offener Architektur ein Konzept des Hardware-Designs, das öffentlich freigegeben wird. Offene Architektur wird in die breiteren Ideen der Open-Source-Bewegungen als eine Reihe von Grundsätzen und Praktiken einbezogen, die den Zugang zum Produktions- und Designprozess für verschiedene Güter, Produkte, Ressourcen und technische Schlussfolgerungen oder Ratschläge fördern. Open Source wurde Mitte der 1990er-Jahre bekannt, als Linus Torvalds mit der Entwicklung von Linux (einem Unix-ähnlichen Betriebssystem) begann. Als dann 1998 Netscape Navigator im Zuge der steigenden Dominanz von Microsoft im Browser-Markt, den Quelltext freigab, war Open Source nicht mehr aufzuhalten. Open Source bedeutet heute nichts anderes, als dass der Quellcode von Software der Öffentlichkeit mit gelockerten oder gar nicht vorhandenen Einschränkungen des geistigen Eigentums zur Verfügung gestellt wird. Dies ermöglicht es den Benutzern, die Software zu kopieren, zu verbreiten, zu nutzen und durch schrittweise individuelle Anstrengungen oder durch Zusammenarbeit benutzergenerierte Softwareinhalte zu erstellen.  Ein populäres Beispiel ist die 2015 gegründete OpenAI, welche in seiner Anfangszeit viele seiner Forschungsergebnisse des GPT-Modells als Open Source veröffentlichte. Obwohl Sicherheits- und Ethikbedenken dazu geführt haben, dass nicht alle Modelle freigegeben wurden, hat diese offene Philosophie zur Beliebtheit von OpenAI beigetragen. Aber auch in Bereichen von Wissen und Informationen finden aktuell viele Veränderung statt. So werden mit Open Access wissenschaftliche Arbeiten einer breiten Öffentlichkeit kostenlos zur Verfügung gestellt. Weitere Initiativen sind Open-Source-Filme, Open Marketing oder Open Governement Data. Der Trend geht eindeutig Richtung Transparenz und Demokratisierung von Daten und Informationen. Eines ist klar, offene Spezifikationen ermöglichen es Unternehmen, Produkte herzustellen, die miteinander kompatibel sind und in der Regel übereinstimmen. Eine offene Architektur in diesem Sinne würde sich auf die Technologie beziehen, die es mehreren Dienstanbietern ermöglicht, elektronisch zu kommunizieren und Daten auszutauschen. Im Gegensatz dazu steht eine geschlossene Architektur für ein Design, bei dem der Hersteller anderen Herstellern nicht die Möglichkeit gibt, von seiner Spezifikation zu erfahren. Im Finanzsektor tauchte die offene Architektur um die Jahrtausendwende auf. Inspiriert durch Open Innovation, zeigte dieses unkonventionelle, doch wegweisende Geschäftsmodell Wettbewerbsvorteile auf, wie Fasnacht (2009, 2005) analysierte und nachwies. Die Idee hatte ihren Ursprung im Fondsvertrieb, womit eine Bank Fonds von Drittanbietern anbieten konnte. Völlig neu war, dass eine Bank, die eigene Fonds im Angebot hatte und gleichzeitig auch Fonds von Konkurrenten in das Angebot aufnahm. Anleger sollen so diejenigen Fonds kaufen können, die ihren Bedürfnissen am besten entsprechen, unabhängig vom Anbieter. Diese offene Fondsarchitektur war ein revolutionärer Ansatz und wurde vom Markt sehr positiv aufgenommen. Die open Architecture, die eigenen Produkte ­einschließt, wurde zum de-facto-Standard in der Finanzbranche und gilt als Erfolgsfaktor und Voraussetzung für moderne Produkt- und Dienstleistungsinnovationen. Das Konzept der Öffnung nahm im Finanzsektor 2016 eine weitere Hürde, als 2016 Großbritannien die Open-Banking-Initiative ins Leben rief. Damit sollte der Wettbewerb

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5  Open Innovation als Grundlage

unter Finanzdienstleistern erhöht und Verbrauchern mehr Kontrolle über ihre Finanzdaten gegeben werden. In der Europäischen Union wurde das Prinzip im Rahmen der PSD2 (Payment Services Directive2)-Richtlinie im Jahr 2018 umgesetzt (Europäische Kommission 2019). Open Banking bezieht sich in diesem Zusammenhang auf den Zugang von Drittanbietern zu den Bankkonten und Finanzinformationen von Verbrauchern und Unternehmen. Dabei werden APIs (Application Programming Interfaces) eingesetzt, um den sicheren Austausch von Daten zwischen Banken und Drittanbietern zu ermöglichen. Dritt­ anbieter können dann auf Basis dieser Daten neue Finanzdienstleistungen anbieten. Open Banking hat das Potenzial, den Finanzdienstleistungssektor zu transformieren, indem es mehr Anbieter auf den Markt bringt und den Verbrauchern bessere Angebote bietet. Dienstleister, wie Apple, Alphabet, Amazon und viele andere Fintechs, erhalten damit die Möglichkeit, auf Kundendaten von regulierten Banken zuzugreifen. Open Finance geht einen Schritt weiter und umfasst nicht nur den Zugang zu Bankkonten und Finanzinformationen, sondern auch zu anderen Finanzprodukten, wie Versicherungen, Kreditkarten und Investmentkonten. Drittanbieter können auf Basis dieser Daten personalisierte Finanzdienstleistungen anbieten und somit die Bedürfnisse der Verbraucher besser erfüllen. Open Finance hat das Potenzial, den Verbrauchern mehr Kontrolle über ihre Finanzdaten und -entscheidungen zu geben und die Finanzdienstleistungsbranche komplett zu öffnen. Kundenzentrierte Ökosysteme von branchenfremden Anbietern werden in Zukunft Bankdienstleistungen verdrängen und klassische Banken zu reinen Abwicklungsorganisationen degradieren. Offene Finanz-Ökosysteme sind dadurch gekennzeichnet, dass sie den bidirektionalen Datenzugriff sicherstellen, der es ermöglicht, Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, die reale Kundenprobleme lösen. Durch die Verfügbarkeit von unlimitierten Daten, sowohl von der eigenen Bank als auch von Wettbewerbern, wird es für agile und kundenzentrierte Unternehmen möglich sein, neue Geschäftsmodelle und Marktteilnehmer zu entwickeln. Technologische Entwicklungen wie APIs, Künstliche Intelligenz (KI) und Datenanalyse unterstützen diese Geschäftsmodelle. Traditionelle Banken nehmen diese Entwicklung erst und müssen ihre Anstrengungen verstärken, um in dieser neuen Ära der offenen Ökosysteme wettbewerbsfähig zu bleiben. Sowohl Open Banking als auch Open Finance bringen Vorteile für Verbraucher und Unternehmen. Verbraucher können von einer größeren Auswahl an Finanzdienstleistungen und besseren Angeboten profitieren, die nahtlos mit Angeboten aus anderen Branchen kombiniert sind. Unternehmen können neue Geschäftsmodelle entwickeln und den Wettbewerb erhöhen. Die Finanzdienstleistungsbranche kann durch mehr Wettbewerb und Innovation wachsen und sich weiterentwickeln. Allerdings gibt es auch Bedenken bezüglich der Sicherheit und des Datenschutzes im Zusammenhang mit Open Banking und Open Finance, die sorgfältig angegangen werden müssen. Die Ausprägungen von derartigen offenen Ökosystemen stehen erst am Anfang, könnten aber bei steigender Benutzerakzeptanz das sogenannte Plattform-Banking mit eingebundenen Services (embedded services) verbreiten. Open Innovation dient dabei als betriebswirtschaftliche Grundlage. Davon ausgehend kann ein offener Datenzugriff und dann Open Banking und Open Finance folgen, um schließlich in einem offenen Ökosystem alle denkbar möglichen Dienstleistungen anzubieten.

5.7 Open Innovation

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5.7 Open Innovation Der Begriff Open Innovation wurde von Henry Chesbrough als Rahmen für Innovation und neues Wachstum basierend auf der Nutzung von  Technologien  eingeführt  (Chesbrough 2003a). Er bewertete die beiden Modelle – geschlossene Innovation und offene Innovation – und sah bereits vor 20 Jahren in der offenen Innovation das Modell der Zukunft (Chesbrough 2003b). Der Open-Innovation-Ansatz ist ein neuer Weg, um das Management von Innovation und den Innovationsprozess als solches anzugehen. Insbesondere wird eine prozessuale Sichtweise auf Innovation vorgeschlagen, da Innovation nicht mehr einer linearen Abfolge von Wissensschaffung innerhalb der Unternehmensgrenzen und deren Verbreitung, Umsetzung und Nutzung außerhalb der Unternehmensgrenzen entspricht. Die Botschaft für eine erfolgreiche Transformation lautet, Wissen aus verschiedenen Quellen zu suchen und Kunden, Lieferanten, Universitäten, Innovationslabore, Berater, Regulierungsbehörden, Technologie- und Plattformanbieter in den Innovationsprozess einzubeziehen. Iterative Prozesse sind ein essenzieller Bestandteil schlanker und agiler Arbeitsmethoden. Dabei durchläuft etwas so lange einen Entwicklungs- oder Verbesserungsprozess, bis alle Anspruchsgruppen mit dem Ergebnis zufrieden sind. Open Innovation auf die Verbreitung von allgemeinem Wissen auszuweiten, macht Sinn. So können interne Ideen mit Fach- und Marktwissen aus anderen Unternehmen kombiniert und so organisatorische Grenzen faktisch geöffnet werden. Diese Sichtweise geht über die reine Integration von Fremdprodukten wie bei Open Architecture hinaus. Vielmehr handelt es sich um einen Ansatz, der den gesamten Innovationsprozess umfasst. Open Innovation verbindet interne und externe Ideen zu einem organisatorischen System, in dem die Anforderungen durch ein Geschäftsmodell definiert werden. Das Geschäftsmodell nutzt in diesem Fall neue Wege zur Wertschöpfung und definiert gleichzeitig interne Prozesse, um einen Teil dieses Wertes zu beanspruchen. Die Wertschöpfung wird aufgebrochen und auf mehrere Akteure verteilt mit dem Ziel, so viele potenzielle Ideen wie möglich zu entwickeln und sie als neue Produkte oder Dienstleistungen auf bestehende oder neue Märkte zu bringen. In einem offenen Markt sollten sich die Unternehmen die offene Innovation zu eigen machen, um die Vorteile des freien Handels für den Fluss neuer Ideen zu nutzen. Ein kollaborativer Innovationsprozess fördert die Interaktion und Kreativität. Der offene Innovationsprozess ist dementsprechend kein linearer starrer Prozess, bei dem das für die Innovation relevante Wissen nur aus einer Organisation stammt. Vielmehr werden bei jeder Art von Innovation sowohl Fachwissen als auch implizites Wissen über bestehende Praktiken aus einer Vielzahl von Quellen einbezogen. Open Innovation sollte als Grundlage betrachtet und in den Mittelpunkt des strategischen Managements gestellt werden. Andernfalls würde die Organisation in einer dynamischen und sich schnell verändernden Welt von einem kontinuierlichen Innovationsstrom und der Möglichkeit abgeschnitten, schnell genug auf disruptive Veränderungen zu reagieren. Die Berücksichtigung externer Ressourcen für jede Phase – von der Ideenfindung über Forschung und Entwicklung bis hin zum Vertrieb – zur Steigerung der Innova-

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5  Open Innovation als Grundlage

tionskraft eines Unternehmens ist zum Standard geworden. Basierend auf der extensiven Literatur umfasst die Innovation im Kontext von Open-Innovation im Wesentlichen drei Arche­typen (Chesbrough und Bogers 2014; Gassmann und Enkel 2004): • Outside-In-Prozess: Die organisatorischen Grenzen werden aufgehoben, um alle Arten von externen Ressourcen in die eigenen organisationsinternen Innovationsprozesse einfließen zu lassen (Internalisierung). Dazu gehören die Lizenzierung von geistigem Eigentum, Scouting, Akquisitionen (M&A), Joint Ventures, Crowdsourcing, User-Communities, Vermittler, Innovation Hubs und jegliche Formen kundengetriebener Innovationen. • Inside-Out-Prozess: Der Initiator von Open Innovation gibt seine eigenen Ressourcen frei, sodass ungenutzte Ideen und Ressourcen nach außen gelangen und von anderen in ihren Unternehmen und Geschäftsmodellen genutzt werden können (Externalisierung). Dazu gehören die Lizenzvergabe von geistigem Eigentum und Technologie, Veräußerungen, Risikokapital, Forschung und Entwicklung für Dritte oder Spinoffs. • Gekoppelte Prozesse: Kombination von zielgerichteten Wissenszuflüssen und -abflüssen zur gemeinsamen Entwicklung und/oder Vermarktung einer Innovation. In diese hybride Form fallen viele Zusammenarbeitsformen, wie Allianzen, Kooperationen, Joint Ventures, aber auch Innovationsnetzwerke und Ökosysteme. Die organisatorischen Grenzen im offenen Modell sind durchlässiger und flexibler, aber nicht völlig offen, wie Jack Welch, ehemaliger CEO von General Electric, im Jahresbericht 1990 mit der boundaryless organization treffend formulierte (Welch 1990). Er war der Ansicht, dass General Electric viel effektiver wäre, wenn die kulturellen, geografischen und organisatorischen Barrieren, die die Mitarbeiter voneinander trennten, durchlässiger würden. Daher wurde der Schwerpunkt auf die Fähigkeit der Grenzen gelegt, Geschäfte zu ermöglichen. Eine solche Neugestaltung der Grenzen würde zu Geschwindigkeit statt zu Größe, Flexibilität statt Rollendefinition, Integration statt Organisation und Innovation statt Kontrolle führen. „In a boundary-less company, suppliers aren’t outsiders. They are drawn closer and become trusted partners in the total business process. Customers’ vision of their needs and the company’s view become identical and every effort of every man and woman in the company is focused on satisfying those needs. The boundary-less company blurs the divisions between internal functions; it recognizes no distinctions between “domestic” and “foreign” operations; and it ignores or erases group labels  – such as “management,” “salaried,” and “hourly”  – which get in the way of people working together.“

Der Traum der grenzenlosen Organisation war der Zeit weit voraus und beschreibt Open Innovation treffend. Der Ansatz eignet sich ideal für agile, technologiegetriebene Unternehmen. Denn für komplexe, zukunftsorientierte und disruptive Fragestellungen benötigen sie einen kontinuierlichen Prozess des Experimentierens und Lernens. Mit flachen Hie­ rarchien und ohne vertikale und horizontale Grenzen innerhalb der Organisation können

5.8 Interdisziplinäre Geschäftstätigkeiten in Ökosystemen

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Informationen leichter fließen und erleichtern so die Generierung von Wissen. Zudem kann die Organisation damit agiler und resilienter werden und sich bei Bedarf schneller der aktuellen Wirtschaftssituation anpassen. Fundiertes technologisches Wissen, kurze Entscheidungszyklen und die Fähigkeit zur Zusammenarbeit sind bei Disruptoren, die versuchen, traditionelle Geschäftsmodelle zu stören, eminent wichtige Erfolgsfaktoren. Disruptoren sind längst im digitalen Paradigma angekommen. Die Schaffung neuer Wertangebote oder die Bereitstellung eines neuen Wertschöpfungsmodelles für digitale Innovationen wird über die Wettbewerbsfähigkeit der Zukunft entscheiden. Da die Innovationen bei vielen Unternehmen meist auf neuen und bestehenden Märkten vertrieben werden müssen, ist eine Multi-Channel-Vertriebsstrategie erforderlich. Unternehmen sind gezwungen, externe und interne, analoge und digitale Modelle zu betreiben. Open Innovation bildet eine symbiotische Beziehung der Organisation mit ihrer Außenwelt.

5.8 Interdisziplinäre Geschäftstätigkeiten in Ökosystemen Nachhaltiges Wachstum ist nur möglich, wenn die mit den Innovations- und Wachstumsstrategien verbundenen Risiken kontinuierlich überwacht werden. Die verschiedenen Wege zur Innovation und Arten von Innovationen wurden bereits aufgezeigt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Produkt- und Dienstleistungsinnovation, Prozessinnovation oder Marketing- und Geschäftsmodellinnovation alle unterschiedliche Auswirkungen haben. Letztere umfasst Omni-Channel-Vertriebsstrategien für bestehende und neue Märkte. Dabei ist die Kundensegmentierung, Bündelung von Produkten und Dienstleistungen zu wertsteigernden Lösungen und strategische Preisgestaltung zu berücksichtigen. Ein datenorientiertes Marketing ist dabei für Werbung, Öffentlichkeitsarbeit und zunehmend auch für soziale Medien höchst relevant. Unmittelbare Triebkräfte für das Wachstum sind Innovationen bei Produkten, Dienstleistungen und Prozessen. Während Produktinnovationen für hohe Qualität und Service sorgen, unterstützen Prozessinnovationen Produktion, Logistik, Marketing und Vertrieb. Um Kunden zu gewinnen, braucht es attraktive Angebote und digitale Plattformen, aber auch reaktionsschnelle und zuverlässige Services. Innovationen in diesen Bereichen führen zu höheren Gewinnspannen und Skaleneffekten und steigern den Gewinn. Innovation im Dienstleistungssektor und die damit verbundenen Prozesse unterschieden sich von denen im verarbeitenden Gewerbe. Immaterielle Produkte und Dienstleistungen werden konsumiert, während sie genutzt werden. Die ständige Zunahme von Daten und kognitiven Werkzeugen zur Generierung von Wissen sind kennzeichnend für Dienstleistungsunternehmen. Daten und Informationen werden bei einem Open-Innovation-Ansatz nicht mehr nur innerhalb einer Organisation genutzt, sondern auch Partnern zur Verfügung gestellt, um damit neue Innovationen zu schaffen. Agilität und Anpassungsfähigkeit der Organisation auf die veränderte Umwelt beeinflussen in hohem Maße die Innovationskraft. Unternehmen, die ihr Wissen teilen, profitieren von diesem Austausch und können dadurch Geschwindigkeit, Flexibilität und Integration verbessern, was ein wesentlicher Grundsatz von Open Innovation darstellt. Die

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5  Open Innovation als Grundlage

Verbindung zwischen Offenheit und Transparenz im Prozess der Wissensgenerierung und -verteilung ist augenscheinlich. Lösungen sollten stets für konkrete Bedürfnisse der Kunden in interorganisationaler Zusammenarbeit entwickelt werden. Die daraus resultierenden Produkte oder Dienstleistungen sollten über ein flexibles Netz von Partnern vertrieben werden. Da Ressourcen über die Unternehmensgrenzen hinaus herangezogen werden, erfordern ihre Integration und Verwaltung neue Kompetenzen sowie eine offene Innovationskultur. Ein strategisches Netz von Geschäftspartnern ist ein wesentlicher immaterieller Bestandteil der Vermögenswerte eines Unternehmens. Partnerschaften gelten als eine Wissensquelle, die erforderlich ist, um die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens zu fördern. In einem Netzwerk wird Wissen durch Interaktionen generiert. Entsprechend ist das Lernen von anderen für viele Unternehmen strategisch wichtig. Auch etablierte Unternehmen können sich nicht mehr länger allein auf ihre eigenen Ressourcen verlassen. Sie sind gezwungen, geistiges Eigentum auf dem freien Markt zu erwerben und mit anderen Marktteilnehmern zu kollaborieren. Die wechselseitigen Abhängigkeiten von Wissen, Innovation und Wachstum müssen verstanden werden. Ein wesentlicher Bestandteil des erklärten digitalen Paradigmas, neben digitalen Aspekten (digitale Daten, digitale Plattformen, digitale Kundeninteraktionen), ist vor allem Offenheit (siehe Kap. 1). Open Innovation bildet die Basis für organisations- und branchenübergreifende Zusammenarbeit und interdisziplinäre Geschäftstätigkeiten. Ohne Open Innovation kein Open Banking, also keine gemeinsame Nutzung von Bankkundendaten über definierte Schnittstellen, sogenannte Open API’s. Der nächste Schritt ist Open Finance, eine Art Demokratisierung von Daten in allem, was mit Finanzen zu tun hat, wie Anlagen, Hypotheken, Firmenkredite, Versicherungen, Renten- und Pensionskonten. Die Akteure in so einem abgegrenzten Finanz-Ökosystem benötigen lediglich den Zugang zu erweiterten Kundendaten (Open Data) und die gesetzlichen Grundlagen, um sich weiter zu öffnen. Der ultimative Schritt ist dann die komplette Öffnung der Gesellschaft. Konkret geht es darum, Daten über Unternehmensgrenzen und Branchen hinweg zu verknüpfen und zu nutzen. Während Branchen zunehmend datengetrieben agieren, nimmt die Bedeutung eines effizienten und effektiven  Managements von offenen Daten im Kontext von Open Innovation zu (Temiz et al. 2022). Damit kann eine vollständige Integration von Social Media oder E-­Commerce-­Plattformen mit Gesundheitsdaten oder Zahlungsabwicklungstools – im Prinzip mit allem, was im Alltag eines Menschen wichtig ist, verfolgt werden. Das nächste Kapitel bildet den Kern des Buches und erklärt die offene Datenökonomie im Kontext eines offenen Ökosystems (siehe Kap. 6).

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6

Offene Ökosysteme

Zusammenfassung

Werden digitale Plattformen und Ökosysteme zum führenden Managementansatz des nächsten Jahrzehnts? Die Entwicklungen in der Informations- und Kommunikationstechnologie fördern die Hyperkonnektivität als grundlegendes Prinzip für die Interaktion und Kooperation in einem offenen Ökosystem. Die Welt ist längst ein digitales Netzwerk, in dem alles miteinander verbunden ist. Interdependenzen dienen als Grundlage für die Wertschöpfung und die Skalierung erfolgt durch Netzwerkeffekte. Die vielfältigen Potenziale offener und digitaler Ökosysteme reichen von der Armutsbekämpfung und der Förderung finanzieller Inklusion bis hin zum gemeinsamen Lernen für verbesserte Kundenerfahrungen und nachhaltiges Wachstum. Untersuchungen haben gezeigt, das erfolgreiche Ökosysteme ihren Ursprung vor allem in Sektoren wie E-Commerce, sozialen Medien und Finanzen haben und von dort aus in komplementäre Geschäftsbereiche anderer Branchen vordringen. Dieses goldene Dreieck von Ökosystemen hat sich in  China etabliert.  Dominante Ökosysteme aus dem Online-­ Handel (Alibaba) oder den sozialen Medien (Tencent) heraus entstanden vor über zehn Jahren und dienen heute als Geschäftsmodell- und Strategiemuster. Super-Apps inte­ grieren Services für alle Bereiche des täglichen Lebens – von Einkaufen und Reisen über Finanzen bis hin zu Gesundheit, Logistik und Entertainment. Zwischen den Akteuren in einem Ökosystem gibt es Daten-, Informations-, Güter-, und Finanzströme, welche alle eng miteinander verwoben sind. Ein tiefes Verständnis dieser Kreisläufe ist entscheidend, um in der Plattformökonomie Geschäfte zu machen. Der globale Wettbewerb wird immer weniger zwischen isolierten Unternehmen stattfinden, sondern eher zwischen Ökosystemen, welche über Organisations- und Sektorgrenzen hinauswachsen.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Fasnacht, Offene und digitale Ökosysteme, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42494-7_6

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6  Offene Ökosysteme

6.1 Digitale Plattformen und Ökosysteme 6.1.1 Ökosystem Evolution In der Natur ist ein Ökosystem definiert als eine biologische Gemeinschaft von interagierenden Organismen. Diese Lebensgemeinschaft besteht aus Pflanzen und Tieren, integriert also unbelebte (abiotische) und lebende (biotische) Teile. Es gibt viele Beispiele von solchen Ökosystemen, wie Meere, Flüsse, Seen, Teiche, Wüsten, Wälder, der Amazonas oder das Wattenmeer. Umweltveränderungen erfordern Anpassungen, um neue Lebensformen zu ermöglichen. Charles Darwin, der englische Naturforscher, stellte im 19. Jahrhundert in seinem bahnbrechenden Werk zur Evolutionslehre fest, dass sich ein solches System selbst reguliert. Die Aufrechterhaltung des Gleichgewichtszustands ist ein komplexer Prozess der Energiedynamik. Ein Ökosystem ist nur dann als Ganzes wertvoll, wenn jeder Teil oder jede Funktion eine Wirkung auf einen anderen hat. In diesem wechselseitigen Austausch muss jeder einzelne Teilnehmer einen Wert schaffen damit das System als solches funktionsfähig also produktiv ist. Beispielsweise ist eine Mücke ein integraler und unverzichtbarer Bestandteil vieler Ökosysteme. Sie ist ebenso wichtig wie ein See oder Wälder. Sie dient als Nahrungsquelle für andere Ökosystemteilnehmer und hat eine Funktion als Überträgerin von Krankheiten bei der Kontrolle von Populationen. Angewendet auf ökonomische Ökosysteme, können die Teilnehmer Menschen in Organisationen sein (biotisch), aber auch Infrastruktur und Algorithmen (abiotisch). Das Ökosystem ist demnach ein sozio-technisches System (Emery und Trist, 1960). Anders als in der Biologie werden die Konzepte von betriebswirtschaftlichen Ökosystemen, Wertschöpfungsnetzwerken und digitalen Plattformen oft durcheinandergebracht. Der Grund dafür ist, dass sich Ökosysteme ohne großes theoretisches Wissen zuerst in der Wirtschaftspraxis behaupteten und erst danach den Weg in die Forschung fanden. Seitdem wird versucht ex-post zu ergründen, wieso einige Ökosystem-Pioniere mit ihren digitalen Plattformen so erfolgreich und dominant werden konnten. In den letzten fünf Jahren hat dieser empirische Ansatz durch Untersuchungen und gesammeltes Erfahrungswissen an der Basis große Bedeutung erlangt. Erfolge können heute erklärt und kausale Zusammenhänge hergestellt werden. Die neue Wertschöpfungslogik durch interorganisationale Zusammenarbeit ist unterdessen in Theorien, Konzepten und Frameworks aufgenommen (Khademi 2020; Aulkemeier et al. 2019; Radziwon und Bogers 2019; Le Pennec und Raufflet 2018). Die digitale Transformation hat Ökosysteme begünstigt, weshalb oft von digitalen Ökosystemen gesprochen und darunter ein Netzwerk von Akteuren verstanden wird, die über eine digitale Plattform miteinander verknüpft sind. Da die Digitalisierung für die Zusammenarbeit und den Wissensaustausch ein wesentlicher Bestandteil eines Ökosystems darstellt, erübrigt sich das Präfix digital. Aus praktischen Gründen wird im Buch meist nur der Begriff Ökosystem verwendet, womit damit ein digitales Ökosystem gemeint ist. Ähnlich verhält es sich mit Plattformen, auch wenn eine Plattform und ein Ökosystem nicht dasselbe sind. Eine Plattform stellt lediglich die Infrastruktur für die gemeinsame Nutzung und den Austausch von Wissen, Ideen, Fähigkeiten, Produkten und

6.1 Digitale Plattformen und Ökosysteme

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Dienstleistungen bereit. Eine Plattform ermöglicht die interorganisationale Zusammenarbeit unter der Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien und realisiert auf Basis des Open-Innovation-Ansatzes die Erbringung von Services in einem Ökosystem. In vielen Fällen wird der Begriff Wertschöpfungsnetzwerk synonym verwendet, weil Unternehmen über Organisationsgrenzen und Branchen hinweg gemeinsam Wert generieren. Für einige themenspezifische Anwendungen, wie beispielsweise Blockchain, wo es um dezentrale und verteilte Wertschöpfung geht, empfiehlt sich jedoch, konsequent von Wertschöpfungsnetzwerken zu sprechen (Bieser und Fasnacht 2023). Auch wenn in diesem Kontext alle Mitglieder gemeinsam Entscheidungen treffen und sich gegenseitig, ohne zentrale Bestimmungsinstanz kontrollieren, braucht es Regeln, Normen, Kultur, Gesetze und Kodex, also Beschreibungen, wie die Teilnehmer zusammenarbeiten. In einem Ökosystem ist der gemeinsame Sinn und Zweck im sogenannten shared purpose verortet (Burkhalter 2020). Jeder Akteur in einem Ökosystem orientiert sich demnach auf den gemeinsamen Zweck auf dem Weg zur Erfüllung eines Wertversprechens. In der Literatur und in der Praxis werden verschiedene Arten von Ökosystemen unterschieden, die für Innovation und Unternehmen relevant sind (Moore 1996; Iansiti und Levien 2004). Aufgrund von Untersuchungen des Unternehmertums von verschiedenen Leistungserbringern (Komplementären) und der Verbraucherfreundlichkeit ihrer Technologie betrachten einige Forscher Plattform-Ökosysteme als eine konkrete Form von Open Innovation (Eckhardt et  al. 2018). Obwohl für viele Autoren die Schaffung bestimmter Innovationen oder ein neues Werteangebot im Zentrum eines Ökosystems stehen (Jacobides et al. 2018; Adner 2017), hat die hier dargelegte angewandte Forschung ergeben, dass mit einem Ökosystem in der Regel eine Wertschöpfung erbracht wird, die immer auch eine Innovation darstellt. Entsprechend ist Innovation inhärenter Bestandteil eines Ökosystems und es kann auf den Präfix innovation verzichtet werden. Allerdings gibt es branchenspezifische und branchenübergreifende Ökosysteme, Wissens- und Unternehmensökosysteme sowie regionale Cluster und andere Begrifflichkeiten, welche eine Einordnung schwierig machen. Unternehmens-Ökosysteme haben eher den Zweck Unternehmensgründungen und Wachstum in einer Region zu fördern. Ein Netzwerk, welches sich auf eine Branche oder eine Region konzentriert, ist eher ein monolithischer Cluster als ein Ökosystem. Das Silicon Valley, der erste und größte regionale Innovationscluster, ist im Laufe der Zeit organisch aus dem Technologiesektor entstanden und das Crypto-Valley in der Region Zürich/Zug in der Schweiz ist eigentlich ein themenspezifischer Hub für Blockchain-Technologie. Während sich Ökosysteme in den letzten Jahren bewusst auf der Strategie und den ökonomischen Zielen des Initiators, meist des Plattformbetreibers, bildeten, entstanden die ersten Wertschöpfungsnetzwerke, ohne konkret das Ziel eines Ökosystems zu verfolgen. Alibaba wie auch Amazon entstanden über die letzten Jahre und erst im Nachhinein wurde den Gründern bewusst, dass sie eigentliche eine Ökosystemstrategie verfolgten. Beide Beispiele haben aufgrund ihrer Diversifikation verschiedene Strategie für die einzelnen Geschäftseinheiten. Wenn man aber die Geschäftsstrategien konsolidiert, stellt man fest, dass damit alle Prinzipien berücksichtigt wurden, welche für den Aufbau eines ganzheitlichen Ökosystem notwendig sind.

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6  Offene Ökosysteme

Offenheit hat eine große Bedeutung in der Wirtschaft und Gesellschaft erlangt und Open Innovation bildet unmissverständlich das Fundament für interorganisationale Zusammenarbeit (siehe Kap. 5). Während ein geschlossenes biologisches Ökosystem Energie, aber keine Materie mit seiner Umwelt austauscht, wird bei einem offenen Ökosystem beides ausgetauscht. Das heißt, damit ein Ökosystem im betriebswirtschaftlichen Sinn funktioniert, muss ein Austausch von Materie stattfinden. Materie ist ein Sammelbegriff für alles, was die Welt ausmacht, und kann in unserem Bezugsrahmen für Ressourcen, Wissen, finanzielle Mittel und vieles mehr verstanden werden. Die Integrationen von anderen Technologien, Plattformen, Services und Meinungen wird durch Offenheit unterstützt und begünstigt. Technisch bedeutet das für Unternehmen, dass sie ihre Schnittstellen (Application Programming Interface, API’s) öffnen und damit anderen Marktteilnehmern Teile ihres Geschäftsmodelles zugänglich machen. In einem offenen Ökosystem sollten Daten geteilt werden (Open Data), wenn dies zur Erfüllung des Kernwertversprechens beiträgt. Nach unserem Verständnis stellt ein offenes Ökosystem den gemeinsamen Zweck für interorganisationale Zusammenarbeit und interdisziplinäre Geschäftstätigkeiten über die Interessen einzelner Marktteilnehmer. Dies macht das Netzwerk agiler und flexibler, was wichtig ist in Zeiten von Unsicherheit und sich schnell verändernden Kundenbedürfnissen. Obwohl es einen Orchestrator braucht, ist dieser in einem offenen Ökosystem nicht unwiderruflich installiert und gibt allein die Regeln vor. Wie in einem Orchester kann der Dirigent nach einer gewissen Zeit wechseln. „Ein offenes Ökosystem ist ein dynamisches und zugängliches Netzwerk, in dem diverse Akteure Technologie, Wissen und Ressourcen einbringen, um einen Teil der Wertschöpfung zu generieren, welche zu Kundenmehrwert führt.“

Der Autor dieses Buches kuratiert offene Ökosysteme und erklärt die Zusammenarbeit innerhalb verschiedener Organisationen als eine Bedingung, um den Kunden der Zukunft zu erreichen und zu bedienen. Dazu müssen Unternehmen ihre Angebote mit anderen inte­ grieren und kombinieren. Auch neue Arbeitsmodelle und ortsunabhängiges Lernen können durch ein offenes Ökosystem begünstig werden. Integrationen mit anderen Anbietern, Konkurrenten und Kunden machen relevante Inhalte und Daten leichter verfügbar und zugänglich. Unternehmen können Technologien und Services aus anderen Sektoren beziehen, um das Plattformgeschäft zu betreiben und Kundendaten zu sammeln, analysieren und materialisieren. Innovationen und zukünftiges Wachstum kommen zunehmend von außerhalb der traditionellen Branche. So setzen die meisten Technologiefirmen ihre Kernkompetenzen für andere Geschäftsbereiche ein und dringen damit in andere Sektoren ein. Um Chancen über Branchengrenzen hinaus zu realisieren, braucht es Daten, einschließlich der Kundeninformationen, welche zur Nutzung an alle Teilnehmer in einem offenen Ökosystem freigegeben werden können, um damit effektiv und effizient einen Mehrwert zu schaffen. Aus der Kundenperspektive betrachtet, entspricht ein offenes Ökosystem vielen verteilten Services mehrerer Anbieter, in dem eine Art Datensymbiose herrscht. Der Kunde hinterlässt auf verschiedensten Portalen Datenspuren, die dann aggregiert werden, um Muster zu finden. Dadurch entsteht eine gemeinsame Nutzung der Daten durch Anbieter von Produkten, welche aufgrund der Daten entwickelt wurden und den Kunden,

6.1 Digitale Plattformen und Ökosysteme

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die dadurch individualisierte Services erhalten. Datenschutzerklärungen, Nutzungsbestimmung und allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB’s) sind längst für eine Datenökonomie in offenen Ökosystemen angepasst. In der Google-Datenschutzerklärung heißt es auf über 50 Seiten, inklusive Videos und Verweise auf weitere Dokumente, unter anderem: „Wir erheben in unseren Diensten Daten zu Ihren Aktivitäten. Diese Daten verwenden wir beispielsweise, um Ihnen ein YouTube-Video zu empfehlen, das Ihnen gefallen könnte. Unter anderem könnten folgende Aktivitätsdaten erhoben werden: Begriffe, nach denen Sie suchen; Videos, die Sie sich ansehen; Inhalte und Werbeanzeigen, die Sie sich ansehen und mit denen Sie inter­ agieren; Sprach- und Audiodaten; Kaufaktivitäten; Personen, mit denen Sie kommunizieren oder Inhalte austauschen; Aktivitäten auf Websites und Apps von Drittanbietern, die unsere Dienste nutzen; Der Chrome-Browserverlauf, den Sie mit Ihrem Google-Konto synchronisiert haben“.

Die Facebook-AGBs sind nicht weniger umfangreich, dafür persönlicher: „Du gewährst uns eine nicht-exklusive, übertragbare, unterlizenzierbare, gebührenfreie, weltweite Lizenz für die Nutzung jedweder IP-Inhalte, die du auf bzw. im Zusammenhang mit Facebook postest (IP-Lizenz). Diese IP-Lizenz endet, wenn du deine IP-Inhalte oder dein Konto löschst; es sei denn, deine Inhalte wurden mit anderen geteilt und diese haben die Inhalte nicht gelöscht.“

Diese Texte unterstreichen, dass der Profit von Alphabet von rund 70 Mrd. US-Dollar zu über 80 % aus Google-Werbung stammt und Google Cloud und Abos viel weniger zum Erfolg der Unternehmen beitragen als angenommen. Vor zehn Jahren lag der Werbeanteil bei 95 % (Alphabet 2023). Analysen zeigen zudem, dass unter Werbung der Verkauf von Daten inkludiert ist. Es können also neben grundsätzlichen Informationen zu einem Google-­Nutzer, Benutzerprofile oder eine Zusammenstellung aller mit einem Google-­ Konto verknüpfter Daten über diverse Webseiten und Logins gekauft werden. Menschen wickeln heute viele verschiedene Tätigkeiten über Smartphones ab und bei jeder digitalen Plattform werden Daten gesammelt. Im Rahmen einer zunehmenden Konsolidierung der großen Plattformbetreiber werden einzelne immer dominanter und auch systemrelevanter. Natürlich bestehen verschiedene Stufen der Zusammenarbeit und Offenheit mit unterschiedlichen Auswirkungen auf Betreiber, Dienstleistungsanbieter und Nutzer. Der Grad der Vernetzung hängt von den Beziehungen innerhalb des Wertschöpfungsnetzes ab, insbesondere wie sie gebildet und aufrechterhalten werden, sowie der Hierarchie, Kooperationsform und dem Wettbewerb zwischen den Teilnehmern. Es können zwei grundlegende Organisationsformen verortet werden: 1. geschlossene oder private Wertschöpfungsnetzwerke, auch bekannt als organisationale, respektive institutionelle Ökosysteme 2. interorganisationale oder öffentliche Wertschöpfungsnetzwerke, auch bekannt als offene Ökosysteme Es gibt auch Mischformen, wobei sich die Unterschiede im Umgang mit Daten herauskristallisieren. Bei einem hohen Schutzbedürfnis von Daten, wie beispielsweise im Gesund-

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heitswesen, könnte ein privates Model zweckmäßiger sein, wo eine Institution das Vertrauen der Patienten genießt und entsprechend für die Datensicherheit sorgt. Der Platt­ formbetreiber könnte allerdings gezielt Daten an weiterer Leistungsanbieter im Ökosystem weitergeben, sofern der Patient damit einverstanden ist. Eine Mischform, wo dem Datenschutz weniger Beachtung geschenkt wurde, ist Cardossier – eine Plattform für die transparente und nachvollziehbare Abbildung des Lebenszyklus eines Fahrzeuges auf Blockchain-­Basis. Cardossier war 2020 das erste digitale öffentlich-private Ökosystem in der Schweiz und Liechtenstein (Cardossier 2020). Das Konsortium besteht aus 26 Partnern und neben der Koordination sind Datenschutzgesetze eine Herausforderung. Zwar kann die Fahrzeugidentität auf einem Hyperledger auf Corda abgebildet werden, bei Versicherungen wird es aber schwierig und die Daten werden wohl weiterhin auf institutionellen herkömmlichen Datenbanken liegen. Aufgrund der Tatsache das die Pharmabranche stark reguliert und mit dem Bundesamt für Gesundheit, den Kantonen und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Kontakt steht und zudem viele Pharma- und Medizinaltechnik-­Unternehmen einen Sitz in der Schweiz haben, ist es nachvollziehbar, dass auch so ein Ökosystem den Datenschutz ins Zentrum setzt und eher eine Mischform anstrebt, wo nur wenige Daten mit der Öffentlichkeit geteilt werden. Da die Koordination von Geschäftsaktivitäten über verschiedene Sektoren mit unterschiedlichen Regularien, Verbänden, Kulturen und Governance-Strukturen verbunden ist, zögern viele Unternehmen, den ersten Schritt zur Schaffung eines sektorübergreifenden Ökosystems zu tun. Neben dem Aufbau eines eigenen Ökosystem – auch möglich als Partner in einem Konsortium  – können sich Unternehmen alternativ in ein bestehendes Ökosystem einbringen oder sich gar nicht damit befassen. Letzteres ist keine zeitgemäße Option und wäre gleichzusetzen mit vertikaler Integration, linearen Wertschöpfungsketten und einer geschlossenen Innovationsstrategie. Eine Ökosystemstrategie hat einen entscheidenden Einfluss auf alle Organisationsbereiche. Deshalb muss die Frage, ob und wie Ökosysteme in der Unternehmensstrategie berücksichtig werden, unter der Einnahme verschiedener Perspektiven, geklärt werden. Es bieten sich dazu acht Dimensionen an: Strategie, Offenheit, Teilnehmer, Beziehungen, Wertaustausch, Branchen, Komplexität und Technologie (Gartner 2017). Speziell die Einbeziehung von Schlüsseltechnologien und die Vielfalt von Daten sind entscheidend für eine zukunftsgerichtete Wertschöpfung und können durch Netzwerkeffekte und Hyperkonnektivität noch verstärkt werden.

6.1.2 Hyperkonnektivität und Netzwerkeffekte Digitale Aspekte verstärken ein Ökosystem als Ganzes und machen es agil, flexibel und resilient (Fasnacht 2020). Das Internet, das Internet der Dinge (Internet of Things, IoT) mit einer Vielzahl von Sensoren in Kleidern und Maschinen nutzen die Möglichkeiten der Digitalisierung in einer Weise, dass Systeme, mobile Geräte und Dinge immer und überall miteinander in Verbindung stehen und sich in sozialen Netzwerken austauschen können. Hyperkonnektivität ist ein Begriff aus den Sozialwissenschaften, der aus Studien zur Mensch-zu-Mensch- und Mensch-zu-Maschine-Kommunikation in vernetzten Organisati-

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onen und vernetzten Gesellschaften stammt (Wellman 2001; Quan-Haase und Wellman 2003). Diese Ideen bilden ein funktionales Merkmal, welches im Kontext der Plattform-­ Ökonomie Netzwerkeffekte erzeugt. Im digitalen Paradigma ist es längst Tatsache, dass jeder mit jedem über wenige Umwege miteinander verbunden ist. Die stark wachsende Anzahl von mit Sensoren ausgestatteten Dingen, welche wiederum mit digitalen Inhalten von Unternehmen und Teilnehmern im Internet mobil, überall und in Echtzeit interagieren, lassen Hyperkonnektivität mit Datafizierung und Plattformisierung verschmelzen. Entsprechend verkörpern Innovationen einen systematischen Weg, Dinge zu kombinieren. Das gilt für funktionierende Geschäftsmodelle ebenso wie für Produkte und Dienstleistungen und Technologien. Es gilt, vereinfacht ausgedrückt: je mehr Verknüpfungen, desto mehr Kombinationsmöglichkeiten. Diese Art der Vernetzung ist ein sozioökonomischer Prozess, der mit zunehmender Anzahl von Interaktionen zwischen den Teilnehmern automatisch zu einer Wertsteigerung führt. Dies ist nichts Neues, unterscheidet sich aber von dem ursprünglichen Ansatz der allgemeinen Zusammenarbeit, die bilaterale Partnerschaften darstellt. Es gibt Annahmen, dass 70 % des Wertes von Technologieunternehmen in den letzten 20 Jahren, seitdem es digitale Plattformen gibt, durch Netzwerkeffekte erzielt wurden (Currier 2019). Die digitalen Wachstumsgesetze wurden ausführlich in Kap. 4 erläutert (siehe Kap. 4). Robert Metcalfe stellte sein Netzwerkgesetz bereits 1980 auf der Grundlage des Telekommunikationsnetzes vor (Metcalfe 2013). Demnach ist der Wert (W) ei­ nes Netzwerks proportional zum Quadrat der Anzahl der Nutzer (N) oder Knoten im System (W = N2). Heute wird das Metcalfe’sche-Gesetz häufig verwendet, um den Wert von Wertschöpfungsnetzen zu erklären, da diese im Prinzip lediglich untereinander vernetzte Teilnehmer darstellen. Dies ist zwar nicht ganz korrekt, denn der Wert großer Netzwerke steigt exponentiell mit ihrer Größe, aufgrund der Tatsache, dass jeder Nutzer eines Netzwerkes mit einem anderen Nutzer beziehungsweise einer Gruppe von Nutzern eine gemeinsame Gruppe (Community) bilden kann, welche sich dann wieder vernetzt. Der Wert des Netzwerkes steigt also exponentiell (W = 2N). David Reed hat diese Erweiterung von Metcalfe 1999 vorgestellt (Reed 2001). Diese Überlegung hat vor allem bei sozialen Netzwerken und Chat Foren Bedeutung erlangt. Die Formel erklärt ansatzweise, wieso Facebook 2014 den Kurznachrichtendienst WhatsApp für unglaubliche 19  Mrd. US-Dollar übernahm. Mark Zuckerberg erkannte sehr früh den Wert von Netzwerkeffekten und erwähnte dies bereits 2007 in einem Interview (Vogelstein 2012): “I think that network effects shouldn’t be underestimated with what we do.”

Natürlich gibt es Kommunikationsverbindungen, die häufiger benutzt werden als andere, sodass die Annahme von Reed auch nicht ganz der Realität entspricht. Um die Ungenauigkeiten eher praxisorientierten Definitionen von Netzwerkeffekten zu beseitigen, erklärten die Wissenschaftler Rochet und Tirole (2003) die Plattform-Ökonomie und Netzwerk­ effekte mit mehrseitigen (zweiseitigen) Märkten. Dabei beeinflussen sich die Teilnehmer der verschiedenen Seiten eines Marktplatzes gegenseitig, bezogen auf die Nutzung der gesamten Plattform. Die zwei Nutzergruppen sind zwar nicht direkt, wohl aber indirekt miteinander verbunden. Wenn also die eine Gruppe der Plattform größer wird, profitiert

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jeweils auch die andere Nutzergruppe. Je mehr Entwickler Apps auf den Google-Store stellen, desto größer wird der Wert für alle Nutzer des Google Stores. Gleiches gilt für den Apple Store oder Amazon-Marktplatz, aber auch für Kreditkarten. Die beste Kreditkarte nützt nichts in einem Land, wo sie in nur wenigen Läden akzeptiert wird. In einem Ökosystem liegen die Produktionsmittel und gehandelten Services in der Regel außerhalb der eigentlichen Plattform. Es sind die Akteure im Ökosystem, welche die eigentliche Wertschöpfung generieren, also Unternehmen mit einem klaren Geschäftszweck. Der Apple App Store hat gemäss eigenen Angaben ein Ökosystem für Entwickler von über 1.1 Billionen US-Dollar Wert generiert. Allerdings können auch die Nutzer selbst zu Wertgeneratoren werden, wie die Beispiele von YouTube, Instagram oder Tiktok zeigen. YouTube hat aufgrund der engen Verflechtung mit Google sogar neue Märkte geschaffen, obwohl der Betreiber keinerlei Inhalte produziert. Diese werden von den Nutzern erstellt und hochgeladen. Aufgrund der Popularität (Klicks, Likes, Follower) werden die Produzenten zu YouTube-Stars oder Influencer und mittels Werbeeinnahmen vergütet. Basierend auf diesen Beobachtungen kann man von einem dreiseitigen Markt sprechen  – Plattform, Produzent, Kunde – wobei der Kunde gleichzeitig Produzent sein kann. Es kann also von Vorteil sein, nicht mehr von Kunden zu sprechen, sondern Rollen in einem Ökosystem zu definieren. Mit dem benutzerorientierten Prosumenten (gleichzeitig Produzent und Konsument), beschrieb der Futurologe Alvin Toffler (1980) eine neue Berufsgattung, welche in der Plattform-­ Ökonomie eine große Bedeutung erlangte. Denn viele Plattformen stellen selbst nichts her und leben von den Beiträgen ihrer Nutzer. Die bestverdienenden Social Media Influencer sind der Fußballer Christiano Ronaldo, der mit 450  Mio. Followern pro Instagram Post 2,4  Mio. US-Dollar erhält, gefolgt von der Reality-TV Teilnehmerin  Kylie Jenner mit 1,9 Mio. und dem Fussballer Lionel Messi mit 1,8 Mio. Aber auch Gamer mit über 30 Mio. Abonnenten, die Minecraft-Spiele kommentieren, sind zu Top-Verdienern geworden. Digitale Plattformen ermöglichen Hyperkonnektivität und es ist eindeutig, dass diese beiden Kräfte sich gegenseitig befeuern. Plattformbetreiber profitieren nicht nur von Daten, die materialisiert werden können, sondern auch durch die Internalisierung mehrseitiger Netzwerkeffekte und die Gebühr für die Bereitstellung und Nutzung der technischen Infrastruktur. Vereinfacht ausgedrückt, kann jeder Akteur durch Beiträge und Vernetzung in der Plattform-Ökonomie mehr Wert für das Gesamtnetzwerk einbringen als er selbst ­generieren kann. Märkte werden entsprechend durch ein Ökosystem in einem Umfang bedient, der weit über die Fähigkeiten eines Individuums hinausgeht. Generell schafft jedes zusätzliche Mitglied in einem Netzwerk neue Synergieeffekte innerhalb des Ökosystems. Aristoteles, einer der ersten systematischen Denker und Philosophen (384–322 v. Chr.), brachte es auf den Punkt: „Das Ganze ist größer als die Summe seiner Teile“.

6.1.3 Wertschöpfung in einem Ökosystem Eine digitale Plattform ist die Infrastruktur, über welche die Verbindung zu mehreren Marktteilnehmern in einem Ökosystem hergestellt wird. In einer Informations- und Wis-

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sensgesellschaft bietet jede Interaktion die Chance, neues Wissen zu schaffen. Lernen erfordert naturgemäß den Erwerb ständig neuer Informationen. Aufgrund dieser Tatsachen kann davon ausgegangen werden, dass je mehr Interaktionen und Verbindungen sich entwickeln, desto mehr Lernen stattfindet. Hyperkonnektivität ist ein Hebel für den Wissensaustausch und regt Innovationen in einem Ökosystem an. Dies ist vergleichbar mit der Art und Weise, wie Lernen in unserem Gehirn stattfindet. Über ein Netzwerk von Neuronen (Kompetenzen der Teilnehmer in einem Ökosystem) werden sensorische Informationen durch Synapsen (Innovationsförderer) übertragen. Die dynamische Natur der Hyperkonnektivität kann also eine Art operative Wertschöpfungslogik für alle Teilnehmer in einem offenen Ökosystem sein. Die Welt von heute ist von Daten und Algorithmen geprägt, und die Menschen sind es gewohnt, sich aus privaten und geschäftlichen Gründen über zahlreiche Knotenpunkte wie Social-Media- oder Geschäftsplattformen zu verbinden. Diese digitale Denkweise kann zu Disintermediation führen. Disintermediation ist eine starke Kraft, da sie einfach die Zwischenhändler im Markt überspringt und lineare Wertschöpfungsketten auflöst. Michael Porter definierte 1985 eine Wertschöpfungskette als eine Reihe sequenzieller Aktivitäten, die ein Unternehmen durchführt, um ein Produkt oder eine Dienstleistung für den Markt bereitzustellen (Porter 1985). Dies alles gilt, solange das Unternehmen eigene Produkte und Dienstleistungen entwickelt und verkauft und keine externen Parteien in den Innovationsprozess einbezieht. Traditionelle und komplexe Wertschöpfungsketten etablierter Unternehmen behindern eine schnelle Reaktion auf Veränderungen, da sie starr miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Um diesen Prozess zu verstehen, kann das Konzept der Disintermediation und seine Auswirkungen auf die Wertschöpfung anhand des Finanzsektors erklärt werden. Disintermediation wurde in den 1960er-Jahren im Bankensektor angewandt. Die Kunden umgingen die Vermittlung durch Banken, indem sie direkt in Anleihen, Aktien, Investment- und Hedgefonds investierten, anstatt ihr Geld auf Sparkonten zu lassen. Anstatt die traditionellen Vertriebskanäle etablierter Finanzinstitute zu nutzen, gibt es heute Peer-to-Peer-Plattformen für Kredite, Finanzierungen und Investitionen. Eigentlich können fast alle Finanzdienstleistungen über das Internet direkt angeboten werden – ohne Zwischenhändler wie Geschäftsbanken, Investmentbanken, Makler, Finanzberater und andere Vermittler. Mit dem Aufkommen kognitiver Technologien vor 20 Jahren haben Algorithmen-basierte Handelssysteme den traditionellen Börsenhandel verdrängt. Systeme übernehmen zunehmend wertschöpfende Teile, einschließlich der Verbriefung von Vermögenswerten, Analysen und Unterstützung bei Anlageentscheidungen, der Portfolioallokation oder der automatischen Handelsausführung. Mit Hyperkonnektivität und interorganisationaler Zusammenarbeit fließen Informationen und Wissen ungehindert über Landesgrenzen. Teile der Wertschöpfung gehen über organisatorische Grenzen hinaus und liegen bereits außerhalb der eigentlichen Branche. Fintech-Firmen und kommerzielle Plattformanbieter haben in den letzten zehn Jahren die traditionellen Wertschöpfungsketten endgültig durchbrochen, indem sie die Vermittlungstätigkeit aufhoben. Durch Interviews mit Führungskräften konnten Accenture und Swissbanking (2021) in einer umfassenden Studie aufzeigen, dass heutige Wertschöpfungsmodelle traditioneller

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Schweizer Banken noch weitgehend in sich geschlossen und nur begrenzt digital oder agil sind. Aus diesem Grund und um in der Plattform-Ökonomie zu überleben, möchten die Banken die Erweiterung ihrer Wertschöpfungsmodelle kontinuierlich vorantreiben. Gemäß den Studienautoren können die Stoßrichtungen in drei übergreifende Themenblöcke zusammengefasst werden: 1. einen konsequent digitalisierten Vertrieb anhand hybrider Beratungs- und Betreuungsmodelle, 2. wettbewerbsfähige Kostenstrukturen mithilfe von Partnerschaften innerhalb des Ökosystems und Produktivitätsoptimierung durch gezielte Ressourcensteuerung, 3. agile Organisationsstrukturen, ausgerichtet nach kundenzentrierten Geschäftstreibern und Wertströmen. Im nachfolgenden Abschnitt wird gezeigt, wie der Vertrieb digitalisiert und die Optimierung des Vertriebsbankenmodells in Kombination mit ausgewählten Ökosystemen vorangetrieben werden kann. Nicht-differenzierende Tätigkeiten sollen demnach konsequenter digitalisiert, automatisiert oder extern bezogen werden. Zudem soll durch die Kombination verschiedener Ökosysteme der Kundenmehrwert und die damit einhergehende Kundenbindung weiter gesteigert werden. Eine Optimierung der Kundeninteraktionspunkte ermöglicht zudem ein möglichst individuelles Kundenerlebnis, sowohl über physische wie auch digitale Kanäle. Der persönliche Kontakt zum Berater soll aber ein entscheidender Erfolgsfaktor bleiben. Damit die digitale Kundenschnittstelle auch in Zukunft effektiv bedient werden kann, müssen der Ausbau des digitalen Produkt- und Service-Angebots sowie die Optimierung und Entwicklung von Data Analytics eine strategische Priorität haben. Beispielsweise werden digitale Kontoeröffnungen, Vertragsunterzeichnungen und Zahlungslösungen immer wichtiger. Wenn die damit einhergehenden Datenerkenntnisse richtig genutzt werden, kann damit ein beträchtlicher Mehrwert entstehen. Damit Kostenstrukturen in Zukunft wettbewerbsfähig bleiben, ist der Ausbau der Zusammenarbeit mittels Open Banking über sogenannte Open-API-Schnittstellen zentral (siehe Kap. 5). Dadurch wird die nahtlose Kollaboration von Banken und Drittparteien, inklusive Fintechs, ermöglicht. Banken priorisieren zurzeit die Einbindung von solchen Open-Banking-­ Plattformen, welche bereits mittelfristig implementiert werden sollen. Für die Produktivitätsoptimierung durch gezielte Ressourcensteuerung soll einerseits ein Fokus auf die Steigerung der Mitarbeiterproduktivität gelegt werden, beispielsweise durch die Förderung kritischer Talente, digitaler Arbeitsplätze und Einführung neuer Arbeitsmodelle. Andererseits stellt Cloud Computing ein zentrales Element für die zukünftige Orchestrierung der Wertschöpfung dar. As-A-Service-Modelle ermöglichen hierbei die Modularisierung von IT und Betrieb und anderen Bereichen der Banken, wobei aber das Thema Datensicherheit ein zentraler Aspekt dieser Entwicklungen darstellt. Die ursprüngliche Rolle von Anbietern von Produkten und Dienstleistungen hat sich in nur zehn Jahren stark verändert. Lineare Wertschöpfungsketten sind kaum noch funktionsfähig. In Zukunft wird die Wertschöpfung für Produkte und Dienstleistungen über meh-

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rere Akteure aufgeteilt und damit flexibler und agiler gestaltet. Auch wird es immer mehr dezentrale Netzwerke für den dynamischen Austausch von digitalen Werten geben. Mit diesen endogenen und exogenen Entwicklungen, sowie den daraus hervorgehenden angestrebten Stoßrichtungen stehen viele Branchen vor einer Zeitenwende. Der Fokus auf ein Modell, wo die Wertschöpfung in einer Konstellation von Akteuren erbracht wird, die sich schnell an die Umwelt anpassen, bietet eine Antwort auf die Herausforderungen und verspricht einen erfolgreichen Übergang in ein digitales Paradigma.

6.1.4 Vorteile einer Ökosystemstrategie Seit der Corona-Pandemie ist organisatorische Resilienz ein strategisches Thema. Mit einer Ökosystemstrategie kann die Resilienzfähigkeit einer Organisation verbessert werden  (Fasnacht 2020, Freundt et  al. 2023). Und da in einem offenen Ökosystem der Resilienz-­Reifegrad einer einzelnen Organisation immer auch von jenem der anderen Akteure im Netzwerk abhängig ist, kann uns der im Buch erwähnte allozentrische Grundsatz helfen. Es gibt aber noch viele andere Gründe für die Teilnahme in einem Ökosystem. Diese sind vielfältig und abhängig von der Unternehmensgröße, dem Reifegrad und den strategischen Zielen. Aktuelle Untersuchungen haben bewiesen, dass die Spitzenreiter in der Wirtschaft eine fokussierte  Ökosystemstrategie verfolgen (Accenture 2022). Wenn sich  Unternehmen gezielt auf Veränderung und Kooperationen  ausrichten gilt  das Geschäftsmodell Ökosystem als besonders widerstandsfähig. Bei sektorübergreifenden Ökosystemen zeigt sich zudem eine überdurchschnittliche Profitabilität (EY 2022). Insgesamt schaffen Ökosysteme eine Reihe von Vorteilen, die allen Marktteilnehmern zugutekommen. Ökosysteme umfassen spezialisierte und vielfältige Leistungsbestandteile, die sich gegenseitig nähren und interagieren und so zu Innovation und Wachstum beitragen. Zahlreiche Artikel aus der wissenschaftlichen Zeitschrift Hyperconnectivity and the Internet of Things bestätigen, dass Ökosysteme kontinuierlich Wert schaffen und austauschen, indem sie sich Netzwerkeffekte und Hyperkonnektivität zunutze machen (IJHIoT 2023). Durch die Teilnahme in einem Ökosystem können Start-ups und viele kleine Leistungserbringer auch aus abgelegenen Gebieten und Gemeinschaften gestärkt werden, da sie mit ihrem Fachwissen, ihrer Technologie oder einem Nischenprodukt zur Wertgenerierung beitragen können. Auf der anderen Seite können etablierte Unternehmen besser und schneller externes Nischen-Know-how beziehen. Im Austausch mit Universitäten und Forschungsinstituten tauschen Unternehmen oft nicht nur Wissen aus, sondern nutzen auch Forschungsergebnisse und Daten, die sie für ihr Geschäft einsetzen können. Das Verständnis der Kunden und ihrer Erwartungen erfordert die Integration unabhängiger Marktforschung, die mit einem vertrauenswürdigen Partner realisiert werden muss. Innerhalb eines Ökosystems können viele Fragestellungen aus dem Markt über Partner beantwortet werden. Wissen entwickelt sich durch Austausch und Zusammenarbeit. Kundenfeedbacks sind entsprechend wichtig bei der Produktentwicklung und bei Tests und Experimenten, aber auch für die Überprüfung und Einhaltung von Vor-

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schriften ist es wichtig, Branchenverbände, politische Entscheidungsträger und Regulierungsbehörden frühzeitig einzubeziehen. Eine Ökosystemstrategie muss auf das Trend- und Innovationsmanagement ausgerichtet sein und Teil der Unternehmensstrategie sein. Um zu funktionieren, braucht es Beziehungskapital und da dies immaterielle schwer kopierbare Verflechtungen sind, ist das ein entscheidender Wettbewerbsvorteil. Vieles in einem Ökosystem ist immateriell und basiert auf Beziehungen und sozialem Kapital, was weder imitiert noch einfach kopiert werden. Konkurrenten müssen also gegen ein kohärentes und intransparentes System mit starken interorganisatorischen Verbindungen antreten.

6.2 Charakteristiken eines Ökosystems 6.2.1 Interdependenzen Interdependenzen sind in den Sozialwissenschaften die wechselseitigen Abhängigkeiten von mehreren Personen bei sozialen Interaktionen wie dem Dorsch Lexikon der Psychologie zu entnehmen ist. In einem Ökosystem sind es die Abhängigkeiten und Interaktionen aller Teilnehmer. Eine Vielzahl von Interaktionen und die Fähigkeit zur Vernetzung sind wichtige energetische Merkmale von offenen Ökosystemen. Die Anhäufung von Wissen ist ebenso wichtig, wie die Verbreitung von Informationen. Durch die Unterstützung von digitalen Tools und wegen der Hyperkonnektivität fließen Informationen immer leichter und schneller. Dies hat einen erheblichen Einfluss darauf, wie Wissen gesammelt wird und Organisationen Wissen weiterverarbeiten. Neurowissenschaftlich ist es so, dass wenn gelernt wird, sich Synapsen, welche Informationen transportieren, entwickeln und je mehr Austausch stattfindet, desto mehr Synapsen bilden sich. Lernen hängt also davon ab, wie viele Synapsen es gibt und wie viele Nervenzellen (Neuronen) miteinander kommunizieren. Übertragen auf ein Ökosystem bedeutet dies, dass durch häufige Interaktionen zwischen Teilnehmern viele Verbindung entstehen, womit Wissen verbreitet wird. Lernen im Ökosystem hängt demzufolge von Häufigkeit, Konnektivität und Interdependenzen ab. Soziales Wissen kann durch Interdependenzen in Organisationen gespeichert und bei Bedarf abgerufen werden. Dies hat nichts mit Daten, die auf Datenträgern gespeichert sind und Faktenwissen einzelner Personen zu tun. Probst, Raub und Romhardt (1997) referenzieren hier auf das kollektive oder organisationale Wissen, das in der Organisation inhärent vorhanden ist, ohne dass einzelne Mitarbeitende über dieses Wissen verfügen. Nun ist es so, dass je mehr Synapsen und Nervenzellen aktiviert sind, desto tiefer die Information im Gehirn verankert wird. Wissenschaftlich kann unterschieden werden zwischen tiefen Verbindungen, die Organisationen in die Lage versetzen, ihr vorhandenes Wissen und ihre Ressourcen nachhaltig zu nutzen und breiten Verbindungen, welche die Erforschung durch Ausprobieren externer Ideen und Technologien begünstigen (Chesbrough et al. 2006). Die geografische oder kulturelle Nähe ist dabei ebenso wichtig, wie das Vertrauen zwischen den Beteiligten, denn Emotionen und Assoziationen erleichtern das Lernen. Nun ist Vertrauen rein über digitale Kanäle schwer aufbaubar. Was erschwerend

6.2 Charakteristiken eines Ökosystems

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dazu kommt, sind  die Kombinationsmöglichkeiten für den Austausch: formelle Verbindungen bringen Wissen und Innovationen aus verschiedenen Unternehmen systematisch zusammen. Unternehmen wiederum bilden informelle Gemeinschaften, die auf sozialem Kapital aufbauen. Neben dem kollektiven Wissen ist das soziale Kapital ein weiterer immaterieller Wert für die Beziehungspflege in einem Ökosystem (siehe Kap. 5). Bestehende informelle Gemeinschaften können so zu formellen Vereinbarungen für ein erfolgreiches gemeinsames Innovationsmanagement führen. Interdependenzen sind aber auch ein Komplexitätstreiber in Ökosystemen. Ein Managementrahmen mit klaren Kommunikationsrichtlinien zur Überwachung und Messung der Leistungen in einem Ökosystem kann helfen, den Überblick zu behalten. Wie das Beispiel regionaler Ökosysteme verdeutlicht, hängt die Stärke der Verbindungen stark vom Vertrauen ab. Je näher die Teilnehmer geografisch zusammen liegen, desto effektiver kann Vertrauen aufgebaut werden. Es ist das gleiche Prinzip wie bei den lokalen Banken und Sparkassen. Da sie in der Region oft mit gleichen Wertesystemen verwurzelt sind, entwickeln die Marke und ihre Mitarbeitenden auf der Grundlage früherer Erfahrungen eine lokale Reputation. Informelle Verbindungen sollten entsprechend in einem Ökosystem nicht zu kurz kommen. Lokale Teams, Cluster und Gemeinschaften bereichern durch ein gemeinsames Wertesysteme das Ökosystem. Die Praxis zeigt, dass Teams mit interdisziplinären Fähigkeiten, die meist keine Branchenkenntnisse haben, die Lösungsentwicklung positiv beeinflussen können. Der Grund dafür ist, dass sie nicht durch etablierte Verfahren und mentale Grenzen eingeschränkt sind. Zweitens fördern informelle Verbindungen eine lokale soziale Struktur und die Verbreitung von Wissen, das zu kreativen Aktivitäten führt. Wie bereits angedeutet, kann die Innovation in einem offenen Ökosystem unkontrollierbar werden, da auch Konkurrenten Zugang zu den Informationen und Ideen haben. Die hohe Konzentration von Unternehmen in derselben Branche oder komplementären Geschäftsbereichen, die alle gleichzeitig zusammenarbeiten und miteinander konkurrieren, kann zu einer Herausforderung für das Management werden. Hinzu kommt, dass die immateriellen und komplexen Beziehungen zwischen den Teilnehmern kaum zu kontrollieren sind. In den letzten Jahren hat sich die Kommunikation und Interaktionen, sowohl p­ rivat als auch beruflich, durch digitale Kommunikationsmittel stark verändert. Millennials sind offener und teilen ihr Leben und sogar sensible Daten mit ihrer Community. Allgemein sind jüngere Generationen – nicht nur in Bezug auf ihre Daten – offener und kollaborativer, was eigentlich im Sinne eines offenen Ökosystems ist. Sie sind zudem mit Internet, Kommunikationstools und Künstlicher Intelligenz aufgewachsen und müssen nicht lernen, wie man sich über digitale Kanäle austauscht und einen gemeinschaftlichen Beitrag leisten kann. Die Wertschöpfung kann aus vielen Fragmenten interdisziplinärer Tätigkeiten zusammengesetzt sein, welche häufigen Änderungen unterworfen sind. Innovationsportfolios werden sich zunehmend über Organisationsgrenzen hinaus ausbreiten. Die interorganisationale Zusammenarbeit ist eine Herausforderung für Organisationen, die noch nicht lange mit Open Innovation vertraut sind. Es braucht eine Weile, bis eine Organisation von kollaborativen Ansätzen profitieren kann. Ein strategischer Ansatz für Open Innovation ist zwingend, um wirksame Umsetzungsmechanismen und -strukturen zu entwickeln und zu

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nutzen und in einem offenen Ökosystem teilzunehmen. All das erfordert neue dynamische Führungsqualitäten. In jedem Ökosystem gibt es führende Mitglieder oder Orchestratoren, die das System überwachen, steuern und Vorgaben machen. Für das Management der Mitglieder eines Ökosystems braucht es den gezielten Einsatz von Sozialkapital. Auch wenn es bei Innovationen primär um Kreativität geht, ist das Management eines organisationsübergreifenden Innovationsportfolios – von der Generierung einzelner Ideen bis hin zur Konsolidierung und zur Kommerzialisierung ein strukturierter Prozess. Ein offenes Ökosystem bezieht sich auf eine virtuelle Organisation, die verschiedene Mitglieder umfasst, von denen jedes zu einer Idee, einem Produkt, einer Dienstleistung oder einem Geschäftsmodell beiträgt. Fasnacht (2018) verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff Wertkonstellation. Wert entsteht dabei durch die eigene vertikale Wertschöpfung innerhalb jedes einzelnen Teilnehmers. Im Kontext der Wertkonstellation setzt sich die Wertschöpfung aus mehreren Wertfragmenten zusammen. Die Wertkonstellation bestimmt den Innovationsprozess und ist interaktiv, intuitiv, kumulativ, dynamisch und komplex und die Ausbreitung erfolgt durch Diffusion. Der Schlüssel für ein erfolgreiches Innovationsmanagement liegt nicht nur in der effektiven Zusammensetzung der Wertkonstellation, sondern besteht auch darin, die richtige Entscheidung zu treffen oder metaphorisch gesprochen, tausend Blumen blühen zu lassen, dann die vielversprechendsten zu pflücken und zu pflegen und die übrigen verwelken zu lassen. Die eigentliche Krux besteht darin, Innovationsaktivitäten über Organisationsgrenzen hinweg so zu strukturieren und zu kanalisieren, dass die Kreativität erhalten bleibt. Solche Organisationsformen wurden mit dem Aufkommen des Internets paradoxerweise als das kontrollierte Chaos beschrieben (Mintzberg et al. 1995). Es ist aber der kontrollierte (chaotische) Ansatz, bei dem Initiatoren heute eine digitale Plattform bereitstellen, um in einem Ökosystem Wert zu schaffen. Innovation kann in einer flexiblen Organisationsstruktur mit geringen Formen von Standardisierung und Bürokratie gut gedeihen. Da der Innovationsprozess im Großen und Ganzen in Phasen wie Ideenfindung, Forschung, Entwicklung und Kommerzialisierung unterteilt ist, erfordert jede Phase ein eigenes Management, unabhängig davon, wo die Leistung erbracht wird oder welche Organisation dazu beiträgt. Ein Ökosystem ist ein interaktives System mit Rückkopplungsschleifen und Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Aktivitäten und Mitgliedern. Damit Wissen frei in Innovationsvorhaben fließt, ist es ratsam, Interdependenzen als Schmiermittel zu betrachten und nicht als Risiko. Die ständige Interaktion zwischen Grundlagenforschung, angewandter Wissenschaft, Technologie und vielen anderen Teilnehmern mit unterschiedlichen Organisationkulturen, Managementstilen und Historien ist es, was letztendlich ein offenes Ökosystem funktionsfähig macht. In erfolgreichen Unternehmen innerhalb von Ökosystemen ist die Anpassung der Arbeitskulturen der beteiligten Partner sowie ein Fokus auf Veränderung und Offenheit von zentraler Bedeutung (Accenture 2022). Dabei muss das Innovationsmanagement im Ökosystem immer als ein zusammenhängendes Ganzes betrachtet

6.2 Charakteristiken eines Ökosystems

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werden. Die Konstellation, wo diverse Akteure sich aktiv gegenseitig unterstützen und nicht egozentrisch handeln, um Wert zu schaffen, ist ein zentrales Charakteristikum unserer Vorstellung eines offenen Ökosystems.

6.2.2 Das allozentrische Modell Obwohl im deutschen Sprachgebrauch der Begriff Wertschöpfungskonstellation kaum Bedeutung hat und Google-Suchen erfolglos sind, wurde die value constellation erstmals 1993 verwendet, um interaktive Strategien zu entwerfen (Normann und Ramirez 1993). Im Jahr 2006 wurde das Konzept aufgegriffen, um Open Innovation in Wertschöpfungsnetzen zu beschreiben (Vanhaverbeke und Cloodt 2006). Im Kontext der Digitalisierung und kollaborativen Wertschöpfung geht es heute darum, wie eine Konstellation von Akteuren zusammenarbeitet und unter Einbeziehung des Kunden Wert schafft. So eine Konstellation der Co-Innovation untersteht wegen der Unsicherheit, getrieben durch Technologie, Wirtschaft und Politik, einer hohen Dynamik. Die Komplexität steigt zudem, weil mit Open Innovation die Fragmentierung einzelner Wertschöpfungsbestandteile zunimmt und interne Prozesse mit diversen Anspruchsgruppen über Organisations- und Branchengrenzen hinweg koordiniert werden müssen. In einem Ökosystem können sich Unternehmen nicht nur auf die Wertschöpfung für ihre eigenen Geschäftstätigkeiten konzentrieren. Wert kann zwar innerhalb der Organisation in einem stabilen und sequenziell verlaufenden Prozess generiert werden, allerdings nur solange die Organisation nicht mit anderen Marktteilnehmern interagiert. Dann verschiebt sich der Schwerpunkt unausweichlich auf das wertschöpfende System, wo alle sich gegenseitig unterstützen und miteinander zusammenarbeiten müssen, um gemeinsam Wert zu generieren. Der einzelne Akteur rückt somit in den Hintergrund und das System als Ganzes in den Mittelpunkt. Dynamik beeinflusst die Stabilität der Konstellation der Akteure und deren Perspektive auf das Geschäftsmodell. In einem idiozentrischen oder egozentrischen Geschäftsmodell steht die Organisation oder das Individuum im Mittelpunkt. Das Geschäftsinteresse bildet sich um ein subjektiviertes Wertversprechen, welches sich auf Leistungsangebote begrenzt, über deren Ausgestaltung und Preissetzung ein einzelnes Unternehmen die alleinige Entscheidungsmacht hat. In einem Ökosystem mit mehrseitigen Netzwerkeffekten hingegen herrscht ein soziales, kollektivistisches Verhalten. In so einem allozentrischen Geschäftsmodell erkennt Burkhalter (2020) ein objektiviertes Wertversprechen, welches aus Leistungsangeboten besteht, über deren Ausgestaltung und Preissetzung kein einzelnes Unternehmen die alleinige Entscheidungsmacht hat. Der Fokus liegt hierbei auf der Konzeption interorganisationaler Wertschöpfungsarchitekturen, multilateraler, direkter und indirekter Beziehungen der einzelnen Akteure untereinander. Wenn sich eine Organisation in etwas anderem als sich selbst zentriert, sich also auf das System als Wertschöpfungslogik fokussiert, so entsteht eine optimale gemeinsame Abstimmung und Optimierung der Wertschöpfung mit anderen Akteuren in einem Ökosystem.

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Ein wahrnehmungspsychologischer Ansatz kann helfen, Kundenbedürfnisse passgenau zu befriedigen. Denn ist eine Organisation allozentrisch orientiert, richtet sie sich nach der Sichtweise, dem Ort, der Zeit und dem Status ihrer Anspruchsgruppen innerhalb des Ökosystems. Für Unternehmen ist es vorteilhaft, sich nach dieser Perspektive zu orientieren, weil damit nutzenstiftende Leistungsfragmente in einem wertschöpfungsorientierten Ökosystem besser eingebracht werden können. Eine allozentrische Wertkonstellation erzeugt positive Interdependenzen und stärkt das System in seiner Gesamtheit. Es bietet auch etliche Vorteile in Bezug auf Risiken. Wenn beispielsweise ein Element eines unternehmensspezifischen Wertschöpfungselementes aus irgendeinem Grund unterbrochen wird, muss der Produktionsprozess der Dienstleistung nicht unbedingt ausfallen, da das fehlende Leistungselement von einem anderen Akteur im Ökosystem bezogen werden kann. Da die Mitglieder des Ökosystems meist geografisch verteilt sind und redundante Dienstleistungen anbieten, wird das System mit einem allozentrischen Ansatz resilienter. Denn alle Akteure wären an der Werterhaltung des gesamten Systems interessiert und würden kurzfristige pekuniäre Verhalten zurückstellen. Im Gegensatz zu linearen Wertschöpfungsketten gibt es in der Netzwerktheorie weder ein erstes noch ein letztes Glied in der Wertschöpfung. Daher treffen alle Varianten der viel zitierten Aussage „Das Team oder das Unternehmen ist nur so stark wie das schwächste Glied“ im Kontext von Ökosystemen nicht zu. Wenn der Leistungserbringungsprozess nur so stark wäre, wie das schwächste Glied in der Kette, würde eine lineare und statische Sichtweise eingenommen. Im Gegenteil, ein Ökosystem ist bei weitem stärker als ihr schwächstes Glied und kann sogar mit unproduktiven Teilnehmern funktionieren. Wertschöpfungsnetze haben eine Art selbstregulierende Eigenschaft, die in dynamischen Konstellationen unermüdlich Wert schaffen. Es ist wie in der Natur: wenn sich ein Ökosystem von Umweltveränderungen nicht mehr erholen oder sich an die neuen Gegebenheiten anpassen kann, verliert es gewisse Funktionen und Leistungen oder mutiert. Ein Beispiel sind Meeressäuger, wie beispielsweise Delfine, welche lange an Land lebten und dann ihren Lebensraum ins Meer verlegten. Über die Jahre entwickelten sich ihre Gliedmaßen zu Flossen und sie lernten im Wasser – ohne Kiemen – zu atmen. Delfine sind anpassungsfähig und erstaunlich resilient gegenüber anthropogenen Belastungen. Resilienz wird oft mit Agilität in Verbindung gebracht. Menschen haben eine unterschiedliche innere und psychische Widerstandsfähigkeit. Dies erklärt, wieso einige in Krisensituationen souveräner agieren als andere. Es ist ein ständiger Prozess zwischen Anspannung und Entspannung, Regeneration und Adoption, was in der Wirtschaftswelt unter Aufschwung, Boom, Rezession und Depression bekannt ist. Wechselseitige Abhängigkeiten und allozentrische Ansichten sind für das Funktionieren eines Ökosystems essentiell. Die Identifikation und Verantwortlichkeiten der Teilnehmer in einem Ökosystem, die gemeinsame Abstimmung und die ständige Optimierung der Wertschöpfung sollte entsprechend aus einer allozentrischen Perspektive erfolgen. Sich für das Gesamte einzusetzen, erfordert Vertrauen in die Partner.

6.3 Rollen und Verantwortlichkeiten im Ökosystem

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6.3 Rollen und Verantwortlichkeiten im Ökosystem 6.3.1 Vertrauen als Motor der Zusammenarbeit Eine Voraussetzung zur Entwicklung einer Ökosystemstrategie ist, sich der Veränderungen im Umfeld und in der Branche bewusst zu sein. Sind die Trends erkannt und hat das Unternehmen die Fähigkeiten, die Herausforderungen anzugehen, können weitere Partner involviert werden, denn jede Organisation sollte die Möglichkeiten von Open Innovation nutzen. Etablierte Unternehmen stützen sich dabei in erster Linie auf ihr bestehendes Netzwerk. Die Auswahl der richtigen Partner mit den erforderlichen Ressourcen und Fähigkeiten ist entscheidend. Steht das Kernteam, bestehend aus internen und externen Mitgliedern, kann die gemeinsame Vision und Richtung entwickelt und der Zweck des Ökosystem formuliert werden. Regeln zur Zusammenarbeit und eine klare und transparente Kommunikation sind entscheidend, um die auf mehrere Organisationen verteilte Verantwortung für beispielsweise Daten und Kundenbedürfnisse zu gewährleisten. Nachdem der Zweck definiert ist, ermutigen die Mitglieder des Kernteams ihre Zulieferer und Geschäftspartner sowie andere relevante Interessengruppen, die Ziele gemeinsam zu erreichen. Dieser Prozess sollte umso weniger strukturiert sein, je größer die Anzahl der Mitglieder ist, um Kreativität und Innovation nicht zu behindern. Ein Merkmal eines Ökosystems ist nämlich, dass es sich bis zu einem gewissen Grad selbst organisiert und reguliert. Die Verwischung organisatorischer Grenzen und die Suche nach vertrauensvollen Partnern für gemeinsame Innovationen sind ein Schlüsselfaktor beim Aufbau eines Ökosystems. Oft gehen die Initiatoren zusätzliche Bindungen in Form einer strategischen Allianz oder eines Joint Ventures mit Partnerfirmen ein. Durch diese finanziellen Beteiligungen wird das Risiko geteilt und das Ökosystem wirkt robuster. Andere Möglichkeiten, in den USA weit verbreitet, sind langfristige Partnerschaften zwischen Unternehmen und auch privaten Spendern und Universitäten und Forschungsinstitutionen. So haben die Universitäten Harvard, Texas, Yale, Stanford und Princeton alle je über 25 Mrd. Spendengelder, die sie verwalten und für Forschung und Lehre einsetzen. Viel Geld kommt von Unternehmen mit einem klaren Forschungsziel aber auch von privaten Philanthropen, die keinerlei ­Gegengeschäft erwarten. In Europa verstärken sich die Verbindungen von Unternehmen und Universitäten. So finanziert die UBS von 2012 bis 2032 das UBS International Centre of Economics in Society an der Universität Zürich mit 125 Mio. Schweizer Franken. Ziel der Partnerschaft ist es, den kontinuierlichen Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft zu fördern und damit den Wirtschafts-, Bildungs- und Wissensstandort Schweiz weiter zu stärken. Mit solchen Investitionen sichern sich Unternehmen den Zugang zu Wirtschaftsforschung und legen gleichzeitig den Grundstein für ein Ökosystem. Der Einfluss auf einen regionalen Innovations-Hub ist entsprechend groß, was natürlich auch dem Standort und der Volkswirtschaft nützt und ein Magnet für weitere Partner ist. Im Herbst 2022 hat die UBS eine strategische Partnerschaft mit der ETH kommuniziert, wo 40 Mio. Schweizer Franken zur Förderung von Innovation, Unternehmertum und für

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MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) eingesetzt werden. Universitäten genießen in der Bevölkerung generell Vertrauen. Eine vertrauensvolle und langfristige Bindung zwischen Universitäten und Unternehmen sorgt dementsprechend in einem Ökosystem für Sicherheit. Eine weitere Herausforderung in Ökosystemen sind die Daten. Da Daten die neuen Wasserrechte für das Tal sind, sollten sie als harte Währung gelten, aber auch mit Sorgfalt behandelt werden. Daten können materialisiert werden, unterliegen aber gleichzeitig, vor allem in Europa, einem großen Schutz. Mit der Generation Y mag sich die Loyalität zu Brands und das Schutzbedürfnis von persönlichen Daten verändern, aber es braucht immer noch Zeit, bis ein Unternehmen Vertrauen aufgebaut und einen größeren Kundenstamm angesammelt hat. Vor allem beschäftigen sich Aufsichtsbehörden in vielen Ländern damit, wie Daten über Kunden gesammelt, analysiert und weiterverwendet werden. Es ist eine Tatsache, dass Daten immer wichtiger werden, um ein ganzheitliches Kundenprofil zu erstellen und einen Mehrwert zu generieren. Bislang sind Kundeninformationen hauptsächlich Eigentum etablierter Unternehmen, da die meisten Start-ups trotz ihrer Innovationskraft keine lange Firmengeschichte haben. Technologieunternehmen und Plattformbetreiber haben datenbasierte Geschäftsmodelle und hebeln Datenschutzgesetze mit einer Reihe von Haftungsausschlusserklärungen, die im Internet als lästig empfunden und meist ungelesen wegklickt werden, aus (siehe Datenschutzerklärungen Google und Facebook in diesem Kapitel). Betrachtet man Daten und das damit implizierte Vertrauen als Motor der Zusammenarbeit, so ist diejenige Organisation, welche die Infrastruktur bereitstellt, aus Datensicht im Vorteil. Die Plattformbetreiber sind oft dominante Unternehmen aus der Technologie-, Social-­ Media- oder E-Commerce-Branche. Diese Unternehmen agieren im Kern des Ökosystems und kontrollieren die Daten, während sie gleichzeitig die technologische In­ frastruktur betreiben und Regeln, Normen und Preise bestimmen. Eigentlich gibt laut der aktuellen Literatur nur vier wesentliche Archetypen in einem Ökosystem: Orchestrator, Lieferanten, Kontributionen und Konsumenten (Jacobides 2022; Adner 2017). Es gibt noch eine zusätzliche Rolle in Form von Maschinen, welche den Kontributionen zugeordnet werden kann. Dieser Archetyp ist noch nicht erforscht, zeigt aber, dass in einem Ökosystem immer mehr Kundeninteraktionen über Chatbots stattfinden. Diese virtuellen Assistenten müssen unbedingt berücksichtigt werden, da sie Kundenmehrwert schaffen, aber auch auf der Lieferantenseite oder beim Orchestrator einen Beitrag zur Wertschöpfung leisten. Alles, was mit Daten und Algorithmen zu tun hat, wird erfahrungsgemäß gerne Technologiekonzernen überlassen. Wie schaut es aber mit dem Vertrauen aus? Menschen vertrauen Unternehmen, wenn eine gewisse Transparenz ersichtlich ist. Die Datenschutzerklärungen von Google und Facebook wurden analysiert und Transparenz ist daraus nicht ersichtlich – außer, dass Benutzerdaten weiterverwendet werden können. Es gibt etliche Studien zu Vertrauensaufbau- und -management in Unternehmen und auch Listen der vertrauensvollsten Länder und Unternehmen. Bei Vertrauen in die Wirtschaft ist Deutschland auf Platz eins im europäischen Vergleich (Enste und Grunewald 2017). Dabei sind stabile Institutionen, Rechts- und Steuersysteme und die Wirtschaftspolitik entscheidende Fakto-

6.3 Rollen und Verantwortlichkeiten im Ökosystem

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ren. Global gibt es etliche Studien mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen. So ist gemäß Reputation Sciences Amazon das Unternehmen, welches das größte Vertrauen genießt, gefolgt von Walt Disney, Microsoft und Sony (Sneeney 2022) und gemäß CEO Magazin sind es Band-Aid (Johnson und Johnson), Alipay, Toyota und PayPal (Pidgeon 2021), und wieder andere sehen Lego, Pampers oder Rolex auf den ersten Plätzen. Wissenschaftlich ist Vertrauen nach der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann ein Mechanismus zur Reduktion von Komplexität und beschreibt unter anderem die Erwartungshaltung an Personen oder Organisationen (Luhmann 1968). Von einem Ökosystem, welches nichts anderes als ein soziales System ist, wird erwartet, dass sich Handlungen im Rahmen von gemeinsamen Wertvorstellungen um ein Kernwertversprechen bewegen (siehe shared purpose). Vertrauen wird nicht durch Rankings bestimmt, sondern entwickelt sich durch Verlässlichkeit in der Zusammenarbeit und Authentizität. Von Open Innovation ist bekannt, dass die Zusammenführung von Wissen und Ressourcen am effektivsten durch Kollaboration gelingt. Der gemeinschaftliche Aspekt ist dabei der relevante Treiber. Es ist kaum erforscht, welche gemeinsamen Werte Kollaborationen begünstigen: Technologie, Services, Wissen, Lernen, Expertise, Kommunikation und Best Practices sind bestimmt interessante Dimensionen für eine shared value collaboration. Je mehr involvierte Akteure in der Wertschöpfung die gleichen Werte teilen, desto höher ist die kollektive Wirkung (Kania und Kramer 2011). Nachfolgend werden Rollenarchetypen in einem Ökosystem beschrieben und da diese abhängig vom Ergebnis der Dienstleistung sind, werden anschließend der Geschäftszweck und die Verantwortlichkeiten, welche die erfüllende Organisation innerhalb eines Ökosystems wahrnimmt, erklärt. Beim Aufbau eines Ökosystems ist dies, nachdem die Bedürfnisse und die dazu notwendigen Leistungen identifiziert sind, ein entscheidender Schritt. Werden die Rollen dann mit konkreten Unternehmen, welche für die Leistungserbringung verantwortlich sind, besetzt, geht es um Vertrauen.

6.3.2 Orchestrator Ein Ökosystem ist ein Netzwerk von Gleichgesinnten mit offenen Kulturen, flachen Strukturen und informellen Verbindungen, die beziehungsorientiert sind und bei denen multiple Akteure an der Wertschöpfung teilhaben. Und da der Ressourcen- und Kompetenzpool auf alle Mitglieder des Netzwerks verteilt ist, braucht es jemanden der das gesamte System überblickt und die Serviceerbringung koordiniert. In einem Orchester ist jeder Musiker gleich wichtig für das Gelingen des Stücks. Wenn einer von ihnen ausfällt, ist die Musikalität des gesamten Orchesters beeinträchtigt. In einem Ökosystem ist der Orchestrator, wie im Orchester der Dirigent, dafür verantwortlich, alle zusammenzubringen, was Ausbildung und Aufbau von Fähigkeiten, Koordination und Schlichtung sowie Ausführung und Kontrolle beinhaltet. Eine solche Orchestrierung ist ein nicht linearer und konstruktiver Prozess. Mit anderen Worten: Es ist die Kunst, sich anzupassen, zu verändern, herauszufordern und zu erneuern. Der Orchestrator ist der eigentliche Bestimmer und Entschei-

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dungsträger, weil er die grundlegenden Elemente definiert, die notwendig sind, damit sich das Ökosystem entwickelt und skaliert. In heutigen Ökosystemen ist der Orchestrator oft gleichzeitig auch der Plattformbetreiber.

6.3.3 Lieferanten Jedes Ökosystem beinhaltet mehrere Lieferanten, die ihren Beitrag leisten, indem sie Ressourcen und Ressourcenbündel in Form von Produkten und Dienstleistungen im Ökosystem bereitstellen. Lieferanten können, müssen aber nicht, die eigentlichen Hersteller sein. Viele sind Zwischenhändler, sogenannte Intermediäre. Da im Rahmen der digitalen Transformation auch Prozesse optimiert werden, kann es sein, dass bei einer Ökosystemstrategie mittelständische Unternehmen langjährige Partnerschaften mit Lieferanten aufgeben und eine Neukonfiguration anstreben, um effizienter, dezentraler oder flexibler zu werden oder um näheren Kontakt zu den Endkunden zu erhalten. Für innovative Lieferanten bestehen aber gute Chancen, als Nischenanbieter eine Schlüsselrolle in einem Ökosystem einzunehmen. Etablierte Lieferanten sind Cloud- und Zahlungsdienstleistungsanbieter.

6.3.4 Kontributoren Kontributoren unterstützen in der Regel alle im Ökosystem beteiligten Teilnehmer mit Zusatzleistungen bei der Bereitstellung, Verwendung und Koordination der Services. Sie erweitern das Angebot des Ökosystems, tragen zu dessen Vielfalt bei und treiben Innovationen voran. In marktplatz-orientierten Ökosystemen gibt es tausende von Kontributoren, welche auch Teilmenge von Lieferanten und Komplementären sein können. Datenlieferanten- und Analysefirmen und App-Entwickler gelten als etablierte Kontributoren. Generell unterscheidet man Kontributoren auf Lieferantenseite und nutzerorientierte ­Kontributoren. Letztere können zeitgleich Konsumenten und Produzenten von Services sein. Bekannte Beispiele solcher Prosumenten gibt es bei YouTube, TikTok oder Instagram. Durch die zunehmende Vernetzung von Daten, Menschen und Maschinen ist ein wichtiger Kontributor der Zukunft eine Maschine, ein Roboter oder Algorithmus, weshalb diese Art des Kontributors später noch weiter ausgeführt wird.

6.3.5 Konsumenten Konsumenten oder Nutzer sind Endverbraucher, welche ein Produkt oder eine Dienstleistung in einem Ökosystem beziehen und dafür bereit sind einen Preis zu entrichten. Der Kunde ist demgegenüber nicht unbedingt der Endverbraucher, sondern er kann auch Lieferant sein. Die Begriffe können synonym verwendet werden. Der Zugriff auf die bereitgestellten Services erfolgt in der Regel über eine digitale Plattform über Computer und Internet oder mobil über eine App. Die Rolle des Kunden wurde durch Open Innovation

6.3 Rollen und Verantwortlichkeiten im Ökosystem

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erweitert; das heißt, Kunden warten heute nicht mehr bis ein Produkt auf dem Markt erscheint (Product Push), sondern möchten den Innovationsprozess mitgestalten und ihre Ideen einbringen. Während damit die Bedürfnisse der Kunden in die Produktentwicklung einfließen und eine gezielte Markteinführung möglich ist (Market Pull), geben Kunden den Produzenten schnelle Rückmeldungen bezüglich digitaler Innovationen, Marktveränderungen und Umfeldbedingungen. In Zukunft lösen sich Organisationsgrenzen weiter auf und es werden nicht nur Einzelpersonen in den Prozess involviert, sondern ganze Interessensgruppen und Gemeinschaften, also Communities, welchen das Unternehmen vertraut. Der nächste Schritt ist dann das Wissen der Masse der Konsumenten in der sogenannten Crowd abzufragen und zu nutzen. Generell wird die Abgrenzung unschärfer und Konsumenten können auch gleichzeitig als Kontributoren agieren oder eben anonym in der Crowd Innovationen beeinflussen (siehe Prosument). Das Ökosystem kann durch die Integration der Kunden auch dafür genutzt werden sich auf alle Marktveränderungen vorzubereiten, was mit Agilität, Flexibilität und Resilienz einhergeht. Da die Kunden Teil des Prozesses sind, während sie eine immaterielle Dienstleistung in Anspruch nehmen, ist es offensichtlich, dass Kunden eine wertvolle Ressource für Co-­ Innovation im Ökosystem sind. Dementsprechend nutzen immer mehr Unternehmen ihre Kunden als Quelle, um neue Lösungen und Geschäfte zu entwickeln. Auf die Stimme des Kunden zu hören und seine Bedürfnisse angemessen zu differenzieren, ist von entscheidender Bedeutung und wirkt sich auf die Kundenzufriedenheit aus. Daher sollten bei der Planung eines Produkts oder einer Dienstleistung zunächst die potenziellen Kundenbedürfnisse berücksichtigt werden, welche die Innovation erfüllen soll. Das Niveau von Service und Qualität ist oft verwirrend und schwer zu artikulieren. Sicherlich gibt es viele Methoden, um die Merkmale der Kundenerwartungen zu untersuchen. Ein einfacher Ansatz zur Analyse der vom Kunden definierten Qualität und zur Einteilung der Merkmale eines Produkts oder einer Dienstleistung in verschiedene Qualitätskategorien ist die Kano-­Methode (Matzler und Hinterhuber 1998). Diese wurde von Professor Noriaki Kano von der Tokyo Rika Universität entwickelt. Demnach müssen zunächst die verschiedenen Kundenerwartungen, nämlich Grundbedürfnisse, Leistungsbedürfnisse und Begeisterungsbedürfnisse, ermittelt werden. Darauf aufbauend können die Interaktionspunkte der Kundenreise (Customer Journey) definiert und überwacht werden. In einem Innovation-­Lab, in dem neue Geschäftsmodelle oder Lösungen getestet werden, kann der Kunde als Konzeptvalidator fungieren. Im Rahmen eines konsequenten Open-Innovation-Ansatzes müssen die Kunden als gleichberechtigte Partner in das Ökosystem integriert werden. Die Unternehmen müssen Wege finden, um eine Gruppe von Kunden oder einzelne strategische Kunden aufgrund ihrer Größe oder Kreativität zur aktiven Teilnahme an der Innovation zu motivieren. Für den Kunden kann der Wert in Form von gegenseitiger Wertschätzung, einzigartigen Erfahrungen und Belohnungen oder in Form einer maßgeschneiderten Lösung, die der Kunde wünscht, entstehen. Influencer bei der Kommerzialisierung von Innovationen einzusetzen, die beispielsweise neue Produkte testen und bewerten, sind weitere Möglichkeiten. Es ist entscheidend, die soziale Interaktion zwischen allen Teilnehmern auf der Herstellerseite und der Kundenseite eines Ökosystems systematisch zu koordinieren, um Vertrauen aufzubauen.

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6.3.6 Universitäten (Kontributoren) Für Unternehmen gibt es einen klassischen externen Weg, um neue Ideen zur Verbesserung ihrer Geschäftstätigkeit zu erhalten, nämlich die Grundlagenforschung an Universitäten. Die Sozialwissenschaft und die Managementforschung werden von einer Vielzahl unterschiedlicher Disziplinen aus angegangen (Strategie, Organisation, Innovation, Finanzmanagement, Kontrolle, Betrieb, Prozessmanagement, Logistik, Marketing, Informationsmanagement, Künstliche Intelligenz, internationale Entwicklung, Wettbewerbsstrategie). Jede dieser Richtungen hat ihre eigenen Traditionen und Ansätze, um kausale Erklärungen und grundlegende Gesetze zu finden, die Regelmäßigkeiten im menschlichen Sozialverhalten erklären. Die Managementforschung ist ein fragmentierter und heterogener Bereich, in dem Wissen und Forschungsmethoden häufig aus verwandten Disziplinen wie den Sozial- und Naturwissenschaften stammen. Lange galt die Sorge, dass Universitäten ihre Forschungsergebnisse oder den Ideenaustausch innerhalb eines homogenen Kreises von Wissenschaftlern halten. Die Open-­ Innovation-­Bewegung und letztendlich Covid-19 haben dazu beigetragen, dass der Zugang zur Forschung durch globale Zusammenarbeit und gemeinsame Nutzung von Daten verbessert wurde. Was von der Europäischen Kommission (2016) als offene Wissenschaft (Open Science, Open Access) bezeichnet wird, stellt einen neuen Ansatz dar, um das volle Potenzial der Wissenschaft durch neue Prozesse für eine dynamischere Wissensverbreitung zu nutzen. Sowohl Wissenschaftler als auch Praktiker müssen zusammenarbeiten, wobei sich die einen mehr auf Theorien und die anderen mehr auf offensichtliche Geschäftsergebnisse konzentrieren. Forschungsinstitute, Innovationslabors, Partnerschaften und Joint Ventures tragen alle wesentlich zum Wissen bei; sie müssen jedoch aufeinander abgestimmt werden, um Wissen in sozioökonomischen Wert umzusetzen. Mit Open Innovation können bessere Strategie- und Transformationsergebnisse erzielt und mit offenen Ökosystemen Kunden besser bedient werden. Eine solche Denkweise setzt voraus, dass Manager generell offen sind, Grundlagenforschung zu akzeptieren und Wege zu finden, die Erkenntnisse in die Praxis zu integrieren. Alle Unternehmen durchlaufen mit der Digitalisierung und Ökosystemstrategien Veränderungen, die den Kern ihres Geschäfts betreffen. Akademische Einrichtungen bieten Zugang zu Professoren, Doktoranden, Forschungszentren und Studien, die Unternehmen helfen, Trends grundlegend zu verstehen und darauf zu reagieren.

6.3.7 Innovation-Labs (Kontributoren) Innovation-Labs sind Inkubatoren, welche Organisationsformen und Methoden agiler Start-ups nutzen. Sie gehen über die typischen F&E-Abteilungen von Unternehmen hi­ naus und beschäftigen sich auch nicht mit Grundlagenforschung. Sie schaffen einen zusätzlichen Raum, um der Marktdynamik Rechnung zu tragen und bahnbrechende zukünftige Geschäftsmodelle zu finden. Innovation-Labs bringen Menschen und Technologie zusam-

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men und können zum Experimentieren, bei Prototypen und zum Testen genutzt werden. Die gesetzten Ziele sind in der Regel die Beschleunigung digitaler Innovationen, das Überdenken neuer Geschäftsmodelle, Kundenerfahrungen und Lösungen der nächsten Generation oder einfach die Verbesserung der betrieblichen Effizienz. Innovation-Labs müssen außerhalb der traditionellen betrieblichen Grenzen eingerichtet werden, um Agilität und Flexibilität zu gewährleisten, Raum zum Scheitern zu geben und die Kreativität und den Einfallsreichtum der Mitarbeiter zu nutzen. Viele der Innovationen, welche Unternehmen von ihren Labors erwarten, führen nicht unmittelbar zu Einnahmen. Innovationserfolg lässt sich nur schwer sinnvoll messen. Beratungsunternehmen haben globale Netzwerke von Forschungs- und Innovation-­ Labs aufgebaut, und viele Unternehmen betreiben solche Einrichtungen in Innovation-­ Cluster wie dem Silicon Valley, Shenzhen, Singapur, London oder Bangalore. Viele Innovation-­Labs dienen als Inkubator oder Beschleuniger von Innovationen und verbinden fast alle Teilschritte – vom Trend-Scouting bis zu Risikokapitalinvestitionen. Bei der Entwicklung von Prototypen zur Lösung dringlicher Herausforderungen hilft die Zusammenarbeit mit Start-ups, Technologieanbietern und Kunden, die wenn sie alle im selben Ökosystem verbunden sind, Innovationsvorhaben beschleunigen und gezielter auf die Bedürfnisse des Kunden eingehen können. In den letzten Jahren entstanden viele Innovation-Labs mit Fokus auf Digitalisierung und disruptive Geschäftsmodelle. Ein gutes Beispiel dafür ist Level39, welches 2013 in London gegründet wurde und heute als eines der weltweit am stärksten vernetzten Technologie-­Communities gilt. Auch hier ist die Branchenkonvergenz erkennbar, denn was zu Beginn für den Finanzsektor gedacht war und mit Fintech und Cybersicherheit ­begann hat sich geöffnet. Heute werden Lösungen innerhalb erneuerbarer Energien, Nachhaltigkeitstechnologien, Gesundheitswesen, E-Commerce, Logistik und Cloud entwickelt. Level39 ist ein Zentrum für Wissensaustausch und eine Art unabhängiger Inkubator, der Arbeitsplätze, soziale Einrichtungen und Veranstaltungen anbietet und Unternehmen, Aufsichtsbehörden, Behörden, Investoren, Mentoren und Forscher zusammenbringt, um gemeinsam an Innovationen zu arbeiten und ein Ökosystem aufzubauen. Innovation-Labs helfen Unternehmen, neue Technologien zu bewerten und zu übernehmen, eine offene Innovationskultur zu entwickeln und zur digitalen Strategie beizutragen. Darüber hinaus sind Innovation-Labs eine Möglichkeit, um starke Verbindungen zwischen Innovationspartnern herzustellen und sich in das lokale Ökosystem zu integrieren.

6.3.8 Think-Tanks (Kontributoren) Think-Tanks oder Denkfabriken, vereinen in der Regel interdisziplinäre Erfahrungen und Fähigkeiten aus der angewandten Forschung, Beratung, politischer Entscheidungsträger und Branchenexperten, um die Kräfte des Wandels besser zu verstehen. Sie erörtern die schnelllebigen, komplexen Umgebungen und die nächsten Trends, antizipieren die Auswirkungen auf Markt und Kunde und empfehlen Strategien. Die Emirates NBD, eine der größ-

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ten Bankengruppen im Nahen Osten, hat mit ihrem Future Lab, welches als strategische Denkfabrik funktioniert, bereits etliche Innovationspreise gewonnen. Viele Initiativen führten dazu, die digitale Strategie der Bank voranzutreiben und digitale und mobile Bankdienstleistungen zu entwickeln und zu testen. Das Future Lab erforscht, wie die Digitalisierung die Gegenwart und Zukunft des Bankwesens wirklich beeinflussen kann, indem sie die Benutzerfreundlichkeit und den Nutzen für den Kunden erhöht. Der Think-­Tank arbeitet mit Kunden und Banken zusammen und identifiziert Fintech-Innovatoren, die bahnbrechende Innovationen schaffen und diese dann zu Prototypen und zur Kommerzialisierung führen können. Die Emirate NDB wurde zur Innovationsführerin für Social Banking, das Bankdienstleistungen über WhatsApp anbietet, oder für gesundheitsbezogene Sparkonten, die für intelligente tragbare Geräte entwickelt wurden. Letzteres ist etwas völlig Neues, da es Fitness mit einem Belohnungssystem durch ein Bankkonto, Gamification und mobile Technologie kombiniert. Die Website der Emirate NDB präsentiert eine Bank der neuen Generation, denn es gibt Partnerschaften mit Adidas, Apple, Meta, McDonalds oder Costa Kaffee sowie vielen anderen Marken außerhalb der Finanzdienstleistungen.

6.3.9 Start-ups (Kontributoren/Lieferanten) Die Verwertung von Innovationen entsteht oft mit der Gründung eines Start-ups. Ohne Start-ups wäre kontinuierliches  volkswirtschaftliches Wachstum kaum möglich. Diese jungen Firmen stehen (zumindest zu Beginn) nicht im Zentrum des Ökosystems, können aber einen wichtigen Beitrag zur Herstellung und Bereitstellung von Services liefern. Gemeinsam mit etablierten Unternehmen und anderen wichtigen Akteuren können sie Innovationen vorantreiben. Junge Firmen können in einer konstruktiven Koexistenz mit Großformen oft besser wachsen, als wenn sie direkt in den Wettbewerb eintreten. Die Tatsache, dass Start-ups Partnerschaften mit etablierten Unternehmen eingehen, während sie mit Kundenakzeptanz, Größenordnung und Finanzierung zu kämpfen haben, ist daher der wichtigste Fortschritt beim Aufbau von sogenannten Start-up- oder Innovations-­ Ökosystemen. Start-ups sind in der Regel agil und offen für jegliche Zusammenarbeitsformen und suchen ein unternehmensfreundliches Gründungsumfeld, wo es Großformen gibt, Investoren, Kapitalgeber und Berater sowie Universitäten und Forschung vorhanden sind. Allerdings darf man Faktoren wie billiger Wohnraum, Lebensqualität und kreative und risikobereite Menschen nicht unterschätzen. Damit entstand beispielsweise in Berlin oder Tel Aviv eine Start-up-Szene, die sich gegenseitig befruchtet und organisch wächst. Wenn es um den Einsatz neuer Technologien und digitaler Innovationen geht, suchen etablierte Unternehmen die Nähe zu Start-ups. Da kann es von Vorteil sein, sich auf die Marke, Reputation, Größe oder Kunden zu fokussieren und Start-ups als lieferantenorientierte Kontributoren einzusetzen. Das hat auch damit zu tun, dass das aktuell vermögensstärkste Kundensegment – die Babyboomer – nicht bereit ist, sich mittelfristig von ihren bevorzugten Marken und Kundenerlebnissen zu trennen. Anbieter geben die über Jahrzehnte lang aufgebaute Kundenbeziehung nicht ab. Solange die etablierten Unternehmen

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die Kundenerwartungen mit geringfügigen Verbesserungen erfüllen und die Wechselkosten hochhalten können, werden digitale Innovationen allein keinen Grund sein die Loyalität zu brechen und zu einem Start-up mit ungewisser Zukunft zu wechseln. Die Symbiose zwischen Start-up und etablierten Unternehmen bedeutet eine gegenseitige Abhängigkeit, die in einem offenen Ökosystem bis zu einem gewissen Grad ausbalanciert werden kann. Zusammenarbeit anstatt Konkurrenz ist das Mantra in Ökosystemen und wenn alle Akteure so denken, führt dies zu dem erklärten allozentrischen Modell. Können sich Start-ups über einen längeren Zeitraum positiv entwickeln oder stellen selbst Dienstleistungen her, so spricht man dann wieder von Lieferanten. Oft ist es schwierig, eine genau Abgrenzung zu machen. Auch kann ein Start-up zu einem sogenannten Einhorn werden, wenn es eine Bewertung vor Börsengang von mindestens einer Milliarde US-Dollar erreicht. Oft sind diese Einhörner dann mehr wert als ihre Partner, also eta­ blierte Unternehmen.

6.3.10 Communities (nutzerorientierte Kontributoren) Innovationen entstehen über Communities, in denen sich Mitglieder über eine digitale Plattform miteinander austauschen. Erste solcher Communities wurden Ende der 1990er-­ Jahre mit der Open-Source-Bewegung populär, mit dem Ziel den Quellcode von Software öffentlich zugänglich zu machen. Eine unquantifizierbare globale Gemeinschaft arbeitet seitdem an Software-Lösungen. Die Europäische Union richtete 2008 das Innovationsund Technologieinstitut (EIT) ein, um Innovation und Unternehmertum in ganz Europa zu fördern (EIT 2023). Inzwischen ist es das größte Europäische Innovationsnetzwerk, wo im Dreieck von Wirtschaft, Bildung und Forschung acht Wissens- und Innovationsgemeinschaften entstanden. Innerhalb dieser Innovationsgemeinschaften bilden Universitäten, Forschungslabore, Großkonzerne, mittelständische Unternehmen und Start-ups eine dynamische grenzüberschreitende Partnerschaft in 60 Innovationszentren (Städte und Regionen). Ziel ist es neue Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, neue Unternehmen zu gründen und die nächste Generation von Unternehmern auszubilden. Eine der acht Gemeinschaften (Digital), die als führend für Open Innovation gilt, widmet sich der Digitalisierung mit dem Ziel, digitale technologische Innovationen und unternehmerische Talente zu fördern, um Wirtschaftswachstum und Lebensqualität in Europa zu verbessern. Sie betreibt ein Netz von Innovationszentren an einem Dutzend Standorten, darunter ein Zentrum im Silicon Valley. Weitere Gemeinschaften sind in den Bereichen Innovation für Klimaschutzmaßnahmen (Climate-KIC), gesundes Leben (Health), Rohstoffe (RawMaterials), intelligenter, umweltfreundlicher und integrierter Verkehr (Urban Mobility), nachhaltige Lieferketten von den Ressourcen bis zu den Verbrauchern (Food), nachhaltige Energien (InnoEnergy) und Innovationen in der Herstellung (Manufacturing). Die Interdisziplinarität durch Branchenkonvergenz ist unübersehbar. Innovation entsteht durch Wissensverknüpfungen und neue Kombinationen von Geschäftsmodellen, Lösungen und Ressourcen und der Nutzung neuer Technologien für neue

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Produkte und Dienstleistungen. Basierend auf den Beispielen, ist Vielfalt für radikale und disruptive Innovationen oder die Antizipation der fernen Zukunft unerlässlich. Über digitale Plattformen finden Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, Kulturen und Erkenntnissen zueinander und treffen sich zum Austausch von Ideen und Wissen. Aus ihren Interaktionen entstehen unterschiedliche Sichtweisen, die zur Innovation beitragen. Soziale Medien können diverse Einzelmitglieder und Communities einbinden, um einen Kontext zu schaffen, in dem innovative Lösungen effektiver zur Lösung der aktuellen Herausforderungen beitragen können. Ein weiterer Vorteil von Community-Bildung über soziale Medien ist, dass Unternehmen den Innovationsprozess nicht organisieren müssen. Wert und Anziehungskraft ergeben sich durch Netzwerkeffekte und werden durch Hyperkonnektivität beschleunigt. Soziale Medien-Anbieter haben dementsprechend eine wichtige Rolle in einem Ökosystem und müssen entsprechend integriert werden.

6.3.11 Maschinen (nutzerorientierte und lieferantenorientierte Kontributoren) Die vierte industrielle Revolution, die auch als Industrie 4.0 bezeichnet wird, ist durch Hyperkonnektivität und im Speziellen durch das Internet der Dinge (IoT) gekennzeichnet, worüber sich Maschinen, Sensoren, Algorithmen und Menschen über Netzwerke zusammenschalten. Die Maschine-zu-Maschine-Kommunikation und die Kommunikation der Maschinen mit der Organisation sind dabei die Aspekte, die uns im Kontext von ­Ökosystemen interessieren. Der Grund ist, dass hier Daten, Künstliche Intelligenz, Informations- und Kommunikationstechnologien und Innovation mit der menschlichen Intelligenz zusammenspielen müssen, um Wert zu generieren. Entscheidungsprozesse werden längst von Maschinen unterstützt und es gibt bereits autonome Entscheidungen auf Basis von Echtzeitdaten unter Einbeziehung Künstlicher Intelligenz und maschinellen Lernen. Bei traditionellen Produktionsmethoden kann ein Übergang zu automatisierten Robotern beobachtet werden. Diese steuern die intelligente Fabrik, worin Roboter in cyber-­ physischen Systemen mit ihren menschlichen Gegenstücken zusammenarbeiten (Helmold 2022). Seit der Industrialisierung sind die Ziele dieselben, nämlich Produktivitätssteigerung, Kostensenkung und Wachstum. Diese vierte industrielle Revolution hat erhebliche Auswirkungen auf alle Branchen (siehe Kap. 2). Die Fähigkeit der Menschen, sich mit Drohnen, Satelliten, Robotern, mobilen Geräten und Sensoren über das Internet der Dinge und digitale Plattformen zu verbinden und zu kommunizieren, also die Interoperabilität, ist von grundlegender Bedeutung. Es gibt etliche Anwendungsfälle, wo Maschinen als virtuelle Assistenten agieren und wo kaum noch ein Unterschied zwischen Menschen und Maschinen ausgemacht werden kann. Bei GPT-Modellen (Generative Pre-trained Transformer) wird der Turing-Test, wo ein Mensch feststellen muss, ob er mit einem Computer oder Menschen kommuniziert, immer schwieriger (Turing 1950). IBM (2023) bietet die kognitive Leistung seines Supercomputers Watson in beinahe allen Branchen und für verschiedenste Geschäftszwecke an. Die Vorteile

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liegen darin, über die traditionellen regelbasierten Richtlinien und demografischen Ansichten hinaus zu einem tieferen Verständnis der Rentabilität, der Präferenzen und des Lebenszyklus der Kunden zu gelangen. Andere Anbieter werden folgen und ihre Maschinen anbieten, um sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Der freie Informationsfluss lässt das Datenvolumen stärker anschwellen. Auch die Qualität der Daten verbessert sich und deckt ein breiteres Spektrum von Quellen ab, wobei die gewonnenen Informationen aus menschlichen Interaktionen, aber auch von Maschinen stammen. Mit dem Aufkommen der Künstlichen Intelligenz und maschinellem Lernen werden alle Schritte entlang der Informationswertschöpfung effizienter werden und der Nutzen exponentiell wachsen (siehe Kap.  2). Die Kunden werden die Vorteile wie Bequemlichkeit und neue Funktionen während ihrer gesamten Kundenreise entdecken und schätzen lernen. Darüber hinaus werden Maschinen die Entscheidungsfindung unterstützen und die Bedürfnisse einiger wichtiger Teilnehmer innerhalb des Ökosystems ausgleichen (PwC 2017). Die Vermehrung von Daten ist wichtig und begünstigt neue Geschäftsmodelle. Informationen über Transaktionen werden wichtiger als die Transaktionen selbst. Ein Ökosystemen ist dynamisch und Teilnehmer passen ihre Rolle und Verantwortlichkeit ständig an. Sicher ist, dass Maschinen weitere Teile der Wertschöpfung in einem Ökosystem übernehmen – und zwar als Kontributoren in der Herstellung von Services und auch bei der Kundenunterstützung. Die heute schwer beantwortbare Frage ist, ob sich die Maschinen dann automatisch den Gegebenheiten eines dynamischen Ökosystems anpassen.

6.3.12 Berater und Mentoren (Kontributoren) Die Unternehmensberatung ist eine analytische und rationale Disziplin, die darauf abzielt, Organisationen und ihren Kunden Nutzen zu bringen. Andere weiche Faktoren müssen ebenfalls berücksichtigt werden. Einfühlungsvermögen und die Notwendigkeit, kulturelle Fragen und das gesamte Geschäftsumfeld ganzheitlich zu verstehen, sind zu notwendigen Qualifikationen für alle Arten von Beratern geworden. Die Komplexität einer Situation nimmt zu, je höher jemand in der Hierarchie einer Organisation aufsteigt Der Grund dafür ist, dass die oberste Führungsebene die strategische Ausrichtung des gesamten Unternehmens überwacht. Der Aufbau eines Ökosystems ist eine strategische Entscheidung und daher komplex. Solche Entscheidungen können unstrukturiert, nicht linear, iterativ, zweideutig und für Außenstehende unverständlich sein. Oftmals werden Dritte hinzugezogen, die aus einer Außen-Perspektive Ideen einbringen. Um in einer komplexen und dynamischen Welt einen Beitrag leisten zu können, müssen Manager das gesamte System mit allen miteinander verknüpften Elementen multilateral betrachten, anstatt nur ein bestimmtes Element zu analysieren. Wenn Beratungsunternehmen im Ökosystems integriert sind, können sie Vermittler dienen und Unternehmen mit geeigneten Partnern verbinden. Große Beratungsunternehmen haben früh erkannt, dass die unternehmensinternen Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen ihrer Kunden nicht mehr ausreichen, um dis-

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ruptive Veränderungen zu bewältigen. Sie haben sich vom reinen Wissenstransfer hin zu Open Innovation bewegt und sind nun wichtige Partner in offenen Ökosystemen. Beratungsunternehmen bringen sich oft nicht direkt, sondern über Innovation-Labs in Ökosysteme ein. Ziel ist dabei, unter Anwendung der strategischen Früherkennung, Informationen zu Trends frühzeitig zu kommunizieren. Capgemini (2023) unterstützt seine Kunden über eine digitale Ökosystem-Plattform, einer Art Multi-Anbieter-Ökosystem, das über ein Netzwerk von Servicepartnern den Austausch mit Designern, Branchenexperten, Geschäftspartnern, Technologiefirmen, Akademikern, Forschungseinrichtungen und Start-­ ups erleichtert. Das Ökosystem von PwC (2023) bündelt Technologien, Daten und Beziehungen zu anderen strategischen Partnern mit Fokus auf Service-Integration und Management, was die digitale Transformation beschleunigen und Geschäftswert schaffen soll. Dazu gehören auch das Emerging Technology Lab, das Experience Center sowie Denkfabriken, die untersuchen, wie Kunden ihre Ziele durch schnelle Iteration, Experimente und Prototyping erreichen können, während sie gleichzeitig den organisatorischen Fokus beibehalten, um die Lehren aus der Vergangenheit auf zukünftige Vorhaben anzuwenden. Die PWC-Berater konzentrieren sich auf funktionale Prototypen, um das Potenzial neuer Technologien zu demonstrieren. McKinsey (2023) geht mit seinen offenen Ökosystemen mit über 500 Ökosystem-Partnern einen ähnlichen Weg mit dem Ziel, Unternehmen in die Lage zu versetzen, Wert aus digitalen Innovationen zu schöpfen, konkret, Produkte, Erfahrungen und Unternehmen durch neue Fähigkeiten zu schaffen. Disruptive Technologien werden in separaten Einheiten beispielsweise in QuantumBlack-Labs für Künstliche Intelligenz oder Cloud by McKinsey konzentriert. Accenture (2023) hat ein eigenes Ökosystem aufgebaut und arbeitet mit Großunternehmen, Start-ups, Risikokapi­ talgebern, ­Universitäten und verschiedenen Innovation-Labs zusammen. Das Netzwerk umfasst mehr als 200 Forscher in Bangalore (Indien), Dublin (Irland), Peking und Shenzhen (China), Silicon Valley (USA), Sophia Antipolis (Frankreich), Tel Aviv (Israel) und 25 sogenannten Nano-­Labs, die an künstlicher Intelligenz, Security, Blockchain, Systemen und Plattformen oder digitalen Erfahrungen forschen. KPMG Ignition (2023), das landesweite Netzwerk von Innovations-, Erkenntnis- und Technologielösungszentren des Unternehmens, eröffnete 2017 ein Innovation-Lab, welches sich vollkommen Open Innovation verschrieben hat und Unternehmen aus einer Outside-in-Perspektive dabei unterstützt, Signale des Wandels zu erkennen, die zu Disruptionen führen könnten. Nur wenn die Erkenntnisse mit Open Innovation und Investitionen verbunden werden, können die Kunden besser positioniert werden, um der Disruption einen Schritt voraus zu sein und sich gegen die Konkurrenz zu behaupten. Ebenfalls 2017 hat Ernst & Young bei der Schaffung eigener Einheiten für Innovation, EY wavespace (2023) ins Leben gerufen  – ein globales Wachstums- und Innovationsnetzwerk in über 50 Innovation-Hubs, in dem digitale Communities vereint werden, um Unternehmen bei der Erforschung von Betriebsmodellen und neuen Technologien zu unterstützen, die ihr Geschäft disruptiv verändern könnten. Das Technologie- und Services Ökosystem der Boston Consulting Group (BCG) schließt diese nicht vollständige Übersischt ab. BCG (2023) verknüpft ihr strategisches Wissen mit einer Reihe von Partnern, wie Adobe, AWS, DataRobot, Google, IBM, Meta, Microsoft, Sales-

6.3 Rollen und Verantwortlichkeiten im Ökosystem

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force, SAP oder Wipro und verknüpft diese Expertise dann weiter mit dem BCG Henderson Institute, einem Think Tank, der wiederum Strategie- und Innovation-Labs und ein Center für Macroeconomics beinhaltet (BCG 2022). Die Aufzählung all dieser Beispiele aus der Beratungsbranche, ist nicht abschließend, soll aber die Bedeutung der Verknüpfung von Praxis und Forschung und die wichtige Integration von Beratern in einem Ökosystem verdeutlichen. Durch die Integration von firmeneigenen Ökosystemen in offene Ökosysteme bildet sich ein außerordentliches Momentum und es entstehen mehrseitige Netzwerkeffekte.

6.3.13 Politische Entscheidungsträger und Regulierungsbehörden (orchestrator-orientierte Kontributoren) Mit zunehmender Komplexität, auch aufgrund der globalen Verflechtungen, müssen Regulierungsbehörden von stark regulierten Branchen, wie dem Finanz- oder Gesundheitssektor, besser in Wertschöpfungsnetzwerke integriert werden. Wenn sich Geschäftstätigkeiten von digitalen Plattformen zunehmend in die globale Cloud verschieben, wird es schwierig, diese lokalen regulatorischen Anforderungen zuzuordnen. Eine globale Überwachung ist aufgrund unterschiedlicher Wirtschaftssysteme und Gesetzgebungen kaum möglich. Produkte und embedded Services (nicht zu verwechseln mit embedded Systems) werden längst über Landesgrenzen vertrieben. Die Überwachung von neuen, sich schnell entwickelnden Geschäftsmodellen, die in der Vergangenheit nicht von der Politik erfasst wurden, ist eine große Herausforderung. Darüber hinaus haben lokale Regierungen Pekuniärinteressen und denken nicht unbedingt vernetzt und global. Das Innovationstempo und die immer kürzere Lebensdauer von Lösungen, sind Herausforderungen bei Genehmigungsverfahren. Eine Lösung, um der regulatorischen Komplexität wirksam zu begegnen, ist die Ausrichtung der Aufsichtsbehörde auf die Produzenten. Größere Transparenz und offene Kommunikation gehören zu den Schlüsselprinzipien offener Ökosysteme. Diese Grundsätze sollten sorgfältig bedacht werden, da die Rolle von Regulierung und Governance zunimmt und zu einem Erfolgsfaktor für eine schnelle Produktentwicklung und  -verbreitung wird. Die Einbindung politischer Entscheidungsträger in den Wertschöpfungsprozess wird auch wegen der von Maschinen erzeugten Daten und Informationen empfohlen. Insbesondere Daten sind mit kulturellen und ethischen Fragen verbunden, bei denen politische Entscheidungsträger und Regulierungsbehörden in der Lage sein müssen, schnell ein Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Privatsphäre des Einzelnen und der Freigabe der Vorteile der Offenheit herzustellen. Wenn Ökosysteme für Behörden aufgebaut werden (E-Gouvernment), muss dafür gesorgt werden, dass Behörden, aber auch der entsprechende Regulator und damit alle notwendigen Verwaltungsprozesse in das Ökosystem integriert werden. Mit Online-Onboarding-Prozessen und digitalen Authentifizierungs- und Validierungsdiensten wird es zwingend, Behörden in Ökosystemstrategien zu berücksichtigen.

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6.4 Regionale Ökosysteme 6.4.1 Innovation-Cluster Was Hollywood für Filme und Mailand für Mode ist, ist das Silicon Valley für Technologie und Unternehmertum. Die jüngste Übersicht über die regionalen Innovations-Hotspots zeigt, dass das Silicon Valley zwar nach wie vor höchstrelevant ist, aber der Abstand zu aufstrebenden Innovations-Clustern in Asien, wie Singapur, Bangalore oder Shanghai, kürzer wird (Capgemini 2017). Interessant ist auch, dass die drei Sektoren mit den meisten Innovationsaktivitäten Elektronik und IT, die Automobilindustrie und an dritter Stelle die Finanzdienstleistungen sind. In Indien, seit den 1990er-Jahren als internationales Callcenter und für Software und IT-Dienstleistungen bekannt, entwickeln sich neue digitale Initiativen mit dem Ziel, das Land in eine digitale Gesellschaft zu verwandeln. Regionale Innovationszentren wurden in Jaipur, Pune, Bangalore und Hyderabad rasch ausgebaut. Diese Zentren ziehen zunehmend ausländische Investitionen an, und viele Technologieunternehmen gehen lokale Partnerschaften ein, um Innovationen im Zusammenhang mit dem Internet der Dinge und der Robotik zu fördern. The Economic Times (2017) schrieb, dass die digitale Wirtschaft in Indien von 2012 bis 2017 von 450 Mrd. US-Dollar bis auf rund 4 Billionen US-Dollar anwuchs. Indien wird inzwischen als eines der wichtigsten Innovationszentren angesehen und der stark wachsende Pool an digitalen Talenten wird die finanzielle Inklusion beeinflussen und weiter für Wachstum sorgen. Werden wissenschaftliche Publikationen innerhalb der Technologie dazugezählt, sind die Zusammenhänge, welche den Erfolg von Innovation-Clustern ausmachen, deutlich. Dazu braucht es Innovationssysteme, Bildungsinfrastruktur und Forschungsmittel. Gemäß der World Intellectual Property Organization (WIPO) werden in Tokyo, Shenzhen-Hong Kong-Guangzhou, Seoul und Peking, gefolgt vom Silicon Valley, die meisten wissenschaftlichen Publikationen innerhalb Technologie geschrieben (Bergquist und Fink 2020). Solche Statistiken zeigen, woran geforscht wird und bestätigen die positive Korrelation zwischen Innovation-Clustern, Wissenschaft und Forschung. Die Verbindung und Nähe von Universitäten, Start-ups, Großunternehmen und technologischen Innovationen sind wichtig für die Standortförderung. Die WIPO kommt zum Schluss, dass Unternehmen mit einer hohen Marktkapitalisierung viel Geld für Forschung und Entwicklung ausgeben. Daraus kann man ableiten, dass dort wo Alphabet, Samsung, Huawei, Roche oder Volkswagen sitzen, besonders viel Innovationen entstehen. Zur Sicherstellung einer langfristigen Innovationsfähigkeit spielt auch die Regierung eine Rolle; sie muss das geistige Eigentum schützen und auf die Innovationspolitik abstimmen. Denn nur wenn die forschenden Institutionen ihre Ergebnisse geschützt sehen, lassen sie sich nieder und unterstützen ein Innovations-Cluster. Patente üben ein großes Gewicht auf die Innovationsfähigkeit aus und so erstaunt es nicht, dass die Schweiz gemäß dem Europäischen Patent­ amt (EPA) am meisten Patentmeldungen –  dank Großkonzernen wie ABB, Nestle, Novartis, Roche – pro Einwohner aufweist (EPA 2023). Innovation und wirtschaftliche

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Entwicklung einer Region und eines Landes sind relevant für den Wohlstand einer Gesellschaft. Wenn also die Schweiz seit nunmehr zwölf Jahren die Innovationsrangliste anführt, geht das einher mit Wohlstand, Lebensqualität und vielen anderen Faktoren, welche eine Volkswirtschaft ausmachen. Kleinere, aber dennoch dominante Cluster gibt es in Israel für Cybersicherheit, Künstliche Intelligenz, Big Data und Analytics. Israel profitiert von seiner hohen Qualität an Forschungseinrichtungen, unternehmensfreundlichen Vorschriften und der globalen Investitionen, welches das international gut vernetzte Land aufbringen kann. Darüber hinaus ist die Kultur sehr unternehmerisch geprägt und zeichnet sich durch Ehrgeiz, Flexibilität und die Missachtung von Konventionen aus. Der Staat ermutigt zu Experimenten und Eigeninitiative, und die Unternehmer haben keine Angst vor Misserfolgen, was Tel Aviv zu einem der weltweit gefragtesten Start-up-Ökosystem macht (Start-up Genome 2021). Dies entspricht genau dem Gegenteil von Schweizer Tugenden. Die Schweiz ist bekannt für ihre Traditionen und wenige der hiesigen Unternehmen gehen große Risiken ein und exponieren sich international mit ihren Visionen. Obwohl konservative Geschäftsmodelle überwiegen, entstand aber unterwartet in der Region Zug und Zürich ein Innovations-­ Cluster für Blockchain, insbesondere für Kryptowährungen. Was als Crypto Valley bezeichnet wird, ist ein schnell wachsender regionaler Cluster, der zunehmend Investitionen und Talente aus der ganzen Welt anzieht.

6.4.2 Das Silicon-Valley-Ökosystem Zu Beginn dieses Kapitels wurde das offene Ökosystem als Wegbereiter für Innovationen erklärt. Die Erfolgsformel eines offenen Ökosystems ist auf der einten Seite die Qualität der Mitglieder und ihre gegenseitigen Interaktionen und auf der anderen Seite die geschichtliche Entwicklung. Darüber hinaus muss ein Gen für Abenteuer, Unternehmergeist und Risiko vorhanden sein, was eine Feldstudie im Silicon Valley zu Tage brachte (Fasnacht 1999). Kalifornien und die Bay Area zogen die ersten risikofreudigen Einwanderer – vorwiegend aus Europa – an, die sich während des Goldrausches 1848–1850 in den Wilden Westen wagten, um reich zu werden. In kurzer Zeit wurde die Bay Area zu einem Magneten für Hunderttausende von Menschen aus aller Welt. Sie alle hatten die gleichen Ziele und Eigenschaften, um sich an die harten Bedingungen anzupassen. Viele von ihnen waren keine Bergleute, sondern bauten ein Ökosystem aus Unternehmen und Dienstleistungen auf, die die Bergleute und ihre Familien benötigten. Wells Fargo diente diesem Ökosystem, indem sie Gold kaufte, und Bankschecks und Wechsel handelte. Das Gold und wertvolle Papiergeld wurden mit einem Netzwerk von Postkutschen schnell, sicher und beinahe überall hin geliefert. Der Goldrausch war ein umwälzendes Ereignis, was Wohlstand in Kalifornien ermöglichte und auch die Demografie Amerikas veränderte. Diese Abenteurer brauchte es, um eine kulturelle Vielfalt und Mentalität zu schaffen, auf der die heutige Wirtschaft aufbaute.

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Nach der Erfindung des Mikrochips erhielt die Bay Area südlich von San Francisco in den 1960er-Jahren den Namen Silicon Valley, der sich auf die vielen Mikrochip-Hersteller bezog, die sich im Tal niederließen, um integrierte Schaltkreise aus Silizium herzustellen. Das Silicon Valley hat sich über Jahrzehnte zu einem bekannten Innovations-Hotspot entwickelt, wenn es um Informations- und Kommunikationstechnologie geht. Ab den 1990er-Jahren dominierten Internet- und Computerfirmen und in jüngster Zeit kann auch im Valley eine Branchenkonvergenz beobachtet werden, wo ausgehend von Technologiefirmen, Geschäftsaktivitäten in alle möglichen Bereiche gehen. Insgesamt handelt es sich beim Silicon Valley um ein historisch gewachsenes Ökosystem, das nicht einfach nachgeahmt werden kann. Heute siedeln sich Unternehmen aus aller Welt in der Bay Area an, um vom Ökosystem zu profitieren. Die weltweit größten Hightech-Firmen haben sich in der Bay Area angesiedelt, in der rund sieben Millionen Menschen leben. Die Marktkapitalisierung der größten Tech-Firmen, die im Silicon Valley gegründet wurden, wird auf rund 3 Billionen US-Dollar geschätzt. Viele von ihnen waren in den 1990er-Jahren kleine Start-­ ups. Das Silicon Valley ist nach wie vor das Epizentrum der Tech-Firmen, aber es gibt auch andere Sektoren wie Luft- und Raumfahrt (NASA, BAE Systems, Lockheed Martin, L3 Technologies), Pharma (Genentech, Amgen, Exelixis), Autos (Tesla, Uber, Google) und Finanzdienstleistungen (Wells Fargo, Charles Schwab, Visa). Während einige in der Bay Area heranreiften, eröffneten andere Zentralen und Büros, um von der Start-up-Szene zu lernen und Technologien für ihr Wachstum und Überleben zu erwerben. Rund ein Drittel der 20 wertvollsten Unternehmen der USA befinden sich im Silicon Valley. Großunternehmen bringen dem Ökosystem Hunderte von neuen Spin-offs und Start-ups, die jedes Jahr neu entstehen. Etwa ein Drittel der 1200 weltweiten Einhörner mit einer Bewertung über einer Milliarde US-Dollar sind in der Bay Area ansässig (CBInsights 2023). Laut einer Umfrage sind mehr als drei Viertel der CEO’s der Meinung, dass der Zugang zu qualifizierten Arbeitskräften und eine unternehmerische Denkweise entscheidend sind, und die Hälfte aller Unternehmen bevorzugt die Nähe zu Kunden und Wettbewerbern sowie zu Universitäten von Weltrang (Silicon Valley Leadership Group 2016). Zum unternehmerischen Ökosystem des Valleys gehörten schon immer kluge Köpfe aus der ganzen Welt. Viele Ideen kommen von Studenten. Folglich werden Start-ups im Silicon Valley oft im Umfeld von Universitäten gegründet. Die renommierten Universitäten Stanford und Berkeley sind gut in die unternehmerische Gemeinschaft integriert. Lizenzen, Patente, Forschungsprojekte und spezielle Programme für Unternehmer sind wichtige Beiträge, die sie zu wichtigen Protagonisten machen, die das Ökosystem zusammenhalten. Viele Beratungsunternehmen arbeiten mit Universitäten zusammenarbeiten. Für einen reibungslosen und offenen Wissensaustausch haben sie im Silicon Valley angewandte Forschungsund Innovationslabore eröffnet, die in ein Netz von Außenstellen integriert sind, um Innovationskapazitäten auf der ganzen Welt nutzbar zu machen. Der einfache Zugang zu Finanzmitteln wird ebenfalls als Erfolgsfaktor angesehen. Geld kennt keine Grenzen, heißt es. Was für Investitionen auf den globalen Finanzmärkten gilt, trifft auf Risikokapital nicht zu. Risikokapitalfirmen (engl. venture capital) konzentrieren sich auf die Finanzierung von Unternehmen in einer bestimmten Branche und

6.4 Regionale Ökosysteme

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Region. Es handelt sich um ein Geschäft zwischen Menschen, das auf gegenseitigem Vertrauen beruht und daher stark mit der Geografie zusammenhängt. Risikokapital ist das dominierende Finanzierungssystem für Start-ups in den Vereinigten Staaten und hat im Silicon Valley eine lange Tradition. Es passt perfekt zum Silicon Valley, da Risiko bedeutet, trotz des Risikos weiterzumachen, und Kapital bedeutet Reichtum, der zur Schaffung von zusätzlichem Reichtum verwendet wird. Andere Innovationszentren tun sich schwer mit dem Aufbau eines eigenen lebendigen, nachhaltigen Risikokapitalgeschäfts. Risikokapitalgeber interessieren sich für den lokalen Unternehmer und die Skalierbarkeit des Unternehmens und haben ein Auge für das nächste große Geschäft – im Gegensatz zu hiesigen Banken, die Zinsen und Kreditrisiko in den Vordergrund stellen. Risikokapitalgeber verwalten zwar das von externen Anlegern beschaffte Geld und legen es in Risikokapitalfonds an, aber sie fördern auch den unternehmerischen Prozess und beteiligen sich an der Unternehmensentwicklung. Im Laufe der Jahrzehnte wuchsen die Risikokapitalgeber im Silicon Valley; einige von ihnen waren einst auch auf der Suche nach Geld. Das etablierte Risikokapitalsystem und Firmen wie Accel Partners, Andreessen Horowitz, Draper Fisher Jurvetson, Kleiner Perkins Caufield & Byers und Sequoia Capital, um nur einige zu nennen, fungieren als Partner und tragen wesentlich zum Erfolg des Ökosystems bei. Business Angels sind eine weitere Besonderheit des Silicon Valley, denn diese unabhängigen Investoren stellen ihr eigenes Geld für spezielle Geschäftsideen zur Verfügung. Sie agieren in der Regel als Ratgeber und Mentoren und sehen sich selbst eher als Philanthropen. Es gibt auch andere Einrichtungen, die Start-ups finanzieren, wie strategische Investoren. Viele von ihnen waren zuvor Gründer und Führungskräfte von Start-ups und ­versuchen, durch Investitionen in neue Unternehmen finanziellen Erfolg aber auch Lebenserfüllung und Ansehen zu finden. Aufgrund des starken Finanzierungsnetzes und des Fachwissens von Risikokapitalgebern und Business Angels ziehen Unternehmer, die in ihrem Ursprungsland kein Gehör für ihre Ideen und keinen Zugang zu Geldmitteln finden, in die Bay Area, um dort ihr Glück zu probieren. Neben all diesen traditionellen und tief verwurzelten Finanzierungsformen des Silicon Valley gibt es eine neue Art von Finanzierungsinstrumenten. Der Silicon Valley Syndicate Club, CoinList, Product Hunt und Republic gehören zu einer Familie digitaler Investitionsplattformen, die Syndikate ins Leben gerufen haben, die sowohl normalen als auch professionellen Investoren Möglichkeiten bieten, sich an Start-ups zu beteiligen. Investitionssyndikate sind private Risikokapitalfonds, die gegründet wurden, um eine einzige Investition zu tätigen, in der Regel, um sich an einem Lead-Investor-Deal zu beteiligen. Der Lead-Investor ist bei einem Syndikat von Risikokapital-Gesellschaften derjenige mit dem größten Anteil. Solche Geschäfte werden von erfahrenen Investoren geleitet und von erfahrenen Business Angels, einer Gruppe von Einzelpersonen, Risikokapitalgebern oder institutionellen Anlegern finanziert. Syndikate kannibalisieren kleinere Risikokapitalgeber. Wie festgestellt wurde, gilt generell Equity-Crowdfunding als ernsthafter Trend, der das Investitionsmodell für Start-ups in einem Ökosystem bereichert.

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Der Aufstieg des Ökosystems Silicon Valley wird auch durch die rechtliche Infrastruktur begünstigt, welche die rasche Gründung und Expansion von Start-ups unterstützt, aber auch zum Schutz des geistigen Eigentums dient. Mit dem Wachstum des Technologiesektors eröffneten mehrere Anwaltskanzleien Büros in diesem Gebiet. Einige Merkmale des kalifornischen Rechts, wie das Untersagen von Wettbewerbsklauseln in Arbeitsverträgen, unterstützen Unternehmer und helfen Neugründungen auf Kosten von Großunternehmen. Das Silicon Valley ist eines der ältesten regionalen Innovationszentren weltweit und bestätigt die positiven Effekte eines Clusters, wenn möglichst diverse Rollenarchetypen integriert sind. Es beinhaltet etliche Erfolgsgeheimnisse: die Symbiose zwischen Start-ups und Großkonzernen ist allerdings ebenso wichtig, wie der Fluss von Wissen und Risikokapital oder die Fehlerkultur. Obwohl die Technologiebranche seit nunmehr 50 Jahren dominiert, hat die Region in letzter Zeit auch andere Branchen angezogen. Viele Unternehmen sind aber vor allem deshalb im Silicon Valley, weil sie dort Zugang zu den neuesten technologischen Trends haben. Ein profundes Verständnis, woher die verschiedenen Mitglieder des Ökosystems kommen, was sie heute sind und wie sie zusammenwirken ist wichtig. Die Geschichte, das Erbe, die offene Innovationskultur, Wissen und Finanzmittel haben zu einem sozialen und geschäftlichen Ethos geführt, was Innovation und Unternehmertum über Jahrzehnte hinweg begünstigt hat. Das Silicon-Valley-Ökosystem ist einzigartig und lässt sich nur schwer imitieren. Politische Entscheidungsträger und Förderer von aufstrebenden Innovationszentren sowie große Unternehmen und Start-ups können alle vom Silicon Valley lernen. Die Bay Area hat unterdessen mindestens sieben Generationen von Gründern erlebt, während jüngere Ökosysteme noch dabei sind, ein Fundament aus Wissen und Kapital aufzubauen.

6.4.3 Das Crypto-Valley-Ökosystem Die Schweiz ist eine der weltweit führenden Volkswirtschaften in Bezug auf Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität  – die wichtigsten Triebkräfte für Wirtschaftswachstum und Innovation. Sie verfügt über ein hochwertiges Bildungssystem mit erstklassigen Institutionen, wie der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH/EPFL), der Universität Zürich mit dem UBS International Centre of Economics in Society, der Universität St. Gallen und vielen mehr. Renommierte Forschungsinstitute und Innovationslabors sind zum Beispiel das Paul-Scherrer-Institut (PSI) für Natur- und Ingenieurwissenschaften, IBM Research Europa, wo unter anderem an Schlüsseltechnologien wie dem Quantencomputer geforscht wird, das EMPA für Materialwissenschaften oder Google Research Europa, wo KI-Anwendungen für die ganze Welt entstehen. Alle diese Institute finden sich auf einer Fläche von weniger als 2000 Quadratkilometern (die Bay Area entspricht etwa 19.000 Quadratkilometern). Die Schweiz und das Silicon Valley geben für Forschung und Entwicklung pro Kopf der Bevölkerung etwa gleich viel aus – was viel mehr ist als die meisten anderen Innovationszentren. Was das Silicon Valley für Computer und Technologie ist, ist die Schweiz für

6.4 Regionale Ökosysteme

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Finanzen. Es ist immer noch eines der wichtigsten globalen Finanzzentren mit rund 250 nationalen und internationalen Banken. Das Land bietet hervorragende inländische und globale Geschäftsnetzwerke, ein flexibles Arbeitsrecht, wenig Bürokratie, ein ausgeklügeltes, angesehenes Rechtssystem, wenig Korruption, die Verfügbarkeit von Investitionskapital, niedrige Unternehmens- und Personensteuern, ein hohes Dienstleistungsniveau und ein umfassendes Netz von Freihandelsabkommen mit allen wichtigen Handelsnationen. Dies sind alles relevante Faktoren für den Aufbau eines nachhaltigen Ökosystems – unabhängig von dessen Größe. Die Schweizer Stadt Zug, neben Zürich gelegen, sieht kaum wie ein Zentrum der globalen technologischen Innovation aus. Mit ihrer mittelalterlichen Altstadt, ihren Kirchtürmen und ihrer ruhigen Lage an einem See, ähnelt die Stadt eher einer Filmkulisse. Doch in den letzten Jahren hat sich Zug – und mit ihm die ganze Schweiz – zu einem der weltweit führenden Standorte für Blockchain- und Kryptotechnologie entwickelt und sich damit den Beinamen Crypto Valley verdient. Das Crypto Valley ist einzigartig positioniert, um das dezentralisierte politische System der Schweiz und sein unvergleichliches Geschäftsumfeld für Blockchain-Anwendungen zu nutzen. Das Gebiet bietet aufgrund der Offenheit und leichten Zugänglichkeit seiner lokalen Regierung ein überschaubares und anwendungsspezifisches Ökosystem. Das geschäftsfreundliche Umfeld und die hohe Lebensqualität haben viele der weltweit führenden Blockchain-Unternehmen angezogen und eine internationale, kosmopolitische Innovationskultur sowie einen einfachen Zugang zu leistungsstarken globalen Netzwerken geschaffen. Mit ihrer föderalistischen, von unten nach oben gerichteter politischer Kultur, ist das Schweizer System ein natürlicher Partner für die dezentralisierten, von unten nach oben gerichteten Blockchain-Technologien der Zukunft. Die Wurzeln des Crypto Valley liegen in der frühen Schweizer Bitcoin- und Blockchain-­ Szene. Frühe Akteure wie die Bitcoin Association Switzerland und Bitcoin Suisse, die heute eine der bekanntesten Kryptowährungsbörsen ist, spielten eine wichtige Rolle. Das Ökosystem erhielt 2014 einen großen Schub, als die Ethereum Foundation Zug als ihren Sitz wählte. Vitalik Buterin, der Gründer von Ethereum, war scheinbar so beeindruckt von der Blockchain-Szene, die er in der Schweiz vorfand, dass der Namen „Crypto Valley“ dabei entsprang. Als zweitwichtigste Kryptowährungsplattform nach Bitcoin verschaffte die Präsenz von Ethereum dem Crypto Valley einen hohen Bekanntheitsgrad in der globalen Blockchain-Welt. Dadurch entdeckten immer mehr Start-ups das Ökosystem und begannen, sich hier niederzulassen oder umzusiedeln, weil ihnen das, was sie sahen, gefiel. Als Anfang 2017 die Crypto Valley Association (CVA) gegründet wurde, um in der Schweiz das weltweit führende Ökosystem für Blockchain- und Kryptotechnologien zu schaffen, war der Grundstein also bereits gelegt. Die Crypto Valley Association arbeitet daran, diese Dynamik auf verschiedene Weise zu unterstützen und zu kanalisieren. Sie sponsert oder beteiligt sich an einer großen Anzahl von Veranstaltungen. Das Crypto Valley Forum, das die viel beachteten First Tuesday Meetups veranstaltet, hat sich zu einem wichtigen Mittel für Projekte entwickelt, um sich der Gemeinschaft vorzustellen. Die Crypto Valley Conference (2023) war die erste IEEE-­

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zertifizierte Blockchain-Konferenz der Welt. Die Mitgliedsunternehmen der Crypto Valley Association waren auch für eine Reihe anderer bemerkenswerter Schweizer Konferenzen verantwortlich, vom ICO Summit von Smart Valor und dem Blockchain Summit Crypto Valley von Lakeside Partners bis zur jährlichen viertägigen Konferenz Crypto Mountain Rocks in Davos, die von der B.ACADEMY gesponsert wird. Die Mitglieder unterstützen das Ökosystem auch auf andere Weise. Der neue Co-­ Working-­Space Crypto Valley Labs von Lakeside in Zug zum Beispiel, der im ersten Monat fast 100 Start-ups angezogen hat, bietet jungen Innovatoren einen Ort zum Arbeiten, Treffen und Ideenaustausch. Die Crypto Valley Association beteiligt sich auch aktiv an der regulatorischen und politischen Debatte in der Schweiz. Sie ist Mitglied der Blockchain Task Force des Bundes und pflegt gute Beziehungen zur Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (FINMA), mit der sie zum Beispiel beim jüngsten Roundtable zu den ICO-­ Richtlinien zusammengearbeitet hat. Ein weiteres Gründungsmitglied der Vereinigung, die Anwaltskanzlei MME (die an der Gründung der Ethereum Foundation beteiligt war), hat sich als eine der führenden Krypto-Anwaltskanzleien der Welt etabliert und berät zahlreiche in der Schweiz ansässige ICOs und leistet wichtige Beiträge zur globalen politischen Diskussion. Das Crypto Valley hat auch in dieser Hinsicht einen guten Start hingelegt und beherbergt prominente Blockchain-Unternehmen wie ConsenSys, ShapeShift, Cardano, SingularDTV, Status und Xapo, neben vielen anderen. Vielleicht noch wichtiger ist, dass das Ökosystem bereits einige vollständig einheimische (in der Schweiz gegründete, in der Schweiz ansässige) Erfolge vorweisen kann, wie Melonport in der digitalen Vermögensverwaltung oder Ambrosus in der Lieferkette. All dies verheißt Gutes für die Zukunft, da sich das Crypto Valley von seiner Anfangsphase zu einem reifen, nachhaltigen und ­hoffentlich florierenden Standort für Blockchain-Unternehmen und damit zu einem weltweit führenden Standort für diese Technologie entwickelt, die in vielen Branchen Einzug erhalten wird Das Crypto Valley wird als ein lebendiges Ökosystem auf kleinem Raum für eine ganz bestimmte Gemeinschaft wahrgenommen. Wie bei jedem Ökosystem ist es naheliegend, dass sich auch andere Branchen beteiligen und ihre Dienste anbieten. Nach Angaben der Crypto Valley Association sind weit über 1100 Unternehmen im Ökosystem aktiv, die eine breite Palette von Sektoren abdecken, von den erwarteten Blockchain-, Finanzdienstleistungs- und Fintech-Unternehmen bis hin zu den Bereichen Regierung, Recht, Versicherung, Personalwesen, Telekommunikation und Unterhaltung. Unter den Top 50 Unternehmen finden sich Brands, wie Ethereum, Solana, Cardano, Web3 Foundation oder Banken mit einer offiziellen Finma-Banklizenz, wie Sygnum und SEBA, welche zusammen einen Marktwert von rund 600 Mrd. Schweizer Franken aufweisen, darunter 14 Einhörner (CV VC 2022). Unter den strategischen Partnern befinden sich mehrere unterstützende und akademische Partner, die aktiv dazu beitragen, einen Mehrwert für das Ökosystem zu schaffen. Strategische Partner der Crypto Valley Association sind neben den Universitäten, der Kanton Zug, Beratungsunternehmen, Großunternehmen, aber auch Schweiz Tourismus oder das Swiss Economic Forum. Es gibt diverse Arbeitsgruppen für Cybersecurity,

6.5 Ökosysteme zur Förderung der finanziellen Inklusion

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Weiterbildung, Unternehmensgründungen, Investoren, Regulatorien, Steuern und Buchhaltung. Letzteres ist besonders sinnvoll, da Initial Coin Offerings, Tokenisierung und Non-fungible Tokens (NFT) neue Dimension des Urheber- und Kapitalmarktrechts, sowie für die Besteuerung und Rechnungslegung darstellen. Entwicklungen und ein Rechtsrahmen in diesen Bereichen sind von entscheidendem Interesse. Traditionelle Banken wie die Zuger Kantonalbank oder die Crypto Valley Labs, ein vollständig digitalisierter Co-­ Working Space im Herzen des Crypto Valley, bieten eine Reihe von Dienstleistungen für die weltweite Blockchain-Community. Der Kanton Zug hat bei der Nutzung der Blockchain-­Technologie eine Vorreiterrolle eingenommen. So ist er die erste Gemeinde weltweit, die mit einer Blockchain-basierten digitalen Identitätsplattform Bitcoin für staatliche Dienstleistungen akzeptiert. Im Jahr 2018 wurde mit CV VC (Crypto Valley Venture Capital) die erste Risikokapitalfirma nach amerikanischem Vorbild gegründet, die seitdem Investitionen im Crypto Valley fördert. Auch wenn Kryptowährung und deren Handel durch makroökonomische und geopolitische Turbulenzen, konkret, steigende Zinsen sowie durch die Konkurse der Kryptobörse FTX an Vertrauen verloren, wird die Blockchain-Technologie bestand haben. Die Welt wird immer dezentraler und verteilter und der beste Weg, das Potenzial der Blockchain zu nutzen, besteht darin, die Möglichkeiten des Ökosystems auszutesten. Neben den erläuterten regionalen Ökosystemen (Silicon Valley und Crypto Valley), gibt es verschiedene technologiegestützte Möglichkeiten, traditionelle Geschäftsmodelle herauszufordern. Nicht alle Ökosysteme verlangen nach bahnbrechenden Innovationen, wie das nächste Beispiel des Ökosystems für finanzielle Inklusion in China zeigt.

6.5 Ökosysteme zur Förderung der finanziellen Inklusion Ökosysteme mit Fokus auf sozialer Gerechtigkeit werden immer wichtiger. Viele Schwellenländer suchen einen besseren Zugang ihrer Bürger aus unteren Einkommensschichten zu Finanzdienstleistungen. Dabei sind ländliche Gebiete meist unzureichend versorgt und müssen in die Finanzströme integriert werden, damit der Wohlstand steigen kann. Der englische allgemein verwendete Begriff hierzu ist Financial inclusion. Alternative Ökosystemen können helfen, Menschen in Gebieten, wo es keine Infrastruktur oder große Armut gibt, mit finanziellen Dienstleistungen zu versorgen. Nach Angaben der Weltbank haben etwa ein Drittel der erwachsenen Weltbevölkerung und mehr als 200 Mio. Kleinst- und Kleinunternehmen (KKU) in Entwicklungsländern keinen Kredit, keine Ersparnisse oder Versicherungen bei einem Finanzinstitut. Dabei handelt es sich um nicht technikaffine und arme Menschen, die nicht nur einen Kredit benötigen, sondern eine breite Palette von Finanzprodukten nachfragen. Die Mikrofinanzierung war eine Pionierinitiative, um die besonderen Bedürfnisse armer Unternehmer und kleiner Unternehmen zu erfüllen, die keinen Zugang zu Bank- und anderen Dienstleistungen haben. Was vor 40 Jahren begann, hat sich in jüngster Zeit zu einem Finanzökosystem-Ansatz zur Förderung der finanziellen Eingliederung entwickelt. Man mag einwenden, dass es sich dabei nur um ein kostengüns-

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6  Offene Ökosysteme

tigeres Geschäftsmodell handelt, das für Banken uninteressant ist. Dem kann widersprochen werden, denn Ökosysteme haben in Bereichen wie der finanziellen Eingliederung große Auswirkungen auf Volkswirtschaften, aber auch auf das Geschäft der Banken. Der Aufbau von Ökosystemen in diesem Nischenmarkt ist sehr innovativ und disruptiv, da ein solches Netzwerk mehrere Unternehmen miteinander verbindet und die neuesten Mobiltechnologien sowie Online- und Agency-Banking-Modelle nutzt. Letzteres ist besonders relevant, da mit Agency Banking eine Art des filiallosen Bankwesens entsteht, das es den traditionellen Banken ermöglicht, ihr Filialnetz und ihre Dienstleistungen auf kosteneffiziente Weise durch autorisierte Vertreter zu erweitern. In Entwicklungsländern ist Agency Banking beliebt, weil es Dienstleistungen verfügbar macht und die finanzielle Eingliederung von Randgruppen unterstützt. Darüber hinaus besteht das Versprechen, die Bevölkerung ohne Bankverbindung mit einer breiteren Palette von Lösungen zu erreichen, die besser auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. Der Begriff finanzielle Eingliederung wird heute allerdings für ein breites Spektrum von Dienstleistungen verwendet, darunter Zahlungen, Sparen und Kredite. Die Weltbank fördert Initiativen zur finanziellen Eingliederung, und es gibt etliche Projekte, die von Mexiko über Madagaskar bis nach Indien und Bangladesch reichen. In jüngster Zeit hat China große Anstrengungen unternommen, um die Armut zu lindern, und es wurden verschiedene Subventionen eingeführt, um Bauern zu unterstützen und landwirtschaftliche Aktivitäten zu fördern. Das chinesische Beispiel für finanzielle Eingliederung wurde ausgewählt, weil es einen fortschrittlichen Ökosystemansatz und einen ausgeklügelten Einsatz von Technologie bietet. Eine Untersuchung in der Region Ningbo in China, einer bevölkerungsreichen Yangtse-Mündungsregion mit rund 10 Mio. ­Einwohnern, zeigt eine erfolgreiche systematische Entwicklung (Zhou und Hua 2018). In Ningbo, Chinas erster zentraler Region und einer Modellstadt für finanzielle Inklusion, wurden bis Ende 2017  in 2273 Dörfern mehr als 3200 Netzwerkpunkte für Finanzdienstleistungen eingerichtet, die alle Städte und Dörfer in dieser Region abdecken. Die elektronischen Dienstleistungsplattformen in diesen Netzwerkpunkten helfen den Bauern in Ningbo, virtuelle Finanzdienstleistungen wie Bargeldmanagement, Geldtransfer und Kreditanträge unter der Anleitung und mit der Hilfe von Mitarbeitern in den Netzwerkpunkten zu nutzen, ohne die traditionellen Finanzinstitute zu besuchen. Von 2012 bis 2016 wuchsen diese bargeldlosen Zahlungsgeschäfte rasant. Im Jahr 2016 belief sich die Zahl der bargeldlosen Zahlungstransaktionen traditioneller Finanzdienstleister in China auf 125 Mrd. mit einem Gesamttransaktionswert von 553 Billionen US-Dollar, was einem Wachstum von 304 % bzw. 287 % seit 2012 entspricht. Die Entwicklung des internetbasierten und mobilen Zahlungsverkehrs hat es den Kunden ermöglicht, Zahlungen vorzunehmen, ohne einen Finanzdienstleister oder eine Verkaufsstelle aufsuchen zu müssen, was den Komfort und die Sicherheit von Zahlungen erheblich verbessert und die Zahlungskosten gesenkt hat. Im Zuge des Wandels der traditionellen Finanzdienstleistungsbranche hat die People’s Bank of China, Zweigstelle Ningbo, eine öffentliche mobile Plattform aufgebaut, die Finanzdienstleistungen für Fischer und Bauern in abgelegenen Gebieten anbietet und über die die Kreditvergabe an diese beiden Personengruppen innerhalb kurzer Zeit um

6.5 Ökosysteme zur Förderung der finanziellen Inklusion

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302 % gestiegen ist. Sie hat auch eine digitale Kreditinformationsplattform aufgebaut, die Kreditinformationen von lokalen Geschäftsbanken, Regierungsstellen, Telekommunikationsunternehmen und öffentlichen Einrichtungen sammelt. Im Durchschnitt werden täglich über 7000 Kreditanfragen von verschiedenen Akteuren wie Geschäftsbanken gestellt. Das Kreditsystem in ländlichen Gebieten wurde durch die Einrichtung dieser digitalen Kreditinformationsplattform erheblich gestärkt und deckt derzeit 85 % der Bauern in Ningbo ab. In dem riesigen Land China nimmt der Wandel überall Gestalt an. China UnionPay (CUP) hat versuchsweise einen Zahlungsdienst mit CUP-Karten eingeführt, der die Beschaffung von landwirtschaftlichen Produkten in Getreideanbaugebieten ermöglicht. Mit Unterstützung des bargeldlosen Abrechnungssystems von CUP können Getreidemakler und -käufer die Landwirte direkt und in Echtzeit über POS-Terminals bezahlen, was nicht nur den Komfort für die Landwirte erhöht, sondern auch die Betriebskosten für die Käufer senkt. Den Daten von CUP zufolge überstieg der Transaktionsumsatz im Jahr 2015 landesweit 30 Mrd. US-Dollar. In den ländlichen Gebieten hat China UnionPay (CUP) einen experimentellen Zahlungsdienst mit CUP-Karten eingeführt, der den Erwerb von landwirtschaftlichen Produkten ermöglicht. Mit Hilfe des bargeldlosen Abrechnungssystems von CUP können Bauern, die landwirtschaftliche Produkte an Käufer verkaufen, die Vorteile von Point-of-Sale-Terminals nutzen, um Transaktionsgelder zu erhalten und damit den Komfort zu erhöhen und die Betriebskosten für Käufer zu senken. Laut CUP überstieg der Transaktionsumsatz im Jahr 2015 landesweit mehr als 30 Mrd. US-Dollar. Darüber hinaus haben Geschäftsbanken, wie beispielsweise die Shanghai Pudong Development Bank, neue Geschäftszweige entwickelt. Mit dem Umtausch von Zahlungsmitteln in Kreditkarten wurde Kunden ermöglicht ihr Geschäftseinkommen zu erhöhen. Bei diesem Geschäftszweig können die Kunden die Grundsätze des Umtauschs zwischen geführten und angeforderten Geschäften im Voraus entsprechend ihren eigenen geldbezogenen Verwaltungsplänen festlegen und dabei anpassungsfähigere, maßgeschneiderte Produkte in Betracht ziehen, die den besonderen Bedürfnissen der Käufer entsprechen. Einige Banken haben Instrumente geschaffen, die es kleinen Unternehmen ermöglichen, ihre bankübergreifenden Unterlagen zu verwalten. Der von der Huaxia Bank geschaffene bankenübergreifende Rahmen für die Verwaltung von Rücklagen kann beispielsweise die meisten Kleinst- und Kleinunternehmen (KKU) mit verschiedenen Finanzbilanzen verbinden. Innerhalb dieses Ökosystems können kleine Unternehmen kontinuierlich Bewegungen und Anfragen über ihre verschiedenen Guthaben vornehmen und verschiedene andere geldbezogene Verwaltungsgeräte nutzen, wodurch die allgemeinen Kosten für den Geldwechsel gesenkt werden. Das Financial Inclusion-Ökosystem umfasst verschiedene Quellen mit dem übergeordneten Ziel, eine nachhaltige Wirkung zu erzielen. Obwohl die neue Form der Zahlungsdienste die traditionellen Unternehmen verändert, arbeiten etablierte Finanzdienstleister mit Fintechs, Technologieunternehmen, Forschungsinstituten sowie staatlichen und öffentlichen Einrichtungen zusammen. Schließlich macht das Financial Inclusion Centre der Universität Nottingham mit seinen internationalen Innovationszentren als Plattform für Technologie und Ideen dieses Ökosystem zu einem umfassenden System, welches auch

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6  Offene Ökosysteme

einen signifikanten Beitrag zum Gemeinwohl der Volkswirtschaft schafft. Durch die Nutzung des Innovations- und Unternehmerpotenzials innerhalb und außerhalb eines vielfältigen und anregenden Umfelds wird auch das Sozialsystem gefördert. Denn, obwohl die Akteure des Financial Inclusion-Ökosystems danach streben, Geld zu verdienen, tun sie etwas Gutes und werden eher als Entwicklungskooperation als Wirtschaftsökosystem betrachtet. Dies steht im Gegensatz zu den folgenden Beispielen, wo mit einer Ökosystemstrategie versucht wird, möglichst rasch zu skalieren.

6.6 Sektorübergreifende Ökosysteme 6.6.1 Auf dem Pfad der schnellen Skalierung Damit Wertschöpfungskonstellationen skalieren, braucht es einen Zugang zu einem breit diversifizierten Ökosystem, in dem die gemeinsame Wertschaffung mit internen und externen Geschäftspartnern Modus Operandi ist. Dazu müssen Führungskräfte Open Innovation von allen Teilnehmern fordern und unterstützen, anstatt sich auf bestimmte Geschäftsbereiche und Partnerfirmen zu beschränken. Sie müssen lernen, Kunden und Gemeinschaften sowie die von Maschinen generierten Daten zu integrieren. Um in einer offenen und globalen Welt kontinuierlich zu wachsen, müssen Ökosysteme über mehrere Branchen hinweg gedacht werden. Diese Verschmelzung beinhaltet auch multiple Technologien. Einige Plattform-Anbieter generieren bereits Mehrwert durch Brachen- und ­Technologiekonvergenz, indem Verbraucher alle Arten von Waren und Dienstleistungen über sie beziehen können. Es sind meist Tech-Giganten, welche die Fähigkeiten haben, diverse Daten, einschließlich Kundeninformationen, zu aggregieren, interpretieren und dann wiederum für neue Produkte, Dienstleistungen und Zugangskanäle anzubieten. Innerhalb eines solchen branchenübergreifenden Ökosystems werden der Kundenstamm und das Wissen über Konsumenten und Märkte ständig mit Hilfe von Algorithmen erweitert. Dieses System wächst exponentiell durch Netzwerkeffekte, wenn neue Teilnehmer dazukommen und Interaktionsmöglichkeiten schaffen. Wenn das System eine gewisse kritische Größe und Reichweite erreicht hat, wird es zu einem Selbstläufer. Plattform-Anbieter gehen als Gewinner hervor, solange es einen Markt gibt, der Daten höher gewichtet als Produkte. Derartige Märkte entwickelten sich in den letzten zehn Jahren vor allem in den USA und in China. Die wirtschaftliche Vermögens- und Machtverschiebung Richtung Asien wird weiter dafür sorgen, dass dort mächtige technologiegestützte sektorübergreifende Ökosysteme entstehen.

6.6.2 Mit Technologie neue Geschäftsfelder erschliessen Die Vision digitaler Ökosysteme besteht darin, technologische Fähigkeiten zu nutzen und schnell in verschiedene Unternehmen einzudringen. Die Unternehmen kommen in der Regel aus dem E-Commerce- oder Internetgeschäft und verfügen über digitale Plattfor-

6.6 Sektorübergreifende Ökosysteme

173

men, auf denen die Kunden Zugang zu einer Vielzahl von Produkten und Dienstleistungen haben. Die Plattformen sind immer und überall verfügbar und bequem und mobil zugänglich. Die Integration mit sozialen Medien, Gamification-Elementen und einfachen Zahlungsfunktionen sind Standard. Technologie- und Fintech-Firmen spielen dabei eine immer wichtigere Rolle. China ist einer der aufstrebenden globalen Technologie-­Marktführer und hat die damit verbundenen Ressourcen und das Wissen für den Aufbau von technologieunterstützten Ökosystemen eingesetzt. Die nachfolgenden Erläuterungen von Zhou und Hua (2018) zeigen, wie neue Marktteilnehmer im chinesischen Finanzsektor mit neuen Geschäftsmodellen, Vertriebskanälen und Produkten, von Netzwerkeffekten durch die Verflechtungen zwischen E-Commerce und Social-Media-Plattformen profitieren. Das rasante Wachstum der Fintech-­ Unternehmen in China lässt sich zum Teil auch dadurch erklären, dass sie in der Lage sind, die unbefriedigte Nachfrage von Verbrauchern und Kleinst- und Kleinunternehmen (KKU) anzuzapfen, die von traditionellen Finanzdienstleistern, die sich auf die Bedienung staatlicher Unternehmen konzentrieren, oft vernachlässigt wurden. So ist beispielsweise der digitale Zahlungsverkehr in Ningbo von 2014 bis 2016 um 184 % gestiegen. Die Erfahrungen in Ningbo zeigen, dass die Entwicklung digitaler Tools nicht nur traditionellen Finanzinstituten und neu entstandenen Fintechs die Möglichkeit gibt, finanzielle Inklusion zu ermöglichen, sondern auch positive Auswirkungen hat, die über den Bereich der Finanz­ industrie hinausgehen und die Entwicklung der Gesellschaft vorantreiben. Diejenigen, die früher auf informelle Finanzierungskanäle angewiesen waren, um sich von ­finanziellen Zwängen zu befreien, wie arme Bauern, Kleinst- und Kleinunternehmer, Arbeitslose, ältere Menschen und Behinderte, werden nun in das formelle Finanzsystem einbezogen. Einige neue Teilnehmer am Markt für Kundengelder, wie beispielsweise Alibaba und Tencent, haben die herkömmliche Geldverwaltung mit innovativen Produkten zu einem gemeinsamen Bestreben verändert, um die unterversorgten Bevölkerungsschichten zu entwickeln. Kontinuierliche Verbesserungen und Weiterentwicklungen werden es ermöglichen, die Anforderungen der Gesamtbevölkerung an die Risiko- und Haushaltsverwaltung besser zu erfüllen und haben ein großes Potenzial. Alipay kam 2004 auf den Markt, um Zahlungen  – und in diesem Sinne auch den Geschäftsaustausch  – auf den von Alibaba betriebenen Online-Geschäftsplattformen (Taobao, Tmall) zu fördern. Alipay bot ein System an, durch das die vom Käufer gegebenen Reserven so lange gebunden werden konnten, bis der Käufer den erworbenen Artikel erhielt und bestätigte, dass er zufriedenstellend war. Anschließend wurde erst der Kaufpreis an den Händler ausgezahlt. Mit diesem Prozess wurde ein grundlegendes Problem angegangen, welches das Internetgeschäft in China in seinen Anfangstagen behinderte: das fehlende Vertrauen zwischen Käufern und Händlern. Im folgenden Jahr stellte Tencent auf seiner Informationsplattform QQ eine Zahlungsplattform namens Tenpay vor, mit dem Kunden so für webbasierte Spiele und Musikkäufe bezahlen konnten. Ab 2009 wurden diese internetbasierten Zahlungsdienste an mobile Anwendungen angepasst, um vielseitige Zahlungen zu fördern. Tenpay wurde beispielsweise in die WeChat-Anwendung als E-Wallet integriert, die mit einem aktuellen Guthaben oder einer

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6  Offene Ökosysteme

Kreditkarte verbunden ist. In Anbetracht des größeren Umfangs der genutzten Zahlungsmöglichkeiten, einschließlich des Austauschs von Einzelpersonen, der Zahlung von Gebühren und der Buchung von Reisen, fördern QR-Codes einige dieser Austauschvorgänge. Andere Zahlungsanbieter, die keine Banklizenz besitzen, traten ebenfalls in den fortgeschrittenen Bereich ein, darunter China UnionPay und China Telecom. Der privatwirtschaftliche Duopol, Alipay und WeChat Pay, hat unzählige Kunden erreicht und deckt heute rund 95 % aller mobilen Bezahldienstleistungen in China ab. Ungeachtet der rasanten Entwicklung nahm der chinesische Regulator zunächst eine abwartende Haltung ein und ermöglichte es den aufstrebenden Start-ups, sich mit einigen wenigen Einschränkungen zu verbessern und zu entwickeln. Die beiden wichtigsten bankenunabhängigen Anbieter von Vorauszahlungen mit dem größten Volumen im Jahr 2016 waren Alipay und TenPay (heute WeChat Pay). Für einige chinesische Kunden haben Zahlungen auf diesen Plattformen lange Zeit erfolgreich Geld und Bankkarten für den täglichen Austausch ersetzt. Die Vision bleibt: mit digitaler finanzieller Inklusion die Möglichkeiten nutzen, eine bessere Welt für mehr Menschen zu geringeren Kosten zu schaffen. Das starke Wachstum der Fintech-Branche hat aber auch Schatten auf den Verbraucherschutz geworfen. Die Zunahme von Online-Betrug sowie ein Mangel an Gesetzen zum Datenschutz und zum Schutz der digitalen Privatsphäre bedrohen viele Innovationen. Auch wenn der digitale Renminbi (E-Yuan), Transaktionen ohne Internetzugang, Bargeld und eigenes Bankkonto zulässt, muss auch China ein Gleichgewicht zwischen Anwendungen und Kontrolle finden. Entsprechend hat China seit 2021 etliche regulatorische ­Änderungen eingeführt. Das seit September 2021 in Kraft stehende Gesetz zum Schutz personenbezogener Daten, verlangt von App-Entwicklern, dass sie den Nutzern die Möglichkeit geben, zu entscheiden wie ihre Daten genutzt oder nicht genutzt werden, dazu gehört auch die Weitergabe von Daten zu Marketingzwecken. Auch müssen neu, Datenverarbeiter die persönliche Zustimmung einholen, wenn sie biometrische Daten, medizinische und Gesundheitsdaten, Finanzinformationen und Standortdaten verarbeiten wollen. Dies hat Auswirkungen auf alle Bereiche, die in den letzten Jahren eine wegweisende Rolle im Wirtschaftswachstum spielten und betrifft besonders sektorübergreifende Ökosystem, da diese sensiblen Daten aus dem Finanz- und Gesundheitsbereich verbinden und verwenden.

6.7 Gesundheits-Ökosysteme 6.7.1 Daten im Zentrum Die Herausforderungen im Gesundheitssektor im Zeitalter der Plattformökonomie sind vielfältig. Dabei haben alle disruptiven Technologien sei es, Künstliche Intelligenz, Blockchain, Augmented Reality, Cloud Computing oder der Quantencomputer signifikante Auswirkungen. Computer übernehmen eine immer wichtigere Rolle bei der Diagnose von Krankheiten. Algorithmen sind uns überlegen bei der Auswertung von unüberschaubaren

6.7 Gesundheits-Ökosysteme

175

Datenmengen und bei der Analyse von Korrelationen vieler gesundheitsrelevanter Faktoren. Mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz können zwar Röntgenbilder in der Radiologie interpretiert werden, was aber noch fehlt, sind kausale Zusammenhänge und der Bezug zur realen Welt. Obwohl Künstliche Intelligenz Röntgenbilder interpretieren und Krankheiten wie Krebs voraussagen kann, braucht es eine neue Generation von kausalen Algorithmen, die erklären, wieso etwas diagnostiziert wurde oder welche Ursachen und Wirkungen einen Einfluss auf die Genesung haben. Wie in anderen Sektoren steigen seit Jahren die Komplexität und die Kosten im Gesundheitswesen. Studien des Gottlieb Duttweiler Institutes, einer der bedeutendsten Think-Tanks in der Schweiz, haben festgestellt, dass Gesundheitsprobleme auch immer Informationsprobleme sind (Frick et al. 2020). Die exponentielle Zunahme an Gesundheitsdaten, Mess- und Analyseinstrumenten, ausgelöst durch persönliche Fitness- und Gesundheitstracker ist auffallend. Mit Smartwatches und Sensoren in Kleidern kann jeder Schritt aufgezeichnet und die Gesundheit 24 h, während sieben Tagen in der Woche überwacht werden. Die Messdaten von Herzfrequenzen, Blutdruck, Blutfettwerte, Gewicht, Körperfett, Wasseranteil, Glukosespiegel, Schlafstatistiken, Knochen- und Muskelmasse oder Eisprung- und Fruchtbarkeit können wichtige Erkenntnisse bei der Prävention liefern. Das Zusammenwirken dieser Daten kann nicht nur zur Verbesserung der Lebensqualität, sondern auch zu Kostensenkungen im Gesundheitswesen beitragen. Der Fokus sollte auf Prävention durch Verhaltensänderungen und einen gesunden Lebensstil, welcher Konsum- und Ernährungsgewohnheiten miteinschließt, gelegt w ­ erden. Damit wird mehr erreicht als durch akute medizinische Interventionen oder wie ein chinesisches Sprichwort sagt: „Der Arzt wird nur so lange bezahlt, wie man gesund ist“. Auch wenn der Datenschutz viele Innovationen einschränkt, könnte mehr Kooperation ein Hebel für die digitale Transformation sein. In der Schweiz und in Deutschland gibt es Bestrebungen digitale Gesundheitsplattformen aufzubauen. Diese kommen oft von Branchenfremden Unternehmen. So bietet die Schweizer Post mit Cuore (2023) eine Gesundheitsplattform für eine bessere Versorgungskoordination an, die von externer Befundung und Zweitmeinung zu radiologischen Untersuchungen bis zum automatisierten Austausch und Abgleich von Patientendaten mit Gesundheitsdienstleistern reicht. Die offene Plattform ist mit Anbietern und elektronischen Gesundheitsdienstleistungen in Deutschland über Siemens Healthineers (2023) angebunden. Damit solche Plattformen Sinn machen, müssen alle Akteure des Gesundheitssystems bereit sein, ihre Daten zu teilen  – und in diesem Fall nicht nur über Organisations-, sondern auch Landesgrenzen. Denn Datenreichtum entsteht nur dann, wenn Daten geteilt werden und zugänglich sind. Entscheidend für den Erfolg des Ökosystems ist das Vertrauen in Akteure, Algorithmen und Systeme. Neben technische Sicherheit,- Datenschutz- und Integritätsfragen, geht es einmal mehr um Transparenz. Der Gesundheitsschutz sollte entsprechend höhere Bedeutung haben als der Datenschutz, was einhergeht mit den Erfahrungen, welche die Menschen während Covid-19 machten. Damit Daten im Gesundheitsökosystem einen Nutzen erzielen, muss der Zugang zu den Daten definiert und dann in einem System abgebildet werden. Hierbei eignet sich eine verteilte Datenhaltung, wie es mit Blockchain-Technologie realisiert werden kann. Heute werden sensible Gesundheitsdaten dort gespeichert, wo sie anfallen, also

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6  Offene Ökosysteme

in Arztpraxen, Spitälern, Laboren oder Röntgeninstituten. Diese Silos führen dazu, dass Patienten immer wieder Formulare über ihren Gesundheitszustand- oder verlauf ausfüllen müssen. Eine elektronische Gesundheitsakte, die zentral verwaltet wird und wo Patienten und weitere Leistungserbringer Zugriff hätten, wird zwar in Europa diskutiert, ist aber noch nicht implementiert. In einem Blockchain-Szenario, welches das Gottlieb Duttweiler Institut ausgearbeitet hat, würden die eigentlichen sensiblen Gesundheitsdaten in den Datenbanken der Leistungserbringer bleiben. Auf der Blockchain würden nur die sogenannten Metadaten, also Verweise zu den Speicherorten der eigentlichen Daten und die Zugriffsbedingungen, also wer auf die Daten zugreifen darf, dezentral verwaltet (Bieser und Fasnacht 2023). Wenn alle Teilnehmer im Gesundheitssystem für die dezentrale Verwaltung von sensiblen Gesundheitsdaten begeistert werden können, wäre damit eine der größten Herausforderungen beim Aufbau eines Ökosystems gemeistert. Daten könnten von allen Leistungserbringern genutzt werden, wobei der Patient die Kontrolle und Berechtigung über seine Daten behält. Ein derartiges Ökosystem eröffnet neue Konstellationen, Geschäftsmöglichkeiten und Beziehungen. Durch die Zusammenarbeit der Akteure wird Mehrwert für Patienten geschaffen, indem sie besser, schneller und gezielter behandelt werden können. Zudem entstehen neue Erkenntnisse für die Leistungserbringer, die sie ohne die Daten und das Netzwerk nicht hätten. Universitäten erhalten durch den offenen Zugang zu ­Gesundheitsdaten wichtige Informationen für die Ausbildung in Medizinberufen und in der Forschung bei der Entwicklung von Medikamenten. Technologieunternehmen und Start-ups profitieren von so einem Ökosystem bei der ICT-Infrastruktur, respektive der Entwicklung digitaler Gesundheitsdienstleistungen und Pharmaunternehmen könnten so Innovationen vorantreiben. Weitere Anspruchsgruppen sind die Bundesämter für Gesundheit oder die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die im erwähnten Szenario näher am Patienten wären.

6.7.2 Ernährung, Bewegung und Entspannung 6.7.2.1 Gesundheit als holistische Aufgabe Der Fokus des Schweizer Gesundheitssystems verlagert sich gerade von der Befassung mit der Heilung von Krankheiten zum Engagement in der Gesundheitsförderung; vom Schwerpunkt der sickcare in Richtung healthcare. Gesundheit wird dabei gemäß der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens verstanden und nicht mehr nur als Abwesenheit von Krankheit oder Beschwerden. Gesundheit, vielleicht das bedeutendste menschliche Anliegen, wird häufig mit Lebensqualität gleichgesetzt und korreliert mit Wohlstand, was in Kap. 4 in der Rubrik Nachhaltiges Wachstum bereits erläutert wurde (siehe Kap. 4). Die hohe medizinische Qualität des Schweizer Gesundheitssystems wird kaum je infrage gestellt. Entsprechend groß ist das Vertrauen, das die Bevölkerung den Gesundheits-

6.7 Gesundheits-Ökosysteme

177

anbietern und ihren Fachpersonen entgegenbringt. Spätestens aber mit der Corona-­ Pandemie entstand ein neues Verständnis von Gesundheit als eine gesamtgesellschaftliche und holistische Aufgabe. Nicht nur zur Förderung der Wirksamkeit des Systems, sondern auch zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit sollen bei dieser ganzheitlichen Betrachtung alle Akteure im Gesundheitswesen künftig interdisziplinärer, integrativer, nachfrageorientierter und präventiver zusammenarbeiten. Denn weder lässt sich ein spezifisches Krankheitsbild noch ein bestimmter Gesundheitsaspekt losgelöst von Körper und Geist, von Verhaltensmustern und Lebensstil oder vom sozialen und beruflichen Umfeld betrachten. Die holistische Herangehensweise ermöglicht es, Gesundheitsziele effizienter zu erreichen und Krankheiten eher zu vermeiden, was maßgeblich zum Wohlbefinden der Bevölkerung beiträgt. „Die Förderung von Gesundheit und Lebensqualität ist eine holistische Aufgabe, die im Rahmen eines Gesundheits-Ökosystems Wert für alle Anspruchsgruppen schafft und so zu volkswirtschaftlichem Wohlstand führt.“

6.7.2.2 Migros’ Ökosystem für Prävention und Gesundheitsförderung Zum Wohlbefinden der Bevölkerung beizutragen ist das Ziel der Migros, dem ältesten und größten Detailhandelsunternehmen der Schweiz. Nach dem Ideengut ihres Gründers Gottlieb Duttweiler stellt die Migros-Gruppe, die Menschen und deren Lebensqualität in den Mittelpunkt. Mit ihrem Gesundheitsengagement leistet die Migros einen wichtigen Beitrag für ein qualitativ hochstehendes, vertrauenswürdiges und effizientes Gesundheitssystem – von der Prävention bis zur Rehabilitation. Was vor rund 100 Jahren als kleiner Einzelhandel begann, hat sich längst zu einem für die Schweiz systemrelevanten Unternehmen mit zehn regionalen Genossenschaften entwickelt. Die Migros-Gruppe betreibt Unternehmen in den Bereichen Food Retail, Non-Food Retail, Finanzdienstleistungen, Reisen, Energie und Mobilität und Gesundheit. Mit ihrem Gesundheitsengagement, einem Netzwerk und breitem Know-how in den Bereichen Ernährung, Bewegung, Entspannung, mentale Gesundheit und Medizin, will die Migros die Schweizer Bevölkerung dabei unterstützen, ihre Gesundheitskompetenzen zu stärken, Gesundheit zu erhalten und individuelle Gesundheitsziele zu erreichen. 2017 wurde unter dem Namen iMpuls die Gesundheitsinitiative der Migros lanciert. Die digitale iMpuls-Plattform stellt das Herzstück der Initiative dar. Sie bietet allgemeine Beiträge und individuelle Leistungen zur Förderung der Gesundheit, insbesondere in den Bereichen Bewegung, Ernährung und mentale Gesundheit. Gesundheitsexperten der Migros-­ Gruppe wie Ärzten, Psychotherapeuten, Ernährungsberater oder Physio-­ therapeuten informieren über relevante Themen, animieren mit praktischen Tipps und beraten Kunden bei dem Erhalt und der Förderung ihrer Gesundheit (siehe Abb. 6.1). Die Gesundheitsplattform iMpuls entspricht einem offenen Ökosystem. Damit hat die Migros einen bedeutenden Schritt gemacht, den Erhalt von Gesundheit und die individuelle Prävention neu zu denken und das traditionelle klinische Gesundheitswesen mit digitalen Gesundheitsleistungen zu erweitern. iMpuls bietet als digitale Plattform mit ergän-

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6  Offene Ökosysteme

Retail

Bewegung

Physio Optiker

Coach

Zahnärzte

Apotheken

Entspannung Patienten Kunden User Selbstoptimierer

Medizin

Health -Apps

Food

Partner Smart Device

Ernährung

Sport- & Fitnesscenter

Weiterbildung

Gesundheitszentren Abb. 6.1  Migros’ offenes Gesundheitsökosystem. (Quelle: Migros)

zenden physischen Leistungen ein offenes, lernendes und einfach zu navigierendes Ökosystem an, das gleichermaßen einen Mehrwert für Patienten, Kunden und Gesundheits­ partner schafft. Die Leiterin der Gesundheitskoordination der Migros Gruppe, Seline Steinmann, erklärt iMpuls als eine ganzheitliche Plattform mit Analysetools, Leistungen für die Förderung eines gesunden Lebensstils mit unterschiedlichen Support- und Interventionsgraden und Zugang zu relevanten Gesundheitsmaßnahmen, wobei immer digital first and physical next gilt (Steinmann 2023). • Analysetool Health Score: Der iMpuls-Health-Score analysiert den Lebensstil, hilft persönliche Gesundheitsziele festzulegen und gibt Tipps zur Optimierung des Wohlbefindens. • Fragen & Antworten: Gesundheitsrelevante Fragen der Plattform-Benutzer werden durch Fachpersonen aus dem Gesundheitsökosystem aus einer holistischen Perspektive beantwortet.

6.7 Gesundheits-Ökosysteme

179

• Digitaler iMpuls-Coach: Die Applikation iMpuls Coach bietet dutzende Programme mit unterschiedlichem Unterstützungsgrad zur Erreichung individueller Gesundheitsziele. • Personal Health Coach: Um einen gesunden Lebensstil zu etablieren, sind zuweilen tiefgreifende Verhaltensänderungen nötig. Dazu bietet iMpuls eine kurz-, mittel- oder langfristige persönliche Gesundheitsberatung u. a. zu den Themen Bewegung, Sport, Ernährung, Lifestyle, Stressregulation oder Schlaf an. Die Gesundheitspartner innerhalb der Migros-Gruppe gewinnen aus dem System und den darin optional geteilten Daten Erkenntnisse, die ihnen bei der Weiterentwicklung ihrer Angebote dienen; denn damit ein Gesundheitsökosystem nachhaltig funktioniert, muss es so konstruiert sein, dass für alle Beteiligten ein Mehrwert entsteht. Das Verständnis darüber, wie vielfältig die Aspekte sind, welche in die individuelle Gesundheit hineinspielen, nimmt laufend zu. Die Gesamtgesundheit ist ein komplexes Wirkungsgefüge, das durch ein gesundheitsbewusstes Verhalten der Nutzer positiv beeinflusst werden kann. Daher verbindet iMpuls auf der Plattform Kunden nicht nur mit Gesundheitsfachpersonen, sondern schlägt auch allgemein gesundheitsfördernde Angebote aus verschiedenen gesundheitsrelevanten Geschäftsbereichen, wie beispielsweise Fitness oder Sport sowie Produkte der Supermärkte für eine gesundheitsbewusste Ernährung vor. Abb. 6.2 zeigt den Grundsatz des Ökosystems.

01

Analyze

02

Lifestyle und Gesundheitsanalyse

Learn

Selbsthilfe und Beratung

03

Optimize

Programme und Produkte Abb. 6.2  iMpuls Grundsatz: Analyze, learn, optimize. (Quelle: Migros)

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6  Offene Ökosysteme

6.7.3 Digitale Technologien verändern Erwartungen Digitalisierung im Healthcare-Bereich wird mehr und mehr zur Normalität. Patienten und die gesunde Bevölkerung sind zunehmend bereit, mit Smart Devices ihren Gesundheitszustand zu erfassen und sich auf digitale Ökosysteme einzulassen. Die digitalen Technologien haben definitiv verändert, was gesunde oder kranke Menschen von gesundheitsrelevanten Leistungen erwarten: Sie sollen schnell, auf ihre Bedürfnisse abgestimmt, ortsunabhängig, in den Alltag integrierbar und am besten ununterbrochen verfügbar sein. Denn auch im digitalen Gesundheitssektor ist es letztlich das individuelle Kundenerlebnis, das den Unterschied macht. Die interdisziplinäre Verfügbarkeit von Gesundheitsdaten ist für ein offenes Ökosystem gemäß weiteren Ausführungen von Steinmann (2023) unerlässlich. Die Verbindung verschiedener Technologien und Datenquellen unterstützt die wirksame Gesundheitsversorgung, denn die interdisziplinäre Verfügbarkeit von Gesundheitsdaten ermöglicht es, ­Gesundheitsprobleme früher und deutlicher zu erkennen und diesen mit geeigneten (präventiven) Maßnahmen zu begegnen. Damit Gesundheitsfachpersonen aus verschiedenen Fachbereichen zukünftig effizient und interdisziplinär arbeiten können, ist die gemeinsame Nutzung relevanter Daten nicht nur hilfreich, sondern zwingend erforderlich. Nach dem Check-up einer Kundin auf der iMpuls-Plattform oder in einem Gesundheitszentrum der Migros-Gruppe beispielsweise hilft es den Gesundheitsfachpersonen, die relevanten Daten aus der Anamnese und den genutzten Tracking-Apps für deren weitere Beratung zu nutzen. Natürlich sollen diese Daten nur dann so genutzt werden, wenn die Kundin dies ausdrücklich beantragt. Entscheidend ist dabei, welchen Mehrwert die Kundin in der Datenfreigabe erkennt. Die digital unterstützte Gesundheitsversorgung mit offenen Plattformen macht Gesundheit zugänglicher und dadurch demokratischer. Transparente digitale Gesundheitsökosysteme wie die iMpuls-Plattform sind vielversprechend, da Mensch und Technologie Hand in Hand agieren, um die Lebensqualität der Bevölkerung in den Mittelpunkt zu stellen – ganz im Sinne der Vision von Gottlieb Duttweiler.

6.7.4 Gesundheit im Datenfluss Die Migros erzielt 20-mal weniger Umsatz als einzelne Branchenriesen in China und auch der Gesamtumsatz aller Einzelhändler in Deutschland zusammen ist kleiner. Alibaba erreichte 2022 ein Retail-Handelsvolumen einer Billion US-Dollar (Alibaba 2022), rund doppelt so viel wie der zweitgrößte, Walmart. Dies aber nur der Bevölkerungszahl zuzurechnen wäre zu kurz gegriffen. Denn die Vielzahl von kleinen Läden in China ist um Dimensionen höher als in den USA, Deutschland oder der Schweiz. Auch ist in Europa die Kaufkraft viel höher. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Ökosystemstrategie der Unternehmen, welche weit über Essen hinaus geht für diese Diskrepanz verantwortlich ist.

6.7 Gesundheits-Ökosysteme

181

Technologiekonzerne haben großes Interesse am Gesundheitsmarkt, da sie alle Voraussetzungen erfüllen, Versicherungen, Datenanalysefirmen, Entwickler für Apps, Smart Devices und Roboter zu integrieren und zu verbinden. Sie sind als Anlaufstelle für gesunde Menschen prädestiniert, wie eine Studie über Gesundheitsplattformen von Roland Berger aufzeigt (Neumann et al. 2020). Demzufolge würden über ein Viertel der gesunden Menschen ihre Gesundheitsdaten von Technologiefirmen verwalten lassen und über deren Plattformen Dienstleistungen beziehen. Für Patienten, also Personen, die bereits erkrankt oder verunfallt sind, eignen sich Gesundheitsanbieter wie Spitäler als Plattform (30 %) gefolgt von Arztpraxen (29 %) besser. Im akuten Krankheitsfall würden entsprechend nur 10 % der Patienten zu einer Technologiefirma gehen.

6.7.5 Technologie, soziale Medien und Gesundheit 6.7.5.1 Tencent’s Gesundheits-Ökosystem Tencent ist eines der Unternehmen, die die BATX (Baidu, Alibaba, Tencent, Xiaomi)-Gruppe der chinesischen Technologiegiganten bilden. Der Hauptsitz des Unternehmens befindet sich in der Hightech-Metropole Shenzhen, Guangdong, und es betreibt mehrere Tochtergesellschaften und Abteilungen, darunter WeChat, QQ und Tencent Games. Der Wettbewerbsvorteil von Tencent liegt in seinem diversifizierten Geschäftsportfolio, das soziale Medien, Spiele, Zahlungsdienste und Cloud Computing umfasst, dass eine Reihe von Dienstleistungen wie Datenspeicherung, Rechenleistung und Big-­ Data-­ Analysen anbietet. In den letzten Jahren konnte Tencent’s wachsende Präsenz in der Gesundheitsbranche mit mehreren gesundheitsbezogenen Produkten, Dienstleistungen und einem Dutzend Start-ups beobachtet werden (McKinsey & Company 2019). Der chinesische Tech-Gigant hat sich dafür entschieden, seine Technologien und Bemühungen zur Verbesserung des Zugangs und der Qualität der Versorgung der Bevölkerung einzusetzen. Der Anstieg der Konvergenz innerhalb der Gesundheitsbranche zeigt Möglichkeiten zur Verbesserung der Qualität und Effizienz medizinischer Dienstleistungen mit Hilfe von Cloud- und Datentechnologien. Durch die Nutzung technologischer Fähigkeiten zielt Tencent Smart Healthcare darauf ab, die Innovation von Technologien, Anwendungen und Kooperationsmodellen im Gesundheitssektor zu fördern.  6.7.5.2 Agilität als Vorteil Gemäß einer Einschätzung von Silreal (2023), einer auf Healthcare und Sino-­Europäischen Austausch spezialisierte Unternehmensberatungsfirme aus Berlin, hat Tencent viele Vorteile durch ihre Agilität in der Geschäftsentwicklung erlangt. Demzufolge war Tencent in der Lage, in einem sehr anspruchsvollen Bereich innovativ zu sein und in kurzer Zeit globale Werkzeuge zu entwickeln, um die Interoperabilität zwischen digitalen Technologien, medizinischen Prozessen und verschiedenen Datenquellen zu überwinden. Diese Umsetzung wurde durch die weit verbreitete Nutzung mobiler Geräte und des I­nternets

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6  Offene Ökosysteme

sowie durch staatliche Initiativen zur Förderung und Investition in die Telemedizin erleichtert. Als Covid-19 die Schwächen der Gesundheitssysteme und ihrer Datenverwaltung auf der ganzen Welt aufzeigte, stellte Tencent fest, dass die Bevölkerung weltweit Schwierigkeiten hat, die Telemedizin zu einem brauchbaren und etablierten Instrument zu machen oder die für die Gesundheit der Bevölkerung dringend benötigten Erkenntnisse zu gewinnen, während die Telekonsultation in China dank Tencent bereits alltäglich ist. Angesichts der ressourcenbedingten, geografischen und zeitlichen Zwänge musste China die Effizienz im Gesundheitssektor ständig verbessern, um den vielfältigen und wachsenden Gesundheitsbedürfnissen der chinesischen Bevölkerung gerecht zu werden (Tencent 2019). Und wie in jeder sich schnell entwickelnden Branche wurde die Innovation durch Debatten zwischen den wichtigsten Interessengruppen, einschließlich des öffentlichen Sektors, der Praktiker und der Kunden, gefördert.

6.7.5.3 Innovationsportfolio Experten sehen als einer der wichtigsten Bereiche des Gesundheitsökosystems von Tencent die Telemedizin (Silreal 2023). Die Telemedizin-Plattform namens Tencent Doctorwork, ermöglicht es Patienten sich aus der Ferne mit Ärzten zu beraten. Die Plattform umfasst Funktionen, die die Versorgung verändern, wie beispielsweise Videokonsultationen, die Überwachung medizinischer Geräte, elektronische Rezepte und die Verwaltung von Gesundheitsakten. Sie trägt dazu bei, den Zugang zur Gesundheitsversorgung für Patienten in abgelegenen oder unterversorgten Gebieten zu verbessern und die Belastung der Krankenhäuser zu verringern. Darüber hinaus können Patienten im Rahmen der Initiative WeChat Intelligentes Gesundheitswesen über ihr WeChat-Konto Zahlungen an medizinische Infrastrukturen leisten. Zusätzlich bietet das WeDoctor Global Consultation and Prevention Center (GCPC) einen Online-Gesundheitsdienst, psychologische Unterstützung, Präventionsrichtlinien und Pandemieberichte in Echtzeit. Der kostenlose Service von Ärzten aus China ist nun für Menschen auf der ganzen Welt jederzeit verfügbar. Heute hat WeDoctor mehr als 7000 bekannte Experten in China versammelt und diese Informationen stehen mehr als 50.000 Nutzern auf der ganzen Welt als Referenz zur Verfügung. Mit einem solchen globalen Tool ist Tencent in der Lage, die Prävention in der Bevölkerung zu fördern, den Zugang zur Gesundheit zu erleichtern und die Stimme der Ärzte zu unterstützen. Ein weiterer wichtiger Aspekt des Gesundheitsökosystems von Tencent ist die medizinische Bildgebung. Das Unternehmen hat ein KI-gestütztes System namens Tencent Medical AI entwickelt, das bei der Diagnose von Krankheiten, wie Krebs und Herzkrankheiten, helfen kann. Diese Technologie kann Radiologen und Ärzten helfen, Anomalien schneller und genauer zu erkennen. Die Technologie ist in AIMIS Medical Image Cloud und AIMIS Open Lab unterteilt und bietet Klinikern und Technologieunternehmen ein Werkzeug, um kritische medizinische Daten zu verarbeiten und Patienten zu diagnostizieren. Das Unternehmen hat eine KI-gestützte Plattform namens Tencent Drug Discovery Platform entwickelt, die großen Datenmengen analysieren kann, um neue Zielstrukturen für Medikamente zu identifizieren und die Wirksamkeit neuer Behandlungen vorherzusa-

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gen. Diese Technologie kann den Prozess der Arzneimittelentwicklung beschleunigen und effizienter gestalten. Darüber hinaus engagiert sich Tencent auch in der personalisierten Medizin, indem es mithilfe von KI personalisierte Behandlungspläne erstellt. Diese Technologie kann Ärzten helfen, fundiertere Entscheidungen zu treffen und die Ergebnisse für die Patienten zu verbessern, indem sie eine Überdosierung oder Wechselwirkungen zwischen Medikamenten verhindert. Eine weitere Möglichkeit, wie Tencent die digitale Transformation der weltweiten Medizin- und Gesundheitsbranche vorantreibt, ist die Anwendung seiner Technologien auf die Informationssysteme von Krankenhäusern. Durch die Bereitstellung von Cloud-­ Lösungen (Tencent 2023), KI-Prozessen und Dateneinblicken hat das Krankenhauspersonal einen viel besseren Überblick über die Gesamtaktivität und darüber, welche Patienten wann entlassen werden können. Ein weiteres  Beispiel  sind Blockchain-Anwendungen. Tencent setzt diese Technologie im Gesundheitswesen ein, um fälschungssichere digitale Krankenakten zu erstellen und die Effizienz und Sicherheit der pharmazeutischen Lieferkette zu verbessern. Es erstaunt also nicht, dass ein großer Teil der 70 Mrd. US-Dollar Investition von 2020 bis 2025 in die technologische Infrastruktur von Blockchain fließen wird (Reuters 2020).

6.7.5.4 Herausforderungen Tencent nutzt seine Zahlungsdienste WeChat Pay und seine Fähigkeiten, sich flexibel an Vorschriften anzupassen, was das Unternehmen zum idealen Hauptakteur macht, wenn es darum geht, die Herausforderungen der nationalen Politik und des Vertrauens der Kunden beziehungsweise Patienten zu meistern. Die nationale Politik treibt die Integration weitreichender digitaler Gesundheitslösungen voran, um die Entwicklung der Gesellschaft als Ganzes zu fördern. Aber auch der Datenschutz stellt eine große Herausforderung dar, da er ethische und regulatorische Probleme mit sich bringt. Tencent will den sicheren Austausch medizinischer Patientendaten ermöglichen, aber der Datenschutz kann auch viele Innovationen einschränken, und eine stärkere Zusammenarbeit könnte ein Hebel für die digitale Transformation sein. Denn die Vorteile von Datensätzen kommen nur dann zum Tragen, wenn sie geteilt werden und für medizinisches Fachpersonal zugänglich sind, da sie zu neuen Diagnoseinstrumenten für Patienten führen können. Auch hier zeigt sich, dass das Vertrauen in Systeme, Algorithmen und Quellen entscheidend für den Erfolg des gesamten Ökosystems ist. 6.7.5.5 Zukünftige Horizonte Tencent’s Ambition ist die Qualität und Effizienz des Gesundheitswesens durch digitale Technologie zu verbessern. Auch die pharmazeutischen Innovationen auf der ganzen Welt stellen hohe Anforderungen. Für die Pharmabranche hat die Digitalisierung höchste Priorität, da Daten und Künstliche Intelligenz die Zukunft der Arzneimittelforschung und der Patientenversorgung darstellen. Vor kurzem haben Tencent und Novartis ein gemeinsames Entwicklungsprojekt durchgeführt: eine KI-gestützte digitale Krankenschwester

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zur Unterstützung von Patienten mit Herzinsuffizienz in China (Novartis 2020). Technologieunternehmen können bei der Verbesserung der Patientenerfahrung eine vitale Rolle spielen. Im Rahmen des Globalen Aktionsplanes für Patientensicherheit, wird erwartet, dass es im Jahr 2030 vernetzte, transparente medizinische Aufzeichnungen geben wird, die Menschen zur Verfügung stehen, die auf sie zugreifen müssen, und zwar genau dort, wo sie sie einsehen müssen (BMG 2021). Darüber hinaus spielen Computer eine immer wichtigere Rolle bei der Diagnose von Krankheiten. Algorithmen übertreffen den Menschen bei der Auswertung unermesslicher Datenmengen und bei der Analyse der Korrelationen verschiedener gesundheitsbezogener Faktoren in einer Zeitreihe. Technologische Entwicklungen sind geeignet, die Bedürfnisse der Bevölkerung im Bereich des Risiko- und Budgetmanagements besser zu befriedigen und haben ein großes Entwicklungspotenzial. Die weltweite Herausforderung besteht heute darin, eine Lösung zu entwickeln, die die Interoperabilität von Daten ermöglicht. Diese Herausforderung verdeutlicht die ethischen und rechtlichen Fragen der gemeinsamen Nutzung von Gesundheitsdaten und der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen technischen Fachleuten und Behörden. Ein guter Zugang zu den richtigen Daten wird die Durchführung fortschrittlicher klinischer Studien ermöglichen, um mehr Erkenntnisse über den Gesundheitszustand von Bevölkerungsgruppen zu gewinnen und den Versorgungspfad besser zu unterstützen. Im Gegensatz zu anderen Branchen ist der Faktor, der den Bedarf im Gesundheitswesen schafft, ein globaler Bedarf. Obwohl dies von der Prävalenz von Krankheiten und den Merkmalen der individuellen Bedürfnisse der Patienten abhängt, machen Krankheiten nicht an der Grenze halt. Aus diesem Grund ist eine Zusammenarbeit zwischen den Ländern unerlässlich. China hat heute 1,4 Mrd. Einwohner und ist daher in der Lage, sehr große, aber auch sehr effiziente klinische Studien durchzuführen, wenn die Daten von den verschiedenen Tencent-Lösungen erfasst werden können. Die Gesundheitsbranche auf dem dynamischen chinesischen Markt, aber auch weltweit, braucht eine ehrgeizige Zusammenarbeit und alle heute entwickelten technologischen Mittel. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Ökosystem von Tencent vielfältig ist und mehrere Schlüsselbereiche der Technologiebranche umfasst. Tencent nutzt sein breit gefächertes Ökosystem, um neue digitale Technologien in ambitionierten neuen Branchen einzusetzen. Mit seinem umfangreichen Fachwissen in den Bereichen Datenwissenschaften, Cloud Computing und Nutzererfahrung ist Tencent in der Lage, anspruchsvolle Herausforderungen in der Finanztechnologie oder der digitalen Medizin zu meistern. Der Einfluss von Tencent im Gesundheitswesen ist beträchtlich, denn das Unternehmen nutzt seine Technologien und Dienstleistungen, um den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu verbessern und die Ergebnisse für die Patienten zu steigern. Die Lösungen des Unternehmens in den Bereichen Telemedizin, medizinische Bildgebung, Arzneimittelforschung, personalisierte Medizin und Blockchain-Technologie tragen dazu bei, die Gesundheitsbranche zu verändern. Es ist wichtig, die Entwicklungen von Tencent in der ­Gesundheitsbranche im Auge zu behalten, da der Einfluss des Unternehmens auf die Branche in Zukunft weiterwachsen wird.

6.8 Alibaba: The Winner Takes It All

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6.8 Alibaba: The Winner Takes It All 6.8.1 Online einkaufen und bezahlen als Ursprungskreislauf Während die Migros nicht anstrebt in allen Lebenssituationen, sondern gezielt innerhalb Ernährung, Bewegung und Entspannung Kundenmehrwert zu liefern, entstanden die heute dominierenden Ökosysteme in relativer kurzer Zeit vor allem in China, ausgehend von Kernkompetenzen innerhalb Nachrichtendienste und Social Media (Tencent) und E-­ Commerce (Alibaba). Die branchenübergreifenden Ökosysteme von Tencent und Alibaba gelten als beispielhaft und setzen Daten ins Zentrum ihrer Geschäftsmodelles. Anders als Tencent, welche als Nachrichtendienst begann und erst 2013 mit WeChat Pay den Zahlungsverkehr und anschließend das Gesundheitswesen disruptierte, baute Alibaba auf dem E-Commerce-Geschäft auf und kam über Alipay 2004 in den Finanzsektor und stieß dann in weitere Branchen vor. Heute nutzen zwei Dittel der Chinesen regelmäßig digitale Bezahl-­Apps von Tencent und Alibaba, so wie Amerikaner und Europäer zwei und mehr Kreditkarten nutzen. Agile Innovatoren integrieren mehrere Kerngeschäfte und es ist oft irrelevant, wer im Ökosystem Wert schafft – Hauptsache der Kunde ist zufrieden. Basierend auf der Analyse des 380-seitigen Geschäftsberichtes der Alibaba Gruppe von 2022 und der Auswertung zusätzlicher Quellen wurde eine Übersicht erstellt, welche die Verflechtungen verdeutlicht (Alibaba 2022). Dabei repräsentiert jeder der Geschäftsbereiche ein eigenes Ökosystem, bestehend aus mehreren Kernunternehmen und internationalen Partnerschaften mit zahlreichen Verbindungen, die eine Fülle von Produkten und Dienstleistungen anbieten. Die für diesen Zweck erstellte Grafik gibt einen Überblick über das Alibaba-Ökosystem, welches an Innovationsdynamik kaum zu überbieten ist (siehe Abb. 6.3). Es befindet sich im stetigen Wachstum und kann durch eine agile und flexible Struktur schnell auf Veränderungen reagieren. Entsprechend ist die Abbildung nicht vollständig. Um das Alibaba-Kerngeschäft herum entwickelte sich in den letzten 20 Jahren ein umfassendes Ökosystem, das sich auf mehrere anderen Branchen wie Logistik, Medien und Unterhaltung, Gesundheit, soziale Medien, Marketing und einer Reihe von Technologie-­ Services, unter anderem Cloud Computing ausgedehnt hat. Diese leistungsstarke Wertschöpfungskonstellation mit starken technologischen Fähigkeiten zur Datenaggregation und Analyse von Kundenkontaktpunkten und deren Verhalten und zunehmender Cloud-Dienstleistungen ist zukunftsweisend. Man denke nur an die Möglichkeiten der Verknüpfung von Gesundheitsdaten mit dem Finanzwesen. Menschen wollen lange leben und gesund bleiben, und je gesünder sie sind, desto mehr können sie ausgeben und desto interessanter werden sie für eine Bank. Gesundheit und Wohlstand sind die obersten Ziele der meisten Menschen und auch Volkswirtschaften orientieren sich daran. Das Verhalten von Nutzern in verschiedensten Sektoren im Internet und Offline-Bewegungen können mit Hilfe von künstlicher Intelligenz verknüpft werden. In Europa verhindern Datenschutzgesetze diese Art von Transparenz und Verknüpfung (DSGVO 2023). Sobald die Kunden diese Möglichkeiten im Sinne einer besseren Kundenbetreuung erkennen, kann das zu

Finanzen

Idle Fish

China Retail O2O Retail

Cross-Border & Global Retail

Technologie

Abb. 6.3  Überblick über das Alibaba-Ökosystem (eigene Darstellung, basierend auf Alibaba Annual Report, 2022)

Logistik

Digital Media & Entertainment

Soziale Medien

Marketing

186 6  Offene Ökosysteme

6.8 Alibaba: The Winner Takes It All

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einem radikalen gesellschaftlichen Wandel führen. Das Beispiel der Alibaba Gruppe verdeutlicht das damit verbundene Potenzial. Der aus der 9-Millionen-Metropole Hangzhou stammende Englischlehrer Ma Yun, bekannter unter Jack Ma, besuchte das Silicon Valley Ende der 1990er-Jahre zu Geschäftszwecken, zu einer Zeit, als es in China noch keine Computer und kein Internet gab. Heute haben etwa 95 % der Haushalte in Peking und Shanghai einen Internetzugang, und viele junge Menschen (das Durchschnittsalter der Internetnutzer liegt bei 28 Jahren) nutzen in ihrem Alltag ausschließlich des Smartphones. Wie beschrieben gilt das Silicon Valley als Epizentrum für Risikokapital. Das dachte sich auch Jack Ma, als er 1999 über 30 Risikokapitalgeber besuchte und eine Finanzierung für sein chinesisches Internet- und E-­ Commerce-­Start-up suchte. Aufgrund der Fehleinschätzung aller Risikokapitalgeber, dass kein Unternehmen den Markplatz eBay mit einem Marktanteil von über 90 % zu diesem Zeitpunkt schlagen kann, hat er keinen einzigen Dollar aufgebracht. Jack Ma gründete dann mit einem Startkapital von 2000 US-Dollar die erste kommerzielle Webseite in China. Das Branchenverzeichnis für Unternehmen war kein großer Erfolg und 1999 gründete er daraufhin zusammen mit 17 Freunden die B2B-Handelsplattform Alibaba.com. Das Ursprüngliche Ziel war es, chinesische Hersteller mit westlichen Käufern zu verbinden. Im Jahr 2014 erreichte Alibaba den höchsten Börsengang in der Geschichte, und erreichte im Oktober 2020 den Höchststand seiner bisherigen Marktkapitalisierung von 840 Mrd. US-Dollar. Die Alibaba Group gehört heute zu einem der größten Unternehmen weltweit mit einem E-Commerce Inlandsmarktanteil in China von 80 %. Die Vision von Jack Ma lautet „in China geboren, für die Welt wachsen“. Alibaba möchte mittelfristig die Verbraucherzahl verdoppeln und zwei Milliarden Kunden bedienen und bis 2036 zehn Millionen Unternehmen auf seinen Plattformen unterstützen (Alibaba 2017). Die Gruppe gründet kontinuierlich neue Unternehmen und erwirbt Firmen oder geht neue strategische Partnerschaften ein. Ein weiterer Meilenstein erfolgte während der Finanzkrise, als er Ant Financial Services opportunistisch aufbaute, nachdem er frustriert war, dass Chinas staatliche Banken bei der Finanzierung kleiner und mittlerer Unternehmen versagt hatten. Ant Financial Services (heute Ant Group) ist der Finanzzweig der Alibaba Gruppe mit dem Ziel, der Welt mehr Chancengleichheit zu bieten. Das technologiegestützte und offene Ökosystem soll mit Finanzinstituten eng zusammenarbeiten, um den künftigen Finanzbedarf der Gesellschaft zu decken. Zu dem Netzwerk gehören heute auch die vier großen chinesischen Banken und viele andere Finanzinstitute auf der ganzen Welt. Zum Beispiel zielt eine strategische Partnerschaft mit der Standard Chartered Bank darauf ab, die finanzielle Eingliederung in Ländern entlang der neuen Seidenstraße zu fördern. Die Ant Group ist seit Ende 2017  in fünf Hauptgeschäftsbereichen tätig: Zahlungsverkehr, Vermögensverwaltung, Versicherungen, Kredite und Finanzierung. Ant Groups’s Börsengang war für 2020 ­geplant und sollte mit 34 Mrd. US-Dollar der größte der Welt werden, wurde aber von den regulatorischen Behörden in letzter Minute verboten. Ein vermuteter Grund ist, dass Jack Ma sich negativ zum chinesischen Bankensystem äußerte. Seitdem der Gründer bei der Regierung in Ungnade gefallen ist, agiert er im Hintergrund undgab dann schliesslich im

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Januar 2023 die Kontrolle über die Ant Group ab. Die Ant Group beschäftigt heute rund 20.000 Mitarbeitende und ist dabei, ihr datengetriebenes Ökosystem mit Niederlassungen in Japan, Korea, Singapur, Thailand, Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Australien, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten zu erweitern. Jack Ma prägte vor einigen Jahren den Begriff TechFin und obwohl Ant Group ein diversifiziertes FinTech-Unternehmen ist, wollte er damit aufzeigen, dass alle Finanzdienstleistungsunternehmen erst unter dem Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien skalieren. 2020 wurde deshalb der im Handelsregister eingetragene Name nach Ant Technology Group geändert und firmiert in China unter dem offiziellen Namen Zhejiang Ant Small and Micro Financial Services Group Co. Ltd. Seitdem steht die Ant Group für einen innovativen globalen Technologieanbieter. Was heute namenstechnisch alles etwas verwirrend wirkt, war vor zehn Jahren eine relativ neue Idee, erstens Daten über Kunden zu sammeln, zweitens die gesammelten Daten zu analysieren und daraus zu lernen und drittens diese in Geschäftsmodelle und Lösungen umzusetzen, die einen Mehrwert für Kunden schaffen. Insgesamt liegen die Hauptstärken des TechFin-Ansatzes bei Ant Group in seiner globalen digitalen Allfinanz-Plattform, der Größe durch die hohe Benutzerakzeptanz und der technologischen Fähigkeiten und letztendlich darin, dass Daten integraler Bestandteil des Alibaba-Ökosystems sind. Eine vollständige Übersicht und Analyse der Alibaba Verflechtungen würde ein weiteres Buch füllen. Entsprechend liegt der Fokus auf der Tochtergesellschaft Ant Group, woraus viel über die Möglichkeiten von Technologieeinsatz gelernt werden kann. Alipay, die Zahlungslösung der Alibaba-Gruppe, wurde 2004 gegründet und 2010 von der Gruppe abgespalten. Ant Financial wurde offiziell im Jahr 2014 gegründet und ging aus Alipay hervor und änderte ihren Namen 2020 in Ant Group. Im Jahr 2007 hatte Alipay über 50 Mio. Nutzer, während es in China zu diesem Zeitpunkt nur 30 Mio. Kreditkartennutzer gab. Während der Finanzkrise blieb das Unternehmen innovativ und führte eine sprachgesteuerte Zahlungsmethode für Mobilfunknutzer in China ein. Nach ersten Zahlungsdiensten für Wasserrechnungen und Versorgungsunternehmen wurde 2011 die Alipay App, einschließlich der Zahlung mit Barcode, eingeführt. Heute zählt Alipay über eine Milliarde registrierte Nutzer und eine hat Anbindungen an mehr als 2000 Finanzinstitutionen. Es ist die weltweit führende Zahlungsplattform mit Zahlungsmöglichkeiten in beinahe allen Ländern und bietet Zahlungsdienste für dutzende von Millionen kleine und kleinste Händler in über 30 Währungen an. Der Marktanteil in China für mobile Zahlungen, gemessen am Transaktionswert, liegt bei 60 %. Ein Grund für den wachsenden Markt des mobilen Bezahlens in China mit digitalen Lösungen ist das bequeme QR (Quick Response)-Code-Zahlungssystem, welches in China eine Adoptionsrate von rund 90 % hat (Europa 3 %). Dies ist auf die vor zehn Jahren begrenzte Infrastruktur für Kredit- und Debitkarten und die hohe Verbreitung von Smartphones in China zurückzuführen. Die bargeldlose Abrechnung und Abwicklung durch das Scannen von QR-Codes am Verkaufsort sind für viele junge Chinesen zur Norm geworden. In vielen Fällen nutzen sie ein Online-Bankkonto. Mit anderen Worten: Sie brauchen kein Bargeld, keine Kreditkarten und keine stationäre Bank, die bis zu einem gewissen

6.8 Alibaba: The Winner Takes It All

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Grad den sicheren Geldtransfer unterstützen. Alipay ist ständig bemüht, Online-­ Finanzierungen einfacher und bequemer zu machen. Die neueste Innovation ist die Gamification-­Technologie für Zahlungen. Sparstrategien werden zu einem Spiel, wenn die Renditen der Nutzer mit denen anderer verglichen werden können. Da die Nutzerbasis immer jünger wird, verlangen sie nach noch intuitiveren Lösungen und Finanztransaktionen, die als unterhaltsam empfunden werden. Dies wurde mit der Möglichkeit realisiert, Sprachnachrichten, Bilder oder Emoticons zu ihren Peer-to-Peer-Überweisungen hinzuzufügen. Alipay hat sich von einer digitalen Geldbörse zu einem multifunktionalen Dienstleistungsanbieter entwickelt, der von Hotel- und Kinokarten über Stromrechnungen bis hin zur Vereinbarung von Arztterminen und dem Kauf von Vermögensverwaltungsprodukten direkt über die firmeneigene  Super-App reichen. Sektorübergreifende Services in Form von einfach zu bedienenden Miniprogrammen liegen im Trend und helfen neue digitale Geschäftsmöglichkeiten in angrenzenden Märkten zu erschließen. Durch das Mini-­App-­Ökosystem, welches ähnlich wie der App Store von Apple oder Google Play, als Entwickungs- und Vertriebsplattform für Anwendungen dient, unterstützt die Expansion des Alipay Sub-Ökosystems. Alipay hat vor Kurzem den Offshore-­Zahlungsverkehr innerhalb und außerhalb Chinas, mit mehreren Millionen Händlern, die Alipay akzeptieren ausgeweitet. Alipay nutzt Big-Data-Technologien und dringt in viele Konsumszenarien und Customer Journeys ein. Mit der Zeit können sie so automatisch, durch KI unterstützt, umfassendere Kundenprofile erstellen und Prozessverbesserungen sowie neue maßgeschneiderte Services entwickeln. Alle, die über Alipay Transaktionen tätigen, generieren gleichzeitig auch Umsatz für andere Teilnehmer im Ökosystem, allen voran der Alibaba Gruppe. Alipay erwirtschaftet Zinserträge, während die Erlöse aus Transaktionen vorübergehend hinterlegt werden, sowie Provisionen für Händler und Werbegebühren. Alipay fand seinen Weg in das Ökosystem von Alibaba in den Bereichen E-Commerce, digitale Medien und Unterhaltung vor nur acht Jahren. Das riesige, durch Daten angetriebene Verbraucher- und Händlernetzwerk beschleunigte das globale Zahlungsnetzwerk. Die schnelle Expansion in Übersee wurde durch Übernahmen und organisches Wachstum unterstützt. Die Steuerrückerstattung über Alipay wird in 24 Ländern und Regionen unterstützt, und das Unternehmen arbeitet unterdessen mit unzähligen ausländischen Finanzinstituten und Anbietern von Zahlungslösungen zusammen, um grenzüberschreitende Zahlungen für Chinesen auf Reisen zu ermöglichen. Die Verbindung zwischen Alipay und der Alibaba-Gruppe sind eng, und ermöglicht durch die Zugehörigkeit zum branchenübergreifenden Ökosystem von Alibaba nahezu grenzenlose Möglichkeiten und ein enormes Skalierungspotenzial. Die Kunden können eine End-to-End-Erfahrung für verschiedene Produkte und Dienstleistungen genießen, von Hardware bis Software und von materiellen bis immateriellen Dienstleistungen, die alle über eine Plattform zugänglich sind, ohne Alibaba zu verlassen. Mit Alipay verfügt die Ant Group über den technologischen Weg, der Funktionen und innovative Initiativen ermöglicht, die weit über den Zahlungsverkehr hinausgehen. Die Daten und Informatio-

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6  Offene Ökosysteme

nen der Kunden werden kontinuierlich wiederverwendet, um die Kundenerfahrung zu verbessern und weitere Dienstleistungen anzubieten. Die Vision von Fintech-Herausforderern besteht oft darin, sich auf Nischenprodukte zu spezialisieren, das Kundenerlebnis zu verbessern, unterversorgte Märkte zu entwickeln oder Daten und Technologie zu nutzen. Alipay hat in all diesen Bereichen fast gleichzeitig Lücken geschlossen. Die Strategie geht in Richtung the winner takes it all, worauf wir in diesem Kapitel noch einige Male eingehen. Super-Apps bieten enorme Vorteile für Social Commerce (siehe Kap. 7). Der von Alibaba 2009 ins Leben gerufene Singles’ Day (heute bekannt unter Global Shopping Festival), findet jeweils am 11. November statt und ist ein Fest für Alleinstehende in China und zunehmend auch im Rest der Welt. Als größter Einkaufsanlass der Welt wurden über die Alibaba Group 2021 85 Mrd. US-Dollar umgesetzt, was das jährliche Bruttoinlandprodukt vieler Länder übersteigt und etwa 20-mal mehr ist als Cyber Monday und Black Friday in den USA zusammen. Im Vergleich, der Black Friday in der Schweiz kam 2022 auf 110 Mio. US-Dollar. Da 80 % der Käufe bei Alibaba über Smartphone-Apps getätigt werden, werden pro Sekunde knapp 600.000 Transaktionen abgewickelt (Cheng 2022). Das ist um Faktoren mehr als alle führenden US-­ Zahlungssysteme leisten können. Zum Vergleich: Die theoretische Höchstgeschwindigkeit für Bitcoin liegt bei sieben Transaktionen pro Sekunde, Paypal schafft 193 und Visa 1700 (Ledger Academy 2022). Zu Alibaba’s neuer Retail-Strategie gehören digitaler Vertrieb, digitale Promotion, datengetriebene Produktentwicklung und intelligente Fertigung (smart manufacturing). Für diese daten- und computerintegrierte Fertigung ist ein hohes Maß an Agilität und Flexibilität notwendig, was mit der hohen Technologie-Kompetenz abgedeckt werden kann. Mit der intelligenten Fertigung will Alibaba allen ihren Lieferanten helfen von der Massen-­ Standardisierung zur Individualisierung überzugehen. Die Affinität einer jungen Bevölkerung zu digitalen Tools und Smartphones und die Verbreitung digitaler Plattformen machen die Zwischenschaltung von Vermittlern überflüssig und verringern so die Gemeinkosten. Plattformanbieter können also wählen, was sie anbieten wollen, ohne die Rentabilität eines Produkts gegen ein anderes aufrechnen zu müssen. Das moderne Einkaufserlebnis beinhaltet ein Ökosystem, das für jeden Kundenbedarf eine Lösung und einen Anbieter bereithält. Der Orchestrator kann durch das proaktive Einwirken seine Prozesse vorgeben und die Produkteentwicklung- und Vermarktung nach seinen Vorstellungen steuern. Er generiert so nicht nur mit jedem zusätzlichen Händler Einnahmen, neben den Daten, die bei den Transaktionen anfallen und weiterverkauft werden können, sondern kann auch über die Fertigung und Logistik Effizienzsteigerungen erzielen. Alibaba kann alle Akteure in der Wertschöpfung aber auch Nachfrage und das Kunden­ erlebnis gestalten und steuern. Das Ökosysteme verfügt über alle Bausteine, die für den Aufbau verschiedener Konsumszenarien erforderlich sind, die vom einfachen Handel über Nachrichten und Informationen, Musik, Filme, Live-Events und Merchandising bis hin zu Spielen und Videos reichen. Die Kundeninteraktionen führen direkt oder indirekt zu Alipay, weil ja bei jeder Transaktion ein Bezahlprozess ausgelöst wird. Weitere Geschäftstätigkeiten Richtung Konsumkredite oder Vermögensverwaltung sind eine logische Konsequenz.

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6.8.2 Ant Group als größter Universalfinanzdienstleister Die erklärten Entwicklungen bestätigen die These des goldenen Dreieckes für offene und digitale Ökosysteme. Während Zahlungsdienstleistungen erste Anwendungsfelder von embedded Finance waren, veranschaulicht das Beispiel von Yu’e Bao, ein Investmentfonds, der ursprünglich ausschließlich für Alipay-Nutzer konzipiert wurde, wie traditionelle Anlagevehikel über den Einsatz von digitalen Tools exponentiell skalieren können. Nach dem Erfolg mit Alipay entwickelte die Ant Group 2013 ihre Plattform weiter für Finanzprodukte und ein Jahr später mit Zhao Cai Bao einen Finanzinformationsdienst, gefolgt von Ant Fortune, einer Vermögensverwaltungs-App zur Verwaltung der Finanzen an einem Ort. MYbank, die private Online-Bank, wurde 2015 eröffnet und vervollständigt vorerst das Vermögensverwaltungsangebot von Ant. 2013 wurde auch Yu’e Bao zusammen mit Tianhong Asset Management gegründet, ein Investmentvehikel, welches speziell für Alipay entwickelt wurde. Die Idee war, dass kleine Bargeldbeträge auf den Alipay-Konten der Kunden, die für die Bezahlung von Tee, Taxis oder technische Spielereien im Internet verwendet werden, Zinsen bringen sollten. Wechselgeld oder Rundungsdifferenzen für weniger als einen Cent können so  automatisch in den Geldmarktfond investiert werden.  Der Tianhong Yu’ebao Money Market Fund wuchs rasant und zählte bald über 300 Mio. kumulierte Nutzer, die mit ihren Kleinstbeträgen den Fond auf 230 Mrd. US-­ Dollar anwachsen ließen. Yu’e Bao wurde 2018 zum größten Geldmarktfonds der Welt und löste den 25 Jahre alten JP Morgan US Government Money Market Fund ab. Das Management von Yu’e Bao hat von Anfang an Techniken des maschinellen Lernens eingesetzt. So wurde beispielsweise ein Stimmungsindex für die Investitionsbereitschaft entwickelt und veröffentlicht, der auf dem täglichen Transaktionsverhalten und den Daten von über 200 Mio. Yu’e Bao-Abonnenten basiert. Kognitive Technologie unterstützt auch das Liquiditätsrisikomanagement mit Prognosen zur Rückzahlungsquote auf der Grundlage von Big Data. Dies ist von entscheidender Bedeutung, da ein so großer Fonds zunehmende Liquiditätsrisiken mit sich bringt. Wenn Hunderte von Millionen Kunden in ein Herdenverhalten verfallen würden, könnten sie theoretisch alle zur gleichen Zeit ihre Fondsanteile verkaufen und das Geld abheben. Dies hätte Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft, da Yu’ e Bao 25 % der chinesischen Geldmarktbranche ausmacht. Unter solchen außergewöhnlichen Umständen ist ein automatisiertes Risiko-Management dringend erforderlich. Neben der Technologie ermöglichten die starken Verbindungen zum Alibaba-­ Ökosystem und die Größe des Fonds es der Ant Group, bessere Zinssätze mit Banken ­auszuhandeln. Da diese in der Regel höhere Renditen boten, begannen die Kunden, größere Geldbeträge von ihren regulären Bankkonten in den Fonds zu transferieren. Alipay und die Informations- und Werbemaßnahmen über alle Alibaba-Plattformen, einschließlich der Plattformen der Vertriebspartner, führten zu einer raschen Erweiterung der Anlegerbasis. Und schließlich können die Nutzer seit 2015 den Fonds neben anderen Finanzprodukten über die Ant-Fortune-App mit minimalen Zugangsvoraussetzungen, biometrischer Identifizierung und einfachem mobilen Zugang kaufen. Die Nutzung der Möglichkeiten der neuesten Technologie in Verbindung mit der Fähigkeit zur Skalierung

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über die Alipay-App führte zum Erfolg. Dies blähte den Fond allerdings so stark auf, dass er unhandlich und zu einem systemischen Risiko wurde, worauf die Fondsverwaltungsgesellschaft von sich aus eine maximale tägliche Investitionssumme pro Kunde festlegte. 2022 zog die Regierung nach und implementierte neue und schärfere Regularien für Fonds über 30 Mrd. US-Dollar. Die enge Beziehung zu immer jüngeren Kunden, in diesem Fall zu Millennials, die mit ihrem überschüssigen Geld den Yu’e Bao-Fonds über die Alipay-App kaufen, ist einbeispielloser erfolgreicher komplementärer Service.  Embedded Finance hat hier geholfen, dass nicht mehrere unabhängige Customer Journeys durchlaufen werden mussten, sondern alles nahtlos integriert war. Zur Befriedigung mehrere Bedürfnisse wie Zahlungen von Konsum, Kredit und Anlagen musste das Ökosystem nicht verlassen werden. Alibaba hat mit Alipay eigentlich drei Plattformen und multiple Ökosysteme verbunden. Mit Alipay konnten Lieferanten untereinander (B2B) und Verbraucher zusammengebracht (B2C), sowie auch Zahlungen unter Konsumenten (C2C) direkt ohne Intermediäre durchgeführt werden. Die App stellte Konsumenten mit einem hohen Innovationstempo zufrieden, ohne sich in den Vordergrund zu stellen (siehe allozentrischer Ansatz). Sobald die Akzeptanz und das Vertrauen in die App aufgebaut waren, wurden die Nutzer zu Anlegern des Fonds. Flexibilität und hohe Convenience zu günstigen Preisen waren Teile das Erfolgsgeheimnisses. Das starke Wachstum und die globalen Möglichkeiten machen es für Ant Group attraktiv, sein Geschäftsmodell zu replizieren und sein Ökosystem zu erweitern. Allerdings gelten in Schwellenländern andere Regeln als in entwickelten Märkten. In Asien kann die Ant Group ihr im Binnenmarkt getestete Geschäftsmodelle einfacher reproduzieren, weil die Akzeptanz und das Vertrauen in verwandten Wirtschaftssystemen und Kulturkreisen vorhanden sind. Für Unternehmen in Europa bedeutet dies, dass sie unabhängig der Branche Partnern finden müssen, mit deren Hilfe sie ihre personalisierten Services nahtlos in große Ökosysteme integrieren können. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Finanzdienstleistungen, Nachrichtendienste oder Unterhaltung handelt. Auf der einen Seite gibt es für die meisten Services lokal angepasste Anwendungen, andererseits, kennen sie ab dem Moment, wo sie skalieren, oft keine Landesgrenzen, siehe Alipay, Amazon, Booking.com, Delivery Hero, Facebook, Google, Helo, Instagram, Klarna, LinkedIn, Lyft, Netflix, Paypal, Skype, Snapchat, Spotify, TikTok, TripAdvisor, Twitter, Uber, WeChat, WhatsApp, YouTube, Zoom etc.

6.8.3 Handel bleibt Kerngeschäft Alibaba ist längst mehr als ein E-Commerce-Unternehmen: es ist ein Ökosystem von Ökosystemen, bestehend aus Unternehmen wo Alibaba investiert ist (33 % von Ant Group gehören Alibaba) und freien, nicht finanziellen Kollaboration. Im nachstehenden Abschnitt wird aufgezeigt, wie alles miteinander funktioniert und wieso die verschiedenen Sektoren alle voneinander profitieren. Mit dem inneren Kreis mit dem chinesischen und

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internationalen Handel, wurde Alibaba als E-Commerce Händler bekannt und es gibt neu Bestrebungen Synergien mit diesen traditionellen Geschäften zu nutzen. Dies nennt sich Online-to-Offline oder O2O, mit der Idee den Online- und Offline-Handel miteinander zu verknüpfen, anstatt sie gegeneinander auszuspielen (Lee et al. 2022). Unternehmen können beispielsweise Marketingkampagnen durchführen, um Kunden in ihre stationären Geschäfte zu locken, wo sie dann Produkte kaufen können. Auch die Abholung von Online-Bestellungen im stationären Geschäft (Click-and-Collect) oder die Möglichkeit, Produkte zu bestellen und im Geschäft abzuholen (Click-and-Reserve), sind Beispiele für O2O-Strategien. Der Einsatz von O2O kann dazu beitragen, Kundenbeziehungen aufzubauen und zu pflegen, indem sie ein nahtloses Erlebnis zwischen Online- und Offline-Einkaufserlebnissen bieten. Gleichzeitig können Unternehmen weiterhin die Vorteile des E-Commerce nutzen, wie die Möglichkeit, Kunden in größerem Umfang zu erreichen und Produkte zu vermarkten. Alibaba setzt O2O mit der eigens dafür gegründeten Einzelhandelskette für Lebensmittel und Frischwaren um. Dabei werden die Vorteile des Online-Handels genutzt, um ein personalisiertes Einkaufserlebnis für Kunden zu schaffen, und integriert dabei Technologien wie die Gesichtserkennung und mobile Apps, um den Einkauf schneller und bequemer zu gestalten. Mit O2O kann das Beste aus beiden Welten genutzt werden, um den das Kundenerlebnis zu verbessern und den Einzelhandel zu stärken. Das Kerngeschäft Handel, wo im Geschäftsjahr 2021 87 % der Einnahmen des Unternehmens erzielt wurden, ist das Herzstück des Alibaba-Ökosystems. Es besteht aus Einzel- als auch Großhandel auf dem chinesischen Inlandsmarkt, den grenzüberschreitenden Handel zwischen China und anderen Ländern sowie die globalen Märkte außerhalb Chinas. Das inländische Einzelhandelsportfolio des Unternehmens begann mit der Einführung von zwei Marktplätzen, Taobao und T-Mall, in den Jahren 2003 beziehungsweise 2008. Taobao ist eine Plattform, auf der Produkte von Einzelhändlern und kleinen Unternehmen angeboten werden, während T-Mall eine breite Palette von Premiumprodukten von national und weltweit bekannten Marken und etablierten Händlern anbietet. Im März 2021 hatte T-Mall über 250.000 Marken und Händler auf der Plattform gelistet und war im vergangenen Geschäftsjahr gemessen am Bruttowarenwert die größte E-Commerce-­ Plattform der Welt. In den folgenden Jahren erweiterte Alibaba sein Einzelhandelsportfolio um weitere Plattformen und Produkte wie T-Mall Mart, einen 2011 gegründeten Supermarkt, und Alibaba Health, eine separate Plattform für den Verkauf medizinischer Produkte, die als eigenständiges Unternehmen an der Hongkonger Börse notiert ist. Außerdem startete Alibaba 2014 Idle Fish, einen Consumer-to-Consumer-Marktplatz für ­Nischenprodukte. Um die Verkäufe anzukurbeln und vom Aufschwung der sozialen Medien zu profitieren, führte Alibaba Livestreaming- und Kurzvideofunktionen ein, mit denen Händler und Social Influencer ihre Produkte bewerben und teilen können. Taobao Live ist eine Funktion, die es Händlern und Social Influencern ermöglicht, per Livestreaming für ihre Produkte zu werben und mit Verbrauchern zu interagieren, während Taobao Short Video es ihnen erlaubt, kurze Videos zu erstellen, um ihre Produkte zu bewerben.

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6  Offene Ökosysteme

Das Handelssegment von Alibaba umfasst auch mehrere Verbraucherdienste, wobei die Lieferplattform Ele.me, welche Alibaba 2018 von Baidu übernommen hat, die bekannteste ist. Koubei eine von Alibaba 2017 gegründete Plattform für Restaurant- und lokale Dienstleistungsführer. Fliggy ist eine Online-Reisebuchungsplattform, die 2014 von Alibaba ins Leben gerufen wurde und umfassende Reservierungs- und Abwicklungsdienste anbietet, um die Reisebedürfnisse der Verbraucher zu erfüllen. Wie bei Tencent verfolgt AliHealth, respektive Alibaba Health Information Technologies, ähnliche Ziele: die digitale Gesundheit fördern. Die Gesundheitsplattform integriert den Verkauf von Medikamenten und medizinische Dienstleistungen wie Konsultationen, Impfungen und körperliche Untersuchungen. Die Plattformen Tmall und Alipay ermöglichen es Kunden, ihre Medikamente direkt zu bestellen und in rund 30 Städten innerhalb von 30 min geliefert zu bekommen. 2020 wurde die Dr. Deer-App eingeführt, die medizinische Inhalte und Terminbuchungen für medizinische Dienstleistungen über Smartphones anbietet. Sämtliche solche Verbraucherdienste trugen im Geschäftsjahr 2021 zu 5 % des Gesamtumsatzes von Alibaba bei. Da der chinesische E-Commerce-Markt allmählich gesättigt ist, wendet sich Alibaba dem Offline-Handel und dem Einzelhandel als zusätzliche Wachstumsstrategien zu. Im Rahmen der O2O-Strategie beteiligte sich Alibaba zu 72 % an Sun Art, einer der grössten Warenhausketten in China. Freshippo (Hema) ist ein Premium-Supermarkt, der 2016 von Alibaba eingeführt wurde und den Kunden ein Hightech-Einkaufserlebnis bietet, einschließlich digitaler Preisschilder, scannbarer Produktinformationen aus QR-Codes, KI-basierter Produktempfehlungen und eines Bezahlsystems mit Gesichtserkennung. Die Hema-Supermärkte dienen auch als Erfüllungszentren für On-Demand-Lieferaufträge, bei denen die Verbraucher je nach Lieferradius in nur 30  min hochwertige Produkte nach Hause geliefert bekommen. Das Handelssegment von Alibaba ist nicht nur in China, sondern auch in anderen Ländern stark vertreten. Das Unternehmen betreibt grenzüberschreitende Handelsplattformen wie AliExpress, die es chinesischen Händlern ermöglichen, ihre Produkte an Verbraucher in anderen Ländern zu verkaufen. Alibaba ist auch Eigentümer und Betreiber von Lazada, einer E-Commerce-Plattform in Südostasien, die eine breite Palette von Produkten aus den Bereichen Mode, Schönheit, Elektronik und Haushaltsgeräte anbietet. Darüber hinaus hat Alibaba in mehrere andere E-Commerce-Plattformen investiert, wie Daraz in Pakistan, Tokopedia in Indonesien und Zomato in Indien. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Handel ein vielfältiges und immer noch wachsendes Geschäft ist, das sich über mehrere Plattformen, Produkte und Märkte erstreckt. Das Einzelhandelsportfolio des Unternehmens, insbesondere Taobao und T-Mall, hat das Wachstum des elektronischen Handels in China maßgeblich vorangetrieben. Überzeugend ist auch die Strategie von Alibaba, ein integriertes Online-Offline-­Einkaufserlebnis zu schaffen, was die Art und Weise wie Konsumenten in Zukunft einkaufen verändern wird.

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6.8.4 Komplementäre Services Um alle Marketinganforderungen von Lieferanten, Großhändlern, Marken und Einzelhändlern auf allen Plattformen des Alibaba-Ökosystems mit den Medienressourcen auf Alibaba’s eigenen Plattformen mit Dritten zusammen zu bringen, kümmert sich Alimama. Durch das Tracking über sämtliche Plattformen und Kanäle hinweg, fällt schnell eine große Datenfülle an. Diese Daten zu monetarisieren ist die eigentliche Aufgabe von Alimama, welche als die größte digitale Marketingplattform in China, die über ein Drittel des gesamten Online-Werbemarktes ausmacht, gilt. Mit Alimama erhalten alle Teilnehmer im Alibaba Ökosystem ein besseres Verständnis von Consumer-Journeys und Kaufverhalten von Kunden. Alimama kombiniert alle Möglichkeiten von Google Ads und Microsoft Advertising. Trotzdem ist es schwierig ein vergleichbares Produkt, welches so stark in alle Plattformen eines Ökosystems integriert ist auf dem internationalen Markt zu finden. Weitere gut integrierte Geschäftszweige sind innerhalb Technologie und digitale Medien und Unterhaltung. Alibaba Cloud wurde 2009 gegründet und ist derzeit der größte Anbieter von öffentlichen Cloud-Diensten in China und im asiatisch-pazifischen Raum sowie der weltweit drittgrößte Anbieter von Infrastructure as a Service (IaaS) nach Umsatz. DingTalk, ein digitaler Arbeitsplatz für die Zusammenarbeit, der 2015 eingeführt wurde ist neu Teil des Cloud-Computing-Segments von Alibaba. Insgesamt trug das Cloud-Computing-Segment im Jahr 2021 zu 8 % der Einnahmen von Alibaba bei. Die Vorteile Cloud-basierter Ökosysteme wurden im Kap. 3 ausführlich dargelegt (siehe Kap. 3), weshalb hier auf das umfassende Ökosystem digitale Medien und Unterhaltung fokussiert wird. Dieses Ökosystem deckt den Konsum jenseits des Kerngeschäfts mit Spielen, Filmen und Dramen sowie Videoplattformen ab. Alibaba Pictures ist ein Internet-­Film- und Fernsehunternehmen, das Filme und Dramen produziert und vertreibt und darüber hinaus Kinokarten verkauft. Lingxi Games ist die Spieleinheit von Alibaba, die mobile Spiele entwickelt, betreibt und vertreibt. Damai ist ein Online-Ticketing-­Unternehmen für verschiedene Veranstaltungen, und Youku ist die drittgrößte Online-Langzeit-­Videoplattform in China, gemessen an den monatlich aktiven Nutzern. Das Segment digitale Medien und Unterhaltung trug zu 4 % der Einnahmen von Alibaba im Jahr 2021 bei. Weiter unterhält Alibaba etliche Innovationsinitiativen wie Amap, früher bekannt als Autonavi, ein Anbieter von mobilen digitalen Karten, Navigation und Echtzeit-­Verkehrsinformationen in China. T-Mall Genie ist ein intelligenter Lautsprecher, der den Kunden eine interaktive Schnittstelle für den einfachen Zugang zu den vom Alibaba-­Ökosystem angebotenen Diensten bietet. Gemessen an der Gesamtzahl der verkauften Geräte war T-Mall Genie im Jahr 2020 die Nummer eins unter den Smart Speakern in China. Alles, was mit Marketing beworben wird, kann verkauft werden. Alipay dient dabei als hoch performantes nahtlos integriertes Bezahlsystem, was bereits erklärt wurde. Ein weiterer Erfolgsfaktor des Ökosystems ist die Logistik. Um das Handelsgeschäft des Unternehmens zu ergänzen, verfügt Alibaba über einen Logistikzweig, der den Anbieter von integrier-

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6  Offene Ökosysteme

ten Logistikdiensten und Lieferkettenmanagementlösungen innerhalb des Cainiao-­Netzwerkes und das lokale On-Demand-Liefersystem Fengniao umfasst. Cainiao bietet vor allem inländische, aber auch internationale integrierte Logistikdienste und Supply-­Chain-­ManagementLösungen an und nutzt Big Data, um die Digitalisierung der Lagerhaltung und des Lieferprozesses zu erleichtern und die Effizienz der gesamten logistischen Wertschöpfungskette zu verbessern. Auf der Verbraucherseite sind die Funktionen von Cainiao in die Taobao-Anwendung eingebettet, während Cainiao auf der Händlerseite ein Netzwerk von Lagern an strategischen Standorten verwaltet, um die rechtzeitige Lieferung an die Endverbraucher sicherzustellen. Fengniao Logistics ist Alibabas lokales Liefernetzwerk für die Auslieferung von Lebensmitteln und einer wachsenden Zahl von Non-Food-Artikeln. Im Geschäftsjahr 2021 trugen die Logistikdienstleistungen zu 5 % des Gesamtumsatzes der Alibaba Group bei. Insgesamt haben die vielfältigen Geschäftsaktivitäten von Alibaba in verschiedenen Branchen zu seinem Erfolg als multinationales Konglomerat beigetragen. Neben dem Handel als Kerngeschäft haben Finanzdienstleistungen, digitale Medien und Unterhaltung, Social Media, Marketing und Technologie, um nur einige Bereiche zu nennen, maßgeblich dazu beigetragen, dass Alibaba sein Geschäft über den E-Commerce-Sektor hi­ naus erweitern konnte. Wie wird aber der Zugang zu all diesen Services organisiert und gesteuert? 

6.9 Die integrative Super-App BlackBerry-Gründer Mike Lazaridis erklärte den Begriff Super-App erstmalig während einer Rede auf dem Mobile World Congress im Jahr 2010 als ein geschlossenes Ökosystem vieler Apps, welche die Menschen jeden Tag nutzen würden, weil sie nahtlos, inte­ griert, kontextbezogen und effizient sind. Er bezog sich damals auf das BlackBerry-Gerät, ein nach außen hin geschlossenem proprietärem System mit nicht öffentlich verfügbaren Verfahren und Software. Seit 2022 ist klar, dass es keine BlackBerry-Geräte mehr geben wird: alle Patente wurden an die Firma Catapult verkauft und das Geschäft eingestellt. Dies ist nicht verwunderlich, Open Source und Open Innovation bieten eindeutig mehr Vorteile. Heutige Super-Apps sind nicht mehr auf ein bestimmtes Gerät beschränkt und laufen unabhängig, um ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Was aber ist genau eine Super-App? Eine Super-App besteht aus heutigem Verständnis aus mehreren Mini-­ Applikationen und ist nichts anderes als eine Anwendung auf einem Smartphone. Durch die Aggregation von verschiedensten Diensten kann sie ein digitales Kundenerlebnis schaffen. Im Gegenzug gibt es im Markt Standalone-Apps, also nicht verlinkte Anwendungen, welche von verschiedenen Anbietern, mit unterschiedlichen Releasezyklen und jeweils eigener Benutzerergonomie angeboten werden. Im Durchschnitt sind auf einem Smartphone 80 Apps installiert, wovon weniger als die Hälfte regelmäßig benutzt werden. Mit den ersten Super-Apps vor rund zehn Jahren haben Alipay und WeChat Pay embedded Services für Zahlungen und Finanztransaktionen integriert und dann immer mehr Dienste aus anderen Sektoren angebunden. Mit 1,3  Mrd. Nutzern und über 3,5  Mio.

6.9 Die integrative Super-App

197

Diensten, welche 400 Mrd. US-Dollar umsetzen, gilt die WeChat Super-App – welche in China Weixin heißt – als Marktführerin. Die ursprüngliche Nachrichten-App ist zu einem wichtigen Werkzeug für die Kommunikation und das tägliche Leben vieler chinesischer Bürger geworden. WeChat kann auch eingeschränkt im Ausland genutzt werden. Der Unterschied zwischen Weixing und WeChat ist, dass es eine englische und eine chinesische Version gibt und Tencent seit 2022 die Super-App in zwei getrennte Plattformen aufgeteilt hat. Dies hat Datenregulierungsgründe: für ausländische Nutzer steht die Anwendung WeChat zur Verfügung, bei der die Daten außerhalb Chinas gespeichert und verarbeitet werden, während Weixin nur für Inhaber chinesischer Telefonnummern als lokale Plattform verfügbar ist. Die meisten der 1,2 Mrd. monatlich aktiven Nutzer befinden sich in China und nutzen daher Weixin. In Abb. 6.4 sind die wesentlichen Bestandteile der zen­ tralen WeChat Super-App nachgezeichnet, ohne im Detail auf alle einzelnen Plattformen einzugehen. Erfolgreiche Nachahmer von WeChat sind GoTo (Indonesien), Grab (Singapur), Kakao (Südkorea), PayTM (Indien), Rakuten (Japan) oder Zalo (Vietnam). Die Beweggründe für eine Super-App sind unterschiedlich, es ist aber evident, dass grosse Teile der Bevölkerung in diesen Ländern ohne Bankverbindung waren. Die Super-­Apps gaben ihnen die Möglichkeit, digitales Banking und über ihre Geräte bargeldlosen Handel mit Waren und Dienstleistungen zu betreiben, auf Geld zuzugreifen und sogar kleinere Vermögen anzulegen. Super-Apps fördern in dem Sinne die finanzielle Inklusion und leisten einen Beitrag zur Mikroökonomie in ländlichen Gebieten, wie zu Beginn dieses Kapitels erläutert. Die Alipay-Super-App entsprang nicht, wie bei WeChat innerhalb  sozialer  Medien, sondern entstand im Finanzbereich. Bequeme Zahlungsdienstleistungen sind neben Einkaufen, Reisen und Unterhaltung diejenigen Services, die sich Verbraucher in einer Super-­ App wünschen. Super-Apps können einen festen Bestandteil von Banking 4.0, respektive Industrie 4.0, werden (Fasnacht 2021). Gartner geht davon aus, dass bis 2027 mehr als 50  % der Weltbevölkerung täglich Super-Apps nutzen (Gartner 2022). Es erstaunt also nicht, dass Unternehmen durch alle Sektoren von Alphabet und Meta über Wallmart bis Tata und X (ehemals Twitter) versuchen die chinesischen Geschäftsmodelle besser zu verstehen und Super-App-Projekte am Laufen haben. Obwohl Super-Apps heute andere Potenziale eröffnen, gelten immer noch die Empfehlungen von Mike Lazaridis, wonach eine Super-App integriert, effizient, kontextabhängig und für den täglichen Gebrauch konzipiert werden muss. Eine Super-App muss heute mehr bieten als eine zusammengesetzte Anwendung oder ein Portal, welches Dienste, Merkmale und Funktionen in einer einzigen Benutzeroberfläche zusammenfasst. Eine Super-App ist eine zentrale Architektur, die eine Komplettlösung für Unternehmen darstellt, die ihre Kundenbindung erhöhen und Geschäfte skalieren möchten. Die Nutzerbasis kann gezielt durch viral gehende Erlebnisberichte, Anwendungsfälle, Communities, Blogs, Influencer, Aktivitätsfeeds oder personalisierte Werbeaktionen und damit verbundene Netzwerkeffekte erweitert werden. Wichtig für die Adoptionsraten aus der Kundenperspektive sind Aspekte des persönlichen und geschäftlichen Lebens. Die Super-App ist ein zentraler Zugriffspunkt und Aggregator von Diensten in einem Ökosystem und besticht durch eine

Tencent Cloud

Big Data Analytics

Technologie

Video Cloud Tencent AI Lab Solutions

Tencent Security

Arbeit & Kollaboration

Medizin

Tencent Health

Sharing

Videos

QQ

Weixin Pay

Zahlungsdienste

Socializing

Weixin Video Accounts

Kommunikation

WeChat

Tencent Video

Kugou Music

WeSing

QQ Reading

Weixin Reading

Kuwo Music

Musik & Singen

QQ Music

Mini Games

Qidian Reading

Lesen

Spiele

Tencent Games

Abb. 6.4  WeChat-Super-App als Integrator des Tencent-Ökosystems (eigene Darstellung, in Anlehnung an Tencent Corporate Overview, 2023)

WeCom

Tencent Docs

Tencent Meeting

Tencent Medipedia

Health Code

198 6  Offene Ökosysteme

6.10  Das goldene Dreieck offener und digitaler Ökosysteme

199

Vielfalt an Produkten und Dienstleistungen und ermöglicht eine effiziente Lösungssuche durch mobile und benutzerfreundliche Technologie. „Eine Super-App aggregiert Mini-Programme, die private und geschäftliche Dienste des täglichen Lebens, welche in einem offenen Ökosystem angeboten werden, bereitstellt und ein digitales und nahtloses Kundenerlebnis sicherstellt.“

6.10

Das goldene Dreieck offener und digitaler Ökosysteme

Die Beispiele und frühere Untersuchungen von Fasnacht (2021) zeigen, dass dominante Plattform-Anbieter mehrheitlich folgende Kernbranchen vereinen: Handel (meist E-Commerce), soziale Medien und Finanzen. Während WeChat seine Grösse und Kompetenzen im Bereich soziale Medien nutzte, um in Sektoren wie Zahlungsdienste, Gaming, Videos, Musik,  Singen  und Gesundheit zu expandieren, hat Alibaba seine Handelsplattform als Sprungbrett verwendet. Daraus entstand ein mächtiges Sub-Ökosystem im Finanzsektor. Die Ant Group mit Alipay ist heute grösser als viele der ursprüngichen Retailgeschäfte von Alibaba. Offene und digitale Ökosysteme bewegen sich innerhalb dieser drei Branchen, wie in Abb. 6.5 dargestellt (siehe Abb. 6.5). Daneben gibt es natürlich noch andere Bereiche wie Gesundheit, Logistik, Gaming oder die Medien- und Unterhaltungsindus­trie. Interessant ist aber, dass die heute erfolgreichen Ökosysteme aus einer der Kernbranchen entstammen und dann in andere Sektoren vordringen. Unabhängig davon welche Branchen sich miteinander verbinden, fließen bei der Wertschöpfung zwischen allen Teilnehmern Güter-, DaHandel

Soziale Medien

Abb. 6.5  Goldenes Dreieck offener und digitaler Ökosysteme. (eigene Darstellung)

Finanzen

200

6  Offene Ökosysteme

ten- und Finanzströme, welche das Ökosystem am Leben erhalten. Die Anbindung und der Datenaustausch zwischen den jeweiligen Branchenanwendungen erfolgt über Open API‘s (Application Programming Interfaces). Diese Schnittstellen sollten öffentlich zugänglich sein. Für das erfolgreiche Zusammenspiel in diesem goldenen Dreieck sind eine Grundhaltung von Open Innovation und Open Data unerlässlich.

6.11 Querverkauf im Ökosystem Das allumfassende Ökosystem mit shopping around-Funktionen für persönliche und geschäftliche Bedürfnisse kann ebenso gewinnbringend sein als sich als Nischenanbieter zu positionieren. Die Bankfiliale als primäres Dienstleistungszentrum oder das Spital als Anbieter für alle Gesundheitsdienstleistungen sind Relikte der Vergangenheit. Die Ausnutzung einer bestehenden Kundenbeziehung durch den zusätzlichen Verkauf von sich ergänzenden Produkten und Dienstleistungen nennt sich Cross-Selling oder Querverkauf. Es stärkt die Kundenbindung und erhöht generell die Verkaufseffizienz. Während der Kaufprozess in einem Laden dann beendet ist, wenn der Verkäufer keine Ideen mehr hat oder der Kunde das Geschäft verlässt, kann Cross-Selling über digitale Plattformen anhalten, da Menschen heute fast länger online unterwegs sind als physisch. Online übernehmen KI-Anwendungen die Aufgabe der Personalisierung, da Algorithmen das Kaufverhalten in Sekundenbruchteilen ermitteln und daraus passende Vorschläge für Cross-Selling machen können. Unternehmen wie Amazon haben dieses Potenzial erkannt und bereits, wenn Artikel im Einkaufskorb landen, werden weitere Produkte angeboten. Während dabei reine Statistiken mit den Sätzen „die meisten Kunden kaufen diese Produkte zusammen mit …“ verwendet wurden, setzen Unternehmen immer mehr auf die Verknüpfung umfangreicher Kundendaten,  um detaillierte Persönlichkeits- und Kaufprofile zu erstellen. Wenn also „das könnte Sie auch interessieren …“ erscheint, ist KI im Spiel und es wird versucht komplementäre Artikel anzubieten. In beiden Fällen geschieht dies auf nicht-invasive Art und Weise, das heißt, das Kundenerlebnis wird dabei nicht beeinträchtigt. In einem digitalen Ökosystem kann Cross-Selling besonders effektiv sein, da Unternehmen mithilfe von Datenanalysen und Algorithmen Muster im Kundenverhalten erkennen und auf der Grundlage früherer Käufe oder des Browserverlaufs personalisierte ­Empfehlungen aussprechen können. Daten bieten tiefe und intime Einblicke in das Verhalten und die Ausgaben von Konsumenten und vereinfachen es Bedürfnisse zu ermitteln und Wünsche vorherzusagen. Prozesse und Kanäle der Dienstleistungserbringung ändern sich mit der datenunterstützen Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen. Die Plattform übernimmt die Funktion der Vermittlung und schaltet Zwischenhändler aus, indem Konsumenten von einem digitalen Angebot zum nächsten geleitet werden, ohne dies zu merken und die Plattform verlassen zu müssen. Wenn diese Disintermediation genauer betrachtet wird, entdeckt man ständig neue Leistungsanbieter, welche über traditionelle Einkaufswege nie aufgefallen wären. Hier kommen Konvergenz und Netzwerkeffekte ins Spiel: Mit jedem zusätzlichen Akteur und Industriezweig steigen die Möglicheiten für

6.12  Integration und Inkubation als Wegbereiter

201

Querverkäufe.  Durch den Querverkauf wird in einem Ökosystem der durchschnittliche Transaktionswert erhöhen und die Kundentreue gestärkt was letztlich zu mehr Umsatz und Rentabilität führen kann. Allerdings müssen die Unternehmen sicherstellen, dass ihre Angebote relevant und nicht aufdringlich sind, da sie sonst Gefahr laufen, Kunden zu verprellen und den Ruf ihrer Marke zu schädigen. Einer Projektion von McKinsey zufolge werden etwa ein Dutzend Ökosystem-­Cluster bis 2030 25 % der weltweiten Erträge erwirtschaften (Dietz et al. 2020). Mit anderen Worten, 70 Billionen US-Dollar an Einnahmen könnten theoretisch über die traditionellen Branchengrenzen hinweg umverteilt werden. Auch wenn diese Darstellung der Zukunft von vielen Faktoren abhängt, gilt sie als Weckruf. Während generell B2B-Marktplätze- und Services das größte Potenzial für Ökosysteme bieten, werden sich primär Sektoren, wie das Gesundheitswesen, die Öffentliche Verwaltung und Immobilien in digitale Ökosysteme verschieben. Chinesische Unternehmen sind hier führend und daran Niederlassungen in Europa aufzubauen. Auch wenn es noch etwas Zeit braucht, um die digitalen Geschäftspraktiken ganzheitlich zu verstehen und zu akzeptieren, sind sie erste Anzeichen, in welche Richtung sich die Plattform-Ökonomie bewegt. Die eingangs des Buches erwähnten Infrastrukturprojekte und die Neue Seidenstraße und deren unerbittliche Umsetzung werden Wirtschaft und Handel weltweit umgestalten und über digitale Plattformen bestellte Waren über weite Teile von Asien nach Europa bringen. Der Übergang von einer industriellen zu einer digitalen und dienstleistungsbasierten Wirtschaft muss mit allen Anstrengungen angegangen werden. Marktbeobachter gehen davon aus, dass es neben einer Welt mit wenigen dominanten, branchenübergreifenden Ökosystemen, die ihr Kerngeschäft durch den Aufbau eines Ökosystems von Grund auf neu konzipieren, genügend Platz für kleine, lokale und hocheffiziente Ökosysteme gibt. Letztere streben die Ausweitung ihres Netzwerkes und des Produkteportfolios an und schöpfen ihren Wert speziell aus der Datenmaterialisierung. Das heißt, dass der Kunde mit seinen Daten eigentlich die Innovationen eines Anbieters finanziert. Neue Produkte und Dienstleistungen machen bei Tencent inzwischen über 50 % des Gesamtumsatzes aus und Alibaba stellt seine Geschäftsinfrastruktur und Technologie allen seinen Lieferanten zur Verfügung. So verschwinden nicht nur die Unternehmensgrenzen, sondern auch die Geschäftsmodelle vieler Unternehmen werden dynamischer. Der Konkurrenzkampf wird nicht mehr zwischen Unternehmen ausgetragen, sondern zwischen Ökosystemen ­stattfinden. Diese rivalisieren sich auf der Nachfrageseite oft um dieselben Nutzer und auf der Anbieterseite um wertgenerierende Kontributoren, welche unter anderem komplementäre Dienste anbieten und so zusätzlichen Wert für Kunden schaffen.

6.12 Integration und Inkubation als Wegbereiter Während seit der Finanzkrise in Europa Fokus auf  Verbraucher- und  Datenschutz und das regulatorische Umfeld gelegt wird, hat die Regierung in China, überaus innovationsund risikofreudig agiert und ein positives unternehmerisches Umfeld geschaffen. In dieser

202

6  Offene Ökosysteme

Zeit konnten die heute bekannten Ökosysteme entstehen. Da einige zu dominant wurden, schritt der Regulator ein und seitdem kämpfen auch chinesische Technologie- und Fintech-­ Unternehmen mit Datenschutzgesetzen und anderen Vorschriften. Dass Menschen im Westen weniger digital und innovativ unterwegs sind, könnte auch damit zusammenhängen, dass in Europa und Nordamerika eine eher ältere und aufgeklärte Gesellschaft mit bereits sehr hohen Lebensstandards zu finden ist. Im Gegensatz zu den jüngeren und digital-­affinen Konsumenten in Asien, die getrieben sind sich zu verbessern und zu entwickeln. Asiaten sind jung, informiert und stark digital vernetzt. Sie haben ein Nachholbedürfnis und kaufen nicht nur rund um den Globus Luxusgüter ein, sondern sie wickeln auch ihre Geschäfte, Zahlungen und die Verwaltung ihres Vermögens dort ab, wo es für sie am bequemsten ist – und das ist in den meisten Fällen über eine Super-App. Die Beziehung zwischen Alibaba und Ant Group beweist, dass Services keine Sektorengrenzen kennen. Für Organisationen entstehen Synergieeffekte und für Nutzer wird die Kundenreise verbessert. Nun ist die Ant Group nicht nur ein integraler Bestandteil der Alibaba-­Group, sondern hat auch starke Verbindungen zu anderen Ökosystemen wie Cainiao für die globale Logistik, Koubei für lokale Handelsdienstleistungen oder in Bereichen der digitalen und Sozialen Medien. Interessant ist, dass Alibaba das gesamte Ökosystem orchestriert, aber anderen Ökosystemen die Freiheit lässt, eigene Orchestratoren für ihre teilweise abgegrenzten Ökosysteme zuzulassen. So fungiert die Ant Group als Orches­ trator für das Finanz-Ökosystems und innerhalb Ant herrscht die Alipay Super-App als weitere Orchestratorin. Das breit gefächerte Innovationsnetzwerk durchdringt in allen Branchen das tägliche Leben der Benutzer mit vielen Produkten und Dienstleistungen unter der Marke Alibaba aber auch unzähligen Subprodukten unter den Marken der jeweiligen Anbieter. Ein Ökosystem von Ökosystemen erstarkt durch Verflechtungen und wächst durch Netzwerkeffekte, wobei der Erfolg als Ganzes gemessen wird. Es ist essenziell diese Logik zu verstehen und entsprechend Breite und Tiefe der Geschäftsbeziehungen zu erweitern. Für ein Unternehmen bedeutet das konkret mehr Partnerschaften einzugehen aber auch die Bedeutung jeder einzelnen Partnerschaft zu erhöhen. Und dabei eine hohe Flexibilität und Autonomie der Kollaborationspartner aufrecht zu erhalten ist die Krux. Gelingt dies, bekommt der Gewinner in so einem System alles und die Zuschauer sind Verlierer und stehen dabei klein und unbedeutend neben dem Sieger. Das Schicksal des the winner takes it all wurde 1980 von der schwedischen Pop-Gruppe Abba besungen, erlangt aber im Kontext unserer branchenübergreifender Ökosystem-Theorie Bedeutung. „Ein Ökosystem von Ökosystemen generiert durch diverse Verflechtungen Netzwerkeffekte, welche sich dermaßen auf den Gesamtwert auswirken, dass das System alles für sich beansprucht und so konkurrenzlos erscheint – the winner takes it all.“

Der sektorübergreifende Ansatz macht dabei deutlich, dass die Kunden in erster Linie nicht nach einer Versicherung oder Beratung suchen, da sie in der Regel mit anderen Dingen in ihrem Leben beschäftigt sind. Es geht also nicht darum, nur etwas zu kaufen oder nur etwas anzubieten. Dieser transaktionale Ansatz widerspricht unserer Idee eines offenen Ökosystems. Die kollektive Wertschöpfung ist nicht linear, sondern systemisch, das heißt sie be-

6.12  Integration und Inkubation als Wegbereiter

203

zieht sich auf die Schaffung von Werten, die nicht nur einem einzelnen Unternehmen, sondern mehreren Anspruchsgruppe innerhalb eines Ökosystems zugutekommen. Es geht dabei um die Schaffung nachhaltiger und positiver Ergebnisse für alle Teilnehmer des Ökosystems. Um eine systemische Wertschöpfung zu erreichen, müssen sich Organisationen auf den Aufbau von Beziehungen und Partnerschaften mit allen Anspruchsgruppen konzentrieren und ihre Strategien und Maßnahmen auf die Bedürfnisse und Erwartungen dieser Gruppen abstimmen. Dies ist eine Führungsaufgabe, weshalb wir im Kap. 8 (siehe Kap. 8), die systemische Führung diskutieren. Konkret bedeutet das, dass Benutzer Finanzdienstleistungen in Anspruch nehmen, wenn diese über beispielsweise eine Super-App leicht zugänglich sind. Mit einer Super-App können viele Interessensbereiche angesprochen werden und an diverse digitale Plattformen im Ökosystem weiter verwiesen werden. Befindet sich also ein Konsument in einem Kaufprozess und ist zufrieden mit dem Einkaufserlebnis von Musik oder Filmen, kann die Super-App zu weiteren Leistungen animieren, sofern das aktuelle Bedürfnis des Benutzers erkannt wurde. Es scheint eine Win-Win-Situation zu sein. Diese Chance seitens des Anbieters besteht aber nur, wenn ein Verbraucher möglichst lange auf einer Plattform gebunden werden kann und wenn aufgrund vergangenen Verhaltens und aktuellen Bedürfnissen sichergestellt werden kann, was der Nutzer sucht oder braucht. Wenn ein Flug gebucht wird, ist deshalb die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch ein Hotel oder eine Annulationsversicherung interessant sein könnte. Eines gilt immer – die Reise und alle komplementären Services müssen komfortabel bezahlt werden können, was letztendlich den Erfolg von Alipay oder WeChat Pay erklärt. Leistungsanbieter müssen sich früh in die Kundenreise einbringen. Das ist möglich, indem maßgeschneiderte Lösungen auf der Grundlage der historischen Spuren und des Verhaltens des Kunden angeboten werden. So gelangt der Konsument von einer Kundenreise in die nächste, ohne dass dies wahrgenommen wird. Das funktioniert allerdings nur, wenn Daten aggregiert, maschinell analysiert und für neue Innovationen kombiniert werden können. In Zukunft werden Konsumenten anerkennen, dass sie im Gegenzug zu maßgeschneiderten Dienstleistungen, Informationen preisgeben müssen. Denn nur so ist ein bequemes und nahtloses Einkaufserlebnis mit günstigen und personalisierten Lösungen möglich. Dabei wird der Schutz der Privatsphäre durch die ständige und effiziente Überwachung und Bewertung der Kundenerfahrungen aufgeweicht. Am Beispiel der Ant Group wird deutlich, dass das Eigentum an der Kundenbeziehung und den Kundendaten einen großen Wettbewerbsvorteil darstellt. Dies ist einer der Gründe, warum das Unternehmen eine konsequente End-to-End-Digitalisierung über Branchengrenzen hinweg anstrebt. Ant kann so in einem breiteren und globalen Ökosystems teilnehmen, welches sich weit über die Alibaba Gruppe erstreckt und behält dabei die Kontrolle als Orchestrator. Die Fähigkeit von Ant, schnell eine Reihe von Partnern in verschiedenen Sektoren aufzubauen, befeuert den heute bereits beträchtlichen Datenschatz. Je umfassender die Datengrundlage, die mit künstlicher Intelligenz analysiert werden kann, desto ganzheitlicher wird das Verständnis von Kundenbedürfnissen. So können spezifische emotionale Inhalte kreiert werden, was Benutzer stärker an eine Plattform bindet und ein stärkeres Interesse an dessen Produkten und Dienstleistungen entwickelt. Durch die Integration von digitalen und sozialen Medien steigt der Unterhaltungswert, was zu mehr Interaktionen führt. Diese Interak-

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6  Offene Ökosysteme

tionen wiederum generieren mehr Daten, womit die Angebote noch besser auf die Bedürfnisse und Wünsche der Nutzer abgestimmt werden können. Mit Hunderten von Millionen Kunden können so interessante Zusatzgeschäfte entwickelt werden, mit denen wieder neue Kunden gewonnen werden können. Bevor aber diese Erfolgsspirale ihren Lauf nehmen kann, braucht es viele interessante Teilnehmer im Ökosystem. Um die kritische Masse möglichst rasch zu erreichen, müssen wichtige Grundvoraussetzungen erfüllt werden. Diese können systematisch entwickelt werden. In der Medizin ist ein Inkubator ein Brutkasten und wird verwendet, um einem frühgeborenen Kind ein überlebensfähiges Klima zu bieten, in dem es heranwachsen kann. In die Geschäftswelt übertragen bedeutet das, dass eine Organisation Verantwortung übernimmt und ein Umfeld schafft, in dem andere Unternehmen sich entwickeln können. Wie bei Frühgeborenen, die irgendwann einen Beitrag an die Gesellschaft zurückgeben, möchte der unternehmerische Inkubator einen Teil seiner Vorleistung des Unternehmens zurück. In diesem Sinne kennt die Praxis Start-up-Inkubatoren oder Start-up-Ökosysteme. Es hat sich ergeben, dass ein Orchestrator in einem Ökosystem in der Regel verantwortlich für den initialen Aufbau des Wertschöpfungsnetzwerkes ist. Nachdem das Ökosystem durch immer mehr Teilnehmer und Interdependenzen an Wert gewinnt, kann der Orchestrator seine Vormachtstellung abgeben, diversifizieren oder andere disruptive Geschäftsmodelle vorantreiben und seine Verantwortung anderen relevanten Teilnehmern im Ökosystem überlassen. Die Annahme wird dadurch gestützt, dass ein Ökosystem ein adaptives System ist. Es muss seine Struktur und Prozesse in Abhängigkeit von Veränderungen im Markt anpassen, um individualisierte Produkte und Dienstleistungen nachhaltig absetzen zu können. Das ständig neu erfinden und umgestalten gilt auch für den Orchestrator. Der Orches­ trator ist einem kontinuierlichen Evaluationsprozess unterworfen. Er muss von allen anderen Akteuren im Ökosystem akzeptiert werden. Aufgrund dieser Dynamiken kann ein Orchestrator, rein theoretisch, temporär agieren. Amazon, Apple, Facebook aber auch Migros oder Tencent und Alibaba sind vorbildliche Inkubatoren und natürlich gibt es noch Tausende weitere erfolgreiche Organisationen, welche profitable und für die Gesellschaft wertvollen Firmen bei der Entwicklung geholfen haben. Alibaba war ein vorbildlicher Inkubator für etliche Geschäfte in Zusammenhang mit Technologie, welcher unter anderem Ant hervorgebracht hat. Ant wiederum ist ein Inkubator für die Kombination von Technologie und Finanzdienstleistungen und innerhalb Ant gibt es wiederum Alipay, ein weiterer Inkubator für Start-ups und einzelne Entwickler von Mini-Applikationen. Ein Inkubator braucht neben Führungs- und Durchsetzungskraft auch eine organisatorische Struktur und Kultur, die Kooperationen, Partnerschaften, Joint Ventures und Investitionen in Unternehmen zulässt. Eine Volkswirtschaft sollte Inkubatoren unterstützen und wertschätzen, denn sie profitiert letztendlich am meisten davon. Denn Start-ups ermöglichen Innovationen in der digitalen Dienstleistungswirtschaft, in der Plattformen und Ökosysteme integraler Bestandteil der Strategie sind. Viele Geschäfte können ohne Partnerschaften mit Technologieunternehmen heute nicht existieren und folgen dem sozioökonomischen Trend des Teilens (sharing economy) und der Zusammenarbeit über Organisationsgrenzen (siehe Kap. 5 Open Innovation). Es ist erwie-

Literatur

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sen, dass Partnerschaften mit anderen Akteuren in einem Ökosystem effektiver und effizienter sind als die Eingliederung neuer Unternehmen und die Erschließung neuer Märkte mit eigenen Ressourcen. Die Anpassung der Unternehmensstrategie an die Gesetze der Plattform-­Ökonomie sind zwingend. Ein offenes Ökosystem stärkt die Flexibilität und Agilität und bietet Unkonventionalität, da es alle wesentlichen Faktoren umfasst, um ­traditionelle Geschäftsmodelle dahingehend zu stören, dass sie gezwungen sind sich weiterzuentwickeln. Innovation, Agilität und Geschwindigkeit werden immer wichtiger. Dementsprechend hängt der Wettbewerbsvorteil von Unternehmen von der Robustheit aber auch von der Resilienz des Ökosystems ab, in dem sie tätig sind. Unternehmen sollten proaktiv nach Ökosystemen suchen, in denen sie als frühes Mitglied am Entstehungsprozess des Ökosystems teilnehmen und Innovationen vorantreiben können. Unternehmen, die zu lange warten, werden ihren Wettbewerbsvorteil verlieren. Denn um zu überleben, müssen Unternehmen nicht nur mit dem raschen Wandel Schritt halten, vielmehr geht es darum gemeinsam durch Kooperationen eine gewisse Stabilität zu erlangen. Dabei sind Breite und Tiefe der Geschäftsbeziehungen entscheidend. Die erörterten Beispiele geben Hinweise darauf, wie eine Ökosystemstrategie entwickelt werden kann. Eine Ökosystem-­Strategie umzusetzen ist aber ein sozialer und anspruchsvoller Prozess, der von Führungskräften verlangt, die richtigen Entscheidungen zu treffen und Risiken einzugehen. Es bedingt auch einer visionären Haltung, müssen doch die Geschäftsmodelle von heute an die Bedürfnisse von morgen angepasst werden.

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Der Weg zum Ökosystem

Zusammenfassung

Wie kann eine erlebnisorientierte Kundenreise in einem offenen Ökosystem gestaltet werden? Geschäftsmodellinnovationen, so vielgestaltig sie sind, sollten immer einem Zweck dienen – dem Kundennutzen. Digitale Innovationen können einerseits erheblich zur Automatisierung beitragen, schaffen aber auch neue Möglichkeiten, um Kunden zu begeistern. Um ein service- und kundenorientiertes Erlebnis zu schaffen, muss der Kunde ins Zentrum der wirtschaftlichen Aktivitäten gestellt werden. Das erfordert eine dynamische Kundensegmentierung, die psychografische Muster, wie Interessen, Meinungen, Wertvorstellungen und Emotionen, mit allgemein verfügbaren Informationen kombiniert. Daten können mit Hilfe Künstlicher Intelligenz dahingehend veredelt werden, dass sie zu wertvollen Informationen werden, woraus Unternehmen Lösungen und Antworten entwickeln können. Everything-as-a-Service wird bald Standard und Sektorgrenzen noch mehr verschwimmen lassen. Der Konsument der Zukunft möchte mit diversen Services seine alltäglichen Bedürfnisse digital, kostengünstig, einfach und bequem erledigen. Private und berufliche Tätigkeiten vermischen sich, was neue Modelle wie Social Commerce hervorbringt und einige Nutzer bewegen sich bereits mehr in der virtuellen als realen Welt.

7.1 Geschäftsmodell-Innovationen 7.1.1 Fokus auf Kundennutzen Trotz ihrer gelegentlichen Verwendung als Synonyme haben Geschäftsmodelle und Strategie unterschiedliche Schwerpunkte. Um Missverständnisse zu vermeiden ist es wichtig, ihre jeweiligen Rollen und Bedeutungen in der Unternehmensführung klar zu definieren. Das © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Fasnacht, Offene und digitale Ökosysteme, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42494-7_7

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7  Der Weg zum Ökosystem

Geschäftsmodell beschreibt aus der Sicht eines Unternehmens die Grundlogik, wie eine Organisation Werte schafft, liefert und erfasst (Osterwalder und Pigneur 2010). Das Verständnis der einzelnen Komponenten und Wechselbeziehungen eines Geschäftsmodelles kann Managern helfen, bessere strategische Entscheidungen zu treffen. Der Hauptunterschied besteht darin, dass ein Geschäftsmodell von der Suche nach und der Schaffung von Werten für den Kunden ausgeht, während die Strategie hauptsächlich auf den Wettbewerb ausgerichtet ist. Die Strategie beschreibt, wie sich ein Unernehmen langfristig in einem wettbewerbsintensiven Marktumfeld positioniert und differenziert. Ein Geschäftsmodell ist eine Abstraktion eines Unternehmens, die aufzeigt, wer die Kunden sind, worin der Kundenwert besteht und wie das Unternehmen Geld verdient. Im Wesentlichen beschreibt es die Mechanismen, mit denen ein Unternehmen Einnahmen und Gewinne zu erzielen beabsichtigt. Es bietet also einen kognitiven Rahmen – ein mentales Modell, wie Inputs in wertschöpfende Outputs oder wirtschaftlichen Wert umgewandelt werden. Die Outputs sind dementsprechend Produkte und Dienstleistungen, die durch die Prozesse und Abläufe des Unternehmens erbracht werden. Letztlich geht es bei einem Geschäftsmodell darum, wie ein Wert für das Unternehmen geschaffen werden kann, im Gegensatz zu einer Strategie, die den Wert für den Aktionär anstrebt (shareholder value). Während das Geschäftsmodell die Grundlage für die Geschäftstätigkeit bildet (was wir tun, wie wir Wert schaffen), ist die Strategie der Plan, wie dieses Geschäftsmodell in die Tat umgesetzt werden kann (wie wir es tun, wie wir konkurrieren und kooperieren). Das Geschäftsmodell muss in seinem Ökosystem Wert schaffen und einen Teil dieses Wertes für den Innovator einfangen, damit weitere Fortschritte erzielt werden können.  Apple’s App Store ist Teil ihres Ökosystem-Geschäftsmodells, bei dem Drittanbieter Apps entwickeln und Apple daraus Einnahmen durch Provisionen aus App Verkäufen erhält. Zusätzlich wird dadurch der Absatz eigener Geräte angeregt. Apple’s Strategie besteht darin exklusive Partnerschaften mit App-Entwicklern und anderen Komplementäranbietern einzugehen, um beispielsweise in andere Marktsegmente zu expandieren. Das Tempo des Wandels ist so schnell geworden, dass die Unternehmen das sich verändernde Geschäftsumfeld ständig beobachten und ihr Geschäftsmodell weiterentwickeln und anpassen müssen, um den Veränderungen Rechnung zu tragen. Der springende Punkt ist, diese Ströme auszubalancieren; andernfalls kann es zu einer dysfunktionalen Fehlanpassung zwischen dem heutigen Geschäftsumfeld und den Geschäftsmodellen kommen. Ein erfolgreiches Unternehmen in einem Ökosystem ist eines, das ein robustes Geschäftsmodell hat, das auf die spezifischen Bedingungen des Ökosystems zugeschnitten ist, und eine agile  Strategie, die es ermöglicht, sich an Veränderungen anzupassen und Wettbewerbsvorteile zu erlangen. Man könnte argumentieren, dass ein neues Geschäftsmodell, das die Wirtschaft einer Branche verändert und von anderen nur schwer angepasst oder nachgeahmt werden kann, an sich schon einen starken Wettbewerbsvorteil darstellen könnte. Viele Führungskräfte sehen in ihrem Geschäftsmodell eine wichtigere Quelle für Wettbewerbsvorteile als in ihren Produkten, da diese immer mehr zur Massenware werden. Die Auswirkungen von Geschäftsmodell-Innovationen lassen sich nur schwer vorhersagen. Sie werden von Trends beeinflusst und entstehen im Laufe der Zeit und können die Wirtschaft in ihrer ganzen Breite verändern.

7.1 Geschäftsmodell-Innovationen

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7.1.2 Digitale Geschäftsmodelle Wie bereits mehrmals erläutert, sind digitale Geschäftsmodelle eine Form der Wertschöpfung im Kontext der digitalen Transformation (siehe Kap. 2). Vereinfacht kann man sagen, dass sie Daten veredeln und als Ressource für Innovationen zur Verfügung stellen. Dabei gibt es im Wesentlichen drei Stufen: Data-as-a-Service, Information-as-a-Service und Lösungen oder Antworten, also Everything-as-a-Service. Digitale Geschäftsmodelle unterscheiden sich von traditionellen Geschäftsmodellen insbesondere darin, dass Kundennutzen durch digitale Innovationen erzielt wird. Sie sind aufgrund ihrer Vielfältigkeit oft diffus beschrieben und schwer zuordbar, was einmal mehr der Logik der Branchen- und Technologiekonvergenz entspricht. Sie erstrecken sich über mehrere Sektoren und kombinieren verschiedene Technologien in soziale Medien, digitalen Plattformen, Ökosysteme und virtuellen Welten  – immer mit dem Ziel nachhaltig exponentiell zu skalieren. Der Schwerpunkt digitaler Geschäftsmodelle sollte immer auf Mehrwert für Kunden liegen. Wenn es beispielsweise mit einer Super-App gelingt, den Alltag und das Leben von Kunden zu vereinfachen und damit die Zufriedenheit zu steigern, können sie langfristig an Produkte, Dienstleistungen und die Unternehmen gebunden werden (siehe Kap. 6). In jüngster Zeit verlagerten sich Geschäftstätigkeiten von Marktplätzen, die aus Verkäufern, Käufern und physischen Orten, an denen die Beteiligten zusammenkommen, zu virtuellen Markträumen, in denen Transaktionen frei von zeitlichen und räumlichen Bindungen stattfinden. Die Art und Weise, wie Unternehmen mit ihren Kunden interagieren verändern sich damit grundlegend. Der Wandel von traditionellen Einzelhandelsstandorten hin zu digitalen Plattformen und der umgekehrte Trend vom E-Commerce zurück zu physischen Verkaufsstellen (O2O) prägen maßgeblich die Ausrichtung von Geschäftsmodellen. Entsprechend müssen Unternehmen überlegen, wie sie in Zukunft Nutzen und Wert schaffen wollen und ihre Geschäftsmodelle anpassen. Obwohl virtuelle Markträume wie Metaverse gerade einen Hype erleben, sind mehrseitige Plattform-Geschäftsmodelle der aktuell relevanteste Geschäftsmodelltyp im Kontext von Ökosystemen. So ermöglicht eine digitale Plattform die Interaktion von zwei oder mehr unabhängigen Teilnehmern in einem Netzwerk, was durch wissenschaftliche Arbeiten von mehrseitigen (zweiseitigen) Märkten bewiesen wurde (siehe Kap.  2). Der Wert für einen Teilnehmer entsteht durch die Präsenz anderer Teilnehmer, die beispielsweise auch Reiseanbieter oder Werbeträger sein können. Je mehr Nutzer, auf einer Reiseplattform wie Tripadvisor sind, desto mehr Informationen kann die Plattform anbieten. Entsprechend wächst damit der Wert von Tripadvisor, womit mehr Reiseanbieter und Werbekunden ihre Angebote und Anzeigen platzieren. Solche Kreisläufe verstärken sich mit jedem zusätzlichen Teilnehmer. Die Plattform-Ökonomie lebt von solchen digitalen Geschäftsmodellen, da mehrere positive Regelkreise die generativen Potenziale von Netzwerkeffekten hervorheben. „Ein digitales Geschäftsmodell integriert innovative Technologien und beinhaltet die Logik, wie Wertversprechen für Kunden und Erträge für die Unternehmen einbehalten und an Kontributoren verteilt werden.“

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7  Der Weg zum Ökosystem

7.1.3 Adaptionsfähigkeit Gemäß Duden spricht man in der Biologie von Adaption, wenn sich ein Organismus an die Umweltbedingungen anpasst und auf die Soziologie bezogen, wenn der Mensch sich an die soziale Umwelt anpasst. Die Adaption steht der Nachahmung (Imitation) nahe und ist eine Methode, eine Erfindung zu vermarkten. Basierend auf dem Wechselspiel von Erfindung und Nachahmung entstand zum besseren Verständnis der Verbreitungsmechanismen von Innovationen die sogenannte Diffusionstheorie (Rogers 2003). Hier geht es darum, welche Faktoren die Bereitschaft zur Annahme einer Innovation im Markt beeinflussen und wie sich diese Adaptionsrate im Zeitverlauf verhält (Karnowski 2011) oder wie Menschen sich aufgrund von Umwelteinflüssen auf neue Situationen einstellen (Smit et  al. 1999). Adoption bedeutet demnach eine Innovation anzunehmen, während Adaption für die Anpassung an eine Umgebung steht. Im Buch wird an verschiedenen Stellen auf die Bedeutung der Adaptionsfähigkeit im Digitalen Paradigma (siehe Kap. 2), Trends (siehe Kap. 3) oder Ökosystem Dynamik (siehe Kap. 6) eingegangen. Während bei der Imitation in der Regel eine Innovation aus dem gleichen Sektor übernommen und zum Vorteil des Unternehmens eingesetzt wird, ist die Adaption der Ansatz, bei dem ein Unternehmen eine Idee aus anderen Sektoren aufgreift und sie für den Einsatz in den eigenen Prozessen oder auf dem eigenen Markt anpasst. Die Anpassungsfähigkeit ist entscheidend, um interne Aktivitäten und organisatorische Prozesse und Strukturen so umzugestalten, dass sie den Anforderungen an Markt- und Kundenverhalten gerecht werden. Untersuchungen kommen zum Schluss, dass Einzelpersonen und Unternehmen gleichermaßen dazu neigen sich entweder anzupassen oder zu innovieren (Kirton 1976, 1980). Eine Öffnung des Geschäftsmodelles bedeutet konsequenterweise die Zusammenarbeit in einem Ökosystem. Das erfordert eine Arbeitsteilung im Innovationsprozess, um neue Werte zu schaffen, aber auch, um einen Teil dieser Werte zu erhalten (Chesbrough 2006). Offene Geschäftsmodelle schaffen sowohl für die Kunden als auch für das Unternehmen einen Mehrwert, da sie durch die Einbeziehung einer ­Vielzahl externer Konzepte viel mehr Ideen nutzen. Open Innovation ermöglicht es Unternehmen in  offenen Ökosysteme über Organisationgrenzen hinaus und sogar branchenübergreifend nach Ideen und Wissen zu suchen (siehe Kap. 5) Dank Entwicklungen in der generativen Künstlichen Intelligenz ermöglichen die Analyse historischer Daten zusammen mit aktuellen Datenströmen eine präzisere Antizipation von Marktveränderungen. Auf neue Kundenbedürfnisse kann so proaktiv reagiert werden. Das generierte Wissen über die aktuelle Praxis kann dann wiederum als Vorläufer für ­zukünftige Veränderungen genutzt werden. Innovationen hängen maßgeblich von der Qualität dieser Informationen ab. Wenn es aber darum geht, basierend auf diesen Veränderungen mehr als nur Produkte und Dienstleistungen zu verbessern, muss entsprechend das Geschäftsmodell des Unternehmens angepasst werden. Eine Anpassung am Geschäftsmodell ist wie eine Herzoperation; während der Operation muss der Blutkreislauf sichergestellt werden, ansonsten stirbt der Patient. Übertragen auf eine Organisation, wären der Blutkreislauf die Gewinne. Es muss also sichergestellt werden, dass das Unternehmen mit

7.1 Geschäftsmodell-Innovationen

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dem ursprünglichen Geschäftsmodell während des Anpassungsprozesses weiterhin Nutzen und Ertrag erwirtschaftet. Erst wenn das neue Geschäftsmodell angepasst oder eventuell sogar ganz erneuert ist, kann (falls notwendig) auf das ursprüngliche Modell verzichtet werden. Wie erfolgreich ein solches – oft transformatives – Vorhaben ist, hängt davon ab, wie agil und flexibel die Organisation ist. Innovationen von Geschäftsmodellen unterliegen zudem einer Erprobungsdynamik. Prototyping, Experimentieren und Testen beschleunigen nicht nur die Umsetzung, sondern zeigen auch die potenzielle Wirksamkeit. In Bezug auf systematische Innovation kann ein solcher Prozess in Innovationslabors oder speziellen Testumgebungen umgesetzt werden.

7.1.4 Unabhängigkeit, Transparenz und Effizienz Charles Schwab begann 1975 als Discount-Broker in San Francisco und führte Anfang der 1990er-Jahre sein neues Geschäftsmodell für persönliche Investitionen ein, welches es den Anlegern ermöglichte, Investmentfonds von verschiedenen Fondsanbietern über einen einzigen Zugangspunkt bei Schwab zu kaufen. Es gilt als eine der ersten und wirkungsvollsten Geschäftsmodell-Innovationen überhaupt. Das offene Geschäftsmodell unterstützt das Angebot von Produkten von Drittanbietern sowie den Vertrieb eigener Produkte über organisationsfremde Kanäle. Diese Idee wurde von Fasnacht (2009) umfassend untersucht und  hat sich zu dem entwickelt, was heute als offene Architektur De-Facto-­ Standart ist. Kunden auf der ganzen Welt können über digitale Plattformen problemlos auf Finanzprodukte zugreifen, sie vergleichen und erwerben. Aufgrund der weltweiten Zugänglichkeit von Informationen wurden Kunden reifer in ihren Entscheidungen. Sie erhalten eine unvoreingenommene Beratung, weil Anbieter und Intermediäre keinen Informationsvorteil gegenüber potenziellen Kunden mehr haben. Des Weiteren wurde erkannt, dass mit einer offenen Architektur bessere Renditen und eine größere Diversifizierung möglich sind. Für institutionelle Vermögensverwalter, auch Asset Manager genannt, besteht der Vorteil darin, dass sie weniger Interessenkonflikte haben, da sie Lösungen anbieten können, die den Bedürfnissen ihrer Kunden optimal entsprechen. Vermögensverwalter können ihren Kunden nur glaubwürdig versichern, dass sie unparteiisch beraten, wenn sie nicht ausschließlich ihre eigenen Produkte verkaufen. Ein Kompromiss, der auch eine bessere Qualitätskontrolle zulässt, ist auf eine begrenzte Anzahl Partner und einen eingeschränkten Vertrieb zu setzen. Dies widerspricht zwar der Ökosystemtheorie, da ja die Breite der Partnerschaften für die Skalierung relevant ist (siehe Kap. 6), macht aber in diesem Kontext Sinn. Hier kann von einer geführten (guided) Architektur ausgegangen werden. Kunden erhalten also nicht unbedingt mehr Auswahl, sondern vor allem gute Produkte und objektive Beratung. Die meisten Vermögensverwalter stützen sich heute auf eine digitale Plattform und bieten ein Modell der geführten Architektur an. Im Laufe der Jahre hat sich die Rolle von Drittanbietern in der Vermögensverwaltung verändert. Proprietäre Geschäftsmodelle verlagerten sich aufgrund von Transparenzanforderungen der Aufsichtsbehörden und aus Effizienzgründen zu offenen und geführten Ar-

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7  Der Weg zum Ökosystem

chitekturen, um das Vertrauen als unparteiischer Kundenberater wiederherzustellen. Die Wertschöpfung basiert auf dem Ruf als Plattformanbieter oder Drehscheibe für Vertrieb, Qualitätssicherung und Kundenservice, wobei die meisten der angebotenen Produkte und Dienstleistungen zugekauft werden. Dies hat die eigenen Lösungen des Anbieters kannibalisiert und die Gewinnspannen verringert. Es liegt auf der Hand, dass die Gewinne bei proprietären Produkten (passiv oder aktiv) viel höher sind als bei Produkten von Drittanbietern. Der Grund ist, dass der Drittanbieter meistens vom Plattformanbieter oder dem Verkäufer des Produkts eine Retrozession erhält. Bei Kreditkarten funktioniert es ähnlich, indem die Anbieter dem Kreditkartenunternehmen einen Rabatt einräumen. Auch wenn diese Provisionen aus regulatorischen Gründen transparent ausgewiesen und dem Endkunden rückvergütet werden müssen, sind sie immer noch umstritten. Alle Plattformen, die als Marktplatz agieren, wie Amazon oder Tripadvisor, erhalten für die Abwicklung von Geschäften eine Transaktionsgebühr. Nur wenn diese Gebühr für alle Teilnehmer identisch ist, findet keine unrechtmäßige Bevorteilung statt. Automatisch generierte Kaufempfehlungen könnten heute ohne Probleme die Höhe der Provision berücksichtigen und entsprechend derjenigen Produkte anbieten, wo die höchsten Gewinne entstehen. Datenschutz ist ein weiteres Problem bei Kollaborationen über Sektoren. Wenn die Produkte eines Unternehmens über Drittanbieter vertrieben werden, hat der Geschäftspartner den Kundenkontakt und ist in vertrauliche Kundeninformationen eingeweiht. Ähnliches gilt, wenn eine Firma Produkte von Dritten verkauft. Auch wenn beide Parteien versichern, dass Kundendaten nicht für interne Marketingaktivitäten verwendet werden, besteht immer ein Risiko bei branchenübergreifenden Ökosystemen. Bei Alibaba ist die Wiederverwendung von Kundendaten in ihrem  Ökosystem Teil des Geschäftsmodells. Allerdings ist jede Branche anderen Regularien unterworfen. So werden Gesundheitsdaten sensibler eingestuft als Daten über den Konsum von Lebensmitteln. Google, Facebook und viele andere Internetfirmen erzielen einen Grossteil ihrer Umsätze durch Werbung. Darin enthalten sind auch Erträge durch den Verkauf von Benutzerdaten. Dieses Geschäft ist nach wie vor intransparent und die Weiterverwendung und oft auch Verkauf wird mit sogenannten Cookie-Bannern oder Waivern aus dem Weg geräumt. Basierend auf der Datenschutzgrundverordnung der Europäischen Union dürfen Daten gesammelt und weiterverwendet werden, wenn der Benutzer damit einverstanden ist (DSGVO 2023). Diese Einwilligungen sind unterdessen bei Internetseiten Pflicht. Wer aber liest die Rechtsgrundlagen? Meist klicken die Benutzer die Banner einfach weg, wissend dass damit Daten automatisch auf dem Markt freigeben werden. Werbetreibende und andere Partner erhalten diese Daten und verarbeiten sie weiter, was dem Benutzer dann mit personalisierter Werbung auffällt. Der legislative Datenschutz hinkt den Innovationen globaler Plattformanbietern hinterher. In westlichen Volkswirtschaften kann das Datensammeln wohl nie vollumfassend und ausreichend eingeschränkt werden. Mit zunehmender Transparenz von Preisen und Leistungen schrumpften die Margen. Etliche Unternehmen adaptierten ihre Geschäftsmodelle und agieren heute nicht nur als Produzenten von Produkten und Dienstleistungen, sondern auch als Vertriebsplattform für andere Anbieter. Einige bieten mit Newsfeeds, Research, Produktpolitik und Beratungs-

7.2 Automatisierung

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diensten einen zusätzlichen Mehrwert und andere suchen über Branchengrenzen hinweg neuen Geschäftsmöglichkeiten, welche dann über eine Super-App aggregiert werden. Die Integration von Social-Media-Communities zum Wissensaustausch und zur Einholung von Kaufempfehlungen wird immer wichtiger. Der Grund dafür ist, dass jüngere Kundensegmente in einem Umfeld leben, in dem die kollektive Erfahrung bei jeglicher Art von Konsum ausschlaggebend ist. In einem offenen Ökosystem setzen viele Unternehmen auf Open Innovation und kaufen Produkte von Drittanbietern, integrieren sie in ihr Produktportfolio und verkaufen sie über ihre eigenen Vertriebskanäle. So entsteht eine Diffusion, wo immer schwieriger ersichtlich ist, wer eigentlich für die Lösung verantwortlich ist, was sich auch auf die Loyalität auswirkt.

7.2 Automatisierung Kunden weltweit haben ihr Verhalten dank umfassenderer Informationen in Echtzeit geändert. Über digitale Plattformen können sie heute aufgrund der Produkte- und Kostentransparenz leicht einsehen, was sie wollen. Es ist eigentlich der Kunde, der in diesem Fall den Wertschöpfungsprozess dynamisch aufteilt und die Automatisierung vorantreibt. Auf der Anbieterseite kann durch den Zugang zu einem fast unbegrenzten globalen Angebot an Produkten und Dienstleistungen über eine digitale Plattform der Anbieter von Netzwerk­ effekten profitieren. Was früher unvorstellbar war  – Konkurrenzprodukte anbieten  – ist heute in den meisten Sektoren normal. Mit dem Aufkommen automatisierter Lösungsfindungsprozesse kann man argumentieren, dass offene Geschäftsmodelle dann am erfolgreichsten sind, wenn ein Algorithmus das beste Produkt von einem beliebigen Anbieter auswählt. Die Produktempfehlungen bei Amazon sind nichts anderes als KI-basiertes Cross-Selling, wo diverse Datensätze genutzt werden, um Kundenprofile zu erstellen (siehe Kap. 6). Dies erscheint offensichtlich, wenn Benutzer in Echtzeit eine solche Empfehlung erhalten. Etwas ausgeklügelter ist es, wenn basierend auf den zuletzt ­getätigten Transaktionen einige Zeit später ein personalisiertes Mailing erfolgt oder man eine Einladung zu einem Anlass erhält. Solche Ideen sind erst der Anfang, denn die Modelle werden durch maschinelles Lernen stetig verbessert. Fortschrittliche Algorithmen prognostizieren bereits persönliche Farbpräferenzen für Kunden oder Modetrends für den nächsten Frühling. E-Commerce hat hier von Finanzdienstleistern viel gelernt. Diese versuchen seit Jahren mit Modellen zukünftige Erträge und Gewinne von Unternehmen zu prognostizieren und darauf basierend Anlageempfehlungen abzugeben. Eine systematische und stark automatisierte Handelsstrategie ist die Trendfolge, die darauf abzielt, durch den Kauf und Verkauf von Vermögenswerten basierend auf den beobachteten Trends in den Kursbewegungen Gewinne zu erzielen. Diese Strategie wird von einer Vielzahl von professionellen Börsenhändlern und Investmentfonds eingesetzt und hat sich in verschiedenen Märkten als erfolgreich erwiesen. Das Ziel von Trend Following ist es, den Trend einer Anlage zu identifizieren und diesen so lange wie möglich zu verfolgen. Dies geschieht in der Regel durch die automatisierte Analyse von Charts und Indika-

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7  Der Weg zum Ökosystem

toren, die Preisbewegungen darstellen. Stellt der Algorithmus fest, dass es zu einem Trend gekommen ist, wird versucht, diesen Trend durch den Kauf oder Verkauf von Vermögenswerten zu nutzen. Im Allgemeinen kann dieser Prozess in drei Schritten beschrieben werden: • Identifikation des Trends: Suchen nach Vermögenswerten, bei denen es zu einem Trend gekommen ist. Dies kann durch die Analyse von Charts und Indikatoren geschehen, die Preisbewegungen darstellen. • Einstieg in den Trend: Sobald der Trend identifiziert wurde, versuchen die Trader, den Trend durch den Kauf oder Verkauf von Vermögenswerten zu nutzen. • Ausstieg aus dem Trend: Sobald der Trend endet oder sich umkehrt, verkaufen die Trader ihre Positionen und nehmen Gewinne mit oder minimieren ihre Verluste. Die Anlagestrategie des Trend-Following erfordert Disziplin, da es wichtig ist, Trends genau zu beobachten und rechtzeitig in den Trend einzusteigen und auszusteigen. Wer diese Strategie erfolgreich anwenden will, benötigt ein gutes Risikomanagement. Automatisierte Tradingsysteme können dies besser als Menschen, weil sie nicht emotionalen Schwankungen unterworfen sind. Basierend auf technischer Analyse und  festgelegten Kriterien, können sie im Auftrag des Benutzers in Trends investieren und Handelspositionen eröffnen und schließen. Robo-Advisors sind längst so programmiert, dass sie den günstigsten Anbieter auswählen. Da es sich bei den billigsten Produkten in der Regel um passive Anlagen wie börsengehandelte Fonds (ETFs) handelt, sind die Algorithmen an wenige Fondsanbieter gebunden. Es gibt auch andere, die versuchen, so viele Optionen wie möglich zu integrieren; diese sind jedoch in der Minderheit. Was mit der Idee von Charles Schwab vor 25 Jahren begann und nach der Vermögensverwaltung viele andere Branchen auf den Kopf gestellt hat, ist heute vereinfacht als offenes Geschäftsmodell bekannt. Wichtig dabei ist die Vielfalt zu wahren und gleichzeitig Interessenkonflikte zwischen der Nutzung eigener und fremder Produkte auszugleichen. Ein konträres Modell ist das der Vanguard Group, die als einer der größten Vermögensverwalter gilt. Die Plattform von Vanguard verfolgt einen Innovationsansatz bei dem ausschließlich eigens produzierte passive Anlagevehikel vermarktet werden. Der Fokus liegt auf einfachen passiven Produkten für den Massenmarkt. Die erreichte Kostenführerschaft ist evident – so sind die Durchschnittspreise bei Indexfonds (ETFs) in Deutschland im Durchschnitt 0,12 %. Sparpläne lassen sich so einfach verfolgen, was den Kapitalzufluss der letzten Jahre in diese Anlagevehikel erklärt. 2015 haben Schwab und Vanguard eigene Robo-Advisor-Dienste eingeführt. Vanguard führt vor Schwab den Robo-Advisory-Markt in Bezug auf das verwaltete Vermögen mit über 200 Mrd. US-Dollar an, was einem Marktanteil von etwa 10 % entspricht (Friedberg 2022). Mit Schwab und Vanguard wurden Automatisierungsmöglichkeiten zweier gegensätzlicher Geschäftsmodelle (offen vs. geschlossen) aufgezeigt und festgestellt, dass beide Exponenten sehr erfolgreich unterwegs sind. Auch wenn offene Geschäftsmodelle das optimale Modell für Ökosystemstrategien sind, müssen Geschäftsmodell-Innovationen

7.3 Social Commerce als Trend im Ökosystem

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stets differenziert und im Kontext des Unternehmens, dessen Umwelt und der Kunden betrachtet werden. Was im Finanzsektor funktioniert, stößt in der industriellen Automation auf andere Herausforderungen. Im Maschinenbau beispielsweise fungieren die Betreiber von Produktionsanlagen als Plattform-Orchestrationen. Sie müssen Entwickler, Maschinen- und Schaltanlagenbauer aber auch Systemintegratoren, Rohmateriallieferanten, Teilehersteller von der Planung, über den Betrieb bis zum Verkauf einer Maschine koordinieren. Kommunikations- und Informationsfehler und Medienbrüche führen in der Praxis zu Ineffizienzen und Qualitätseinbußen. In einem offenen und digitalen Ökosystem, wo Daten zentral über einen Cloud-Dienst allen Anspruchsgruppen verfügbar gemacht werden, könnte sich jeder Akteur auf seine Kernkompetenzen fokussieren und die Zusammenarbeit verbessert werden.

7.3 Social Commerce als Trend im Ökosystem Herstellungsorientierte Unternehmen nutzen Lösungen für die automatisierte Absatzplanung und Absatzprognosen, um den Planungsaufwand zu reduzieren und die Planungsqualität zu optimieren. Große E-Commerce Anbieter hingegen haben sich in den letzten Jahren zunehmend für Künstliche Intelligenz entschieden, um Modetrends zu prognostizieren. Lieferkettenmanagement, Suchpersonalisierung, Lagerverwaltung, Nachfrageprognosen und Trendvorhersagen gehören dabei zu den wichtigsten Anwendungsfällen. Anbieter erhoffen sich durch die Trendvorhersagen personalisierte Kundenerlebnisse zu schaffen. Denn KI-gestützte Prognosen und die Vorhersage künftiger Trends ermöglichen es Modemarken, sich an die schnellen Veränderungen in diesem volatilen Markt anzupassen und es hilft arbeitsintensive Routineaufgaben zu automatisieren, wie beispielsweise Qualitätskontrollen, Farbabgleiche und die Überprüfung von Kundenverhaltensmustern. Kundeninteraktionen werden zunehmendes über Chatbots gesteuert und Benutzer werden angeregt Communities zu bilden, um Produkte zu diskutieren und zu bewerten. Die Daten aller Interaktionen werden ausgewertet und für das Empfehlungs-Marketing genutzt. Logistikanbieter als Sub-Ökosysteme von Handelsplattformen profitieren damit von einer dynamischen Ressourcenzuweisung, was bei der Planung der Warenauslieferung entsprechend der Nachfragevorhersage äußerst hilfreich ist. Um das individuelle Kundenerlebnis interaktiver zu gestalten, kommen virtuelle Modeschauen und Umkleidekabinen zum Einsatz. Kunden können Fotos und ihre Körpermaße hochladen, womit die Software dann ein dreidimensionales Modell erstellt, wo die Kleidungsstücke anprobiert und in verschiedenen Alltagssituationen angesehen werden können. Chinas Luxus-Ökosystem ist führend in Sachen Shopping-Innovation (siehe Kap. 6). Gemäß KI-basierten Analysen der Alibaba Cloud Community (2022) wird erwartet, dass die digital versierten Verbraucher und Plattformen des Landes bis 2025 den größten Luxusmarkt der Welt bilden werden. Motiviert durch zweistellige jährliche Wachstumsraten im chinesischen Luxusmarkt, führte die Alibaba Gruppe 2017 mit Tmall Luxury Pavilion eine Plattform für Mode, Schmuck, Kosmetik und Haushaltswaren an, die von Luxusmar-

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ken wie Gucci, Burberry, Versace und anderen verkauft werden. Durch Covid-19 befeuert, wuchsen die Konsumentenzahlen bei Tmall Luxury Pavilion im Jahr 2021 um 153  % (D’Agostino 2022). Das Verbraucherverhalten hat sich durch Covid-19 irreversibel verändert, wird digitaler und sich zunehmend in der virtuellen Welt abspielen (Roland Berger 2021). Tmall Luxury Pavilion hat in den letzten Jahren über das im Technologie-Ökosystem angesiedelte Innovation-Lab, Alibaba Damo Academy, stark in verschiedene digitale Lösungen investiert. Die Forschung von Damo konzentriert sich auf die Verwendung von Sensoren wie Kameras zur Erstellung hochwertiger 3D-Modelle, die als Grundlage für fotorealistisches Rendering verwendet werden. Auch für Personen und verformbare Objekte werden animierte Modelle erstellt, die wiederum die weitere Animation und Simulation unterstützen. Entsprechend hat der Handel für 3D-Shopping, digitale Avatare, digitale Sammlerstücke, Augmented Reality- und Virtual Reality-Anwendungen für Anproben im Einsatz. Alibaba, hat das Konzept des Metaverse bereits in eine kommerzielle Realität verwandelt, bevor es zu einem Modewort wurde. Millennials machen heute über zwei Drittel der Käufer auf Tmall Luxury Pavilion aus, während die noch digitalere Generation Z, bereits 17  % der Käufer ausmacht; 70  % aller Käufer sind Frauen. Die nächste Generation von Influencern sind bei Social Commerce im Ökosystem-Kontext, Avatare die menschliche Ganzkörper simulieren. Dazu werden parametrische netzbasierte Körpermodelle mit einer neuronalen Textur kombiniert (Grigorev et  al. 2021; Zhang et al. 2023). Solche menschlichen Avatare können mit Datensätzen von Bildern und Videos von Menschen trainiert werden, was die Modellierung von Kleidung und Haare verbessert, was gegenwärtig als eine der größeren Herausforderungen maschinenbasierter Ansätze gilt. Während sich die meisten westlichen Unternehmen auf Apps und die mobile Optimierung im Onlinehandel konzentrieren (Intellishop & ECC Köln 2023) oder versuchen über Werbung im Internet auf eine Landingpage zu verweisen, wo dann Produkte und Dienstleistungen angeboten werden, sind chinesische E-Commerce-Plattformen einen Schritt weiter. Bei Alibaba wird das gesamte Einkaufserlebnis eines Benutzers nahtlos im ­Ökosystem abgedeckt (siehe Kap. 6). Die Zukunft des Handels ist Social Commerce – die Integration von Social Media und E-Commerce  – wobei Social Media-Plattformen als Kanal für den Kauf und Verkauf von Produkten oder Dienstleistungen an Bedeutung gewinnen. Mit anderen Worten, es handelt sich um die Nutzung von Social-­ Media-­ Plattformen zur Erleichterung kommerzieller Transaktionen. Social Commerce kann ­verschiedene Formen annehmen, darunter Social-Media-Marktplätze, Social-Media-Store­ fronts, Social-­Media-­Werbung und Influencer-Marketing. Generell werden alle Möglichkeiten der sozialen Medien, Menschen miteinander zu verbinden genutzt. Unternehmen können damit ihre Präsenz in den sozialen Medien materialisieren, um den Umsatz zu steigern und neue Kunden zu erreichen. Social Commerce wird immer beliebter, da immer mehr Menschen in den sozialen Medien Produktempfehlungen suchen und neue Produkte entdecken. Zudem beteiligt Social Commerce Kunden aktiv, wobei die persönliche Beziehung sowie die Kommunikation der Kunden untereinander im Vordergrund stehen. Dieser

7.4 Service- und Kundenorientierung

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Trend wird E-­Commerce und Social Media noch stärker mit Technologie-Plattformen verbinden, wobei das Einkaufen und Bezahlen in Zukunft direkt in den sozialen Medien stattfinden wird. Durch die Nutzung von KI und maschinellem Lernen intensiviert sich das Einkaufserlebnis: personalisierte Produktempfehlungen, gezielte Werbeaktionen und maßgeschneiderte Inhalte werden Kunden auf Plattformen locken. Menschliche Avatare könnten die Rolle von menschlichen Influenzern und Werbebotschafter übernehmen. Im Rahmen des Omnichannel-­Einzelhandel können Einzelhändler durch die Kombination von Online- und Offline-Kanälen ein nahtloses Einkaufserlebnis bieten. Kunden können Produkte online kaufen und im Geschäft abholen oder umgekehrt. Social Commerce unterliegt keiner strikten thematischen Abgrenzung. In einem Netzwerk sind bekanntlich die Benutzer direkt miteinander verknüpft und haben die gleichen Rechte. Auch wenn westliche Unternehmen chinesischen Ökosystemen noch etwas hinterherhinken, ist von Social Commerce auch der Peer-to-Peer-Verkauf auf Online-­ Marktplätzen wie Facebook Marketplace und eBay, wo Einzelpersonen direkt aneinander verkaufen, betroffen. Eine andere Art sind Shopping-Lösungen in sozialen Medien, bei denen Unternehmen ihre Markengeschichte erzählen und Produkte auf Plattformen wie Facebook oder Instagram präsentieren können. Kuratierte Einkaufslisten ermöglichen es Nutzern, Produktlisten zu erstellen und zu teilen, aus denen andere dann einkaufen können. Live-Shopping-Events ermöglichen es Unternehmen, Produkte zu präsentieren und mit Kunden online zu interagieren. Wie erwähnt können in China mit Augmented Reality (AR) Verbraucher längst Kleider vor dem Kauf digital anprobieren oder Kunden beim Gruppenkauf ihre Ressourcen bündeln, um einen ermäßigten Preis zu erhalten. Social Commerce schafft, neben dem nahtlosen Einkaufserlebnis mit minimalen Kaufbarrieren, auch ein soziales Erlebnis, denn die Verbraucher können ihre Einkäufe mit Freunden teilen und besprechen und direkt mit Marken interagieren. Für Unternehmen ergeben sich durch Social Commerce  wertvolle Feedbackmechanismen und es können jüngere Zielgruppen, die intensiv soziale Medien nutzen erreicht werden. Zudem sind die Marketingkosten kostengünstiger als bei traditionellen Werbekanälen. Nachrichten und Markenbotschaften  verbreiten sich über soziale Netzwerke schneller und skalieren exponentiell, was zu höheren Konversionsraten führt.   „Social Commerce integriert E-Commerce und Social Media unter der Nutzung digitaler Technologien und schafft damit ein nahtloses Einkauferlebnis in einem offenen Ökosystem.“

7.4 Service- und Kundenorientierung 7.4.1 Market-Pull und Bedürfnisfokus Viele Unternehmen sind derzeit dabei, ihre Dienstleistungen an die Bedürfnisse der Kunden anzupassen. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Schaffung einer Vertrauensbasis mit den Kunden der Schlüssel zum Erfolg ist. Die Kunden erwarten von einem Produkt oder

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einer Dienstleistung normalerweise grundlegende Funktionen oder Merkmale. Globale Akzeptanz und elektronische Abrechnungen von Kreditkarten in Echtzeit mit einer Analyse der Ausgaben und möglicherweise einem Prognoseszenario werden heute als selbstverständlich angesehen. Fehlen diese Grundvoraussetzungen, führt das zu Unzufriedenheit beim Kunden. Auf dem Markt gibt es Fintech-Unternehmen, zahlreiche mobile Apps und Online-Banken, welche solche Möglichkeiten bieten. Digitale Onboarding-Prozesse machen es Kunden leicht abzuwandern. Die Zukunft des Zahlens spielt sich längst nicht mehr im Kerngeschäft ab, sondern beinhaltet viele Lifestyle-Services. Mit Cashback werden bei der Bezahlung mit einer Karte Rückvergütungen vorgenommen und in England kann seit 20 Jahren mit einer Kreditkarte in fast jedem Supermarkt Bargeld an der Kasse bezogen werden. Niedrige Gebühren in Kombination mit einem Bündel an digitalen Services ist, was Kunden suchen. Neben kontounabhängigen Peer-to-Peer-Geldtransfers über eine App bieten viele Kreditkartenanbieter einen kostenlosen Unfallversicherungsschutz für Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder Flügen und Zugang zu exklusiven Flughafen-­ Lounges oder einen 24-Stunden-Notdienst mit weltweit medizinischer Beratung vor Ort an. Und schließlich gibt es immer noch Prestige-Gründe, die die Kunden begeistern und inspirieren. Ein Beispiel dafür ist American Express, welche 1999 seine Centurion Card einführte, die einer sehr begrenzten Anzahl von Kunden, auf Einladung und Empfehlung, eine Reihe von exklusiven Premiumleistungen anbietet. Gegenwärtig scheint es sich um die teuerste und am schwersten zu erwerbende Karte zu handeln, was Kreditgeschichte, Einkommen und Vermögen betrifft. Weniger als ein Prozent aller American-­Express-­Kunden besitzt die prestigeträchtige schwarze Karte. Karteninhaber qualifizieren sich automatisch für den Gold-Status bei Fluggesellschaften, guten Hotels und Resorts oder Autovermietungen. Darüber hinaus versucht American Express, seiner exklusiven Centurion-Klientel sowohl Geschäfts- als auch Lifestyle-Vorteile zu bieten, die von persönlichen Reiseberatern, die sich um alle Reisebedürfnisse kümmern, über einen eigenen Concierge bis hin zu Sonderangeboten bei führenden Privatjetfirmen und einem Weltraumtourismusunternehmen reichen. Besondere (unerwartete) Anreize können eine E ­ inladung zu einer Besichtigung einer privaten Kunstsammlung, ein Mittagessen mit einer berühmten Persönlichkeit oder ein Weltraumflug sein. Solche Erlebnisse sind es, die Kundenbindung schaffen. Was uns heute begeistert, wird morgen erwartet. Einmal eingeführt, wird das aufregende Merkmal einer Dienstleistung bald von der Konkurrenz nachgeahmt, und die Kunden werden es von allen Marktteilnehmern erwarten. Sehr exklusive Leistungen, wie bei der Centurion-Karte, können allerdings nur schwer kopiert werden. Es wird zunehmend herausfordernder, Kundenbedürfnisse allein durch Market-Push-Strategien zu erfüllen. Das heißt, die Ära, in der Firmen ihre Angebote ohne Kundenbeteiligung auf den Markt brachten, neigt sich dem Ende zu. Der neue Weg der Produkt- und Dienstleistungsentwicklung besteht darin, zuerst den Verbrauchern zuzuhören und dann geeignete Lösungen zu finden. Wie bereits erwähnt, ist es offensichtlich, dass Innovationen mit der Analyse der Kundenbedürfnisse beginnen müssen. Um die Kundenbedürfnisse zu ermitteln, sollte ein systematischer Ansatz verfolgt werden. Die Verhaltensweisen der Kunden müssen dabei immer wieder neu evaluiert werden, um diese Informationen dann in ähnlichen Kundengruppen zu

7.4 Service- und Kundenorientierung

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aggregieren. Das Verständnis der Kundenbedürfnisse und der Rentabilitätsfaktoren des Kundenstamms eines Unternehmens ist der Schlüssel für die Entwicklung neuer Segmente und Wertversprechen. Kundenzentrierung ist nichts Neues. An der Wharton University und Columbia University in den USA werden seit 20 Jahren Kurse für Führungskräfte angeboten, welche auf dem Kundenzentrierungs-Ansatz der Professoren S ­ elden und Colvin beruhen (2003). Im Zuge  der digitalen Transformation haben sich zahlreiche  Möglichkeiten eröffnet, kundenzentrierte Trends durch Open Innovation zu adressieren. Die Entwicklung einzigartiger kundensegmentspezifischer Wertangebote, die über das hinausgehen, was Kunden bisher erwarten konnten, hat in einigen Bereichen, wie beispielsweise dem Finanzsektor, etwas länger gedauert (Fasnacht 2009). Auch im Zeitalter der Ökosysteme bleibt es eine Herausforderung, den Kunden ins Zentrum strategischer Überlegungen zu rücken und Innovationen kundenorientiert zu gestalten.  Für die Kundenzentrierung braucht es einen strategischen Rahmen, der aus Kundenverständnis, Kundeninnovation und Kundenrentabilität besteht. Letztendlich geht es um Innovationen und darum, wie Anbieter ihren Kunden zuhören und mit einzigartigen Wertangeboten Kundenbedürfnisse erkennen und erfüllen. Hierfür ist ein Wechsel der Perspektive erforderlich, der Hand in Hand mit offenen Geschäftsansätzen und Ökosystem-Strategien geht. Das Unternehmen ist demnach nicht nur eine Gruppe von Niederlassungen, eine Ansammlung von Geschäftsbereichen und Abteilungen, eine Reihe von Produkten und Dienstleistungen oder Funktionen oder Regionen – es ist vielmehr ein Portfolio von Kunden mit diversen Bedürfnissen. Diese Bedürfnisse können Unternehmen in der Regel nicht alle aus eigener Kraft bedienen. Entsprechend muss nicht nur das Kundenportfolio eines jeden Unternehmens effektiv und effizient verwaltet werden, sondern auch alle Dienstleistungserbringer im Ökosystemverbund. Aus Kundensicht sind verschiedene Faktoren für die Bereitstellung von unterschiedlichen Arten und Versionen von Produkten, Dienstleistungen und Beratungsmodellen verantwortlich. Theoretisch wird ein Grundbedürfnis durch einen Grundservice befriedigt. Daneben gibt es weitere komplementäre Bedürfnisse, welche durch eine Reihe ­komplementärer oder ergänzender Services befriedigt werden. Während bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen die Innovation zur (Massen)-Ware wird, kann mit ergänzenden Services das Kundenerlebnis positiv beeinflusst werden. Denn eine service-zentrierte Sichtweise ist immer kundenorientiert und positiv relational. Kunden werden mit ergänzenden Services in die Nachfrage-Angebots-Beziehung integriert. Durhc ihre aktive Beteiligung, verstärkt durch den Einfluss sozialer Medien (siehe Social Commerce), offenbaren Kunden Einblicke in ihre persönlichen Präferenzen. Unternehmen, die diese Beziehungen gezielt nutzen, können Kunden direkt in die Kreierung maßgeschneiderter und marktgerechter Angebote einbinden. Wenn also das Grundbedürfnis eine Reise von Zürich nach Berlin ist, wären komplementäre Bedürfnisse Buchung, Zahlung, Verpflegung, Unterhaltung, Reiseinformationen oder der Transport der letzten Meile. Entlang dieser Kundenreise stellen diverse Akteure im Ökosystem ihre Ressourcen und Fähigkeiten bereit. Das Grundbedürfnis wird also von der SBB und Deutschen Bahn befriedigt und für die ergänzenden Services kommen eventuell Apple-Pay, Starbucks, Spotify, Netflix, Spiegel Online, Uber, Mobility, Lime, Bird oder Tier, inklusive Bezahl- und Versicherungsdienstleistungen, dazu. Ein so

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einfaches Beispiel beinhaltet schnell über ein Dutzend unterschiedliche Leistungserbringer, welche alle mit einem Ökosystemansatz nahtlos integriert werden können, um Kunden ein umfassendes und bequemes Erlebnis zu bieten. Ein weiteres Beispiel eines komplementären Service kommt von Hema Fresh, einer Supermarktkette mit Frischprodukten, die zur Alibaba Gruppe gehört und vom chinesischen Internetunternehmen JD.com, welches unter gleichem Namen eine der größten Online-­Handelsplattformen betreibt. Mit über 400.000 Mitarbeitenden fasst JD.com mit smarten Supermärkten auch im stationären Handel Fuß. Der Konsument erhält beispielsweise Informationen zu einem Produkt direkt auf dem Smartphone angezeigt, sobald er es hochhebt. Bezahlt wird dann mit Gesichtserkennung. Der eigentliche komplementäre Service bei Hema Fresh und JD.com ist, dass sich die Konsumenten die ausgesuchten Waren, vieles davon wird sogar lebend angeboten, beim Ausgang von Köchen zubereiten lassen können. JD.com hat 2022 die ersten Läden unter der Marke Ochama – eine Wortschöpfung aus Omni-Channel und amazing – in den Niederlanden eröffnet. Ungewöhnlich ist, dass die Geschäfte ganz von Robotern betrieben werden und eine neue Art Einkaufserlebnis schaffen. Über eine Shopping-App können erstmalig Lebensmittel als auch Non-Food-­ Produkte angeboten werden. Kunden können wählen, ob sie Produkte online über die App bestellen und im Geschäft abholen oder sie am nächsten Tag liefern lassen möchten. Ochama’s futuristische Läden verfügen über ein komplett automatisiertes Lager, in dem Roboter die Bestellungen der Kunden bearbeiten, während die Kunden den Fortschritt ihrer Bestellung in Echtzeit verfolgen können. Kundenbedürfnisse sind Trends unterworfen und dynamisch. Unternehmen müssen ihren Kundenstamm ständig analysieren und Fähigkeiten haben neue Eigenschaften zu finden, welche die Kundenzufriedenheit erhöhen. Es kann heute schwer abgeschätzt werden, ob sich die oben erwähnten futuristisch anmutenden Roboter-Läden durchsetzen oder nicht. Wenn aber Social Commerce von einer Kundengruppe zwischen 16 und 32 verlangt wird, ist dies ein ernst zu nehmendes Marktbedürfnis für das Anbieter Lösungen ­bereitstellen müssen. Kognitive Technologien können dabei helfen, Branchengrenzen zu überwinden und Kunden besser zu verstehen und zu bedienen. Innovationsführer der Zukunft kombinieren verschiedene Technologien und sind in der Lage, Kunden rasch neu zu gruppieren und maßgeschneiderte Leistungen anzubieten (siehe Kap. 6). Ein Szenario für Kreditkarten könnte dahin gehen, dass die künftige Generation von Kunden möglicherweise gar keine Kreditkarten mehr benutzt. Ein Ziel des Einsatzes von digitalen Innovationen sollte es daher immer  sein, Trends und Kundenbedürfnisse vorwegzunehmen und dynamisch Kundengruppen mit ähnlichen Bedürfnissen zu bilden und zu bedienen.

7.4.2 Dynamische Kundensegmentierung Aus einer Gesamtheit von potenziellen Kunden homogene Gruppen (Segmente) zu bilden und diese gemäß ihren Bedürfnissen und auch aufgrund Profitabilitätsüberlegungen zu behandeln, ist, was unter Kundensegmentierung allgemein verstanden wird. Dazu gibt es

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keine richtige oder falsche Methode. Wichtig ist aber die klare Klassifizierbarkeit der Kunden, woraus sich dann die Bearbeitungsstrategie ableitet. Viele traditionelle Segmentierungen werden dem Kundenverhalten jedoch nicht mehr gerecht, da meist nur Geografie oder Kundenwert einfließen. Die eigentlichen Anforderungen und Erwartungen kommen dabei zu kurz. Zudem ändern sich die spezifischen Bedürfnisse im Laufe des Lebens einer Person, was auch für die Beziehung zwischen Unternehmen und Kunden gilt. Da die Kundenreise in den letzten Jahren digitaler und durch den Bezug mehrerer fragmentierter Komplementärleistungen auch komplexer geworden ist, sind innovative Modelle für die Kundenbetreuung unerlässlich. Eine dynamische Kundensegmentierung mit Fokus auf Lebensphase und Verhalten kann eine effektive Strategie zur Differenzierung sein. Bereits seit den 1990er-Jahren schlägt die Forschung Vorteile eines segmentierten Marketings vor (Belz und Tomczak 1995; Wedel und Kamakura 2000). Damals wurde allerdings noch ein hierarchischer Ansatz zur Einteilung des Marktes gewählt, was heute unpassend ist. Die Ziele einer dynamischen Marktsegmentierung sind situativ anzupassen und auch die Hyperindividualisierung, die durch KI möglich wird, muss differenziert betrachtet werden. Im Allgemeinen gelten: Positionierung und Differenzierung durch die Entwicklung spezieller Kundenvorteile und durch die Selektion geeigneter Kundengruppen Kräfte zur Bearbeitung zu konzentrieren. In der aktuellen Marktlandschaft, wo das präzise Erfassen und Bedienen von Kundenwünschen zentral ist, gewinnt die Analyse soziografischer und psychografischer Muster, an Bedeutung (Fasnacht 2020a). Psychografische Daten umfassen die Aktivitäten, Interessen und Meinungen der Verbraucher, um ein tiefes Verständnis der kognitiven Eigenschaften wie Werte, Einstellungen und Emotionen zu gewinnen. Soziodemografische Daten beinhalten Geschlecht, Alter, Herkunft, Einkommen, Bildungsniveau oder Familienstand. Die Kombination von psychografischen und soziografischen Informationen mit Kenntnissen über die Rentabilität, die Präferenzen und die Bedürfnisse der Kunden im Lebenszy­ klus ist für Anbieter von entscheidender Bedeutung, um innovative und maßgeschneiderte Kundenerlebnisse zu bieten. Fragmentierung, Integration und Segmentierung müssen in einem  Ökosystemen ausbalanciert werden. Das Interesse der Konsumenten moderner Marktwirtschaften an unterschiedlichen simulierten Lebenswelten und die Interpretation sozial geschaffener Realitäten ist nichts Neues und verlangen ein Verständis für die Akzeptanz vielfältiger Lebensweisen und Wertesysteme (Fuat Firat und Shultz 1997). Soziografische und psychografische Informationen können bei der passgenauen Bedürfnisbefridigung eine wichtige Rolle spielen.  Oft werden die Lebenszyklen grob in folgende Alterskategorien eingeteilt: Silent Generation (geboren vor 1995), Babyboomer (1945–1964), Generation X (1965–1980), Generation Y oder Millennials (1981–1995) und Generation Z (1996–2010). Obwohl alle Kategorien unterschiedliche historische, soziale und kulturelle Erlebnisse hatten und unterschiedliche situative Bedürfnisse haben, und persönlichen Werten und Zielen nachgehen, ist die Alterskohorte als Hauptfaktor für eine Segmentierung zu konstruiert. Viele Faktoren, wie Geschlecht, Sozialisierung und Prägungen, werden nicht in Betracht gezogen, ebenso wenig wie kulturelle Unterschiede. Dies führt zu Generationenklischees und

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Stereotypen. Anstelle einer solchen künstlichen Einteilung wird die Nutzung von KI für die Einteilung empfohlen. Dadurch können diverse Daten miteinander in Beziehung gebracht und so Segmente automatisch und jederzeit gebildet werden. Wie stark der Algorithmus Faktoren, wie Geschlecht oder Alter, gewichtet, kann entweder subjektiv mitgeteilt werden oder die Entscheidung gänzlich der KI überlassen werden. Amazon, Airbnb und viele andere Unternehmen tun dies bereits für die Unterbreitung maßgeschneiderter Angebote. Die KI-basierte Kundensegmentierung kann also dynamisch Muster, Anomalien und gewünschte Geschäftsziele erkennen und verwalten. Wenn diese Informationen dann mit den Akteuren in einem Ökosystem geteilt werden, können gezielt Inhalte und Angebote bereitgestellt und mittels maschinellem Lernen ständig optimiert und personalisiert werden. Die wissenschaftliche Verallgemeinerung versteht darunter eine Voraussage, sogenannte prädiktive Inhalts- und Angebotspersonalisierung. Auch wenn die Nachvollziehbarkeit der gefällten Entscheidungen bei KI-Einsatz nicht mehr gewährleistet werden kann, führt die Anwendung solcher Technologien zu realitätsnahen und geschäftsrelevanten Segmenten. In der Vermögensverwaltung wurden Kunden jahrzehntelang nur nach der Höhe des Vermögens betreut. Etwas differenzierter ist es zu verstehen, woher das Vermögen stammt und wie die Beziehungen sind. Kunden können dann einfach in Unternehmer, Führungskräfte, Freiberufler, Grundbesitzer, Erben oder Sport und Unterhaltung eingeteilt werden. Des Weiteren sind die psychografischen Faktoren von großer Bedeutung, da damit Untersegmente gebildet werden können, die den Lebensstil berücksichtigen und darauf basierend ein eigenes Wertversprechen entwickelt werden kann. Untersuchungen der Universität Zürich haben gezeigt, dass psychografische Faktoren einen signifikanten Einfluss auf das Anlageverhalten haben (Hens und Ding-Hirschfeld 2022). Demnach ist der größte Fehler die persönliche Befangenheit, sogenannte individual biases. Dies bedeutet, dass Anleger, welche auch bei hoher Volatilität nicht in das aktuelle Geschehen investieren, beziehungsweise unzureichend informiert sind, pro Jahr einen Verlust von circa sechs ­Prozent ausweisen. Jene, die mit der Masse ein- und aussteigen (exit in panic), werden mit Performance-Einbußen zwischen 20 und 40 % bestraft. Um Anleger auch in Krisen zu halten, müssen Banken den Anlagestil wählen, der am besten zur Persönlichkeit ihres jeweiligen Kunden passt. Um die Persönlichkeitsstruktur der Kunden besser in Anlageentscheidungen zu integrieren, müssen gemäß der Studie von Hens und Ding-Hirschfeld (2022)  lediglich fünf Persönlichkeitseigenschaften identifiziert werden: extrovertiert, sympathisch, gewissenhaft, stabil und offen (extroverted, agreeable, conscientious, stable, open). Es scheint logisch, dass extrovertierte Anleger eher an Wachstum und stabilitätssuchende eher an nachhaltigen und wertorientierten Anlagen interessiert sind. Bei einer dynamischen Kundensegmentierung im Kontext der Vermögensverwaltung muss also zunächst ergründet werden, was der Kunde für eine Persönlichkeit hat. Zweifelsfrei keine leichte Aufgabe, denn oft ist sich der Kunde selbst darüber nicht im Klaren. Die Verhaltensökonomie zeigt weiter, dass kulturelle Eigenarten entscheidend sind. So haben Schweizer Anleger übergreifend in allen Sprachregionen eine deutlich größere Anlegerkompetenz als ihre Nachbarn im Ausland. Skandinavier beispielsweise sind lange Winter

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gewohnt, weswegen der Kühlschrank vorher ausreichend gefüllt werden muss, damit es bis zum Frühling reicht. Es überrascht also nicht, dass nördliche Länder zu weniger Risikoverhalten und Umschichtung als Menschen im Süden neigen. Auch hier ist der Grund einleuchtend  – im Süden müssen Nahrungsmittel aufgrund der hohen Hitze möglichst rasch konsumiert werden, um ein Verderben der Naturalien zu verhindern. Solche Korrelationen kann KI schnell und ständig berechnen. Die dynamische Segmentierung nach psychografischen und soziografischen Dimensionen mit Schwerpunkt auf dem Kundenverhalten ist sehr komplex und eine Herausforderung für Mensch und Maschine. In Zukunft wird es so sein, dass Unternehmen nur dann in der Lage sind, Produkte und Dienstleistungen auf bestimmte Kundensegmente zuzuschneiden und die Kundenreise zu steuern, wenn sie große Datenmengen bearbeiten können. Die zahlreichen Kombinationen von Faktoren erfordern technologische Unterstützung in Form von leistungsfähigen Computern, künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen.

7.4.3 Prädiktive und kognitiven Fähigkeiten Die prädiktive Analyse ist eine Technik, die statistische Modelle, Künstliche Intelligenz und maschinelle Lernalgorithmen verwendet, um Vorhersagen über zukünftige Ereignisse oder Trends zu treffen. Die erste Definition ist von Cutler (2003), bei der es noch keinen direkten Zusammenhang zum heutigen Verständis von generativer Künstlicher  Intelligenz gab: „Predictive analytics connects data to effective action by drawing reliable conclusions about current conditions and future events“. In der Vertriebssteuerung versteht man darunter die Prognose von Verkäufen, die Identifizierung von möglichen Risiken oder, wie bereits erklärt, die Analyse des Kundenverhaltens. Es werden dabei historische Daten mit diversen Daten verknüpft, um möglichst nahe an ein zukünftiges Kundenbedürfnis- oder -verhalten zu kommen. Die prädiktive Analyse kann dazu verwendet werden, um Kunden aufgrund ihres vorhergesagten Verhaltens oder der Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Aktion durchzuführen, in verschiedene Gruppen einzuteilen. Im Gegensatz zur prädiktiven Analyse, die auf Algorithmen basiert, braucht es kognitive Fähigkeiten, um die maschinell aufbereiteten Informationen kritisch zu bewerten und in der Kundenbetreuung einzusetzen. Diese mentalen Prozesse und Fähigkeiten beinhalten Erinnerungen, Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Problemlösungskompetenz, Sprache und Vernunft. Kognitive Fähigkeiten bilden die Grundlage des menschlichen Denkens und Lernens, wovon Algorithmen noch weit entfernt sind. Um Prognosen zu interpretieren, die richtigen Entscheidungen zu treffen und komplexe Probleme zu lösen, kann die prädiktive Analyse mit kognitiven Fähigkeiten verknüpft werden. Nur so können Kunden besser verstanden und maßgeschneiderte Angebote entwickelt werden. Die Geschichte der Künstlichen Intelligenz macht bewusst, dass Big Data, Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen nur in der Verbindung mit menschlichen Fähigkeiten einen geschäftsrelevanten Effekt haben. Auch wenn Computer in Gesellschaftsspielen, wie Jeopardy, Schach oder Go, nicht mehr besiegt werden können, ist dies

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nur aufgrund der Rechenkapazität möglich und hat nichts mit Empathie und Verstand zu tun – beides wichtige Eigenschaften für den Aufbau einer vertrauensvollen Kundenbeziehung. Die School of Disruption (2023) beschreibt Künstliche Intelligenz als Fähigkeit eines Computerprogramms wie ein Mensch zu denken und mit Einsatz von Computern Dinge zu tun, die früher menschliche Intelligenz erforderten. Maschinelles Lernen ist demnach nur ein Teilgebiet der KI und verleiht Maschinen die Fähigkeit, aus Beispielen zu lernen, ohne explizit dafür programmiert zu werden. Letztendlich ist Deep Learning eine spezialisierte, auf maschinellem Lernen aufgebaute Technik, welche das Verhalten des menschlichen Gehirns nachahmt und es Maschinen ermöglicht, sich selbst für die Ausführung von Aufgaben zu trainieren. Als Deep Blue, der bis dahin leistungsstärkste von IBM gebaute Computer, 1997 den Schachweltmeister Garri Kasparow besiegte, basierte der Erfolg noch auf einem regelbasierten Expertensystem. Der Computer verarbeitete 200 Mio. Züge pro Sekunde, was doppelt so viele waren, wie im ersten Spiel, in dem der Computer verloren hatte. Der Computer gewann nur aufgrund der Rechenleistung, trotzdem war dies der Startschuss für Künstliche Intelligenz und das maschinelle Lernen oder was heute darunter verstanden wird. Sein Nachfolger IBM Watson schlug 2011 menschliche Sieger beim Quizspiel Jeopardy und 2016 bezwang Google DeepMind Lee Sedol, den südkoreanischen Meister im Spiel Go. Ein Jahr später brachte sich AlphaGo Zero das Spiel Go selbst bei und gewann gegen den chinesischen Weltmeister Ke Jie. Dies war bisher die größte Leistung der künstlichen Intelligenz. In China, wo vor Hunderten von Jahren eine der vier Künste, die jeder kultivierte Gelehrte beherrschen sollte, das Go-Spiel war, initiierte diese Niederlage eine der größten KI-Programme (siehe Kap. 3). Der Plan der chinesischen Regierung zielt darauf ab im Bereich der Künstlichen Intelligenz bis 2030 weltweit führend zu sein und einen Wirtschaftszweig im Wert von über 150 Mrd. US-Dollar zu schaffen. Bis dahin soll das Spiel Go von einem Smartphone beherrscht werden. Zusammen mit der Unterstützung der Regierung werden Alibaba, Baidu (Chinas Google), JD, Tencent und Toutiao sowie andere chinesische Technologieunternehmen, Innovations-Cluster wie das Silicon Valley herausfordern. Allein Alibaba hat in den letzten Jahren schätzungsweise 15  Mrd. US-­ Dollar in die KI-Forschung investiert und sieben Labors in vier Ländern aufgebaut (Larson 2018). Die Regierung fördert auch die Verbindung von Quantencomputer-Forschung mit KI-­Anwendungsgebieten mit über 10 Mrd. US-Dollar. Die USA und die EU sind mit 1,2 Mrd., respektive 1,1 Mrd. weit weniger engagiert (Srinivasan 2019). Solche Förderprogramme schaffen eine neue Realität für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft und führen zu geopolitischen Implikationen. Um seine Künstliche Intelligenz zu trainieren, hat IBM einen selbstlernenden Algorithmus programmiert, der psychografische Informationen aus E-Mails, Textnachrichten, Blogbeiträgen, Online-Bewertungen, Suchverläufen und anderen Social-Media-Kanälen sortiert und abruft. Die KI-Plattform von IBM bietet mit dem Watson Explorer eine kognitive Explorationslösung an, mit der geschäftsrelevante Daten aufgespürt und analysiert werden können (IBM 2023). Die Suche kombiniert die Inhaltsanalyse mit kognitiven Funktionen, die Menschen beim Verstehen derjenigen Daten und Information helfen, welche für die

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Entscheidungsfindung oder Kundenbetreuung notwendig sind. IBM stellt etliche Services für verschiedene Branchen über ihre Cloud-Dienste bereit. Durch die Kombination aus Technologie und Fachwissen können Organisationen so datenunterstützt eine nachhaltige Zukunft aufbauen. Mit Watson Health können mittels Daten-, Analyse- und KI-Lösungen, verschiedene Teilnehmer in einem Gesundheits-Ökosystem ihre Abläufe modernisieren und mehr Nutzen aus den ständig wachsenden Gesundheitsdaten ziehen. Watson kann auch von Finanzdienstleistern genutzt werden, um das Anlageverhalten von Investoren besser zu verstehen und Lebensereignisse und finanzielle Bedürfnisse vorherzusagen. Im Rahmen der Recherche dieses Buches wurden viele Unternehmen gefunden, die Daten aus Hunderten von Millionen von Online-Käufen und Zahlungen abrufen, die täglich über digitale Plattformen beziehungsweise mobile Zahlungs-Apps getätigt werden. Algorithmen unterstützen dabei, einen ganzheitlichen Blick auf Kunden zu bekommen. Die Unternehmen können sich zu einem vertrauenswürdigen Partner entwickeln, indem sie die Gefühle ihrer Kunden und deren Interaktionen mit ihrem Unternehmen genau verstehen. Dies unterstützt die Entwicklung eines individuellen Wertversprechens und die Bereitstellung einer personalisierten Erfahrung mit maßgeschneiderten Dienstleistungen. Künstliche Intelligenz beinhaltet viele neue Möglichkeiten, wobei die dynamische Verhaltenssegmentierung nur eine davon ist, die umfassende Erkenntnisse über die Kunden liefert. Untersuchungen zeigen, dass große Finanzdienstleister, wie die Deutsche Bank, die Citigroup, Mizuho, die NatWest Group und die Standard Bank, die Analysemöglichkeiten von Watson nutzen, um die Kundenbeziehungen und -interaktionen zu verbessern, aber auch um Risiken und Betrugsfälle zu erkennen oder Chancen und Datenmuster in der Bank zu identifizieren (IBM 2023; Deutsche Bank 2021). Plattformen, wie die von IBM, helfen dabei indirekt ein Ökosystem aufzubauen, welches aus einer Sammlung von Produkten und Diensten besteht, die speziell auf bestimmte Anwendungsbereiche abgestimmt sind. Mit einem offenen Ökosystem-Ansatz können Drittanbieter ihre eigenen Lösungen und Anwendungen auf der Watson-Plattform entwickeln und diese integriert anbieten. IBM ist rund 110 Jahre alt und eine international anerkannte Technologiefirma, die wie viele andere Großkonzerne jüngst Konkurrenz von sozialen Medien und der Unterhaltungsindustrie bekommt. TikTok, die chinesische Firma, die zu ByteDance gehört, hat sich von einer Nische für Musikclips und Kurzvideos innerhalb von nur sechs Jahren zu einem globalen Ökosystem entwickelt, welches Soziale Medien und E-Commerce inte­ griert. Damit können Nutzer Produkte über eine App kaufen, bewerten und sich darüber austauchen. Weitere Geschäftszweige reichen von Fitness, Reisen, Essen und Kochen bis über Bücher und Psychologie. Wie war dieser Aufstieg in so kurzer Zeit möglich? Tiktok hat einen der wirkungsvollsten Algorithmen entwickelt, um in Echtzeit aufgrund weniger Informationen herauszufinden, welche Inhalte Nutzer interessieren. User-Engagement und Reichweite konnten so massiv gesteigert werden. Die Milliardenschwelle der Nutzerzahlen wurde bereits 2019 geknackt – viel schneller als bei allen anderen sozialen Netzwerken. Auffallend ist auch, dass die durchschnittliche Verweildauer von TikTok-Nutzern 95 min pro Tag beträgt; im Vergleich Youtube, 74, Instagram, 51 und Facebook, 49 (Chan 2022). Die Nutzer verbringen nicht nur mehr Zeit mit der TikTok-App sondern sie inter­

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7  Der Weg zum Ökosystem

agieren auch stärker. Vor allem Nutzer unter 25 Jahren neigen zu Hyperaktivität was Netzwerkeffekte begünstigt und so den Wert eines Ökosystems erhöht (siehe Kap. 6). TikTok nutzt verschiedene Methoden, um dieses Phänomen gezielt zu fördern: • Algorithmen: ein der Konkurrenz überlegener personalisierter Algorithmus, der relevante Inhalte für jeden Benutzer, basierend auf seinen Vorlieben und Interaktionen, auswählt • Hashtags und Challenges: Benutzer werden dazu animiert, Inhalte zu erstellen und zu teilen, was zu mehr Interaktionen führt • Reaktionen und Kommentare: die App ermöglicht es von überall her auf Inhalte mit Reaktionen und Kommentaren zu reagieren, was zu mehr Interaktionen und einer sehr hohen Beteiligung führt • Belohnungssystem: Nutzern wird es ermöglicht, Belohnungen für ihre Interaktionen auf der Plattform zu verdienen • Livestreams: Möglichkeit, Livestreams zu starten, die es Benutzern ermöglichen, direkt mit ihren Zuschauern zu interagieren Für etablierte Technologiefirmen wie IBM, genau gleich wie für junge Firmen wie TikTok, ist eine dynamische Kundensegmentierung, gestützt auf intelligente Algorithmen, und prädiktiven und kognitiven Fähigkeiten, wettbewerbsentscheidend. Damit kann neben den Nutzerzahlen auch die Rentabilität gesteigert werden. Eine Erklärung dafür ist, dass die Kundenrentabilität sowie Budgets, Ziele und erwartete Renditen meistens pro Segment betrachtet werden. Während IBM auf Geschäftskunden zielt und mit einer ganzheitlichen Betrachtung der Kundenbedürfnisse und deren Verhalten und automatisierten Lösungsvorschlägen aus einem diversifizierten Ökosystem die operative Effizienz und Kundenzufriedenheit erhöht, hat TikTok einen anderen Fokus. TikTok ist beinahe unschlagbar bei Jugendlichen und Influencern, strebt aber danach, eine Plattform für alle zu werden, die Interesse an Kurzvideos haben, unabhängig von Alter, Interessen oder Hintergrund. Erste Versuche, in weitere Geschäftsfelder vorzustoßen, die höhere Profite abwerfen, wurden erfolgreich unternommen. Innovation kann in diesem Kontext als eine neue Form der Wertschöpfung verstanden werden: Mehrwert wird durch Konvergenz geschaffen und Algorithmen werden einen zentralen Beitrag in Ökosystemen leisten. IBM’s Börsenwert entspricht rund 120  Mrd. US-Dollar. ByteDance hat neben Tiktok noch andere Geschäfte. Das Unternehmen erwirtschaftete mit Werbeflächen in seinen sozialen Netzwerken und Apps bei Douyin, Toutiao und Xigua Video 2021 einen Umsatz von 58 Mrd. US-Dollar. Aufgrund der verschärften Regulierungen der chinesischen Behörden wurde der Börsengang 2021 abgesagt (Reuters 2022). Trotzdem gilt ByteDance mit aktuell rund 300 Mrd. US-Dollar als eines der am höchsten bewerteten Unicorns mit großem Potenzial getrieben durch TikTok (Yang und Yu 2022). Es gibt viele Gründe, warum sich Unternehmen im deutschsprachigen Raum immer noch zu wenig auf dynamische Kundenbedürfnisse und die Materialisierung ihrer Kundendaten konzentrieren. Wirtschaftliche Probleme, Unsicherheiten und Datenschutz werden oft genannt. Umfragen von SwissICT (2022), dem größten Fachverband für Informa-

7.4 Service- und Kundenorientierung

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tik- und Technologieunternehmen in der Schweiz, bestätigen fehlende digitale Fähigkeiten. Auswertung des vom Verband entwickelten Digital Excellence Checkups und Innovation Checkups haben aufgezeigt, dass vor allem mittelständische Unternehmen digitale Innovationen noch zu wenig in ihre Unternehmensstrategien integrieren. Entsprechend fehlt das notwendige Wissen, um digitale Wertschöpfungsmodelle anzustoßen und Daten über Plattformen zu aggregieren, auszuwerten und weiter zu verwenden. Im Handel sprechen hiesige Anbieter von Verbrauchern, während E-Commerce-Unternehmen aus Asien meist von Nutzern sprechen. Letztere implizieren Netzwerkeffekte.

7.4.4 Verbraucher, Kunden, Nutzer Viele Unternehmen unterscheiden nicht zwischen Nutzern, Verbrauchern und Kunden. Auch wenn es am Ende nur Semantik sein mag, gibt es einen Unterschied, wenn es um Vertrauen, Kundenzufriedenheit und Kundenbindung geht. Der Begriff Verbraucher bezieht sich auf jede Person, die ein Produkt oder eine Dienstleistung kauft, um es für den eigenen Gebrauch oder den Gebrauch durch die Familie oder Haushaltsmitglieder zu verwenden. Im Konext eines Ökosystems kann es aber auch sein, dass Verbraucher Inhalte nur lesen, anschauen, hören oder teilen ohne zu bezahlen. Der Begriff Kunde bezieht sich hingegen auf jede Person oder Organisation, die ein Produkt oder eine Dienstleistung von einem Unternehmen kauft und als Kunde in der Organisation für die Rechnungserstellung und Marketingmassnahmen abgespeichert ist. Der Unterschied zwischen Verbraucher und Kunden ist neben dem Zweck auch die Datenhaltung. Zudem kaufen Verbraucher in der Regel für den eigenen Gebrauch (B2C), während Kunden oft Produkte oder Dienstleistungen für ihre Unternehmen kaufen (B2B). Kunden fungieren als Teil einer Lieferkette oder eines Unternehmens. Der Kunde ist dementsprechend eine Person oder ein Unternehmen, das eine professionelle Dienstleistung in Anspruch nimmt  diese aber auch veredeln und weitervertreiben kann. Es gibt hier also eine direkte wirtschaftliche, oft auch vertrauensvolle Beziehung, was beim Verbraucher und auch beim Nutzer nicht unbedingt der Fall ist. Technologie-, Internet-, Social-Media- und E-Commerce Plattformen sprechen in der Regel von ihren Nutzern und nicht von Kunden oder Verbrauchern. In einem digitalen Ökosystem kann der Nutzer sowohl Verbraucher als auch Kunde sein (prosumer), je nachdem, wie er sich mit dem System verbindet (Toffler 1980). Nutzer sind oft diejenigen, die Feedback geben, Bewertungen hinterlassen und an Community-Aktivitäten teilnehmen. Im Rahmen unserer Untersuchungen über Alibaba und Tencent (siehe Kap. 6) wurde aufgezeigt, wie sich diese Unternehmen vom E-Commerce im Einzelhandelssegment, res­ pektive von einem Nachrichten-Anbieter, beide mit tiefen Technologiekompetenzen, zu branchenübergreifenden Ökosystemen entwickelt haben. Tendenziell stützt sich die Kommunikation in Asien aber auch bei US-Technologiefirmen auf Nutzer und Nutzerzahlen. Das ist daher relevant, weil Wachstum durch Netzwerkeffekte getrieben ist (siehe Kap. 4). Nutzer sind eigentlich Konsumenten, die das Produkt oder die Dienstleistung unpersönlich über eine digitale Plattform oder ein mobiles Gerät nutzen und bei Cloud Services oft

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7  Der Weg zum Ökosystem

nur temporär abrufen, also mieten. Algorithmen werten in der Regel Daten von Nutzern aus. Wenn hingegen Finanz- und Gesundheitsdienstleister betrachtet werden, so sind diese eher daran interessiert, ihre Kunden bzw. Patienten persönlich zu kennen und eine nachhaltige Beziehung aufzubauen. Darauf basierend, kann sich eine langfristige und loyale Bindung entwickeln. Dementsprechend sollten die Begriffe auf Grundlage der Form aufgebauter Beziehungen differenziert verwenden.

7.4.5 Vom Patienten zum Kunden Digitale Tools haben uns einen leichteren Zugang, eine größere Auswahl und individualisierte Lösungen gebracht. Zusätzlich messen Menschen immer mehr Gesundheitsdaten mit Sport- und Lifestyle-Apps. Dadurch kennen sie ihren Gesundheitszustand besser. Krankheiten können so nicht nur präventiv verhindert werden, sondern auch im akuten Krankheitsfall kann durch mobilen und virtuellen Zugriff auf ein Gesundheits-Ökosystem bequem auf medizinische Informationen zugegriffen oder die Community um Rat gefragt werden. Während früher nur der behandelnde Arzt über den Zustand des Patienten Bescheid wusste, sehen sich Patienten heute eher als aufgeklärte Konsumenten in einem Ökosystem, welches Krankheit, Behandlung, Therapie und präventive Maßnahmen vereint. Auch die Entscheidungen werden aufgrund der zunehmenden Transparenz demokratischer. Neben dem Arzt gibt es heute viele alternative Wege. Gibt man intelligenten Assistenten und Künstlicher Intelligenz Zugriff auf alle persönlichen Gesundheitsdaten, kann man sich von diesen Empfehlungen einholen und dann kognitiv das weitere Vorgehen abwägen. Der Wertewandel findet gerade statt: Verhaltensänderungen zur präventiven Vorsorge und gesunde Lebensstile rücken in den Vordergrund. Zudem löst sich der Unterschied ­zwischen Patienten, Konsument und Kunde auf. Der Patient wird zur Teilmenge des Konsumenten (Frick et al. 2020). Diese Bewusstseinsveränderung ist ein gutes Beispiel dafür, dass Menschen Gesundheitsdienstleistungen wie alle anderen Dienstleistungen über eine Plattform beziehen wollen. Da Menschen öfter über E-Commerce-Plattformen Essen einkaufen als sie zum Arzt gehen und Fitnessdaten mit Trackern permanent messen, kennt eine Plattform den Zustand von Menschen, ob gesund oder krank, recht gut. Die Plattform hat also eine direkte Beziehung zum Nutzer, welche dienstleistungs-, medizin-, zahlungsbasiert oder versicherungstechnisch sein kann. Eine Super-App, wie bei Tencent gesehen, kann zur zentralen Schnittstelle zwischen Menschen und Gesundheitsdienstleistern werden, wobei sich die Grenzen zwischen Gesundheit, Krankheit und Lifestyle auflösen.

7.4.6 Zwischenmenschliche Beziehungen Aus Unternehmensperspektive können langfristige Partnerschaften nur entwickelt werden, wenn individuelle und persönliche Beziehungen auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens gepflegt werden. Dies gilt für jegliche Beziehungen zwischen Menschen. Die proaktive

7.4 Service- und Kundenorientierung

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Ansprache von Kunden auf der Grundlage ihres Verhaltens und ihrer Stimmungen ist der Schlüssel zum Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung. Die Erfahrungen, die Kunden während der gesamten Customer Journey machen, schaffen Wissen für das Unternehmen. Da immer mehr Daten generiert werden und das globale Datenvolumen exponentiell steigt und bis 2025 auf 181 Zettabytes anwachsen wird (IDC 2022), können große Datenvolumen (Big Data) nur noch mit KI analysiert werden (Reinsel et  al. 2018). Daten werden also immer umfangreicher und vielfältiger und können entsprechend nur noch von Algorithmen aufbereitet werden. Das kann Schwierigkeiten bei der sozialen Interaktion verursachen. Von einer zwischenmenschlichen Beziehung wird erwartet, dass, falls nicht offiziell zugängliche Informationen über eine Person oder eine Situation vorliegen, diese nicht von einer KI kommen, sondern vertraulich vom Kommunikationspartner selbst aufbereitet wurden. Bei sensiblen Gesundheit- oder Finanzdaten ist die Zurückhaltung noch größer. Der Datenschatz wird für Unternehmen immer wertvoller, auch weil Informationen differenzierte Wettbewerbsvorteile schaffen. Für Wettbewerber ist es schwierig, Informationen über Kunden oder Nutzer zu adaptieren oder zu imitieren, ohne die Umstände und den sozialen Kontext, die zur Entstehung geführt haben, zu kennen. Eine Reproduktion ist unmöglich. Forschungen aus dem Konsumentenverhalten zeigen, dass die Art der Beziehung und der Beratung das Vertrauen durch bewusste und teils unbewusste Prozesse beeinflusst (Neumaier 2010). Ein nahtlos integrierter digitaler Prozess spielt ebenso eine Rolle, wie die durch Plattformen erlangte Transparenz. Auch Hilfsmittel wie Chatbots können eine nicht unwesentliche Beziehung zwischen Konsumenten oder Patienten und einer Organisation aufbauen (Gieling 2018; Parviainen und Rantala 2022). Alle Arten und Formen von Interaktionsmöglichkeiten tragen zu einer Atmosphäre der Sicherheit und des Vertrauens bei. Ist die gemachte Erfahrung positiv, fördert dies die Entscheidungsfindung und letztendlich den Zuschlag für einen Anbieter. Vertrauen ist ein immaterieller Faktor und ­erfordert höchste Servicequalität von allen an der Kundeninteraktion beteiligten Personen. Alle Berührungspunkte bestimmen das Kundenerlebnis und je höher die Kundenzufriedenheit, desto besser ist die Kundenbindungsrate, was letztlich zu einem höheren Umsatz führt. Da im Ökosystem keine durchgängigen Wertschöpfungsketten mehr existieren, die von einem Anbieter kontrolliert werden, besteht das Risiko, dass ein Wertgenerator negative Erlebnisse erzeugt oder den Anforderungen nicht mehr entspricht. Dies wirkt sich auf die gesamte Customer Journey aus. Ein Ökosystem ist, wie in der Natur, ein hochsensibles System, weil es aus einer Vielzahl von interagierenden und abhängigen Teilnehmern besteht. Jede Störung in einem Teil der Wertschöpfung kann Auswirkungen auf andere Teile haben und das gesamte Ökosystem beeinträchtigen. Dies kann dazu führen, dass das Ökosystem instabil wird und wenn zu viel Reputationsschaden angerichtet ist, ein exponentieller Zerfall eintritt. Ist das Gleichgewicht erst einmal gestört, muss es schnell wiederhergestellt werden. Schlechte Akteure müssen eliminiert und durch neue Leistungsanbieter ersetzt werden. Neben einem permanenten Monitoring zur Qualitätssicherung, braucht es in solchen Fällen einen Orchestrator, der Entscheidungen rasch durchsetzen kann. Während die Zufriedenheit der Leistungserbringung in einem Ökosystem mit Kundenfeedbacks relativ gut gemessen werden kann, ist es beim Vertrauen schwieriger. Der Grund

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7  Der Weg zum Ökosystem

ist, dass die Wertschöpfung über Sektoren und Länder mit unterschiedlichen Kulturen und Wertvorstellungen hinausgeht und Vertrauen Teil unserer subjektiven Wahrnehmung ist. Deshalb muss jedes Unternehmen mit seinen Interaktionsmöglichkeiten eigenständige Erlebnisse schaffen, wo Vertrauen aufgebaut wird. Durch den Netzwerkeffekt kumuliert sich dies zu vertrauenswürdigen Wertkonstellationen im Ökosystem.

7.5 Erlebnisorientierte Geschäftsmodelle 7.5.1 Lifestyle und Erlebnisse Als Teil von Industrie 4.0 gilt der Wechsel von einer ressourcen- zu einer datenbasierten und von einer Push- zu einer Pull-Ökonomie. In einem Nachfragemarkt bestimmt der Konsument was produziert wird, auch bekannt unter Market Pull. Trends, bei denen das Einkaufen und Konsumieren von Produkten und Dienstleistungen zu einem Lifestyle-­Erlebnis wird, werden von sozialen Medien und Influencern beeinflusst. Unternehmen nutzen Social-Media-Plattformen, wie Instagram, YouTube oder TikTok, um ihre Produkte durch Influencer und Werbekampagnen zu bewerben. Diese Influencer haben oft eine große Anhängerschaft und sind in der Lage, ihre Follower zum Kauf bestimmter Produkte zu motivieren. Social Commerce bezieht sich auf den Verkauf von Produkten und Dienstleistungen über Social-Media-Plattformen. In naher Zukunft geht es nicht mehr nur um die Qualität oder den Nutzen eines Produktes oder einer Dienstleistung, sondern auch um das Erlebnis, die Identität und das Lebensgefühl, das mit dem Kauf eines bestimmten Produkts verbunden ist. Ein erlebnisorientiertes Geschäftsmodell zielt darauf ab, Kunden emotional zu berühren und zu begeistern, so wie es von Themen- und Freizeitparks bekannt ist. Es geht also nicht nur um den reinen Verkauf von Produkten oder Dienstleistungen, sondern um die Schaffung von emotionalen Verbindungen und positiven Erfahrungen zwischen Kunden und Unternehmen. Als Ergebnis sollten unvergessliche Erlebnisse zurückbleiben, die weit über das hinausgehen, was die Konkurrenz anbieten kann. Für den Kunden bedeutet dies eine Verschiebung von Zeitersparnis zu sinnvoll verbrachter Zeit (Pine, 2023; Pine und Gilmore 1999). Auch wenn beides wichtig erscheint, ist speziell für Patienten und das Gesundheitswesen, eine  richtige Diagnose und nachhaltige Behandlung entscheidend (Kandampully et al. 2023). Unternehmen, die auf ein erlebnisorientiertes Geschäftsmodell setzen, haben oft eine starke Kundenbindung und können sich auf diese Weise von ihren Mitbewerbern abheben. In der Reise- und Luxushotel-Branche haben bekanntlich Aufregung, Abenteuer oder hochwertigen Annehmlichkeiten, einen Einfluss auf die Personalisierung und die Kundenzufriedenheit. Wenn Lifestyle und Erlebnisse relevante Bedürfnisse werden, impliziert dies eine holistische Sicht auf Märkte, Kundenbedürfnisse und Services. Unternehmen müssen in diesem Zeitalter (auch wenn es nur für eine Generation gilt) ihre Marketingstrategien anpassen, neue Marktsegmente bilden und darauf achten wie ihre Angebote mit bestimmten Lebensstilen und Identitäten in Verbindung gebracht werden.

7.5 Erlebnisorientierte Geschäftsmodelle

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7.5.2 Vom Autobauer zum Lifestyle-Ökosystem Wie viele andere Sektoren, steht die Automobilindustrie an der Schwelle eines fundamentalen Wandels, nicht nur bei Produktinnovationen und Technologie, sondern auch beim Erfüllen neuer Kundenträume. Der globale Wettbewerb, vor allem mit aufstrebenden Elektro- und Hybridfahrzeugherstellern aus Asien, sich ständig ändernden Umwelt- und Sicherheitsvorschriften und der Förderung der digitalen Transformation und der Einführung von Innovationen unter Beibehaltung hoher Qualitätsstandards sind die Herausforderungen in Europa. Karl Benz erfand und patentierte 1886 das erste benzinbetriebene Automobil. Was darauf folgte, war eine Erfolgsgeschichte mit etlichen Innovationen und jährlich 2,2 Mio. verkaufter Autos. Seit Jahrzehnten verfolgt Mercedes-Benz ein traditionelles Geschäftsmodell entlang eines Basisproduktes – dem Auto. Obwohl sich der Umsatz der Mercedes-Benz Gruppe in den letzten zehn Jahren auf 170 Mrd. € beinahe verdoppelte, gibt es Anzeichen, dass sich die Mobilität in den nächsten zehn Jahren mehr verändern wird als in den 100 Jahren davor. Der Umsatzanteil von Mercedes-Benz Mobility, der Finanzdienstleistungssparte der Gruppe, ist in den letzten Jahren auf 17 % angewachsen. Wie alle anderen deutschen Autobauer ist Mercedes-Benz besonders abhängig von China. Der Geschäftsanteil hat sich im Jahr 2021 auf 15 % erhöht (Mercedes-Benz 2022). Gleichzeitig hat China eine stark steigende Anzahl Autobauer (rund 50). Etliche davon sind erst vor kurzem entstanden und setzen auf Elektroautos oder definieren Kundenerlebnisse komplett neu. 80 % des Elektroautomarktes sind bereits in der Hand chinesischer Hersteller. Im Gegensatz zu Mercedes-Benz hat NIO (chinesisch Weilai, „der Himmel wird blau“) eine kürzere Geschichte mit einer komplett anderen Geschäftsphilosophie. NIO wurde 2014 in Schanghai gegründet und hat in den letzten Jahren einen steilen Aufstieg erlebt. Das Unternehmen wird nicht nur als Hauptkonkurrent von Tesla angesehen, sondern könnte sogar etablierte Autobauer zum Umdenken zwingen. Das Unternehmen ist bekannt für seine hochleistungsfähigen Elektrofahrzeuge und seine innovative Technologie zum Austausch von Batterien. Das initiale Geschäftsmodell von NIO bestand aus der Entwicklung, Produktion und dem Verkauf von elektrischen Autos und Technologien für autonomes Fahren sowie Energielösungen. Mit der Vision Blue Sky Coming wurde ein umfassendes Ökosystem entwickelt, welches weit über nachhaltige Mobilitätslösungen hinausgeht. Es stützt sich auf eine Reihe von innovativen Technologien und Dienstleistungen, die darauf abzielen, das Kundenerlebnis neu zu definieren, die Umweltbelastung zu reduzieren und die Sicherheit zu erhöhen. Die wichtigsten Elemente sind: • Elektromobilität: NIO Blue Sky Coming setzt auf Elektromobilität und bietet eine Vielzahl von hochmodernen und hochleistungsfähigen Elektrofahrzeugen an. • Batterie-Swapping-Technologie: Eine patentierte Innovation, die es ermöglicht, eine Batterie kostengünstig in maximal drei Minuten gegen eine vollgeladene Batterie auszutauschen.

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7  Der Weg zum Ökosystem

• Autonomes Fahren: Technologien im Bereich des autonomen Fahrens bieten eine Vielzahl von innovativen Funktionen und Diensten, die darauf abzielen, das Fahrerlebnis zu verbessern und die Sicherheit zu erhöhen. • Nachhaltigkeit: Durch konsequente Elektromobilität und nachhaltige Mobilitätslösungen soll die Umweltbelastung reduziert werden. • Mobilitätsdienstleistungen: Ein umfassendes Ökosystem von Produkten und Dienstleistungen, darunter eine mobile App, ein intelligentes Lade- und Parksystem und eine 24/7-Strassen-Assistenz. Da das Auswechseln einer Batterie viel schneller ist als das Aufladen, hat NIO bislang tausende von Batterieladestationen in China aufgestellt. Der Prozess zum Austausch einer Batterie ist autonom und wird vollautomatisch von Robotern erledigt. Der Testbetrieb mit einigen Dutzend Stationen läuft gerade in Deutschland. NIO spricht von Usern und Communities anstatt von klassischen Auto-Kunden. Ein Ziel ist, eine User-Community aufzubauen und zu inspirieren, in der man Freude teilen und gemeinsam wachsen kann. NIO ist davon überzeugt, dass sich technologische Innovationen, schönes und intelligentes Design und die Freiheit grenzenloser, sorgenfreier Mobilität verbinden lassen. Das Streben nach einer globalen, vernetzten Gesellschaft und Lifestyle-­ Apps widerspiegelt den Zeitgeist in China. Der Fokus auf Nutzer und das Eröffnen von Forschungs- und Innovations-Labs für die frühe Konzeptentwicklung in Oxford, für autonomes Fahren in San Jose im Silicon Valley und dem Designzentrum in München unterstreichen eine offene Ökosystemstrategie. In Oslo entsteht aktuell das erste NIO-Ökosystem für europäische Nutzer. Zentraler Zugriff auf das NIO-Erlebnis bietet eine Super-App, mit der eine Community aufgebaut wird, welche es allen Benutzern ermöglicht, sich miteinander zu vernetzen und gemeinsam Erfahrungen zu teilen, sowie zusätzliche Dienstleistungen und Angebote zu nutzen. Diese Angebote gehen sehr weit und sind in NIO House, NIO Life, NIO Power und NIO Services aufgeteilt, wobei jeder Bereich wieder ein eigenes Ökosystem mit einer Vielzahl von innovativen Partnern anbietet. Während sich NIO Power und NIO Services um mobile, internetbasierte Ladelösungen mit einem weitreichenden Netzwerk zum Aufladen und Austauschen von Batterien beziehungsweise einem 360-Grad-Service rund um Mobilität befassen, erweitern NIO House und NIO Life die erlebnisorientierte Kundenreise. NIO House soll dabei einen unbeschwerter Lebensstil mit Bibliotheken, Kaffees und kreativen Workspaces ermöglichen, in denen die Nutzer arbeiten, entspannen und feiern können. Dies geschieht alles in realen Räumen und nicht in einer virtuellen Parallelwelt, wie es von Metaverse vorgegeben wird. Aktuell betreibt NIO über 100 dieser Begegnungszentren, viele in China aber auch an besten Adres­ sen in Berlin, Hamburg, München und Frankfurt. NIO Life beschäftigt sich mit Essen, Musik und Lebensgenuss. Dazu wurden über 500 renommierte Designer aus der ganzen Welt in das Ökosystem integriert, welche durchdachte Produkte von Taschen über Kleider und Haushaltsgeräte entwickeln, vorstellen und anbieten. Lifestyle-Magazine, wie Wallpaper und Modeschauen in Mailand sind ebenfalls Bestandteile zur Förderung des Kundenerlebnisses.

7.5 Erlebnisorientierte Geschäftsmodelle

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Mit dem Foodlab hat NIO eine strategische Zusammenarbeit mit der weltweit führenden Prüfungsbehörde SGS aufgenommen, um gemeinsam das Qualitätsmanagementsystem ISO9001 zu nutzen und die Lebensmittelsicherheit gemäß den Anforderungen des BRC (British Retail Consortium) aufzubauen. Das Ziel sind sichere, legale, natürliche und gesunde Lebensmittel anzubieten, aber auch Ergänzungen, wie Proteinpulver, Superfood-­ Mixes, Vitamin- und Mineralstoffpräparate und vieles mehr. Durch die Zusammenarbeit mit dem Shanghai Wine Exchange hat NIO Life den Direktkauf von Weinen von mehr als 3000 französischen Chateaus ermöglicht. Durch die Kooperation wurde ein eigenes Weinbewertungssystem eingeführt, das Qualität, Nachhaltigkeit und Preise vergleicht. Der hauseigene Wein-Club bietet seinen Mitgliedern eine Auswahl an hochwertigen Weinen aus der ganzen Welt an. Die Weine werden von erfahrenen Sommeliers ausgewählt und kuratiert, die eine Leidenschaft für die Entdeckung neuer Weine haben und immer auf der Suche nach neuen Geschmackserlebnissen sind. Die Weine werden dann in regelmäßigen Abständen an die Mitglieder des Clubs versandt, die sich für das monatliche Abonnement entschieden haben. Solche Modelle erinnern an den Nespresso Club, wo Clubmitglieder exklusive Angebote und Rabatte auf Kaffee-Produkte sowie Zugang zu limitierten Editionen und Sonderangeboten erhalten. Der Nespresso Club bietet seinen Mitgliedern einen erstklassigen Kundenservice, der rund um die Uhr verfügbar für Fragen und Probleme per Telefon, E-Mail oder Chat ist. Zusammenfassend bietet der Nespresso Club seinen Mitgliedern eine Reihe von Vorteilen, die über den reinen Kauf von Kaffeekapseln und ­Zubehör hinausgehen. Die Mitgliedschaft im Club ist kostenlos und unverbindlich und bietet eine Möglichkeit, Teil einer Community von Kaffeeliebhabern zu sein, die sich für höchste Qualität und Nachhaltigkeit engagieren. NIO Life bietet darüber hinaus regelmäßige Weinveranstaltungen und Aktivitäten an, bei denen Mitglieder die Möglichkeit haben, sich mit anderen Weinliebhabern zu vernetzen und ihr Wissen über Wein zu erweitern. Die Mitglieder haben auch Zugang zu einer mobilen App, die ihnen hilft, ihre Weinpräferenzen und -bewertungen zu speichern und ihre Weinreisen in die alte Welt zu planen. Das offene Geschäftsmodell von NIO bezieht sich auf die Art und Weise, wie das Unternehmen seine Dienste und Produkte von Drittanbietern monetarisiert. Im Gegensatz zum traditionellen Geschäftsmodell von Mercedes-Benz, wo immer noch primär Autos im Zentrum aller Geschäftsaktivitäten stehen, nutzt NIO ein offenes Geschäftsmodell mit Fokus auf autofremde Produkte und Dienste. Das Muster spiegelt das Alibaba System, indem viele Ökosysteme diverser Branchen eng miteinander verflochten sind (siehe Kap. 6.). So können Innovationen als Produkt der Zusammenarbeit entstehen und Kundenmehrwert schaffen. Das Unternehmen erhofft sich durch die volle Konzen-tration auf die Bedürfnisse und Erlebnisse ihrer Benutzer, eine intensive Kundenbeziehung zum NIO-Ökosystem zu schaffen. Die Wertvorstellungen und Lebensvorstellungen der Benutzer werden von NIO reflektiert, worauf eine nachhaltige Kundenbindung entsteht. Die Super-­App als Aggregator ist für die Nutzer eine bequeme, digitale und mobile Möglichkeit auf alle Mobilitäts- und Lifestyle-Services von NIO zuzugreifen. Die Community verbreitet Benutzererfahrungen über soziale Medien was die Interaktionen erhöht und zu

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7  Der Weg zum Ökosystem

Netzwerkeffekten führt. Mit Social Commerce kann NIO die Reichweite seiner Produkte und Dienste und gleichzeitig die Flexibilität und Skalierbarkeit des Ökosystems erhöhen. Auch wenn NIO 2022 nur etwas mehr als sieben Milliarden US-Dollar Umsatz erzielte, konnten die Autoverkäufe von 8100 im Jahre 2018 auf 122.000 im Jahre 2022 erhöht werden (NIO 2023). Allein in Schanghai hat sich die neuste NIO ET5 Limousine im ersten Quartal 2023 in China so oft verkauft, wie die C-Klasse von Mercedes, der 3er BMW und Audis A4 zusammen. Das offene und auf Erlebnisse ausgerichtete Ökosystem scheint einen positiven Effekt auf das Autogeschäft zu haben. Kunden in China wünschen digitale Erlebnisse im und um das Auto – etwas, was deutsche Autobauer im Moment nicht liefern können. Es besteht Potenzial für exponentielles Wachstum, was mit den traditionellen Geschäftsmodellen deutscher Autobauer unrealistisch ist.

7.5.3 Frauen im Zentrum Ein weiteres interessantes Beispiel für Kundenorientierung wurde im Bereich der Frauen untersucht. In den letzten Jahren wurde der von der Gesellschaft indizierte Druck auf Unternehmen größer, die Gleichstellung von Frauen und Männern zu fördern. Frauen wurden zum Zentrum des strategischen Denkens und der Rekrutierung. Damit allein kann aber das Ziel nicht erreicht werden, außergewöhnliche, wertsteigernde Kundenerlebnisse zu schaffen, welche auf die Bedürfnisse von Frauen ausgerichtet sind. Beispiele, wo Frauen andere Wertevorstellungen haben, beinhalten Art Banking, Philanthropie, Erbschafts- und Nachfolgeplanung, Steuerberatung und Dienstleistungen für Sportstars, Künstler und Entertainer. Allerdings gibt es nur wenige Banken, die solche Dienstleistungen auf globaler Ebene speziell für Frauen anbieten oder diese Leistungen in Zahlen manifestieren können. Kundinnen in den Mittelpunkt des strategischen Denkens zu stellen, entspricht in der Regel den Dienstleistungen von Family Offices und erstklassigen Vermögensverwaltern. Ihre Kunden werden so zu einer einzigartigen und wertvollen Ressource und zu einem strategischen Vorteil. Bei diesem Ansatz der Innovation sorgt der Kunde für die Nachfrage, im Gegensatz zu klassischen Modellen, wo der Anbieter Produkte auf den Markt bringt und die Zielkundensegmente zum Kauf animiert. Pull-Ansätze treiben im Wesentlichen Innovationen an, was sich in mehrfacher Hinsicht positiv auf die Entwicklung von Käufer-Verkäufer-Beziehungen auswirkt. Einige Vermögensverwalter haben eine lange Tradition und eher statische und oft nicht auf psychologische Profile abgestimmte Kundensegmentierung. Die Suche nach neuen Kundensegmenten und vor allem Maßnahmen zur Bindung an das Unternehmen werden zu wenig berücksichtigt. Die mangelnde Unterstützung von Frauen in Entwicklungsländern ohne Zugang zu Finanzdienstleistungen ist ein altbekanntes Problem. Obwohl Frauen heute rund ein Drittel des Vermögensverwaltungsgeschäfts ausmachen (Tendenz steigend), vernachlässigen viele Banken noch immer ihre Bedürfnisse. Die Entwicklung neuer, speziell auf Frauen zugeschnittener Dienstleistungen ist wichtig, reicht aber nicht aus. Wie bereits erwähnt, Innovationen in einer Pull-Ökonomie entwickeln sich aus dem

7.5 Erlebnisorientierte Geschäftsmodelle

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Markt heraus. Die Grundlage für den Erfolg liegt also in der Erschließung weiblicher Kundensegmente unter Berücksichtigung psychografischer Faktoren. Um sie zu gewinnen, müssen Banken dieses Segment vollständig in ihre Organisationsstruktur und ihre kundenorientierten Strategien integrieren. Neue Wertversprechen müssen klar definiert werden, bevor mit der Vermarktung und der Entwicklung von Lösungen zusammen mit Kunden und Partnern begonnen wird. Die NatWest Group unterhält eine sinnstiftende Vision, wo Ökologie, Unternehmertum und Lernen zu einem nachhaltigen Wachstum führen sollen. Die Bank setzt sich dafür ein, Barrieren abzubauen und Vertrauen zu schaffen. Sie gilt auch als führend in Bezug auf Innovationen im Bereich der Vermögensverwaltung für Frauen. Das Unternehmen hat ein spezielles Segmentkonzept für weibliche Geschäftsinhaberinnen und Organisationseinheiten, die auf besondere Bedürfnisse eingehen. Der Zugang zu Ausbildung, Finanzinstrumenten und einem Ressourcennetzwerk hilft Frauen, sich im Finanzbereich besser zurecht zu finden. Ziel ist es, sie bei der Planung ihrer finanziellen Zukunft zu unterstützen und die richtigen Investitionsentscheidungen zu treffen. In Zusammenarbeit mit der Global Banking Alliance for Women (GBA) und der Genehmigung von NatWest konnte aufgezeigt werden, dass die Nutzung des Potenzials von Frauen nachhaltige Gewinne bringt (GBA 2017; NatWest 2023a). Hierbei sollte die Vorbildfunktion der GBA erwähnt werden, welche Fördermaßnahmen in 135 Ländern unterhält. Das Ziel der GBA ist seit ihrer Gründung die Entwicklung innovativer, umfassender Programme, die Frauen und Unternehmerinnen den entscheidenden Zugang zu Kapital, Märkten, Bildung und Ausbildung zu ermöglichen. Im letztjährigen Jahresgipfel der GBA (2022) unter dem Titel Leading Purpose-­Driven Financial Ecosystems wurde der Aufbau frauenfreundlicher unternehmerischer Ökosysteme in Europa beschlossen. Ein Ökosystem kann auch genutzt werden, um Frauen in der Wirtschaft auszubilden, zu inspirieren und zu vernetzen. NatWest gehörte bis 2020 zur Royal Bank of Scotland Group (RBS), die 1727 gegründet wurde und eine der größten Finanzdienstleistungsgruppen der Welt ist. NatWest firmiert heute unter NatWest Group und betreut Vermögen von rund einer Billion US-Dollar. Die Bank erkannte schon früh die Möglichkeit, den Anteil weiblicher Geschäftsinhaber in der Wirtschaft zu erhöhen, und startete das Programm Women in Business (WiB) mit dem Ziel, die Bank der Wahl für von Frauen geführte Unternehmen in Großbritannien Königreich zu werden. Durch die Zusammenarbeit mit Partnern hat die Bank Innovationen geschaffen, die speziell auf die Bedürfnisse von Unternehmerinnen zugeschnitten ist und Frauen durch Aufklärung, Vernetzung und Inspiration zum Erfolg verhilft. In ihrer langen Geschichte hat die Bank eine Vorreiterrolle im Geschäft mit kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) eingenommen und betreut fast ein Viertel aller Unternehmen in Großbritannien. Als die Bank erkannte, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Männer im Vereinigten Königreich ein Unternehmen gründen, doppelt so hoch ist wie die von Frauen, begann sie, die Haupthindernisse zu erforschen, die die Gründung und das Wachstum von KMUs durch Frauen behindern, und zu untersuchen, wie sie deren Bedürfnisse am besten erfüllen kann. Mit Unterstützung der gesamten Geschäftsleitung entwickelte

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7  Der Weg zum Ökosystem

die Bank 2003 das erste spezielle Frauenprogramm für KMU in Großbritannien. Nach der globalen Finanzkrise von 2007–2008 diente die Einzigartigkeit des WiB-Programms als Wettbewerbsvorteil und stärkte ihre Position als Vorkämpferin für weibliche Unternehmerinnen. Die Initiative ist in mehreren Bereichen der Bank verankert und wurde als Schlüsselkomponente des Ziels von NatWest anerkannt, näher an ihre Kunden heranzurücken. Das WiB-Programm von NatWest wird als wichtiger Bestandteil der britischen Geschäfts- und Unternehmergemeinschaft angesehen und gilt weltweit als Beispiel für Best Practice im Bereich Frauenförderung. NatWest operiert innerhalb eines breit-diversifizierten Ökosystems, worin die GBA als globales Konsortium von Finanzinstituten, seine Mitglieder bei der Entwicklung, Umsetzung und Optimierung von Programmen unterstützt, die Frauen zugutekommen; Chartered Banker, ein hoch angesehenes Finanzdienstleistungsinstitut, und Everywoman, eine globale Organisation zur Förderung von Unternehmerinnen. Diese drei Partnerschaften bilden das Fundament des Ökosystems, welches die Beziehungen zu Frauen und generell die Kapazitäten von NatWest stärken. So stellt die GBA ihren Mitarbeitern Wissen über Frauen zur Verfügung und Standard Chartered hat das WiB-Spezialistinnen-Programm, welches von Everywoman entwickelt wurde, offiziell akkreditiert. Das Programm soll den Fachkräftemangel, im Besonderen von weiblichen Mitarbeiterinnen unterstützen. Es hilft Bankmitarbeiterinnen, Frauen maßgeschneiderte Unterstützung und Beratung für ihre Unternehmen zu bieten, das Vertrauen der Frauen in ihre Fähigkeiten und ihr Geschäftswissen zu stärken und ihr Vertrauen in die Bank aufzubauen. Die Bank nutzt auch das Fachwissen angesehener Partner, wo immer sie die Wissensbasis von Unternehmerinnen ausbauen und ihren Bekanntheitsgrad fördern kann. Diese Kooperationen bieten sowohl der Bank als auch den Partnern Reputationsvorteile und ein größeres Netzwerk potenzieller Kunden, minimieren die Kosten und ermöglichen es Unternehmerinnen, ein breiteres Spektrum an Ressourcen zu nutzen. Durch diese Partnerschaften bildet die Organisation Frauen aus, damit sie ihr Potenzial ausschöpfen können, inspiriert Frauen zur Gründung von Unternehmen und bringt sie mit spezifischen Gemeinschaftsnetzwerken und Märkten in Kontakt. Die Priorisierung des Marketings und anderer externer Kommunikationsmaßnahmen trägt nicht nur dazu bei, dass sich herumspricht, wie NatWest seinen weiblichen Kunden mit diesen Initiativen dient, sondern fördert auch das Wachstum und positioniert die Bank als Expertin für Unternehmertum und als zuverlässige Partnerin für Frauen. Um den Fortschritt und die Wirkung des Programms zu verfolgen, erstattet das WiB-­ Team vierteljährlich Bericht an das Board of Business Banking von NatWest, wobei für die leitenden Angestellten Leistungskennzahlen (KPI) für das Frauenkundensegment festgelegt wurden. Zu den Zielvorgaben gehören die Anzahl der WiB-Konten und die Anzahl der geschulten WiB-Spezialisten. Als Bank überwacht und verfolgt NatWest das Wachstum über mehrere KPIs, darunter die Anzahl der Konten von Frauen, die Gewinnung weiblicher Kunden, die Kreditvergabe an weibliche Kunden und den Net Promoter Score (NPS) für Frauen. Im Juni 2017 verzeichnete das Programm einen Anstieg von 36 % bei

7.5 Erlebnisorientierte Geschäftsmodelle

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den von Frauen geführten Geschäftskonten und einen Anstieg der Kreditvergabe an Frauen in der Wirtschaft um 26 % im Vergleich zum Vorjahr. Der NPS für Unternehmen, die von Frauen geführt werden, ist nun deutlich höher als der ihrer männlichen Pendants. Bei Unternehmen, welche NatWest über ihre Callcenter betreut, ist der NPS für Frauen sieben Punkte höher als für Männer, und bei Unternehmen, denen Kundenbetreuer zugewiesen sind, liegt er drei Punkte höher. NatWest verfolgt auch die Anzahl der durchgeführten WiB-Veranstaltungen, die durch diese Veranstaltungen erreichten Personen sowie den Wert der sozialen Medien und der Medien. Im Jahr 2017 haben Women in Business Specialists mehr als 300 Veranstaltungen in Großbritannien durchgeführt und dabei mehr als 20.000 Menschen erreicht. 2018 wurden 56.000 Firmen von Frauen gegründet, 2021 bereits 145.000. Bis Ende 2022 sollen 600.000 Firmen von Frauen geführt werden. Die CEO von NatWest, Alison Rose, und der Vorstand haben sich verpflichtet, bis 2020 mindestens 30 % Frauen in den drei obersten Führungsebenen der Bank in allen Geschäftsbereichen – das sind etwa 800 Positionen – und bis 2030 eine geschlechterparitätische Belegschaft auf allen Ebenen zu haben. Das McKinsey Global Institute schätzt einen Zuwachs der globalen Wirtschaftsleistung um 12 Billionen US-Dollar bis 2025, wenn Frauen die gleichen Rechte erlangen wie Männer (McKinsey 2015). Gemäß dem Alison Rose Review of Female Entrepreneurship Bericht, wurden der Volkswirtschaft von Großbritannien von 2019 bis 2021 über 300 Mrd. US-Dollar durch weibliche Unternehmerinnen zugeführt (NatWest 2023b). Die Analyse hat ergeben, dass wohlhabende Frauen nicht unbedingt mehr Wert auf Stil als auf Inhalt legen. Rosa und feminine Websites und Newsletter mit aktuellen Themen aus den ­Bereichen Mode, Schmuck oder Schönheit sind für viele Frauen interessant, aber sie sind nicht bedingungslos ein wertsteigerndes Argument für den Verkauf von Produkten und Dienstleistungen. Auf Frauen ausgerichtete Networking-Veranstaltungen, Schulungen zur Persönlichkeitsentwicklung und Workshops, die Frauen in Bezug auf die Geburt eines Kindes, Erbschaft, Scheidung, Philanthropie oder der Gründung eines eigenen Unternehmens gezielt beraten, versprechen mehr Nutzen, da es sich dabei um finanzielle Entscheidungen handelt, die im Laufe des Lebens einer Frau an vielen Stellen anstehen. Frauen verlangen nach umfassenderen und tieferen Beziehungen, die sich von denen gewöhnlicher Kunden unterscheiden. Viele weibliche Kunden vermeiden es, über ihr Geld und ihre Finanzpläne zu sprechen. Da Frauen mehr Veränderungen und Übergänge in ihrem Leben haben, brauchen sie Verständnis für berufliche Unterbrechungen und eine empathische Beratung. Um im wachsenden Frauensegment Marktanteile zu gewinnen, müssen Berater ihre sozialen Fähigkeiten anpassen. Sie sind gezwungen, weibliche Kunden auch durch die Einstellung von mehr weiblichen Mitarbeitern anzuziehen, was wieder das anfangs erwähnte Dilemma hervorruft. Frauen einzustellen und in Führungspositionen zu heben, nur weil es Frauen sind, ist ein Trend bei vielen Organisationen. Solche Maßnahmen versprechen kurzfristige Anerkennung von Medien und Gesellschaft, langfristig führen sie aber in eine Sackgasse. Effektiver ist es eine Veränderung in der Organisationskultur für eine diverse Belegschaft zu

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7  Der Weg zum Ökosystem

schaffen. Mit Diversity Management können Organisationen die unterschiedlichen Eigenschaften der Mitarbeitenden als Quelle neuer Wertschöpfung und Wettbewerbsfähigkeit erschließen (Gutting 2012). Mehreren Studien zufolge sind heterogene Teams erfolgreicher als homogene Teams und treffen bessere Entscheidungen – allerdings nur wenn sie entsprechen in der Organisation akzeptiert und verankert sind (McKinsey 2020; Becker 2016; Horwitz 2005). Wenn verschiedene, nicht nur auf Geschlechter ausgerichtete Diversitätsformen berücksichtigt werden und eine direkte Korrelation zwischen Frauenanteil und Firmenperformance gesucht wird, wird die Studienlage dünn. Hier scheint es durch eine hohe Frauenquote keine klaren finanziellen Vorteile zu geben (Rump und Schiedhelm 2017). Dies gilt nicht für Führungsetagen in deutschen Unternehmen, wie der von Ernst und Young entwickelte Mixed-Leadership-Barometer erklärt (EY 2023). Demzufolge fallen Umsatz, Gewinn und Börsenwert höher aus, wenn Frauen im Top Management sind. Generell gilt es, Frauenquoten differenziert zu betrachten und nicht mit der LGBTQIA+ und Woke-Bewegung, welche die Aufmerksam für Diskriminierungen fanatisch vorantreibt zu vermischen. Die pragmatischen Initiativen von NatWest haben bewiesen, dass wohlüberlegte Programme Wirkung erzielen und zu einem besseren Kundenerlebnis für Frauen führen – und nur darum geht es. Ein entscheidender Faktor für dedizierte Organisationseinheiten innerhalb einer Bank ist, dass wertvolle Kundeninformationen in der gesamten Organisation einheitlich behandelt werden müssen. Dazu müssen Geschäfts- und Produktesilos durchbrochen und neue Fähigkeiten für das Cross-Selling entwickelt werden. Dies ist besonders wichtig für Unternehmen, die durch Übernahmen schnell gewachsen sind und die Integration von organisatorischen und technischen Architekturen und Kulturen ­vernachlässigt haben. Inkompatible Kulturen, unterschiedliche Risikoprofile und Anreizsysteme stellen häufig größere Hindernisse für die Zusammenarbeit dar als tiefe Frauenquoten. Silos behindern Innovation und Wachstum, indem sie den freien Fluss von Informationen blockieren und den Wissensaustausch in Form von Best Practices verhindern. Silos können auch zu einem Wildwuchs von Innovations- und Wachstumsinitiativen führen. Eine Konsolidierung auf Unternehmensebene ist schwierig, wenn zu viele unkoordinierte Initiativen, welche alle innerhalb verschiedener vertikaler Geschäftsbereiche finanziert werden, entstehen. Der Wettbewerb wird immer härter, sodass zaghafte Ansätze zur Verbesserung des Kundenerlebnisses ohne dedizierte organisatorische Einheiten mit spezifischen Wertversprechen keinen Erfolg haben. Trends und Kundenverhalten verstehen und Mehrwert durch die Integration diverser Kundeninformationen zu generieren ist eine Herausforderung, der sich viele Unternehmen stellen müssen. Das Beispiel des wachsenden Frauenkundensegments hat gezeigt, dass solche Opportunitäten immer noch zu wenig entwickelt werden. Ein grundlegendes Überdenken der Sinnhaftigkeit und Art und Weise, wie die Organisation im Kontext von Diversity geführt wird, wäre ein erster Schritt. Dazu müssen Führungskräfte ihre Denkweise ändern und ein Kundenportfolio in einem Ökosystem verwalten, welches viele verschiedene Segmente dynamisch bedienen kann, anstatt Massenprodukte auf dem Markt einzuführen.

7.6 Vertrauen bleibt in der digitalen Welt wichtig

241

7.6 Vertrauen bleibt in der digitalen Welt wichtig Vertrauen in einer digitalen Welt bezieht sich auf die Sicherheit, Integrität und Zuverlässigkeit von allen Arten von digitalen Plattformen, sozialen Netzwerken, Online-Handel, IoT-Geräten und digitalen Diensten. Es ist entscheidend, dass Ökosysteme sicher und zuverlässig sind und persönliche und sensible Daten nicht manipuliert werden können. Basierend auf Untersuchungen kann die Zufriedenheit ein entscheidender Faktor dafür sein, was der Kunde als Qualitätsdienstleistung wahrnimmt. Mit jeder positiven Interaktion oder Erfahrung, die der Kunde mit einem Anbieter macht, wird die Beziehung und damit das Vertrauen gestärkt. Die Bedeutung des Vertrauens zwischen dem Unternehmen und dem Kunden kann nicht genug betont werden. Menschliche Interaktion ist ressourcenintensiv, fehleranfällig und teuer. Meinungen aus dem Markt, dass dieselbe Kundenzufriedenheit mit Selbstbedienung, Outsourcing von Dienstleistungen oder mit Algorithmen und Roboter erreicht werden kann, sind mit Vorsicht zu genießen. Im Gegenteil, ein persönlicher Beratungsprozess trägt dazu bei, die Interaktion zu strukturieren und je nach Verlauf und Kontext zu steuern. Diese kognitive Einschätzung eines Beraters, Verkäufers oder Service-Mitarbeiters hat einen erheblichen Einfluss auf Kaufentscheidungen. Weil mit jeder Interaktion und Erfahrung, die der Kunde mit dem Unternehmen macht, die Wahrnehmung beeinflusst wird, können empathische Mitarbeitende nachweislich ein Erlebnis schaffen, welches den Wert und die Loyalität des Kunden erhöhten. Der Grund dafür ist, dass die gemeinsamen Erfahrungen zwischen Kunde und Anbieter implizites Wissen für die Organisation generieren. Mit zunehmender Sympathie kann so über die Zeit Vertrauen aufgebaut werden. Diese zwischenmenschlichen Prozesse lassen sich nur schwer reproduzieren. Es ist derzeit kaum denkbar, dass Roboter und Maschinen diesen Prozess übernehmen, ohne dass die Qualität darunter leidet. Mit der systematischen Erfassung und Auswertung von Kundenerfahrungen mit Hilfe von KI und maschinellem Lernen kann die Organisation zwar Wissen aufbauen, für die Umsetzung dieser Informationen in der Kommunikation braucht es aber geschulte, erfahrene und empathische Personen. Folgendes Beispiel aus der Vermögensverwaltung, wo der Kundenberater die implizite Verantwortung für die Verwaltung des Kundenvermögens trägt, bestätigt die Wichtigkeiten einer vertrauensvollen (treuhänderischen) Pflicht. Die Kunden erwarten von ihrer Bank eine unvoreingenommene, objektive Beratung, bei der der Berater über das bankeigene Angebot hinausschaut und das beste Produkt auf dem Markt für sie auswählt (siehe offene Architektur, Kap. 5). Weitere wichtige Faktoren für das Vertrauen in die Bank sind ein kompetenter, zuverlässiger und sachkundiger Ansprechpartner, die Fähigkeit der Bank, das Wesentliche richtig zu machen, eine offene Architektur und eine allgemeine Einstellung, dem Kunden zu helfen. Julius Isaac Bär, der Gründer und Namensgeber der Bank Julius Bär, stellte im 19. Jahrhundert fest: „Wenn der Kontakt zwischen Menschen auf Vertrauen und absoluter Integrität beruht, dann ist das für beide Seiten von Vorteil“.

242

7  Der Weg zum Ökosystem

Dienstleistungen, die von zahlreichen anderen Anbietern in gleicher Qualität und zu den gleichen Kosten angeboten werden, gelten als Massenware oder commodity. Die Plattformisierung trägt auch zur abnehmenden Loyalität und geringen Wechselkosten bei. Unzufriedene Kunden haben meist gute Optionen, wenn sie zur Konkurrenz wechseln wollen. Technologien können helfen die Kundenzufriedenheit zu erhöhen und ermöglichen gleichzeitig Effizienzsteigerungen durch digitale Produkte und eine automatisierte Abwicklung. Wie aus dem Handel bekannt, wo ein Einkaufserlebnis sich auch dadurch auszeichnet, dass man durch verschiedene Geschäfte geht und Produkte vergleicht, sind Kunden immer eher bereit von Banken zu Fintechs oder Arztpraxen zu Gesundheitsplattformen zu wechseln, wenn sie unzufrieden sind oder einen Mehrwert bei einem anderen Anbieter entdecken. Bei Wechseln, wie auch bei Neugeschäften wird Vertrauen in digitale Angebote zu einer neuen Konnotation, denn es ist ein schmaler Grat zwischen Bequemlichkeit und der Gefährdung der Privatsphäre durch die Freigabe persönlicher Daten. Denn es ist die Konvergenz von Branchen und Technologien, welche dazu führt, dass Daten aus verschiedensten Einkaufsaktivitäten innerhalb eines Ökosystems von mehreren Akteuren benutzt werden. Aus den Analysen von Tencent und Alibaba wurde ersichtlich; Daten der Nutzer sind integraler Bestandteil von Plattform-Geschäftsmodellen und dienen weiteren Partnern im Ökosystem dazu, komplementäre Dienste anzubieten (siehe Kap. 5 und 6). Der Wert beziehungsbasierter Dienste wird in westlichen Ländern geschätzt. Die persönliche Beratung wird eine wichtige Rolle beibehalten, wenn es darum geht, durch Vertrauen Kundenbindung und -treue zu erhalten. Prognosen für den asiatischen Markt fallen anders aus. Die digitale Transformation hat in China etwa zehn Jahre früher begonnen als in Europa und digitale Tools und Dienste sind weit fortgeschritten. Die Vertrauenskrise in Banken nach der Finanzkrise hält in der westlichen Welt immer noch an und lähmt Innovationen. In China war das Vertrauen in Banken hingegen gar nie vorhanden. Nutzer haben ein größeres Vertrauen in Internet- und Technologie-Unternehmen. Es ist davon auszugehen, dass in ein paar Jahren bei der jüngeren Bevölkerung soziales Bewusstsein einkehrt und ethische und politische Interessen mit datenbasierten Geschäftsmodellen kollidieren. Während jahrelang chinesische Internetkonzerneunreguliert wachsen konnten, wurden kürzlich Börsengänge von zu dominanten Firmen verboten und etliche Regulierungen innerhalb des Datenschutzes ohne lange Übergangsfristen umgesetzt. Wem ihn Zukunft das Vertrauen geschenkt wird, bleibt in China offen. In Europa wird es klar die Privatwirtschaft sein, auch weil Datenschutzgrundverordnungen allgemein in der Bevölkerung akzeptiert werden. Das Vertrauen in ein offenes Ökosystem muss aufgebaut werden, wobei einige Maßnahmen zu empfehlen sind. So kann durch die Bereitstellung klarer Informationen und Offenlegung von Geschäftspraktiken Transparenz geschaffen werden. Datenschutz, also der Schutz der Benutzerdaten durch sichere Speicherung und Übertragung ist ein wichtiger Punkt, der mit Sicherheit korreliert. Unter Sicherheit wird die Implementierung von technischen Maßnahmen zur Verhinderung von Cyberangriffen und Datenmissbrauch subsumiert. Integrität ist eigentlich die Verpflichtung zu ethischem Handeln. Auf Daten bezogen,

7.7 Produktentwicklung mit Plattformdaten

243

wird darunter oft die Vollständigkeit, Richtigkeit und Unversehrtheit während der Datenspeicherung-, Verarbeitung- und Übertragung verstanden. Die Datenintegrität stellt sicher, dass die Daten nicht versehentlich oder absichtlich verändert, beschädigt oder verloren gehen. Datenintegrität hilft Betrug und Manipulationen zu vermeiden und ist ein wichtiger Schutzaspekt, welcher die Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit von Daten in der Plattform­ ökonomie sichert. Eine letzte Maßnahme ist die Regulierung. Eine Überwachung und Überprüfung von Geschäftspraktiken und Aktivitäten der Teilnehmer im Ökosystem durch eine externe Stelle sorgt für Sicherheit und Stabilität. Nur wenn alle Teilnehmer ein faires und sicheres Umfeld vorfinden, indem branchenspezifische oder gesetzliche Vorschriften eingehalten werden, kann Vertrauen in ein Ökosystem aufgebaut werden.

7.7 Produktentwicklung mit Plattformdaten 7.7.1 Online und wieder zurück Unternehmen, die eine rein technologiebasierte Ökosystemstrategie verfolgen, müssen mit einem Rückgang des Kundenvertrauens rechnen. In den nächsten zehn Jahren suchen Kunden voraussichtlich noch menschliche Interaktionen und möchten sich nicht nur von Algorithmen und Robotern bedienen lassen. Auch darf die Macht von Gegentrends nicht außer Acht gelassen werden. Der Trend, alles auf digitalen Plattformen zu kaufen, ist immer noch stark im Aufschwung, allerdings gibt es immer noch Debatten darüber, wie die Plattformökonomie reguliert werden sollte, insbesondere in Bezug auf Monopolisierung, Datenschutz, Steuerfragen und die Verantwortung für die auf den Plattformen angebotenen Produkte und Dienstleistungen. Eine stärkere Regulierung und Überwachung der Plattformen durch Regierungen und Regulierungsbehörden könnte einen Gegentrend auslösen. Einerseits könnten sich kleinere, spezialisierte Plattformen entwickeln, die auf bestimmte Nischenmärkte ausgerichtet sind und eine Alternative zu den großen, allumfassenden Ökosystemen bieten, andererseits ist ersichtlich, dass E-Commerce-Anbieter in das reale Handelsgeschäft einsteigen. Alibaba mit etlichen Läden (siehe Kap.  6) oder Amazon mit Amazon Fresh, Amazon Go und Amazon Style sind gute Beispiele dieser Online-­to-Offline (O2O) Dichotomie. O2O sollte aber nicht als einen direkten Gegentrend zu E-Commerce gesehen werden, sondern eher als eine Ergänzung. Es ermöglicht Unternehmen, das Beste aus beiden Welten zu nutzen und ein nahtloses, kanalübergreifendes Einkaufserlebnis für Kunden zu schaffen. Die Fortschritte in Bereichen wie der Künstlichen Intelligenz lassen digitale Kanäle weiterwachsen und begünstigen die Desintermediation. Beispielsweise wird es immer mehr Nutzer von Equity Crowdfunding oder ähnliche Peer-to-Peer-Plattformen geben. Der Bezug von Risikokapital, privatem Beteiligungskapital oder Hypotheken über Plattformen ist rein transaktionsbezogen und automatisiert. Der Prozess wird als nicht beziehungsorientiert betrachtet und gilt als eine praktische und einfache Möglichkeit Finanzierungen ohne Zwischenhändler zu erhalten. Der Peer-to-Peer-Grundsatz schafft in diesem

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7  Der Weg zum Ökosystem

Sinne das notwendige Vertrauen zwischen beiden beteiligten Parteien. Neben diesem ex­ tremen Beispiel verfolgen die meisten Branchenvertreter hybride Ansätze. Beispielsweise werden im Handel immer mehr Daten mit Computerunterstützung materialisiert, aber es gibt auch die Verschmelzung von Online- und Offline-Verkaufskanälen. Beide Stoßrichtungen begünstigen ein digitales und nahtloses Einkaufserlebnis. Im Buch wurden diverse Möglichkeiten für Geschäftsmodellinnovationen aufgezeigt, bei denen Unternehmen mit den Daten ihrer Kunden Wert generieren. Durch die Kombination mit Open Innovation und digitalen Plattformen entstehen so neue effiziente Prozesse für die Produktentwicklung. Im Markt gibt es zahlreiche Methoden und Leitfäden für nutzerorientiertes Design von Lösungen im Kontext von Ökosystemen. Ausgehend von den Daten der Nutzer über das Marktpotenzial und der Entwicklung bis zur Einführung einer datenbasierten Lösung wurde ein generischer Prozess skizziert, der in den folgenden sieben Punkten kurz erläutert wird.

7.7.2 Datensammlung Als erstes geht es um die Sammlung von möglichst diversen Daten über Benutzerverhalten auf Plattformen, aber auch Aktivitäten in der realen Welt. Generell gilt, dass das Wissen vieler Nutzer größer ist als die Weisheit einer einzelnen Organisation. Man sollte also das sogenannte Schwarmwissen (crowd intelligence) der Nutzer, inklusive Communities, in den Innovationsprozess integrieren. Heute sind Algorithmen in der Lage jegliche Art von Jahresbilanzen, Managementberichten, Forschungspapieren, Blogs und Nachrichten- oder Twitter-Feeds zu lesen. So können unstrukturierte und strukturierte Daten aus verschiedensten Quellen gesammelt und aggregiert werden. Unstrukturierte Daten haben keine vordefinierte Struktur oder Format. Dazu gehören Texte, Bilder, Audios oder Videos. Um unstrukturierte Daten verarbeiten zu können, werden oft spezialisierte Technologien und Algorithmen eingesetzt, um Informationen aus diesen Daten zu extrahieren und zu verwenden. Als erstes müssen die unstrukturierten Daten in ein System, also in eine Datenbank übertragen werden. Dann folgt die Datenkategorisierung, eine Art Klassifizierung der unstrukturierten Daten in verschiedene Kategorien, wie beispielsweise Texte, Bilder, Audios, Videos. Im Rahmen einer Datenstandardisierung werden Konvertierung in ein einheitliches Format gemacht, damit sie analysiert werden können.

7.7.3 Datenanalyse Die gesammelten und aufbereiteten Daten können mithilfe von Künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen analysiert werden. Ein erstes Ziel ist es Informationen zu extrahieren und für die weitere Bearbeitung aufzubereiten. Wichtige Informationen werden dabei von Füllwörtern und dem sogenannten Rauschen getrennt, das normalerweise weit über 90 % eines Textes ausmacht. Auch wichtig ist, dass der Algorithmus unterscheidet,

7.7 Produktentwicklung mit Plattformdaten

245

ob es Texte aus der Vergangenheit sind oder es sich um Ausblicke für die Zukunft handelt. So werden schwache Signale identifiziert, welche sich eventuell über die Zeit zu Trends hin entwickeln (siehe Kap. 3). Muster und Benutzerbedürfnisse zu erkennen ist entscheidend für Aktivitäten in der Marktforschung, Kundenanalyse oder eben der zielgerichteten digitalen Produktentwicklung. Nach der ersten Analyse folgt die Datenmodellierung. Hier werden Modelle erstellt, um Entscheidungen in Bezug auf Funktionen, Design oder Marketing zu treffen, anstatt sich auf Intuition oder subjektive Meinungen zu verlassen. Die Daten sind nun strukturiert und digital vorhanden und können für bestimmte Innovationen bereitgestellt und genutzt werden.

7.7.4 Konzeptentwicklung Die Daten enthalten erste Einsichten für Konzepte und Ideen für Funktionserweiterungen von Produkten und Dienstleistungen oder für komplett neue oder sogar disruptive Innovationen. Geschäftsmodelle, welche die Spuren und Daten von Kunden berücksichtigen – sei es aus Internet-Suchergebnissen, medizinischen Aufzeichnungen oder der Analyse von Satelliten – helfen bei der Entwicklung neuer Lösungen, die auf der Synthese solcher Daten basieren. Die Nutzerdaten sind über dynamische Kundensegmentierungen oder direkt in den Innovationsprozess integriert und können genutzt werden, um festzustellen, was die aktuellen Bedürfnisse sind, wie Produkte und Dienstleistungen verbessert werden können oder welche neuen Lösungen am Markt erfolgreich sein könnten. Dabei sind die Informationen über den Markt wegweisend, um ein dediziertes auf die Bedürfnisse der Nutzer abgestimmtes Kernwertversprechen zu formulieren. Aus dem Konzept muss ersichtlich sein, welches Problem mit welcher Lösung behoben wird. Im Kontext eines Ökosystems können damit komplementäre Services definiert werden. Die Datenanalyse gibt meist Aufschluss über neue Erkenntnisse der Kundenbedürfnisse, die dann im Konzept berücksichtigt werden müssen. Durch die Verwendung der Nutzerdaten ist dieser Prozess absolut kundenorientiert. Unternehmen müssen allenfalls die Strategie oder das Budget an das neue Wertversprechen und Kundenerlebnis anpassen.

7.7.5 Prototyping Prototypen basieren auf der Analyse der Nutzerdaten und deren Feedbacks und haben zum Ziel, festzustellen, ob die Lösung die Bedürfnisse und Anforderungen der Zielgruppe trifft. Verbesserungen, neue Funktionen und neue Produkte können entsprechend mit Prototypen vorgestellt, getestet und verbessert werden. Indem sie einen Lebenszyklus vorantreiben, der den Daten folgt, können die Unternehmen ihre technologischen Fähigkeiten nutzen und sich mit Innovationen von Wettbewerbern differenzieren. Das Ergebnis dieses Schrittes ist eine funktionale Lösung mit einem minimalen Umfang, in der Praxis bekannt unter einem Minimal Viable Product (MVP), mit dem das Design validiert wird (Proof-­of-­Concept).

246

7  Der Weg zum Ökosystem

7.7.6 Benutzertests Das Einholen von Anregungen und Feedbacks der Nutzer ist eine kontinuierliche Aktivität während des gesamten Innovationsprozesses. Benutzertest dienen dazu, sicherzustellen, ob die Lösung relevant ist und um das Verhalten, die Zufriedenheit und die Effektivität eines Produkts aus der Perspektive der Benutzer zu beurteilen. Basierend auf den Ergebnissen kann die Entwicklung auf ein definiertes Ziel hin beschleunigt werden. Die Durchführung von Tests auf der Grundlage von Daten kann simuliert und automatisiert werden. Sie helfen, die Qualität der Lösung zu bewerten und zu verbessern. Allerdings sollten die Rückmeldungen von echten Nutzern kommen und nicht ausschließlich von einem Algorithmus.

7.7.7 Einführung Das MVP wurde mit Hilfe der Nutzer-Feedbacks zu einer marktfähigen Lösung weiterentwickelt. Die Implementierung der endgültigen Version der Lösung in das Ökosystem steht bevor. Die Einführung der Lösung bedeutet zahlende Kunden zu gewinnen. Gleichzeitig sollen Markenbotschafter, Influencer oder sonstige Empfehlungsgeber und Blogger angehalten werden, ihre Erfahrungen zu verbreiten. Denn eine schnelle Akzeptanz und kurze Adoptionsrate bestimmen Skalierung und Wachstum. Also, je mehr die Lösung nutzen, desto stärker der Netzwerkeffekt, was sich exponentiell auf das Umsatzwachstum auswirkt. Da es sich in unserem Beispiel um imaginäre Produkte, also Services handelt, kann ab dem ersten Tag der Einführung bereits skaliert werden.

7.7.8 Überwachung und Optimierung Überwachung des Nutzerverhaltens als ein fortdauernder Prozess, um weitere Optimierungen vorzunehmen. Dabei fließen immer neue aktualisierte Daten in das Modell ein, um die Bedürfnisse der Nutzer weiter abzustimmen. Nachdem die Lösung im Markt eingeführt ist, bekommen Datenschutz- und Datensicherheitsrichtlinien eine große Bedeutung: Werden diese verletzt, kann das Vertrauen der Nutzer in das Produkt und das Unternehmen verloren gehen. Eine kontinuierliche Überwachung hilft auch festzustellen, ob die Aufwände stärker wachsen als die Nutzerbasis des digitalen Produktes. Ist das der Fall, führt dies zu einem Ressourcenabfluss, der durch die Dynamik in einem Ökosystem nur schwer wieder ausbalanciert werden kann. Eine Lösung kann nur nachhaltig profitabel sein, wenn effizient skaliert wird. Die sieben identifizierten Prozessschritte zur Erfassung von Werten in einem Netzwerk bilden einen pragmatischen Weg zu Innovation und Wachstum bei gleichzeitiger Steigerung von Effizienz und Rentabilität. Mit dem datenbasierten Innovations-Ansatz können Ökosysteme mit Produkten und Dienstleistungen beliefert werden und Nutzer erhalten maßgeschneiderte Lösungen bei überschaubaren Kosten und Risiken. Eine Organisations-

7.8 Wie bringt man alles zusammen?

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struktur rund um Daten, anstelle von Produkten aufzubauen, sollte erst angegangen werden, wenn ein Datenkonzept vorliegt und die Digitalisierung abgeschlossen ist. Mit einer intelligenten Integration von Technologien, zur Aggregation großer Datenmengen, Analyse und Synthese können Daten wichtiger werden als Menschen und Geld.

7.8 Wie bringt man alles zusammen? Wie erwähnt, kann die Entwicklung eines Ökosystems erst nach den Phasen Digitisierung der Daten und Digitalisierung der Prozesse erfolgen (siehe Kap.  2). Die digitale Transformation bereitet die Infrastruktur zur Unterstützung des Ökosystems vor, ohne die keine neuen Geschäftsmodelle und Zusammenarbeitsformen aufgebaut werden können. In der Wissenschaft und Praxis gibt es verschiedene Vorstellungen, wie ein Ökosystem aufgebaut werden kann. Einige Vorgehen beginnen geradlinig mit der Definition einer Ökosystemstrategie, gefolgt von Design und Aufbau, was uns sehr direkt erscheint (Joshi et  al. 2021). Fragen helfen, zu Beginn den richtigen Weg einzuschlagen. Eine Kernfrage ist demnach, ob das Unternehmen ein eigenes Ökosysteme aufbauen will, oder es reicht, in einem bestehenden Ökosystem einen Beitrag zu leisten (Pidun et al. 2022). Auf der Grundlage einer Analyse von mehr als 100 erfolgreichen und gescheiterten Ökosystemen in ­verschiedenen Sektoren und geografischen Märkten hat das BCG Henderson Institute die Herausforderung des Ökosystemdesigns mit gezielten Fragen angegangen (Pidun et al. 2020): • • • • • •

Was ist das Problem, welches gelöst werden soll? Wer muss Teil des Ökosystems sein? Wie sollte das Governance-Modell des Ökosystems aussehen? Wie kann Wert im Ökosystems erfasst werden? Was ist die Mindestanforderung des Ökosystems? Wie kann das Ökosystem effizient skalieren?

Auch wenn die Fragen nicht abschließend sind, ist einer der schwierigsten Punkte die Ausgestaltung der Wertschöpfungsbeziehungen zwischen den Teilnehmern. Wert in einem Netzwerk wird kollektiv und nicht sequenziell generiert, wobei sich Akteure oft simultan einbringen. Erst durch die Interaktion, wo oft auch der Konsument der Leistung beteiligt ist, entsteht Wert. Ein Ökosystem entwickelt sich zyklisch und unterliegt einer hohen Eigendynamik. Den Charakteristiken eines komplexen soziotechnischen Systems folgend, kann ein Ökosystem aus nicht klar definierbaren Gründen plötzlich exponentiell wachsen. Maßgeblich dabei sind das Zusammenwirken von verschiedenen Faktoren, wie Technologie, Netzwerk­ effekten, Plattformisierung, Datennutzung und Unternehmensstrategie. Wenn diese Faktoren richtig kombiniert werden, kann ein digitales Ökosystem schnelles Wachstum und Fortschritt erzielen. Wann und wie stark es wächst, kann kaum vorhergesagt werden.

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7  Der Weg zum Ökosystem

Ein Ökosystem kann allerdings auch schnell durcheinandergebracht werden, da eine Vielzahl an Verflechtungen und die wechselseitige Einflussnahme aller Teilnehmer sowie externe Faktoren der Unternehmensumwelt oder nicht planbare schockartige Ereignisse einwirken. Die Dynamik und die Disruption der Wertschöpfung in Ökosystemen stellt Unternehmen vor große Herausforderungen. Sie erfordert neue wirksame Instrumente, die das hochdynamische und zunehmend dienstleistungsorientierte Geschäftsumfeld besser widerspiegeln, um die Gestaltung und Anpassung von Geschäftsmodellen zielgerichtet zu unterstützen. An dieser Stelle setzt das Ecosystem-Canvas-Vorgehensmodell an (Burkhalter 2020). Es dient als beschreibbare Visualisierungshilfe zur Gestaltung der einzelnen Kernelemente digitaler Geschäftsmodelle. Dabei baut es strukturell auf dem Business Model Canvas nach Osterwalder und Pigneur (2010) auf, spezifiziert seine Elemente jedoch entlang der Besonderheiten digitaler Geschäftsmodelle. So bekommt bei diesem Vorgehen die kollaborative Wertschöpfung durch den Austausch von Kompetenzen und Ressourcen oder ein hybrides Leistungsangebot, welches aus physischen und digitalen Komponenten besteht, einen höheren Stellenwert. Ziel der Methode ist es, ein digitales Geschäftsmodell sukzessive entlang seiner Kernbestandteile zu durchdenken, zu diskutieren und mögliche Anpassungen für jeden Block schriftlich festzuhalten, wobei ein Leitfragebogen mit unterstützenden Fragestellungen pro Kernelement hilft. Der Ökosystemdesign-Prozess sollte je nach den Anforderungen und Zielen des digitalen Ökosystems angepasst werden. Ein effektives Ökosystem zu entwickeln, erfordert eine umfassende Analyse, ein klares Ziel und eine sorgfältige Auswahl der Akteure und Inte­ gration der Leistungskomponenten. Dazu gibt es viele verschiedene Anleitungen und Navigationshilfen (Gassmann et al. 2021; Robra-Bissantz et al. 2022; Jacobides 2022), auf die nicht weiter eingegangen werden kann.

7.9 Kompetenz-orientierte Ökosystemstrategien Die Plattformisierung hat dazu beigetagen, dass die Wertschöpfung heute stärker fragmentiert, ist als noch vor wenigen Jahren. Egal, ob im Dienstleistungssektor oder in der Realwirtschaft, ein Unternehmen kann nicht in allen Bereichen über Fachwissen verfügen und egal wie groß es ist, kaum in allen Bereichen spezialisiert sein. Es wäre ineffektiv, wenn ein Unternehmen versuchen würde, alles zu beherrschen. Durch die gleichzeitige Auslagerung bestimmter Produkte kann sich ein Unternehmen auf seine Stärken und Kernkompetenzen konzentrieren. Die Offenheit gegenüber dem Verkauf von Produkten Dritter geht einher mit der Konzentration auf Kernkompetenzen. Das ist, was unter Open Innovation verstanden wird (siehe Kap. 5). Um die Kernkompetenzen zu ermitteln, müssen einzelne Elemente akribisch analysiert werden, um dann zu entscheiden, in welchen Bereichen ein Beitrag sinnvoll wäre oder wo es besser ist, auf eine Leistung eines geeigneten Partners zurückzugreifen. Ein offenes Geschäftsmodell ist eine Möglichkeit, die unternehmerische Flexibilität zu erhöhen. Es ist schwierig, einen Zusammenhang zwischen der Anpassung

7.9 Kompetenz-orientierte Ökosystemstrategien

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von Geschäftsmodellen und der Markteinführungszeit und Innovation und Wachstum herzustellen. Mit der zunehmenden Beteiligung an Ökosystemen intensivieren sich die Partnerschaften und führen zu gegenseitigen Abhängigkeiten. Mit anderen Worten: Wenn Produkt- und Dienstleistungsinnovationen intern durchgeführt werden, ist es viel einfacher und schneller, alle notwendigen Anpassungen während der Entwicklungs-, Produktionsund sogar Vermarktungsphase der Lösung vorzunehmen. Ein Verantwortlicher für eine Lösung hätte die Befugnis, Probleme mit einem internen Telefonanruf zu lösen, statt mit zeitraubenden Verhandlungen mit externen Geschäftspartnern. Dieser kleine Vorteil hat aber keine Berechtigung, weil die Vorteile von kollaborativen Innovation in Bezug auf besserem Kundennutzen klar überwiegen. Die Zusammenarbeit ist manchmal ein subjektiver, ad hoc und nicht strukturierter Prozess, der von den individuellen Präferenzen der verantwortlichen Führungskraft abhängt. Sicher ist, dass Zusammenarbeit und Beziehungsmanagement für Unternehmen in einer fragmentierten Welt wertvoll sind und eine Ökosystemstrategie voraussetzen. „Innovation in einem offenen Ökosystem ist ein Produkt der Kollaboration.“

Eine Strategie für ein offenes Ökosystem bedeutet aber nicht nur die konsequente Öffnung von Organisationsgrenzen und die Zusammenarbeit über Sektoren hinweg. Auch wenn es notwendig ist, die Grenzen durch den Abbau von Strukturen durchlässiger zu machen, bestätigt der Markt die Notwendigkeit, Strukturen zu ändern, um Zusammenarbeit, ­Flexibilität, Lernen, Innovation und Wachstum in Zeiten großer Unsicherheit zu erreichen. Die Teilnahme in einem Ökosystem bietet Vorteile, ist aber auch ein Wagnis mit vielen Unbekannten. Die Entwicklung einer Ökosystemstrategie erfordert es, alle potenziellen Hauptakteure an einen Tisch zu bringen, um Werte und Ziele abzustimmen. Innovationskultur, technologische Voraussetzungen, Kundeneigentum und gemeinsame Datennutzung sind weitere wichtige Aspekte, die diskutiert werden müssen. Die Kernpartner des Ökosystems müssen sich auf Prinzipien stützen, welche die Wertschöpfung über die traditionellen Branchengrenzen hinaus fördern. Untersuchungen zeigen, dass die Schwierigkeiten, mit denen etablierte Unternehmen und Start-ups bei der Zusammenarbeit konfrontiert sind, vor allem auf Unterschiede in Management und Kultur zurückzuführen sind. Die eigentliche Schwachstelle liegt jedoch nicht bei den Partnerschaften im Ökosystem. Beobachtungen deuten darauf hin, dass das komplexe und dynamische Wirtschaftssystem mit seiner politischen Unsicherheit und vielen Vorschriften und die Angst vor neuen Technologien, insbesondere vor Sicherheit und Datenschutz, viele Unternehmen vor Ökosystemstrategien abhält. Aufgrund der sich veränderten Risikobereitschaft, welche sich mit jedem zusätzlichen Partner erhöht, müssen Führungskräfte neue dynamische Fähigkeiten entwickeln. Innovation und Wachstum in einer vernetzten Welt erfordern digitale und offene Geschäftsmodelle, bei denen ein Ökosystem immer Teil der Strategie sein muss. Disruptive Innovationen mit klassischen Geschäftsmodellen zu kombinieren ist nachhaltiger, weil Geschäftsmodelle in der Regel immer kürzere Lebenszyklen haben (Fasnacht 2020b). Die

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7  Der Weg zum Ökosystem

vom Harvard-Professor Michael Porter (1980) in die Praxis eingeführten Wertschöpfungsketten und Wettbewerbsstrategien waren über Dekaden erfolgreiche Managementkonzepte. Innerhalb weniger Jahre scheinen diese Gesetzmäßigkeiten außer Kraft wegen vieler gegenseitig aufeinander einwirkender Kräfte. So ergeben sich dynamisch neue Formen der Kooperation und der Konkurrenz. Die Folgen der Wechselwirkungen manifestieren sich in instabilen Unternehmensumwelten, welche die neuen Spielregeln des Wettbewerbs vorgeben. Heute ist es entscheidend, neben dem Kerngeschäft verschiedene Trends zu bedienen und gleichzeitig neue digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln und mit Partnern im Markt einzuführen. Auf die organisations- und leistungsbezogenen Kompetenzen, kann generell mit Offenheit besser eingegangen werden. Offene Ökosysteme sollten also rund um die täglichen Bedürfnisse der Kunden entstehen und in jedem Fall das Kundenerlebnis verbessern.

7.10 Integration in die Unternehmensstrategie Eine effiziente und effektive Umsetzung einer Ökosystemstrategie ist entscheidend, da es um viel mehr geht als nur Käufer und Verkäufer zusammen zu bringen oder Daten zu materialisieren. Ein Ökosystem sollte so gestaltet werden, dass es menschliche und gesellschaftliche Herausforderungen angehen kann und eine dem Gemeinwohl verpflichtete Wertschöpfung bietet. Eine vertrauensvolle Kundenbeziehung ist dementsprechend ein vitaler Baustein eines Ökosystems. Ein Grundverständnis bezüglich Plattform- und ­ Ökosystem-­Theorie bildet die Basis für erste Überlegungen. Der Leser des Buches hat an dieser Stelle gelernt, dass eine Plattform lediglich die technische Infrastruktur bereitstellt, damit Teilnehmer miteinander interagieren können und das Ökosystem Bedürfnisse von Nutzern mit einer Reihe von Produkten und Dienstleistungen befriedigt. Das Geschäftsmodell bildet sich nicht um eine Plattform, sondern um einen Shared Purpose, anhand welchem die einzelnen Akteure ihre Kernwertversprechen (Value Proposition) ausrichten und organisieren (Burkhalter 2020). Es ist losgekoppelt von einem spezifischen Leistungsangebot und des damit einhergehenden Leistungsversprechens eines einzelnen Akteurs. Die Leistungsbestandteile sind fragmentiert und Wert wird über mehrere Organisationsgrenzen hinweg generiert. In einem erlebnisorientierten Geschäftsmodell wird Mehrwert dadurch erzeugt, dass Leistungserbringer aus mehreren Branchen nahtlos miteinander verbunden werden. Die diversen Bedürfnisse werden mit einer gebündelten Lösung berücksichtigt (siehe Kap. 5). Ökosystemstrategien beinhalten neue Denkweise und sollten mehr bieten als auf den Kunden zugeschnittene Dienstleistungen. Ökosysteme werden in traditionellen Branchen an Bedeutung gewinnen. Einerseits kann durch technologische Innovationen die organisationsübergreifende Zusammenarbeit gestärkt werden, andererseits bieten Ökosysteme neue Geschäfts- und Skalierungsmöglichkeiten. Die Transition hin zu offenen Ökosystemen erfordert ein Umdenken seitens der Unternehmen, da das Management nicht länger ausschließlich auf das eigene Unternehmen fokussieren kann. Entscheidungsträger müssen sich öffnen, um

Literatur

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ein umfassenderes Wertschöpfungsnetzwerk zu erfassen, welches aus dem Unternehmen und seinen Partnern besteht. Dies ermöglicht den Unternehmen, von einer egozentrischen zu einer kooperativen Denkweise überzugehen, welche sowohl einen neuen Wettbewerb zwischen den Unternehmen als auch eine Zusammenarbeit ermöglicht, die allen Beteiligten zugutekommt. Das Paradigma des offenen Ökosystems kann auf lokaler Ebene in ein Geschäftsmodell umgewandelt werden und sich anschließend von kleinen Einheiten zu globalen Phänomenen ausweiten, wenn dieses Muster wiederholt angewandt wird. Die Erforschung neuer digitaler Plattformen hat ergeben, dass riesige Datenmengen gesammelt und gleichzeitig effizient gezielte und bequemere Dienstleistungen für verschiedene Kundensegmente auf der Grundlage ihres Verhaltens angeboten werden können. Die Ambitionen von Technologieunternehmen, zu treibenden Kräften in sektorübergreifenden Ökosystemen zu werden, sollten etablierte Unternehmen alarmieren. Das nächste Jahrzehnt wird eine neue Ebene der Geschäftsmodellinnovation bringen, bei der die Zusammenarbeit in einem Ökosystem mit unkonventionellen Partnern Teil des Spiels um Inspiration und Innovation ist. In einer digitalen Welt ohne organisatorische und sektorale Grenzen müssen vor allem traditionelle und digital rückständige  Unternehmen einen grossen  Schritt gehen und Ökosysteme schaffen, in denen sie die neuesten kognitiven Technologien nutzen, um verschiedene Geschäftsbereiche miteinander zu verbinden. Visionäre Führungspersönlichkeiten müssen über den Tellerrand blicken und Verbindungen zwischen beispielsweise ­Gesundheit und Wohlstand neu bewerten. Sie müssen sich überlegen, welche Leistungserbringer dazu etwas beitragen können – unabhängig davon, in welchem Sektor sich diese befinden. Unternehmen haben in Zukunft keine andere Chance, als schnell, flexibel und agil auf disruptive Veränderungen zu reagieren. „Die Transition zu einem Ökosystem-Modell erfordert ein Umdenken, das sich darauf konzentriert, wie man denkt und nicht, was man denkt.“

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8

Ökosystem-Leadership

Zusammenfassung

Welche dynamischen Fähigkeiten werden in einem Ökosystem benötigt? Erfolgreiche ­Unternehmen haben ihre Grenzen geöffnet und machen sich externes Wissen, Ressourcen und Fähigkeiten zunutze. Makroökonomische Entwicklungen und Vorschriften, sich ständig ändernde Kundenanforderungen und der technologische Wandel führen zu einer hohen Dynamik und Komplexität. Der Schlüssel für die Transformation und die effektive Anpassung von Geschäftsmodellen ist eine offene und permissive Organisationskultur und neue Managementpraktiken. Diese basieren auf synergetischen- und systemischen Führungsansätzen. Drei Ökosystem-Fähigkeiten sind dabei höchst relevant – Offenheit, Agilität und Ambidexterität. Offenheit verinnerlicht den Open-­Innovation-­Ansatz und fördert im Kontext der Organisationsstruktur Neugier, Motivation und Flexibilität, um Neues zu schaffen. Agilität ist in einem Ökosystem für die Zusammenarbeit und Kommunikation entscheidend und ist charakterisiert durch Anpassungsfähigkeit, Geschwindigkeit und Kundenzentriertheit. Ambidexterie ist die Fähigkeit diametral entgegengesetzte Dinge in einen ganzheitlichen Kontext zu bringen und gleichzeitig anzugehen. Alle drei Schlüsselprinzipien sind eng miteinander verflochten und haben großen Einfluss auf Wissen, Lernen und die Innovationskraft einer Organisation, welche in einem Ökosystem einen fragmentierten Wertbeitrag leistet.

8.1 Strategischer Wandel Der Einsatz digitaler Technologien hat viele Facetten und kann den traditionellen Geschäftsansatz in Frage zu stellen. Digitale Plattformen ermöglichen eine größere Interkonnektivität und unterstützen die horizontale Integration, indem sie den Austausch von Echt© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Fasnacht, Offene und digitale Ökosysteme, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42494-7_8

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8 Ökosystem-Leadership

zeitinformationen zwischen Lieferanten, Vertriebszentren und Kunden erleichtern (siehe Kap. 2). Wie im Buch erklärt, hat dies unter anderem zur Entstehung von offenen Ökosystemen geführt, was neue Innovationsformen zulässt. Unabhängig davon, ob es sich um radikale, inkrementelle oder disruptive Innovationen handelt, können die Fähigkeiten, die Innovation und Wachstum ermöglichen, von verschiedenen Ressourcen stammen. Da interne Wissensgenerierungsprozesse, die einem geschlossenen Innovationsansatz zugrunde liegen, in der Regel keine bahnbrechenden Innovationen hervorbringen, ist ein neuer strategischer Mindset mit externen Partnerschaften unvermeidlich. Das dynamische Umfeld und die Geschwindigkeit, mit der neue Marktteilnehmer traditionelle Unternehmen angreifen, erfordern Strukturen, die etablierten Unternehmen helfen, besser auf sozioökonomische und technologische Trends zu reagieren (siehe Kap. 3). Hierarchische, starre und bürokratische Strukturen machen es unmöglich, ein Ökosystem zu erschaffen oder erschweren es in einem bestehenden Ökosystem Leistungen anzubieten. Für den Geschäftserfolg braucht es eine kontinuierliche Überarbeitung von Strategien und eine schnelle Entscheidungsfindung. Dies gelingt nur mit flachen, flexiblen, prozessorientierten und teambasierten Strukturen, die sich auf die Zusammenarbeit über Organisationsgrenzen hinweg konzentrieren. Eine flexible Organisationsstruktur erleichtert die Entwicklung und Umsetzung strategischer Maßnahmen auf effektive und effiziente Weise. Nur durch strategische Flexibilität können sich Unternehmen ständig an verändernde Umwelten und Kundenbedürfnisse anpassen (Weick und Quinn 1999). Dies bedeutet, dass man sich schnell auf neue Herausforderungen einstellen muss. Die Theorie und Praxis des organisatorischen Wandels lehren, dass die Art und Weise, wie Geschäfte gemacht werden, sowie die Entwicklung einer Reihe neuer dynamischer Fähigkeiten auch Verhaltensänderungen und kulturelle Veränderungen beinhalten (Buchanan et  al. 2005). Ökosysteme mit ihrer Art der Zusammenarbeit über Organisations- und Branchengrenzen hinweg erfordern eine offene und innovative Kultur, die Wissen und Lernen in den Vordergrund stellt. Etablierte Unternehmen verwenden ihre Ressourcen hauptsächlich für die Betreuung von Kunden auf dem gehobenen Konsumgüter oder Massenmarkt, wo die Rentabilität hoch ist, respektive die Betriebskosten durch die Masse optimiert werden können. Viele sind nicht in der Lage sich gleichzeitig auf dem unteren Verbrauchermarkt zu konkurrieren. Ein Grund dafür ist die Konkurrenz durch kleinere Start-ups, die sich ausschließlich auf weniger entwickelte oder vernachlässigte Kundensegmente fokussieren aber auch, dass neue Kundenbedürfnisse lange nicht entdeckt und bearbeitet werden. Oft sind die etablierten Geschäftsmodelle größerer Unternehmen schwerfällig. Es fehlt an Flexibilität und Agilität, um sich an Veränderungen anzupassen. Neue Märkte mit neuen Kundenbedürfnissen, die neue Produkte und Dienstleistungen über digitale Plattformen und Super-Apps ansprechen, erfordern einen völlig neuen Rahmen. Hier geht es darum, Bestehendes zu wahren und gleichzeitig Neues zu entwickeln oder das traditionelle Geschäft zu betreiben und damit Einnahmen zu generieren und gleichzeitig neuen Geschäftsmodellen Ressourcen und Aufmerksamkeit zu widmen. Diese Zweihändigkeit nennt sich Ambidexterie.

8.2 Dynamische Fähigkeiten

257

8.2 Dynamische Fähigkeiten Seit den 1990er-Jahren hat der globale Wettbewerb Unternehmen dazu veranlasst, ihre Ressourcen und Fähigkeiten ständig an das Wettbewerbsumfeld anzupassen, zu erneuern, umzugestalten und sich neu zu erfinden. Dies wird generell durch den Begriff der dynamischen Fähigkeiten erfasst (Eisenhardt und Martin 2000). Im Allgemeinen handelt es sich dabei um Wissen, welches notwendig ist, um in einer Organisation Aktivitäten zu erledigen. Diese Fähigkeiten sind in der Organisation inhärent und solange latent bis sie zum Einsatz kommen. Zudem charakterisieren sie die Kapazität von Organisationen, sich an veränderte Umstände anzupassen und sich weiterzuentwickeln, um erfolgreich zu sein. Es handelt sich um Fähigkeiten, die sich im Laufe der Zeit entwickeln und verändern können, je nach den Anforderungen des Marktes und der Umwelt. Beispiele für dynamische Fähigkeiten sind die Fähigkeit, schnell auf Veränderungen im Markt zu reagieren, neue Technologien zu adaptieren, innovative Lösungen zu entwickeln, effektive Partnerschaften aufzubauen und eine Kultur der kontinuierlichen Verbesserung zu fördern. Dynamische Fähigkeiten sind für den strategischen Wandel von großer Bedeutung, da sie es Organisationen ermöglichen, flexibel zu bleiben und auf Veränderungen und Herausforderungen zu reagieren, um ihre langfristigen Ziele zu erreichen. Mit dem Aufkommen von Ökosystemen haben sich dynamische Fähigkeiten verbreitet, um die organisatorische Agilität zu fördern, die für den Umgang mit Unsicherheit und Wandel erforderlich ist (Teece et al. 2016). Lernen ist eine weitere wichtige dynamische Fähigkeit. Entsprechend müssen Unternehmen heute als eine lernende Organisation begreifen, die Fähigkeiten außerhalb der Organisation zu nutzt, indem sie offene Ökosysteme zur Koordinierung von Wertschöpfungsaktivitäten einsetzt. Kontinuierliches Lernen führt zu komplexen dynamischen Fähigkeiten, die sich in Forschung und Innovationen, technologischen Implementierungen, sozialem Lernen, dem Austausch von Wissen in der Gemeinschaft und bei der Wertschöpfung in Ökosystemen manifestieren. Des Weiteren sind dynamische Fähigkeiten unerlässlich, um neue Produkte, Dienstleistungen oder Geschäftsmodelle zu entwickeln und zu vermarkten, um auf neue Möglichkeiten oder aufkommende Trends im Ökosystem zu reagieren. Kollaborative Fähigkeiten helfen, um mit anderen Akteuren des Ökosystems, einschließlich Kunden, Lieferanten und anderen Partnern, zusammenzuarbeiten und einen Mehrwert für alle Beteiligten zu schaffen. Über alles sind dynamische Fähigkeiten bei Innovationen, Wachstum aber auch der Resilienz in Organisationen und Wirtschaftssystemen relevant. Um als Architekt oder treibende Kraft zu agieren, braucht ein Unternehmen neue dynamische Ökosystem-Fähigkeiten. Als Ergebnis der Untersuchung wurden diese in drei Bereiche Offenheit, Agilität und Ambidextrie eingeteilt, welche in Abb. 8.1 dargestellt wurden und im Folgenden erläutert werden.

258

8 Ökosystem-Leadership Agilität • Flexibilität • Anpassungsfähigkeit • Schnelle Entscheidungen

Offenheit • Neues entdecken

• Kundenorientierung • Mitarbeiterorientierung • Kollaborative Kultur

• Veränderungsbereitschaft • Innovationsorientiert • Mut zum Risiko • Co-opetition • Partizipation • Offene Innovations-Kultur

Ambidexterität • Exploitation und Exploration • Effizienz und Innovation • Kurzfristiger Profit und nachhaltiges Wachstum • Zentralität und Dezentralität • Kontrolle und Agilität • Synergetische Kultur

Abb. 8.1  Dynamische Ökosystem-Fähigkeiten (eigene Darstellung)

8.3 Offenheit 8.3.1 Offene und permissive Organisationskultur Die Organisationskultur entspringt unzähligen wissenschaftlichen Definitionen aus der Wirtschaftswissenschaft, Soziologie- und Organisationspsychologie. Schein (1985) entwickelte daraus ein Unternehmenskultur-Modell, bestehend aus grundlegenden Orientierungs- und Verhaltensmustern, Werten und Normen. Das Muster dieser gemeinsamen Grundprämissen, entspringt aus der Lerngeschichte eines Teams oder einer Organisation. Um einen gesamtheitlichen und umfassenden Blick auf die Organisation zu erhalten kann das von McKinsey entwickelte 7-S-Modell herbeigezogen werden (Peters und Waterman 1982). Dieses besteht aus drei greif- und nachvollziehbaren Faktoren (Strategie, Struktur, Systeme) und vier weichen Faktoren, wie Shared Values, Skills, Staff und Style. Alle sieben Elemente beeinflussen sich gegenseitig, wobei die weichen Faktoren einen stärkeren Einfluss auf die Organisationskultur haben, weil sie einem kontinuierlichen Anpassungsprozess unterliegen. Speziell Style ist stark in der Organisationskultur verankert und beeinflusst den Führungsstil und die Form des Umgangs miteinander. Normen und Philosophien gelten als kollektive Werte, die auf den ersten Blick nicht sichtbar, aber für das gemeinsame Verständnis und Handeln eminent wichtig sind (Schein 1985). Bei stabilen Umweltbedingungen können Probleme und Aufgabenstellungen in Bereiche aufgeteilt und vom Management zentral und hierarchisch verwaltet werden (Mintzberg 1975). Diese Art der Bürokratie war bis in die 1980er-Jahre die vorherrschende ­Organisationsform und charakterisierte den Rationalisierungsprozess und Effizienzsteige­

8.3 Offenheit

259

rungen (Weber 1956; Whyte 1956). Heute leben viele Menschen in Instabilität, wo Trends und schockartige Ereignisse zu unvertrauten Umwelten führen. Dynamik und Komplexität befeuern sich gegenseitig und eine mechanistische Zerlegung in Bereiche ist nicht mehr möglich. Wenn Organisationsgrenzen bei der Leistungserbringung überschritten werden, ist die Rollenverteilung nicht mehr klar geregelt und traditionelle Managementprinzipien wirkungslos und starre Organisationskulturen existenzbedrohend. Organisationen sind zu sozialen und politischen Systemen mutiert, wo Menschen und Abteilungen konkurrieren und kooperieren (Burns 1966; Burns und Stalker 1961) und im Kontext von Ökosystemen geschieht dies über Organisations- und Branchengrenzen hinweg. Hamel und Prahalad (1989) beschreiben entsprechend die Strategie als Anpassung der Organisation an ihre Umwelt (strategic fit), was in unserem Kontext einer Öffnung der Organisationskultur entspricht. Es ist erwiesen, dass Offenheit, basierend auf einer kollektiven Identität (Peters und Waterman 1982), eine kreative und starke Organisationkultur fördert (Deal und Kennedy 1982) und sich dadurch die fragmentierte Leistungserbringung in einem Ökosystem einfacher gestaltet. Umfragen bestätigen, dass die Unternehmenskultur wichtiger ist als das Gehalt, wobei über 90 % der amerikanischen Manager der Meinung sind, dass der sogenannte cultural fit eines potenziellen Mitarbeiters mindestens genauso relevant ist wie Fähigkeiten und Erfahrung (Cappelli 2019; Graham et  al. 2017). Die Verbindung zwischen Kultur und Wettbewerbsvorteilen sind evident. Gemäß einer Untersuchung der Beratungsfirma PwC (2021) halten zwei Drittel der befragten Unternehmen in 40 Ländern die Organisationskultur für wichtiger als Strategie und Geschäftsmodell. 2013 waren nur gut die Hälfte der Führungskräfte dieser Meinung, was die steigende Bedeutung zeigt. Eine offene Organisationskultur oder auch Unternehmenskultur hat zudem einen Einfluss auf das Wissensmanagement und auf die Innovationskraft einer Organisation (Lam et al. 2021; West und Bogers 2014). Entsprechend kann die Suche nach Ideen und bahnbrechenden Geschäftsmodellen effektiver und effizienter gestaltet werden, wenn ein Open-Innovation-Ansatz verfolgt wird und das Unternehmen aktiv in einem Ökosystem nach Lösungen sucht. Open Innovation wurde in Kap. 5 im Detail erklärt (siehe Kap. 5), weshalb an dieser Stelle nicht mehr darauf eingegangen wird. Vielmehr soll die dazu notwendige Organisationskultur diskutiert werden. Diese verortet Werte, Normen, Einstellungen und Verhaltensweisen innerhalb einer Organisation. Sie umfasst die Art und Weise, wie ein Unternehmen arbeitet, kommuniziert und Entscheidungen trifft. Die Organisationskultur kann von den Gründern und Führungskräften des Unternehmens beeinflusst werden, aber auch von den Mitarbeitenden und anderen externen Faktoren. Sie kann zur Motivation, Bindung und Produktivität der Mitarbeitenden beitragen und das Image des Unternehmens verbessern. Eine offene Organisation steht heute für eine permissive, also eher nachgiebige und wenig kontrollierende Führungskultur geprägt durch Wertevielfalt, Überzeugungen, Wahrnehmungen, Gedanken und Emotionen der Mitarbeitenden. Mitarbeitende werden dadurch ermutigt, eigene Entscheidungen zu treffen und Risiken einzugehen, um innovative Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Eine permissive Organisationskultur trifft den

260

8 Ökosystem-Leadership

Zeitgeist, da aktuell großen Wert auf ein Arbeitsumfeld gelegt wird, wo sich Mitarbeitende wohl und frei fühlen und sich entfalten können. In Zukunft geht es um Fragestellungen wie in diesem neuen mitarbeiterzentrierten Arbeitsumfeld (new work) der Ökosystemgedanke hilft, Menschen für Innovationen zu begeistern. Auf der Grundlage dieser Prinzipien wird unter einer offenen Organisationskultur eine Reihe gemeinsamer Werte und Überzeugungen, die das Unternehmen charakterisieren verstanden. Sie stiftet Identität, Stärke und den geschäftlichen Sinn und Zweck (purpose), die den individuellen Grad der Zusammenarbeit, Leistung und Kommunikation der Mitarbeitenden darstellen. Man kann Offenheit weder studieren noch auf Bestellung erfinden oder kaufen. Wenn in der Organisation kein geeignetes Umfeld herrscht, welches die Menschen gemeinsam Ideen generieren lässt, so leidet die Innovationskraft. Da eine offene Kultur über die Jahre entsteht, ist die systematische Förderung eine Herausforderung. Eine offene Organisa­ tionsstruktur zu schaffen ist immer strategisch und eine klare Führungsaufgabe. Strategien und Innovationen können nur greifen, wenn sie durch die Organisationskultur gestützt werden, was bedeutet, dass die Mitarbeitenden dazu ermutigt und befähigt werden müssen. Das Bonmot des Pioniers der modernen Managementlehre, Peter Drucker (1985) Culture eats strategy for breakfast hat bis heute Bestand. Das für Ökosysteme erforderliche Umfeld zeichnet sich durch flache Hierarchien und befähigte Mitarbeiter aus, die Open Innovation und Zusammenarbeit begrüßen, wobei der Kunde im Mittelpunkt des strategischen Denkens steht. Eine solche kundenorientierte Struktur und Praxis ermöglicht den Aufbau von Beziehungen, welche sich nachhaltig auf Einnahmen und Gewinne auswirken. Der Grad der Offenheit innerhalb eines Ökosystems bestimmt die Art der Zusammenarbeit und fördert ein tiefes Verständnis für die Bedürfnisse der Kunden. Ein weiterer Faktor einer offenen Organisationskultur ist, dass beim Entwickeln, Experi­ mentieren und Testen neuer Ideen, Geschäftsmodelle, Produkte und Dienstleistungen sowie Technologien auch Fehlschläge zugelassen werden. Denn Mitarbeitende gehen nur Risiken ein, wenn sie Vertrauen in das Unternehmen haben, dass Misserfolge toleriert und als Gelegenheiten zum Lernen genutzt werden. Schließlich kündigen Mitarbeitende meist nicht wegen ihren Führungskräften, sondern sie kündigen Organisationskulturen, die ihnen Karrierechancen verbauen. Ein Unternehmen sollte entsprechend nicht nur erfolgreich durchgeführte Projekte belohnen, sondern muss auch bereit sein, Ressourcen, Zeit und Mittel für neue – manchmal auch unkonventionelle Ideen – bereitzustellen. Prozesse und Projekte, die Disruptionspotenzial haben, sollten klar definiert sein, damit sie nicht mit den täglichen Aufgaben und Zielvereinbarungen verwechselt werden. Was das Unternehmen innerhalb seiner Grenzen implizit fördert, muss mit seinen wertschöpfenden Partnern explizit im Ökosystem diskutiert werden. Um das zu gewährleisten, kann eine Magna Carta (Urkunde der Freiheiten) als Instrument helfen. Damit kann eines auf Vertrauen basierendes interorganisationales Umfeld definiert werden, in dem alle Parteien offen miteinander umgehen können, wenn es um Innovationen geht, aber auch im Falle von Misserfolgen. Die Magna Carta regelt Fragen der Vertraulichkeit, der Kommunikation und des geistigen Eigentums und kann in Form einer rechtsverbindlichen Absichtserklärung festgelegt werden. In der Tat kann die Innovationsfähigkeit nur bis zu einem gewissen Grad systematisch entwickelt werden. Es gibt etliche Beispiele, wo Innovationen eher chaotisch

8.3 Offenheit

261

und zufällig entstanden. Trotzdem können mit einer offenen Kultur kreatives Denken und unkonventionelle Ansätze gezielt gefördert werden. „Offenheit ist ein Schlüsselprinzip, welches den Open Innovation Mindset in einer Organisationskultur verankert und damit Neugier und Motivation weckt, gemeinsam mit externen Partnern, Bestehendes zu verbessern oder Neues zu erschaffen.“

8.3.2 Förderung von Innovationen im Ökosystem Eine offene Organisationskultur ist interaktiv und kollektiv, was bedeutet, dass sie auf Interaktionen beruht und impliziten und expliziten Spielregeln unterworfen ist. Alle Teilnehmer müssen also offen Kommunizieren und die existierenden Annahmen und Regeln aller Parteien befolgen und verinnerlichen. Um Mitarbeitende zu ermutigen, kreativ und offen zu sein und neue Lösungen gemeinsam mit anderen Akteuren in einem Ökosystem zu ent­ wickeln, muss neben dem Vorliegen einer Magna Carta eine offene Innovationskultur auf verschiedene Arten gefördert werden. Untenstehend einige Handlungsanweisungen ohne zwingende Ablaufsequenz und nicht priorisiert: • Open Innovation: Erklären Sie Open Innovation als Grundsatz. Ermutigen Sie alle Beschäftigten mit externen Partnern zusammenzuarbeiten, um neue Ideen und Perspektiven zu erhalten. Suchen Sie aktiv nach Partnerschaften und Austauschmöglichkeiten, um Ihre Innovationskapazitäten zu erweitern. • Unterstützende Umgebung: Schaffen Sie eine Arbeitsumgebung, die Kreativität und Offenheit fördert (offene Büros, Gemeinschaftsräume und informelle Zusammenkünfte aller an einem Innovationsvorhaben beteiligte). Schaffen Sie Räume und Online-­ Plattformen, die zum Austausch von Ideen und zur Zusammenarbeit einladen. • Ziele: Legen Sie klare Ziele und Prozesse fest, um sicherzustellen, dass jeder innerhalb der Organisation und auch externe Leistungserbringer verstehen, welche Art von Innovation gesucht wird und wie Ideen bewertet und umgesetzt werden. Stellen Sie sicher, dass diese Ziele und Prozesse offen kommuniziert, diskutiert und regelmäßig reviewed werden. • Heterogene Teams: Setzen Sie Teams aus verschiedenen Fachrichtungen, Erfahrungen, Kulturen und Geschlechtern zusammen. Fördern Sie Zusammenarbeit und den Austausch zwischen Teams, Abteilungen und Unternehmen, um verschiedene Perspektiven und Ansätze zu integrieren. Bauen Sie interorganisationale Netzwerke auf. • Feedback-Kultur: Ermutigen Sie die Mitarbeitenden dazu, ihre Ideen offen zu teilen und geben Sie Feedback dazu. Lernen Sie aus Fehlern und schaffen Sie eine offene Dis­kussionskultur, wo Erfolge und Misserfolge besprochen werden. • Belohnungssystem: Anerkennen und belohnen Sie Mitarbeiter, die bereit sind neue Wege zu gehen. Zeigen Sie die positiven Auswirkungen von Open Innovation auf das Unternehmen und ermutigen Sie Mitarbeiter, ihre innovativen Ideen weiter zu verfolgen und zu materialisieren (intern wie extern).

262

8 Ökosystem-Leadership

Es gibt mittlerweile zahlreiche Berichte, die einen Zusammenhang zwischen dem Erfolg eines Unternehmens und einer positiven Unternehmenskultur aufzeigen (Clark 2021). Was ursprünglich von 3M entwickelt wurde hat Google nach ihrem Börsengang 2004 institutionalisiert: 20 % ihrer Arbeitszeit dürfen Mitarbeiter für eigene Projekte nutzen, die sie interessieren und bei denen sie Freude haben. Diese Spielzeit wurde lange von den Gründern Sergey Brin und Larry Page als Erfolgsrezept verkauft. Scheinbar entstammen 50 % aller neuen Google-Produkte aus dieser 20-Prozent-Zeit. Bekannte Ideen, die es zur Markreife schafften, sind Google Mail, Google Talk und Google News.

8.3.3 Nachteile der Offenheit Ist es oft so, dass der Orchestrator eines Ökosystems gleichzeitig der Plattformbetreiber ist und die Infrastruktur bereitstellt. Dabei gibt es immer auch Eigeninteressen. Der Plattformbetreiber macht Vorgaben zum gemeinsamen Sinn und Zweck der Plattform, kontrolliert die Güter- und Datenströme und definiert Schnittstellen und Ertragsströme. Hier öffnet sich ein Spannungsfeld zwischen hierarchischer Kontrolle des Plattformbetreibers und der Offenheit für die Mitgestaltung der Teilnehmer des Ökosystems. Auch hat dies viel mit Verantwortung und Vertrauen zu tun, denn oft ist unersichtlich, wer bei Fehlverhalten von Prozessen, Auslieferungen oder selbst beim Produkt oder der Dienstleistung haftet. Für unzufriedene Nutzer oder Kunden ist es schwierig die Verantwortlichen ausfindig zu machen. Für Rechtsverletzungen jeglicher Art bis hin zu Datenschutz- und Persönlichkeitsverletzungen mit resultierenden Schadenersatzforderungen gilt die Rechtsform und der Gerichtsstand in dem Land, wo die Plattform registriert ist. Unklar ist, ab wann dies gilt, wo die Plattform betrieben wird und was mit fremden Rechtsverletzungen geschieht. Plattformbetreiber werden immer stärker dazu gedrängt, präventive Kontrollpflichten wahrzunehmen, was in einem Ökosystem-Modell das Verständnis der solidarischen Haftung stört und zu mehr Kontrolle, Intransparenz und Verschlossenheit führt. Bei einer allzu offenen Organisationskultur kann es zu längeren Entscheidungsprozessen und zu unklaren Rollen und Verantwortlichkeiten kommen, vor allem wenn mehrere Teilnehmer über die ganze Welt verteilt an der Wertschöpfung beteiligt sind. Bei verschiedenen Zielen und Interessen einen Konsens zu finden ist oft nicht einfach. Speziell kulturelle Missverständnisse und Konflikte können ein Unternehmen lähmen. Dies kann zu einer ineffizienten Arbeitsweise, zu Verzögerungen aber auch zum Kollabieren eines ­Unternehmens oder ganzen Volkswirtschaft führen. Die ständig wechselnden Anforderungen, die an die Führung gestellt werden, sind eine große Herausforderung. Eine hochdynamische Welt ist dadurch gekennzeichnet, dass Unternehmen noch vor wenigen Jahren als globale Marktführer und für Mitarbeitende als attraktiv galten, plötzlich zu Sanierungsfällen werden, weil sie Risiken falsch einschätzten, unfähige Manager einstellten oder einfach am Kundenbedürfnis vorbei innovierten. Das jüngste Beispiel ist die Credit Suisse in der Schweiz, die nach 167 Jahren traditionsreicher Tätigkeit innerhalb von Wo-

8.4 Agilität

263

chen notfallmäßig von der UBS übernommen und vom Staat gerettet werden musste. Die Probleme der Großbank entstanden alle durch eine von der Führung indizierte toxische Unternehmenskultur, getrieben durch unterschiedliche Wertvorstellungen zwischen einem amerikanischen risikofreudigen Investmentbanking und einem traditionellen Schweizer Private Banking. Neben der Gier kamen bei der Credit Suisse noch Überforderung und Desorganisation dazu, was zu einem irreversiblen Vertrauensverlust und dann im März 2023 zur überraschenden Insolvenz führte. In einer Welt der Kurzfristigkeit, Strategien regelmäßig anzupassen und langfristig zu denken und nachhaltig Kundenbeziehungen zu pflegen ist ein Dilemma. Fähigkeiten wie Agilität und Ambidexterie können aber helfen.

8.4 Agilität 8.4.1 Kunden- und marktorientiert Agilitätskonzepte gibt es bereits seit der Veröffentlichung des Manifests für Agile Softwareentwicklung aus dem Jahre 2001 (siehe agilemanifesto.org 2023). Ohne weiter auf die Geschichte oder die oft sehr unterschiedlichen Definitionen einzugehen, wird Agilität oft pragmatisch erfasst. Gemäß dem Gabler Wirtschaftslexikon ist Agilität die Gewandtheit, Wendigkeit oder Beweglichkeit von Organisationen und Personen beziehungsweise in Strukturen und Prozessen. In der Praxis sind drei Aspekte maßgebend, i.e. Anpassungsfähigkeit, Geschwindigkeit und Kundenzentriertheit. Wenn ein Unternehmen die Trends versteht und die Aktivitäten auf den Markt ausrichtet, gilt das als marktorientiert. Kundeninnovationen und Services stehen dabei im Fokus des unternehmerischen Denkens und Handelns. Eine kundenorientierte und agile Organisationsstruktur stellt den Kundennutzen ins Zentrum und zeichnet sich durch Kompetenzen wie Flexibilität, agile Arbeitsmethoden und schnelle Entscheidungsfindungsprozesse aus. Die Aufbauorganisation mit einem hierarchieorientierten Organigramm rückt dabei in den Hintergrund, da dort keine direkte Wertschöpfung stattfindet. Dafür wird die Ablauforganisation, und dabei auch nur diejenigen Prozesse, welche einen direkten Kundennutzen versprechen, in den Mittelpunkt des unternehmerischen Handelns gestellt. Die Umstellung, weg von einer vertikalen Silosicht zu einer horizontalen Sicht ist entscheidend, um eine Ökosystemstrategie erfolgreich umsetzen zu können. Diese neue Perspektive ermöglicht es, schnell und effektiv auf Marktanforderungen zu reagieren und genau diese Innovationen bereit zu stellen, die der Kunde im Moment wünscht. Die Unternehmenskultur reflektiert die sich ständig erneuernden Verhaltensmuster einer Organisation und beschreibt Handlungen, Kommunikation und Denkweisen. Eine starke Organisationskultur korreliert mit Agilität und Anpassungsfähigkeit und ist nicht nur ein Wettbewerbsvorteil, sondern unterstützt Unternehmen bei Veränderungen und macht sie resilient in Krisen (PwC 2021). Mit dem Verlust von Eigentum und Kontrolle in einem globalen Netzwerk von Unternehmen wird die strategische Planung immer dynami-

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8 Ökosystem-Leadership

scher und komplexer. Der ständige Fluss von Unordnung, Veränderung und Chaos treibt die Wirtschaftswelt mit hohem Tempo voran. Entsprechend braucht es Agilität, um die dy­ namische Steuerungsfähigkeit und Reaktionsfähigkeit der Unternehmensleitung zu gewährleisten. Agilität steht im Zusammenhang mit den strategischen Zielen des Unternehmens und ist ein Indikator dafür, wie schnell Unternehmensentwickler diese Fähigkeit aktivieren können, um sich an veränderte Bedingungen anzupassen. Flexibilität wird oft mit Agilität gleichgesetzt. Obwohl beide Begriff im Wesentlichen Anpassungsfähigkeit bedeuten, entspricht Flexibilität eher der Fähigkeit, die eine Organisation in die Lage versetzt, auf Veränderungen zu reagieren, indem sie Ressourcen, Prozesse und Technologie integriert, um Formen der Konnektivität zu schaffen, die Sicherheit in dynamischen Zeiten gewährleisten. Angelehnt an die Definition von Charbonnier-Voirin (2011), wird Agilität mit der Art der Anpassung abgrenzt, wobei Agilität eine bewusst geplante und pro-aktive Fähigkeit ist, die Organisationen entwickeln, um ein effizientes Verhalten in einem äußerst turbulenten Umfeld sicherzustellen. Durch schnelle Reaktion auf externe Veränderungen, die Nutzung des Innovationspotenzials und datengesteuertes Lernen kann der Kundennutzen gesteigert (Clough und Wu 2022) und Geschäftsopportunitäten besser antizipiert und entwickelt werden. So wie die Wertschöpfungslogik in einem Ökosystem eine geeignete Reaktion auf die zunehmende Dynamik und Ungewissheit auf strategischer Ebene beschreibt, gilt dies auch für die organisatorische Agilität auf der Ebene der Geschäftsprozesse (Fasnacht und Proba 2024). Organisatorische Agilität in ihren verschiedenen Ausprägungen ermöglicht es Unternehmen, in einem zunehmend vernetzten Geschäftskontext auf Ungewissheit und wechselnde Nachfrage zu reagieren, indem sie die prozessuale Grundlage für schnelle Kommunikations- und Kooperationsaktivitäten innerhalb und außerhalb einer Organisation schafft. Wenn Organisationen die relevanten Fähigkeiten in einem dynamischen Geschäftsumfeld aufbauen (Teece et al. 2016) und dabei agile Praktiken einsetzen, die auf die Bewältigung des Wandels ausgerichtet sind, gibt es in der Praxis agile Fähigkeiten zur Mobilisierung einer schnellen Reaktion auf Veränderungen. Was ist also das Problem mit Agilität? Ein der größten Herausforderungen ist, dass die Unternehmensführung in der Lage sein muss, die Organisationsstruktur kontinuierlich an die sich ändernden Bedingungen anzupassen. Nur so kann das Unternehmen auf hyperkompetitiven und volatilen Märkten mit neuen Innovationen bestehen. Die organisatorische Agilität ist entsprechend einer Führungsaufgabe, die alle betrieblichen Aktivitäten und Routinen, die für die strategische Planung, Produktion, Verwaltung und Verbreitung von Innovationen erforderlich sind. Diese Führungsaufgabe kann besser wahrgenommen werden, wenn Manager einen Orientie­ rungsrahmen haben, welcher sie durch die aktuelle Situation, emotionale Zustände und kausale Zusammenhänge führt. Da sich organisatorische Agilität auf die Fähigkeit einer Organisation bezieht, flexibel auf Veränderungen im Umfeld zu reagieren, braucht es kurze und effektive Entscheidungswege, was in der Aufbau- und Ablauforganisation verankert werden muss.

8.4 Agilität

265

Angesichts zunehmender diskontinuierlicher Veränderungen, Ungewissheit und Komplexität ist organisatorische Agilität der Schlüssel zu nachhaltigen Wettbewerbsvorteilen (Brown und Eisenhardt 1997). Organisatorische Agilität steht im Zusammenhang mit Strategie, Organisationen und Unternehmen (Teece et al. 1997) und hat mit dem Aufkommen agiler Methoden und Werkzeuge im letzten Jahrzehnt zunehmend an Popularität gewonnen. Während sich die Managementforschung mit den Herausforderungen der ­Innovation befasst hat, die sich auf externe Ressourcen und Netzwerke konzentriert (Nambisan und Sawhney 2011), einschließlich der Orchestrierung der Prozesse, die für die An­ passung und das Lernen der Organisation erforderlich sind (Teece 2007, 2012), bietet die Literatur nicht viel praktische Unterstützung bei der Bewertung und Anwendung der richtigen Instrumente, welche für die Teilnahme in einem Ökosystem erforderlich wären. Für die organisationsübergreifende Zusammenarbeit in Ökosystemen kann der Ansatz der interorganisationalen Agilität verwendet werden (Fasnacht und Proba 2024). „Interorganisationale Agilität unterstützt die dynamische Steuerungs- und Reaktionsfähigkeit, um in einem Ökosystem Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen verschiedenen Leistungserbringern zu koordinieren.“

8.4.2 Interorganisationale Agilität Da die Relevanz von offenen Ökosystemen und ihrer entsprechenden Wertschöpfungslogik an Bedeutung gewinnt, ist es ratsam, agile Fähigkeiten zu entwickeln, welche die Kommunikation und Abstimmung innerhalb eines Unternehmens (team- und organisationsübergreifende Agilität) mit dem Kunden (kundenorientierte Agilität) und zwischen mehreren Unternehmen (organisationsübergreifende Agilität) ermöglichen. Zudem wurden agile Methoden und Praktiken beispielhaft den jeweiligen Anwendungssituationen zugeordnet. Diese sind nicht abschließend und es wurden auch die englischen Begriffe beibehalten, da oft deutsche Übersetzungen wenig verbreitet sind (siehe Abb. 8.2). Je nach Ziel der Anwendung agiler Techniken, sind diese intern oder extern orientiert oder entsprechend einer geringen oder hohen Komplexität zugeordnet. Diese Einordnung hilft auf eine pragmatische Weise Managern, zwischen verschiedenen agilen Ansätzen zu unterscheiden, um eine Aktivität oder Strategie zu verfolgen oder die Vernetzung mit anderen Unternehmen innerhalb eines Ökosystems zu verbessern. Erstens wird organisatorische Agilität entweder als eine interne oder als eine extern orientierte organisatorische Fähigkeit verstanden. Eine intern orientierte Perspektive beschreibt die Fähigkeit einer Organisation, auf unerwartete Veränderungen effektiv und ­effizient zu reagieren, indem sie neue interne Ressourcen, Fähigkeiten und Strategien anpasst oder schafft. Diese intern orientierte Perspektive wird oft als operative Agilität bezeichnet (Agarwal und Selen 2009). In diesem Zusammenhang umfasst die operative Agilität all jene organisatorischen Fähigkeiten, die es ermöglichen, Prozesse und interne Ressourcen so anzupassen, dass sich am Markt bietende Chancen schnell genutzt und auf

Interne Interaktion

Externe Interaktion

266

8 Ökosystem-Leadership

Kunden-orientierte Agilität

Inter-organisationale Agilität

Beispiele: Usability Testing, OnSite Customer, Split Demo, Customer Advisory Board, Customer Design, Focus Group, Customer Interviews (needs finding), Lead User Analysis, Netnography, Social Listening…

Beispiele: Co-Creation (Innovation), Community Building, External Networking, Innovation Incubator, Open Innovation Challenge, Open Innovation Ecosystem, R&D, Outsourcing, Best Practices…

Team-orientierte Agilität

Intra-organisationale Agilität

Beispiele: Sprint Planning, Sprint, Review, Sprint Retro, Daily Standup, Pair Programming, Planning Poker, Collective Code Ownership, Continous Deployment, Burndown Chart, Backlog…

Geringe Komplexität

Beispiele: Confident Vote, Dev-Ops, Teaming, Epics, Scrum, System Demo, Volleague Crowd, Internal Idea Competition, Internal Pitches, Intrapreneurship Program…

Hohe Komplexität

Abb. 8.2  Agilitäts-Orientierungsrahmen. (Quelle: Fasnacht und Proba 2024)

Veränderungen im Kunden- und Wettbewerbsverhalten reagiert werden kann. Thermoplan nutzte beispielsweise seine Fähigkeit, interne Entwicklungsprozesse und Abläufe schnell an die jeweiligen Marktbedingungen anzupassen. Zweitens kann Agilität als eine extern orientierte Fähigkeit verstanden werden, das heißt als das Potenzial, mit Kunden zu interagieren und die Fähigkeiten und das Wissen externer Geschäftspartner zu internalisieren und nutzbar zu machen (Sambamurthy et al. 2003). Die extern orientierte Perspektive lässt sich weiter in die beiden Unterkonzepte der kundenorientierten Agilität und der partnerorientierten Agilität untergliedern. Kundenorientierte Agilität bezieht sich auf die Fähigkeit einer Organisation, auf die Handlungen von Kunden und anderen Marktteilnehmern zu reagieren, welche die Erbringung von Dienstleistungen für Kunden beeinflussen. Dazu gehört beispielsweise die Fähigkeit, schnell auf veränderte Kundenbedürfnisse zu reagieren oder Veränderungen im Kundenverhalten in Bezug auf das Leistungsangebot der Organisation oder anderer Marktteilnehmer proaktiv zu antizipieren. Partnerorientierte Agilität kann als die Fähigkeit verstanden werden, Wissen und Ressourcen mit anderen Organisationen auszutauschen, um Marktchancen zu erkennen und zu nutzen. Diese Form der Agilität umfasst die bewusste Nutzung von Fähigkeiten, Ressourcen, Kompetenzen und Wertschöpfungsnetzwerken anderer Unternehmen (Open Innovation) sowie die Bereitstellung und Nutzung von Schnittstellen und kollaborativen Wertschöpfungsprozessen in Ökosystemen. Beispiele hierfür sind die Zusammenarbeit von Start-ups und Großunternehmen zur Generierung von Innovationen oder der Einsatz von Schnittstellen und Plattformen.

8.4 Agilität

267

Im Folgenden sind die vier Agilitätsarten des vorgestellten Agilitäts-Orientierungsrahmens aus Abb. 8.2 erläutert: • Teamorientierte Agilität: Verbesserung der Zusammenarbeit und Kommunikation auf Teamebene bei der Entwicklung neuer Produkte, Prozessideen und Konzepte. Die Praktiken können auch genutzt werden, um über alle Hierarchieebenen hinweg, Teilnehmer der Leistungserbringung zusammenzubringen. • Intraorganisatorische Agilität: Fördern die Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen verschiedenen Teams innerhalb einer Organisation. Diese agilen Praktiken verbessern die Innovation zwischen anderen Gruppen innerhalb einer Organisation, die Effizienz und Effektivität und die gemeinsame Ausrichtung diverser Teams. Dies hilft unter anderem, außergewöhnliche Entwicklungen mit dem Tagesgeschäft in Einklang zu bringen. • Kundenorientierte Agilität: Manifestierung der Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen Kunden und dem Unternehmen. Unterstützt vor allem in der Ausführungsphase die Integration der Nutzer der Innovation, welche frühzeitig in Ideenfindung, Design, Tests und insbesondere Marketing und Verkauf involviert werden sollten. • Interorganisationale Agilität: Fokus auf die Integration verschiedener Organisationen als Wertquellen für den Produkt- oder Dienstleistungsentwicklungsprozess, aber auch für Marketing und Vertrieb. Stellt den Wissensaustausch und Informationsfluss sicher und unterstützt Open Innovation oder verwendet Best Practices zu Lernzwecken. Angesichts der konstituierenden Vielfalt in Ökosystemen wird die Fähigkeit zur interorganisationalen Agilität als ultimative Anpassungsleistung betrachtet, die für eine durchdachte und strategische Führung des Systems von entscheidender Bedeutung ist.  

8.4.3 Agile Führung Agile Führung im Kontext eines Ökosystems bezieht sich auf die Fähigkeit von Führungskräften, eine agile Arbeitsweise zu fördern und zu unterstützen, um in einem komplexen Netzwerk von Partnern, Kunden und Lieferanten erfolgreich zu sein. Dabei geht es nicht nur um die eigene Organisation, sondern um die Zusammenarbeit und Interaktion mit anderen Organisationen innerhalb des Ökosystems. Agile Führung im Ökosystem erfordert ein tiefes Verständnis der Dynamik und Interaktionen innerhalb des Ökosystems und die Fähigkeit, schnell auf Änderungen und Herausforderungen zu reagieren. Eine agile Führungskraft muss in der Lage sein, eine Umgebung zu schaffen, in der Teams innerhalb und zwischen Organisationen schnell und effektiv zusammenarbeiten können, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Zu den Schlüsselkompetenzen einer agilen Führungskraft im Ökosystem gehören die Vermittlung einer Vision, Aufbau von Kollaborationen und Vertrauen, Förderung von Kreativität und Innovation, Management von Risiken und die Lieferung von Ergebnissen. Eine agile Führungskraft muss auch bereit sein, Verantwortung zu teilen und

268

8 Ökosystem-Leadership

Entscheidungen zu dezentralisieren und delegieren. Dieses Führungsverständnis beinhaltet, dass Mitarbeitende befähigt werden. Verglichen mit der kunden- und marktorientierten Agilität kann auch von mitarbeiterorientierter Agilität gesprochen werden, obwohl die Führungskraft natürlich beiden Anspruchsgruppen genügen muss – Kunden und Mitarbeiter. Vorbildfunktion und Autorität wird bei der agilen Führungskraft nicht durch die eigentliche Funktion innerhalb der Organisationsstruktur erwirkt. Sie stellt sich in den Dienst des Teams, um gemeinsam schneller Nutzen für den Kunden zu schaffen. Dieses Prinzip, auch Servant Leadership genannt (Greenleaf 1977), baut auf visionärem Denken, Empathie, Bescheidenheit, Gemeinschaftssinn, Überzeugungskraft und Vertrauen auf. In einem Ökosystem bekommt dieses Prinzip noch mehr Anerkennung, da die Führungskraft in einem fremden Unternehmen keinerlei funktionale Durchsetzungskraft besitzt. Innerhalb der Organisation muss die Führungskraft Budgets, Zahlen, Prozesse, Zeit verantworten und Mitarbeitende entwickeln, während bei der Leistungserbringung über Organisationsgrenzen hinweg eine effektive Qualitätskontrolle, Kundenzufriedenheit und das Stakeholder- und Beziehungs-Management überwiegen. Servant Leaderships kann auch für eine ganze Organisation gelten, was eine logische Konsequenz des Prinzips von Greenleaf ist (2012) oder sogar eine dem Gemeinwohl verpflichtende Wertschöpfung darstellt (Moore 2013). Letzteres bezeichnet den Wertbeitrag und Nutzen, den eine Organisation für die Gesellschaft erbringt. Da ein Ökosystem aus diversen Organisationen besteht, könnte es für den Orchestrator interessant sein, von der Gesellschaft in dieser Hinsicht wertgeschätzt zu werden, aber dies ist ein anderes Thema, welches hier nicht vertieft wird. Eine agile Führungskraft als reflektierenden Praktiker (Gomez et al. 2019) zu bezeichnen erscheint passend. Denn ein umfassendes Führungsverständnis setzt voraus, dass das Umfeld und die eigene Aufgabe ständig neu im Kontext des Wandels von Wirtschaft und Gesellschaft evaluiert wird. Beispielsweise ist es entscheidend, die Implikationen der digitalen Transformation für das eigene Unternehmen zu verstehen und dann agil zu handeln. Da bei Ökosystemen fließende Grenzen zwischen Unternehmen, Lieferanten und Nutzer herrschen und keine lineare Wertschöpfungskette besteht, kann man damit auch auf komplexe Systeme referenzieren. In so einem System ändern sich Einflussgrößen, Beziehungen und Verknüpfungsmuster ständig und stellen immer wieder neue Konstellationen und Herausforderungen dar. Um in solch einem komplexen und dynamischen Umfeld verantwortungsvoll zu führen, braucht es reflektierende Praktiker mit agilen Fähigkeiten. Allein schon, um die Komplexität zu verstehen und zu reduzieren, was mit einer reduktionistischen Betrachtungsweise nicht gelingt, muss eine agile Führungskraft der Zukunft ganzheitlich und vernetzt denken können (Gomez und Probst 1999). Daneben sollten Führungskräfte, die sich in Ökosystemen bewegen, folgende Fähigkeiten vertiefen: • Wahrnehmung: proaktive Wahrnehmung und Antizipation hilfreicher Informationen über Umweltbedingungen und deren Veränderungen • Lernen: Verbesserung des organisatorischen Verhaltens und der Prozesse durch Erfahrung und Nutzung neuer Informationen – auch unter Einbeziehung digitaler Tools

8.5 Ambidextrie

269

• Anpassung: Veränderung von Strukturen und Prozessen als Reaktion auf tatsächliche oder erwartete Veränderungen im Geschäftsumfeld • Resilienz: robuste Widerstandsfähigkeit und schnelle Erholung von einer Vielzahl unterschiedlicher Veränderungen • Schnelligkeit: kurze Entscheidungswege und Ziele in kurzer Zeit und mit hoher Geschwindigkeit erreichen • Innovation: eine Vielzahl kundenorientierter Lösungen für ein Problem mit externer Unterstützung entwickeln • Zusammenarbeit: mit anderen Teammitgliedern, Geschäftseinheiten, Unternehmen oder Einzelpersonen zusammenarbeiten • Mitarbeiter: Teammitglieder der eigenen Organisation stärkenorientiert fördern und befähigen, Entscheidungen zu treffen • Organisation: organisationsübergreifende Projekte oder Leistungserbringungen sollten weitgehend selbstorganisiert sein; virtuelle Teamführung • Effizienz: mit minimalen Ressourcen die gewünschten Ergebnisse erzielen und immer lösungsorientiert vorgehen

8.5 Ambidextrie 8.5.1 Organisationale Ambidextrie Eine agile Organisation zeichnet sich dadurch aus, dass sie zwei oder mehr unterschiedliche  – manchmal sogar widersprüchliche  – Strategien gleichzeitig verfolgt. Unternehmen müssen in Bezug auf die organisatorischen Ressourcen in der Lage sein, die betriebliche Effizienz zu verbessern und die Einnahmen zu steigern, was sich bekanntlich beides auf die Rentabilität auswirkt. Zugleich müssen sie innovativ sein. Alle diese strategischen Stoßrichtungen sind für das Überleben unerlässlich. Das Gleiche gilt, wenn ein Unternehmen zwei Geschäftsmodelle betreibt. Während das Kerngeschäftsmodell zu den Einnahmeströmen beiträgt und ein neues, sich noch im Aufbau befindendes Geschäftsmodell finanziert, müssen beide mit gleicher Bedeutung verwaltet werden. Auch im Kontext des Wissensmanagements ist es oft schwierig, neben der Nutzung bestehender Kompetenzen, neue Kompetenzen, Methoden oder auch Technologien zu entdecken und zu fördern. Den Weg für die Zukunft zu ebnen, bedeutet aber nicht, den Schalter umzulegen, um die Reise fortzusetzen. Oft ist es so, dass Veränderungen Unternehmen zwingen das Kerngeschäftsmodell anzupassen. Die entscheidende Frage ist, ob eine Optimierung, also inkrementelle Geschäftsmodell-Innovation reicht, um nachhaltig erfolgreich zu sein oder es vielleicht besser wäre, ein neues Modell zu testen. Das Festhalten am bestehenden Modell ­funktioniert meist nur dann, wenn sich das Unternehmen in einer ganz besonderen Wettbewerbsposition befindet, einen starken Markenwert hat oder durch Patente oder strenge Vorschriften geschützt ist. Dies ist aber selten der Fall, weshalb eine agile Organisation in der Lage sein sollte, mehrere strategische Stoß-

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8 Ökosystem-Leadership

richtungen gleichzeitig zu bewältigen – einige dabei werden eventuell im Laufe der Zeit das angestammte Geschäft bedrohen und verdrängen (disruptieren). Dieser Ansatz nennt sich Ambidextrie, ein Konzept aus der Organisations- und Managementtheorie (Tushman und O’Reilly 1996; March 1991). Kann ein Unternehmen gleichzeitig bestehende Ressourcen ausnutzen (exploitation) und neue Märkte erkunden und entwickeln (exploration), so hat dies in jedem Fall einen Effekt auf die Innovationskraft (Tushman und O’Reilly 2002). Das Modell ist vielschichtig einsetzbar. Der Einfluss auf die Profitabilität ist abhängig davon, wie stark in das Neue investiert werden muss und wie erträglich das bestehende Geschäft ist – also eher ungewiss. Eine ambidextre Organisation ist dadurch gekennzeichnet, dass sie ein duales operatives System betreibt, was einer Gradwanderung zwischen Flexibilität und Effizienz entspricht (Adler et  al. 1999). Dies erfordert eine spezielle organisatorische Struktur, Kultur und Prozesse, um sicherzustellen, dass beide Stoßrichtungen effektiv koordiniert werden und sich gegenseitig unterstützen (O’Reilly und Tushman 2004). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Unternehmen nicht zwischen Investitionen in bestehende und neue Geschäftsmodelle wählen muss, sondern mit einem ambidextren Modell beides gleichzeitig bewältigen kann. „Ambidextrie bezeichnet die Fähigkeit, diametral entgegengesetzte Aktivitäten ganzheitlich zu vereinen und simultan auszuführen, um somit das Unternehmen zu stärken und weiterzuentwickeln.“

Es gibt verschiedene Formen der Ambidexterität, wobei für das Buch nur drei relevant sind, i.e. strukturelle, kontextuelle, dynamische Ambidexterität. Alle Ansätze haben einen Einfluss auf das Innovationspotenzial einer digitalen Plattform und erfordern unterschiedliche Ausrichtungen der im Ökosystem beteiligten Unternehmen.

8.5.1.1 Strukturelle Ambidexterität Ausbeutungseinheiten folgen typischerweise einem mechanistischen Design, mit zentralisierter Entscheidungsfindung, straffen Abläufen und einem Fokus auf Effizienz und Kontrolle, während Explorationseinheiten organischer sind, mit dezentralisierter Entscheidungsfindung, unternehmerischen und offenen Kulturen und einem Fokus auf Flexibilität. Das Konzept der strukturellen Ambidextrie besagt, dass die Organisation in Bereiche oder Abteilungen aufgeteilt wird, welche ausschließlich der Exploitation oder Exploration dienen. So läuft das Tagesgeschäft wie gewohnt weiter und die hierarchische Struktur wird behalten, während gleichzeitig innerhalb einer innovationsfördernden Umgebung an neuen Ideen getüftelt werden kann. Dieser Ansatz ermöglicht die Entwicklung von Einheiten mit abgestimmten Kompetenzen, Anreizen, Prozessen und Kulturen, die auf die spezifischen Bedürfnisse der Exploration oder Exploitation zugeschnitten sind (Gilbert 2006; O’Reilly und Tushman 2008). Dabei wird die Organisationskultur als die zugrunde liegenden Werte, Überzeugungen und Prinzipien beschrieben, die das Fundament des Managementsystems einer Organisation bilden, sowie die Managementpraktiken, die diese Prinzipien verstärken (Denison et al. 2003).

8.5 Ambidextrie

271

Die Spezialisierung der Mitarbeiter in jeder der abgegrenzten Einheiten konzentriert sich entweder auf die Exploration oder auf die Ausbeutung, was die Explorationseinheiten vor kulturellen und betrieblichen Effekten aus dem Hauptgeschäft schützt. Ebenso können sich die Exploitation-Einheiten auf die Verbesserung bestehender Produkte und die Bedienung bestehender Kunden konzentrieren, ohne von zukünftigen Alternativen abgelenkt zu werden (Simsek 2009). Um den Zusammenhalt zwischen den Einheiten aufrechtzuerhalten, ist eine gemeinsame strategische Absicht, ein übergreifendes Wertesystem und, wie in Ökosystemen oft gefordert, ein shared purpose, zur Koordination und Nutzung gemeinsamer Ressourcen notwendig. Die Unternehmensleitung ist für die Schaffung dieser Inte­ grationsmechanismen und den Umgang inhärenter Widersprüche zwischen Explorationsund Betriebseinheiten verantwortlich.

8.5.1.2 Kontextuelle Ambidexterität Anstatt Explorations- und Exploitationsaktivitäten strukturell zu trennen, schlägt dieser Ansatz vor, einen Kontext zu schaffen, der es den Beschäftigten ermöglicht, beide Aktivitäten innerhalb derselben Einheit gleichzeitig auszuüben. Auf diese Weise können die Mitarbeitenden entscheiden, wie sie ihre Zeit zwischen Exploration und Exploitation aufteilen. Ein Beispiel dafür ist Toyota, wo Mitarbeiter, die an Routineaufgaben wie der Automobilmontage arbeiten, kontinuierlich Prozesse verbessern und mit alternativen Lösungen experimentieren, um die Kosten, die Leistung und die Qualität der Produkte zu verbessern (Adler et al. 1999). Dieser kontextbezogene Wechsel ermöglicht es den Geschäftseinheiten, flexibel auf veränderte Anforderungen zu reagieren, ohne dass sie die Spannungen zwischen verschiedenen Einheiten bewältigen müssen. Die Rolle der Führungskräfte besteht bei diesem Ansatz darin, einen Kontext zu schaffen, der Anreize für den flexiblen Wechsel der Mitarbeiter zwischen etwas Neuem und der Optimierung von Bestehendem bietet. Dazu gehört die Schaffung einer Organisationskultur, die sowohl Effizienz als auch Flexibilität fördert. Dazu gehört auch die Schaffung einer offenen und agilen Organisationskultur, die widersprüchliche Elemente, wie Diszi­ plin, Streckung, Unterstützung und Vertrauen, miteinander in Einklang bringt. Der Kontext in diesem Sinne umfasst Systeme, Prozesse und Überzeugungen, die das Verhalten auf in­ dividueller Ebene in einer Organisation prägen, wie Ghoshal und Bartlett (1994) erforschten.

8.5.2 Hybride Ansätze Die beiden erwähnten Formen der Ambidexterität, auf Bereiche und Mitarbeiter bezogen, haben Ihre Vor- und Nachteile. Chen (2017) schlägt entsprechend die dynamische Ambidexterität vor, welcher Aufbau und Ablauforganisation kombiniert und auf verschiedenen Organisationsebenen eingesetzt werden kann. Bei der dynamischen Ambidextrie ist die Bedeutung der kontextuellen Ambidextrie auf der Ebene der Geschäftseinheiten anerkannt. Durch die Schaffung eines organisatorischen Kontexts, der die Mitarbeiter in den

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8 Ökosystem-Leadership

einzelnen Geschäftseinheiten zur Erkundung anregt, können Unternehmen das Entstehen neuer Ideen und Initiativen auf unerwartete Weise fördern. Die kontextuelle Ambidextrie auf der Ebene der Geschäftseinheiten verschiebt die Grenzen der strukturellen Ambidex­ trie auf der Unternehmensebene. Auch die zeitliche Ebene wird berücksichtigt. Neue Initi­ ativen werden zunächst in speziellen Sondierungseinheiten ausgebrütet, wo sie nach tragfähigen Geschäftsmodellen suchen. Sobald ein tragfähiges Modell gefunden ist, kann die Initiative zu einem Exploitationsprojekt werden und die Einheit verlassen. Ein solches Projekt kann dann in einer bestehenden Geschäftseinheit untergebracht werden oder die Gründung einer neuen Einheit erfordern. Ein Beispiel für diesen dynamischen Ansatz liefert Alphabet, welches sowohl über Geschäftseinheiten verfügt, die bestehende Chancen nutzen, als auch über Einheiten, die radikal neue Chancen erkunden. Inkrementelle Innovationen erhöhen den bestehenden Wert einer Plattform und deren nachhaltiges Wachstum, während radikale und disruptive Innovation neue Arten von Wert schaffen, respektive bestehende Innovationen verdrängen und damit eine Erweiterung des Ökosystems darstellen (siehe Kap. 2). Die beiden Innovationstypen stehen in der Regel in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander, da sie nur schwer zusammen zu erreichen sind (Sheng und Chien 2016). Generell ist es schwierig, sich auf nur eine Form der Ambidexterie einzulassen, weil radikale, disruptive und inkrementelle Innovationen in Ökosystemen aufgrund der Eigenständigkeit der Teilnehmer und deren unterschiedlicher Organisationskulturen koexistieren (Jansen et al. 2005; Andriopoulos und Lewis 2009; Heracleous et al. 2017). Entscheidend ist, dass die Plattform-Anbieter ihre Leistungserbringer nicht direkt kontrollieren können, so wie dies Unternehmen mit Tochtergesellschaften handhaben (Jacobides et  al. 2018). Demzufolge kann Ambidexterität in plattform-­orientierten Ökosystemen nur durch den kollektiven Erfolg der autonomen Ambidexteritätsbemühungen der Teilnehmer erreicht werden. Bei dieser Erweiterung der dynamischen Ambidexterität sorgt die Einbindung des Stakeholder-Ökosystems als zusätzliches Element, was Inoue (2021) als kollektive Ambidexterität bezeichnet. „Eine ambidextre Organisation verfügt über eine Kultur, die sich auf Kernkompetenzen konzentriert, Stabilität und Kontinuität gewährleistet und gleichzeitig Innovationen fördert und neue Geschäftsmodelle vorantreibt.“

Ein hybrider Ambidexteritätsansatz ist dann geeignet, wenn das Umfeld dynamisch und komplex und das Potenzial der Opportunitäten unsicher ist (Ossenbrink et al. 2019). Dies trifft in offenen Ökosystemen zu und kann durch die Einrichtung getrennter Einheiten für Explorations- und Exploitation-Aktivitäten erreicht werden (strukturelle Ambidexterie). Auf diese Weise kann das Unternehmen Ressourcen und Talente für jeden der Bereiche bereitstellen, ohne dass ein Bereich den anderen überschattet. Die Förderung der Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen den Bereichen ist wichtig und erleichtert den Austausch von Ideen und Wissen und führt zu einem stärker integrierten ­Innovationsansatz. Die Förderung eines Umfeldes, wo Mitarbeitende Experimentieren und Risikobereitschaft leben (kontextuelle Ambidexterie), ist dabei ebenso ausschlaggebend, was bereits im Abschnitt offene Organisationskultur dargelegt wurde. Insgesamt kann ein hybrider Ansatz Führungskräften hel-

8.6 Ökosystem Governance

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fen, sich in schnell verändernden digitalen Ökosystem zurechtzufinden, indem sie gleichzeitig neue Möglichkeiten und Technologien erkunden und bestehende nutzen, ein weiterer Aspekt, der im digitalen Paradigma wettbewerbsentscheidend ist.

8.6 Ökosystem Governance Die Ökosystem-Governance eine wichtige Gestaltungsentscheidung, weil sie eine indirekte Form der Kontrolle schafft, die der Komplexität und Dynamik eines Ökosystems angemessen ist. Governance bezieht sich im Allgemeinen darauf, wie eine Organisation oder eine Gruppe von Menschen Entscheidungen trifft, Verantwortlichkeiten verteilt und ihre Aktivitäten überwacht. Sie hat einen Einfluss auf Strukturen, Prozesse und Verfahren, die dazu dienen, sicherzustellen, dass eine Organisation effektiv und effizient arbeitet, die Einhaltung von Regeln und Vorschriften gewährleistet wird und die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt werden. Governance beinhaltet sämtliche Prozesse der Führung und Überwachung eines Unternehmens. Der Deutsche Corporate Governance Kodex legt dabei den Fokus auf Nachhaltigkeit, Ökologie, Soziales und verantwortungsvolle Unternehmensführung (DCGK 2023). Die Governance in einem Ökosystem umfasst Aspekte, wie Transparenz, Rechenschaftspflicht, Risikomanagement und die Schaffung eines angemessenen Rahmens für die Entscheidungsfindung der verschiedenen Akteure. Speziell für Ökosysteme braucht es zusätzliche Regeln für die Zusammenarbeit zur gemeinsamen Wertschöpfung und Verfahren für die Aufteilung und Koordination unter den Akteuren des Ökosystems. Traditionelle Governance-Modelle, die auf Hierarchie und Kontrolle basieren, sind in Ökosystemen oft nicht ausreichend. Stattdessen schlägt die aktuelle Forschung vor, dynamische Governance-­Strukturen zu entwickeln, die auf Vertrauen, Zusammenarbeit und Flexibilität beruhen (Jacobides et al. 2018). So kann das Gleichgewicht zwischen Wettbewerb und Zusammenarbeit besser hergestellt werden. Den Teilnehmern im Ökosystem ermöglichen spezifische Governance-Mechanismen, sowohl miteinander zu kooperieren, um Synergien zu nutzen, als auch im Wettbewerb zu stehen, um Innovationen voranzutreiben. Es geht also um die Ausrichtungsstruktur multilateraler Partner, die in einem Ökosystem zusammenwirken, damit ein zentrales Nutzenversprechen zum Tragen kommt (Adner 2017). Governance in Ökosystemen kommt eine entscheidende Rolle zu, um das Zusammenspiel der Akteure zu koordinieren und die Schaffung von Wertschöpfung zu ermöglichen. Sie regelt unter anderem den Grad der Offenheit in einem Ökosystem. Offenheit bezieht sich dabei auf das Ausmaß, in dem der Eigentümer der Plattform den Akteuren die Teilnahme an der Plattform auf der Grundlage eines beliebigen Standards ermöglicht (Inoue 2021). Die Offenheit der Plattform erhöht in der Regel das Angebot an Gütern durch Komplementäre und trägt zur Innovation bei. In einem komplett offenen Ökosystem gibt es wenig Kontrollmechanismen, dafür mehr dezentrale Entscheidungen und Flexibilität. Durch die Vielfalt an Ressourcen können Innovationen schneller auf den Markt gebracht werden. Auch kann so

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8 Ökosystem-Leadership

besser auf Kundenbedürfnisse reagiert werden. Oft kommen Partner nur temporär dazu und verlassen das Ökosystem nach kurzer Zeit wieder, um ihre Services auf einem anderen Marktplatz anzubieten. Offene Ökosysteme stehen prinzipiell allen offen und auch die Daten sind meist für alle Teilnehmer zugänglich und werden gemeinsam genutzt. Dies führt zu einer gewissen Ambiguität in Bezug auf Daten, Systeme und Prozesse. Die Koordination ist klar schwieriger, im Gegensatz zu einem eher geschlossenen Ökosystem, wo ein Orchestrator eine bessere Kontrolle und mehr Gestaltungsspielraum hat. Das richtige Maß an Offenheit hängt von vielen einzelnen Faktoren ab. Es ist eine Gratwanderung zwischen dezentralisierter gegenüber zentral koordinierter Innovation oder Qualität gegenüber Wachstum. Auch der Wettbewerb mit bereits etablierten oder entstehenden Ökosystemen im selben Sektor kann eine Rolle spielen, da ein neues Ökosystem eine differenzierte Positionierung finden muss. Dem Thema dieses Buches geschuldet, stellt sich die Frage, wie der adäquate Grad der Offenheit in einer Organisation gefunden werden kann, da dieser kaum mess- und bestimmbar ist (Alam et al. 2022). In Anlehnung an das BCG Henderson Institute können folgende Fragen für Klärung sorgen (Pidun et al. 2020): • Zugang: –– Welche Partner dürfen an dem Ökosystem teilnehmen? –– Welche Voraussetzungen müssen sie erfüllen, um Zugang zur Plattform und ihren Ressourcen zu erhalten? • Beteiligung: –– Inwieweit sind die Partner eingeladen, das Ökosystem mitzugestalten? –– Wie umfangreich, detailliert und streng sind die Regeln dafür? –– Wer entscheidet, wie der geschaffene Wert unter den Partnern aufgeteilt wird? • Engagement: –– Welches Maß an ökosystemspezifischen Investitionen und Spezialisierung ist erforderlich? –– Wird Exklusivität verlangt, oder dürfen die Partner in konkurrierenden Ökosystemen teilnehmen? Aus der Bedürfnisperspektive kann schlussgefolgert werden, dass die Nachfrage generell offene und flexible Systeme verlangt. Allerdings gibt es in der Praxis Ökosysteme mit sehr unterschiedlichen Governance-Modellen. Stark regulierte Branchen wie der Finanz- und Gesundheitssektor, wo es um sensible Daten geht, sind eher geschlossen und öffnen sich nur langsam (siehe Kap. 6). Andererseits sind die Ökosysteme von Amazon, Apple und Airbnb gute Beispiele für offene Ökosysteme. Das chinesische Beispiel NIO ist auch sehr offen und kann so Produkte und Dienstleistungen über mehrere Branchen hinweg ­anbieten (siehe Kap. 7). Zur Erinnerung, Offenheit bezieht sich darauf, wie zugänglich, transparent und interoperabel ein Ökosystem für externe Entwickler, Leistungserbringer und Nutzer ist. Je offener ein Ökosystem ist, desto einfacher wird es für Entwickler und Leistungserbringer, Anwendungen und Dienste zu erstellen, die in das Ökosystem integriert werden können. Dies kann wiederum dazu führen, dass mehr Nutzer angezogen wer-

8.7 Ökosystem-Leadership

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den, da das Ökosystem mehr Funktionalitäten bietet. Über den Grad an Offenheit konkurrieren Ökosysteme. So durchbrach beispielsweise Android die Vorherrschaft von Apple iOS als mobiles Betriebssystem mit einem viel offenerem Governance-Modell.

8.7 Ökosystem-Leadership Die skizzierten dynamischen Ökosystem-Fähigkeiten, Offenheit, Agilität und Ambidexterie machen ein Ökosystem auf organisatorischer Ebene effizient und effektiv. Die grundlegenden Kulturen sind dabei stark beeinflusst von Open Innovation, Kollaboration, Synergetik und Systemik. Speziell zu erwähnen sind die Wichtigkeit synergetischer Effekte, was nichts anderes bedeutet, als zusammen wirkend Mehrwert zu erzielen. Kunden- und mitarbeiterorientierte Ansätze greifen dabei ineinander über und ergänzen sich gegenseitig. In Ökosystemen potenziert sich so die kombinierte Wirkung der verschiedenen Teilnehmer. Die synergetische Führung geht auf die Selbststeuerung von Mikrosystemen zurück und stellt das Team in den Fokus, um so durch Förderung der Zusammenarbeit mehr Wert zu schaffen als durch individuelle Beiträge. Dieser partizipativer und kooperativer Führungsstil erkennt, dass alle Beteiligten in einem Ökosystem ihre Vorteile sehen (Lewin, Lippitt und White 1939). Das bedeutet aber auch, dass Entscheidungen in einer Weise getroffen werden, die allen Parteien, die an der Wertschöpfung beteiligt sind, zugutekommt. Eigentlich genau das, was ein Ökosystem ausmacht. Für das Verständnis und die Steuerung einer Organisation im Hinblick auf ihre Beziehungen und Interaktionen mit anderen Teilnehmern in einem Ökosystem ist vernetztes und ganzheitliches Denken und Handeln eine Voraussetzung. Bei der systemischen Betrachtung (Luhmann 1968; Von Bertalanffy 1972), geht es darum, nicht nur das eigene Unternehmen zu sehen, sondern auch die breiteren Beziehungen und Dynamiken im gesamten Ökosystem zu berücksichtigen. Synergetische und systemische Führung sind beides Ansätze, die den Fokus auf das Zusammenspiel und die Wechselwirkung von Teilen innerhalb eines Ganzen legen. Sie erkennen an, dass in komplexen Systemen kleine Veränderungen große Auswirkungen haben können und dass Führungskräfte oft effektiver sind, wenn sie die inhärenten Tendenzen und Potenziale eines Systems nutzen, anstatt gegen sie zu arbeiten. Die unterschiedlichen Akzente und Herangehensweisen sind in Tab. 8.1 dargelegt (siehe Tab. 8.1). Beide Führungsansätze ergänzen sich gut mit dem im Buch diskutierten allozentrischen Modell (siehe Kap. 6). Ökosystem-Leadership bedeutet die im Ökosystem integrierte Organisation als lebendiges, dynamisches System zu verstehen und Bedingungen zu schaffen, unter denen Mitarbeiter und Teams am besten arbeiten und sich entwickeln können. Führungskräfte sollten Elemente beider Ansätze kombinieren, je nach Situation und den spezifischen Herausforderungen, vor denen sie stehen. So kann von der kollaborativen Energie und Innovationskraft des synergetischen Ansatzes als auch von der Struktur, Stabilität und Nachhaltigkeit des systemischen Ansatzes profitiert werden. Alle Methoden und Praktiken haben einen Einfluss, wie Technologie in einem Ökosystem genutzt wird, auch wenn dieser Aspekt hier nicht integrativ betrachtet wird. Die Nut-

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8 Ökosystem-Leadership

Tab. 8.1  Synergetische und systemische Führungsansätze Synergetische Führung

Systemische Führung

Grundprinzip

- Befasst sich mit der Entstehung von Ordnung und Struktur in offenen Systemen - Die emergenten (selbstorganisierenden) Prozesse in Organisationen erkennen und nutzen

- Beruht auf dem Verständnis, dass Organisationen komplexe adaptive Systeme sind - Die Vielzahl von Wechselwirkungen ganzheitlich verstehen und das Verhalten des gesamten Systems beeinflussen

Ansatz

- Statt von oben herab zu befehlen, unterstützen synergetische Führungskräfte die natürliche Evolution und Entwicklung von Teams und Abteilungen - Das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile

- Das Muster und die Zusammenhänge innerhalb des Systems erkennen und beeinflussen - Nicht auf einzelne Teile des Systems konzentrieren

Ziele

- Schaffung von Arbeitsumgebungen, in denen Teams und Einzelpersonen ihr volles Potenzial entfalten und optimale Ergebnisse erzielen können - Ökosystem auf Änderungen der Umwelt anpassen (Agilität)

- Förderung der Selbstorganisation und Anpassungsfähigkeit der Organisation in einer sich ständig verändernden Umwelt - Ökosystem auf langfristigen Erfolg ausrichten (Nachhaltigkeit)

zung der Technologie wäre die vierte Fähigkeit. Ökosystem-­Leaderships bedeutet im Grunde genommen nichts anderes als die Beherrschung von Technologie, Effizienz und unternehmerischer Flexibilität, wenn es um die Zusammenarbeit geht, um Innovationen bereitzustellen und diese als Kundenerlebnis zu verkaufen. „Ökosystem-Leadership kombiniert synergetische und systemische Ansätze, ist kunden- und mitarbeiterorientiert und beinhaltet Methoden und Praktiken innerhalb Offenheit, Agilität und Ambidexterität.“

Auffallend ist, dass etablierte Unternehmen dazu neigen, ihre Kerngeschäftsmodelle im Vergleich zu neuen disruptiven Geschäftsmodellen überzubewerten. Dies ist bis zu einem gewissen Grad verständlich, da Großunternehmen meist börsennotiert sind und unter Druck stehen, ihren Aktionären vierteljährlich positive Ergebnisse zu liefern. Start-ups hingegen können ihre Schwerpunkte auf kundenrelevante Innovationen legen. Wie die Beobachtung zeigt, versuchen viele Start-ups durch Netzwerkeffekte exponentiell zu wachsen. Konkret bedeutet dies, dass die Nutzer- und Ertragszahlen lange flach verlaufen und dann plötzlich sehr stark ansteigen (siehe Kap. 4). Vor allem etablierte Unternehmen müssen ein Modell entwickeln, welches einen Ausgleich zwischen dem Unvermeidlichen, nämlich der kurzfristigen Erreichung finanzieller Ziele, und nachhaltigem Wachstum unter der Berücksichtigung der organisatorischen Erneuerung schafft. Seit der Finanzkrise haben etliche Unternehmen, allen voran die Banken, ihre Ressourcen ausgeschöpft und dabei die Erkundung neuer Wachstumsmöglichkeiten durch technologische Innovationen vernachlässigt. Sie investierten in großem Umfang in aufsichtsrechtliche Anforderungen und die Modernisierung ihrer alten Infrastruktur mit dem Ziel, die betriebliche Effizienz zu steigern. Obwohl Effizienzsteigerungen wichtig sind, kann ein zu einseitiger Fokus zu einer unvorteilhaften Stabilität oder sogar Lethargie führen. Wenn die Profitabilität vorwiegend von Automatisierungseffekten kommt, leidet darunter das nachhaltige Wachstum. Irgendwann reicht es nicht mehr aus und es werden überproportionale Risiken eingegangen, um kurzfristig starkes Wachstum zu erzeugen. Zudem unterschätzen etablierte Unternehmen oft das Potenzial aufstrebender Start-ups. In dem Moment, wo bei agilen Start-ups der Punkt des exponentiellen Wachstums einsetzt, ist es meist zu spät: die Bedrohung von der Konkurrenz ist dann nicht mehr aufzu-

8.7 Ökosystem-Leadership

277

halten. Die Analyse von exponentiellem Wachstum bekannter digitaler Innovationen löst Bedenken aus. Nach seiner Einführung im Jahr 1999 hat Netflix fast drei Jahre gebraucht, um eine Million Nutzer anzuziehen. Instagram hat 2,5 Monate gebraucht, um diese bedeutende Marke zu erreichen und Dropbox und Spotify brauchten jeweils fünf und sieben Monate. OpenAI’s kürzlich entwickeltes KI-gestütztes Tool hat Geschichte geschrieben, indem innerhalb von nur fünf Tagen eine Million Nutzer und nach zwei Monaten 100 Mio. Nutzer verzeichnet wurden (Analytics Insight 2023). Die Kernfrage ist: Welches Unternehmen ist offen und agil genug, um darauf zu reagieren und daraus einen Nutzen zu ziehen? Eine agilere und flexiblere Führung wird dringend benötigt, um Zusammenarbeit, Innovation und kontinuierliche Verbesserung zu schaffen und die Mitarbeiter zu befähigen, Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen. In Ökosystemen funktioniert ein traditioneller hierarchischer Führungsstil nicht. Es werden flache Hierarchie mit dezentralisierten Entscheidungsstrukturen benötigt. Generell unterschätzen Menschen dezentrale Entscheidungen. Hierarchische und zentrale Entscheidungen werden oft nur favorisiert, weil da die Verantwortung klar ist. Bei Fehlern weiß man genau, wen man zur Rechenschaft ziehen kann. Es fehlt tendenziell an Mut, sich zu öffnen und andere partizipativere und kollektivere Ansätze auszuprobieren. Struktur erzeugt Verhalten und entsprechend müssen flexiblere Strukturen geschaffen werden. Eine differenzierte Betrachtung zeigt, dass was in einer Umgebung sinnvoll ist, woanders gar nicht geht. Eine Ameisenkolonie weist eine klare hierarchische Struktur auf. Die Königin ist das Zentrum und alle arbeiten für sie. Auch eine Bienenkolonie ist zentral um die Königin herum organisiert. Es herrschen klare Hierarchien und Verantwortlichkeiten und Sammlerinnen, Wächterinnen, Drohnen, Ammenbienen und Baubienen haben ihre Funktionen. Der Bienenschwarm ist eine selbstorganisierende Struktur, wobei die Königin befielt, indem sie ein Pheromon abgibt, welches die Bienen anzieht und gefügig macht. Vogel- oder Fischschwärme sind zwar auch als System unterwegs, unterliegen aber einem gänzlich anderen Prinzip. Sie leben und überleben aufgrund ihrer kollektiven Intelligenz. Die Führung ist ein komplexes System aus Verhaltensweisen und Interaktionen und der Schwarm passt sich ständig an die sich ändernden Bedingungen an und bewegt sich als Einheit, ohne dass ein einzelner die Kontrolle hat. Dieses Prinzip entspricht eher unserem offenem Ökosystemgedanken. Langfristiges Wachstum und Rentabilität über Jahrzehnte hinweg, erfordert die gleichzeitige Förderung von Effizienz und Innovation. Um sich zu erneuern und weiter zu kommen, müssen Agilität und Flexibilität als wichtige Faktoren in die Geschäftsentwicklung aufgenommen werden. Trends zu antizipieren und sich an eine schnell ändernde Nachfrage anzupassen ist ein erster Schritt. Um aber in der Plattform-Ökonomie relevant zu sein, braucht es zusätzlich dynamische und kollektive ambidextre Fähigkeiten. Im Beispiel von ChatGPT müssten sich also bereits Mitarbeitende in einem Unternehmen ernsthaft mit dem Potenzial beschäftigen und disruptive Kundenlösungen testen, während der Großteil der Beschäftigten im angestammten Geschäftsbereich Kunden begeistern. Anhand der Analogie des Bienenschwarmes kann argumentiert werden, dass es Arbeiterinnen

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8 Ökosystem-Leadership

und sogenannte Scout-Bienen braucht. Dies sind ältere Arbeiterinnen, die durch ihre Erfahrung und ihr Wissen in der Lage sind, die Umgebung zu Erkunden und neue Nahrungsquellen und Nistplätze zu finden (Exploration). Scout-Bienen spielen eine wichtige Rolle in der Organisation und Effizienz eines Bienenstocks, da sie den Bienenstock über neue Ressourcen informieren und dazu beitragen, dass der Stock wächst und gedeiht. Bezogen auf Ökosystem-Leadership können Menschen aus der Natur viel lernen, die Formen der Intelligenz im Kollektiv sind nur einige Beispiele. Führungskräfte sollten bereits heute Fähigkeiten in den Bereichen Offenheit, Agilität und Ambidexterität aufbauen, wenn sie in einer dynamischen und komplexen Welt, wo Wert zunehmend innerhalb von Ökosystemen generiert wird, langfristig bestehen wollen. Alle drei Bausteine beinhalten kundenorientierte und mitarbeiterorientierte Sichtweisen, welche gleichzeitig berücksichtigt werden müssen. Oft überschneiden sich diese. So kann beispielsweise Mut zum Risiko aus einer Markt-, aber auch Mitarbeitersicht beurteilt werden. Gleiches gilt für die Kooperationsbereitschaft, welche innerhalb der Teammitglieder ebenso wichtig wie organisationsübergreifend ist. Innovationen für Kunden beeinflussen das Wachstum und Überleben eines Unternehmens stark. Dabei dürfen aber Mitarbeiterinnovationen nicht vernachlässigt werden. Unternehmen müssen ihre Mitarbeiter dazu ermutigen, neugierig zu sein und bereit sein, das Unbekannte zu erforschen und auszuprobieren. Nur durch die Offenheit gegenüber Neuem und die Bereitschaft zur Veränderung können Unternehmen mit der rasanten Entwicklung digitaler Technologien Schritt halten und ihre Chancen und Potenziale voll ausschöpfen. Dabei müssen sie ihre Komfortzone verlassen und sich immer wieder an neue Gegebenheiten anpassen. Es ist nicht nur das sich verändernde Umfeld, sondern auch die digitale Transformation des Unternehmens selbst, die Veränderungen erfordert. Eine auf Stabilität ausgerichtete Organisationskultur kann zu einer Resistenz gegenüber Veränderungen und Neuem führen und den Erfolg einer Ökosystemstrategie behindern. Denken in Szenarien ist entsprechend wichtig, worauf im letzten Kapitel eingegangen wird (siehe Kap. 9).

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Die Zukunft der Arbeit im Ökosystem

Zusammenfassung

Wie sieht die Zukunft der Arbeit im Ökosystem aus und wie müssen Führungskräfte darauf reagieren? Auch wenn sich die meisten Ängste und Sorgen über lange Zeit nicht bestätigen lassen, können diese durch nicht planbare Ereignisse, eine Kombination von Trends oder aufgrund der Auswirkungen der Branchen- und Technologiekonvergenz plötzlich eintreffen. Im Rahmen der strategischen Früherkennung müssen Führungskräfte verschiedene Szenarien für die Zukunft entwickeln. Im Kontext von Ökosystemen sind dies digitale Wertschöpfung, Plattform-Ökonomie und virtuelle Parallelwelten. Durch die zunehmende Konnektivität und Verschiebung in die virtuelle Welt, unterliegen Menschen im digitalen Paradigma der permanenten Zusammenarbeit und dem Austausch von Wissen und Ressourcen mit anderen Organisationen und Individuen über digitale Tools. In Zeiten der digitalen Disruption und Unsicherheit braucht es eine menschliche Führung, welche Purpose, Wellbeing und Happiness integriert und die emotionale Intelligenz als Teil der Organisationskultur heraushebt. Um von der Konvergenz zu profitieren und damit eine verantwortungsvolle Gesellschaft zu schaffen, muss eine menschenzentrierte Sichtweise eingenommen werden. Das ist, was Ökosystem-Leadership ausmacht und ein aufbauendes normatives Ergebnis der digitalen Transformation darstellt.

9.1 Was bringt die Zukunft? 9.1.1 Es gibt mehrere Zukünfte In der Konklusion des Buches werden einige Strategien, Modelle, Techniken und Erkenntnisse zusammengefasst. Um Redundanzen zu vermeiden, wird dabei vorwiegend auf Ver© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Fasnacht, Offene und digitale Ökosysteme, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42494-7_9

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9  Die Zukunft der Arbeit im Ökosystem

weise auf die entsprechenden Passagen im Buch verzichtet und auch nicht mehr auf die Quellen referenziert, da diese jeweils in den Kapiteln aufgeführt wurden. Während die Zukunftsszenarien pragmatisch und konkret sind, beinhaltet die Diskussion der Zukunft der Arbeit und der Umgang mit offenen Ökosystemen auch soziale und philosophische Aspekte. In diesem abschliessenden Kapitel werden sie erstmals besprochen, weshalb auf die korrekte wissenschaftliche Zitierweise geachtet wurde.  Aktuell sind Führungskräfte mit viel Ungewissheit konfrontiert und in einer digitalen, stark individualisierten Welt wird die Verantwortung zur Last, da es immer um die Gestaltung der Zukunft geht. Auch wenn sich aus statistischer, wissenschaftlicher und psychologischer Sicht die meisten Ängste und Sorgen über lange Zeit nicht bestätigen lassen, können diese durch nicht planbare Ereignisse (schwarze Schwäne) plötzlich akut werden. Der Kalte Krieg hat uns zwar Jahrzehnte lang immer wieder Sorgen bereitet, allerdings konnten jenseits des Eisernen Vorhanges die Menschen ihre Leben mit großer Stabilität langfristig planen. Heute geht die Literatur von vielen Arten von Zukünften aus, die sich auf verschiedene Aspekte der Weltentwicklung beziehen. Es ist wichtig zu bedenken, dass Zukünfte in der Regel unsicher und nur vorläufige Annahmen sind, die sich aufgrund von unvorhergesehenen Ereignissen ändern können. Die strategische Früherkennung (strategic foresight) ist ein wichtiges Konzept, welches sich auf die Identifizierung von schwachen Signalen und systematische Überwachung von Trends bezieht. Damit können mögliche zukünftige Entwicklungen (Zukünfte) ermittelt werden. Ziel ist es, Chancen und Risiken frühzeitig zu erkennen und darauf zu reagieren, bevor sie eintreten. Strategische Früherkennung ist eher ein operativer Ansatz, der sich auf konkrete Handlungsanweisungen für die Gegenwart konzentriert. Die Trendanalyse hingegen basiert auf der Untersuchung von Vergangenheitsdaten und Trends, um zukünftige Entwicklungen abzuleiten. Diese Methode kann beispielsweise verwendet werden, um die Entwicklung von Wirtschafts-, Technologie- oder Umwelttrends vorherzusagen. Im Gegensatz zur strategischen Früherkennung, die sich auf die Identifikation von Signalen konzentriert, bezieht sich die Trendanalyse auf die Analyse von grossen historischen Datenmengen. Obwohl Künstliche Intelligenz eine tiefere Datenanalyse und eine effizientere Unternehmenssteuerung ermöglicht, kann der Informationsüberfluss dennoch bedeutsame Erkenntnisse verdecken. Es stellen sich immer wieder Fragen wie: Weshalb haben so viele kluge Köpfe die Anzeichen des Zusammenbruchs des Subprime-Marktes übersehen? Wieso konnte niemand die Auswirkungen der Corona-Pandemie vorhersagen? Weshalb wurden die Warnungen und Drohgebärden des russischen Präsidenten Putin trotz zahlreicher ­Anzeichen nicht ausreichend beachtet? Anstatt mit Big Data, empfhielt es sich mit kleineren Datenmengen zu arbeiten, diese dafür aber gezielt zu verwenden. Die Szenariotechnik ist beliebt, um unterschiedliche Möglichkeiten (Szenarien) darzulegen. Die im nächsten Abschnitt dargestellten Szenarien basieren auf der Entwicklung von verschiedenen möglichen Zukunftsbildern, welche von verschiedenen Annahmen oder Einflüssen beeinflusst wurde. Ziel war es, eine umfassende Perspektive auf mögliche Entwicklungen zu erhalten und sich auf verschiedene Möglichkeiten vorzubereiten. Im Gegensatz zur strategischen Früherkennung, die sich auf konkrete Handlungsanweisun-

9.1 Was bringt die Zukunft?

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gen konzentriert, und zur Trendanalyse, die sich auf Big Data konzentriert, können Geschäfts-Szenarien für die  Entwicklung von möglichen Zukünften, basierend auf Smart Data, also weniger, dafür relevante Daten aufgebaut werden. Insgesamt können sich die erklärten Ansätze ergänzen und eine umfassende Perspektive darzustellen. Es gibt beispielsweise technologische Zukünfte, die sich auf die Vorhersage der Entwicklung von Technologien und ihrer Auswirkungen auf die Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt beziehen. Gesellschaftliche Zukünfte beziehen sich auf die Vorhersage von sozialen Trends und Veränderungen, wie zum Beispiel demografischen Entwicklungen, Veränderungen in den Werten und Normen oder der politischen Entwicklung. Aktuell sind es Umwelt- und Klimazukünfte, die an Bedeutung gewinnen. Die Vorhersagen von klimatischen Veränderungen und ihren Auswirkungen auf die Umwelt und Gesellschaft, wie zum Beispiel die Entwicklungen in der Energie- und Ressourcennutzung, dem Klimawandel oder dem Umweltschutz sind allgegenwärtig. Wirtschaftliche Zukünfte und deren Auswirkungen auf Unternehmen und Märkte, wie zum Beispiel die Globalisierung, Digitalisierung oder die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle sind natürlich in unserem Kontext höchst relevant. Technologische Innovationen haben in den letzten zehn Jahren enorme Fortschritte gemacht und werden in Zukunft eine zentrale Rolle in Wirtschaft und Gesellschaft spielen. Eine Folge der Digitalisierung sind die nahtlose Integration von Prozessen und die damit verbundene Zusammenarbeit über die Grenzen der Organisation und des Sektors hinweg – alles in Echtzeit. Durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen können Ökosysteme automatisiert werden und somit schneller und effizienter arbeiten. Im Sinne der Ambidexterität werden also Automatisierung und gleichzeitig neue Geschäftsmodelle vorangetrieben. Es ist bereits heute klar, dass die Wertschöpfung in offenen, kooperativen Ökosystemen stattfinden wird. Aktuellen Erkenntnissen zufolge wird es bald kaum noch isolierte Unternehmen geben, die unabhängig voneinander arbeiten. Global vernetzte Ökosysteme ermöglichen bereits heute, dass Unternehmen, Kunden, Lieferanten, Partner und andere Anspruchsgruppen zusammenarbeiten, um Mehrwert zu schaffen. Dadurch können zunehmend individualisierte Kundenbedürfnisse besser bedient, aber auch Nachhaltigkeitsaspekte in der Wertschöpfung berücksichtigt werden. Unternehmen werden verstärkt darauf achten müssen, dass ihre Geschäftsmodelle ökologisch und sozial verträglich sind. In diesem Zusammenhang können Ökosysteme dazu beitragen, die Ressourcen effizienter zu nutzen und die Umweltbelastung zu reduzieren. In Zukunft werden immer mehr offene Ökosysteme entstehen, in denen Unternehmen aus verschiedenen Branchen zusammenarbeiten, um innovative Technologien und Plattformen zusammen zu bringen, die eine nahtlose Kundenreise durch die Integration von Daten und Diensten ermöglichen. Wichtig dabei ist es, dass Unternehmen in der Lage sind, digitale Technologien von verschiedenen Akteuren zu nutzen. Die Bedeutung unternehmensübergreifender Wertschöpfungsstrukturen zeigt sich entsprechend in der intensiveren Zusammenarbeit und der Fähigkeit Partnerschaften aufzubauen und die Ressourcen diverser Leistungserbringer in die eigene Organisation und deren Prozesse und Kulturen zu integrieren. Ein allozentrischer Fokus, der nicht auf interne Abläufe zielt, sondern Po-

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9  Die Zukunft der Arbeit im Ökosystem

tenziale in der Zusammenarbeit mit anderen Akteuren sieht und so das Ökosystem als Ganzes wahrnimmt, ist empfehlenswert. Es gibt etliche Szenarien, wo Ökosysteme eine Rolle spielen mit unterschiedlichen Konsequenzen für Wirtschaft und Gesellschaft. Um einen direkten Bezug zum Buchinhalt zu erhalten, wurden nur drei Szenarien identifiziert und näher beleuchtet.

9.1.2 Szenario: Digitale Wertschöpfung Die digitale Wertschöpfung nutzt erwartungsgemäß digitale Technologie, um neue Geschäftsmodelle und Märkte zu erschließen. Im Jahr 2030 könnte in diesem Szenario die fortschreitende Digitalisierung zu einem Wandel in der Art und Weise geführt haben, wie Unternehmen Werte schaffen und Erfolg messen. Die Geschäftsmodelle der meisten Unternehmen basieren auf digitalen Technologien und werden von Ökosystemen unterstützt, die sich über mehrere Branchen und Regionen erstrecken. Die traditionelle Trennung von Unternehmen und Branchen hat sich aufgelöst und Unternehmen arbeiten in offenen Netzwerken zusammen, um Wert zu generieren. Unternehmen kombinieren dabei verschiedenste disruptive Technologien wie Künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen, Blockchain, IoT, Augmented Reality, Cloud- und bald Quantum Computing, um betriebliche Prozesse zu automatisieren und vor allem für digitale Produkte und hochpersonalisierte Angebote für Kunden zu erstellen. Diese Produkte und Dienstleistungen werden von intelligenten Systemen unterstützt, die in der Lage sind, Kundenbedürfnisse in Echtzeit zu erkennen und darauf zu reagieren. Durch die Verwendung von Datenanalysen sind Unternehmen in der Lage, tiefere Einblicke in das Verhalten ihrer Kunden zu gewinnen und ihre Geschäftsprozesse zu optimieren. Die Automatisierung von Prozessen und die Integration von Lieferanten und Partnern in den Geschäftsprozess führen zu einer Effizienzsteigerung und Kosteneinsparungen. Der Wettbewerb in diesem digitalen Umfeld ist intensiv und Unternehmen müssen sich durch Innovation und Differenzierung von ihren Konkurrenten abheben. Die Fähigkeit, schnell auf Marktveränderungen und Kundenbedürfnisse zu reagieren, wird entscheidend sein. Unternehmen müssen also, wie hier des Öfteren diskutiert, agil, flexibel und offen für Partnerschaften sein. In diesem Szenario wird auch die Rolle des Staates und der Regulierung wichtig sein. Der Staat wird als Akteur in den Ökosystemen auftreten und ­Regulierungsrahmen schaffen, um die Integrität und Sicherheit des digitalen Wirtschaftssystems zu gewährleisten. Insgesamt ist die digitale Wertschöpfung ein dynamisches und sich ständig veränderndes System, das Unternehmen vor große Herausforderungen stellt. Unternehmen, die in der Lage sind, schnell zu reagieren und sich anzupassen, haben jedoch die Chance, in diesem Umfeld erfolgreich zu sein und einen hohen Mehrwert für ihre Kunden zu schaffen. Dieses Szenario führt zu einer erheblichen Veränderung, wie Wert entsteht, einschließlich einer Umverteilung von Arbeitsplätzen, einer Veränderung der Machtverhältnisse in Branchen und einer Neugestaltung des Kundenerlebnisses. Über alles wird die digitale Wertschöpfung viele Bereiche unseres Lebens komplett verändern.

9.1 Was bringt die Zukunft?

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9.1.3 Szenario: Plattform-Ökonomie Plattformen sind digitale Infrastrukturen, die verschiedene Akteure miteinander verbinden und ihnen den Zugang zu verschiedenen Ressourcen und Dienstleistungen ermöglichen. Die Plattform-Ökonomie ist das Ergebnis der Digitalisierung und der damit verbundenen digitalen Wertschöpfung. In unserem Szenario haben Plattformen die traditionellen Geschäftsmodelle vieler Branchen revolutioniert und sind zu wichtigen Akteuren in der Wertschöpfung geworden. Unternehmen, die in der Plattform-Ökonomie erfolgreich sein wollen, müssen in der Lage sein, ihre Produkte und Dienstleistungen in Plattformen zu integrieren oder selbst Plattformen zu betreiben. Dies erfordert ein hohes Maß an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, um schnell auf neue Trends und Anforderungen reagieren zu können. Ein weiteres Merkmal der Plattform-Ökonomie ist die Bedeutung von Daten. Plattformen sammeln eine enorme Menge an Daten von den Nutzern und können diese Daten nutzen, um personalisierte Dienstleistungen und Produkte anzubieten und ihre Angebote zu verbessern. Unternehmen, die in der Plattform-Ökonomie erfolgreich sein wollen, müssen in der Lage sein, diese Daten zu nutzen und zu analysieren, um wertvolle Erkenntnisse zu gewinnen und ihre Produkte und Dienstleistungen zu verbessern. Kunden können so konzentriert und kontrolliert bedient werden, wobei Kundeninformationen zwischen verschiedenen Leistungserbringern ausgetauscht und weiterverwendet werden. Die auf Daten basierenden Geschäftsmodelle vieler Plattformbetreiber erfordern neue Regulierungsansätze, um Wettbewerb, Datenschutz, Datensicherheit und Datenintegrität zu gewährleisten. Plattformen ermöglichen es Unternehmen, ihre Mitarbeiter flexibler einzusetzen und die Arbeit zu delegieren. Gleichzeitig können Plattformen auch dazu beitragen, die Zusammenarbeit und den Wissensaustausch zwischen den Mitarbeitern zu verbessern und im Sinne eines Ökosystems der menschlichen Innovation für die Zukunft der Arbeit stehen. Insgesamt bietet die Plattform-Ökonomie enorme Chancen für Unternehmen, die in der Lage sind, sich schnell anzupassen und neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Gleichzeitig stellt sie jedoch auch eine Herausforderung dar, da traditionelle Geschäftsmodelle und Branchen zunehmend von Plattformen bedroht werden. Unternehmen, die in der ­Plattform-­Ökonomie erfolgreich sein wollen, müssen daher in der Lage sein, die richtige Balance zwischen Agilität und Stabilität zu finden, um langfristig erfolgreich zu sein. In diesem Szenario gelten digitale Plattformen und Netzwerke als zentrale Treiber der digitalen Wertschöpfung. Die Plattform-Ökonomie transformiert herkömmliche Wirtschaftsmodelle komplett; durch Nutzer und Interaktionen entstehen Netzwerkeffekte und Unternehmen können exponentiell wachsen. Offene Ökosysteme spielen in der Plattform-­ Ökonomie eine entscheidende Rolle. Sie verbinden die Infrastruktur, also Geräte, Systeme und Normen der Plattform mit Dienstleistungen. Dies führt zu einer besseren Zusammenarbeit und nahtlosen Integration von Dienstleistungen über Sektorgrenzen hinweg, aber auch zu einer erhöhten Abhängigkeit von Technologie.

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9  Die Zukunft der Arbeit im Ökosystem

9.1.4 Szenario: Parallelwelten Das Szenario der Parallelwelten bezieht sich auf die Vorstellung, dass zukünftige Technologien eine Art digitale Parallelwelt schaffen werden, die den Alltag vieler Menschen stark beeinflussen wird. Die bekanntesten Beispiele sind Decentraland und The Sandbox im Metaverse. Es gibt aber noch andere immersive und interaktive virtuelle Welten wie Roblox, Minecraft oder Fortnite, welche unter Spielern bekannt sind. Es ist davon auszugehen, dass es in Zukunft mehrere solche Parallelwelten geben wird. Meta wird als Pionier vielleicht in Zukunft sogar eine untergeordnete Rolle spielen. Der Grund ist einfach – in Asien ist eine neue digitale Generation am Entstehen und Regierungen wie China werden wohl kaum zulassen, dass Meta hier Marktführer wird und die Benutzerdaten chinesischer Bürger in amerikanischen Rechenzentren landen. Tencent Spatial Computing oder Alibaba AI Labs investieren stark in die Entwicklung von 3D- und Augmented Reality-Welten und bald wird es verschiedene Parallelwelten, verschiedener Anbieter aus verschiedenen Regionen geben. Eines haben alle Parallelwelten gemeinsam: mit Hilfe von Virtual Reality (VR) oder Augmented Reality (AR) können Benutzer eine andere Realität erleben, die in einigen Fällen möglicherweise noch realistischer ist als die physische Welt. In den digitalen Welt kann man einkaufen, arbeiten, sich bilden und sozial interagieren. Es ist bezeichnend für die Technologiekonvergenz, denn hier fallen alle im Buch besprochenen disruptiven Technologien zusammen. Auch im Kontext der Branchenkonvergenz existieren in einer künstlichen Parallelwelt keine inhärenten Sektorgrenzen. Anwendungen, Interkationen und Aktivitäten sind über Sektoren hinweg verknüpft, womit ein nahtloses und immersives Erlebnis geschaffen wird. Dieses Szenario birgt sowohl Chancen als auch Risiken. Einerseits könnten Parallelwelten für mehr Freiheit und Flexibilität sorgen, indem sie uns die Möglichkeit bieten, verschiedene Rollen und Identitäten anzunehmen. Unternehmen könnten ihre Produkte und Dienstleistungen in einer virtuellen Welt anbieten und so neue Einkommensquellen erschließen. Auf der anderen Seite könnten Parallelwelten auch negative Auswirkungen auf das reale Leben haben, indem sie uns von der physischen Welt entfremden und zu ­sozialer Isolation führen. Es gibt auch ethische Fragen, die mit diesem Szenario einhergehen, wie beispielsweise die Gefahr, dass die virtuelle Welt zur Flucht aus der Realität wird oder dass persönliche Daten in dieser Welt missbraucht werden. Viele Anbieter bieten bereits Möglichkeiten künstliche und hochrealistische menschliche Charaktere künstlich zu erstellen oder bestehende Identitäten für andere Zwecke zu missbrauchen. Es gibt auch Fragen, wie der Zugang zu dieser digitalen Welt für Menschen mit geringem Einkommen oder für Menschen mit Behinderungen gewährleistet werden kann. Virtuelle Welten werden unsere Wahrnehmung verändern und die Gestaltung sozialer und okönomischer Interaktionen neu definieren, was nachhaltige Konsequenzen für die Gesellschaft hat. Insgesamt ist es schwierig vorherzusagen, wie sich dieses Szenario in der Zukunft entwickeln und welche Auswirkungen es auf die Gesellschaft haben wird. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass digitale Parallelwelten eine immer wichtigere Rolle spielen werden, ins-

9.2 Die Branchen- und Technologie-Konvergenz bestimmt alle Zukünfte

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besondere in Bereichen wie der Unterhaltung, Bildung und der Arbeit. Es wird wichtig sein, die Entwicklung dieses Szenarios im Auge zu behalten und sicherzustellen, dass seine Chancen genutzt und Risiken minimiert werden.

9.2 Die Branchen- und Technologie-Konvergenz bestimmt alle Zukünfte Eines ist klar ersichtlich; es gibt keine klaren Abgrenzungen zwischen Branchen und Technologien und das zu realisieren war ein Ziel des Buches. Die Szenarien gehen inei­ nander über, vereinen Konzepte und sind voneinander abhängig. Open Data bezieht sich auf die Verfügbarkeit von Daten für jedermann, ohne dass Einschränkungen oder Barrieren bestehen. Dies ermöglicht es Entwicklern, Forschern und Unternehmen, diese Daten für neue Anwendungen und Dienstleistungen zu nutzen. Die Verfügbarkeit und der Austausch von Informationen ist die Voraussetzung eines weiteren zentralen Konzeptes des Buches. Open Innovation ist die Praxis, Ideen und Entwicklungen aus der Öffentlichkeit und aus anderen Quellen zu nutzen, um Produkte und Dienstleistungen schneller und zielgerichteter zu entwickeln. Ein offenes und digitales Ökosystem fördert die Zusammenarbeit und ermöglicht eine fragmentierte Leistungserbringung über diverse Akteure in einem Wertschöpfungsnetzwerk. Dieses Verständnis ist eine Voraussetzung, damit sich eine offene Gesellschaft entwickeln kann, in der jeder Bürger die Möglichkeit hat, aktiv am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben teilzunehmen, aber auch, sich in Innovationsprozesse einzubringen und mitzubestimmen, welche Produkte und Dienstleistungen er gerade in seiner aktuellen Situation benötigt. Eine größere Beteiligung und gemeinschaftliche Wertschöpfung haben viel mit Verantwortung zu tun. Es braucht eine neue Wahrnehmung, dass digitale Wertschöpfung, Plattformen und Ökosystemen auf der Demokratisierung von Daten beruht. Konkret muss der Eigentümer der Daten selbst bestimmen, dass diese für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, um so die Teilhabe und Partizipation zu erhöhen. Die Demokratisierung von Daten hat Auswirkungen auf verschiedene Bereiche der Gesellschaft, einschließlich: • Bildung: Zugang zu Daten kann es Schülern, Studenten und Forschern ermöglichen, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten zu verbessern und neue Entdeckungen zu machen. • Regierung und Politik: Daten können helfen, bessere politische Entscheidungen zu treffen und die Transparenz und Rechenschaftspflicht der Regierung zu erhöhen. Offene Regierungsdaten können dazu beitragen, dass Menschen aktiv an politischen und gesellschaftlichen Prozessen beteiligt werden und ihre Meinungen und Bedürfnisse ausdrücken können. • Wirtschaft: Unternehmen können Daten nutzen und untereinander austauchen, um bessere Produkte und Dienstleistungen anzubieten und die Effizienz ihrer Geschäftstätigkeit zu erhöhen.

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9  Die Zukunft der Arbeit im Ökosystem

• Gesundheit: Zugang zu Daten kann helfen, bessere Entscheidungen im Bereich der Prävention, aber auch bei Krankheiten und Unfällen zu treffen und medizinische Fortschritte bei der Medikamentenentwicklung oder Therapien zu fördern. • Menschenrechte: Daten können verwendet werden, um Menschenrechtsverletzungen zu identifizieren, überwachen und bekämpfen. Datenzugänglichkeit und Austausch stärken die Transparenz, was der internationalen Kontrolle ebenso hilft, wie der Strafverfolgung. Der ständige Versuch, den Kunden besser zu verstehen, wird kognitive Technologien in jede Anwendung, jeden Prozess und jede Dienstleistung einfließen lassen. Generative Künstliche Intelligenz hat innerhalb kurzer Zeit mit OpenAIʼs ChatGPT eine der schnellsten Adoptionsraten erreicht. Hier werden großes Automatisierungspotenzial und unvorhersehbaren neue Kundenerfahrungen erwartet. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie stark das die Disintermediation und die Entflechtung der Wertschöpfungsketten traditioneller Unternehmen beeinträchtigt. Eines ist jedoch sicher: offene Ökosysteme werden solche Technologien schnell integrieren und Sektoren und Unternehmen in den nächsten Jahren zu größeren Transformationen zwingen. Entscheidend ist es, Szenarien für die Zukunft zu extrapolieren, damit heute die richtigen strategischen Entscheidungen getroffen werden können. Wenn Unternehmen und Branchen vermehrt zusammenarbeiten und ihre Geschäftsmodelle und Produkte miteinander verknüpfen, um innovative Lösungen anzubieten und neue Märkte zu erschließen werden Branchengrenzen automatisch aufgehoben und es entstehen neue, branchenübergreifende Ökosysteme. Anhand von Beispielen aus verschiedenen Sektoren wurde das neue Geschäftsparadigma erklärt. Die Verknüpfung von Gesundheits- und Technologieunternehmen kombiniert medizinisches Fachwissen mit Datenanalyse- und KI-Technologien. Damit können neue Produkte und Dienstleistungen entwickelt werden, die bessere Gesundheitsversorgung und Prävention ermöglichen. Im Bereich der Mobilität entstehen sektorübergreifende Ökosysteme, in denen Automobilhersteller, Technologieunternehmen, Energieversorger und Infrastrukturanbieter zusammenarbeiten. So können beispielsweise intelligente Verkehrsleitsysteme, elektrische Ladeinfrastruktur, autonomes Fahren miteinander verknüpft werden und über eine Super-App branchenfremde Produkte und Dienstleistungen integriert werden, was das erlebnisorientierte Kundenerlebnis begünstigt. Solche Zukünfte erfordert eine hohe Innovationsfähigkeit und Kooperationsbereitschaft der beteiligten Unternehmen. Es können aber auch neue Wettbewerber und Geschäftsmodelle entstehen, die traditionelle Branchenstrukturen aufbrechen und verändern. Die Erkenntnisse stützen sich darauf, dass offene Ökosysteme auf vier Schlüsselprinzipien beruhen, i.e. Offenheit, Agilität und Ambidextrie. In der heutigen Wirtschaftsordnung können wir auch von dynamischen Ökosystem-Fähigkeiten sprechen, die dafür sorgen, dass die Kommunikation, Zusammenarbeit und Vernetzung von Ressourcen so koordiniert werden, dass Innovation und Wachstum entstehen. Speziell die offene Kommunikation ist wichtig, weil dadurch die Teilnehmer eines Ökosystems frei und transparent kommunizieren können. Das ist wichtig, um ein gemeinsames Verständnis von Zielen, Strategien und Ressourcen zu erreichen. Nur so kommt es zu einer Partnerschaft, in der die Teilnehmer des Ökosystems bereit sind, gemeinsam zu arbeiten und ihr Wissen und ihre Ressourcen

9.3 Wir sind alle Akteure im Ökosystem

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zu teilen, um Synergien zu schaffen. Die organisationsübergreifende und sektorübergreifende Vernetzung von Ressourcen wie Kapital, Wissen und Technologie bringt Innovationen hervor und schafft neue Werte. Die Erkenntnisse lassen darauf schließen, dass erfolgreiche Ökosysteme meist von Unternehmen initiiert werden, die eine Vision für die Zusammenarbeit haben und in der Lage sind, Partner zu mobilisieren und zu vernetzen. Unternehmen können auch als Katalysatoren für Innovationen und Wertschöpfung in einem Ökosystem dienen, indem sie neue Technologien, Produkte und Dienstleistungen entwickeln und einführen. Wichtig ist, dass ein Führungsverständnis, basierend auf einem gemeinsamen Purpose aufgebaut werden kann. Es reicht aber nicht, die Schlüsselprinzipien zu verstehen – sie müssen auch in der Organisation verankert werden. Wenn diese dynamischen Fähigkeiten beim Denken in Szenarien als Grundlage dienen, ist es einfacher, sich schnell an neue Trends und Herausforderungen anzupassen und Werte für neue Kundenbedürfnisse zu schaffen. Unternehmen, die nicht in der Lage sind, erfolgreich in Ökosystemen zu agieren, werden möglicherweise von wettbewerbsfähigeren Unternehmen überholt, verdrängt oder aufgekauft werden.

9.3 Wir sind alle Akteure im Ökosystem Da Benutzer immer öfter gleichzeitig einen Beitrag zur Wertschöpfung leisten (oft auch nur in Form ihrer Daten) werden wir alle zu Kontributoren in einem offenen Ökosystem. Das würde bedeuten, dass alle Menschen in einem System leben, in dem verschiedene Organisationen, Unternehmen, Institutionen und Individuen miteinander interagieren und gemeinsam Innovationen schaffen. Jeder von uns wäre Teilnehmer in mehreren offenen Ökosystemen und auf verschiedene Weise davon betroffen. Die Zukunft der Arbeit (future of work) unterliegt bekanntlich der permanenten Zusammenarbeit und dem Austausch von Wissen und Ressourcen mit anderen Organisationen und Individuen. Dies befähigt uns, von neuen Technologien und Innovationen zu profitieren, die von anderen Teilnehmern des Ökosystems entwickelt wurden. Die sozialen und gesellschaftlichen Konsequenzen sind entsprechend groß, denn durch die Konvergenz entsteht ein neues Verantwortungsbewusstsein. Es werden immer mehr Entscheidungen und Handlungen von kognitiven Technologien übernommen. Die Nachvollziehbarkeit und Haftung sind gestört, weil ethische Rahmenwerke fehlen und auch weil diese kulturell unterschiedlich beurteilt werden. In einem Ökosystem tragen Menschen in einer Art Symbiose zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums bei. Co-Innovation zwischen verschiedenen Organisationen und Branchen oder auch zwischen Menschen und Maschinen finden automatisch statt. Damit entstehen aber auch neue Herausforderungen wie Urheberrechtsverletzungen, Plagiate, Manipulationen, Datenschutz und die Kontrolle über Daten. Viele ethische Bedenken verdeutlichen die Notwendigkeit eines verantwortungsvollen Umgangs mit generativer Künstlicher Intelligenz zum Wohle der Gesellschaft. Wenn alle Menschen in einem offenen Ökosystem leben, trägt dies auch zu einer komplexen und dynamischen Umgebung bei, die eine Zusammenarbeit, Innovation und Anpassung an sich schnell ändernde Umstände erfordert. Unabhängig davon, ob jemand Benutzer, Kon-

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9  Die Zukunft der Arbeit im Ökosystem

sument oder Produzent von Inhalten und Leistungen ist, als Akteure in dem einen oder anderen Ökosystem werden Daten mit Regierungen, Familie, Freunden und allen anderen Diensten der Industrie geteilt. Offene Daten in einer Gesellschaft führen zu ungeklärten Fragen der Datensicherheit und des Datenschutzes. Da diese Gesetze von Land zu Land unterschiedlich diskutiert werden, ist es beinahe ausgeschlossen international operierende Ökosysteme zu überwachen. In einigen asiatischen Volkswirtschaften gibt es bereits eine Generation von Menschen, die keine Autorität und Kontrolle über ihre Daten haben aber auch nicht wünschen. Sie sehen es relativ gelassen, wie staatliche Einrichtungen und Unternehmen auf ihre Daten zugreifen und sie verarbeiten. Dies wiederum fördert das Ökosystem als solches und schafft Innovationen und eine neue Klasse von Funktionen und Möglichkeiten für viele Unternehmen. Auf der anderen Seite gibt es in den westlichen Volkswirtschaften keinen Konsens darüber, wie mit sensiblen Daten umzugehen ist, zumal die Datenhoheit für Regierungen nur von Bedeutung ist, wenn es um Finanzen, Gesundheit und Militär geht. Die Bedrohung der Privatsphäre und das Fehlen von Regulierungsmechanismen kommen mit zunehmendem Betrug, Cyber-Kriminalität und Online-Mobbing  – allesamt ernstzunehmende Themen bei der digitalen Wertschöpfung, Plattform-Ökonomie und in Parallelwelten. Offene Ökosysteme haben einen bedeutenden soziologischen Einfluss auf die Gesellschaft. Seit dem Aufkommen der sozialen Medien hat sich verändert, wie miteinander kommuniziert wird. Neue Möglichkeit der digitalen Kommunikation wurden während Covid-19 zwangsweise adoptiert. Seitdem treten Menschen anders miteinander in Kontakt und tauschen Informationen in Echtzeit aus, unabhängig von geographischen Entfernungen. Die Arbeitswelt hat sich innerhalb zweier Jahre verändert. Remote-Arbeit, Gig-­ Economy und flexible Arbeitsmodelle haben sich durch digitale Tools verbreitet. Dies hat Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen und den sozialen Zusammenhalt von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Soziale Interaktionen in Parallelwelten werden zusätzlich das Verhalten der nächsten Generation unwiderruflich verändert, was Einflüsse auf die Kultur hat. So entstanden jüngst neue Formen der kulturellen Produktion und Distribution von Musik-Streaming bis hin zu Online-Plattformen für Kunst und Kreativität.

9.4 Die Zukunft der Arbeit im Ökosystem Die digitale Disruption, Konvergenz von Branchen und Technologien und Zusammenarbeit in Ökosystemen benötigt neue Strukturen, Managementpraktiken und Kompetenzen. Um die Herausforderungen und Chancen zu antizipieren, mit denen sowohl Unternehmen als auch Arbeitnehmer in naher Zukunft konfrontiert sein werden, benötigen die Hälfte aller Arbeitnehmenden neue Kompetenzen. Das Weltwirtschaftsforum hat eine Liste von zehn zukünftigen Arbeitsplatzkompetenzen erstellt, die bis zum Jahr 2025 sehr gefragt sein werden (WEF 2020): 1 Analytisches Denken und Innovation 2 Aktives Lernen und Lernstrategien

9.4 Die Zukunft der Arbeit im Ökosystem

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3 Komplexe Problemlösung 4 Kritisches Denken und Analyse 5 Kreativität, Originalität und Initiative 6 Leadership und sozialer Einfluss 7 Technologieeinsatz, -überwachung und -kontrolle 8 Technologiegestaltung und -programmierung 9 Resilienz, Stresstoleranz und Flexibilität 10 Logisches Denken, Problemlösung und Ideenfindung Es fällt auf, dass nur eine Kompetenz in die Kategorie von Leadership und sozialem Kapital fällt. Eine globale Studie der Adecco Group fand heraus, dass Wellbeing, Happiness und Purpose alles wichtige Faktoren für Führungskräfte und ihre Organisationen sind, emotionale Fähigkeiten aber zu wenig gefördert werden (Adecco 2022). Individuelle Einstellungen, Verhaltensweisen und Ergebnisse können aber nicht verstanden werden ohne die Strukturierung der organisatorischen Kontexte, in die Menschen eingebettet sind. Für die Strukturierung sozialer Netzwerke und um den Wandel in Organisationen zu bewältigen, muss die Psychologie zielgerichteter Individuen berücksichtigt werden (Tasselli et al. 2015). Dies wird oft vernachlässigt, was erstaunlich ist. Denn der Aufbau von Beziehungskapital und sozialem Kapital ist eminent wichtig für Ökosystem-Teilnehmer und eine Führungsaufgabe. Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen emotionaler Intelligenz einer Führungsperson, Organisationskultur und Wachstum eines Unternehmens (Bipath 2007). Zudem kann emotionale Intelligenz erlernt werden (Mattingly und Kraiger 2019). Die Zukunft der Arbeit wird die Menschen ins Zentrum eines Innovations-Ökosystems stellen. Wie im Bienenschwarm müssen sich Menschen vertrauen und aufeinander verlassen können, was in einer Zeit, wo Technologie eine immer größere Rolle einnimmt, schwierig ist. Die Universität Zürich hat zusammen mit dem Talentdienstleister Adecco und Beratungsunternehmen Boston Consulting Group das Global HR Valley, ein Ökosystem mit dem gemeinsamen Ziel einer menschenzentrierten Zukunft der Arbeit aufgebaut, welches am Weltwirtschaftsforum in Davos 2020 vorgestellt wurde (CLFW 2023). Das Center for Leadership in the Future of Work (CLFW) ist eine Anlaufstelle, die Führungskräften dabei hilft, die mit der Zukunft der Arbeit verbundenen Leadership-­Herausforderungen zu meistern. Gemäß dem CLFW sind die vier größten Herausforderungen der Zukunft der Arbeit in Bezug auf die Führung in einer dynamischen und komplexen Welt: • Fokus auf technologische Innovation in der Zukunft der Arbeit, aber Vernachlässigung des Menschen • Eine Krise nach der anderen bewältigen, aber Emotionen als gemeinsamen Nenner ignorieren • Sich bei der Lösung menschlicher Probleme eher auf Erfahrung als auf Beweise verlassen • Die menschlichen Herausforderungen isoliert betrachten, obwohl sie in Zusammenarbeit angegangen werden sollten

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9  Die Zukunft der Arbeit im Ökosystem

Eines der Hauptthemen der Diskussion um die Zukunft der Arbeit ist, wie der technologische Fortschritt die Art und Weise, wie Menschen arbeiten, revolutionieren wird. Es ist die Ansicht gewachsen, dass digitale Innovationen in Bezug darauf, wie Menschen zusammenarbeiten, kreativer und produktiver werden oder wie sie sich bei der Arbeit fühlen und besser arbeiten können, erforderlich sind. Hier ist speziell der Fokus auf eine kreative und produktive Zusammenarbeit sowie auf die Förderung des Wohlbefindens der Mitarbeiter und einer besseren Führung zu legen. In der Praxis mangelt es an Dynamik bei der Innovation im Bereich der Menschen, vor allem weil es keine Gespräche über die Innovation im Bereich der Menschen gibt. Dieser Mangel an Aufmerksamkeit kann den menschlichen Fortschritt behindern, denn neue Arbeits- und Führungsmethoden sind entscheidend für das Gedeihen von Menschen, Organisationen und Gesellschaften in einem vernetzten Ökosystem. Deshalb ist es wichtig zu erkennen, dass technologische Innovationen allein nicht alle Probleme lösen können, mit denen die Arbeitskräfte konfrontiert sind. Technologie kann dazu beitragen, die Art und Weise, wie Menschen Aufgaben ausführen, zu verbessern und damit die Effizienz in bestimmten Sektoren, wie beispielsweise der Gesundheitsfürsorge, erheblich zu steigern (Chaudhry et al. 2006). Es gibt zahlreiche weitere Studien, die das Zusammenspiel von disruptiven Technologien und operativer Exzellenz belegen (Miandar et al. 2020). Digitale Werkzeuge haben verteilte Innovationsprozesse und Wissensflüsse über Organisationsgrenzen hinweg beschleunigt (Chesbrough und Bogers 2014), jedoch kann die Technologie nicht den Wert menschlicher Kreativität und Zusammenarbeit ersetzen, wie sie in Co-Innovationsprozessen in Ökosystemen erforderlich sind. Daher ist die Innovation im Bereich der Menschen ebenso wichtig für den Erfolg in der Zukunft der Arbeit. Innovation im Bereich der Mitarbeiter bedeutet, ein Umfeld zu schaffen, dass Zusammenarbeit, Kreativität und Produktivität fördert (Adecco 2022). Dies erfordert, dass man sich mit Themen wie dem Wohlbefinden der Mitarbeiter, der Entwicklung von Führungskräften und der Organisationskultur befasst. Dazu gehört auch die Einführung neuer ­Arbeitsmethoden, die Offenheit, Flexibilität und Agilität fördern und den Mitarbeitern die Möglichkeit geben, ihre Arbeit selbst in die Hand zu nehmen. Daher müssen Führungskräfte, Organisationen und Gesellschaften der Innovation im Personalbereich und der Förderung einer Kultur des Lernens, der kontinuierlichen Verbesserung und der Anpassungsfähigkeit Priorität einräumen, um die Herausforderungen der Zukunft der Arbeit zu meistern. Im Laufe der Jahre haben sich Führungskräfte darauf konzentriert, jede Krise als einzigartige Herausforderung zu bewältigen, ohne den gemeinsamen Nenner aller Krisen zu erkennen – das Auslösen starker Emotionen. Es liegt in der Verantwortung der Führungskräfte, diese Emotionen zu managen und sie so zu lenken, dass sie zur Lösung der Krise beitragen. Emotionale Kompetenzen sind besonders in sozialen organisationalen Netzwerken für Führungskräfte unerlässlich, um diese Emotionen effektiv zu steuern. Diese Fähigkeiten werden jedoch häufig zugunsten technischer und digitaler Fähigkeiten, wie sie auch vom WEF in den Vordergrund gestellt wurden (WEF 2020), vernachlässigt. Das Fehlen von Investitionen in soziale und emotionale Fähigkeiten auf individueller, organi-

9.4 Die Zukunft der Arbeit im Ökosystem

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satorischer und gesellschaftlicher Ebene ist zum Teil auf den Irrglauben zurückzuführen, dass diese Fähigkeiten schwer zu vermitteln sind. Um sicherzustellen, dass Führungskräfte auf Krisen emotional intelligent reagieren, müssen bessere Wege gefunden werden, um sie zum Erwerb dieser Fähigkeiten zu motivieren. Es ist wichtig, neben den technischen und digitalen Fähigkeiten auch die Bedeutung sozialer und emotionaler Kompetenzen hervorzuheben. Führungskräfte müssen erkennen, dass der Umgang mit Emotionen ein wichtiger Bestandteil des Krisenmanagements ist aber auch in der Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen im Kontext der gemeinschaftlichen Wertschöpfung Vorteile bringt. Organisationen und Gesellschaften müssen in Schulungsprogramme investieren, die sich auf die Entwicklung dieser Fähigkeiten konzentrieren. Denn soziale und emotionale Intelligenz ist erlernbar (Mattingly und Kraiger 2019). Leadership ist ein entscheidender Aspekt jeder Organisation und spielt eine entscheidende Rolle für ihren Erfolg. Allerdings verlassen sich Führungskräfte bei der Bewältigung von Problemen im Zusammenhang mit Menschen oft auf ihre Erfahrung und nicht auf Fakten. Dieser Ansatz ist nicht nur subjektiv, sondern auch potenziell weniger effektiv als er sein könnte. Auch die Entwicklung von Führungskräften beruht häufig auf Erfahrungen und nicht auf Fakten, was das Problem noch verschärft. Im Gegensatz dazu stützen sich Führungskräfte in Bereichen wie dem Marketing bei ihren Entscheidungsprozessen auf wissenschaftliche Methoden (Wierenga und Van der Lans 2017). Sie nutzen evidenzbasierte Techniken, um Entscheidungen zu treffen, die mit größerer Wahrscheinlichkeit zu positiven Ergebnissen führen. Evidenzbasierte Techniken können die Führungsfähigkeiten verbessern und Führungskräfte in die Lage versetzen, menschenbezogene Entscheidungen auf der Grundlage wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse zu treffen, was zu effektiveren Ergebnissen führt. Daraus folgt, dass Führungskräfte von der erfahrungsbasierten Führungsentwicklung abrücken und sich evidenzbasierte Techniken zu eigen machen sollten. Dadurch wird sichergestellt, dass die Führungskräfte mit den notwendigen Fähigkeiten und Kenntnissen ausgestattet sind, um fundierte Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf ihre Organisationen auswirken. Viele Führungskräfte und Organisationen neigen dazu, personalbezogene Herausforderungen isoliert anzugehen, auch wenn sie mit ähnlichen Problemen wie der Bindung von Talenten oder der Organisation von Telearbeit konfrontiert sind. Die Zusammenarbeit zwischen Führungskräften und Interessenvertretern führt jedoch zu besseren Lösungen für gemeinsame Probleme und ist vor allem eine erforderliche dynamische Ökosystemfähigkeit. Ein synergetischer Führungsansatz, der Fokus auf Kollaboration und Partnerschaft setzt, kann dabei helfen die kollektive Intelligenz und die Ressourcen in einem Ökosystem zu nutzen, um gemeinsame Ziele zu erreichen und nachhaltig Wert zu schaffen (siehe Ökosystem-­Leadership Kap. 8). Das Ökosystem für die Zukunft der Arbeit (CLFW 2023) bringt Führungskräfte aus verschiedenen Organisationen mit einem gemeinsamen Ziel zusammen: Entwickeln von Lösungen für eine menschenzentrierte Arbeit der Zukunft. Durch diese Zusammenarbeit können Führungskräfte auch ihre Kräfte bündeln, um Forschung und Entwicklung in Bereichen zu betreiben, in denen Erkenntnisse fehlen, umstritten oder widersprüchlich sind. Ein solcher kollaborativer Führungsansatz ermöglicht den

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Austausch von Wissen über Grenzen hinweg und führt zu Lösungen, die zu nachhaltigeren und erfolgreicheren Organisationen führen. Das Global HR Valley fördert Führungsqualitäten, welche für die Orchestrierung eines Ökosystems erforderlich sind. Dabei werden Ansätze aus der Welt der Technologie übernommen, wobei das Silicon Valley das berühmteste der vielen weltweit existierenden Innovationsökosysteme im Technologiebereich ist. Sieben verschiedene Inte­ ressengruppen sind Teil des Ökosystems und interagieren in einem Klima der Offenheit, Zusammenarbeit und Symbiose, mit einem Wettbewerbsgeist, der sie gegenseitig über ihre Grenzen hinaustreibt und sie gedeihen lässt. Die Beteiligten sind bestrebt, bahnbrechende Innovationen hervorzubringen und neue Wertschöpfungsquellen zu erschließen. Dementsprechend bilden drei Tätigkeitsbereiche den Nukleus des Ökosystems (CLFW 2023). Erstens treibt das CLFW in seinem Tätigkeitsbereich Discovery die globale Forschungsagenda voran, um den Menschen in der Zukunft der Arbeit stärker in den Mittelpunkt zu rücken, und zwar sowohl durch die eigene Forschung als auch dadurch, andere auf der ganzen Welt zu ermutigen, die menschliche Seite der Zukunft der Arbeit zu erforschen – zum Beispiel durch den globalen Forschungspreis zur Zukunft der Arbeit. Zweitens kuratiert das CLFW in seinem Tätigkeitsbereich Inspire evidenzbasierte Lernreisen und gibt wichtige Erkenntnisse weiter, um derzeitigen und künftigen Führungskräften die Führungsqualitäten und die sozialen und emotionalen Fähigkeiten zu vermitteln, die für die Bewältigung der anstehenden Herausforderungen erforderlich sind. Die Forschungsergebnisse werden über die Klassenzimmer hinaus auf akademischen und praxisorientierten Konferenzen sowie über traditionelle und soziale Medien verbreitet, um mehr Erkenntnisse über evidenzbasierte Führungsansätze in die Welt zu tragen. Drittens, in seinem Tätigkeitsbereich Shape treibt das CLFW die Umsetzung von Forschungsergebnissen in menschenzentrierten Lösungen für die Zukunft der Arbeit in Zusammenarbeit mit Unternehmen, Start-ups, Behörden und anderen gesellschaftlichen ­Akteuren. Es wird Führungskräften die Möglichkeit geboten, in einem kollegialen, offenen, vorurteilsfreien und entwicklungsfördernden Umfeld zu diskutieren, wie Forschungsergebnisse auf sie wirken, Emotionen verarbeitet und Wege für ihre Organisationen gefunden werden können. Entscheidungen werden dabei stets auf der Grundlage von Fakten, anstatt auf der Grundlage von Erfahrungen getroffen. Das oben ausgeführte Beispiel zeigt, dass die Zukunft der Arbeit in einem Ökosystemverbund liegt, da Menschen ja letztendlich alle Teil eines gemeinsamen Ganzen sind.

9.5 Digitale Transformation hat vorläufig kein Ende Menschen werden in Zukunft noch viel stärker durch ihre individuellen Eigenschaften und Kognition Netzwerke formen – Netzwerke werden aber auch durch ihre strukturelle Konfiguration uns Menschen formen. Diese Koevolutionsperspektive geht davon aus, dass

9.5 Digitale Transformation hat vorläufig kein Ende

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sich Menschen in ihren Eigenheiten und Netzwerke in ihren differenzierten Strukturen gemeinsam entwickeln (Tasselli et al. 2015). Diese Entwicklung wird durch technologische Tools beschleunigt. Zusätzlich zu Menschen und Netzwerken muss noch auf die Komponente Technologie ein Augenmerk gelegt werden. Die digitale Transformation hat noch lange kein Ende – sie wird weiter voranschreiten. Die rasant fortschreitende technologische Entwicklung wird irgendwann alle Optimierungspotenziale aufgelöst haben und dann fließend übergehen in eine Phase, wo traditionelle Geschäftsmodelle verdrängt werden. Im Gegensatz zur Digitalisierung, wo alles gleichbleibt, nur besser, bequemer und effizienter wird, entstehen durch Disruption neue, vorher gänzlich unbekannte Modelle. Die Konsequenzen für Unternehmen ohne Digitalisierung- und Ökosystemstrategie sind groß, da traditionelle Geschäftsmodelle verdrängt werden. Unternehmen dürfen sich nicht auf effizienten Prozessen ausruhen, sondern müssen sich frühestmöglich mit der Adoption von disruptiven Technologien zur Entwicklung offener und nachhaltiger Geschäftsmodelle auseinandersetzen. Im neuen Paradigma gibt es kaum noch Organisationsgrenzen und Kollaborationen mit diversen Akteuren sind Teil des neuen Betriebssystems. Leistungsangebote werden fragmentierter und Wert wird innerhalb branchenübergreifender Ökosysteme geschaffen. Offene Ökosysteme sind ein wichtiger Aspekt einer intelligenten und menschenzentrierten Zukunft, um das Wohlbefinden von Organisationen, Volkswirtschaften und Gesellschaften zu stärken (Tornjanski und Čudanov 2021). Allerdings wird das disruptive Potenzial milder, nachdem die relevanten Prozesse digitalisiert und Schnittstellen standardisiert sind. Eine einfachere Integration von Plattformen, Tools und Apps wird womöglich zu einer Inflation von Ökosystemen innerhalb von Ökosystemen führen. Die Zukunft von offenen Ökosystemen sieht dennoch vielversprechend aus. Der Megatrend einer vernetzten Welt, in der alle Menschen, Geräte und Systeme problemlos miteinander kommunizieren können ist real. An die heutige Komplexität und Dynamik wird sich die Zivilisation anpassen und gewöhnen, mit Unsicherheit werden Menschen aber immer, je nach Weltlage, leben müssen. Nicht nur geopolitische Veränderungen, sondern vor allem der technologische Fortschritt ist weder mit strategischer Früherkennung noch mit Trendanalysen exakt planbar. Der gesellschaftliche Wandel mit neuen Wertesystemen wird uns weiter stark beschäftigen. Open Innovation hat geholfen Organisationsgrenzen zu überwinden und eine Zusammenarbeit über Branchengrenzen hinweg zu manifestieren. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass offene und digitale Ökosysteme die Branchen- und Technologiekonvergenz fördern und einen wichtigen Beitrag leisten können, um mit intelligenten Firmen (Industrie 4.0) eine intelligente Gesellschaft (Society 5.0) zu formen (Deguchi et al. 2020).  „Offene und digitale Ökosysteme bilden den Kerngedanken einer integrierten, datengetriebenen und menschenzentrierten Gesellschaft, in der Technologie eingesetzt wird, um das Leben der Menschen zu verbessern und gesellschaftliche Herausforderungen ganzheitlich zu adres­ sieren.“

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9  Die Zukunft der Arbeit im Ökosystem

Die meisten Menschen bewegen sich bereits in diversen Ökosystemen. Parallelwelten werden die Grenzen zwischen Realität und Virtualität in absehbarer Zukunft weiter verwischen. Die fortschreitende Konvergenz zwischen Cyberspace und physischem Raum in der Künstliche Intelligenz auf der Grundlage von Daten, Robotern und Algorithmen ermöglicht, die Arbeit und die Anpassungen, die der Mensch bisher vorgenommen hat, zu übernehmen oder als Agent oder menschenähnlicher Avatar zu unterstützen, könnte das gesellschaftliche Modell der Zukunft sein (Cabinet Office 2016). Nur eine auf Menschen ausgerichtete Gesellschaft kann disruptive Technologien zur gemeinschaftlichen Wertschöpfung in Ökosystemen nutzen, um damit zu einer ausgewogenen wirtschaftlichen Entwicklung beitragen. So können Lösungen sozialer Probleme im Sinne globaler Nachhaltigkeitsziele (United Nations 2023) gefunden werden. Das Ausmaß der Konvergenz von Schlüsseltechnologien im Kontext der Rechenleistung, die Auswirkungen von Ökosystemen auf den globalen Wettbewerb und die gesellschaftlichen Abhängigkeiten durch zunehmende Verflechtungen werfen weiterführende Fragen auf. Die Zusammenarbeit auf Makro- und Mikroebene bietet, wie durch das ganze Buch erklärt, großes Potenzial. In diesem Zusammenhang wäre es bereichernd zu untersuchen, was es sonst noch braucht, um mit Hilfe offener und digitaler Ökosysteme eine neue „Superintelligente Gesellschaftsform“ zu etablieren. Die Evolution hat immer wieder gezeigt, dass durch gemeinsame Bestrebungen Mehrwert geschaffen werden kann und große Herausforderungen gemeistert werden können, obwohl Menschen am Anfang des Wandels immer auch Ängste haben. Wir wissen dann nicht mehr, wo wir uns befinden, wem und was wir glauben sollen. Der spanische Professor für Metaphysik, Logik und Ethik und Philosoph José Ortega y Gesset hat diese Unsicherheit der Transformation gut eingefangen mit: „Wir wissen nicht, was geschehen wird. Und genau das geschieht mit uns“.

Literatur Adecco (2022). The Chief People Officer of the Future. The Adecco Group and UZH CLFW, März. Bipath, M. (2007). The dynamic effects of leader emotional intelligence and organisational culture on organisational performance (Doctoral dissertation, University of South Africa). Cabinet Office (2016). Society 5.0. Government of Japan, Fifth Science and Technology Basic Plan. Chaudhry, B., Wang, J. Wu, S., Maglione, M., Mojica, W., Roth, E., … & Shekelle, P. G. (2006). Systematic review: impact of health information technology on quality, efficiency, and costs of medical care. Annals of Internal Medicine, 144(10), 742–752. Chesbrough, H. & Bogers, M. (2014). Explicating open innovation: clarifying an emerging paradigm for understanding innovation. New frontiers in open innovation. Oxford University Press, 3–28. CLFW (2023). Center for Leadership in the Future of Work. https://www.leadthefuture.org/. Zugegriffen: 25. April 2023. Deguchi, A., Hirai, C., Matsuoka, H., Nakano, T., Oshima, K., Tai, M. & Tani, S. (2020). What is society 5.0. Society, 5, 1–23. https://doi.org/10.1007/978-­981-­15-­2989-­4_9.

Literatur

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