Wirklichkeit(en): Gegenwart neu wahrnehmen - Zukunft kreativ gestalten 9783110543711, 9783110543339

Ansätze zur Zukunftsgestaltung Noch nie hat uns Wirklichkeit so beschäftigt wie heute. Wir leben in einer Zeit, in der

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Wirklichkeit(en): Gegenwart neu wahrnehmen - Zukunft kreativ gestalten
 9783110543711, 9783110543339

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Referate
Globart Award 2016. Laudatio für Michael Haneke
Grund oder Abgrund
Mind the Future: Das Digitale Jetzt
Werte, Die uns Schützen
The Nature of the Self in the Digital Age
Sinnlichere Bildung und Wirk Sameres Wissen
The Ethics of Virtual Reality: Risks and Recommendations
Nur Rädchen im System? Warum Verantwortung Sich Nicht Out Sourcen Lässt
Wandel der Arbeit Swelt: Wer ist Dabei ?
Prekäres Schaffen: Die Technologische Utopie des Makings und Ihre Folgen
Das Traumjob -Experiment
Das Märchen von Tausendundeinem Haus
Willkommen i0n Österreich
The Connection
Nachhaltige Logistik – A Call to Action – Oder Wollen Sie es Selber Tragen?
„Schwer Fassbar und Einordbar“
Ausstellung
It’s Time to Open the Black Boxes!
Danae Stratou im Museumkrems
Referentinnen & Referenten
Impressum

Citation preview

WIRKLICHKEIT(EN)

Mit freundlicher Unterstützung von:

WIRKLICHKEIT(EN) Gegenwart neu wahrnehmen – Zukunft kreativ gestalten GLOBART (Hg.)



VORWORT Als Denkwerkstatt für Zukunftsthemen setzt sich GLOBART seit vielen Jahren mit der Frage auseinander, wie Zukunft besser gelingen kann. Im Jahr 2016 konkret mit „Wirklichkeit(en)“, die unser Leben bestimmen, die aber jeder von uns unterschiedlich wahrnimmt. Entscheidend für eine bessere Zukunft sind jedoch die richtige Lesart und damit verbundene Maßnahmen, die wir heute setzen. Unsere komplexe Gegenwart verlangt ein neues Meta-Denken, mit dem wir lernen, die Gegenwart ganzheitlich zu deuten, ohne auf schnelle Antworten und alte Muster zu setzen. In den Worten von Harry Gatterer, Trendforscher und Leiter des Zukunftsinstituts: „Die Zukunft ist bereits da. Wir müssen lernen, die Gegenwart zu deuten, um das Kommende zu sehen.“ Es ist uns gelungen, authentische und inspirierende Impulsgeber und Impulsgeberinnen zu den Schwerpunkten Bildung, Digitalisierung, Klimawandel und Migration für die 19. GLOBART ACADEMY zu gewinnen. Sie wurden dem Anspruch gerecht, Themen nicht nur intellektuell zu referieren und diskutieren, sondern auch erlebbar zu machen. Dass die griechische Künstlerin Danae Stratou in Krems erstmals ihre Multimediainstallation It’s Time to Open the Black Boxes gezeigt hat, macht uns dankbar und stolz zugleich. Basis ihrer viel beachteten Ausstellung war eine Umfrage über die Ängste und Hoffnungen der Österreicherinnen und Österreicher. Ebenso unvergessen bleibt der gemeinsame Abend mit den Flüchtlingen, die in der Stadt Krems Heimat gefunden haben, die Begegnung mit dem Werk der russischen Komponistin Galina Ustwolskaya in der exemplarischen Interpretation durch den Pianisten Markus Hinterhäuser und die Geigerin Patricia Kopatchinskaja sowie die Verleihung des GLOBART Award 2016 an Regisseur und Oscar-Preisträger Michael Haneke, der in seinen Filmen so meisterhaft unseren Blick auf Wirklichkeiten lenkt. Unser Dank gilt allen, die zum Gelingen dieser Academy beigetragen haben und die uns ihre Texte auch in schriftlicher Form zur Verfügung gestellt haben. Viel Freude beim Lesen dieser inspirierenden Texte. Prof. Heidemarie Dobner Dr. Wilfried Stadler Intendantin Präsident

Inhalt REFERATE 11

GLOBART AWARD 2016 Laudatio für Michael Haneke Sandra Kegel

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GRUND ODER ABGRUND Philipp Blom

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Mind the Future: Das digitale Jetzt Harry Gatterer

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The nature of modern technology Werte, die uns schützen Sarah Spiekermann

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The nature of the self in the digital age Aral Balkan

42 Sinnlichere Bildung und wirksameres Wissen Ein Interview mit Stephan A. Jansen 49

The Ethics of Virtual Reality: Risks and Recommendations Michael Madary

56 Nur Rädchen im System? Warum Verantwortung sich nicht outsourcen lässt Lisa Herzog 63

Wandel der Arbeitswelt: Wer ist dabei? Paulo Kalkhake

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Prekäres Schaffen: Die Technologische Utopie des Makings und ihre Folgen Silvia Lindtner

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Das Traumjob-Experiment Jannike Stöhr

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DAS MÄRCHEN VON TAUSENDUNDEINEM HAUS Barbara Frischmuth

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Willkommen in Österreich! Mizgin Sönmez

91 The Connection Valerie Mühlenburg 94 Nachhaltige Logistik – a call to action – oder wollen sie es selber tragen? Martin Posset 98 Schwer fassbar und einordbar Ein Interview mit Markus Hinterhäuser

AUSSTELLUNG 101

IT’S TIME TO OPEN THE BLACK BOXES! Yanis Varoufakis

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DANAE STRATOU IM MUSEUMKREMS

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REFERENTINNEN & REFERENTEN

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IMPRESSUM



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GLOBART AWARD 2016 Laudatio FÜR MICHAEL HANEKE

Sandra Kegel

Als ich im Sommer in Klagenfurt am Kanal Richtung Wörthersee lief, da entdeckte ich am Eingang zum Strandbad Maria Loretto eine kleine Tafel. Sie informiert den Spaziergänger darüber, dass Michael Haneke hier vor genau vierzig Jahren seinen Film „Drei Wege zum See“ gedreht hat, nach der gleichnamigen Erzählung von Ingeborg Bachmann. Wenig später, wieder in Frankfurt, versuchte ich, mir den Film zu besorgen, was mir angesichts der heutigen Verfügbarkeit der Dinge kein Problem zu sein schien. Ich hatte mich getäuscht. Der Film war weder in den Datenbanken der Bibliotheken zu finden, die ich durchsuchte, noch im Internet bei einer der vielen Plattformen. Nicht einmal die Veranstalter dieser Preisverleihung konnten mir weiterhelfen. Heute, im digitalen Zeitalter, etwas nicht zu finden, da man meint, noch in die entlegensten Winkel der Welt vordringen zu können, machte mich rast- und ratlos. „Drei Wege zum See“ wurde für mich zum Mysterium, dem ich mich nur noch über Umwege nähern konnte. Über das, was ich darüber las, was ich mir vorstellte. Wie würde dieser Film aussehen?, fragte ich mich. Welche Bilder hatte Michael Haneke gefunden für die Erzählung, in der eine Fotografin bei einem Besuch in ihrer Heimatstadt Klagenfurt den See ihrer Kindheit aufsucht und dabei Stationen ihres Lebens aus der Tiefe des Bewusstseins an die Oberfläche treten? Irgendwann kam mir meine eigene Situation selbst vor wie der Einfall eines Haneke-Films - „Caché“. Darin wird eine Pariser Familie mit anonymen Drohvideos terrorisiert, die nach und nach ein verdrängtes Geheimnis des Vaters Georges aufdecken: Als Kind hatte er mit einer Lüge dafür gesorgt, dass seine Eltern einen algerischen Jungen, der über Nacht zum Waisen geworden war, nicht wie geplant bei sich aufnahmen. Am Ende sieht man dann die Söhne der beiden Widersacher von einst, deren Leben durch die Denunziation schicksalhaft miteinander verknüpft wurden, am Schultor miteinander reden. Ich bin mir sicher, dass in dieser Unterhaltung der Jungen die Wahrheit des Films liegt. So intensiv, wie sie miteinander sprechen: Wer war der Absender der beunruhigenden Videos? In welcher Verbindung stehen sie zum Selbstmord des algerischen Vaters? Und gibt es noch Rettung für den heillos in die einstige Schuld verstricken TalkshowModerator Georges? Bohrende Fragen – doch das Gespräch der Jugendlichen am Schultor, das Aufschluss darüber geben könnte, ist aus so großer Distanz gefilmt, dass man beim besten Willen nicht verstehen kann, worüber sie reden.

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Laudatio FÜR MICHAEL HANEKE

Die Szene ist beispielhaft für die Filme von Michael Haneke. Denn sie leben von jener irremachenden Dialektik, die Oscar Wilde einmal so beschrieb: „Das eigentliche Mysterium der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare“. In diesem Sinne sind auch Hanekes Filme Mysterien. Denn sie sind Dokumente des Sichtbaren, zeigen mit penibler Genauigkeit etwa den Wahnsinn, der hinter der Schauseite des bürgerlichen Arrangements lauert, den drohenden Selbstzerstörungstrieb und jähen Ausbruch von Gewalt in scheinbare Wohlgeordnetheit. Aber sie erklären nicht, sie sind nicht ausrechenbar. Auf simple Motive, Wahrheiten oder Antworten lassen sie sich nicht herunterbrechen. Sie verwehren sich dabei nicht nur, indem sie auf herkömmliche Dramaturgie verzichten – nie wird von hier nach dort erzählt –, sondern mehr noch, weil sie den Zuschauer am Schlafittchen packen und ins Ungewisse ziehen, ins Dunkle, auf den Grund des Sees. Das ist aufregend und manchmal verstörend. Weil man ganz allein zusehen muss, wie man bei diesem Tauchgang wieder nach oben kommt. Seit Michael Haneke vor mehr als vierzig Jahren seinen ersten Fernsehfilm drehte, „After Liverpool“, arbeitet er entschlossen an dieser Filmsprache, die ihn zu einem der radikalsten Beobachter im internationalen Gegenwartsfilm gemacht hat. Sein Kinodebüt „Der siebente Kontinent“ erforscht das systematische, für den Zuschauer unerklärliche Verschwinden einer Familie, die, zum Selbstmord entschlossen, sämtliche Zeichen von sich in der Welt vernichtet. Ehe sie Hand an sich legen, kappen sie alle Beziehungen, verkaufen ihr Auto und zerschlagen ihr Mobiliar, samt Aquarium. Zum Schluss flimmert nur noch der Fernseher in der verwüsteten Wohnung. Er überdauert das Dasein der drei Menschen. In „Bennys Video“ kommt es nicht zum Selbstmord, sondern zum Mord. Und dieser geht nicht mit Verwüstung einher, sondern mit grausamer Beiläufigkeit: Ein Teenager tötet ein Mädchen mit einem Bolzenschussgerät und löffelt anschließend ein Joghurt. „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls“ schließlich, der Abschluss der Trilogie der „emotionalen Vergletscherung“, wie Haneke dies einmal genannt hat, zeichnet den Weg zu einem Amoklauf nach. Beobachtet werden sechs Personen auf ihren Wegen durch den Wiener Alltag, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Erst die Katastrophe stiftet nachträglich den Zusammenhang zwischen den einundsiebzig Einstellungen. Die Tat des unscheinbaren Studenten aber bleibt unerklärlich. So unerklärlich wie der Kollektivsuizid in „Der siebente Kontinent“. Und eben darin liegt das Unerhörte dieser Filme: Dass Michael Haneke Taten zeigt, ohne Motiv. Er weiß, dass grundlose

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Sandra Kegel

Gewalt uns am meisten erschreckt. Und er treibt dieses Spiel bis zum äußersten, wenn er das Böse siegen lässt. Peter und Paul, die Mörder einer Familie in „Funny Games“ sind die wohl monströseste Ausformung des sinnlosen Bösen, die je im Kino zu sehen war. Die jungen Dandys verlachen ihre Opfer nicht nur bei dem Versuch, deren mörderisches Tun zu begreifen. Sie schlagen ihnen sogar eine Wette auf den Tod vor. Hier sinnloses Morden, da sinnloser Selbstmord. Den zugrundeliegenden Fall für den Film „Der siebente Kontinent“ hatte Michael Haneke wie schon bei anderen Projekten in einem Zeitungsartikel entdeckt. Sämtliche Gründe für den Selbstmord – der Mann in Geldnot, die Frau unbefriedigt – waren da zusammengetragen worden. Hanekes Auslegung lässt solche Auswege nicht zu. Die Monstrosität einer unerklärlichen Tat wird bei ihm nicht entschärft. Statt Fluchtwege in eine Beweiskette zu bieten, liefert er den Zuschauer der eigenen Ohnmacht aus. Das macht die Filme beklemmend. Dass man noch, wenn man sie zwei- oder fünfmal gesehen hat, sich dagegen zur Wehr setzen möchte. Der Krieg, der in diesen Seelen tobt, ist unerklärlich. Mark Twain stellte seinem Roman „Huckleberry Finn“ einst die folgende Bemerkung voran: „Wer versucht, in dieser Erzählung ein Motiv zu finden, wird gerichtlich verfolgt; wer versucht, eine Moral darin zu finden, wird des Landes verwiesen; wer versucht, eine schlüssige Handlung darin zu finden, wird erschossen.“ Auch ich werde einen Teufel tun, dem Drang zur Vereindeutigung im Werk von Michael Haneke nachzugeben. Ich würde ein ums andere Mal scheitern. Denn selbst ein Film wie „Das weiße Band“ über ein Dorf am Vorabend des Ersten Weltkriegs, in dem Kritiker nun endlich glaubten, Haneke eine Ursachenforschung unterzuschieben können, widersetzt sich dieser Lesart. Auch wenn darin die Spirale der Gewalt vor allem als Zyklus der Erziehung gezeigt wird, greift die Auslegung, dies führe geradewegs in den Faschismus, zu kurz. Für die Rolle des kulturpessimistischen Mahners lässt Michael Haneke sich nicht einnehmen. Vielmehr folgt er Station für Station der Zurichtung von Menschen innerhalb sozialer Funktionssysteme. Das tut er mit schonungslosem Blick. Er selbst hat einmal gesagt, dass für ihn jedes gelungene Kunstwerk „eine Zumutung“ darstellt. Und dass die Filme oder Bücher, die ihn am meisten beeindruckt haben, diejenigen waren, die ihn selbst in irgendeiner Weise destabilisierten. Film für Film hat er dafür eine Bildsprache entwickelt, die mit mikroskopischer Genauigkeit und ästhetischer Strenge daran arbeitet, uns zu destabilisieren. Es ist dieser Verzicht auf gängige Erzähltechniken, der die nervenaufreibende Ästhetik schafft. Die Kamera hält Haneke nahezu bewegungslos, Räume werden häufig ohne Personal

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Laudatio FÜR MICHAEL HANEKE

betrachtet, und die Filme selbst sind immer wieder durch Augenblicke schwarzer Bilder in Fragmente unterteilt. Sie rahmen damit jede Einstellung gleichsam zum Gemälde. Ähnlich wie die Regieanweisung „Stille“ in den Stücken Ödön von Horváths sind sie aber auch Ausdruck dafür, dass die Figuren mit Reden nicht weiterkommen. Es verhält sich umgekehrt: Je existentieller die Krisen, desto mehr verstummen die Menschen. Ausweglosigkeit und gestörte Kommunikation gehen Hand in Hand. Musik dagegen hört man überhaupt nur, wenn sie tatsächlich gespielt wird. Wenn der Jungenchor einer Schule einen Bachchoral anstimmt, ein Pianist im Pariser Konzerthaus auftritt, oder Musik aus dem Radio plärrt. Das Radio wie das Fernsehen ist es aber auch, das die äußere Wirklichkeit in diese Familien bringt. Immer ist irgendwo ein Nachrichtensprecher im Hintergrund zu hören, der von Kriegen und Hungersnöten berichtet: In „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls“ ist es der Kalte Krieg, in „Code Inconnu“ der Jugoslawienkrieg, in „Caché“ der Algerienkrieg. Der Krieg ist allgegenwärtig, doch das Hintergrundrauschen wird niemals zur realen Bedrohung. Zu sehr sind die Figuren mit ihren eigenen Krisen beschäftigt, um Notiz zu nehmen. Der Schock dieser Krisen gründet sich bei Haneke nicht auf expliziter Darstellung. Die Gewalt spielt sich oft sogar außerhalb des Bildausschnittes ab. Das ist in seiner Wirkung zwar meist noch gravierender als die Überdeutlichkeit eines Bildes. Wenn man nur hört, was man nicht sieht. Die Gewalt aber ist die Leerstelle in diesen Filmen, weil Haneke sie gerade nicht zum Mittel der Unterhaltung einsetzen will. Sie als billigen Schauder zu konsumieren, wird dem Zuschauer verwehrt. Weil Haneke in erster Linie an den Spuren von Gewalt und Aggression interessiert ist. Es ist das Verhalten der Menschen, das oftmals schockiert. Weil sie, heimgesucht von ihren Gespenstern, diese mit aller Macht zu verdrängen suchen. „Was unter den Teppich gekehrt wird, wird den Teppich irgendwann in Bewegung setzen“, hat Michael Haneke im Gespräch mit dem Journalisten Thomas Assheuer einmal gesagt. Diesen Teppich rollt er ein ums andere Mal aus - und sein filmisches Personal stürzt verlässlich darauf zu Boden. Wer da stürzt, das sind in erster Linie Familien. Kleinfamilien. Vater, Mutter, Kind. Sie zerstören sich selbst, oder sie werden von außen zerstört. Die erkalteten Gefühle stehen dabei in Kontrast zu den glühenden Traumbildern der Protagonisten. In „Caché“ sind es die Kindheitsszenen auf dem elterlichen Hof des Fernsehmoderators Georges. Da sieht man dann den Schlüsselmoment, als der algerische Junge vertrieben wird. Fremde, vom Jugendamt, holen ihn ab und zerren ihn ins Auto. Er entwischt zunächst, und wird wieder eingefangen.

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Sandra Kegel

Die monströse Tat der Denunziation, die den Glutkern der Geschichte bildet, liegt in „Caché“ in der Vergangenheit. Der Familie in „Der siebente Kontinent“ dagegen steht sie noch bevor. Hier ist das Traumbild ein Meeresstrand mit Wellen. Das Sehnsuchtsbild, ein utopisches Moment innerhalb einer ausweglosen Situation, wird mehrmals kommentarlos eingeblendet. Zuletzt ganz am Ende, als Georg nach seinem Kind und seiner Frau schließlich selbst zu den Tabletten greift. Ist es Ihnen aufgefallen? Georges, Georg, noch einmal Georges. Kann es Zufall sein, dass sich der heilige Georg, der Drachentöter, durch das gesamte Oeuvre von Michael Haneke zieht? Gewiss nicht. In acht Filmen, die alle auf eigenen Drehbüchern beruhen, nennt Haneke seine männlichen Protagonisten Georg oder Georges. Die Partnerinnen heißen Anna oder Anne, und die Söhne Ben, oder Benny. Er sei zu faul, sich neue Namen auszudenken, hat Michael Haneke, einmal darauf angesprochen, lapidar erklärt. Und verweigerte damit aufs Neue jegliche Deutungswege. Dabei, würde ich sagen, ist die Georg-Anna-Benjamin-Entscheidung ein Schlüssel zu diesem Werk, das Figuren archetypisch begreift. Anna leitet sich vom hebräischen Hannah ab, und steht für Anmut, auch Gnade. Benjamin, ebenfalls hebräisch, bezeichnet „Glückskind“. Der ursprünglich aus dem Griechischen stammende Name Georg aber ist ein Kompositum der Worte „Erde“ und „Arbeit“. Georg also ist ein Erdbearbeiter, ein Arbeiter auf Erden. Und seine Arbeit so ausweglos wie die des Sisyphos. Es ist die Arbeit an der Schuld: „Man wird immer schuldig an anderen“, glaubt Michael Haneke. „Willentlich oder nicht. Schuld ist immer dort, wo Leid entsteht. Wir können nicht schuldfrei leben als Teil einer Gemeinschaft. Die Frage ist nur, wie wir damit umgehen.“ Davon handeln diese Filme. Dass Georges in „Caché“ als Kind einem anderen Kind Unrecht angetan hat, ist nicht der Punkt. Sondern die Frage, wie er der Tat als Erwachsener begegnet. Erst hier macht er sich schuldig. Auch in Michael Hanekes bislang letztem Film, „Liebe“, begegnen wir diesem Erdarbeiter Georg. In der christlichen Legende muss der Heilige Georg, um die jungfräuliche Königstochter zu retten, den Drachen töten. Und auch in „Liebe“ wird Georges am Ende töten, um Anne, seine Frau zu retten. Wie auffällig aber ist, dass viele meinten, mit diesem Pariser Drachentöter sei ein neuer, sanfter Ton im Werk Michael Hanekes aufgetaucht. Von intimer Zärtlichkeit war die Rede, mit der der Regisseur sich dem betagten Paar während der letzten Wochen in seiner Pariser Wohnung nähert. Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Gerade in „Liebe“ steigert Michael Haneke die Unerbittlichkeit von „Funny Games“ oder „Bennys Video“ noch einmal ins schier Unerträgliche. Wenn er die Gewalt, die zuvor dem Fremden, dem Unbekannten angetan wird, auf den

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Laudatio FÜR MICHAEL HANEKE

geliebten Menschen projiziert. „Liebe“ ist kein Plädoyer für mitfühlende Sterbehilfe, sondern der Akt eines in jeder Hinsicht überforderten Mannes, der versucht, der eigenen Hilflosigkeit zu entkommen. Stärker als in jedem anderen Film wird deshalb in „Liebe“ eine albtraumartige Irrealität raumgreifend. Auch in „Liebe“ folgen wir der Chronologie eines Verfalls – dem langen, quälenden Abschied einer todkranken Frau. Schmerzlich wird uns dabei bewusst, dass wir alle im paradoxen Drama des Drachentöters gefangen sind. Es gibt keine Versöhnung zwischen Leben und Tod, zwischen Licht und Schatten, Bewusstem und Unbewusstem. „Das dramatische Grundmotiv aller meiner Stücke ist der ewige Kampf zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein“, schreibt Ödön von Horváth in seiner „Gebrauchsanweisung“: Wie die Kräfte in diesem Kampf verteilt sind, wussten freilich schon die mittelalterlichen Künstler, die in ihren Ikonografien den Heiligen Georg als Reiter zeigten, dessen Körper vom Drachen vollständig umschlungen wird. Für den Kampf zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein findet Haneke im Wasser die adäquate Metapher. Wasser ist tatsächlich allgegenwärtig in seinen Filmen, ob in der Traumsequenz vom Meer, oder dem zerschlagenen Aquarium, das in „Der siebente Kontinent“ den Tod der Seele visualisiert. Wasser ist bei Michael Haneke aber nicht etwa Sinnbild für reinigende Kraft oder den Strom des Lebens. Es verkörpert vielmehr diese Wechselwirkung zwischen Oberfläche und Tiefe, die uns Menschen dauerhaft belastet und in beunruhigender Spannung hält. In „Caché“ hält der Schwimmtrainer nicht zufällig den Sohn von Georges zu mehr Tiefe an: „Plus de profondeur!“ ruft er ihm zu, während der Junge im Wasser seine Bahnen zieht. Die Wassertropfen, die in „Der siebente Kontinent“ an der Fensterscheibe eines Autos in der Waschstraße hinunterperlen, sind denn auch nichts anderes als Tränen. Die ungeweinten Tränen einer Familie, die dem Drachen nichts mehr entgegenzusetzen hat. Es sind auch die „gefrorenen Tränen“ aus Schuberts Winterreise. „Ob es mir denn entgangen, Daß ich geweinet hab‘ ?“, heißt es da. Schon die Auftaktverse des Gedichtreigens von Wilhelm Müller lassen sich auf das Oeuvre Hanekes übertragen: „Fremd bin ich eingezogen, Fremd zieh‘ ich wieder aus“. In „Liebe“ ist es ein Wasserhahn, der nicht aufhört zu laufen, just in dem Moment, da Anne beim Frühstück ihren ersten Schlaganfall erlebt. Und noch einmal wird Georges den Wasserhahn aufdrehen. Kurz nachdem er seine Frau mit Gewalt erstickt hat, um sie von ihrem Leid zu befreien. Mit dem Wasser befeuchtet er die weißen Blüten, die er um ihren Leichnam legen wird.

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Sandra Kegel

Das Wasser als todbringendes Moment - das aber zugleich, wie im Entwicklerbad, in dem herkömmlich Filme entwickelt wurden, Ansichten, Einsichten zutage bringt. Das Entwicklerbad gibt es in digitalen Zeiten nicht mehr. Doch die Wirkung der Filme von Michael Haneke ist dem chemischen Prozess ähnlich. Das unbelichtete Bild entfaltet, einmal in die Flüssigkeit getaucht, ungeahnte Effekte. Aus der Unschärfe kommend brennt es sich hochaufgelöst in der Seele ein. Bis heute habe ich den Film „Drei Wege zum See“ nicht gesehen. Und wenn mir jemand heute Abend den Film in die Hand drücken würde – ich wüsste nicht, ob ich ihn mir überhaupt noch anschauen würde. Im Kopf ist längst mein eigener HanekeFilm entstanden. Ich stelle mir vor, dass es der See, der der Wörthersee selbst gewesen sein muss, mit seinen ans Ufer drängenden Wellen, der für Haneke damals, vor vierzig Jahren, den Ausschlag gab, den Film zu machen. Das Wasser als unendliche Projektionsfläche für Phantasie. An einen realen Ort lässt sie sich nicht mehr binden.

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GRUND ODER ABGRUND

Philipp Blom

Lassen wir für einen Moment die Ängste Ängste sein und die Träume Träume. Stellen wir in aller Ruhe Folgendes fest. Ohne Wohlstand, ohne eine ausreichend große, ausreichend optimistische Mittelschicht, die auf eine Zukunft für ihre Kinder hoffen kann: keine Offenheit, keine universellen Menschenrechte, keine liberalen Demokratien. In meiner Nachbarschaft ist eine Autowerkstatt. Ich komme jeden Tag daran vorbei. Es ist ein kleiner Betrieb, sieben oder acht Menschen arbeiten dort, und wir grüßen einander im Vorübergehen. Dieser Gruß ist einer der wenigen Momente, in denen wir etwas miteinander zu tun haben. Ich besitze nicht einmal ein Auto. Die kennen wahrscheinlich keine anderen Historiker, ich keine Mechaniker. Wir leben in großer Nähe, aber haben doch ganz unterschiedliche Leben. Das ist normal, es stört die Nachbarschaft nicht, im Gegenteil: Es macht sie einfacher. Vor einigen Monaten hat eine junge Frau in der Werkstatt angefangen, die zweite „Lehrlingin“ übrigens. Die Neue aber unterschied sich leicht von ihren Kollegen. Ihre Haut hatte einen dunkleren Teint, ihre Haare waren schwarz, sie war sehr schüchtern. Ich gratulierte dem Meister zur neuen Rekrutin. „Ah, das ist nicht so einfach“, sagte er. – „Warum nicht?“ – „Sie ist schon aus einer Werkstatt rausgeflogen. Nicht, dass sie nicht gut gearbeitet hätte, aber dort fand man, sie ist keine von uns.“ – „Keine von uns?“ – „Ja sehen Sie, das ist es. Ihre Mutter ist Wienerin, sie ist gleich ums Eck aufgewachsen, aber ihr Vater kommt aus dem Ausland, aus Vietnam.“ Diese Unterhaltung ist mir in Erinnerung geblieben. Ein Wiener Mädchen, das wienerisch spricht und hier in der Schule war, bekommt nur schwer Arbeit, weil Kollegen finden, das Mädchen sei „keine von uns“. Aber wer ist es dann? Ein tschechischer oder deutscher Vater wäre vermutlich kein Problem. Ist Vietnam zu weit weg? Wer ist eine, einer von uns? Anhand dieser Frage kann man die gesamte europäische Geschichte erzählen, und es gibt vielleicht heute keine dringendere Frage als diese. Das klingt zuerst einmal sehr eurozentrisch. Alle Gemeinschaften und Kulturen definieren sich dadurch, wer dazugehört und wer nicht. Es ist ganz einfach eine anthropologische Konstante. Ohne „anderen“ keine Identität. Diese Frage hat im Besonderen die europäische Geschichte geprägt. Nach Jahrtausenden von Migration und Besiedlung hatte Europa eine besonders hohe Dichte an Kulturen, Sprachen, Religionen, Traditionen und Ethnien, die aufeinandertrafen, sich untereinander vermischten, neue Gemeinschaften schufen – und die entscheiden mussten, wie sie sich voneinander abgrenzten und wie sie miteinander umgingen.

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Philipp Blom

Politisch war das die Wahl zwischen Unterdrückung und Kooperation. Philosophisch und psychologisch war es die nagende Gewissheit, dass wir nicht die einzigen sind, dass es andere gibt, die Dinge anders machen, an andere Götter glauben und trotzdem ein moralisches Leben zu führen scheinen, dass es andere Wahrheiten geben kann als die eigenen. Das Leben mit Unterschiedlichkeit ist ein entscheidender Aspekt der europäischen Erfahrung, das Verschmelzen von Perspektiven und Gruppen. Das Geschichtsverständnis vieler Menschen ist noch immer einer vertikalen Idee von Geschichte verpflichtet. Europas Vergangenheit besteht aus Säulen, aus Völkern, die auf einem bestimmten Territorium eine bestimmte Kultur leben. Die Österreicher, die Deutschen, die Griechen, die Engländer. Natürlich wissen wir, dass Österreich eine sehr rezente Erfindung ist und viele Österreicher ungarische oder tschechische Wurzeln haben; natürlich haben wir gelernt, dass Deutschland erst seit 1871 besteht und die Bayern noch immer nicht gut dabei leben können; wir wissen um die Vertreibung von Protestanten aus Oberösterreich, von Katholiken aus England; wir wissen, dass die Engländer schon Jahrhunderte vor der postkolonialen Migration ins Mutterland des Empire eigentlich aus Dänen, Sachsen, Norwegern, Franzosen, Kelten, Juden und anderen Einsprengseln bestanden – aber trotz allem denken viele von uns immer noch an Länder und Völker als relativ stabil: eine Kontinuität aus grauer Vorzeit. Eine jüngere Generation von Historikern hat eine ganz andere europäische Geschichte entdeckt: ein horizontales Geflecht aus Wanderungen, Gegensätzen und Verwandtschaften, das sich unserem nationalen Geschichtsbild entzieht, ein sich dauernd verschiebendes Bild aus Migrationen, Vertreibungen, Neuansiedlungen, Wanderarbeit, Verstädterung – und Emigration, denn bis zum Ersten Weltkrieg (der das traditionelle Problem des Überschusses an jungen Männern beendete) war Europa der weltgrößte Exporteur von Menschen. Dieses Europa ist ein Kontinent im Fluss, ein Kontinent, auf dem Differenz immer neu ausgehandelt werden muss. Das Leben mit Unterschiedlichkeit: Entweder man erkennt im anderen einen Menschen, wie man selbst einer ist (und es hilft, wenn der andere das auch tut), oder man sieht in ihnen die Repräsentanten einer konkurrierenden Gruppe, die kontrolliert, unterdrückt, vertrieben oder ausgerottet werden muss. Immer aber stellt sich die Frage: Wer gehört zu uns? Je öfter und eindringlicher man sich diese Frage stellt, desto mehr Abgründe tun sich auf, denn um sie zu beantworten, müssen wir erst einmal sagen können, wer wir eigentlich sind und wer wir sein wollen, welche Kriterien unserem Sosein zugrunde liegen, was verhandelbar ist und was nicht. Es ist eine Frage, deren Antwort sich mit

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GRUND ODER ABGRUND

der Zeit stark geändert hat, und diese Antworten bilden den gesamten Horizont der europäischen Geschichte, von der aufgeklärten Toleranz bis zum Völkermord. Dabei ist aus einer europäischen Situation längst eine globale geworden, denn zuerst der Kolonialismus und dann die Globalisierung der Wirtschaft sowie das Internet haben die Erfahrung des Lebens mit Andersartigkeit in die ganze Welt getragen. Ich bin Historiker und kein Prophet, doch mit einem historischen Blick auf Strukturen anstatt auf Personen oder Ereignisse ist es relativ deutlich, welche Faktoren die nächsten Jahrzehnte bestimmen und damit auch unsere Gesellschaften transformieren werden. Sie alle kennen diese Faktoren. Ich will zwei davon herausgreifen: den Klimawandel und die Automatisierung. Durch die Abwanderung ganzer Bevölkerungen, durch Versteppung und Überschwemmung, durch Naturkatastrophen und Kriege um Rohstoffe und Territorium, durch unsicher werdende Bündnisse, gefährdete Handelswege und eine schwierigere Rohstoffversorgung wird auch das Leben des reichen Westens wesentlich berührt. Es wird auch neue und wesentlich größere Migrationsbewegungen in diese Länder geben, mit allen Spannungen. Die Automatisierung wird einen nicht weniger gravierenden Effekt auf unsere Gesellschaften haben. Eine Studie der Universität Oxford geht davon aus, dass innerhalb der nächsten drei Jahrzehnte unsere Arbeitsplätze fast zur Hälfte verschwinden werden, und es ist schwer, sich vorzustellen, wie die Roboter und Algorithmen, die bald einen großen Teil der Arbeit verrichten, auf lange Sicht zu neuen Jobs für Menschen führen sollten. Das wirft nicht nur Macht- und Verteilungsprobleme auf, da zwar die Jobs einbrechen, die Produktivität aber nicht sinkt, es stellt uns aber auch vor grundlegende soziale und philosophische Fragen. Wovon sollen die Menschen leben? Brauchen wir ein unbedingtes Grundeinkommen? Und woraus ziehen Menschen, die keinen Erwerbsberuf mehr haben, ihr Selbstwertgefühl, das jetzt so eng mit unseren Berufen verbunden ist? Was für eine Gesellschaft werden wir, und werden wir irgendwann zu lästigen Parasiten einer nicht mehr carbon-basierten, digitalen Zivilisation? Diese dystopischen, aber nicht unplausiblen Szenarien machen Angst und sind ein Grund, warum besonders in Europa die Zukunft hauptsächlich als Bedrohung gesehen wird. Deswegen wollen Europäer auch keine Zukunft mehr. Sie wollen nur, dass die immer noch privilegierte Gegenwart nicht aufhört. Nach der Party kommt der Kater, aber jetzt feiern wir noch.

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Philipp Blom

Die Frage „Wer gehört zu uns?“ stellt sich dabei am dringlichsten im Fall der Flüchtlinge, die nach Europa gekommen sind. Sie erinnern uns an eine brutalere Welt, an die Gefahren der Zukunft, die wir nicht wollen. Mit ihnen kommt die Frage nach der Möglichkeit einer Integration des Islam in ursprünglich christliche Gesellschaften. Abgesehen von Debatten über Kopftücher und Burkinis, geht es dabei auch um eine grundsätzliche Frage. Nehmen wir die universellen Menschenrechte dieser Menschen ernst oder bitten wir sie höflich, ihre Rechte bei sich zu Hause auszuüben? Und wo sind die Grenzen dieser Offenheit, wann löst eine Gesellschaft sich in Communities auf? Wie viel Zusammenhalt, wie viele gemeinsame Ziele braucht eine Gesellschaft, um eine Gesellschaft zu sein? Wer gehört zu uns? Soll die reiche Welt angesichts einer unsicheren und höchstwahrscheinlich weniger wohlhabenden, weniger friedlichen Zukunft entschiedener für Offenheit und Menschenrechte eintreten und damit den sozialen Frieden und die Kohärenz ihrer eigenen Gesellschaften aufs Spiel setzen, oder soll sie sich in eine alternde Festung Europa zurückziehen und die Ideale aufgeben, auf denen unsere Demokratien begründet sind? Es gibt keine klare Antwort darauf, keine gute Lösung. Wir stehen vor einem unlösbaren Dilemma. Seit dem Mauerfall 1989 werden diese Fragen nicht mehr von politischen Ideologien beantwortet, sondern von größeren und vageren Narrativen, die weltweit bemerkenswerte Ähnlichkeiten aufweisen. Es ist eine Wahl zwischen zwei Träumen, die begonnen haben, unsere Gesellschaftsentwürfe zu bestimmen. Einen von ihnen will ich „liberal“ nennen, den anderen „autoritär“. Der liberale Traum hat seine Wurzeln in der Aufklärung. Er konstruiert Menschen als Individuen mit Rechten und Freiheiten, er sucht Offenheit, Chancen, Vernunft, Gleichheit, Transparenz. Er hat uns die Emanzipation von Frauen und das Ende der Sklaverei gebracht, und er bringt uns einer wirklichen Konzeption von Gleichheit immer näher. All denen, die jetzt die ersten Takte von „Freude, schöner Götterfunken“ zu hören meinen, sei gesagt, dass dieser Traum auch zum Albtraum werden kann und für Millionen von Menschen geworden ist. Der Neoliberalismus führt eine rein ökonomische Version von Freiheit, Individualität und Vernunft zu seiner logischen Konsequenz: Jeder ist freier Akteur im Markt, jeder ist im Wettbewerb mit jedem anderen. So werden aus Bürgern Konsumenten, aus Entscheidungen wird Consumer Choice, Rationalität wird Rationalisierung, ganze Gesellschaften werden, wie schon Karl Polanyi warnte, zum bloßen Annex des Marktes oder selbst zum Markt. Identität formuliert sich durch Konsum, Selbstausbeutung

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GRUND ODER ABGRUND

wird zum höchsten Ziel, unser Begriff von Transzendenz (der Ort, wo früher einmal Gott war) räkelt sich unverschämt reich und jung auf unseren Plakatwänden und Bildschirmen. Auch ohne zur Parodie zu verkommen, hat der liberale Traum eine zentrale Schwäche. Er schafft eine Dynamik, die wir etwas unscharf „die Moderne“ nennen. Er drängt nach Veränderung, und seine Freiheit lädt nicht nur dazu ein, sondern zwingt Menschen auch, sich dauernd neu zu erfinden und zu konstruieren. Er ist nicht gut darin, eine stabile Identität zu schaffen und Stolz in die Gesellschaft zu inspirieren. Mit der dauernden Beschleunigung der technologischen Entwicklung erhöht sich das Tempo der Transformation und droht, Menschen desorientiert und enttäuscht zurückzulassen. Diese Enttäuschten und die, die sich oft sehr berechtigt vor sozialem Abstieg fürchten, träumen einen ganz anderen Traum. Die Antwort auf die zermalmende Macht der Moderne liegt für sie im Rückzug in eine ideale Vergangenheit, bevor die Migranten da waren, bevor die Jobs verschwanden, als noch Ordnung herrschte. Dieser autoritäre Traum denkt nicht in Individuen, sondern in Kollektiven und Gemeinschaften. Er spricht nicht von Offenheit und Gleichheit, sondern von Identität und Authentizität. Er richtet sich gegen „die Eliten“ (die Gewinner der Moderne). Er glaubt an die Ungleichheit der Geschlechter und die Natürlichkeit einer „traditionellen“ Sexualität, an unüberbrückbare Differenzen zwischen Kulturen, Ethnien und Religionen, an nationale oder religiöse Größe. Er sucht, in Zygmunt Baumans wunderbarer Wortschöpfung, die „Retrotopie“, die rückwärtsgewandte Utopie. Seine Antwort auf die Globalisierung ist der Mauerbau. Die Aufklärung hält er für einen historischen Fehler, die liberalen Demokratien des Westens für moralisch verkommen, unmännlich und dekadent. Dies ist der rote Faden, der Donald Trump mit Recep Tayyip Erdoğan verbindet – und mit Wladimir Putin, den Terroristen des Islamischen Staats und den HinduNationalisten in Indien, mit ultraorthodoxen jüdischen Siedlern in den besetzten Gebieten und mit nationalpopulistischen Politikern in ganz Europa, die sich in Erwartung großer Wahlerfolge schon jetzt die Hände reiben. Sie alle verbindet mehr, als sie trennt, sie alle suchen einfache Antworten auf heillos komplexe Probleme, ewige Wahrheiten statt endloser Kompromisse, eine Politik der harten Hand, den Rückzug in die Nation, ins Kalifat. Es ist nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, dass so das Gesicht der europäischen Zukunft aussieht, wenn liberale Demokratien und neoliberale Gesellschaften die

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Philipp Blom

Hoffnungen zu vieler Menschen hinter sich lassen. Der Siegeszug des autoritären Traums ist mit der Frage nach Zugehörigkeit verbunden. In Gesellschaften, in denen die soziale Ungleichheit immer weiter steigt, sind Migranten Unglücksboten einer Zukunft, die Angst macht, sie erinnern an ein Land, das nicht mehr vorhanden ist. Was für eine Ironie, dass wir die homogenen Gesellschaften in Europa den Massenmorden der beiden Weltkriege verdanken! Millionen von Menschen wurden vertrieben, umgesiedelt oder ermordet. Diese Kampagne von Völkermord und ethnischer Säuberung machte die europäischen Nachkriegsgesellschaften weniger divers und einheitlicher, als sie es jemals zuvor waren. Heute halten viele Europäer diese Art von Gesellschaft für die historische Norm, obwohl sie es nie gewesen ist. Die Gesellschaften der Nachkriegszeit waren Ausnahmen. Und noch etwas stellt eine historische Ausnahme dar: dass sie liberale Demokratien sind. Liberale Demokratien, die universelle Menschenrechte anerkennen, sind keine notwendige Gesellschaftsform, auch nicht für kapitalistische, technologisch hoch entwickelte Gesellschaften. Sie sind ein historisches Experiment, und sie können nur unter bestimmten Bedingungen bestehen. Laut dem Politologen Yascha Mounk ist eine dieser Bedingungen steigender Wohlstand, die andere ist eine ausreichend große, ausreichend optimistische Mittelschicht, die sich mit demokratischen Werten identifiziert und die auf eine bessere Zukunft für sich und ihre Kinder hoffen kann. Vielleicht wird die Automatisierung tatsächlich in reichen Ländern mehr Wachstum schaffen, aber die steigende Produktivität der vergangenen 20 Jahre ist fast ausschließlich den sehr Reichen zugute gekommen, während menschliche Arbeit zunehmend verdrängt wird. Seit Jahrzehnten stagnieren trotz der steigenden Produktivität in der Mitte der Gesellschaft auch die Löhne, nicht jedoch die Preise. Die Mittelschicht verarmt oder fürchtet sich davor und sieht in der Zukunft keine Hoffnung mehr. Das, was einmal die Arbeiterklasse war, hat sich in ein Prekariat verwandelt. Gering ausgebildete Menschen leben heute mit extremer Unsicherheit, identifizieren sich kaum mit ihrer Tätigkeit und den Gewinnern der Globalisierung, arbeiten häufig sehr hart und sind trotzdem nicht mehr in der Lage, ihr Leben zu finanzieren (besonders in den USA). Sie sitzen in einer Falle, und sie wissen es. In dieser Konstellation ist es schwer zu sehen, wie das Experiment „liberale Demokratie“ weitergehen kann. Natürlich, es gibt eine Zivilgesellschaft, es gibt starke demokratische Institutionen, aber gleichzeitig lernen Historiker, dass Veränderungen oft dann kommen, wenn sie niemand erwartet. So fing der Erste Weltkrieg an, plötzlich, in einer Kaskade von Selbstüberschätzung und Inkompetenz. So begann

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GRUND ODER ABGRUND

auch die Finanzkrise von 2008. Nur unser relativer Wohlstand trennt uns vom Ausbrechen politischer Gewalt. Noch ein 2008 – und ganz Europa ist eine riesige Weimarer Republik. Demokratie und Menschenrechte sind genauso fiktional wie jede Religion. Es sind Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen. Wenn wir als Gesellschaften anfangen, uns andere Geschichten zu erzählen, verschwinden diese Ideen aus unserem Alltag – viel schneller, als sie entstanden sind. Erdrutschartige Veränderungen, die niemand für möglich hielt, können sehr rasch Fakten schaffen, und ihre Konsequenzen sind nicht überschaubar – siehe Brexit. Es gibt keine unabänderliche Entwicklung von der Nomadengruppe zur Monarchie und sodann zu liberalen, kapitalistischen Demokratien in einem globalen Markt. Die historischen Zentrifugalkräfte, die an unseren Gesellschaften zerren, könnten den Anfang vom Ende einer bestimmten Gesellschaftsform, einer geteilten sozialen und aufgeklärten Hoffnung bedeuten, das Sterben des liberalen Traums. Während der gesamten europäischen Geschichte war die einzige Alternative zur frustrierenden Praxis von Toleranz und Integration der Religionskrieg: wir gegen sie, Wahrheit gegen Lüge, Gläubige gegen Ungläubige. Ein solcher Religionskrieg ist – intensiviert durch postkoloniale Probleme – längst ausgebrochen und trägt sein Morden mitten in unsere Städte. Gleichzeitig sehen wir die ersten Vorboten der enormen sozialen, klimatischen, technologischen und kulturellen Veränderungen, die unser Leben transformieren werden. Vielleicht ist das auch das Ende der liberalen Demokratien, vielleicht erwartet uns ein Leben in einem Orwell´schen digitalen Überwachungsstaat, in dem sich die Reichen völlig abschotten und das, was noch immer wie eine Demokratie aussehen mag, hinter den Kulissen lenken. Vielleicht aber wählen die Bürger oder Konsumenten auch einfach ihren Diktator, ihren Aufsichtsrat, ganz korrekt und ohne Verletzung des Wahlverfahrens, einfach nur, weil ihnen ein starker Mann gefällt, solange er ihre Eiskästen füllt und ihnen ein Gefühl von Stolz vermittelt. Jede Demokratie kann sich ganz demokratisch abschaffen, wenn sie nicht die Energie oder den Willen hat, sich zu verteidigen. Die Frage „Wer gehört zu uns?“ kann nur beantwortet werden, wenn wir uns darüber einig sind, wer wir sind, was uns ausmacht, wohin wir gemeinsam wollen. Davon scheinen wir weiter entfernt als seit den 1930er-Jahren. Was dabei auf dem Spiel steht, ist sehr einfach: Alles steht auf dem Spiel.

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Harry Gatterer

Mind the Future: Das digitale Jetzt

Harry Gatterer

Was ist das „Wesen“ der Digitalisierung? Sie bedeutet eine Zukunftsausrichtung – die fundamental im Hier und Jetzt verankert ist. Alles andere ist Illusion. Für Unternehmen wird das Netzwerk-Mindset zum Maß der digitalen Dinge. Der „Kern“, der Ausgangspunkt aller Digitalisierung, sind die Zahlen 0 und 1. Durch die Entscheidung der Aneinanderreihung – der Rechenleistung, des „Computing“ – und die damit entstehende Abfolge wird Information produziert. In diesem Sinne bedeutet Digitalisierung die Abfolge „0/1-Entscheidung“. Sie entsteht – und ist entzifferbar – durch einen Code, der die Instanz der Digitalisierungswirkung ist. Die ungeheure Vielzahl der Möglichkeiten, aus denen via Code eine konkrete Entscheidung getroffen werden kann, lässt sich als Komplexität bezeichnen: Gerade der zunehmende Einsatz von digitalen Entscheidungsrechnungen (Codes) im Alltag erzeugt Komplexität – sei es beim Einchecken in Flugzeuge, beim Bezahlen an Supermarktkassen, beim Einhalten des Sicherheitsabstands auf Autobahnen etc. Im Grunde wäre es einfacher aufzuzählen, was noch nicht digitalisiert ist. Die wachsende Menge an Daten, Codes und möglichen Informationen erhöht die Komplexität. Und diese Komplexität ist es, die uns heute Schwierigkeiten bereitet. Gerade die schier unendliche Optionenvielfalt macht nämlich auch klar, dass unsere traditionellen Methoden, mit Komplexität umzugehen, nicht mehr weiterhelfen. Klassische Hierarchien in Unternehmen etwa sind nicht mehr adäquat: Sie können die Komplexität ihrer Umgebung nicht mehr abbilden und liefern in ihren Entscheidungsprozessen fast immer schlechte Antworten. Diese Komplexität ist das „Wesen“ der Digitalisierung.

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Mind the Future: Das digitale Jetzt

Mit zunehmender Vernetzung wird sich sowohl die Anzahl der 0/1-Entscheidungen als auch die Komplexität deutlich erhöhen. Jede Entwicklung hat einen logischen Peak, doch dieser Peak ist in Sachen Digitalisierung noch lange nicht erreicht. Für die kommenden Jahre gilt nüchtern: mehr Codes, mehr Komplexität. Codes werden eine immer größere Rolle spielen und sich mehr Raum nehmen. UNBERECHENBARE SYSTEME

Komplexität von Systemen bedeutet: Jederzeit kann ein völlig zufälliges, unvorhersehbares Verhalten des Systems (etwa innerhalb eines Unternehmens) entstehen, ohne, dass eine Außeneinwirkung der notwendige Anstoß dafür wäre. Pop-up als Dauerzustand. Eine klare Vorhersage zum Verhalten von Systemen ist daher nur begrenzt bis gar nicht möglich. Digitale Prozesse entfesseln nun eine weitere Dimension der Unberechenbarkeit: Die Grenzen des Systems „Unternehmen“ brechen auf, die Wirkungsweisen können nicht mehr nachvollzogen werden, weder mit PowerPoint-Charts noch in Balkendiagrammen. Dies trifft Unternehmen sehr hart, weil „Vorhersage“ und „Planbarkeit“ zentrale Elemente betriebswirtschaftlicher Sorgfalt sind. Die Folge: Moderne Unternehmen bauen immer stärker auf Planung und Kontrolle – bewirken damit aber nur noch leere „Pseudo-Planung“ und „Unkontrollierbarkeit“, insbesondere auf Detail-Ebene. Jedes komplexe System entwickelt aber auch seine eigenen Beständigkeiten, seine Muster und auch seine Planbarkeit – einer höheren Ebene. Um also Wirkungsmechanismen zu verstehen und sich in der digitalen Welt zurechtzufinden, benötigt man ein Bewusstsein für diese Meta-Strukturen. Es ist der Blick für rohe Zusammenhänge statt auf präzise Details, ein Bewusstsein für Wirkungen über die bereits gedachten Grenzen hinaus anstelle eines Denkens in klar konturierten Funktionssystemen. Die Zukunft spielt hierbei eine immense Rolle, denn die Evolution lehrt uns, dass Wandel das Wesen jeder Organisation ist. Zukunft ist dabei die logische Richtung. Zukunft lässt sich als eine Richtung der Zeit beschreiben, in der sich die Entropie erhöht. Entropie ist, folgen wir den Gesetzen der Thermodynamik, der Anteil der Energie (in einem System), der nicht für zusätzliche Aufgaben verwendet werden kann. Dabei ist klar: Wenn sich die Entropie erhöht, gibt es einen Scheitelpunkt, an dem ein System keine zusätzliche Energie mehr zur Verfügung hat. An diesem Punkt wird ein „Außenimpuls“ benötigt, der dabei hilft, die Entropie zu verringern. Für Unternehmen bedeutet das: Wenn die Strukturen und Prozesse in einem Unternehmen so viel

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Aufwand mit sich bringen, dass für die eigentliche Aufgabe des Unternehmens keine Energie mehr übrig bleibt, steht das Unternehmen vor einem Kollaps (einer Krise, einer Auflösung). Dieser Zustand stellt in vielen Großkonzernen gelebte Realität dar. Diese Erkenntnis der Thermodynamik gilt natürlich nur für geschlossene Systeme. Aber: Auch wenn Unternehmen nie komplett geschlossene Systeme sind, werden sie in den meisten Fällen doch als solche behandelt. Man erkennt dies an gängigen Redewendungen wie „die Welt da draußen“ oder „unsere Kunden da draußen“. Durch die Digitalisierung verschlimmert sich diese Entwicklung, weil die Überforderung im Umgang mit den zahlreichen Bedingtheiten zu einer Rückzugshandlung verleitet. Menschen in Unternehmen halten am Gewohnten fest, um sich dem Unbehagen des „Neuen“ nicht auszusetzen. Durch die mit der Digitalisierung verbundenen Vernetzungsprozesse wirkt das System Gesellschaft wie eine Einheit. Zugleich erhöht die Komplexität die Entropie des Gesamtsystems. Der paradoxe Effekt: Je mehr wir über die herrlichen Möglichkeiten der Digitalisierung sprechen, umso kleiner wird ihr Wirkungsraum in Richtung Zukunft, weil immer weniger „zusätzliche“ Energie zur Verfügung steht. So gesehen führt Digitalisierung nicht zu mehr Freiheit, Beweglichkeit und Vitalität oder gar zu einer Vermehrung der zur Verfügung stehenden Energie. Sondern: Wir binden uns, indem wir digitaler werden. Wir erhöhen die Entropie und stoßen unweigerlich an Grenzen. Vom Code zum Mindset

Das Modell der „Great Surges of Development“ von Carlota Pérez zeigt: In der Evolution von technologischen Entwicklungen werden Entropie und überzogene Erwartungen normalerweise durch Eingriffe „von außen“ verringert, durch Erlasse der Gesetzgebung. Ein gekonntes regulatives Einwirken setzt Kräfte frei und ebnet den Weg zum „Golden Age“, in dem Technologie so eingesetzt werden kann, dass sie dem großen Ganzen gewinnbringend dient und hilft. Entscheidend ist dabei allerdings, wie wir über „das Ganze“ denken. In der Gegenwart, die wir erleben, müssen wir den jeweiligen Umgang mit dieser Entwicklung finden. Und dies beginnt bei unseren Denkmustern, den Mindsets. Denn unseren Gedanken liegen Muster zugrunde, die wir kaum hinterfragen. Es sind Meta-Gedanken, Meme, in Gefühle übersetzte Erfahrungen. Kollektive Erinnerungen einer Gesellschaft, die eine geistige Architektur erzeugen, derer wir uns nicht mehr gewahr sind. So dienen zum Beispiel seit der Nutzung von Elektrizität und den damit verbundenen Erfindungen das Kabel und der Stromstoß als leitende Metaphern für das Nervensystem

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Mind the Future: Das digitale Jetzt

des Menschen. Mit dem Aufkommen des Computers hat sich aus dieser Idee das Bild entwickelt, das menschliche Hirn sei ein Computer. Wenn wir uns selbst als eine Art biologischen Computer verstehen und in unserem Alltag von Computern umgeben sind, haben wir Angst: Werden uns die Computer künftig besiegen? Solche Bilder und Denkmuster gilt es zu hinterfragen und zu ändern, um nicht weiter in Angst zu leben vor einer Technologie, die wir selbst erzeugt haben. Unsere Mindsets sind also zentral, wenn wir über Digitalisierung sprechen wollen. Sind wir in der Lage, unsere Gedankenmuster zu sehen und zu erkennen? Oder glauben wir, dass Big Data die Lösung für alles ist? Können wir lernen, dass wir in Zukunft mit unscharfen Bildern operieren müssen, weil die vermeintlich überall abrufbaren Informationen keine Eindeutigkeiten mehr hervorbringen? Können wir erkennen, dass durch die Nutzung von 0/1-Entscheidungen die Grenzen zwischen dem, was wir als „real“ ansehen, und dem „Digitalen“ längst überschritten sind? All diese Fragen führen zu einer weiteren Frage: Was sind überhaupt Mindsets? Wie bilden sie sich, und wie sind sie steuerbar? Mind-Work: Die Aufforderung der digitalen Welt

„Mindset“ kann übersetzt werden mit „Deutung“ oder gar „Bedeutung“. Es geht darum, wie weit ein System (eine Gesellschaft, ein Unternehmen) in der Lage ist, mit hoher Komplexität umzugehen und Entropie zu verringern. Die schnelle Vermutung, Mindsets ließen sich mit „Slogans“, „Kampagnen“ oder „Movements“ erzeugen, kommt aus der nichtdigitalisierten Welt. Die Slogan-Welt ist trivial und folglich obsolet, sobald die Digitalisierung ihre volle Entfaltung als Netzwerk der Netzwerke erreicht. Denn Slogans werden lediglich im System verbreitet, getwittert oder plakatiert. Das generelle Mindset bleibt davon unberührt. Bedeutung wird dadurch nicht erzeugt. Wie aber entsteht Bedeutung? Diese Frage ist dezentral, ja sogar lokal zu beantworten. Es geht nämlich darum, wie aus Information Bedeutung wird – und vor allem: für wen. Die Verortung an Personen(gruppen) ist lokal organisiert. In komplexen Systemen ist die Decodierung von Information sehr individuell, ohne dass es dem Individuum gelingt, immer das „große Ganze“ zu sehen. Bezogen auf Unternehmen bedeutet das nicht weniger als das Ende der Unternehmen, wie wir sie kennen. Unternehmen der Zukunft sind folglich eine Art „Code“: eine „Vorgehensweise“, um Informationen in Bedeutung zu übersetzen, in räumlichen und temporären Samplings und damit immer fraktal und nicht allumfassend. Der Umgang mit Digitalisierung verlässt die Vorgaben der Hierarchie, entert Raum und Zeit und manifestiert sich in den Interpretationskompetenzen von Individuen – in einem System, in der Gegenwart.

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Harry Gatterer

Man könnte also behaupten: Unternehmen, die sich erfolgreich in der digitalisierten Welt bewegen wollen, müssen sich auf die Interpretationsfähigkeit ihrer Einzelkomponenten konzentrieren. Deshalb erfordert Digitalisierung ein neues primäres Mindset in Bezug auf die Organisation: Bedeutung kann nur mehr innerhalb der Grenzen von Raum und Zeit entstehen. Sie ist nicht mehr generalistisch, sondern situativ.

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Werte, die uns schützen

Sarah Spiekermann

Es gibt tausend offene Fragen zur Technik im Alltag. Kluge Köpfe an den Universitäten arbeiten an Regeln für unseren Umgang mit der Zukunft – eine Charta für Big Data. Freiheit – der Mensch sollte das letzte Wort haben!

Brauchen wir selbstfahrende Autos, automatisierte Häuser und Roboterspielzeuge? Eigentlich sollte der Mensch das letzte Wort haben. Doch wir schenken Mitmenschen weniger Vertrauen als Maschinen. Egal, ob es darum geht, sich im Auto anzuschnallen oder Bankkredite zu vergeben. Und was ist mit den unsichtbaren Schranken, die unsere Handlungsfreiheit einschränken, weil Systeme über Menschen urteilen, Algorithmen Entscheidungen treffen? Bewerber dürfen sich nicht mehr persönlich vorstellen, weil ein Computerprogramm ihre mangelnde Qualifikation errechnet hat. Kunden erreichen im Callcenter keinen Servicemitarbeiter mehr, weil ihr Wert für das Unternehmen zu gering ist. Hier kann von neutraler Technik keine Rede sein. Das Werturteil ist schon in der Entscheidung enthalten, welche Informationen herangezogen werden. Doch es geht auch um unsere Gedankenfreiheit. Kommunikationstechnologien sollten so programmiert sein, dass sie Sucht und Abhängigkeiten vorbeugen, dass sie uns Entscheidungsspielräume geben. Unsere Aufmerksamkeit darf nicht einfach absorbiert werden. Wir müssen uns darauf verständigen, dass Freiheit heißt, dass wir die Technik kontrollieren können, die uns umgibt. Dass diese nicht paternalistisch mit uns umgeht, uns nicht abhängig macht und unsere Aufmerksamkeit schont. Wahrheit – wir haben ein Recht zu wissen, was wirklich passiert!

IT-Transparenz würde bedeuten, dass Unternehmen, aber auch Kunden, Zugang zu ehrlicher und verständlicher Information haben. Wie arbeiten die eingesetzten IT-Systeme? Wie richten sie? Die Schufa etwa sollte öffentlich bekanntgeben, wie der Kreditscore ermittelt wurde und welche Algorithmen hier was mit welchen Daten gerechnet haben. Wir gehen davon aus, dass Computer richtig rechnen. Aber derzeit haben 1.000 Zeilen Computercode statistisch etwa zwei bis drei Fehler, die zu falschen Schlussfolgerungen des IT-Systems führen können und möglicherweise zu fatalen Konsequenzen für Betroffene. Schließlich gehört zur Wahrheit eine Art Objektivität. Überlassen wir das Finden von Wahrheit Algorithmen, so zeigt uns etwa Facebook nur solche News, von denen der Algorithmus glaubt, dass sie uns zusagen. Es entstehen „Filter Bubbles“, Blasen ausschnitthafter Wirklichkeit. Die Folge ist ein narzisstisches Auseinanderdriften der

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Sarah Spiekermann

Gesellschaft, die sich nicht mehr auf die Wahrheit einigen kann. Wahrheit in Bezug auf Computersysteme heißt, dass diese richtig, transparent und objektiv operieren müssen und, wo sie dies nicht tun, die eigenen Grenzen klar kommunizieren. Gesundheit – Computer dürfen uns nicht krank machen!

Ja, es gibt positive Auswirkungen von IT auf unsere Gesundheit: Neue Apps motivieren uns, mehr zu laufen, durch Neurofeedbacksysteme können wir sogar das Meditieren erlernen. Auch entstehen Computerprogramme wie der IBM Watson, die versprechen, ärztliche Diagnosen zu unterstützen oder gar zu ersetzen. Aber: Wir wissen, dass zu viel Computerarbeit und Onlinespiele sich negativ auf unsere körperliche Gesundheit auswirken, etwa zu Fettleibigkeit oder Rückenleiden führen. Auch der mentale Zustand wird durch IT gefährdet. Viele Menschen sind in Behandlung wegen Computersucht. Jugendliche, die nicht mehr aufhören können zu spielen. Berufstätige, die aggressiv reagieren, wenn man sie beim Abendessen davon abhalten will, Mails zu checken. Wir müssen uns darauf verständigen, dass IT-Systeme unsere physische und mentale Gesundheit weder direkt noch indirekt negativ beeinträchtigen dürfen, sondern diese stärken müssen. Liebe – Technik kann Nähe nicht ersetzen!

Liebe hat aus philosophischer Sicht drei Formen. Erstens, die Nächstenliebe: Die Arbeit von Krankenschwestern, Ärzten, Nannys gehört dazu. Zutiefst menschliche Aufgaben, die positive zwischenmenschliche Gefühle auf beiden Seiten erzeugen und so die Gesellschaft zusammenhalten. Der erwogene Einsatz von Robotern in diesen Bereichen erscheint daher höchst fragwürdig. Nicht wenige massiv geförderte Forschungsprojekte zielen darauf ab, Menschen von Robotern betreuen zu lassen, die sie „pflegen“ sollen. Zweitens, die Freundschaft. IT-Systeme ermöglichen ein Kennenlernen und Austausch über Distanzen und Kulturen hinweg, sie sind in diesem Sinne ein Friedensprojekt. Zufriedenheit mit der Freundschaft entsteht jedoch nachweislich auch durch körperliche Nähe und ehrliches Feedback. Dies erfordert „echte“ gemeinsame Erfahrungen. Wenn Freundschaften in virtuelle Welten verschoben werden, verhindert Technologie das vollständige Empfinden des anderen. Freundschaften werden kurzlebig und austauschbar, weil gemeinsame Zeit in der realen Welt nie stattgefunden hat. Onlinesysteme sollten daher ein reales Zusammentreffen von Menschen anregen. Und drittens, die erotische Liebe. Über Onlineplattformen können wir beliebig viele potenzielle Partner suchen und optisch konsumieren; wie Süßigkeiten im Bonbonladen. Eine sexuelle Revolution findet statt. Für viele, die Angst haben, keinen Partner zu finden, wirkt das befreiend. Aber ein Überangebot führt zu Übersättigung.

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Werte, die uns schützen

Wenn wir unsere Menschlichkeit im Onlineregal zur Schau stellen, hat das Konsequenzen für Beziehungen. Leider wissen wir kaum etwas über die Folgen des neuen Paarungsverhaltens. Hier ist die Forschung gefordert. Der Erhalt von Liebe bedeutet, dass Technik Menschen nicht dort ersetzen darf, wo Menschlichkeit gefragt ist. Sie sollte uns davon abhalten, uns selbst und andere als Ware zu behandeln. Privatsphäre – wir haben das Recht, unbeobachtet zu sein!

Wir müssen uns der Technologie entziehen können. Die Vision der Informatik ist jedoch eine andere: Seit Jahren wird an unsichtbaren, allgegenwärtigen Computern, Sensoren und Chips gearbeitet, die in unsere Häuser, Infrastrukturen und persönlichen Dinge eingebaut werden. Das ist der Verlust jeglicher Rückzugsmöglichkeit. Wenn es keinen Platz mehr gibt, an dem keine Daten über uns gesammelt werden, haben wir unsere Privatsphäre verloren und leben in einem selbst gebauten Panoptikum. Wir brauchen einen besseren Datenschutz, die direkte Kontrolle über das Sammeln, Analysieren und Nutzen von Daten. Eine informierte Zustimmung zur Datensammlung und Verarbeitung, regelmäßige Datenschutzaudits mit Veröffentlichung der Ergebnisse. Unternehmen, die ihre Datenverarbeitung nicht im Griff haben oder im ethischen Sinne gegen uns verwenden, müssen sanktioniert werden. Langfristig ist auch zu fragen, was überhaupt mit der Vision vom unsichtbaren und allgegenwärtigen Datensammeln bezweckt wird? Der Wert unserer Privatsphäre bedingt, dass wir ein Recht auf ein unüberwachtes Sein haben, ebenso wie auf informationelle Selbstbestimmung, die keinem ökonomischen Zwang unterliegen darf. Würde – Maschinen müssen Respekt vor uns haben!

Respekt zwischen Menschen bedeutet, dass man dem Gegenüber eine Wahl lässt und es nicht als selbstverständlich sieht, dass dieser sich so verhält, wie man es selbst will. Das muss auch zwischen Mensch und Technik gelten. Wir können Würde im engeren Sinne so interpretieren, dass IT-Systeme und ihre Betreiber mehr Respekt vor ihren Nutzern und Kunden an den Tag legen sollten. Warum müssen wir von Autos und Zugangsschranken durch laute Signaltöne angemacht werden, statt dass man uns höflich informiert? Zugangsblockaden, Lichtsignale, akustische Warnungen vereinen sich zu einem ständig präsenten Zwang in ein normiertes Verhalten. Letztlich drückt sich in dieser Nutzung von Technik als Verhaltenskontrolle ein fundamentaler Disrespekt gegenüber uns Bürgern aus. Im weiteren Sinne ist die Würde des Menschen fundamental betroffen, wenn uns durch Überwachung die Freiheit genommen wird, wenn wir in unseren Berufen entmündigt und wegrationalisiert werden, wenn wir von Algorithmen klassifiziert und aussortiert werden, wenn uns nicht mehr geglaubt wird, unsere Körper leiden und wir unsere Liebe in Online-Schaubuden-Format anbieten müssen, um nicht allein zu sein. Die Würde des Menschen wird durch IT-Systeme

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bedroht, wenn die bereits beschriebenen Werte nicht bewahrt werden. Unsere Würde anzuerkennen heißt, dass langfristig unsere menschlichen und gesellschaftlichen Werte im Bau und Betrieb von IT systematisch bedacht und respektiert werden. Wenn Unternehmen heute den Begriff „Wert“ verwenden, so ist damit fast immer der finanzielle Wert gemeint. Fragen nach den fundamentalen Werten unseres Menschseins werden kaum gestellt. Computerethik wird von der Informatik als Stiefkind behandelt, von einer Disziplin, die sich gerne als „neutral“ beschreibt. Technik jedoch ist nicht neutral. Nur wenn Unternehmen und Entwickler ihre Haltung, Investitions- und Innovationprozesse ändern, kann eine Welt geschaffen werden, in der Maschinen Menschen dienen und nicht umgekehrt. Dafür brauchen wir eine gemeinsame Verständigung – mit dieser Charta ist ein Anfang gemacht.

Erstmals erschienen in DIE ZEIT, Nr. 44/2015, 29. Oktober 2015

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The nature of the self in the digital age

aRAL BALKAN

THE NATURE OF MODERN TECHNOLOGY

Your smart television, the watch on your wrist, your kid’s new Barbie doll and the car that you drive (drives you?) all have one thing in common: they all work by gathering data – personal information – about you, your friends, and your family. While this might sound creepy in and of itself, it is not the real problem. Modern technology works by collecting swathes of (often personal) data. This is simply a fact of life. We’re not going to change that. The important question is this: who owns and controls the data about you and the mechanisms by which it is collected, analysed, and transformed into useful services? If the answer to this question is “I do” then we don’t have a problem. In such a world, technology would work to empower individuals with greater information about themselves and the world around them and translate that information into useful superpowers. Sadly, we do not live in that world. Today, the answer to the question is that multinational corporations like Google and Facebook own and control both your personal data and the means of collecting, analysing, and deriving value from it.

Today, corporations – not individuals – own and control our data and technology. We live in a corporatocracy, not a democracy.

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This is a socio-techno-economical state that Shoshana Zuboff of the Harvard

Business School calls Surveillance Capitalism1. To understand why Surveillance Capitalism is so problematic, we must first understand two fundamental concepts: the nature of the self and the nature of data in the digital age. The nature of the self in the digital age

According to Steve Krug, author of Don’t Make Me Think2, any well-designed technology should play the role of a butler when interacting with a human being. Say I want to remember something for later and I have my smart phone with me. The conversation between us could go something like this:

Me: Butler, remember this for later. My phone: Sure, sir, I’ve noted it down in the Notes app for you. Me: Thank you.

In fact, with technologies like Siri, you can have this exact same conversation today. This is the mainstream way of viewing our relationship to technology: as the conversation between two actors. In this case, me and my phone. If this is how we see technology, surveillance is signals capture between two actors. This is no different to what the Stasi did when they bugged your home and listened in on your conversations. It’s not nice but it is what surveillance traditionally has been. But what if this is not the nature of our relationship with technology?

Is your phone a butler, or is it much more than that? 1 Zuboff, Shoshana, “The Secrets of Surveillance Capitalism” in: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/the-digital-debate/shoshana-zuboff-secrets-of-surveillance-capitalism-14103616.html (Stand: 19.10.2016) 2 Krug, Steve, “Don’t Make Me Think, Revisited” in: http://www.sensible.com/dmmt.html (Stand: 19.10.2016)

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The nature of the self in the digital age

What if, when I write down a thought on my phone to remember it later, what I am actually doing is extending my mind, and thereby extending my self using the phone? Today, we are all cyborgs. This is not to say that we implant ourselves with technology but that we extend our biological capabilities using technology. We are sharded beings; with parts of our selves spread across and augmented by our everyday things. Perhaps it is time to extend the boundaries of the self to include the technologies by which we extend our selves.

Extending the boundaries of the self. If this is how we begin to see our everyday things – not as separate actors but as extensions of our selves – then several things become very clear: Firstly, surveillance no longer becomes signal capture but a violation of the self. Consider the current Apple vs FBI case where the FBI wants to set a precedent so that they can access anyone’s phone. I’ve heard the request likened to a request by law enforcement to access a safe. Nothing could be further from the truth. My iPhone is not like a safe any more than my brain is like a safe3 . It is a part of my self. In which

case, if you want to get into my iPhone, what you really want to do is to violate my self. This is an assault on the self. And we already have a rich body of laws and regulations that protect the sanctity of the self and the rights of human beings.

3 Domonoske, Camila / Selyukh, Alina, “Apple, The FBI And iPhone Encryption: A Look At What’s At Stake”, in: http://www.npr.org/sections/thetwo-way/2016/02/17/467096705/apple-the-fbiand-iphone-encryption-a-look-at-whats-at-stake (Stand: 19.10.2016) 36

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Surveillance of the self is an assault; a violation of the self. Secondly, it becomes clear that we don’t need to concoct a new Internet Bill of Rights or a Magna Carta for the Web or any such nonsense: all we need to do is to apply the Universal Declaration of Human Rights – the human rights we already have – to the digital era. There isn’t a digital world and a real world. There isn’t human rights and “digital rights”. The things that we are talking about are one and the same. And, finally, we can begin to understand the true nature of those who peddle our personal data and start to effectively regulate this egregious practice. But first, we must also understand the nature of data. The nature of data

We often hear data referred to as a valuable asset. According to Wired magazine, it is the new oil4 . It is only because we do not understand the true nature of data that we are not absolutely repulsed by such a comparison. Let me illustrate: Say I have a small figurine. If I have enough data about this figurine, I can take a 3D printer and I can create an exact copy of it. Now imagine what I can do if I have enough data about you. Data about a thing, if you have enough of it, becomes the thing. Data about you is you. Personal data isn’t the new oil, personal data is people. Now this is not to say that Google, Facebook, and the countless other startups in the 4 Toonders, Joris, “Data is the new oil of the digital economy” in: https://www.wired.com/insights/2014/07/data-new-oil-digital-economy/ (Stand: 19.10.2016) 37

The nature of the self in the digital age

cult of Silicon Valley want to 3D print you. No, of course not. They simply want to profile you. To simulate you. For profit. The business model of surveillance capitalism – the business model of Google, Facebook, and countless other Silicon Valley startups – is to monetise human beings. We all know that Facebook and Google operate huge server farms. Have you ever stopped to ask yourself what it is, exactly, that they are farming? Because if you do, you might quickly come to the conclusion to that is it us. What are Google and Facebook if not factory farms for human beings?

We call them server farms… have you ever stopped to ask yourself what it is, exactly, that they are farming? If this sounds familiar, it should: we have been practising variations of this business model for a very long time. We call the very lucrative and yet despicable business of selling people’s bodies “slavery”. The business model of mainstream technology today is to monetise everything about you that makes you who you are apart from your body. What should we call this? We have a shameful history of selling people. Today, the business model of mainstream technology is to sell everything about you that makes you who you are apart from your physical body. What should we call that?

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We have a shameful history of selling people. Today, the business model of mainstream technology is to sell everything about you that makes you who you are apart from your physical body. What should we call that? This isn’t a technology problem…

The modern-day system of colonialism and sharecropping being constructed by the new East India Company that is Silicon Valley isn’t uncouth or stupid enough to put people in physical shackles. It doesn’t want to own your body, it is content with owning your simulation. And yet, as we have already seen, the more data they have about you – the higher the fidelity of your simulation – the closer they are to owning you. Your simulation is not a static thing either – it is a living, breathing construct (in algorithms, if not biological cells). It lives in the labs of Google, Inc., and Facebook, Inc., and is constantly subject to hundreds if not thousands of experiments aimed to analyse and better understand you. These are the sort of experiments which, if they were performed on your captive physical person, would land the executives at these companies in prison for crimes against humanity. All of this personal information, and the wealth of insight derived from it, belongs to the corporations and, by extension (as Edward Snowden has shown us), are shared with governments. This creates a huge power differential between individuals and corporations and between individuals and their governments. If I take a camcorder and walk into Google, Inc., I will be arrested. However, Google records countless homes with its Nest cameras. The world of Surveillance Capitalism is one in which those who have a right to privacy – individuals – do not have it while those who should be transparent – corporations and democratic governments – do.

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The nature of the self in the digital age

When Mark Zuckerberg says “privacy is dead“, he’s only talking about your privacy, not his. When he buys a house, he buys the houses on both sides also5. His privacy, the privacy of Facebook, Inc., and the privacy of your government are still very much alive and well. If this doesn’t sound like democracy, it is because it is not. Surveillance Capitalism isn’t compatible with democracy. The system we live in today can best be described as a corporatocracy; a feudalism of corporations. Ours is a neo-colonial age of multinational monopolies. A digital imperialism, if you will. The rise of corporatocracy is our reward for decades of unchecked neoliberalism and Californian ideology. It brings with it an unparalleled level of systemic inequality that has resulted in 62 people having as much wealth as half of the world’s poorest population combined6 (that’s 3.5 billion people). It carries alongside it the wholesale

destruction of our habitat through resource depletion and climate change. It is, to put it bluntly, an existential threat for our species. This is not a technology problem. It is a capitalism problem. And the answer is better, stronger democracy.

Decentralised, zero-knowledge alternative technologies can play an important role in helping us achieve better civil liberties and democracy but technology is not a silver bullet. Without regulatory and statutory changes, those technologies will simply be deemed illegal and those of us who build them will become the new Snowdens and Mannings. Our challenge is great: The alternatives that we create must be convenient and accessible. They must be ethically designed and non-colonial in nature. This is no small task. But neither is it infeasible. I know because I am first-hand coding such alternatives today (and others are, also).

5 Matyszczyk, Chris, “Zuckerberg buys four new houses for, um, privacy” in: https://www.cnet.com/ news/zuckerberg-buys-four-new-houses-for-um-privacy/ (Stand: 19.10.2016) 6 Slater, John, “62 people own the same as half the world, reveals Oxfam Davos report” in: https://www.oxfam.org/en/pressroom/pressreleases/2016-01-18/62-people-own-same-half-worldreveals-oxfam-davos-report (Stand: 19.10.2016)

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aRAL BALKAN

The alternatives must be ethically designed. The battle for our civil liberties and democracy will be fought with our new everyday things. The outcome will determine whether we remain quantified serfs7 toiling in a digital feudalism or whether we live as free citizens, empowered by technology that we own and control as individuals to explore the potential of our species in the stars. I wish and work for the latter future. I hope you will, also. Erstmals erschienen: Die Zeit Online (Deutsche Übersetzung), 7. März 2016, „Wir sind die Cyborgs”

7 Brennan, Marjorie, “How to take back your online privacy” in: http://www.irishexaminer.com/lifestyle/features/how-to-take-back-your-online-privacy-383609.html (Stand: 19.10.2016)

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Sinnlichere Bildung und wirksameres Wissen

Stephan A. Jansen 1

Bildung ist selbsthervorhebende Neugier, also eine suchtartige Lust am Staunen zum Besserwerden, meint Prof. Dr. Stephan A. Jansen. Allerdings nur, wenn man sich von Bildungsinstitutionen nicht demotivieren lässt. Ein Interview über die Lust des Lernens, einige unlustige Missverständnisse der Bildungspraxis und -politik, non-formale und digitale Revolutionen für die Zeit nach der Algorithmisierung sowie die Ergebnisse seines Impulses und des Workshops mit den sehr zahlreichen TeilnehmerInnen des anschließenden Workshops. Seine eigenen Erfahrungen als Lehrender, Gründungspräsident der Zeppelin Universität und Begleiter von vielen Bildungsinitiativen und Sozialunternehmen sind unverkennbar - optimistisch.

Die haben was getan! TeilnehmerInnen des Workshops von Stephan A. Jansen bei GLOBART – an einem dritten Ort, im gemeinsamen Selbststudium, in Reflexion. Macht Bildung wirklich Lust? Oder ist das nur Ihre professionelle Hoffnung der selbsterfüllenden Prophezeiung als Professor? Denn Eltern haben schon auch andere Erfahrungen... 1 Dieses Interview ist ein erweitertes Interview, das erstmals in der Ausgabe „Lust“ des Wirtschaftsmagazins brand eins, unter dem Titel „Wie wird Bildung zur Quengelware? im Juli 2016 erschienen ist. Stephan A. Jansen dankt ausdrücklich den TeilnehmerInnen des Workshops.

Stephan A. Jansen

Ja. Das Sich-Bilden ist pure Lust am Lernen, so pur, dass man es nicht als LernenMüssen, sondern als Staunen-Dürfen wahrnimmt. Kinder sind egoistische Lernlüstlinge, feiernde und feixende Fragende an die Welt und die Eltern. Durch formale Bildungseinrichtungen wird jedoch stärker an das Müssen und an ein zu erlernendes Wissen anderer erinnert und somit an einen Zweck der Bildung, der immer etwas mit „später“ zu tun hat. Das ist im schlechtesten Sinne laaangweilig. Meine Tochter – zugegebenermaßen neben dem Kindergarten an der Universität aufgewachsen – fragte kurz vor der Schulwahl sehr irritiert, warum sie denn noch auf die Schule gehen müsse, wenn sie doch eh an die Universität wolle. Die Frage war nur formal beantwortbar, also nicht sonderlich überzeugend. Aber nach der Grundschule kam ein neuer Verdacht auf: Warum müsse man denn Dinge lernen, die das Smart Phone, Amazon Echo oder Google Home einem auch direkt sagen? Was ist Bildung denn dann, wenn Sie Lust macht? Bildung ist als Begriff im 18. Jahrhundert ein Neuankömmling der Sprache geworden, wie Moses Mendelsohn erinnerte. Meister Eckard hat ihn aber schon früher sehr schön kontextualisiert: Das Erlernen von Gelassenheit. Wenn das keine Lust auf Lässigkeit macht?! Mit Friedrich Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt kommt der sich durchziehende Gedanke der Selbsthervorbringung, der Kuratoren- und Autorenschaft seiner eigenen Lebens- und Sinngeschichte ins Spiel – mit der Schleichermacher’schen Verbindung der Pädagogik von „Gewährenlassen und Behüten“. Bildung hat in diesem Bild mehr von Biographiebildung als von hektisch inszenierten, bezeugten Lebensläufen. Bildung macht Lust, weil es um die aus der griechischen Philosophie abgeleiteten Idee der Selbsttätigkeit geht, um die John Locke´sche Idee der Selbstbestimmung und der Immanuel Kant´schen Forderung der Urteilskraft sowie der Georg Wilhelm Friedrich Hegel´schen Idee der Geistestätigkeit zur Freiheit und Unabhängigkeit. So verstanden ist Bildung die Pflege der Neugier auf die Welt und auf sich selbst. Also quasi Lust mit Suchtfaktor, wie eine Droge, die immer höhere Dosen benötigt. Wissensdurst ist nicht löschbar. Erkenntnisreiche Reflexion ist eine Einbahnstrasse des Fortschritts, man kann nicht zurück, denn das wäre Reflexion und damit schon wieder vorn. Neurophilosophisch wissen wir auch: Neugier ist notwendig, damit das Gehirn nicht in seine sonst vorbestimmte Depression verfällt. Bei aller Begeisterung für diese philosophischen und ja auch sehr deutsch-europäischen Herkünfte der Bildungslust: Die Welt von internationalen Wirtschaftsverbänden, der

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UNESCO, der OECD mit ihren Pisa-Studien und auch den Bologna-Reformen sieht doch etwas anders aus... In der Tat. Zahlreiche Institutionen haben in einem neuen, wirtschaftlich und politisch besetzten Orchester der Bildungsdiskussion seit den 1990er Jahren – durchaus gut gemeint – eine andere Melodie gegeben: das Lied der „globalen Wissensökonomie“ und damit die Bildung zugunsten der „Literalität“ in den Hintergrund gespielt. Ging es zuvor um die „innerliche Welterkennung“, stand nun die technische Lesund Beschreibbarkeit von äußerlicher Welt im Sinne der Alphabetisierung einer Gutenberg-Galaxie der Schriftlichkeit. Die Internet-Galaxie mit anderen Medialitäten begann erst. Die beabsichtigte Wendung von Bildungs-Eliten zu einem individual- wie gesellschaftlich-ökonomischen Fortschritt in Entwicklungs- und Schwellenländern ist nachvollziehbar, aber die Folgeerscheinungen der Formalisierung, Bürokratisierung, Akkreditierung und Verzweckung von Bildung für die Beschäftigungsbefähigung waren spürbar. Die Folgen werden gesehen: Bildungsabschlüssen wird – bei zunehmender Qualitätskontrolle – mehr misstraut. Die Bürokratisierung erschöpft sich selbst. Und die Lust auf das Lernen. Luschdverluschd, wie das der Oberschwabe nennen würde. Die Ironie der Wissensökonomie wird nun erkannt: Bildung fängt da an, wo das Wissen aufhört. Oder wie Günther Jauch, der es ja bei seinem wissbaren Millionärsspiel wissen muss, es ausdrückte: „Bildung lässt sich nicht downloaden.“ Aber keine Sorge: der „global turn“ der Bildungsdiskussion dreht sich erneut. Und das ist jetzt auch notwendig: denn Digitalisierung, Algorithmisierung und wie auch immer definierte künstliche Intelligenz fordern nicht nur die Bildungsinstitutionen mit Blick auf deren Abschlüsse und Prüfungen heraus, sondern auch die Art des Lernens und Forschens selbst. Sie plädieren für eine vollständige Reflexion unserer bisherigen Bildungsinstitutionen und -inhalte und nennen das sehr untechnisch „Sinnliche Bildung“. Was meinen Sie damit? Die weitgehende Demokratisierung des Wissens, nach Jahrtausenden von Wissen als Machtquelle, hat eine neue und unmittelbare Zugänglichkeit erlangt, dass die Dramaturgie und Dramatik des Lernens und Forschens überdacht werden muss. Wir benötigen eine Dramatisierung der digitalen Vermittlung von Wissbarem auf der einen Seite und eine didaktische Dramatisierung der Ermittlung von Nicht-Wissbarem auf der anderen Seite. Wir brauchen für unterschiedliche Wahrnehmungstypen unterschiedliche Formate der Vermittlung von Inhalten – es gibt Menschen, die lieben Hörbücher, andere, wie ich, schlafen dabei verlässlich ein. Einige lesen Bücher, andere sehen Videos, wiederum andere spielen sich in das nächste Level der Wissensniveaus. Da haben wir nun deutlich mehr Möglichkeiten, wenn auch die Massive Open Online Courses noch an digitale Versionen des Elends von Vorlesungen erinnern, die aber zumindest schon den Vorteil des Vorspulens aufweisen. Und wir brauchen

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eine Rückbesinnung auf die Bildung, also des in die Antworten Reindenkens, des Forschens im Bereich des Nicht-Wissens, kurz: forsche Lehre. Sinnliche Bildung in meinem Verständnis ist daher weniger Esoterik als Erkenntnis, dass es auf Künstliche Intelligenz nur zwei Reaktionsmöglichkeiten gibt: Künstliche Dummheit oder menschliche Intelligenz, was sich übrigens nicht ausschließt. Künstliche Dummheit ist eine naiv anmutende Befragung von Selbstverständlichkeiten, die es eben nicht sind. Menschliche Intelligenz beginnt da, wo Kreativität im Nicht-Wissen, im Nicht-Regelbasierten, im Widersprüchlichen notwendig wird. Da können auch lernende Algorithmen nicht mithalten. Freiheits- und Gerechtigkeitssinn, Orientierungs- und Irritationssinne, Eigen- und Gemeinschaftssinn, Realitäts- und Möglichkeitssinn oder Körper- und Mediensinne werden die mehr als sieben Sinne, die man in unseren Zeiten beisammen haben sollte. Und das kann, sollte und wird in den Bildungsinstitutionen zunehmend Einzug halten. Denn das 21. Jahrhundert wird vermutlich eines werden, in dem die non-formale bzw. informelle Bildung deutlich überwiegen wird. Ob nun mit Sebastian Thruns Idee des IKEA der Bildung mittels seines gut finanzierten Online-Bildungs-Start Ups Udacity, ob mit neuen Verlagen, die sich Kindergärten, Schulen, Hochschulen und sonstigen Wissbegierigen anders zuwenden als bisher, oder durch jedwede andere Lust auf das Lernen in sehr unterschiedlichen Kontexten jenseits der Abschlüsse, der Rollenrituale, der Orte oder Lehrbücher. Bildung wird eine Quengelware, wie die Süßigkeiten und die Zigaretten an der Kasse genannt werden. Will man haben. Nervt man seine Eltern deswegen. Gilt das aber nicht eher für die Weiterbildung als für die grundständige Bildung? Nein, das beginnt am Anfang der zu lernenden Lernpraxis. Lebenslanges Lernen ist keine Drohung im Sinne von „Lernen lebenslänglich“, sondern die Pflege der frühkindlichen Lust. Wenn die Algorithmisierung kommt, spätestens dann sollten wir uns alle wieder dieser ursprünglichen Lust hingeben. Die OECD hat in einer international vergleichenden Studie im Frühjahr über die digitale Ersetzbarkeit der Arbeitsplätze in Deutschland eine besonders bedenkliche Prognose erstellt – wegen unseres Bildungssystems. Die Oxford University geht bei den 702 analysierten Berufsfeldern bei 47 Prozent von einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit davon aus, dass sie in wenigen Jahren wegfallen werden. Alle Bildungseinrichtungen werden gefordert sein, das Lernen zu lernen, Kritik und Kreativität anzuregen und die Interdisziplinarität zwischen Technik- und Computerwissenschaften und den Geisteswissenschaften mit Blick auf die Kognition, die Sinneswahrnehmung und Geistesgegenwart zu akzentuieren.

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Welche Aufgaben sehen Sie in der Bildungspolitik? Das letzte nationalstaatliche Versprechen – unparteiisch politisch und konsequent parteiisch für alle Bürger – ist das der Selbstentfaltung durch Bildung. Es ist ein nachgewiesenermaßen Gewinner-Versprechen für alle Beteiligten: Die Bürger, die Arbeitsmärkte, die Demokratie und die Staatsfinanzierung. Es wirkt – insbesondere in Deutschland – manchmal aber auch so, als wären die Sonntagsreden „Aufstieg durch Bildung“ ein Versprecher... Die Herkunftsabhängigkeit von Bildungskarrieren bleibt ein Skandal – derzeit für bildungsfernere Gruppen und bisherige Migranten, in Zukunft aber möglicherweise auch für die Geflüchteten. Deutschland muss dafür seine Bildungsfinanzierung auf den Kopf stellen: Massive Investitionssteigerung des Staates in der dann kostenlosen frühkindlichen Bildung und der Grundschule, und behutsame und faire - also nachlaufende - private Kostenbeteiligung an der Hochschulbildung, wie eigentlich überall in der Welt und von Nobelpreisträgern wie James Heckman auch sehr präzise bildungsökonomisch empfohlen. Konkret ist die Ideen-Liste der Bildungspolitik ja ganz kurz und ehrlich gesagt breit geteilt: (1) Kindergärten als qualitativ aufregende Anregungsarena für alle ab dem 3. Lebensjahr ausbauen. (2) Digitale Kompetenzen und deren Reflexion in der Primar- und Sekundarstufe. (3) Sozial faire, nachlaufende Studiengebühren, gemessen an der individuellen Bildungsrendite. Und: (4) Die Weiterentwicklung der „Volkshochschule“ als vergemeinschaftende Präsenzund Fernuni des wirklichen Lebens. Dabei in allen Bereichen: Eine besondere Wertschätzung der Vermittlungskompetenz und Ermittlungsbefähigung der dann vielleicht so zu bezeichnenden Lernbegleiter. Denn die erogenen Zonen der Bildung werden über die Menschen und ihre – im engeren Sinne des Wortes – Begeisterung geschaffen. Massenvorlesungen und Skripte werden der Vergangenheit angehören, was Friedrich Nietzsche schon im Jahr 1872 empfahl. Und das gilt auch oft für die Intelligenz-beleidigenden Lern-Videos. Sie haben 2003 die Zeppelin Universität als interdisziplinäre Universität gegründet, die zur Refinanzierung auch Studiengebühren nehmen musste. Und Sie haben kokettiert: Gebühren, damit die Studierenden selber und noch mehr lernen können. Ist die Lust auf das Lernen tatsächlich so groß? Wir waren damals im rhetorischen Umfeld der Elite- und Exzellenz-Politik klar vom Gegenteil beseelt: vom Pioniertum und der Humboldt’schen Selbsthervorhebung in einem Spiel zwischen Erwachsenen im Sinne der Universitas, der Einheit von Lehrenden und Lernenden. Und wir haben die Glücksforschung sorgfältig studiert, nach der bei einer Alumni-Befragung von über 30.000 Studierenden zum Beispiel

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herauskam, dass nachhaltige Glücksmomente nicht der Abschluss oder das Renommee der Hochschule seien, sondern das welteröffnende Gespräch mit besonders forschungsgetriebenen Professoren. Bildung braucht Bindung. Studiengebühren für ein Selbststudium scheinen paradox, aber sind verbunden mit der engen Bindung der Universitas und der Erkenntnis, dass Studierende mehr, breiter und nachhaltiger lernen, wenn es ihre eigenen Fragen sind, die sie selbst beantworten anstatt fremde Antworten auf fremde Fragen zu geben. Dafür haben wir damals viele Formate entwickelt, die das Inwendiglernen vor das Auswendiglernen stellten, das Vorherlesen statt der Vorlesung, die Selbstbelustigung statt der Fremd-Beschäftigung. Der Geschmack der selbstgeknackten Nuss schmeckt einfach am besten. Und wie bei Nüssen auch, hat man durch das Essen noch mehr Lust auf die nächsten. Sie beraten seit letztem Sommer eng die beiden Gründer der KIRON University für Flüchtlinge und sind seit Gründung auch an dem Hauptschüler-Coaching durch Studierende, „RockYourLife“, beteiligt. Ist da die Lust bei Flüchtlingen und Hauptschülern noch spürbarer? Mit klugen Studierenden denken zu dürfen ist ein Privileg. Eine Verantwortung ist für uns Privilegierten aber vor allem, denjenigen die Lustgärten zu bereiten, die diese Privilegien nicht haben und die vor allem keine Lust mehr auf Abwertung, Abwarten, Anträge und systemisches Ausgeschlossensein haben, sondern auf Zukunft. Bildung ist somit geistesgegenwärtige Befreiung und Heilung durch den Sog der Zukunft – gerade bei traumatischen und schwierigen Vergangenheiten. Dieser Wissensdurst und Bildungshunger steckt an – und alle Ehrenamtlichen wissen das. Aber wir brauchen hier noch etwas mehr Intelligenz in dem Zusammenspiel von Stiftungen, Staat und Bildungseinrichtungen, wie wir nicht nur von Integration sprechen, sondern von einer beidseitigen Neugier auf die Diversität und klügeren Formaten bei der Sprachund Wissensvermittlung. Von Flüchtlings-Camps zum Bildungs-Campus, von der Hauptschule in das Leben jenseits des Transfersystems zu gelangen, ist zumeist eine Lust auf das dies ermöglichende Land. Sie sprachen in der Diskussionsrunde von dem systematischen Problem der „kollektiven Verblödung bei dezentraler Intelligenz“, was insbesondere in der Weiterentwicklung von Bildungseinrichtungen zu erkennen sei. Nun hatten Sie von Lehrern, Professoren bis hin zu Studierenden und Promovenden ja ein sehr breites Spektrum im Workshop: gab es eine kollektive Intelligenz? Na ja, ich habe schon gestört. Aber ich fand es tatsächlich sehr inspirierend, denn auch hier waren sehr unterschiedliche Generationen und Professionen vertreten und einhellige Meinungen. Nur mal zum Geschmack einige der unstrittigen Ergebnisse – als frisch entwickelter „10-Punkte Plan“:

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Sinnlichere Bildung und wirksameres Wissen

(1) Seitenlernen unter Schülern und Studierenden wichtiger als Lehrer und Professoren. (2)Talent-Beobachtung von Schülern und Studierenden jenseits der Prüfungen erweitern. (3)Selbstzuknackende Nüsse statt gebrannte Mandeln: Inwendiges Forschen statt Auswendiges Lernen für Schüler und Studierende. (4)Lernmethoden für verschiedene Kognitionstypen: auditiv, visuell, textuell, spielerisch, interaktiv etc. (5)„Learning Analytics“: Datenbasierte Lernerfolge und Gründe für Abbrüche nutzen. (6)Digitalisierung der Vermittlung für direktere Bindung in der PräsenzBildung ausnutzen. (7)Raumgefühl: In welchen Räumen und Zwischenräumen gelingt Bildung? (8)Bessere Imaginationsfähigkeit der Bildungs- und Qualifikationswege vor der Bildungsentscheidung: vorher selbst entscheiden statt später rausprüfen. (9)Umschaltung von Defizit-Fokussierung auf Potentialismus. (10)Und: Nur schlechte Schüler in Mathe sollten Mathelehrer werden. Kompetenz: Verständnis für Unverständnis. Und wie machen Sie eigentlich selbst Lehre, hat sich in den 13 Jahren als Professor etwas verändert? Als Legastheniker bin ich noch immer aufgeregt wie beim ersten Mal (vor allem beim öffentlichen Schreiben im Seminar), weil ich mich nicht auf mein Wissen und die vermeintliche Macht daraus verlassen kann, da ich eben kein PowerPoint nutze. Ich arbeite nur mit Originaltexten der letzten Jahrhunderte an der konkreten Zukunft der Studierenden, also deren Fragen, Beiträge, Kommentare, Thesenpapiere. Ich bin – wenn ich gut bin – also nicht Besserwisser, sondern nur kontextualisierende Hebamme für Kopfgeburten anderer – im anregenden Kreissaal und nicht in Reihenbestuhlung. Und das würde ich gern jetzt beibehalten, wo es wieder zeitgeistig wird.

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Michael Madary

The Ethics of Virtual Reality: Risks and Recommendations

Michael Madary

There is a lot of excitement about virtual reality (VR) in the media these days. From 2010 to 2015, I worked on a European Commission project on virtual reality and the ethics of virtual reality. The title of the project was “Virtual Embodiment and Robotic Re-embodiment” or “VERE” for short. In this piece, I am going to talk a little about the results of the VERE project. In particular, I am going to talk about two things: First, I am going to tell you a bit about the scientific basis of VR, about why it works and what it does to its users. The second theme I am going to talk about covers the opportunities and the risks of VR, as well as ways of minimizing those risks. Before beginning with my two themes, I would like to tell a quick story to illustrate one way in which virtual worlds might become increasingly important for the finance industry. In 2005, a Chinese gamer named Qiu Chengwei earned a powerful weapon for himself in the MMORPG (massively multiplayer online role-playing game) The Legend of Mir 3. The weapon was a dragon sabre, which made his character very powerful in the game. His friend (both in the game and in real life), Zhu Caoyuan, asked Qiu to borrow the dragon sabre in the game. Qiu lent the weapon to his friend, who promised to return it. Instead of returning the virtual weapon, Zhu Caoyuan sold it on Ebay for nearly € 800. Qiu demanded the weapon back, but Zhu was unable to return it. Qiu went to the police for help, but they could not help him because no physical object had been stolen. The story turns tragic. Out of revenge, Qiu Chengwei fatally stabbed Zhu Caoyuan and is now serving time in prison. Murder was committed over an object valued at € 800, but an object that has no physical existence, a purely virtual object. This story suggests that we can value the virtual world just like the real physical world, and it is reasonable to think that placing value in virtual worlds will increase much more now that we can become fully immersed in virtual worlds using virtual reality headsets. I will be using the term „virtual reality” or VR, but I really want to refer to several different kinds of immersive technology. Virtual reality refers to immersion in a computer-generated visual environment. Augmented reality refers to computergenerated elements visible in the physical environment. And substitutional reality (360 VR) refers to a panoramic video of a physical environment. We can imagine 360 VR being very popular for live sports and music concerts. The opportunities and risks that I will talk about later are relevant for all three of these kinds of immersive content. Also note that these are rough distinctions – it is probably better to think of virtual reality and augmented reality as two ends of a spectrum.

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The Ethics of Virtual Reality: Risks and Recommendations

How does VR work? Most importantly, it creates the “place illusion,” which is the feeling that you are located somewhere else, in another place. The place illusion occurs when the visual input changes in a precise way in accordance with your head movements. The illusion is powerful because it imitates the way sensations change with bodily movements during normal perception. The place illusion is so powerful, in fact, that VR can make you feel as if your experience is real even when you believe it is not. One of the early experiments in VR is known as the virtual pit. It illustrates the power of the place illusion. Subjects are asked to walk across a wooden board on the floor of the laboratory. But the subjects are wearing VR goggles that make it look as if the board went across a deep pit. The subjects may believe that they are safe in the laboratory on firm ground. But they react as if they were in danger because VR makes them feel as if they are walking over a deep pit. They have an elevated heart rate and start to sweat. A few months ago, I had a chance to try a VR experience, in which you are asked to walk across a wire connecting the (now destroyed) twin towers in New York City. Just like with the virtual pit, you are really walking across a cord that is secured to the floor. I was terrified as soon as the experience began. My legs were shaking. I didn’t want to walk across, but a crowd of colleagues and students were watching me. I managed to get across by deliberately breaking the illusion: I deliberately stepped off of the cord and onto the floor in order to convince my mind or my brain, if you will, that I was safe. In addition to the place illusion, VR can create an illusion of embodiment, which is the feeling that you occupy and control a body that is not your own, such as an avatar. The place illusion can make you feel as if you were somewhere else. The illusion of embodiment can make you feel as if you are someone else, or at least that you have the body of someone else. One important result from cognitive neuroscience is that our relationship to our own bodies is somewhat fragile. Most of us take it for granted that we occupy and control our own body. Sometimes the sense of ownership for our own body can be disrupted naturally, as in dreams, out-of-body experiences, and body identity integrity disorder, in which people feel as if a part of their body, usually a limb, did not belong to them and wish to have it amputated. It is surprisingly easy to create an illusion of embodiment artificially. For instance, there is a video demonstration of the rubber hand illusion, which is a simple illusion of embodiment. The subject looks at a rubber hand located in a biologically realistic position, where her own hand could be located. She sees the rubber hand being stroked in synchrony with her real hand being stroked.

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The visual experience combined with the tactile experience on her hand leads the brain to conclude that the rubber hand is hers. She feels ownership of the rubber hand as if it was really hers. You can try it at home – if you can find a rubber hand. Recently, a team of scientists created a full body illusion based on the idea of the rubber hand illusion. Instead of stroking the hand, researchers stroked the backs of the subjects. A camera filmed the subjects from two meters behind and the video was fed into a head-mounted display, so subjects saw their own body being stroked located two meters in front of them. Subjects experienced a feeling of ownership for the body that they saw two meters in front of them. They felt as if they were located where they saw the body to be through the video feed. In an experiment that was a part of the VERE project, the illusion of embodiment was used to explore implicit racism. First, subjects were given what is known in psychology as an implicit racial bias test. The test measures reaction times when subjects have to associate, for example, positive and negative terms with black and white faces. Then subjects spent some time embodied in an avatar with dark skin. After spending time embodied in a dark-skinned avatar, subjects left the virtual environment and were then given the same implicit racial bias test. The subjects performed better (less racist) on the test after spending time in the dark-skinned avatar. The illusion of embodiment made people less racist. Keep this result in mind when I talk about opportunities and risks later on. The illusion of embodiment is not limited to avatars in virtual reality. In another experiment supported by the VERE project, a subject experiences embodiment in a robot who he is controlling directly with his brain. The subject is in a brain scanner in Israel and the robot is located in France. The subject receives video input from cameras placed in the eyes of the robot. When the subject imagines himself walking forward, the robot walks forward. When the subject imagines himself turning, the robot turns. This may be the first case in history of a human being performing actions in the world with only the brain, completely bypassing the body. It’s not what you might see from Hollywood yet, but we’re getting there. Now that you have some idea about the leading scientific research on immersive technology, let’s turn to a consideration of the opportunities and risks that we have with this new technology. My main role in the VERE project was to consider the ethics of VR. In February of this year, I published the first code of conduct for research and consumer use of VR in the journal Frontiers in Robotics and AI with Thomas Metzinger. The article is free to access. But nobody has time to read a long academic

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The Ethics of Virtual Reality: Risks and Recommendations

article these days. So we summarized our recommendations in a table at the end of the article. Now I’d like to talk about those recommendations. In the article, we cover recommendations both for research using VR as well as personal use of VR. Here, I will focus on issues having to do with personal use. Many users are already finding great joy spending time immersed in virtual environments. We should allow users the personal freedom to spend time and money in virtual worlds of their choice. The new medium of immersive technology will provide a platform for new and powerful works of art, possibilities that artists are only just beginning to explore. One concern about spending time in virtual environments is that we know from social psychology that one’s environment can have an unconscious influence on behavior. Here are a few examples. You may already know about Stanley Milgram’s famous obedience experiments in which subjects administered what they thought were possibly lethal electric shocks because they were being told to do so by an authority figure. There is also the well-known Stanford prison experiment in which students were role-playing as either prisoners or guards. The subjects took their roles so seriously that the situation became hostile and the experiment had to be shut down. The Asch conformity experiment is a good one. Subjects were asked to give their answer on a simple visual matching test. But the trick was that everyone else in the room were actors who were instructed to give the incorrect answer to the test. Many subjects, after hearing everyone else give the incorrect answer, conformed by answering incorrectly as well. The final example is a more recent experiment that took place in a university break room. The faculty who used the break room were supposed to pay for their coffee in an honesty jar, putting more money into the jar the more coffee that they drink. In the control condition, a neutral picture, such as a picture of a house or flowers, was placed above the jar. In the experimental condition, a picture of a pair of eyes was placed above the jar. With the eyes “watching,” subjects donated three times as much money to the jar. These results are important because VR creates a situation in which the entire environment is controlled by a third party, a third party who may not have the user’s best interest in mind. When we consider these results, it becomes clear that VR opens vast opportunities for psychological manipulation. Consider targeted advertising in VR, for example. You might be presented with an image of yourself using a particular product. We should make users aware of the possibility of manipulation through changes in the virtual environment. And users should be made aware that there is evidence that experiences in VR can have a lasting influence on behavior after leaving the virtual

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environment, such as the results of the implicit racial bias experiment. Users should also be made aware that we do not yet know the effects of long-term immersion. The experiments have involved immersion for short periods, between 5 and 10 minutes. Now that VR is commercially available, people are performing their own experiments by staying immersed for many hours at a time. We do not know the risks of doing that. There are opportunities to use VR as therapy. It has been used successfully, for example, for pain management. Burn victims were immersed in an icy virtual world during surgery and they reported that this experience reduced their pain during the surgery. We might also use it to increase empathy through the illusion of embodiment, as in the implicit racial bias experiment described above. We might use it for eating disorders, which may be caused by a misperception of one’s own body. VR has been used to treat phobias as well, through exposure therapy. There is even software being developed now to help users practice mindfulness meditation. Our experiences in VR could inspire a sense of wonder for our experience of the real world. Users may take off the headset and experience a mild sense of unreality for the real world, an experience that has been valued in various philosophical and contemplative traditions for centuries. There have already been reports of users having this kind of experience. But we should avoid giving patients false hope that treatment in VR is necessarily better than traditional methods. This false hope is known as the “therapeutic misconception” in the bioethics literature. The way in which scientists and the media report on beneficent applications of VR can reduce instances of the therapeutic misconception. Also, if VR can be used to increase empathy, it can be used to decrease empathy. This application has obvious use in a military setting. We can also imagine using VR for rehabilitation. A violent offender could be embodied in his victim in order to experience the suffering that he has caused. If this treatment is effective, should we force criminals to receive the treatment? We should conduct further research into the lasting effects of long-term immersion, research that considers different kinds of content. Right now we simply do not know how long-term immersion will affect users. And we do not know what kinds of content could be the most risky for particular users. Ideally, we would have the large VR companies working together with psychologists to conduct this research and to adjust content accordingly. But we should keep in mind that this research will not reveal risks for the most vulnerable users. That is, children and those at risk of mental illness will be excluded

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The Ethics of Virtual Reality: Risks and Recommendations

from the research for ethical reasons. Children are going to be very attracted to VR, but their brains are still developing. Young children may not be able to distinguish between the virtual world and the real world. Another point to consider is that parents will not be able to see what their children are seeing through the goggles, unlike when children are looking at a traditional screen. It may be a good idea to have a separate video output onto a screen so that parents are able to monitor their children’s content more easily. Normal users will soon be able to create avatars that resemble anyone. This possibility is exciting and can lead to wonderful new experiences. You will be able to create avatars of nearly anyone: friends, family, neighbors, enemies, celebrities, and so on. And you will be able to animate and embody those avatars. Use your imagination as to how people will make use of this possibility. But avatar creation brings new risks. We should warn users about the psychological effects of body swapping, using avatars of the dead, virtual sex, and virtual violence. Will it help or hurt someone who is grieving to spend time with the avatar of the person who they lost? There is no research on it; we don’t know. Should some forms of virtual sex and violence be forbidden? What about virtual pedophilia? Or virtual rape? These are very difficult questions and there are currently no regulations in place. The first, and easiest, thing to do now is to warn users to be very careful when experimenting with this sort of thing. Immersive technology will allow for new forms of social interaction. Using a 360° camera and a head mounted display, you can feel as if you were sitting in a room with someone who is on the other side of the planet. You can attend that family reunion without leaving your home. This possibility will obviously create great opportunities for new kinds of social interaction. The interaction may even be enhanced through visual representations of the bodily states of the person with whom you are speaking. Imagine, for example, seeing a soft flash over the body of your partner in time with his or her heartbeat. But we should not use VR to replace in-person contact. A study published last year found that lower levels of in-person contact were correlated with depression in older adults in the United States. Other forms of social interaction, such as phone calls and email, did not reduce the risk of depression. We do not know why, but in-person faceto-face interaction seems to be very important for human mental health. Motion sensors of bodily signals will enable us to have enhanced forms of communication. The sensors can read our emotions and detect whether something

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in the virtual environment catches our attention. But allowing the technology to capture our facial and bodily signals will reveal a lot of private information, such as our emotional reaction to advertisements. Users may voluntarily give this information as a way of enhancing their experience, but it does raise an entirely new set of questions about user privacy. Research has suggested that each of us moves our bodies in a unique way; we each have a kind of “kinematic fingerprint.” That fingerprint will be recorded by motion sensors and it can be used to identify us.

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Nur Rädchen im System?

Nur Rädchen im System? Warum Verantwortung sich nicht outsourcen lässt.

LISA HERZOG

Eigentlich ist es schizophren. Einerseits machen wir uns Gedanken über all die Probleme der Welt, den Klimawandel, die Armut, den ungerechten Welthandel. Wir lesen Zeitungsberichte, hören Radio-Features, sehen im Fernsehen oder Internet die Bilder von Umweltzerstörung und menschlichem Elend. Und wir versuchen vielleicht, das eine oder andere zu tun: öfters mal zu Fuß zu gehen statt das Auto zu nehmen, weniger Fleisch zu essen, Geld zu spenden, wenn eine Hungersnot oder ein Bürgerkrieg gemeldet wird. Aber gleichzeitig nehmen wir Teil an einem Wirtschaftssystem, das viele dieser Probleme erst kreiert oder zumindest zu ihrer Perpetuierung beiträgt. Polemisch gesagt: es scheint fast, als wären wir nur im Feierabend und am Wochenende engagierte, verantwortungsvolle Bürgerinnen und Bürger – und unter der Woche, „nine to five“, sind wir die sprichwörtlichen Rädchen im System. Zumindest für manche Individuen muss dies so sein, denn unsere Wirtschaftswelt, eben jenes „System“, könnte ja nicht weiterlaufen ohne all die Rädchen, die in ihm mitziehen – oder mitgezogen werden. Diese Situation führt nicht nur dazu, dass viele Menschen ihrer Arbeit und der Wirtschaftswelt insgesamt entfremdet gegenüberstehen. Sie führt auch dazu, dass drängende Probleme der heutigen Welt nicht oder nur unzureichend angegangen werden. Und in einer globalisierten Welt ist dieses Modell schlicht nicht mehr zeitgemäß. Ich werde im Folgenden zwei Modelle der Arbeitswelt beschreiben: das der „passiven Rädchen“, das derzeit noch stark vorherrscht, und das der „aktiven Rädchen“, zu dem wir uns hinbewegen müssen. Natürlich sind dies Denkmodelle und als solche vereinfachen sie die soziale Wirklichkeit – aber dennoch können solche Modelle sehr wirkmächtig sein und selbst die soziale Wirklichkeit prägen, wie es das erste Modell auch stark getan hat. Anschließend diskutiere ich drei Argumente, wieso wir uns hin zu dem zweiten Modell bewegen und unsere Arbeitswelt entsprechend transformieren sollten: die Globalisierung, die Art der Herausforderungen, mit denen wir es in der globalisierten Welt zu tun haben, und die neuen Möglichkeiten der Kommunikation und Vernetzung. Und zuletzt beschreibe ich drei Dimensionen des Wandels in diese Richtung: eine bessere Haftungsverteilung, eine gerechte Verteilung von Ressourcen und Risiken, und einen Mentalitäts- und Kulturwandel hin zu demokratischeren Unternehmen, dem hoffentlich irgendwann auch ein institutioneller Wandel folgen wird.

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LISA HERZOG Zwei Bilder der Arbeitswelt

Das erste Bild der Arbeitswelt lässt sich mit dem Stichwort „passive Rädchen“ beschreiben: die Einzelnen sind Rädchen in einer großen Maschine, in welcher sie die Kräfte, die auf sie einwirken, passiv an die nächsten Rädchen weitergeben, ohne Entscheidungsmöglichkeiten und ohne die Gelegenheit, irgendetwas am Kurs der Maschine zu ändern. Aufgrund mangelnder Handlungsspielräume haben sie auch keine Verantwortung zu tragen – die Verantwortung für das, was mit der Maschine passiert, sitzt bei denen, irgendwo weiter oben, die die Maschine lenken. Oft verbindet sich damit die Vorstellung, dass diejenigen, die an die Spitze der Pyramide gelangen, besondere Qualitäten hätten, die andere nicht hätten. Wenn sie Entscheidungen treffen, wird Wissen aus allen Teilen der Maschine, über alle Ränge hinweg, zusammengetragen, nach oben transportiert, wo Entscheidungen getroffen werden, und diese werden nach unten an alle Rädchen zurückgespielt, die sie dann umsetzen sollen. Besonders offensichtlich ist dieses Modell bei großen öffentlichen oder privaten Organisationen, also Behörden oder Unternehmen, die intern quasi Planwirtschaften sind – die Pyramidenform zeigt sich oft schon in den Organigrammen, die die Rolle der Einzelnen festlegen. In diesem Bild haben die Einzelnen keine Freiräume und keine Verantwortung

– ihnen wird von oben mit Zuckerbrot und Peitsche vorgegeben, was sie zu tun haben, sie reagieren nur passiv auf diese Anreize (die Rhetorik, das sei zugestanden, ist oft eine andere, offiziell wollen viele Organisationen ihre Mitarbeiter wertschätzen und ihre Eigeninitiative fördern – aber schaut man sich die Menge der Regelungen und die finanziellen Anreize an, sieht es oft ganz anders aus...). Die Regeln, nach denen sie zu funktionieren haben, schreibt jemand anderes, eine Ebene höher, und von den Einzelnen wird erwartet, dass sie sich anpassen, besonders, wenn sie den Ehrgeiz haben, möglicherweise selbst die nächste Hierarchiestufe zu erklimmen. Wenn jemand eine Idee hat, einen Vorschlag, etwas anders zu machen – sei es aus Gründen der besseren Funktionalität, sei es, weil man gemerkt hat, dass die eigenen Praktiken moralisch nicht einwandfrei sind, weil man zum Beispiel gedankenlos eine Lieferkette aufrechterhält, in der Kinderarbeit und Ausbeutung in Sweatshops vorkommen – dann heißt es im Zweifelsfall: Das geht nicht. Dafür sei die nächsthöhere Ebene zuständig: nicht der Chef, sondern der Abteilungsleiter, nicht der Abteilungsleiter, sondern der Vorstand, nicht der Vorstand, sondern – und damit verlässt man das Innere von Organisationen, aber die Logik bleibt die gleiche – der Gesetzgeber. Woher der Gesetzgeber die Vorgaben nimmt, nach denen er die Regeln aufstellt, ist nicht immer

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ganz klar: theoretisch soll es der demokratische Wille des Volkes sein, der hier zum Ausdruck kommt, de facto aber gibt es ein Problem, wenn diese Regelungskapazität sich nur auf den nationalen Bereich bezieht, während die Wirtschaft längst global geworden ist – dazu unten mehr. Das Bild, das ich diesem Modell entgegensetzen möchte, lässt sich unter dem Stichwort „aktive Rädchen“ beschreiben – denn, dass die Arbeit in komplexen, ausdifferenzierten Systemen den Charakter von Rädchen hat, die ineinandergreifen, lässt sich nicht leugnen, aber die Frage ist: treibt das System die Rädchen, oder treiben die Rädchen das System? Im zweiten Bild sind es die Rädchen, die Verantwortung übernehmen, die Dinge vorantreiben, die nicht auf Befehle oder Anreize von oben warten, sondern selbst aktiv sind. Sie kommunizieren nicht nur vertikal, sondern auch horizontal, vernetzen sich mit anderen, teilen Wissen und Informationen und verteilen Aufgaben unter sich. Sie gehen als mündige, verantwortungsvolle Bürgerinnen und Bürger in ihre Jobs. Sie sehen über den Tellerrand der eigenen Aufgabe hinweg, um sich zu fragen, wie ihre eigene Tätigkeit sich in den weiteren Kontext der Gesellschaft einordnet. Sie stellen sich Fragen danach, was richtig oder falsch ist, nicht nur im Feierabend und am Wochenende, sondern auch in ihren jeweiligen beruflichen Positionen – und sie verändern dort die Dinge zum Besseren. Warum wir „aktive Rädchen“ brauchen

Für beide Bilder lassen sich Beispiele in der sozialen Wirklichkeit finden. Gerade in großen Organisationen herrscht oft das erste Bild vor, mitsamt den sozialen Gewohnheiten, die sich aus ihm ergeben. Aber in der heutigen Welt ist es schlicht nicht mehr zeitgemäß. Drei Argumente sprechen für diese These. Zum einen ist da, wie schon angedeutet, die Tatsache, dass wir in einer Welt leben, in der die Politik immer noch weitgehend nationalstaatlich funktioniert, die Wirtschaft aber längst globalisiert ist. Damit fehlt im Bild der nach oben delegierten Verantwortung sozusagen die oberste Ebene, und das ergibt eine logische Lücke. Das bedeutet nicht, dass Politik heutzutage völlig machtlos wäre – aber man kann nicht davon ausgehen, dass sie die Dinge so gut und so vollständig regelt, dass bei den Einzelnen keinerlei Verantwortung mehr liegenbliebe. Gerade wenn es um die internationalen Netzwerke in der Wirtschaftswelt geht, ist die Verantwortung von Unternehmen und den Individuen, die in ihnen arbeiten, unverzichtbar. Ein zweites Argument beruht auf der Art der Herausforderungen, mit denen wir heute konfrontiert sind. Zwei der größten globalen Probleme unserer Zeit sind der Klimawandel und die Frage, wie wir auf klimafreundlichere Wirtschaftspraktiken

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umschwenken können, sowie die globale Armut und Ungleichheit und die Herausforderung, die Weltwirtschaft gerechter zu gestalten und in Einklang mit unseren Vorstellungen von Menschenrechten und Menschenwürde zu bringen. Dies sind keine Probleme, bei denen man darauf hoffen könnte, dass es eine einzelne Instanz oder einen einzelnen Mechanismus gäbe, der sie lösen könnte. Stattdessen ist Engagement an ganz vielen unterschiedlichen Stellen gefragt: beim Erkennen von Energieeffizienz und der Umrüstung auf neue Technologien, bei der Eindämmung menschenverachtender Praktiken, bei der Umstellung von Denk- und Lebensgewohnheiten. Die Praktiken, die zum Klimawandel und zu den moralischen Problemen des Weltwirtschaftssystem beitragen, sind keine abgesonderten, isolierbaren Probleme, sondern sind tief verwoben in unseren Alltag. Die amerikanische Philosophin Judith Lichtenberg spricht in diesem Zusammenhang von „new harms“: Formen der Schädigung, bei denen es nicht um böse Absichten und einfache Kausalzusammenhänge – die Faust von Person A im Gesicht von Person B – geht, sondern um scheinbar harmlose Tätigkeiten, die in der Summe erhebliche Schädigungen bei Dritten bewirken, wobei diese Dritten aber räumlich und zeitlich weit entfernt sein können. Um derartige Schädigungen zu verhindern, ist ein holistischer Ansatz nötig, bei dem unterschiedliche Instanzen zusammenspielen und Individuen an den verschiedensten Stellen Verantwortung übernehmen und ihr Verhalten koordinieren. Drittens, und dies ist ein positives Argument, sind Formen der Steuerung durch „aktive Rädchen“ heute keine Utopie mehr. Das hängt maßgeblich damit zusammen, dass neue Formen der Kommunikation und der Wissensverbreitung viel partizipativere Formen des gemeinsamen Arbeitens ermöglichen, als dies vorher lange denkbar war. Dabei geht es nicht um blinde Technikgläubigkeit; das Internet bringt neben vielen Chancen sicher auch Risiken mit sich. Aber es ermöglicht Dinge, die Sozialwissenschaftler vor seiner Entwicklung für vollkommen unmöglich gehalten hätten – zum Beispiel, dass Freiwillige weltweit, moderiert von einer kleinen Gruppe von Editoren, eine Enzyklopädie erstellen, die zwar nicht immer vollständig korrekt ist, aber doch Millionen von Menschen weltweit Zugang zu Wissen vermittelt, das vorher nur für diejenigen verfügbar war, die eine Bibliothek aufsuchen oder sich selbst Lexika kaufen konnten. Die Nutzung digitaler Technologien ist heute schon die Regel in vielen Organisationen, aber oft werden sie unter dem Paradigma hierarchischer, starrer Strukturen eingeführt – anstatt das Potential zu nutzen, das damit einhergehen könnte, wenn auch ein weitergehender Kultur- und Strukturwandel hin zu einem Bild „aktiver Rädchen“ stattfinden würde.

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Die Rahmenbedingungen für Wandel

Was müsste passieren, damit wir stärker zum zweiten Modell der „aktiven Rädchen“ kommen? Es sei vorweggeschickt, dass es – zum Glück! – derartige Ansätze in der Praxis durchaus schon gibt; vielleicht ließe sich sogar die These aufstellen, dass dort, wo Dinge gut laufen und sich zum Besseren verändern, dies genau daran liegt, dass dort Individuen aktiv und verantwortungsvoll handeln und auch den Freiraum bekommen, dies zu tun. Aber auch das erste Modell ist noch weitverbreitet, und es ist höchste Zeit, dass sich dies ändert.

Ein erster, wichtiger Punkt hierzu ist, dass die Verteilung von Haftung und Verantwortung in der Wirtschaftswelt ziemlich aus dem Lot geraten zu sein scheint. Wer an der Spitze von großen Organisationen steht, kann sich, so der öffentliche Eindruck, eigentlich alles erlauben, während die „kleinen Fische“ für Fehler verantwortlich gemacht werden und darunter leiden. Am augenscheinlichsten war dies bei der Aufarbeitung, beziehungsweise deren Ausbleiben, der Finanzkrise 2008. Während zahlreiche Familien ihre Häuser oder Jobs verloren oder anderweitig finanziell gelitten haben, wurden in den oberen Ebenen der Bankenwelt weiterhin fröhlich Boni in immenser Höhe ausgezahlt. Das ist nicht nur an sich ungerecht, sondern es erweckt auch den Eindruck, dass unsere Gesellschaft eine ist, in der jeder sich selbst der Nächste ist, und man am Weitesten kommt, wenn man mit möglichst spitzen Ellbogen agiert. Das unterminiert die Bereitschaft zu Solidarität und Engagement. Warum, so fragen sich die Einzelnen, sollte ich mich zugunsten des Gemeinwohls einsetzen, wenn andere, die blind und rücksichtslos den Anreizsystemen und ihren eigenen Interessen folgen, dafür in exorbitanter Höhe belohnt werden? In eine ähnliche Richtung geht das zweite Argument: um eine Gesellschaft „aktiver Rädchen“ zu denken, ist es unerlässlich, dass sie von allen Mitgliedern als einigermaßen fair und offen wahrgenommen wird. Im Prinzip können alle Individuen unglaublich davon profitieren, als Teil eines arbeitsteiligen Systems tätig zu sein, denn ihre Produktivität wird dadurch im Vergleich zu isolierter Tätigkeit um ein Vielfaches gesteigert. Aber die Frage ist, wie dieser vergrößerte „Kuchen“ verteilt wird: ob alle profitieren oder nur einige wenige, und wie die Verteilung der Vorteile sich gestaltet. Menschen sind, wie die Verhaltensökonomie sagt, „konditional kooperationsbereit“: sie kooperieren gerne, wenn sie andere auch als kooperativ wahrnehmen; defektieren die anderen aber, dann tun sie dies ebenfalls. Das Fairness-Empfinden ist aber nur ein Faktor, der eine Verbindung zwischen sozialer Gerechtigkeit und individuellem Engagement und individueller Verantwortung herstellt. Ein zweiter Faktor ist die Frage der sozialen Absicherung und der sich daraus ergebenden Risikobereitschaft

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der Einzelnen. Wenn mit dem Jobverlust zum Beispiel auch der Verlust der Krankenversicherung einhergeht, oder der Möglichkeit, den eigenen Kindern eine gute Schulausbildung zu finanzieren, dann kann man den Einzelnen kaum verübeln, wenn sie sich anpassen und alles tun, um ihre Position nicht zu gefährden – auch gegen die eigenen Überzeugungen und gegen das eigene Gewissen, was die weitergehenden Auswirkungen der eigenen Tätigkeit angeht. Wenn dagegen ein gut funktionierendes Sozialversicherungssystem dafür sorgt, dass niemand in absolute Existenznot gerät, und durch öffentliche Bildungseinrichtungen gewährleistet wird, dass Kinder unabhängig vom Einkommen der Eltern ihren Weg gehen können, dann ist es für die Individuen durchaus möglich, die Stimme zu erheben und sich auch gegen Widerstände für moralische Belange einzusetzen. All dies erfordert zum Dritten einen Mentalitätswandel: es ist kaum zu erwarten, dass eine Veränderung über Nacht einsetzt, aber es ist durchaus denkbar, dass nach und nach immer mehr Individuen ein derartiges Verständnis ihrer eigenen Tätigkeit entwickeln, und es von den Organisationen, in denen sie tätig sind, auch einfordern. Natürlich stellt sich dann die Frage, ob diese bereit sind, darauf einzugehen, oder ob sie versuchen, an dem ersten oben geschilderten Bild festzuhalten. Letztlich müsste sich aber nicht nur die Mentalität verändern: Auch der institutionelle Rahmen und die Strukturen müssten nachziehen. Dabei geht es nicht darum, Autoritätsbeziehungen und Hierarchien an sich abzuschaffen. Wie die „Theorie der Firma“ argumentiert, können jene Transaktionskosten sparen und Formen der Kooperation ermöglichen, die in den Austauschverhältnissen des freien Marktes nicht möglich sind. Autoritätsbeziehungen und Hierarchien kennen wir auch im Bereich des Politischen – aber dort haben wir eine Methode entwickelt, sie in Schach zu halten, nämlich die demokratische Kontrolle. Die Frage, die sich stellt, ist, ob Formen der demokratischen Kontrolle und Partizipation nicht auch im Bereich von Organisationen viel stärker gemacht werden müssten, als sie es derzeit sind – wobei die in Europa teilweise vorliegenden Strukturen von Betriebsräten und betrieblicher Mitbestimmung sowieso schon weiter gehen als die Strukturen in angelsächsischen Firmen, in denen die Aktienbesitzer das alleinige Sagen haben und das Management oft nur unzureichend kontrollieren können.

Hier ist Weiterdenken und Experimentieren gefragt: darüber, wieso wir Demokratie im politischen Bereich als selbstverständlich betrachten, im wirtschaftlichen Bereich aber skeptisch ansehen, und darüber, welche konkreten Formen der Mitbestimmung funktionieren können oder wo es Hindernisse gibt. Der Vorschlag, dass Manager von Mitarbeitern, oder vielleicht auch anderen Stakeholdergruppen, demokratisch kontrolliert werden sollen, löst heutzutage bei manchen Individuen Entsetzen aus – aber vor ein paar hundert Jahren hat auch der Gedanke an Demokratie im

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politischen Bereich bei so manchen Kommentatoren Entsetzen ausgelöst, besonders bei denjenigen, die den herrschenden Mächten nah standen. Wir sollten uns hier die Fantasie nicht durch den Status Quo einschränken lassen. Denn „das System“ sind letztlich wir alle – und wir müssen uns fragen, wie wir es uns zurückholen können, sodass nicht die Menschen dem System dienen, sondern das System den Menschen. Für eine Kurzfassung der vorgetragenen Argumente siehe auch: Herzog, Lisa, „Mehr Demokratie wagen“, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 4.12.2016, S. 26

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Wandel der Arbeitswelt: Wer ist dabei?

Paulo Kalkhake

Unsere Arbeitsgesellschaft befindet sich inmitten einer tiefgreifenden Revolution. Die Globalisierung hat zu Outsourcing von Routinearbeiten in der Produktion und zu einer Stagnation der Reallöhne in weiten Teilen der Industrieländer geführt. Sich wandelnde gesellschaftliche Wertevorstellungen führen zu neuen Rollenverständnissen und zu stärker individualisierten Konsummustern. Auch die Ansprüche an den eigenen Arbeitsplatz verändern sich: Viele Beschäftigte beginnen die oft hierarchisch und bürokratisch geprägten bisherigen Formen der Unternehmens- und Arbeitsorganisation zu hinterfragen. In vielen Bereichen fordern neue Geschäftsmodelle und digitale Plattformen, die ein enormes Innovationstempo aufweisen, bestehende Unternehmen heraus. Hinzu kommt, dass all diese Entwicklungen interferieren und sich verstärken. Im Zentrum des Wandels der Arbeitswelt steht jedoch die Digitalisierung, als Begriff ein Platzhalter für eine Bandbreite von technologischen Neuerungen. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen dieses digitalen Strukturwandels sind bereits in vielen Branchen sichtbar, wie etwa der Musikindustrie oder dem Taxigewerbe. Andere Branchen hingegen sind bezüglich des disruptiven Ausmaßes der technologischen Entwicklungen in einem früheren Stadium. Grundlage dieses Innovationsschubes ist erstens das Moore’sche Gesetz, also die exponentielle Leistungssteigerung von Computern und die damit verbundende immer größere Leistungsfähigkeit der darauf basierten Informations- und Kommunikationstechnologien. Zweitens, neue Technologien im Bereich der Produktion wie etwa intelligente Robotik oder additive Verfahren (3D-Druck), die neue Prozesstechniken erlauben. Drittens, die zunehmende Vernetzung von Menschen und „smarteren“ (Alltags-) Gegenständen und Produkten im Internet der Dinge. Dies führt zu einer Erweiterung der physischen um eine virtuelle Ebene und einer Verschmelzung dieser Ebenen. Die Kommunikation zwischen Menschen und Gegenständen führt zu einer Vervielfachung der produzierten Daten. Diese erlauben neue Formen der Analyse und Auswertung von produzierten Datenmengen sowie die Vorhersage von Wahrscheinlichkeiten. Sie bilden ebenso die Grundlage für neue Formen der künstlichen Intelligenz, also lernende Algorithmen, die komplexe Probleme lösen können. Die Vergangenheit zeigt, dass mit dem Einzug von der Dampfmaschine bis hin zu computergestützter Produktion, ein immer wiederkehrendes Muster an aussterbenden Berufen und Tätigkeiten erkennbar ist. Gleichzeitig entstanden und entstehen immer wieder neue Berufsbilder. Für die Gesellschaft als Ganzes ist der technologische Wandel Fluch und Segen zugleich: Zum einen könnten Roboter monotone oder

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physisch anspruchsvolle Routinearbeit übernehmen. Zum anderen ist ein solches Automatisierungspotenzial mit Sorgen über Arbeitsplatzverluste verbunden: Massive technologische Veränderungen sind in der Vergangenheit immer wieder auf Widerstand gestoßen - von den Ludditen im England des 19. Jahrhunderts bis zu aktuellen Protesten von Taxifahrerinnen und –fahrern in vielen Ländern gegen UBER und andere Plattformen. Kernpunkt der Debatte scheint das Substituierungspotenzial neuer Technologien mit Blick auf die Automatisierung von Arbeitsplätzen zu sein – bis hin zum Ende der Arbeit. Dieser Beitrag versucht diese Debatte ein Stück weit zusammen zu fassen, ohne dabei den Anspruch zu haben, erschöpfend zu sein. In der Geschichte der Menschheit haben schon immer neue Technologien Wirtschaft und Arbeitswelt verändert. Doch was macht diesen Wandel so besonders? Brynjolfsson & McAfee (2014) sprechen von einer Arbeitswelt der Zukunft, in der neben vielen Tätigkeiten in der Produktion erstmals in der Geschichte auch ein Gros der Dienstleistungen automatisiert werden könnten. Maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz sind bereits heute im Unternehmensalltag angekommen und können einfache, teilweise sogar kreative Wissensarbeit übernehmen. Damit würde ein technologischer Wandel erstmals nicht nur Routine- und Wiederholungsaufgaben von Produktionsarbeitenden automatisieren, sondern darüber hinaus auch komplexere Aufgaben von Wissensarbeitenden betreffen. Dieser zunehmenden Dynamiken im Hinblick auf Änderungen von Tätigkeiten und Verschiebungen bei der Nachfrage zwischen Berufen nehmen sich eine Vielzahl aktueller Prognosen an. Doch es scheint bis jetzt keinen akademischen Konsens darüber zu geben, dass der technologische Wandel mehr Arbeitsplätze schafft, als er redundant werden lässt. Mit Blick auf die USA schätzten Frey und Osborne (2013) die Zahl der Arbeitsplätze, die durch neue Technologien automatisiert werden könnten, auf rund 47%1. Für Europa gehen Prognosen von Arbeitsplatzverlust

zwischen 40% und 60% aus (z.B. Arntz, Gregory, & Zierahn, 2016; Bowles, 2014). Nimmt man an, dass alle Berufe, die theoretisch automatisiert werden könnten, ein identisches Tätigkeitsprofil aufweisen, so könnte das Automatisierungspotenzial Frey und Osborn’sche Ausmaße annehmen. Es sind jedoch nicht ganze Berufe, sondern Tätigkeiten in den Berufen die, automatisiert werden können. Im Allgemeinen bestehen Berufe aus einer Reihe an verschiedenen, sich oft ändernden Tätigkeiten, die schon heute einen laufenden Anpassungsprozess des Beschäftigten voraussetzt. Berücksichtigt man dies, sollte die Zahl der möglichen automatisierbaren Arbeitsplätze sinken. Eine im Auftrag des deutschen Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (2015) 1 Der Begriff Automatisierung bezieht sich auf eine Wahrscheinlichkeit von mindestens 70 Prozent, dass der Arbeitsplatz in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren durch Technologien automatisiert werden könne. 64

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durchgeführte Studie quantifiziert dieses Automatisierungspotenzial auf etwa zwölf Prozent der Beschäftigten in Deutschland. Diese Zahl relativiert sich, bedenkt man, dass über drei Prozent der Beschäftigten in Deutschland jährlich ihren Beruf wechseln. In anderen Ländern ist dieser Anteil z. T. noch deutlich höher (Nisic & Trübswetter, 2012). Darüber hinaus verleitet uns fehlende Vorstellungskraft bei der Debatte um das Ende der Arbeit zu zwei falschen Schlussfolgerungen. Der erste Trugschluss ist es, langfristig von der Endlichkeit von Arbeit auszugehen: In der kurzen Frist mag die Zahl der Arbeitsplätze begrenzt sein. Wenn Teile dieser Arbeitsplätze durch neue Technologien automatisiert werden, steigt vis-a-vis die Zahl der Arbeitslosen. Mit Blick auf die Vergangenheit trugen neue Technologien in der längeren Frist jedoch zum Entstehen neuer Arbeitsplätze in größerer Zahl bei. Deutlich wird dies, wenn man sich die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft in Deutschland anschaut, die in den vergangenen 100 Jahren einem tiefgreifenden technologischen Wandel ausgesetzt war. Arbeitete im Jahr 1900 noch mehr als jeder dritte Erwerbstätige in der Landwirtschaft, lag der Anteil an Beschäftigung in der Landwirtschaft im Jahr 2010 bei etwa zwei Prozent2. Der zweite Trugschluss ist es, davon auszugehen,

dass menschliche Bedürfnisse endlich sind. Es ist uns verwehrt, aus heutiger Sicht, die genauen Auswirkungen neuer Technologie und die daraus resultierenden Bedürfnisse zu erahnen. Die letzten Jahrzehnte zeigen aber, dass diese neuen Berufsbilder und Arbeitsplätze entstehen lassen. Im Zuge der Digitalisierung können aber auch Produkt-, Prozess- und Dienstleistungsinnovationen sowie Produktivitätswachstum zu Preissenkungen führen (Möller, 2015). Damit könnte also insgesamt der Gesamtbeschäftigungseffekt in der Summe durchaus positiv ausfallen.

Bei der Debatte ist ebenfalls zu berücksichtigen, dass nicht alles was möglich ist, tatsächlich aufgrund rechtlicher, ethischer und wirtschaftlicher Hürden auch geschehen wird. So ist z.B. denkbar, dass wir uns bei Dienstleistungen, wie etwa der Pflege älterer Menschen, als Gesellschaft bewusst dafür entscheiden könnten, Automatisierungspotenziale ungenutzt zu lassen. Es liegt an einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess, diese ethischen Grenzen zu bestimmen. Darüber hinaus können auch fehlende rechtliche Rahmenbedingungen eine Hürde für eine neue Technologie sein, die eine beabsichtigte Einführung verzögert oder gar verhindert. Ebenso können marginale Produktivitätsrenditen neuer Technologien gegenüber einer menschlichen Arbeitskraft das Automatisieren betriebs- und volkswirtschaftlich nicht sinnvoll erscheinen lassen. Trotz der geschilderten Prognoseunsicherheiten und erläuterten Hürden wird der technologische Wandel dazu führen, dass Beschäftigte ihren Arbeitsplatz verlieren 2 Deutscher Bauernverband (2012). Situationsbericht 2012/13. Trends und Fakten zur Landwirtschaft.

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und sich neu orientieren müssen. Berufe werden also nur in den seltensten Fällen gänzlich verschwinden, sie werden sich vor allem verändern. Über welche Art von Arbeitsplätzen sprechen wir? Mit Blick auf den technologischen Wandel unterscheidet Goos, Manning, & Salomons (2014) bei Arbeitsplätzen zwischen vier verschiedenen, grundlegenden Tätigkeitprofilen. Erstens, Jobs mit hohem manuellen Routinegrad und niedrigen Löhnen, z. B. Hilfsarbeiter in der Produktion oder Logistik, die vor allem von Geringqualifizierten ausgeübt werden. Zweitens, Berufe, die einen geringen Routinegrad aufweisen, aber einen hohen Anteil an manuellen Tätigkeiten, z.B. ein Facharbeiter. Drittens, Tätigkeitsprofile, die sich durch einen hohen Routinegrad von nicht-manueller Arbeit auszeichnen. Hierzu gehören beispielsweise administrative Unterstützungen im Büro oder die Buchhaltung. Zuletzt, Berufe, die ein hoher Anteil an wissensbasierten NichtRoutinetätigkeiten auszeichnet. Dazu gehören insbesondere interaktive und analytische Tätigkeiten, wie z. B. Unternehmensberatung oder Architektur. Nimmt man an, dass durch die Digitalisierung insbesondere die Nachfrage nach Routine-Tätigkeiten im mittleren Qualifikations- und Lohnbereich, wie Bank- oder Versicherungsfachleute oder Warenprüfer, zunehmend sinken wird, während die Nachfragen an den beiden Polen, Gering- und Hochqualifizierte, steigen wird, lässt sich eine Lohn- und Beschäftigungspolarisierung festmachen (Autor, 2015). Bedingt durch Reformen zum Ausbau der Beschäftigung im Niedriglohnbereich, dem Outsourcing und steigender Nachfrage nach personalisierten Dienstleistungen, konnte das Phänomen der Polarisierung bereits in den 1990er Jahren beobachtet werden. Für die letzten Jahre hingegen finden aktuelle Studien weniger Evidenz (Eichhorst et al., 2015). Dennoch, diese technologieinduzierte Umverteilung von Arbeitsplätzen könnte starke gesellschaftliche Auswirkungen haben: Denn besser qualifizierte Beschäftigte profitieren in der Regel von technologischem Wandel, der Wandel wirkt also eher komplementär, während er bei Geringqualifizierten eher substituierend ist. Denkbar ist also eine dualisierte Arbeitswelt, indem ein großer Teil der Bevölkerung einfache Nicht-Routine-Tätigkeiten mit entsprechend geringer Bezahlung ausübt, die wir einfach noch nicht automatisieren können oder wollen, während ein anderer, kleinerer Teil an Hochqualifizierten kreativen und analytischen Tätigkeiten nachgeht. Die Mitte der Arbeitsgesellschaft könnte durch den technologischen Wandel verschwinden bzw. tendenziell eher in den unteren Bereich wandern. Der Rückgang dieses Bevölkerungsteils und der damit zusammenhängenden steigenden Ungleichheit hängt in erheblichem Maße von der Geschwindigkeit des technologischen Wandels gegenüber einer Bildungsexpansion in allen Bereichen ab. Technologien bieten zwar die Chance, den Wohlstand zu vergrößern, das ist

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meiner Meinung nach aber nicht das entscheidende Problem. Für mich formuliert die Digitalisierung aufs Neue die entscheidende Frage der Verteilung, denn sie stellt solidarisch und paritätisch finanzierte staatliche Sicherungssysteme unter enormen Druck. Es stellt sich daher die Frage, welche Verteilungsmechanismen denkbar sind, damit alle Menschen vom technologischen Wandel profitieren und die Potenziale der neuen Technologien für den gesellschaftlichen Fortschritt genutzt werden können. Dazu muss eine gesellschaftliche Debatte angestoßen werden, in der die neuen Gestaltungsspielräume, die sich durch die digitalen Technologien ergeben, ausgelotet werden und Rahmenbedingungen definiert werden. Mehr denn je stellt sich für Politik und Gesellschaft zudem die Frage, wie die Beschäftigungsfähigkeit aller Teile der Bevölkerung auch in Zukunft erhalten werden kann. Korrespondierende Aufgaben sind etwa die Unterstützung des Einzelnen bei der Erschließung neuer Beschäftigungsfelder und insgesamt eine Ausrichtung der Arbeitsmarktpolitik auf die zunehmende Dynamik. Das erfordert Anpassungs- und Gestaltungsbereitschaft von allen Beteiligten. Nur wenn in diesem Bereich Fortschritte gemacht werden, ist ein Szenario ohne Beschäftigungsverluste denkbar. Es braucht ein neues Weiterbildungsverständnis, in dem lebenslanges Lernen eine Schlüsselrolle einnehmen wird – nicht nur für Geringqualifizierte, sondern auch für Fachkräfte. Wie in diesem Text erläutert, wurde den Szenarien um das Ende der Arbeit in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit geschenkt. Es ist eine für manch einen verlockende, prophetische Vision. Erwerbsarbeit wird aber weiterhin der Mittelpunkt unseres gesellschaftlichen Daseins bleiben. Es ist darum an der Zeit, ein neues idealtypisches Szenario einer Arbeitswelt der Zukunft zu entwickeln. Es sieht eine um Technologien ergänzte, humanere Arbeitswelt vor, in der Mensch und Maschine in Entscheidungen kooperieren und komplexe Situationen gemeinsam lösen. Technologie kann den Menschen in vielen Situationen ermächtigen, leistungsfähiger zu sein, z.B. bei Berechnungen oder dem Speichern von Wissen. Das nichtlineare, intuitive, kreative menschliche Denken und Handeln, lässt sich bisher aber nur schwer durch Technologien ersetzen. Bei richtiger Ausgestaltung wird der technologische Wandel vielen Beschäftigten deutlich größere Handlungsspielräume ermöglichen, z.B. flexibleres Arbeiten und damit eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatem, weniger gesundheitsschädliche Routinetätigkeiten, und damit lernförderliche Arbeitsumgebungen. Der digitale Wandel stellt Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vor vollkommen neue und komplexe Herausforderungen. Er verändert die Art und Weise, wie wir zukünftig lernen, arbeiten, wirtschaften und kommunizieren. Sich einem

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technologischen Determinismus hinzugeben und den Fortschritt bedingungslos zu akzeptieren, wäre fahrlässig. Diesen Fortschritt zu stoppen wäre ein zweckloses Unterfangen, denn es würde ebensowenig dem Anspruch einer innovativen Gesellschaft gerecht werden und ließe Möglichkeiten für gesellschaftlichen Fortschritt ungenutzt. Stattdessen sollte es gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein, alle Menschen dazu zu befähigen, die Vorteile der neuen Arbeitswelt zu nutzen.

Literatur Autor, D. H. (2015). Why are there still so many jobs? The history and future of workplace automation. The Journal of Economic Perspectives, 29(3), 3-30. Arntz, M., T. Gregory und U. Zierahn (2016), “The Risk of Automation for Jobs in OECD Countries: A Comparative Analysis“, OECD Social, Employment and Migration Working Papers, No. 189, OECD Publishing, Paris. Bonin, H., Gregory, T. und Zierahn, U. (2015): Übertragung der Studie von Frey/ Osborne (2013) auf Deutschland, Kurzexpertise im Auftrag des BMAS, Mannheim. Bowles, J. (2014), The Computerization of European Jobs, Bruegel, Brussels. Brynjolfsson, E., und McAfee, A. (2011). Race against the machine. Digital Frontier, Lexington, MA. Eichhorst, W., P. Arni, F. Buhlmann, I. E. Isphording und V. Tobsch (2015): Wandel der Beschäftigung: Polarisierungstendenzen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. IZA Research Report No. 68. Frey, C.B. und M.A. Osborne (2013), The Future of Employment: How Susceptible are Jobs to Computerization?, University of Oxford. Goos, M., A. Manning und A. Salomons (2014), “Explaining Job Polarization: Routine-Biased Technological Change and Offshoring”, The American Economic Review, 104(8), pp. 2509-2526. Möller, J. (2015): Verheißung oder Bedrohung? Die Arbeitsmarktwirkungen einer vierten industriellen Revolution. IAB-Discussion Paper Nr. 18, Nürnberg. Nisic, N., & Trübswetter, P. (2012). Berufswechsler in Deutschland und Großbritannien. SOEPpapers on multidisciplinary panel data research, 442.

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PREKÄRES SCHAFFEN: Die Technologische Utopie des Makings und ihre Folgen Silvia Lindtner

ÜBERSICHT Eine Ansammlung von Methoden der zeitgenössischen technologischen Innovation wie das “design thinking”, Inkubatoren für Start-ups und “Makerspaces” werden global als eine hoffnungsvolle Intervention in prekären Arbeits- und Lebensbedingungen zelebriert, die neoliberale und kapitalistische Systeme mit sich brachten. Die letzten Jahre sahen unzählige Eröffnungen von neuen kreativen Stätten in Regionen, die sich politisch und wirtschaftlich stark von den USA und Europa, aber auch von Indonesien, Korea, China, Peru und Ghana unterscheiden: Makerspaces und Inkubatoren an Unis, in Schulen, in Bibliotheken und sogar in industriellen Unternehmen gibt es heute tausendfach. Sie werden von Medien, Unternehmern und Investoren als Räumlichkeiten der Möglichkeit, der Zukunft und des Aufbruchs dargestellt, weg von alten sozialen Verhaltensmustern und wirtschaftlichen Ansätzen. Das Schaffen, mit den eigenen Händen, oder das Making wie es oft über Regionen hinweg genannt wird, verspricht eine konkrete und handfeste Herangehensweise an die Problematiken unserer heutigen globalen Gesellschaft: passive Konsumkultur, Arbeitslosigkeit, Umweltprobleme und eine unsichere Zukunft. Making, da sind sich die meisten einig, ermöglicht die Kultivierung eines unternehmerischen Geistes und einer Ideologie, die vielen Menschen ermöglichen soll, ihr eigenes Schicksal, so wie das der weiteren Gesellschaft, selbst in die Hand zu nehmen. Wenn Schulen und Universitäten ihre Lehrpläne auf dieses Making umstellen, lehren sie also junge Leute nicht nur, wie man ein neues Unternehmen gründet und es erfolgreich an mögliche Investoren weiterverkauft, oder wie man einen Lötkolben in der Hand hält um selbst zu basteln und zum Maker zu werden, sondern bringen ihnen auch bei, dass ihre eigene Zukunft und die Zukunft ihrer Gesellschaft und Nation von der eigenen Fähigkeit abhängt, sich in einen Maker, also einen unternehmerischen Schaffer, zu entwickeln. Sie bringen ihnen also bei, dass eine neoliberale Haltung, d.h. die Idee des Auf-sich-selbst-verlassens und der Selbstverwirklichung, die man erreichen kann, wenn man nur will, die einzige mögliche Lösung und Herangehensweise an zeitgenössische Probleme ist. In diesem Artikel behandle ich die Frage wie es geschah, und warum es gerade jetzt geschah, dass dieses Making als eine Art des unternehmerischen und selbstverantwortlichen Schaffens als so hoffnungsvoll verstanden wurde, obwohl es genau die prekäre Lebensweise weiter verbreitete, die es versprach, zu verbessern und zu eliminieren. Zwecks meiner Argumentation verwende ich Material meiner sechsjährigen Forschungsarbeit zum Thema Making, Start-up-Kultur und technologischer Innovation. Mein spezieller

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Die Technologische Utopie des Makings und ihre Folgen

Fokus ist das Making und das unternehmerische Schaffen in China, vor allem in Bezug auf dessen globale Formulierungen und Visionen, die sich über Regionen hinweg erstrecken. Ich zeige auf, dass die globale Vision des Makings, als eine konkrete und unternehmerische Herangehensweise, dramatische Folgen für Ausbildung, Arbeit und Arbeitskräfte mit sich bringt, welche aber momentan nur wenig beachtet werden, gerade weil die Rhetorik der Möglichkeiten, der Hoffnung und der technologischen Utopie diese Folgen in den Schatten stellt. Einleitung Im Januar 2015 reiste der Premierminister von China, Li Keqiang 李克强 , in die Stadt Shenzhen, Guanddong, im Süden Chinas. Ein zentraler Zweck seiner Reise war es, Shenzhens ersten Makerspace namens Chaihuo (柴火), der 2011 von Eric Pan und Kevin Lau begründet wurde, zu besuchen. Wie auch andere diverse Makerspaces in anderen Regionen, hatte es sich Chaihuo zur Aufgabe gemacht, unter dem Thema Open Source Hardware und Making verschiedenste Leute zusammenzubringen: Künstler, Geeks, technologisch interessierte Bastler, Designer, Unternehmer, und viele mehr. Nur wenige Wochen nach Li Keqiangs Besuch bei Chaihuo, kündigte der Premierminister eine neue nationale Reform an mit dem Titel „MassenMakerspace 众创空间 Massen-Unternehmertum – Massen-Innovation” (kurz: Massen-Makerspace-Initiative). Zentrale Vision der neuen Initiative war es einen Maker-Ansatz für China zu entwickeln, der er es ermöglichen sollte, eine Haltung des Selbermachens und des selbstständigen Unternehmertums unter den Massen zu verbreiten, und dies sollte es wiederum vielen Menschen ermöglichen, selbst und aus eigenem Antrieb technologische und wissenschaftliche Innovationen zu vollbringen. In einer Rede am Shanghai Pujiang Innovationsforum 2015 beschrieb der chinesische Wissenschafts- und Technologieminister die neue Policy wie folgt: „Das ganze ist Teil des ‘New Normal’; wir müssen den Wissenstransfer zwischen akademischer Forschung und der kommerziellen Produktewelt verbessern; die Wissenschaft sollte der Wirtschaft dienen […] Open Source und Open Hardware bieten neue Möglichkeiten an, diese Innovationsstrategie zu verwirklichen. Wir wollen, dass die Gesellschaft das Crowdsourcing und das Massen-Unternehmertum annimmt, damit Ressourcen besser verteilt werden[…] Es wird der Mehrheit, anstelle von nur den Privilegierten, ermöglichen ihren persönlichen Lebenstraum zu verwirklichen.” Der Premierminister hier bezieht sich auf Chinas sogenanntes New Normal, ein Begriff, der von Politikern seit 2014 verwendet wird um Chinas neue soziale aber vor allem auch wirtschaftliche Wirklichkeit zu schildern: zum ersten Mal seit Chinas wirtschaftlicher Öffnung im Jahr 1978, so berichten westliche aber auch chinesische Medien, würde China eine signifikante Verlangsamung seines Wirtschaftswachstums

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erleben. Diese Verlangsamung des Wachstums geht einher mit Furcht vor politischer Instabilität und Arbeitslosigkeit. In den Formulierungen des New Normals von chinesischen Politikern wird eine Ausweitung von prekären Arbeitssituationen und Arbeitsbedingungen (d.h. ein dramatischer Rückgang von sicheren Arbeitsplätzen, Rentenvorsorge, und Gesundheitsversicherungen) und eine Zunahme von informeller Arbeit mit kurzen Laufzeitverträgen (Kuruvilla, Lee and Gallagher 2011), wortwörtlich als Teil des normalen Lebens dargestellt. Prekäres Schaffen wurde also zunehmend normalisiert, während Making positioniert wurde, als eine Art Werkzeug, um in diesem New Normal zu (über)leben. Als die Massen-Makerspace-Initiative in Kraft trat, begannen lokale Regierungen über ganz China hinweg in neue Einrichtungen wie Makerspaces, Inkubatoren und Fablabs zu investieren. Universitäten, Schulen, und ironischerweise sogar Fabriken wurden mit Räumlichkeiten ausgestattet, die es Studenten und Arbeitern erlauben sollten, nicht nur zu basteln, zu löten, und mit CNC Maschinen, wie 3D Druckern und Lasercuttern, zu arbeiten, aber auch von einenander zu lernen wie man seine Ideen und Prototypen richtig an Investoren verkauft. Der Ton der neuen Politik unterschied sich stark von der politischen Rhetorik zuvor: „Maker zeigen die Vitalität des Unternehmertum und die Innovation der Bevölkerung. Diese Kreativität wird eine langanhaltende Maschine für Chinas zukünftiges wirtschaftliches Wachstum sein,” erklärte Premier Li Keqiang als er von seinem Besuch im Shenzhen Makerspace Chaihuo zurück nach Peking kam, und fügte folgendes hinzu, indem er sich auf die Bedeutung des Namen des Makerspaces berief (der chinesische Name Chaihuo bedeutet Brennholz): „Mein Ziel ist es, das Feuer der Innovation mit noch mehr Holz zu schüren.” Der Premier klang enthusiastisch und optimistisch - eine Formulierungsweise, die ich nur selten zuvor von chinesischen Politikern gehört hatte. Im Februar des gleichen Jahres wurde die neue Reform offiziell von Cao Jianlin 曹建林 , dem stellvertretenden Direktor des Wissenschafts- und Technologieministeriums, angekündigt, und als eine klare Veränderung Chinas wirtschaftlicher Entwicklung bezeichnet: „China wechselt sein Entwicklungsmuster insofern, dass der Schlüsselträger der wirtschaftlichen Veränderung Innovation sein wird, und die Maker-Wirtschaft ihr Herzstück.” Warum war Making so reizvoll für die chinesische Regierung? Wie kam es dazu, dass es als Intervention in Chinas “New Normal” der prekären Lebens- und Arbeitswelt verstanden wurde? Und warum wurde Making mit Unternehmertum in Verbindung gebracht? Um die Motivationen und die Folgen dieser neuen Politik des Makings und des Unternehmertums in China zu verstehen, müssen wir zunächst die globale Vision und Anziehungskraft des Makings beleuchten:

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Die Globale Vision des Makings Am Anfang meiner Forschung, im Jahr 2009, gab es nur sehr wenige, die sich mit Making, Makerspaces oder Inkubatoren beschäftigten. Nur ein paar Jahre später war alles anders. Schon im Jahre 2011 stieg die Anzahl von Makerspaces von ein paar wenigen auf Tausende, und das auf fast allen Kontinenten. Die rasant zunehmende Anzahl und Beliebtheit von Makerspaces führte dazu, dass immer mehr Menschen davon überzeugt wurden, dass wir in der Ära der “Global Maker”-Bewegung leben (Lindtner et al. 2014). Viele von denen, die sich mit Making zu identifizieren begannen, verstanden ihre eigene Arbeit als wesentlichen Teil der und Beitrag zur Maker Bewegung (Anderson 2012). Diese Idee einer “Global Maker”-Bewegung wurde von Veröffentlichungen wie dem Make Magazine und Chris Anderson’s Buch “Makers” (2012) beschleunigt, aber auch von Veranstaltungen wie die sich seit 2008 global verbreitende Maker Faire. Veröffentlichungen über Making beschleunigten die Formierung einer globalen Maker-Identität. Immer mehr Journalisten begannen über Maker Faires und Makerspaces zu berichten, und zogen somit nicht nur TechnologieNarren, sondern auch Familien, Erzieher und Firmen als Sponsoren an. All das führte dazu, dass sich die Idee des Makings selbst veränderte. Während Making am Anfang vor allem als eine neue Art der innovativen Technologieentwicklung zelebriert wurde, die vorherige Ansätze des Open Source Software, des Hackings und der Peer Production weiterentwickelte, wurde es bald und immer mehr als der ideale Pfad zum Unternehmertum und als eine Art Intervention in den Status-quo gesehen. Im Jahr 2012, zum Beispiel, begann die Regierung, unter dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama, Making offiziell als ein ideales Projekt zu unterstützen um, wie es Präsident Obama damals formulierte: „um zu garantieren dass die Zukunft der industriellen Produktion in Amerika geschmiedet wird (“to guarantee that the future of manufacturing will be made in America”).” Und während China seine MassenMakerspace-Initiative über die Nation hinweg implementierte, begann Taiwan, Making als sozialpolitisches Projekt zu avancieren, was dem Land ermöglichen sollte, Unabhängigkeit von China zu garantieren (Lindtner et al. 2016). Zur gleichen Zeit wurden in Europa “Digital Fabrication” und Makerspaces in EU-Initiativen integriert, die darauf ausgelegt waren eine weitflächige Digitalisierung der Arbeit und der traditionellen Produktion umzusetzen (Lindtner et al. 2015). Politiker, Erzieher, Investoren, und Firmen in den unterschiedlichsten Regionen waren sich also einig, dass Making ein neuartiger und einzigartiger Ansatz für die Wiederbeschaffung von Arbeitsplätzen und die Ankurbelung der Wirtschaft war, indem es Leute in den unterschiedlichsten Berufen lehrte unternehmerisch zu werden. Dieser Diskurs von Making war optimistisch, und sogar utopisch. Er war auf die Möglichkeiten fokussiert, die technologische Produktion mit sich bringen sollte und

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war mit den Aspirationen verknüpft, ganze Regionen und Nationen aufsteigen zu lassen. Dies wurde sowohl in den Formulierungen eines Wiederbelebens des “made in America” sichtbar, als auch in Chinas Ambitionen sein Image von “made in China” endlich abzuschütteln und mit einem “created in China” zu ersetzen (Keane 2010, Lindtner 2012, Yang 2016). Innerhalb von nur vier Jahren wurde Making nicht nur als ein neuer Ansatz zur Technologieentwicklung gesehen, sondern auch als Lösung von sozialen und wirtschaftlichen Problemen unterschiedlichster Regionen und Nationen. Um zusammenzufassen: Making stieß weitgehend auf Begeisterung, weil es von den unterschiedlichsten Akteuren, von leidenschaftlichen Makern, Bastlern, und Künstlern, bis hin zu Politikern und Firmen wie Intel, IBM und Bosch, als ein konkretes und handfestes Herangehen verstanden wurde, das es ermöglichen sollte, mit neuen Arbeits- und Lebensweisen zu experimentieren. Dies wiederum, wurde in Zeiten der zunehmenden wirtschaftlichen Unsicherheit und Instabilität dringend notwendig. Die Verbreitung von Making geschah also zu einem Zeitpunkt, zu dem sich immer mehr Menschen kritisch gegenüber früheren Ideologien wie die der kreativen Arbeit und der Wissenswirtschaft äußerten. Die Argumente der Maker Bewegung sprachen somit einen Zeitgeist an, d.h. eine sich verbreitende Übereinstimmung, dass vorherige Ansätze in der Kreativ-, Technologie- und IT-Branche enttäuscht hatten. Während sich in der “dot.com”-Ära die Idee verbreitet hatte, dass das Eingehen von Risiken notwendig war, um beruflich erfolgreich zu sein (Neff 2012), wurden seit der finanziellen Wirtschaftskrise 2008 immer mehr Stimmen laut, die die zunehmend neoliberalen und prekären Arbeitsumfelder kritisch betrachteten (Davis 2016, Rosenblat and Stark 2015). Making, so argumentierten viele, könne es ermöglichen, in genau diese problematischen politischen und gesellschaftlichen Strukturen zu intervenieren, da es einen konkreten Ansatz dazu bot. Die Zunahme von “digital labor” (Scholz 2012) und prekären Arbeitsumfeldern, nicht nur für gewerbliche Arbeiter sondern auch für Kreativschaffende (MacRobbie 2016), machte klar, dass Visionen wie die der kreativen Gesellschaft (Florida 2002) nicht das geliefert hatten was sie einst versprachen. Die Verlagerung von Fabrikarbeit vom Westen in Regionen der sogenannten Entwicklungswelt und die damit einhergehende Dequalifizierung der Arbeitskraft im Westen brachten ansteigende Arbeitslosenraten mit sich, während Jobs im Kreativ- und IT-Bereich verhältnismäßig gering ausfielen oder ganz ausblieben (Davis 2016). Making erlebte genau in diesem Moment Aufschwung, als prekäre Arbeitswelten und Unsicherheit vor der Zukunft sich in ein zentrales politisches und gesellschaftliches Thema verwandelt hatten. Making wurde sozusagen positioniert, also eine sozialtechnische Intervention in den Status Quo. Das Lernen von neuen Hardware-Plattformen wie

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Arduino oder Raspberry PI wurde nicht nur als Zugang zu den inneren Funktionen unserer elektronischen Geräte zelebriert, aber auch, und das ist umso wichtiger, als Zugang zu den inneren Funktionen ganzer Gesellschaften und Wirtschaften. Vor allem Makerspaces spielten da eine zentrale Rolle. Als gemeinschaftlich-nutzbare Räumlichkeiten boten sie Maschinen, Werkzeuge, Materialien und Plattformen für das gemeinsame Basteln und Bauen an. Dieses Experimentieren mit den Werkzeugen und Maschinen der Hardware brachte eine Haltung des Experimentierens im weiteren Sinne mit sich; wenn man Technologie beherrscht und von innen heraus versteht, kann man auch gesellschaftliche Dynamiken verstehen und manipulieren, da diese ja immer mehr von Technologien und dem Digitalen bestimmt werden – so argumentieren viele Anhänger des Makings. Politiker, Firmen und Erzieher begannen dementsprechend zu investieren, womit Making immer mehr an Bedeutung und Ansehen gewann. Während “knowledge work” das Zuhause in einen Arbeitsplatz verwandelte (Gregg 2011) und den Menschen in einen risikofreudigen Unternehmer (Neff 2012), so verwandelte diese weit übergreifende Begeisterung am Making, unternehmerisches Schaffen in eine Art Lebensform. Genau weil es beim Making um ganz konkrete und anfassbare Dinge und Technologien geht, und um das Versprechen, verborgene Prozesse zu öffnen und für viele Menschen zugänglich zu machen, wurde es zu so einem zentralen und weit verbreiteten Ansatz, zu einem Zeitpunkt, als immer mehr Menschen die Welt als am Ende ihrer Zeit sahen (Žižek 2011). Egal wo man hinsah gaben Nachrichten über den globalen Klimawandel, politische und wirtschaftliche Instabilität, Kriege mit globalen Nachwirkungen, Arbeitslosigkeit, usw. den Eindruck der Machtlosigkeit und des Ausgeliefertseins. Making etablierte sich genau in diesem Moment als eine hoffnungsvolle und techno-utopische Intervention, d.h. ein “prototyping” von konkreten Alternativen, welches jeder anwenden und vollbringen könne. Dale Dougherty, der Begründer von Make Magazine und der Maker Faire, brachte dies in einer Spezialausgabe des Magazins im Jahr 2009 wie folgt auf den Punkt: “Everybody I know wants to make the world a better place. The trouble is how to get started. Like all things DIY, the place to start is with yourself – you and your family’s home. In this ReMake America issue, we look at ways you can monitor the energy efficiency of your house, create an experimental garden to make it easier to grow your own food, use solar to heat water, and replace ordinary lighting with LED solutions. All these project ideas, coupled with the energy and enthusiasm of makers, will create a sustainable future for America and the world.” Befürworter des Makings wie Dougherty demarkierten Making als einen neuen Ansatz der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, und bewerteten dabei auch

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neu, wer Expertise hatte um diese Entwicklung durchzuführen: jeder. Slogans der Maker Faire wie “Everybody is a maker” sprechen von diesem Ideal der Ermächtigung des Einzelnen, etwas zu tun und die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. In dieser Formulierung ist Making allerdings nur schwer zu unterscheiden von der neoliberalen Rhetorik und Logik, die es versprach zu ersetzen. Die Idee der Selbstverwirklichung - basierend auf eigenem Können und Schaffen - die zentral in der Maker-Bewegung mitschwingt, verkaufte quasi eine neoliberale Logik (d.h. das Auf-sich-selbst-verlassen und Sich-selbst-verwirklichen) als hoffnungsvoll und als Intervention des Alten. Als immer mehr Unternehmen, Universitäten und Schulen Making als Ansatz des kreativen und unternehmerischen Lernens positionierten, verwandelte sich Making zusätzlich von einer Möglichkeit in ein Muss: um erfolgreich zu sein, musste man es schaffen, sich selbst als Maker und Schaffender zu verwirklichen. Und nur wer dies schaffte (durch soziale, wirtschaftliche oder andere Privilegien) durfte dann auch an den neuen Umwälzungen der Gesellschaft teilnehmen. Kreatives China Es war genau diese globale Feel-Good-Rhetorik des Makings, die sich auf Möglichkeiten, Veränderungen und konkrete Alternativen konzentriert, die chinesische Politiker, wie viele andere, so sehr ansprach. Making versprach endlich das umzusetzen, was die chinesische Regierung schon seit Jahrzehnten so ehrgeizig angestrebt hatte: die Etablierung Chinas als globales Zentrum der Innovation, der Kreativität und des Wissens. Seit 2001, als China der WTO beitrat, war die chinesische Regierung damit beschäftigt, China als eine kreative Wirtschaft neu zu positionieren. Es ging um sehr viel. Der Aufbau eines kreativen Chinas, so versprachen es sich Chinas Politiker, würde es dem Land endgültig ermöglichen, sich von der vergangenen und weiterhin drohenden westlichen Kolonialherrschaft und dem Imperialismus zu befreien. Dieses Vorhaben ist auch heute noch stark geprägt von der Geschichte der Opium-Kriege, die China 1842 gegen England verlor (O’Connor 2012, O’Donnell, Wong and Bach forthcoming), ein Geschehen, das chinesische Politiker 1980/90 erneut aufnahmen und als nationale Demütigung ins kollektive Gedächtnis zurückriefen. Das Aufbauen eines kreativen Chinas war also eine Art Experiment, um Chinas Beziehungen zum Westen neu zu definieren. Der Fokus auf kreatives und unternehmerisches Schaffen in China muss also nicht nur als eine Form der Arbeitsbeschaffung und Wirtschaftsankurbelung verstanden werden, wie das zum Beispiel in England der Fall war (McRobbie 2016), sondern vor allem als eine Transformation der Nation, zu der jeder einzelne Chinese beitragen sollte. Während die chinesische Regierung ironischerweise westliche Berater aus England und Australien heranzog, um ein Kreatives China zu

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entwickeln, verstand es das Projekt als Kampf gegen den westlichen Imperialismus. Zwischen 2004 und 2008 wurden im Namen der Kreativität ganze Stadtviertel und Städte umgestaltet. Alte Fabriken und Wohnhäuser in Peking und Shanghai wurden in sogenannte “Creative Industry Clusters” verwandelt. Hunderttausende von der ärmeren Bevölkerungsschichten verloren dadurch ihre Lebens- und Arbeitsräume in Chinas großen Städten und auch der Erfolg der Creative Clusters blieb aus. Kleine, informellere Projekte, vor allem im künstlerischen Bereich, konnten sich kaum die hohen Mieten der Clusters leisten und somit wurden sie mit schon etablierten, vorwiegend westlichen IT- und Designfirmen gefüllt. 2012 war klar, dass der Ansatz der Creative Industry Cluster hauptsächlich ein Gentrifizierungsprojekt, aber ansonsten gescheitert war (Greenspan 2014). Was im Zuge des Aufbaus eines Kreativen Chinas allerdings erfolgreich war, war eine zunehmende Akzeptanz dafür, dass die Zukunft Chinas von den Anstrengungen jedes einzelnen Bürgers abhängig ist. Chinesische Politiker verlangten von Bürgern, selbstständige flexible Arbeiter zu werden und führten das vermeintliche Fehlen der Kreativität in China auf die „niedrige Qualität” der chinesischen Bürger und deren Versagen sich selbst zu modernisieren zurück (Greenhalgh 2010). Zur gleichen Zeit wurde Kreativität als eine Ermächtigung des Einzelnen verkauft. Dies bedeutete allerdings keine Zunahme der persönlichen Freiheit. Vielmehr wurde die Politik eines kreativen Chinas dazu verwendet, eine neoliberale Politik gekonnt mit staatlicher Kontrolle zu verknüpfen. Die amerikanische Anthropologin Susan Greenhalgh fasst dies wie folgt zusammen: “The embrace of human-centered techniques of governance that have become the hallmark of the Hu Jintao–Wen Jiabao administration […] which like the neoliberal methods of good governance used elsewhere, work in part by promoting entrepreneurial, self-directed private selves […]” Chinas Kreativprojekt war ein Experimentieren mit neuen politischen und gesellschaftlichen Mustern und mit der Nation und ihrer Regierungsform selbst, die allmählich sowohl prekäre und neoliberale Tendenzen als auch zunehmende autoritäre Kontrolle entwickelte. Genau diese Methode des Experimentierens mit der Nation selbst, mit Regierungsformen und mit der Rolle der Staatsbürgerschaft wurde noch weiter zementiert, und zwar mit der 2015 Massen-Makerspace-Initiative. Die neue Initiative portraitierte die Selbstverwirklichung und das unternehmerische Schaffen des Einzelnen als essentiell für die Zukunft Chinas. Prekäre Arbeitsbedingungen wurden normalisiert, indem sie für die Globalisierung Chinas und die Befreiung von nachhaltigem westlichem Imperialismus als notwendig dargestellt wurden. Der Fokus auf Making brachte also eine Veränderung mit sich, nicht nur in der politischen Rhetorik sondern auch in der chinesischen Regierungsform. Begriffe wie Kreativität und Kulturproduktion wie

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auch die Tendenz Chinas, zurückzublicken, und seine Vergangenheit aufzuarbeiten, wurden durch eine Sprache des Optimismus, der Innovation, des unternehmerischen Schaffens, und einen Blick in Chinas Zukunft ersetzt. Während die Politik des kreativen Chinas nur bestimmte Bevölkerungsgruppen unterstützte, wurde die Massen-Makerspace-Initiative als eine Möglichkeit für jeden einzelnen dargestellt. Die Idee eines globalen und Kreativen Chinas wurde auf einmal handfest und konkret. Als Chinas Premierminister Li Keqiang von Chinas “Maker Kultur” zu sprechen begann (chuangke wenhua 创客文化 ) betonte er die Wichtigkeit von konkreten Leistungsangeboten, Plattformen und Technologien, die es Leuten ermöglichen sollten, innovativer zu werden. Die Implementierung von Makerspaces, meinte er, würde genau so ein konkretes Umfeld kreieren, d.h. sie würden helfen „ein Umfeld der Innovation und des Unternehmertums zu verbreiten und es vielen Menschen ermöglichen ihre Träume zu verwirklichen.” Als China begann, Making in seine nationalen Regierungsformen zu integrieren, entfernte es sich immer weiter von dem Wunsch, nur ein kreatives China zu sein. Dies wurde durch eine Politik des ständigen Experimentierens mit dem, was China sein könnte oder sein sollte, ersetzt. Dieser Ansatz eines sich ständig selbst verändernden und selbst experimentierenden Chinas wurde von den Politikern als Selbstverwirklichung der Massen dargestellt, wobei die Zukunft der Nation von den Fähigkeiten des Unternehmertums und der persönlichen Einsatzbereitschaft des Einzelnen abhängig gemacht wurde. Making wird, wie dieser Artikel gezeigt hat, über Regionen hinweg als eine Methode der Zukunft, des Fortschritts und als Möglichkeit für jeden einzelnen zelebriert (“everybody is a maker”). Diese Rhetorik der Möglichkeit und der Veränderung erlaubt nur selten eine kritische Auseinandersetzung mit den neoliberalen Tendenzen des Makings und der prekären Arbeitsweise, die Making in seiner momentanen Form weiter verstärkt. Genau weil die Rhetorik des Makings hoffnungsvoll ist und Veränderung verspricht, hat Making so viel finanzielle, politische und wirtschaftliche Unterstützung gefunden. Wichtiger denn je ist es daher nicht nur die Rhetorik der Möglichkeit, sondern auch die damit einhergehende Normalisierung des prekären Schaffens genau zu hinterleuchten. Dies bedarf auch einer sorgfältigen Auseinandersetzung mit dem, was Making bereits verändert hat, anstelle von einem Denken in Möglichkeiten, welches Making immer nur in der Zukunft und nie im Jetzt situiert. Kritische Auseinandersetzungen mit technologischen Utopien wie dem Making sind wichtiger denn je. Die aktutellen Diskussionen über Manipulierung der Wahlen in Amerika und die Zunahme an unwahren Nachrichten, die über soziale Medien wie Facebook proliferiert werden, haben bestätigt was Forscher im Gebiet der Sozialen Studie der Wissenschaft und Technologie (Science and Technology Studies) schon seit über 30 Jahren aufzeigten: Technologien und technologische Produktion

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sind nicht neutral, und außerdem durch und durch politisch. Die Politik des Makings braucht genau so eine kritische Analyse, die aber zur gleichen Zeit die hoffnungsvollen Ansätze des Makings, dessen idealistische Träume und das Zugeständnis zum Handeln und zur Intervention, ausbaut, um tatsächliche (und nicht nur imaginäre) Stützen und Zonen der Sicherheit zu kreieren, in Zeiten der wachsenden Instabilität und Unsicherheit.

Zitierte Arbeiten Anderson, C. 2012. Makers. The New Industrial Revolution. Crown Publishing Group, New York. Davis, J. 2016. The Vanishing American Corporation. Navigating the Hazards of a new Economy. Berret-Koehler Publishing. Florida, R. 2002. The Rise of the Creative Class. Basic Books. Greenhalgh, S. 2010. Cultivating Global Citizens: Population in the Rise of China. Cambridge, MA: Harvard University Press. Gregg, M. 2011. Work’s Intimacy. Polity Press. Harvey, D. 2005. A brief history of Neoliberalism. Oxford University Press Keane, M. 2010. Reclaiming China’s former soft power. Journal of the Oriental Society of Australia, 42, 50-65. Keane, M. 2012. Creative Industries in China. Art, Design and Media. Queensland University of Technology Press. Keane and Chen, M. Forthcoming. Problematizing the Cultural/creative city in China. Kuruvilla, S., Lee, C.K., and Gallagher, M.E. (eds). 2011. From Iron Rice Bowl to Informalization. Markets. Workers and the State in a Changing China. Cornell University Press. Lindtner, S. 2012. Cultivating Creative China. Making and Remaking Cities, Citizens, Work, and Innovation. UMI Dissertation Publishing, Proqüst. Lindtner, S., Bardzell, S., and Bardzell, J. 2016. Reconstituting the Utopian Vision of Making: HCI after Technosolutionism. In Proc. of the ACM SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems, CHI‘16, pp. 1390 - 1402. Lindtner, S., Hertz, G. and Dourish, P. 2014. Emerging Sites of HCI Innovation: Hackerspaces,

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Lorey, I. 2015. State of Insecurity. Government of the Precarious. Verso Books. McRobbie, A. 2016. Be Creative: Making a Living in the New Culture Industries. Polity. Neff, G. 2012. Venture Labor. Work and the Burden of Risk in Innovative Industries. Cambridge, Massachusetts: MIT Press. O’Connor, J. 2012. Shanghai Modern: Replaying Futures Past. Culture Unbound: Journal of Current Cultural Research, Vol 4, 15-34. O’Donnell, M., Wong, W.W.Y., Bach, J. Forthcoming. Learning from Shenzhen. China’s Post-Mao Experiment from Special Zone to Model City. University of Chicago Press. Osnos, E. 2015. Age of Ambition: Chasing Fortune, Fortune and Truth in the New China. Farrar, Straus, and Giroux. Rosenblat and Stark 2015. Uber‘s Drivers: Information Asymmetries and Control in Dynamic Work. SSRN. Scholz, T. (ed). Digital Labor. 2012. The Internet as Playground and Factory. Routledge. Yang, Fan 2016. Faked in China. Indiana University Press. Žižek 2011. Living in the end of Times. Verso.

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Das Traumjob-Experiment Jannike Stöhr

Wie viel Geld müsste ich Ihnen zahlen, damit Sie heute nicht zur Arbeit gehen? So viel, wie Sie verdienen, wenn Sie hingehen würden? Mehr? Oder könnte ich Sie schon mit weniger Geld überzeugen? Auf der Suche nach meinem Traumjob begleitete ich dreißig Menschen, von denen ich jedem eine Menge hätte zahlen müssen, um sie von ihrer Arbeit abzuhalten. Denn jeder von ihnen liebte den Job, mit dem er seinen Lebensunterhalt verdiente. So ein Mensch wollte ich auch sein. Nicht mehr arbeiten, sondern leben und für das, was ich ohnehin gern tue und gut kann, auch noch bezahlt werden. Das war meine Idealvorstellung. Nur was tue ich eigentlich wirklich gern und was kann ich richtig gut? Und wie stellt man es an, einen dazugehörigen Job zu finden? Möglichkeiten sein Leben zu gestalten gibt es wie Marmeladensorten im Supermarkt. Nur welche Wahl ist die richtige? „Erst handeln, dann denken“ las ich in einem Ratgeber. Einfach ausprobieren, wie es schmeckt, anstatt grübelnd vor dem Marmeladen-Regal stehen zu bleiben. Immer wieder fällt mir aber auf, dass Menschen genau das tun und in Jobs oder Umständen verharren, die sie unglücklich machen. Auch mir erging es noch vor einiger Zeit so. Wie so viele wartete ich auf die perfekte Lösung, anstatt etwas zu ändern und die Konsequenzen zu ziehen. Ich grübelte und grübelte, aber klarer wurde mir dabei nichts. Erst später begriff ich, dass ich allein durch Denken die perfekte Lösung nicht finden kann, da mein Wissen viel zu begrenzt ist. Die Krebserkrankung meines Vaters wurde zu einem Wendepunkt in meinem Leben. Das Leben ist endlich, wurde mir bewusst. Ich muss etwas tun, erst handeln, dann denken. Ich verließ meinen Job, löste meine Wohnung auf, verkaufte weite Teile meines Eigentums und machte mich auf die Suche nach des Rätsels Lösung: Was kann ich richtig gut, was tue ich wirklich gern und wie finde ich den passenden Job dazu? Ein Jahr lang begleitete ich also Menschen, die ihren Traumjob bereits gefunden hatten. Je eine Woche arbeitete ich unter anderem als Erzieherin, Biobäuerin, als Architektin, Pathologin, Politikerin und Hebamme. Mein erster Job als Erzieherin Ich bin hochmotiviert und freue mich riesig. Bis zur Eingangstür der KiTa. Die stellt sich als mein erstes größeres Hindernis heraus, gleich gefolgt von dem Kindergitter

Jannike Stöhr

vor der Treppe. Beides kann ich ohne fremde Hilfe nicht überwinden. Vielleicht wäre ich doch besser zuhause geblieben. Eine Mutter öffnet die Tür. Kurze Zeit später finde ich mich im Gruppenraum meiner zugewiesenen Sonnenblumengruppe wieder. Ruckzuck rennen elf schreiende Kinder im Alter von eins bis drei quer durch den Raum und wieder zurück. Es ist laut und schnell gibt es die erste Schreierei. Julia hat geschubst! Was nun? Soll ich das schubsende Kind zurechtweisen, das heulende in den Arm nehmen? Leons Nase läuft. Die Schnötte wischt er sich mit einer gekonnten Handbewegung bis zur Schläfe. Nach dem ersten Kennenlernen geht es nach draußen. „Sophie hat eine Schnecke gefunden. Passen Sie bitte auf, dass die Schnecke nicht in der Hosentasche landet?“ Na klar, meine Aufmerksamkeit gilt ab jetzt zusätzlich der Schnecke. Die zwei im Garten befindlichen Pfützen habe ich unterschätzt. Sie reichen aus, um nach einer Stunde elf von Kopf bis Fuß matschige Kinder sauber machen zu können. Nach anfänglichen Berührungsängsten läuft es gegen Mittag recht rund. Paul greift mit der Hand in den Kartoffelbrei und streckt sie mir grinsend entgegen in Richtung Mund. „Da!“. Ich bin nicht hungrig, nehme das Geschenk aber zumindest per Hand in Empfang. Ich möchte nicht unhöflich sein. Nach dem Mittag wird geschlafen. Die Betreuer kraulen die Kinder im Schlafraum in den Schlaf. Gefährliche Situation für mich, in drei von vier Mittagspausen schlafen 11 Kinder und eine Erwachsene. Der KiTa-Alltag ist aber auch anstrengend. Einen unkonzentrierten Augenblick kann man sich kaum leisten. Die KiTa-Leiterin beschäftigt sich für einen Vortrag, den sie halten soll, mit der Frage: „Was verstehen wir unter Familie?“. Die Mitarbeiter dieser KiTa verstehen sich selbst als Teil der Familie des Kindes. In erster Linie geht es dabei um Beziehungsaufbau, nicht um das Ersetzen der Eltern. Es geht um ein Vertrauensverhältnis zwischen Kind und Erzieherin, in dem alle Probleme gelöst werden können, ohne dass es vieler Tränen bedarf. Das stelle ich sowieso fest. In den Arm nehmen hilft immer. Die ersten erfolgreich getrockneten Tränen machen mich schon ein wenig stolz. Die ersten ausgestreckten Arme auch. Mit den Tagen finde ich mich besser zurecht. „Jannike, Sie werden ja immer freier!“, ruft mir die KiTa-Leiterin zu, die gerade den Raum betritt. Ich finde mich – ein wenig über mich selbst erschrocken – auf allen vieren krabbelnd und bellend auf dem Fußboden wieder, Nathalie steht kichernd vor mir. Nach Feierabend bin ich ganz schön geschafft. Mir tut alles weh und dreckig bin ich auch. Meine Klamotten sind vollgespuckt, vollgeschnöttet und einmal sogar

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Das Traumjob-Experiment

vollgepinkelt. Trotz der Anstrengung, verstehe ich, warum dieser Beruf ein Traumjob sein kann. Man bekommt viel zurück. Sich selbst ausprobieren in verschiedenen Kontexten Das wichtigste Kriterium auf meiner Traumjob-Suche war, dass ich nur Menschen begleitet habe, die ihrem Job leidenschaftlich nachgingen. Durch ihren Blickwinkel betrachtet, war jeder Job ein Traumjob. Mal mehr, mal weniger passend für mich. Viele meiner Vorurteile konnte ich ausräumen. Heute weiß ich zum Beispiel, dass Pathologen keine Mordopfer obduzieren, das tun nämlich die Gerichtsmediziner. Pathologen obduzieren nur zu circa zehn Prozent ihrer Arbeitszeit Leichen, den Großteil ihrer Zeit kümmern sie sich hingegen um Gewebeproben von lebenden Menschen. Auch über mich selbst habe ich vieles in meinem Experiment gelernt. Die Schranken, die ich in meinem Kopf hatte und die nur einen Bruchteil des Möglichen als Optionen für mich zuließen, konnte ich weitestgehend abbauen. Wo ich mir selbst früher noch einredete: „Das kannst du nicht machen, das kannst du dir nicht leisten, das wird wahrscheinlich nicht funktionieren“, sage ich mir heute: „Probiere es aus!“. Es gibt mehr als nur einen Traumjob Während ich vor dem Beginn meines Experiments noch davon überzeugt war, dass ich hinterher meinen Traumjob gefunden haben würde und Architektin oder Lehrerin werden würde, ist meine Auffassung von erfüllender Arbeit heute eine andere. Die gute Nachricht: Es gibt nicht nur einen Job, der uns erfüllen kann. Die Kombination aus Dingen, die uns liegen, Freude bereiten und uns wichtig sind, lassen mehrere Optionen zu. Vielleicht erfüllt uns die Kombination aus Teilzeit-Assistenz und dem eigenen Catering-Service. Oder der Job, der uns über Jahre Freude bereitet hat, tut es heute nicht mehr und es wird Zeit für eine berufliche Veränderung, Zeit für den nächsten Traumjob. Wir haben so vieles in uns, das wir nicht kennen, weil das enge Gerüst aus Verpflichtungen und die Vorstellung einer perfekten Lösung uns davon abhält, uns auszuprobieren und kennenzulernen. Doch die Suche nach einer erfüllenden Arbeit lohnt sich. Wer einmal im Flow war, in dem wir unser Potenzial ausschöpfen können, der weiß, was für positive Energien freigesetzt werden, die wir für weit mehr als nur die Arbeit einsetzen können. Und die Suche kann schon im Kleinen anfangen. Ob wir uns in einem Ehrenamt

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ausprobieren oder Freunden Dienstleistungen zur Verfügung stellen, mit denen wir beruflich liebäugeln. Ob wir ein Praktikum machen oder Menschen interviewen, die einen Beruf haben, der uns imponiert. Mit jedem Schritt kommen wir einem erfüllenden Job näher, öffnen die Schranken im Kopf ein Stück mehr und entdecken neue Facetten von uns selbst.

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DAS MÄRCHEN VON TAUSENDUNDEINEM HAUS Barbara FrischmutH

Wenn wir schon so entspannt bei Tisch sitzen in Erwartung dessen, was unsere Zunge erfreuen wird, möchte ich Ihnen nicht mit der Schilderung einer grausamen Realität den Appetit verderben. Stattdessen erzähle ich Ihnen ein Märchen, das zwar eine Moral hat, die aber ambivalent zu sein scheint. Eigentlich handelt es sich dabei um eine Erzählung, mit dem Potential zur Legende, die ihre Märchenform noch nicht zur Gänze entwickelt hat, und die hierzulande auch so gut wie nie erzählt wurde. Da ich zu jenen gehöre, die die Türkei als Land lieben und sich jahrelang mit ihrer Sprache, ihrer Kultur, aber auch mit ihrer Politik auseinandergesetzt haben (was von Jahr zu Jahr schmerzlicher wird), bin ich bereit, immer wieder auch auf die Errungenschaften dieses Landes hinzuweisen, schon um dem, was uns die Medien Tag für Tag zur Kenntnis bringen, zumindest einen positiven Aspekt entgegensetzen zu können. Da türkische Märchen nicht nur mit „es war einmal“, sondern mit „es war einmal, es war keinmal“ beginnen, macht man sich ohnehin darauf gefasst, dass dabei auch mit der Kunstform der Übertreibung gearbeitet wird. Als ich seinerzeit als Stipendiatin im Jahr 1960 zum ersten Mal in Istanbul war, hatte diese Stadt eineinhalb Millionen Einwohner, genau wie Wien. Inzwischen sind es registrierte sechzehn und geschätzte achtzehn Millionen, während Wien mit seinen nicht einmal zwei Millionen über Mangel an Wohnraum klagt und sich diesbezüglich auf eine kleine Katastrophe zugehen sieht. Woher aber sind diese Millionen Menschen in Istanbul gekommen? Sie vermuten richtig: Anderswoher. Da gab es Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Nahen Osten (und das schon ziemlich lange), türkische Landarbeiter, die von ihren Agas (Landbesitzer) benutzt, ausgenutzt und als Stimmvieh verkauft wurden, darunter Kurden, Aleviten und die Angehörigen weiterer Minderheiten. Die Lebensbedingungen in Anatolien waren hart, eine Landreform nicht in Sicht und der Ruf seiner Bewohner war der, dass sie primitiv, faul und illiterat seien. Mit einem Wort, die alteingesessenen Bürger der Stadt sowie deren Eliten und die mehr oder weniger entmündigte Landbevölkerung wollten nicht viel voneinander wissen. So war es seit Jahrhunderten, und wenig sprach dafür, dass sich das demnächst ändern würde. Was es aber tat. Im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts begann man rund um die Stadt Fabriken zu errichten. Das versprach Arbeit für viele, was sich auch in Anatolien bald herumsprach. Und die Anatolier kamen scharenweise. Aber wo sie unterbringen und wie sie bezahlen?

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Barbara FrischmutH

Wahrscheinlich inspiriert von einem genialen autochtonen Dschin (Dämon) überließ man den Zuwandernden irgendwann einen großen Teil des die Stadt umgebenden Staatslandes, auf dem sie ohnehin schon sogenannte gecekondus (über Nacht gebaute Hütten), errichtet hatten. Durch die Überlassung des Landes wurde das Bauen von Häusern legitim und die Anatolier bauten. Eine Vorgehensweise, die sich durchsetzte, war, dass man zwei Stockwerke des zu bauenden Hauses verkaufte, bevor man überhaupt mit dem Bau begann. Danach schritt man mithilfe dieses Geldes und der Unterstützung von Freunden und Verwandten zur drei- bis vierstöckigen Tat und war nach der Fertigstellung zum Hausbesitzer geworden. Wenn dann der Hochsommer kam und die Fabriken geschlossen wurden, kehrten die Arbeiter in ihre Dörfer zurück, halfen bei der Ernte und kamen Ende des Sommers mit Säcken voller Bohnen, Getreide, Erdäpfel, Nüssen und gedörrtem Obst wieder nach Istanbul. Wenn eine Siedlung eine bestimmte Größe erreicht hatte, baute die Stadt eine Straße durchs Gelände und schickte einen Bus, damit die Männer zur Arbeit und die Kinder in die Schule fahren konnten. Als Hausbesitzer in Istanbul schickte man nämlich seine Kinder in die Schule. Ehrensache! Die da oben hatten somit denen da unten, wie man bei uns sagen würde, die Proletarisierung erspart. Das ist der eigentliche Kern des Märchens; Istanbul, die alte Weltmetropole, hat eine Binnenmigration von Millionen Menschen verkraftet, die ihren gesellschaftlichen Status als mittellose Landarbeiter dadurch, dass sie migriert waren, tatsächlich hatten verbessern können. Die Stadt platzte aus allen Nähten, aber die bösen Geister, Hunger und Arbeitslosigkeit, blieben zumeist in der Flasche. Die Alteingesessenen murrten zwar über all die damit einhergehenden Veränderungen, aber da sie im Namen des Fortschritts geschahen, arrangierte man sich damit und gab sich den Annehmlichkeiten des Konsums hin, ganz wie im Westen. Mittlerweile sind die ehemaligen Migranten zu Istanbulern geworden, ob das den Alteingesessenen gefällt oder nicht. Und sie sind längst in der Überzahl. Viele von ihnen nehmen hohe Positionen in Wirtschaft und Verwaltung ein, sind zu Ansehen und Reichtum gekommen, und das oft innerhalb einer einzigen Generation. Das schafft Selbstbewusstsein, was die Alteingesessenen überraschte, hatten doch die vielen aufgestiegenen Anatolier keine renommierten Gymnasien oder Universitäten besucht, sondern mit Fleiß, Ehrgeiz, Talent und Gottvertrauen sich am eigenen Schopf aus der Jahrhunderte dauernden Stagnation gezogen. Das war auch für die Eingesessenen nicht zu übersehen, selbst wenn sie es, so lange es ging, ignorierten. Das gute Ende eines Märchens hat eben damit zu tun, dass es nur den Ablauf eines Handlungsstrangs umfasst. Es kann sich daher nicht darum kümmern, was danach passiert.

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Die enorme Binnenmigration, die am meisten dazu beitrug, dass sich die Wirtschaft des Landes besser als je zuvor entwickelte, hat einerseits die anatolischen Migranten untrennbar mit den Alteingesessenen verbunden, und beide haben davon profitiert. Andererseits halten die Eingesessenen (darunter auch schon viele aus ehemaligen Migrantenfamilien) jene Neu-Istanbuler, für die der Islam Identitäsmarker ist, und die daraus folgende Reislamisierung, die gelegentlich islamistische Züge annimmt, für rückschrittlich und bedrohlich. Dass die Grenzen zwischen diesen beiden Polen nicht immer klar gezogen werden können, ist der Realität geschuldet und entspricht einer Art ewiger Wiederkehr des Gleichen, nämlich den zwei Seiten einer Münze. Der Witz dabei ist, dass die Menschen, auch wenn sie noch so sehr vorgeben, entweder nur an Kopf oder nur an Zahl interessiert zu sein, in Wirklichkeit doch immer die ganze Münze haben wollen. Was sollte auch die ausschließliche Vorliebe für Vorder- oder Hinteransicht bringen? Dass man die jeweils andere Seite zum Verschwinden bringt? Doch dann gilt diese Münze nicht mehr als Zahlungsmittel. Was dabei meist vergessen wird ist, dass Unterschiede einander ergänzen können und Gegensätze den Blick des einen und des anderen zu schärfen vermögen. Wäre es in einer Situation wie dieser nicht am besten, eine neue Münze zu prägen? So lange das nicht geschieht, wird es in der Türkei keine Märchen mehr geben, von denen man zu Recht ein gutes Ende erwarten dürfte. Dennoch, wie heißt es so schön in den alten Märchen? Auch wenn der Hund noch so laut bellt, die Karawane zieht weiter.

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Mizgin Sönmez

Willkommen in Österreich! Mizgin Sönmez

„Der kann sich nicht richtig integrieren!” oder „Den Migranten soll man endlich Integration beibringen!” oder auch „Schluss mit der korrumpierenden Integrationspolitik!” Solche und ähnliche Sprüche hört man heutzutage überall, ob in der hoch seriösen Heute-Zeitung, bei einem Besuch bei der lieben Frau Nachbarin oder in der Schule, wenn der Mathelehrer genug von Algebra hat und den verdrossenen Schülern lieber Politik in die Köpfe zwängt. Migration und Integration sind zwei Wörter, denen wir heute genau so wenig ausweichen können wie ein Schüler Hausaufgaben aus dem Weg gehen kann. Was bedeutet also Integration? Wann hat man sich „richtig integriert”? Welche Höhen und Tiefen begegnen einem Migranten beim Versuch, sich zu integrieren? Auf diese Fragen möchte ich mit Hilfe von Ausschnitten aus meinem Leben genauer eingehen. Und somit möchte ich meinen Vortrag damit einleiten, indem ich kurz ein paar Fakten aus dem Leben der abgedrehten Familie Sönmez aufzähle: Mein Name ist Mizgin Sönmez und ich bin 18 Jahre alt. Meine Eltern sind beide im östlichen Teil der Türkei geboren und aufgewachsen und sind Kurden. Vor ungefähr zwanzig Jahren zog es sie nach Österreich. Auf die Frage, wieso, antworteten sie: Wiener Sachertorte, Kaiserschmarrn und Mozartkugeln. Und als ich ein zweites Mal - diesmal mit ernster Miene - fragte, wieso, meinten sie, weil man in Österreich viel respektvoller mit Menschen umgeht, Gleichberechtigung vorherrscht und keine Menschen aufgrund ihrer Rasse diskriminiert werden, wie in der Türkei zum Beispiel die Kurden. Nachdem sie sich in der „Migranten-Metropole” Wien eingefunden hatten und außer Schnitzel, Prater und Oachkatzlschwoaf über einen ausreichenden deutschen Wortschatz verfügten, zogen sie nach St. Pölten und bauten sich dort ihre eigene kleine Welt zusammen. Ein Jahr später kam dann das mirakulöse Wunderkind zur Welt, nämlich ich, und dann mein nun 16-jähriger Bruder. Nach einem Umzug nach Melk und schließlich Loosdorf, wo wir auch heute noch wohnen, erblickten vier weitere Geschwister das Licht der Welt. Meine Geschwister und ich sind zweisprachig aufgewachsen. Während wir zuhause hauptsächlich kurdisch gesprochen haben, wurden wir im Kindergarten und in der Schule mit der deutschen Sprache konfrontiert und als Folge dieses Mischens sprechen wir heute eine Sprache, die wir “AustroKurdisch” oder auch “Durdisch” nennen. Meine Eltern haben sich sehr gut in Österreich eingelebt. Sie haben österreichische Freunde, einen Job, besuchen hin und wieder Vorträge auf Deutsch, und sind seit 2009 im Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft. Auch ihre Deutschkenntnisse zeigen

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beeindruckende Fortschritte, wobei ich hin und wieder als der Familiendolmetscher fungieren muss. Kehren wir nun zurück zu unser eigentlichen Thematik, nämlich Integration und Migration. Welche Schwierigkeiten treten auf, wenn man als Neuankömmling in ein neues, zuvor unbekanntes Land eintrifft? Natürlich, man fühlt sich wie eine Birne auf einem Apfelbaum. Anders. Nicht dazugehörig. Fehl am Platz. Man hat das Gefühl, eine ganz neue Dimension betreten zu haben. Der Unterschied zwischen zwei Individuen wird immer größer und größer. Während das Kopftuch im Herkunftsland das Selbstverständlichste aller selbstverständlichen Sachen war, scheint er auf einmal wie ein Magnet zu sein, der alle Blicke anzieht. „Was habe ich denn falsch gemacht? Wieso schauen mich alle so komisch an? Wo bin ich hier gelandet?” Und die Sprache. Wieso verstehe ich plötzlich nichts mehr? Sollte ich den Ohrenarzt aufsuchen? Was ist das überhaupt für eine Sprache? Chinesisch, Koreanisch, Französisch, Englisch, Russisch, Lettisch, Estnisch oder doch ein Gemisch von allem? Auf einmal bedeutet „Merhaba” (türkisch für „Hallo”) „Araber”, was in der Türkei wiederum „Auto” heißt. Auto bedeutet aber bei den Griechen „selbst”, wobei sich dies bei den Kurden wiederum wie „elbst” anhört, also Schultasche. Lustig, nicht wahr? Man kann nicht mehr richtig kommunizieren, weil man die neue Sprache nicht beherrscht. Du brauchst jemanden, der dich auf dem richtigen Pfad hält und jemanden, der dir dabei hilft, die Steine aus dem Weg zu räumen. Ich erinnere mich daran, was mir meine Eltern über ihre ersten Tage in Österreich erzählt haben. Mein Vater hatte bereits einen österreichischen Freund gefunden, der ihm immer zur Seite stand, wenn er Hilfe brauchte. Und den ersten Satz, den er ihm beigebracht hatte, war: „Wo griag i bitte a Wiener Schnitzl?” Meiner Mutter fiel es am Anfang am schwersten, all ihre sozialen Kontakte aufzugeben. Außer meinem Vater hatte sie keinen, mit dem sie über den neuesten Klatsch und Tratsch reden konnte. Während sie in ihrem Heimatort genau so populär war wie Obama in den USA (laut ihren eigenen Angaben), kam sie sich in ihren ersten Jahren in Österreich genau so winzig vor wie eine Ameise. Wir sehen: Als Migrant fühlt man sich zu Beginn wie das fünfte Rad am Wagen. Ausgeschlossen. Nicht brauchbar. Viele Hindernisse begegnen einem, und man hat das Gefühl, das Ziel eines besseren Lebens verfehlt zu haben. Doch genau um dieses Gefühl loszuwerden, gibt es etwas, was sich Integration nennt. Und das möchte ich nun näher beschreiben:

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Mizgin Sönmez

Grundsätzlich versteht man unter Integration das Eingliedern eines Neuankömmlings in eine Gesellschaft. Sozusagen das Einsetzen eines Puzzlestücks. Doch wie soll das gelingen? Und vor allem: Wie soll das alleine gelingen? Helfende Hände werden auf jeden Fall von allen Seiten benötigt. Ich möchte jetzt ein paar wichtige Stichpunkte aufzählen, die für Integration wichtig sind: 1.) Das Erlernen der Sprache: „Die Sprache ist der Schlüssel zur Welt”, hat einmal ein bekannter Philosoph gesagt. Und damit hat er den Nagel auf den Kopf getroffen. Verschiedene Sprachkurse werden angeboten, die von den Migranten und Flüchtlingen besucht werden sollten. Ohne Sprache können wir nicht miteinander kommunizieren und die soziale Isolation wird immer größer und größer. 2.) Arbeit: „Arbeit ist schwer, ist oft ein freudloses und mühseliges Stochern - aber nicht arbeiten: Das ist die Hölle!” Zitat Thomas Mann. Jeder von uns braucht eine vernünftige Arbeitsstelle, um unseren finanziellen Haushalt und unser geistiges Wohlbefinden im richtigen Maß zu halten. Auch für die Integration spielt sie natürlich eine wichtige Rolle, denn durch Arbeit baut man sich mehr in die Gesellschaft ein. Ausbildung spielt besonders bei den jungen Migranten und Flüchtlingen eine wichtige Rolle. Auch sie sollen die Gelegenheit haben, eine gute Ausbildung zu bekommen um somit ihre Chancen auf eine sehr gute Arbeitsstelle zu erhöhen. 3.) Gleichberechtigung: Für ein gelungenes Miteinander ist jede und jeder von uns gefragt, sich auf den anderen einzulassen und respektvoll miteinander umzugehen. Jedem sollten die gleichen Angebote und Chancen dargeboten werden, unabhängig von Glaube, Herkunft und Rasse. Mensch ist Mensch. Jeder soll für seine Arbeit den gleichen Lohn bekommen, jeder soll für seine Leistung Anerkennung bekommen, jeder soll die gleichen Rechte besitzen und als Teil der Gemeinschaft gesehen werden, denn Mensch ist Mensch. 4.) Vertrauen: Vertrauen ist das A und O, wenn es um Integration geht. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie als Neuankömmling in einem Land gleich als Terrorist eingestuft werden? Sie würden am liebsten wieder in ihr altes Land zurückreisen und das ganze Leid dort auf sich nehmen, oder? Wir müssen gemeinsam Brücken aufbauen. Brücken zwischen dir und mir. Brücken um miteinander kommunizieren zu können, wenn wir sie benötigen. Glauben Sie mir: Andersdenkende denken auch nicht anders.

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Das beste Beispiel für eine gelungene Integration ist die deutsche Fußballmannschaft. Rund ein Drittel der Fußballspieler sind Jungs mit Migrationshintergrund. Sie alle zeigen einander Respekt und wissen, dass jeder einzelne seinen Wert und seine Stärken hat. Das Talent dieser Jungs wurde - unabhängig von ihrer Herkunft- gefördert, sie haben hart trainieren müssen. Und was ist das Ergebnis? Weltmeister bei der WM 2014 in Brasilien und zwar nach dem Motto: Ich kann, weil ich will, was ich muss. Und somit bin ich auch beim Schluss meiner Rede angelangt: Wir sehen, das Leben eines Migranten ist nicht immer ein Honigschlecken. Die Vorurteile „De huckn nur do und duan goa nix” kann man sich gleich wieder in die Tasche stecken. Denn aller Anfang ist schwer und man findet sowohl große Gesteinsbrocken, als auch kleine Kieselsteine auf dem Weg zum Glück. Doch wenn man sich richtig integriert hat, wenn man herausgefunden hat, wo das Puzzlestück hingehört, dann hat man die größte Hürde überstanden und den Schlüssel zu einer besseren Welt gefunden. Und das gelingt nur, wenn man Menschen auf seiner Seite hat, wenn man sie braucht und wenn man sich als Neuankömmling darum bemüht, die Angebote auch anzunehmen und das Beste aus ihnen herauszuholen. Integration bedeutet nicht, die alten Traditionen und Kulturen fallen zu lassen, nein, vielmehr bedeutet Integration, eine kunterbunte Gemeinschaft aufzustellen und Vielfalt in die Gesellschaft zu bringen. Oder kurz gesagt: Ein Apfel schmeckt gut. Eine Birne auch. Und auch eine Erdbeere. Aber ein Obstsalat schmeckt am allerbesten.

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The Connection Valerie Mühlenburg

Seit fünf Jahren hilft der Verein the CONNECTION jungen MigrantInnen beim Berufseinstieg. Wie dies geschieht, beschreibt am Besten die Geschichte von Abu. Abu kommt aus Afghanistan, ist 20 Jahre alt und seit 3 Jahren alleine in Österreich. Vor zwei Jahren ist Abu das erste Mal zu uns ins Café gekommen, nicht genau wissend was er eigentlich bei uns soll, irgendein Freund hat ihn zu uns geschickt. Mehr weiss er auch nicht. Aber schnell beginnt er zu erzählen, er möchte einen Beruf lernen, er liebt zu kochen und zu backen, und das beste an Österreich ist Apfelstrudel. Es ist schnell klar – sein Traumjob ist Konditor! Er beginnt bei uns im Café zu arbeiten, hilft beim Backen, besucht unseren Deutschkurs und bekommt eine Mentorin, die ihn auf seinem Weg unterstützt. Abus Selbstvertrauen wächst schnell, er fühlt sich sicherer in der deutschen Sprache und gemeinsam üben wir für seine ersten Vorstellungsgespräche. Leider kommt eine Absage nach der anderen, aber er gibt nicht auf, ist durch die Arbeit im Café motiviert weiter zu machen. Und so bekommt er im Dezember schließlich eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch als Konditor Lehrling. Gut vorbereitet und mit seinem neuen Anzug geht er zum Vorstellungsgespräch. Und dann wird Abu doch tatsächlich gefragt: Was backen Sie am liebsten? Apfelstrudel! Und genau dieser Apfelstrudel hat ihm die Zusage verschafft – im Jänner hat Abu seine Lehre als Konditor begonnen. Und geht seitdem täglich um 5 Uhr Früh zur Arbeit. Abu ist uns aber weiterhin treu geblieben, er ist unser bester Sozialarbeiter, durch ihn haben wir gerade eine super neue Mitarbeiterin bekommen, die Hälfte des Deutschkurses ist mit Bekannten von ihm gefüllt, und jede Woche kommen Freunde von Abu zu uns, die auf der Suche nach Mentoren sind. Und letzte Woche kam er zu uns, weil er Nachhilfe in Englisch für die Berufsschule braucht. Seit fünf Jahren gibt es nun also schon the Connection – unser Café im 9. Bezirk in Wien, in dem eine außergewöhnliche Belegschaft werkt: Es sind Jugendliche mit Wurzeln in Ländern wie Irak, Somalia, Afghanistan oder Syrien. Jeweils fünf Jugendliche werden ein halbes Jahr lang im Café beschäftigt. Ob Getränke oder Snacks zubereiten, Bestellungen aufnehmen, kassieren oder putzen – alle machen alles. Durch den Cafébetrieb werden die Jugendlichen jeden Tag sozialen Situationen ausgesetzt. Eine natürliche Integration, wo Deutschkenntnisse ständig geübt werden. Wir versuchen den Jugendlichen Pünktlichkeit, ein höfliches Auftreten gegenüber

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The Connection

Gästen und Vorgesetzten, Selbstbewusstsein, sowie den verantwortungsvollen Umgang mit dem zumeist ersten selbst verdienten Geld zu vermitteln. Die Jugendliche übernehmen sofort Verantwortung. In der Zeit informieren wir sie aber auch über ihre Rechte, etwa was Urlaubsgeld oder Überstunden betrifft, und helfen ihnen einen Arbeitsvertrag zu verstehen. Die Arbeit dient als Sprungbrett ins Berufsleben. Von Anfang an war mir klar, dass eine Anstellung alleine nicht reicht, und es bei unserem Konzept um eine ganzheitliche Unterstützung der Jugendlichen gehen muss, daher baut sich the Connection auf drei Säulen auf: 1. Mitarbeit im Café, 2. Mentoring-Programm, 3. LERNFARBIK the CONNECTION Mentoring-Programm

Ein Mentor, eine Mentorin begleitet die Jugendlichen über einen Zeitraum von sechs Monaten auf ihrem Lebensweg. Sei es, dass sie die Jugendlichen bei ihrem ersten Ankommen in Wien unterstützen, beim Deutschlernen helfen, Nachhilfe für die Schule geben oder bei Amtswegen begleiten – Ziel ist es, ihnen das Ankommen in Wien zu erleichtern. Die MentorInnen teilen ihre Netzwerke, zeigen „ihr Wien“, eröffnen neue Horizonte. Ein Zeichen des Willkommens! Besonders freut mich, dass wir letzten November weiter gewachsen sind und unsere Lernfabrik eröffnen konnten! the CONNECTION – LERNFABRIK

Deutschkurse und Workshops Unsere Kurse sollen junge Geflüchtete von Anfang an begleiten und sie je nach ihren Bedürfnissen unterstützen. Ziel ist es das Selbstvertrauen zu stärken und so die Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche weitere Integration zu schaffen. Zudem sollen regelmäßige Kurszeiten den Flüchtlingen helfen wieder eine Routine in ihrem Alltag zu finden. Unsere Kurse werden für alle Bildungsniveaus (ab Alphabetisierung) angeboten: Flüchtlinge, deren Bildungsniveau noch gering ist und die noch nicht eine erlernte Fremdsprache vorweisen können, profitieren am meisten von den im Selbstlernzentrum angebotenen Deutschkursen auf Einstiegsniveau. Hier arbeiten wir mit dem Verein Liechtenstein Languages zusammen, die nach der Methode Neues Lernen neue BasisSprachkenntnisse vermitteln. Ziel der in Liechtenstein entwickelten Sprachkurse nach der Methode Neues Lernen ist es, Asylbewerber in ihren speziellen Lebenssituationen zu unterstützen. Sie erhalten Wissen zur Erstorientierung, verbunden mit den dazu notwendigen Deutschkenntnissen. Für alle Jugendlichen, die schon eine gewisse

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Valerie Mühlenburg

Sprachkompetenz erlangt haben, bieten wir unseren regulären Deutschkurs auf den Sprachniveaus A1 - B2 an. Die Jugendlichen profitieren von den Kenntnissen ihrer KollegInnen und werden auch individuell gefördert. Im Vordergrund steht der Spaß am Lernen und die Kommunikation in der Gruppe. Zusätzlich findet einmal im Monat ein Ausflug statt. Neben den Deutschkursen bieten wir auch verschiedene Workshops an. Einerseits um Deutschkenntnisse zu vertiefen (Creative German Workshop) andererseits um komplett neue Themen in der fremden Sprache kennenzulernen. Um unsere Schüler zu unterstützen, haben wir einen wöchentlichen Stundenplan mit schulrelevantenThemen (Englischkurs, Mathematik-Nachhilfe und ein Computerkurs). LERNFABRIK Selbstlernzentrum Außerhalb der Kurszeiten haben die Jugendlichen die Möglichkeit ihr neu erlerntes Wissen in unserem Selbstlernzentrum zu vertiefen. Sie haben Zugang zu Deutschmaterialien aller Niveaus, es gibt Computer mit installierten Sprachprogrammen und Internetzugang. Es ist ein Ort, der gerade jetzt dringend benötigt wird! Wir freuen uns, dass wir gewachsen sind, und so nun noch mehr Jugendliche von unserem Angebot profitieren können.

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Nachhaltige Logistik – a call to action – oder wollen sie es selber tragen? Martin Posset

Sowohl der urbane Lebensraum als auch die Logistik unterliegen aktuell einem Wandel. Die meisten Städte befinden sich bereits mitten in einem Veränderungsprozess, flankiert vom Klimawandel. Mit knapper werdenden Ressourcen und Infrastrukturen muss eine wachsende Anzahl von EinwohnerInnen immer größer und komplexer werdender Städte versorgt werden. Die Frage der zukünftigen Energieträger ist noch nicht gänzlich geklärt, zurzeit scheint sich die Elektromobilität durchzusetzen, aber disruptive Innovationen haben schon mehrfach gezeigt, wie vermeintlich sichere Geschäftsmodelle binnen kürzester Zeit obsolet wurden. Die Gefahr von ReboundEffekten ist jedenfalls gegeben, da eine Reduktion der Direktemissionen der Fahrzeuge durch ein Mehraufkommen im Transport egalisiert werden kann. Dementsprechend muss die technologische Entwicklung auch von Bewusstseinsbildung flankiert werden. Die „Verstädterung“ trifft auch Österreichs Ballungsräume. In den sieben Großstadtregionen (>100.000 Einwohner) leben derzeit 50% der Bevölkerung, davon über 37% in den dicht besiedelten Kernzonen1. In der Innenstadt von Wien werden

täglich 8.300 Betriebe mit durchschnittlich 120.000 Tonnen Waren beliefert2. Die Belastung von Bewohnerinnen und Bewohnern, Umwelt und Infrastruktur durch den Güterverkehr in Innenstadtbereichen nimmt stetig zu. Individuallieferungen und die damit verbundene Anzahl an LieferantInnen und Lieferungen tragen zu einer verstärkten innerstädtischen Verkehrsbelastung bei. Umgesetzte Maßnahmen in anderen Ländern und Städten haben gezeigt, dass die smarte Gestaltung des Gütertransports in urbanen Räumen einen Beitrag zur Erreichung von Klimazielen auf nationaler und internationaler Ebene leisten kann. Es besteht kein Zweifel: ohne Einbindung der „Smart-Philosophie“ in bestehende Logistikkonzepte und dem Einsatz innovativer Technologien droht dem Güterverkehr mittelfristig der Infarkt in den Zentren und die Lähmung auf den Achsen3. Trends wie e-Commerce und Just-In-Time verstopfen durch zunehmende Paket- und Expresssendungen, (2007: 4,8 Mrd. Sendungen, 2011: 5,6 Mrd. Sendungen)4 die Stadtzentren (der EU-Paketmarkt ist zwischen 2008 und 2011 von 42,4 Mrd. Euro 1 Statistik Austria: Österreichs Städte in Zahlen 2014. 2 http://brigittejank.at/2013/05/wirtschaftsverkehr-in-wien-es-wird-immer-schwieriger/ 3 Weissbuch: Die europäische Verkehrspolitik bis 2010: Weichenstellung für die Zukunft, Europäische Kommission, Amt für ämtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaft, 2001. 4 ATKearney: Stabiles Wachstum im europäischen Paketmarkt: http://www.atkearney.de/content/ presse/pressemitteilungen_practices_detail.php/practice/transportation/id/51720, Stand: 12.04.2013 94

Martin Posset

auf 47,2 Mrd. Euro gewachsen)5 und die großen Verbindungsachsen zwischen den Nordhäfen und den Verbrauchermärkten sind durch mangelnde Kapazitäten überlastet. Höhere Qualität, größeres Angebot und wahrgenommene bzw. intendierte Obsoleszenz von Produkten und Dienstleistungen führen zu einer Änderung des Verhaltens der VerbraucherInnen. All diese Faktoren repräsentieren aktuelle, aber in Zukunft sich noch verstärkende sozio-demographische und ökonomische Entwicklungen. Nicht immer bietet sich KundInnen die Möglichkeit, die ökonomischen und ökologischen Auswirkungen des alltäglichen Handelns und Konsumierens und die damit verbundenen Transportprozesse von Gütern, nachzuvollziehen. Die moderne Logistik erschließt sich nicht immer auf den ersten Blick. Die Wahrnehmung erfolgt meist in der Rolle als BewohnerIn der Stadt, wenn Lieferwagen von KEP-Diensten (Kurier-Express-Paket) in der Stadt unterwegs sind oder ein LKW als Hindernis empfunden wird. Die Logistik ist in der Stadt zwar omnipräsent und dennoch nahezu unsichtbar. Die Bewusstseinsbildung für den Transport von Gütern durch die Stadt und der für den Gütertransport genutzten Verkehrsträger, Technologien, Infrastrukturen trägt wesentlich zur Erweiterung der Entscheidungsmöglichkeiten mündiger KonsumentInnen, und somit auch zur Ermöglichung von nachfragegetriebenen Technologie- oder Serviceinnovationen in der Logistik bei. Handlungsdruck besteht auf allen Ebenen und verdeutlicht die Notwendigkeit der Bewusstseinsbildung für smarte Logistik im urbanen Raum. Verkehr und damit auch Transport dürfen die Umwelt- und Lebensqualität nicht weiter im aktuellen Umfang beeinträchtigen bzw. verschlechtern. Gütertransport und Logistik in den urbanen Ballungsräumen sollen dekarbonisiert werden und entsprechende Schritte sind zu setzen. Eine gesamtheitliche Herangehensweise erscheint jedenfalls erstrebenswert, um potenzielle Rebounds zu vermeiden. Entsprechende Vorgaben in Form von Verordnungen und Strategien als Leitplanken für die Zielerreichung finden sich auf nahezu allen politischen Ebenen. Im Folgenden wird ein Auszug relevanter Rahmendokumenten in absteigender Form, von der internationalen bis hin zur Stadtebene dargestellt: ● Auf Ebene der Vereinten Nationen findet sich in diesem Kontext das auf höchster Ebene angesiedelte Übereinkommen in Form der Klimakonvention der Vereinten Nationen von Paris aus dem Jahr 2015. Es beinhaltet 5 Grünbuch: Ein integrierter Paketzustellungsmarkt für das Wachstum des elektronischen Handels in der EU, Europäische Kommission, Brüssel, den 29.11.2012, COM(2012) 698 final. (Der Paketmarkt ist zwischen 2008 und 2011 von 42,4 Mrd. Euro auf 47,2 Mrd. Euro angewachsen) 95

Nachhaltige Logistik – a call to action – oder wollen sie es selber tragen?

die Begrenzung des Anstiegs der globalen Durchschnittstemperatur auf idealerweise 1,5°C und verpflichtet die unterzeichnenden Parteien/ Staaten Emissionsreduktionen im gesamtwirtschaftlichen Kontext. Das Übereinkommen wurde im Juli 2016 ebenfalls durch den österreichischen Nationalrat ratifiziert. ● Ein Marktanteil von 10% erneuerbarer Energieträgern bei Verkehrskraftstoffen bis 2020 wird in der Richtlinie 2009/28/EG zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen festgehalten. Die Umsetzung in Österreich erfolgte durch die Kraftstoffverordnung im Jahr 2012. Das österreichische Energieeffizienzgesetz mit dem Ziel einer Energieeffizienzverbesserung um 20% bis 2020 ist die Umsetzung der Richtlinie 2012/27/EU. Darin enthalten ist unter anderem die Nutzung der Energieeinsparungspotenziale im Verkehr und in Prozessen wodurch zwei Kernbereiche der Logistik adressiert sind. ● Die wohl bekannteste Strategische Leitlinie der Europäischen Union ist das Weißbuch Verkehr KOM(2011)144, das einen einheitlichen europäischen Verkehrsraum und eine Reduktion der Treibhausgasemissionen des Verkehrs um 60% bis zum Jahr 2050 beinhaltet. Zentrale Komponente im Kontext der urbanen Logistik ist die „Erreichung einer im wesentlichen CO2freien Stadtlogistik in größeren städtischen Zentren bis 2030“. Darüber hinaus wird eine Halbierung der Nutzung „mit konventionellem Kraftstoff betriebener PKW“ im Stadtverkehr bis 2030 und vollständiger Verzicht auf solche Fahrzeuge in Städten bis 2050 angestrebt. D.h., dass die Stadtlogistik in 14 Jahren ohne Direktemissionen erfolgen soll. Dies erfordert gesamtheitliche Maßnahmen, die über den reinen Einsatz alternativ angetriebener Fahrzeuge hinausgehen und einer umfassenden Analyse und Potenzialausschöpfung bedürfen. Die Partizipation aller Stakeholder wird von wesentlicher Bedeutung sein, da konsensbasierte Veränderungen stets auf größere Akzeptanz stoßen und eine schnellere und breitere Durchdringung nach sich ziehen. Für eine umfassende Veränderung ist es von Bedeutung alle Stakeholder für die Logistik zu sensibilisieren und für Veränderung zu mobilisieren. Gerade die neuen Möglichkeiten der Vernetzung und der Verbindung physischer und virtueller Prozesse und Objekte (Internet der Dinge) wird die Zukunft der Logistik und ihr Wirken auf die Gesellschaft wesentlich beeinflussen. Neue Ideen sollen dementsprechend gesamtheitlich erhoben und Technologien auf deren Akzeptanz getestet werden.

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Neue Technologien und Konzepte der Logistik können aktiv dazu beitragen, bestehende Prozesse von fossilen Energieträgern zu entkoppeln. Dementsprechend müssen Fahrzeuge, Prozesse, Infrastrukturen und IKT (Informations- und Kommunikations-Technologie) weiterentwickelt und optimiert werden. In Zukunft gilt es, Technologien, Bedarfe und Bedürfnisse miteinander in Einklang zu bringen und darauf zu achten, dass Innovationen nicht durch starre Rahmenbedingungen im Vorfeld unterbunden werden. Die Stadt steht also vor großen Herausforderungen, bei deren Bewältigung sie auf den drei Säulen Ökonomie, Ökologie und soziale Ausgewogenheit aufbauen muss. Die Logistik kann einen nicht unwesentlichen Beitrag leisten. Mit ihren Funktionen in der Stadt, die von der Filiallogistik, über die Entsorgung, Serviceverkehre, über Kurier-, Express- und Paket-Dienste bis hin zu Baustellenverkehren reichen, hat sie Potenzial. Von der Großbaustelle bis zum kleinen Paket und von der Versorgung ganzer Krankenhäuser bis hin zur Konsumentin reicht dabei das Spektrum. Durch die Forcierung neuer Lösungen, die alternative Energien und Transportmittel einbinden, sollen Emissionen und Energieverbrauch gleichermaßen reduziert werden. Im Fokus stehen Technologien, Prozesse und Geschäftsmodelle, die bestehende oder neue Infrastrukturen effektiver nutzen, um belegten Raum für die Menschen zurück zu gewinnen, den Grünanteil in der Stadt zu halten und damit Lebens-, Umwelt- und Servicequalität nachhaltig zu steigern. Heute getroffene Entscheidungen prägen den Verkehr der Zukunft bis zu 100 Jahre (speziell bei Infrastrukturvorhaben): intermodale Bahn- und Schiffstransporte auf den langen Achsen, Dieselhybrid LKWs bis 300km, Öffentlicher Verkehr, Plugin-Hybrid- und Elektrofahrzeuge für konsolidierte Lieferungen in den Zentren. Dabei muss die Verbesserung der Mobilität stets unter Berücksichtigung eines möglichen Reboundeffekts gesehen werden (eine Effizienzsteigerung auf der Angebotsseite kann mittel- bis langfristig wiederum zu einem Anstieg auf der Nachfrageseite führen und damit den gewonnenen Vorteil egalisieren). Neben gesetzlichen Rahmenbedingungen (bspw. darf Transport nicht gratis sein) und der gesamtheitlichen und nachhaltigen Planung von Infrastrukturen bedarf es zur Bewältigung der Gütertransportnachfrage auch der Bewusstseinsbildung auf Seiten der Konsumentinnen und Konsumenten für durch Konsum induzierte Transporte und deren Auswirkungen. So können WIR alle aktiv einen Beitrag leisten.

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„Schwer fassbar und einordbar“ WALTER DOBNER

Markus Hinterhäuser im Gespräch mit Walter Dobner über die Persönlichkeit und das Schaffen von Galina Ustwolskaja. Wie sind Sie auf Galina Ustwolskaja gestoßen? Mitte der 1990iger Jahre hat man mir in einem Plattengeschäft in Salzburg eine

neue CD gezeigt: das Dies irae von Galina Ustwolskaja. Nie zuvor hatte ich eine Musik gehört, die mich so schockiert hat. Ich konnte nicht aufhören zuzuhören. 1997 haben Thomas Zierhofer-Kin und ich im Rahmen des „Zeitfluss“-Festivals der Salzburger Festspiele ein Konzert mit Werken von Ustwolskaja in der Kollegienkirche ausgerichtet. In der Woche darauf wurde darüber in der „Zeit“ in einem ganzseitigen Artikel unter dem Titel „Wer ist diese Frau?“ berichtet. Ustwolskaja war zu diesem Zeitpunkt so gut wie unbekannt. Das Publikum wusste gar nicht, wie ihm geschieht. Mit solcher Urgewalt ist diese Musik hereingebrochen. Sind Sie Ustwolskaja auch persönlich begegnet? Ein einziges Mal im Hotel Intercontinental während eines „Wien modern“-Festivals. Man hat mich in ihr Zimmer geleitet, das war fast vollständig abgedunkelt. Ustwolskaja saß in einer Ecke und machte einen eingeschüchterten Eindruck. Sie wird allgemein als scheu und sehr zurückhaltend beschrieben. Das kann ich bestätigen. Schon bald wurde mir bei diesem Gespräch klar, dass jede Frage unnötig ist, es war eher ein schweigendes Zusammenkommen. Sie hat bei mir, ohne dass ich das mystifizieren will, einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Eine im wahrsten Sinne des Wortes merkwürdige Begegnung. Wenig später kam meine Einspielung mit ihren Klaviersonaten heraus. Zwei, drei Wochen danach bekam ich einen Brief, adressiert an „Markus Hinterhäuser, Salzburg, Schweiz“. Darin teilte sie mir mit, dass ihr meine Aufnahme sehr gefällt. Nachher hatte ich keinen Kontakt mehr. Wenn man Ustwolskaja fragte, ob sie etwas zu ihren Werken sagen würde, antwortete sie, es sei schwer über die eigene Musik zu reden. Was sind die wesentlichen Charakteristika ihres Schaffens? Es ist eine Musik, die weder auf Auftrag komponiert worden ist, noch so hätte entstehen können, sondern die jemandem aus einer Dringlichkeit herausbricht. Man findet in Ustwolskajas Leben auch Schaffensperioden – etwa zwischen der vierten und fünften Klaviersonate – in denen Stille dominiert. Plötzlich bricht diese fünfte

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WALTER DOBNER

Klaviersonate wie ein Naturereignis heraus. Die vierte Sonate ist 1957 geschrieben, die fünfte 1986. Diese Musik erhebt ihre Stimme aus einer großen Isolation. Sie arbeitet mit Extremen und verlangt Extreme, wie es in der Musikgeschichte einzigartig ist, und ist von einer hohen spirituellen und physischen Anforderung an den Interpreten. Auch das ist ohne Vergleich. Dazu kommt der körperliche Einsatz für diese Musik, wie etwa die Viertelnotenketten in der zweiten Sonate. Die fünfte Sonate zwingt den Interpreten zu einer Unerbitterlichkeit, die weh tut, denn der Anschlag muss auf den Tasten zu hören sein. Das geht bis auf die Haut. Einen wichtigen Platz in Ustwolskajas Schaffen nehmen die in einem Zeitraum von vier Jahrzehnten komponierten sechs Klaviersonaten ein. Man bezeichnet sie generell als asketisch, sie sind aber doch sehr unterschiedlich. Ich denke an die Viertelnotenketten der zweiten Sonate, an das immer wieder durchscheinende Des in der fünften. Das sind doch mehr als bloße Strukturen? Es handelt sich tatsächlich um mehr als bloße Strukturen, auch wenn die fünfte Sonate extrem strukturiert ist. Die zweite Sonate besitzt eine endlose Kette von Viertelnoten, die schwer in ihrer Struktur erfassbar ist. Sie hat ab einem gewissen Punkt auch keine Taktstriche, man befindet sich hier inmitten einer völlig kargen Landschaft. Mit den üblichen, tradierten Modellen lässt sich Ustwolskajas Musik wohl nicht erklären? Das führt bei Ustwolskaja nicht weiter. Der Urgrund ihrer Musik hat gar nichts mit dem zu tun, was wir im Allgemeinen unter Neuer Musik verstehen. Es ist eine archaische Musik, eine Art von beginnender Mehrtönigkeit. Die Vierteltonketten sind charakteristisch für die Werke ihrer beginnenden Spätphase. Interpret und Hörer wird ein Weg vorgegebenen, aus dem es kein Entrinnen gibt, man muss sich diesem ausliefern. Die fünfte Sonate ist das Beispiel eines extrem strukturierten, in zehn Sätze gegliederten Werkes, das um einen zentralen Ton - man kann auch sagen um eine Zentralsonne – kreist: ein „Des“. Für mich ist dieses „Des“ eine Metapher für „Deus“, Gott. Es gibt zwar einige Aufhellungen, aber charakteristisch für diese Sonate ist ein ständiges Dunklerwerden. Ganz im Gegensatz zu einem anderen Komponisten, den man in seiner Art zu komponieren zwar mit Ustwolskaja nicht vergleichen kann, wohl aber in seiner religiösen, spirituellen Hinwendung an die Musik: Olivier Messiaen. Er drückt sich in Klangfarben aus, wie sie schöner und anziehender nicht sein könnten. Bei Ustwolskaja ist es umgekehrt: Das Material ist extrem reduziert, die Verdunkelung ist extrem groß, das verdichtet sich noch in ihren späten Stücken.

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„Schwer fassbar und einordbar“

Ändert sich Ustwolskajas Stil, wenn sie nicht nur für ein, sondern mehrere Instrumente schreibt - etwa für Klavier und Violine? Sie haben mit Patricia Kopatchinskaja die Sonate für Violine und Klavier ausgesucht sowie das Duett für Violine und Klavier, Werke aus 1952 und 1964. Beide Werke sind nach ähnlichem Muster gearbeitet wie die Klaviersonaten. Die Violinsonate entspricht der zweiten Klaviersonate, allerdings mit dem Unterschied, dass Momente einer vollkommenen Introspektion, gewissermaßen choralartige gebetsartigen Abschnitte, abgelöst werden von quälenden Viertelnoten-Wanderungen. Das Duett kann man wie ein Scharnier zur fünften Klaviersonate sehen. Es ist eines der extremsten Stücke, die ich kenne. Dieses Duo lebt von unfassbaren Entladungen, von einer kaum zu ertragenden Radikalität, bei denen es an die Wurzeln geht. Eine vollkommen archaische, elementare Musik. Es endet in einer unendlich langen Passage der Tröstung. Ein Kampf um den Engel, auch für die Interpreten. Zuvor ist alles von großer Verzweiflung und Zerrissenheit dominiert. Wieso hat es so lange gedauert, bis Ustwolskaja und ihr Schaffen auch im Westen angekommen sind? Ustwolskaja hat kaum die Sowjetunion verlassen. Es gibt nur wenige Fotos oder Interviews von ihr. Man könnte das als Selbstmystifikation bezeichnen, aber das würde zu kurz greifen. Der Grund liegt wohl darin, dass sie eine Musik komponiert hat, die nichts mit dem zu tun hat, was man gemeiniglich als „Neue Musik“ bezeichnet. Es gibt keinerlei Anschlüsse zu Komponistengrößen wie Boulez, Cage, Nono, Stockhausen, diese großen Komponistenfiguren im 20. Jahrhundert. Ihre Musik, glaube ich zu wissen, ist in einer vollkommenen Isolation entstanden, sie beschreibt auch eine Isolation. Insofern ist diese Musik auch nicht gemütlich. Im Gegensatz zu vielem anderem, was an Neuer Musik geschrieben oder apodiktisch zu Neuer Musik erklärt wurde, ist sie vollkommen unintellektuell. Sie geht in Mark und Pein, dementsprechend fordert sie. Als Interpret muss man sich ihr voll hingeben. Das hat nichts mehr mit einer strukturellen- oder einer Materialdiskussion tun, auch nicht mit Serialimus: Das ist physische, erlebbare, vollkommen emotionale Musik. Ustwolskajas Œuvre steht im Gegensatz zuallen, was in der Folge der Zweiten Wiener Schule und in Darmstadt bei den Ferienkursen zu Neuer Musik erklärt worden ist. Ustwolskaja vertritt mit ihren Werken eine schwer fassbare und einordbare Gegenposition.

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Yanis Varoufakis

Ignorance can, and often is, the price we must pay to live better. I do not need to know how my phone works to benefit from it. All I want is that when I dial Danae’s number it is Danae’s phone that rings. How the machines involved, both the individual phone and the network, achieve this, is neither here nor there. Indeed, if I invested time and mental energy in understanding what exactly goes on in the various devices surrounding me, I would have to do without other types of understanding that I value a great deal more. In engineering terms, I have just stated that, to me (as to most people), my phone is a black box: a device or system whose inner workings are opaque and whose only function I understand is how it turns inputs (e.g. my dialling a certain number) into outcomes (Danae’s phone ringing). Come to think of it, my wife’s mind is also, to my own mind, a black box: even if I were a leading neuroscientist, I would be utterly in the dark on the electro-chemical process that led her to put together this installation. Moreover, possibly because I know it to be an impossible task, I harbour no ambition to truly understanding this particular electro-chemical process. From this perspective, we are surrounded by black boxes. However, not all black boxes are as benign as my phone. Besides phones and humans, companies and states can also be seen as super black boxes. No CEO, let alone a more lowly manager, can ever get the full picture of how each and every decision is reached within his company. Bankers never truly understood the contents of the CDOs and the array of toxic derivatives their banks were churning out (and then hoarding to boot) as if there was no tomorrow. Taking matters onto a higher level, consider the example of the United States. More often than not the State Department, the White House, the relevant Senate Committees operate without much coordination with one another, yet manage to produce policies that the rest of the world recognises as… US ‘government’ policy. The difference between these black boxes (CDOs, corporations, banks, government) and my humble phone is encapsulated in a single word: power. Not the type of power associated with electricity or the crushing force of the ocean but another, subtler, power: the power to write the agenda, to determine the conversation, to implant desires into our souls, to channel the flow of information along the existing grid of social power, to draw us into the network that determines how our society works and, alas, fails.

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In 2008, our world descended in the cauldron of multiple, persistent, spectacular failures of the various power ‘networks’. Europe proved the weaker link and, within it, Greece the weakest. However, even before any of that transpired, our planet had entered an irreversible trajectory towards environmental degradation. With this multilayered crisis upon us (its economic and environmental facets being the main but not only ones), and given the high concentration of power, it is almost tempting to attribute it to some sick conspiracy among the powerful. Images spring to mind of smokey rooms, with heavy furniture and cunning men (plus the odd woman) planning how they shall profit at the expense of the common good. These are, of course, delusions. If our sharply diminished circumstances are to be blamed on a conspiracy, then it is one whose conspirators do not even know that they are part of a conspiracy. That which feels to many like a conspiracy of the powerful is the emergent property of closed networks, of the super black boxes of social power. Super black boxes take many different forms but, in essence, they are similar: Whenever a politician in the know gives a journalist an exclusive in exchange for a particular spin on the going-ons, the said journalist is appended, subconsciously, to a network of insiders. Networks of social power thus control the flow of information in a manner that excludes, co-opts and guides its individual members. They evolve organically, as if under their own steam, and guided by a supra-intentional drive that no individuals, not even the President, the CEO, the persons manning the pivotal nodes, can control. The key to power networks is exclusion, opacity. If some bank’s employee comes by inside information that is potentially damaging to the bank, whistle-blowing, e.g. leaking it to the press, it will immediately dissipate her chance at keeping some ‘power’ to herself. But, if she exchanges that ‘secret’ with private information held by some other cog in the machine of finance, then the power of this spontaneously generated pair is multiplied many-fold. This two-person de facto conspiracy then forms alliances, via further information exchanges, with other such groups. The result is a network of power within other pre-existing networks involving participants who conspire de facto without being conscious, conspirators. Fascinatingly, some network members, the ones that are only loosely attached to the network, are utterly oblivious of the network that they reinforce (courtesy of having very few contacts with it). Conceived as ‘networks of power’, as ‘conspiracies without conspirators’, the powersthat-be with the power to control our lives (the state, corporations, the media, banks, organised pressure groups etc.) are nothing more than a pile of super black boxes: No one understands how they function, not even the individuals at their helm. Yet they are the ones that convert all of our inputs into social, economic and environmental outcomes. Crucially, unlike our phones (that we may legitimately not give a damn to

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understand; to open up and inspect their inner workings), opening these super-black boxes has now become a prerequisite to the survival of decency, of whole strata of our fellow humans, of our planet even. Put simply, we have run out of excuses. IT IS, therefore, TIME TO OPEN THE BLACK BOXES! Why now? Why at all? Which boxes should we open? We need to open the black boxes now because 2008 was our generation’s 1929. Moreover, the past decade has seen the effective brewing of an environmental Armageddon. Unlike my phone that works perfectly, and for which I have no reason to open up, our global social economy is broken. And so is our planet’s environment. The super black boxes that have been running the show since the 1970s are kaputt. No longer able to autocorrect, powerless to reproduce conditions for decent living, these super black boxes must either be opened up or they will consume us, and the generations to come, into some dystopic black hole. How should we do it? First, we need to acquire a readiness to recognise that we may very well, each one of us, be a node in the network; an ignorant de facto conspirator. Secondly, and this is the genius of Wikileaks, if we can get inside the network, like Theseus entering the Labyrinth, and disrupt the information flow; if we can put the fear of uncontrollable information leaking in the mind of as many of its members as possible, then the unaccountable, malfunctioning networks of power will collapse under their own weight and irrelevance. And then humanity will get another chance to organise an escape from its current cul de sac. Thirdly, by desisting any tendency to substitute old closed networks with new ones. None of this will be easy. The networks will respond violently, as they are already doing. They will turn more authoritarian, more closed, more fragmented. But this is OK. They will, no doubt, close up and fragment in order to stop the ‘break-ins’. They will expend greater effort at hindering the opening of their black boxes. They will become increasingly preoccupied with their own ‘security’ and monopoly of information, less trusting of common people. However, the more they move in this direction the more seriously they shall deplete their capacity to attract and centralise that which makes them tick: fresh, untainted, plentiful information from people that have not yet been co-opted. None of this is, of course, new. In his fabled The Prince, Niccolo Machiavelli, an early exemplar amongst the advisers to the powers-that-be, advised his Prince never to allow the popolo a glimpse of what evils were brewing inside the black boxes of his

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time1. His was, admittedly, a more innocent time when it was still excusable to think that centralised power and information would smoothen humanity’s passage to the good society. Tragically, the tide has gone out on such optimism. State-controlled centralisation got its comeuppance with communism’s collapse in 1991, a turn of events that saw the multiplication and reinforcement of the ‘other’ side’s black boxes, with the Crash of 2008 being the natural conclusion of such hubris. Today, amidst the pessimism of our post-2008, to quote Slavoj Zizek, “we face the shameless cynicism of a global order whose agents only imagine that they believe in their ideas of democracy, human rights and so on. Through actions like the Wikileaks disclosures, the shame – our shame for tolerating such power over us – is made more shameful by being publicised.” Danae Stratou’s new installation goes one step beyond shaming and exposing. It turns the black boxes into art objects that simultaneously encapsulate our fears and hopes, our helplessness and our capacities, our inhuman constraints and human capabilities. Her opened boxes act as a subversive incitement not only to counter our fears and the powers-that-be at once but, additionally, to fashion ideas of new forms of shared power and prosperity.

1 Thus it happens in matters of state; for knowing afar off (which it is only given a prudent man to do) the evils that are brewing, they are easily cured. But when, for want of such knowledge, they are allowed to grow until everyone can recognize them, there is no longer any remedy to be found. (The Prince, Niccolo Machiavelli [1469-1527])

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DANAE STRATOU IM MUSEUMKREMS

DANAE STRATOU IM MUSEUMKREMS

DANAE STRATOU IM MUSEUMKREMS

Credit: GLOBART

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DANAE STRATOU IM MUSEUMKREMS

Credit: Vasilis Kountouris

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REFERENTINNEN & REFERENTEN

REFERENTINNEN & REFERENTEN ARAL BALKAN Gründer & Designer von ind.ie, einem Sozialunternehmen, das Technologie mit Respekt vor Menschenrechten, menschlichem Bemühen und Erfahrungen verbindet. Autor des „Ethical Design Manifesto“. Entwickler von Heartbeat, einem Datenschutz respektierenden sozialen Netzwerk. PHILIPP BLOM Geboren in Hamburg, Studium der Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford. Lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien. Schreibt regelmäßig für europäische und amerikanische Zeitschriften und Zeitungen. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, zuletzt: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900 – 1914 (2009), Die zerrissenen Jahre. 1918 – 1938 (2014), Bei Sturm am Meer (2016). WALTER DOBNER Studium der Rechtswissenschaften, Dr. iur., Professor. Zuletzt in leitenden Funktionen der Wiener Stadtverwaltung. Musikkritiker (u.a. Die Presse, DIE FURCHE) , Programmautor (u.a. Wiener Staatsoper, Wiener Philharmoniker, Salzburger Festspiele). Mehrere Publikationen. Zahlreiche Booklets. Direktor der Wiener Hofmusikkapelle. BARBARA FRISCHMUTH In der Steiermark geboren, lebt seit einigen Jahren wieder in ihrem Geburtsort Altaussee. Studierte Türkisch, Ungarisch, Orientalistik. Freie Autorin. 1967 erschien ihre erste Übersetzung im Rowohlt Verlag. Ein Jahr darauf veröffentlichte sie ihr erstes Werk „Die Klosterschule“ bei Suhrkamp. Von da an publizierte sie Romane, Erzählungen, Dramen, Hörspiele und weitere Übersetzungen aus dem Ungarischen. HARRY GATTERER Trendforscher, Geschäftsführer des Zukunftsinstituts und Experte für „New Living“. Kam über Design zur Trendforschung. Gründete sein erstes Unternehmen im Alter von 20 Jahren. Zwei Jahre Vorsitzender der „Jungen Wirtschaft Österreichs”. LISA HERZOG Studium der Philosophie, Volkswirtschaftslehre, Politologie und Neuere Geschichte in

München und Oxford. Promotion in Oxford. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU München und der Universität St. Gallen, Postdoc am Institut für Sozialforschung

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und am Exzellenzcluster Normative Ordnungen der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Veröffentlichungen: Inventing the Market. Smith, Hegel, and Political Theory (Oxford 2013), Freiheit gehört nicht nur den Reichen (München 2014), Der Wert des Marktes (hg. mit Axel Honneth, Berlin 2014). MARKUS HINTERHÄUSER Klavierstudium am Konservatorium der Stadt Wien und am Mozarteum Salzburg, Meisterkurse bei Oleg Maisenberg und Elisabeth Leonskaja. Mitbegründer und Leiter des „Zeitfluss-Festivals“ (Salzburger Festspiele) und von „Zeit-Zone“ (Wiener Festwochen). 2006 bis 20011 Konzertdirektor der Salzburger Festspiele, 2011 Intendant. Leitete von 2014 bis 2016 die Wiener Festwochen. Ab 2017 Intendant der Salzburger Festspiele. Als Pianist Auftritte in den bedeutendsten Konzertsälen und bei den international renommierten Festivals. Interpretatorische Schwerpunkte sind die Werke der 2.Wiener Schule, von Scelsi, Cage, Nono, Stockhausen, Feldman, Ligeti und Ustwolskaja. Zahlreiche Platteneinspielungen. STEPHAN A. JANSEN Gründer des Center for Philanthropie & Civil Society (PhiCS), Karlshochschule, Karlsruhe. Autor sowie Kolumnist, Wissenschaftlicher Politik-, Stiftungs- und Unternehmensberater. Seit 1999 Visiting Researcher an der Stanford University. Nominiert für die globale Listung „Thinkers50“ 2017. Von 2003 bis 2014 Gründungspräsident der Zeppelin Universität. PAULO KALKHAKE Master of Public Policy Candidate der Hertie School of Governance in Berlin. Arbeitet im Grundsatzreferat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, zuvor in der Privatwirtschaft. Engagiert sich zu Fragen der Arbeitswelt und Digitalisierung, u. a. beim Berliner Think Tank Das Progressive Zentrum und Polis180. SANDRA KEGEL Geboren in Frankfurt am Main. Studium der Literatur, Germanistik, Romanistik, Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Aix-en-Provence, Wien und Frankfurt am Main. Seit 1999 Redakteurin im Feuilleton der FAZ, seit 2008 Ressortleiterin für Literatur und Literarisches Leben. Jurorin bei mehreren Literaturpreisen, wie Preis der Leipziger Buchmesse, dem Friedrich-Hölderlin-Preis und dem Ingeborg-BachmannPreis. Trägerin des Ravensburger Medienpreises.

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REFERENTINNEN & REFERENTEN

SILVIA LINDTNER Assistenzprofessorin an der Universität von Michigan an der School of Information und der School of Art and Design. Forschungsinteressen transnationale Innovationsund Unternehmernetzwerke, DIY (do it yourself) Machen und Hacken, Forschungsund Technologiestandpunkte Chinas und digitale Kulturen. MICHAEL MADARY Studium in den USA und Deutschland. Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Mainz und im VERE Projekt (Virtual Embodiment and Robotic Re-Embodiment). Spezialisiert auf Ethiken aufkommender Technologien und der Philosophie der Psyche. VALERIE MÜHLENBURG Gründerin und Geschäftsführerin des Vereins the CONNECTION. Schon vor der Gründung von the CONNECTION war Valerie in der Sozialarbeit tätig, u.a. bei CONCORDIA, einer Organisation, die sich um Straßenkinder in Osteuropa kümmert. Bei CONCORDIA hat Valerie Mühlenburg in der Republik Moldau bei dem Aufbau eines Kinderdorfes mitgearbeitet. Neben diesen praktischen Erfahrungen hilft ihr eine Ausbildung als logotherapeutische Beraterin bei der Arbeit mit den Jugendlichen und ein Diplom zur Gastronomiemanagerin bei der Leitung des Cafés. MARTIN POSSET Geboren in Wien. Partner der h2 projekt.beratung KG in Wien. Seit 2009 Einzelunternehmer (mchp mobility | chains | processes ). Lektor an der Boku Wien. Mitarbeiter des „Councils für Nachhaltige Logistik“, Experte des „Ressort Green Logistics“ des Zentralverbandes „Spedition und Logistik“, Leiter des „Forums Green Logistics“ und „Forum Logistics Intelligence“ der Unitcargo Gruppe. Seit 2015 stellvertretender Vorsitzender des Arbeitskreises „Kombinierter Verkehr“ der Österreichischen Verkehrswissenschaftlichen Gesellschaft. SARAH SPIEKERMANN Geboren in Düsseldorf. Leitete nach Promotion und Habilitation an der HumboldtUniversität Berlin das Berliner Forschungszentrum für Internetökonomie. Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU) und Leiterin des Instituts für Betriebswirtschaft und Wirtschaftsinformatik. Im Januar 2016 erschien ihr Lehrbuch „Ethical IT Innovation – Ein Werte-basierter Ansatz für die Systementwicklung“.

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JANNIKE STÖHR Wirtschaftswissenschaftlerin, Kauffrau für Bürokommunikation. Nach Jahren in der Personalabteilung eines Industrieunternehmens testete sie dreißig Jobs in einem Jahr. Während dieser Traumjob-Suche gewann sie eine neue Einstellung zur Arbeit und zur Berufsorientierung. Hilft heute Menschen bei der Orientierung und Sinnsuche über ihre Online-Beratung talk-to-me.online. DANAE STRATOU Studierte an der Central School of Art and Design in London. Von 1983 bis 1988 Professur an der School of Fine Arts in Athen. Repräsentierte ihr Heimatland Griechenland bei zahlreichen Biennalen mit Werken, die auf digitalen, audiovisuellen und architektonischen Komponenten beruhen. Ausstellungen u.a. in Venedig, Valencia, Sevilla, Istanbul, Gyumri und Adelaide. Gründete 2010 die non-profit Organisation Vital Space, eine globale, interdisziplinäre Kunstplattform, die sich aus künstlerischer Perspektive mit aktuellen Problemen der Welt beschäftigt. MIZGIN SÖNMEZ Geboren in St. Pölten als Tochter türkischer Eltern, die vor zwanzig Jahren nach Österreich gezogen sind. Besucht die 8. Klasse ORG des Stiftsgymnasium Melk. YANIS VAROUFAKIS Geboren in Athen. Studierte in England Mathematik und Wirtschaft. Lehrte an den Universitäten von Essex, East Anglia, Cambridge. Sydney, Glasgow, Catholique de Louvain, Austin und Athen Spieltheorie, Wirtschaft, Politische Philosophie und Volkswirtschaft. Autor zahlreicher Bücher. 2015 griechischer Finanzminister.

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IMPRESSUM IMPRESSUM Herausgegeben von GLOBART - Denkwerkstatt für Zukunftsthemen Präsident: Dr. Wilfried Stadler Redaktion: Prof. Heidemarie Dobner, Mag. Veronika Grubmann, Anna-Maria Natlacen Künstler der Academy: Camilo Antonio, Jakob Brossmann, Magdalena Chowaniec, David Fray, Barbara Frischmuth, Markus Hinterhäuser, Hans Hoffer, Patricia Kopatchinskaja, Ion Neculai, Mani Obeya, Danae Stratou, The Common Blue Der Herausgeber dankt den Sponsoren: Niederösterreichische Landesregierung, Bundeskanzleramt - Sektion Kunst, BMEIA, BMVIT, Donau-Universität Krems, ecoplus - die Wirtschaftsagentur des Landes Niederösterreichs

Layout, Covergestaltung und Satz: Anna Finlay Lektorat: Anna-Maria Natlacen, MMag. Sigrid Polster, MBA, MES Library of Congress Cataloging-in-Publication data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung

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dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Dieses Buch ist auch als E-Book (ISBN PDF 978-3-11-054371-1) erschienen © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF ∞ Printed in Austria ISSN 1611-7468 ISBN 978-3-11-054333-9 9 8 7 6 5 4 3 2 1

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