Wirklichkeit im Wandel: Schreibweisen des Realismus bei Balzac und Houellebecq 9783839454749

Die Romane von Michel Houellebecq betreiben eine schonungslose Analyse der Gesellschaft mit ihren alten und neuen Ökonom

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Wirklichkeit im Wandel: Schreibweisen des Realismus bei Balzac und Houellebecq
 9783839454749

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1. Einleitung
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
1.2 Stand der Forschung
1.3 Korpus und Gliederung der Arbeit
2. Theoretische ›Realismus‹-Diskurse im 20. Jahrhundert
2.1 Der Epochenbegriff ›Realismus‹ und das Problem seiner Bestimmung
2.2 ›Realismus‹ zwischen Widerspiegelung und Nachahmung
2.3 Von der Nachahmung zur Darstellung
2.4 Von der Darstellung zum »Code« der Repräsentation
3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans
3.1 Der »Avant-propos« als Programmschrift einer wissenschaftlichen Romanpoetik
3.2 Das mimetische Begehren als Strukturprinzip der Erzählung und Motor der gesellschaftlichen Dynamik: La Cousine Bette (1846)
3.3 Groteske Wirklichkeitsverzerrung und die Grenzen des wissenschaftlichen ›Realismus‹: Le Cousin Pons (1847)
4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne
4.1 Von der Irreversibilität des Verfalls: Houellebecqs Funktionsbestimmung des Romans
4.2 Leiden als Ausgangspunkt für das Schreiben: Extension du domaine de la lutte (1994) und die Neubegründung des Romans als Wissenschaft
4.3 Gesellschaftskritik und Wissenschaftsskepsis in Les particules élémentaires (1998)
4.4 Das Ende der Glaubwürdigkeit: ›postmodernes‹ Erzählen in La carte et le territoire (2010)
4.5 Soumission (2015) oder die Suche nach einem Ausweg aus der Krise der westlichen Zivilisation
5. Zusammenfassung
Einführung
Literaturverzeichnis

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Gero Faßbeck Wirklichkeit im Wandel

Lettre

Meiner Mutter

Gero Faßbeck, geb. 1985, ist wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Romanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Gero Faßbeck

Wirklichkeit im Wandel Schreibweisen des Realismus bei Balzac und Houellebecq

Eingereicht als Dissertation mit dem Titel »Wirklichkeit im Wandel. Schreibweisen des ›Realismus‹ bei Honoré de Balzac und Michel Houellebecq« an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf.

D61

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5474-5 PDF-ISBN 978-3-8394-5474-9 https://doi.org/10.14361/9783839454749 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

1. 1.1 1.2 1.3

Einleitung................................................................................ 9 Problemstellung und Zielsetzung .......................................................... 9 Stand der Forschung ..................................................................... 16 Korpus und Gliederung der Arbeit ......................................................... 19

2. 2.1 2.2 2.3 2.4

Theoretische ›Realismus‹-Diskurse im 20. Jahrhundert ................................. 21 Der Epochenbegriff ›Realismus‹ und das Problem seiner Bestimmung ..................... 21 ›Realismus‹ zwischen Widerspiegelung und Nachahmung ................................ 28 Von der Nachahmung zur Darstellung .................................................... 35 Von der Darstellung zum »Code« der Repräsentation ..................................... 41

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans............................... 49 3.1 Der »Avant-propos« als Programmschrift einer wissenschaftlichen Romanpoetik ......... 49 3.2 Das mimetische Begehren als Strukturprinzip der Erzählung und Motor der gesellschaftlichen Dynamik: La Cousine Bette (1846) ........................ 57 3.2.1 Fiktionalisierung und Rezeptionssteuerung im Incipit .............................. 57 3.2.2 Die Zerstörung des Vater-Mythos und die Mimesis des Begehrens .................. 60 3.2.3 Die Ironisierung romantischer Diskurse von Liebe und Kunst....................... 68 3.2.4 Die Kunst als Medium der Selbstreflexion des Erzählten............................ 73 3.2.5 Weibliche Macht versus männliche Ohnmacht ..................................... 77 3.2.6 Die Titelheldin als Verkörperung einer unbändigen Naturgewalt .................... 83 3.2.7 Die neue Atala und der vorauseilende Schatten der Revolution ..................... 88 3.3 Groteske Wirklichkeitsverzerrung und die Grenzen des wissenschaftlichen ›Realismus‹: Le Cousin Pons (1847) ....................................................... 93 3.3.1 Der Romanbeginn und die groteske Gestaltung des Titelhelden..................... 93 3.3.2 Der Parasit als Metapher für Störfunktionen des Sozialen .......................... 99 3.3.3 Die Vertreibung des Parasiten und seine Stigmatisierung zum Sündenbock.........106 3.3.4 Das ›Monströse‹ und die Entstehung eines kapitalistischen Ausbeutungssystem ... 110 3.3.5 Die parodistische Transformation des Melodramas ................................ 118 3.3.6 Das Ende des romantischen Kunstideals .......................................... 122 3.3.7 Das Groteske als Symptom einer »entfremdeten« Welt ............................126

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne ................................... 133 4.1 Von der Irreversibilität des Verfalls: Houellebecqs Funktionsbestimmung des Romans .... 133 4.2 Leiden als Ausgangspunkt für das Schreiben: Extension du domaine de la lutte (1994) und die Neubegründung des Romans als Wissenschaft ............................ 143 4.2.1 Das Erwachen des Schelms ...................................................... 143 4.2.2 Schöne neue (Arbeits-)Welt ....................................................... 149 4.2.3 Auf der Suche nach einem neuen Stil..............................................152 4.2.4 Von der Notwendigkeit eines theoriegeleiteten Schreibens .........................155 4.2.5 Das Verhältnis von Freiheit und Determination.................................... 163 4.2.6 Liebe und Gewaltverzicht als höchste Formen der Freiheit .........................169 4.2.7 Pathologien des Sozialen ......................................................... 179 4.2.8 Die erschöpfte westliche Kultur ..................................................184 4.2.9 Die Karte als poetologische Metapher ............................................ 189 4.3 Gesellschaftskritik und Wissenschaftsskepsis in Les particules élémentaires (1998) ........195 4.3.1 Der Romaneingang als Pastiche eines ›realistischen‹ Romans? ....................195 4.3.2 Die Konkurrenz von wissenschaftlichem und moralistischem Diskurs .............. 199 4.3.3 Houellebecqs »Theorie« der Liebe als einer Gabe................................. 207 4.3.4 Die drei Geschichtsebenen des Romans ........................................... 214 4.3.5 Das Verhältnis von Sozial- und Ideengeschichte ................................... 219 4.3.6 Die Quantenmechanik als Beschreibungsmodell der sozialen Wirklichkeit ......... 225 4.3.7 Der utopische Romanschluss zwischen Ironie und Ernst .......................... 236 4.4 Das Ende der Glaubwürdigkeit: ›postmodernes‹ Erzählen in La carte et le territoire (2010) ................................................ 242 4.4.1 Ein ›postmoderner‹ Roman? ..................................................... 242 4.4.2 Die Möbius-Schleife als Grundstruktur der Erzählung ............................. 248 4.4.3 Vom Scheitern der Liebe und anderer Utopien .................................... 253 4.4.4 Untergangsvisionen des Kapitalismus ........................................... 259 4.4.5 Rollenspiel und Maskerade: der Autor und sein fiktives Alter Ego .................. 269 4.4.6 Auf der Suche nach dem ›wahren‹ Michel Houellebecq............................ 275 4.4.7 Reise ins Reich der ›Hyperrealität‹ ................................................ 281 4.5 Soumission (2015) oder die Suche nach einem Ausweg aus der Krise der westlichen Zivilisation ................................................ 287 4.5.1 Zwischen realistischer Gegenwartsbeschreibung und fiktiver Zukunftsvision....................................................... 287 4.5.2 Das Unbehagen an der westlichen Zivilisation ..................................... 291 4.5.3 Der Ich-Erzähler als Personifikation des Niedergangs der westlichen Kultur ............................................................ 295 4.5.4 Die Suche nach einem Ausweg aus dem »Tunnel« der Moderne ................... 300 4.5.5 Erneuerung durch Unterwerfung? ............................................... 306 4.5.6 Von der Unterwerfung zum Verlust der Freiheit ................................... 312 4.5.7 Der offene Romanschluss als Verfahren der Ambiguisierung ....................... 317 5.

Zusammenfassung...................................................................... 321

Literaturverzeichnis......................................................................... 333

Danksagung

Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im September 2019 von der Philosophischen Fakultät der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf angenommen wurde. Mein herzlicher Dank gilt Frau Prof. Dr. Ursula Hennigfeld (Universität Düsseldorf), die diese Arbeit mit unermüdlichem Einsatz begleitet hat und die mir stets das Vertrauen entgegengebracht hat, mein Interesse für die Literatur in Form einer Promotion wissenschaftlich zu verfolgen. Mit ihrer Hilfsbereitschaft, ihren kritischen Fragen und ihrer Geduld hat sie sehr zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Bedanken möchte ich mich auch bei meinem Zweitgutachter, Herrn Prof. Dr. Thomas Klinkert (Universität Zürich), den ich bereits während meines Studiums in Freiburg als wissenschaftlichen Lehrer schätzen gelernt habe und der mir insbesondere für die Überarbeitung noch einmal wertvolle Ratschläge mit auf den Weg gegeben hat. Meinen wunderbaren Kolleginnen Julia und Jenny danke ich für ihre Freundschaft und die gemeinsame Zeit mit allen Freuden und Strapazen. Bei Philipp, mit dem ich hinsichtlich Houellebecq nicht immer einer Meinung war, bedanke ich mich für all die nächtlichen Gespräche und Diskussionen, die mir geholfen haben, mich zu verteidigen. Ein besonderer Dank gilt meiner Schwester Julia und meiner Mutter, die mir gerade in schwierigen Zeiten immer wieder Mut gemacht haben. Mein größter Dank schließlich gebührt Lara, die immer für mich da ist und ohne deren Unterstützung dieses Buch wahrscheinlich nie zu einem Abschluss gelangt wäre. Düsseldorf im Februar 2021 Gero Faßbeck

1. Einleitung »Indiquer les désastres produits par les changements des mœurs est la seule mission des livres.«1 (Honoré de Balzac, Vorwort zu Les Employés)

»[…] le roman, prisonnier d’un comportementalisme étouffant, finit par se tourner vers sa seule, son ultime planche de salut : l’›écriture‹ […]. En somme il y aurait d’un côté la science, le sérieux, la connaissane, le réel. De l’autre la littérature, sa gratuité, son élégance, ses jeux formels ; la production de ›textes‹, petits objets ludiques commentables par l’adjonction de préfixes (para, méta, inter). Le contenu de ses textes ? Il n’est pas sain, il n’est pas licite, il est même imprudent d’en parler.«2 (Michel Houellebecq, Lettre à Lakis Proguidis)

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Problemstellung und Zielsetzung

Im Vorwort zur ersten Auflage seines Romans Les Employés aus dem Jahr 1836 schreibt Balzac, die Aufgabe des Romanciers bestehe darin, die aus dem Wandel der gesellschaftlichen Sitten sich ergebenden Unglücksfälle und Katastrophen zu beschreiben. Mehr als anderthalb Jahrhunderte nach ihm erklärt der französische Gegenwartsschriftsteller Michel Houellebecq, dass sich die Literatur des 20. Jahrhunderts auf Abwege begeben hätte, weil sie die Frage nach dem Gegenstand der Literatur ausgeblendet und sich auf 1 2

Zit. nach: Honoré de Balzac, La Comédie humaine, hg. von Marcel Bouteron, Bd. 7, Paris: Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade), 1977, S. 895. Den Brief findet man zusammen mit Aufsätzen und Interviews des Autors abgedruckt in einem Sammelband mit dem Titel Interventions (im Folgenden abgekürzt als INT). Vgl. Michel Houellebecq, »Lèttre à Lakis Proguidis«, in: ders., Interventions, Paris: Flammarion, 1998, S. 49-56, hier S. 53.

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Wirklichkeit im Wandel

das Konzept der Schreibweise (écriture) konzentriert habe.3 Seine Kritik richtet sich vor allem gegen die von den »Formalisten des Nouveau roman« losgetretene Entwicklung, die mit der Autorität Balzacs und des ›realistischen‹ Romans gebrochen habe. Den Verfechtern einer autoreflexiven écriture entgegnet Houellebecq, dass Balzac der »geistige Vater eines jeden Schriftstellers« sei und dass diejenigen, die sich dem Autor der Comédie humaine nicht verpflichtet fühlten, »von der Kunst des Romans auch nicht das Geringste verstanden«4 hätten. Tatsächlich ist die traditionelle Erzählweise eines Balzac im Zuge der Erneuerungsbemühungen des Romans in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gleich aus zwei Richtungen in Verruf geraten: zum einen durch die Autorinnen und Autoren des Nouveau roman, die sich von eben dieser Tradition absetzen wollten, und zum anderen durch die Vertreter einer Nouvelle critique, für die der ›realistische‹ Roman des 19. Jahrhunderts zum Synonym für eine formal unterkomplexe und ideologisch fragwürdige (›lesbare‹) Literatur geworden war. In L’ère du soupçon (1956) stellt Nathalie Sarraute die Behauptung auf, dass sich Autor und Leser im 20. Jahrhundert nur noch mit gegenseitigem Misstrauen begegnen könnten.5 Ihr Schriftstellerkollege Alain Robbe-Grillet erklärt die traditionellen Elemente des Romans in Pour un nouveau roman (1963) gleich ganz für überholt, weil sie die Illusion eines »univers stable, cohérent, continu, univoque, entièrement déchiffrable«6 erzeugten. Nach Robbe-Grillet stellte das Erzählen im

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In besagtem Brief an Lakis Proguidis gibt sich Houellebecq entsetzt »par cette idée stupide que la littérature est un travail sur la langue ayant pour objet de produire une écriture« (INT, 54). Die Aussagen des Autors stammen aus einem Essay über Alain Robbe-Grillet, den führenden Kopf des Nouveau Roman, mit dem Houellebecq nicht nur seine gemeinsame Ausbildung auf der Agrarhochschule in Paris, sondern auch eine gegenseitige Abneigung ihrer jeweiligen Auffassungen von Literatur verbindet. Die zitierte Passage lautet im Wortlaut: »Répétait-il [Robbe-Grillet] contre toute évidence que Balzac correspondait à une période de stérilité, de glaciation dans la littérature française ? Je portais aussitôt Balzac au pinacle, affirmant qu’il était le deuxième père de tout romancier, et que nul, s’il n’avouait à Balzac allégeance et amour, ne pouvait prétendre avoir compris le premier mot de l’art du roman […].« Zit. nach: Michel Houellebecq, »Coupe de sol«, in: ders., Interventions 2, Paris: Flammarion, 2009, S. 275-282, hier S. 278f. »Et, selon toute apparence, non seulement le romancier ne croit plus guère à ses personnages, mais le lecteur, de son côté, n’arrive plus à y croire. Aussi voit-on le personnage de roman, privé de ce double soutien, la foi en lui du romancier et du lecteur, qui le faisait tenir debout, solidement d’aplomb, portant sur ses larges épaules tout le poids de l’histoire, vaciller et se défaire.« Nathalie Sarraute, L’ère du soupçon: essais sur le roman, Paris: Gallimard, 1956, S. 71. Vgl. Alain Robbe-Grillet, »Sur quelques notions périmées« (1957), in: ders., Pour un nouveau roman, Paris: Gallimard, 1963, S. 29-53, hier S. 37. Zu den »notions périmées« zählt Robbe-Grillet sowohl die Romanfigur (le personnage) im Sinne eines wiedererkennbaren Charakters, der über einen Namen und eine eigene Vergangenheit verfügt, als auch die Geschichte (l’histoire) im herkömmlichen Sinne, verstanden als eine lineare Erzählung unter Einsatz des passé simple und des Pronomens der dritten Person Singular. Als überholt gilt Robbe-Grillet aber auch die Idee einer engagierten Literatur (l’engagement), weil sie die Kunst in den Dienst einer fremden Sache stelle und damit ihren Autonomieanspruch untergrabe. Für nicht weniger problematisch hält er die Unterscheidung zwischen Inhalt und Form (la forme et le contenu), denn weder enthalte der Roman irgendetwas noch drücke er etwas aus. Streng genommen habe der Schriftsteller nämlich gar nichts zu sagen: »Il a seulement une manière de dire. Il doit créer un monde, mais c’est à partir de rien, de la poussière…« Ebd., S. 51.

1. Einleitung

19. Jahrhundert kein Problem dar, weil die Romanschriftsteller noch daran glaubten, dass sich die Welt mühelos entziffern ließe: »Comme l’intelligibilité du monde n’était pas mise en question, raconter ne posait pas de problème. L’écriture romanesque pouvait être innocente. Mais voilà que, dès Flaubert, tout commence à vaciller. Cent ans plus tard, le système entier n’est plus qu’un souvenir […]. Il s’agit désormais d’autre chose. Raconter est devenu proprement impossible.«7 Dagegen sei das Erzählen einer herkömmlichen Geschichte im 20. Jahrhundert nahezu unmöglich geworden, da es für den Schriftsteller heute nur noch partielle, provisorische und anfechtbare Gewissheiten geben könne. Aus diesem Grund fordert Robbe-Grillet dazu auf, mit der Autorität Balzacs zu brechen und eine neue Form des Schreibens zu entwickeln. Was ihm vorschwebt, ist eine Schreibweise, die alle Gegenstände und Objekte von der »tyrannie des significations«8 befreit. Die Schwierigkeit einer solchen Schreibweise bestehe darin, lediglich die Oberfläche der Dinge zu betrachten, ohne subjektive Emotionen oder wertende Metaphern. An Balzac kritisiert er, dass dieser den Dingen einen vorgefertigten Sinn aufzwinge, obwohl die Welt an sich keine Sinnhaftigkeit besitze. Für den modernen Schriftsteller, so Robbe-Grillet, hätten die Dinge jedoch keine tiefere Bedeutung, sie seien aber auch nicht »absurd«, sondern schlicht und ergreifend da: »Or le monde n’est ni signifiant ni absurde. Il est, tout simplement. […] Autour de nous […], les choses sont là. Leur surface est nette et lisse, intacte, sans éclat louche ni transparence.«9 Ähnlich argumentiert auch Roland Barthes in einem Aufsatz mit dem Titel Nouveaux problèmes du réalisme (1956). Genau wie Robbe-Grillet hält Barthes den ›Realismus‹ des 19. Jahrhunderts für einen »réalisme des types et des essences«10 , den er durch einen »réalisme de la surface«11 ersetzen möchte. Die vorrangige Aufgabe einer modernen (›schreibbaren‹) Literatur besteht ihm zufolge darin, die überlieferten Bedeutungen der Dinge abzustreifen und die Wirklichkeit »neu zu sehen«, um dem Leser auf diese Weise bewusst zu machen, in welchem Maße seine Sicht auf die Welt durch vorgegebene Wahrnehmungsmuster beeinflusst wird. Allerdings erkennt Barthes das Problem einer solchen ›Realismus‹-Konzeption, wenn er hinzufügt »[que] la contingence de l’objet ne peut être en aucune façon un élément du réalisme final, car le réalisme est essentiellement signification«12 . Wie im Verlauf dieser Studie gezeigt werden soll, kommt der ›Realismus‹ kaum ohne Bedeutungszuschreibungen aus. Das gilt sowohl für den ›traditionellen‹ Roman eines Balzac im 19. Jahrhundert wie für das ›post-realistische‹ Erzählen Houellebecqs im 21. Jahrhundert. Klar ist allerdings auch, dass sich ein zeitgenössischer ›Realismus‹

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Ebd., S. 37. Alain Robbe-Grillet, »Une voie pour le roman futur« (1956), in: ders., Pour un nouveau roman, Paris: Gallimard, 1963, S. 17-27, hier S. 24. Ebd., S. 21. Roland Barthes, »Nouveaux problèmes du réalisme« (1956), in: ders., Œuvres complètes, Bd. 1: Livres, textes, entretiens 1942-1961, hg. von Éric Marty, Paris: Seuil, 2002, S. 656-659, hier S. 657. Ebd., S. 658. Ebd., S. 659.

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nicht ohne Weiteres über die Entwicklungen der Literatur im 20. Jahrhundert hinwegsetzen kann. Insbesondere nicht nach den diversen Erneuerungsversuchen des Romans, in deren Verlauf die Bezeichnung ›Realismus‹ zu einer Chiffre für eine unliebsam gewordene Form des Schreibens geworden ist. Insofern hätte sich jeder neue ›Realismus‹ zunächst einmal von dem Erbe der Vergangenheit abzusetzen, bevor er den Anschluss an die literarische Tradition des 19. Jahrhunderts proklamieren kann. In seinen theoretischen Schriften hat Houellebecq genau dies getan, indem er mehrfach pointiert auf seine Abneigung gegen Robbe-Grillet und den Nouveau roman hingewiesen hat.13 Den formalen Experimenten des Nouveau roman stellt Houellebecq eine Literaturkonzeption gegenüber, die sich mit aktuellen Themen und Problemen der realen Welt beschäftigt.14 Diese Haltung verleiht ihm bisweilen eine Sonderstellung innerhalb des zeitgenössischen literarischen Feldes.15 Gleichwohl ist sich Houellebecq bewusst, dass für den Schriftsteller heute ganz andere Voraussetzungen gelten als für den Romancier des 19. Jahrhunderts. Während die Fähigkeit der Literatur, auf eine außersprachliche Wirklichkeit Bezug zu nehmen, im 19. Jahrhundert außer Frage stand, zeichnet sich die Postmoderne durch ein grundsätzliches Misstrauen in die Repräsentationsfähigkeit der Sprache aus. Von diesem Misstrauen hat sich die Literatur noch immer nicht erholt, wie Dominique Viart erklärt, denn für den zeitgenössischen Schriftsteller ist es geradezu unmöglich, hinter die Einsicht zurückzukehren »que tout récit légitimant ou non, a perdu sa crédibilité en raison même d’une perte de crédibilité du langage«16 . Aber nicht nur das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit ist problematisch geworden, auch die Legitimationsgrundlage des Wissens hat sich verändert. In der »condition postmoderne«17 können Wahrheiten nicht länger durch 13

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So zum Beispiel in dem bereits zitierten Aufsatz mit dem Titel »Coupe de sol«, auf den im Zusammenhang mit Houellebecqs Debütroman genauer einzugehen sein wird. Darin berichtet Houellebecq, wie sehr ihn die Lektüre der Romane seines Schriftstellerkollegen gelangweilt habe: »[L]es ouvrages d’Alain Robbe-Grillet m’ont inspiré d’emblée un ennui profond, radical, j’ai consacré des heures, peut-être des journées d’effort à essayer de les lire. Je procédais comme on le fait d’ordinaire en pareil cas : je sautais une cinquantaine de pages pour voir si ça s’arrangerait plus loin, je changeais de livre, je me disais que j’allais tenter ma chance plus tard, à un autre moment de la journée, dans des circonstances plus favorables. Rien pourtant ne venait tempérer mon ennui, rien ne venait atténuer ma certitude que tout cela n’avait ni intérêt, ni sens.« Michel Houellebecq, »Coupe de sol«, a.a.O., S. 275. Vgl. hierzu die Aussage des Autors: »[…] si l’art parvenait à donner une image à peu près honnête du chaos actuel, je crois que ce serait déjà énorme ; et qu’on ne pourrait vraiment rien lui demander de plus« (INT, 118). »Je ne me situe ni pour ni contre aucune avant-garde mais je me rends compte que je me singularise par le simple fait que je m’intéresse moins au langage qu’au monde. Je suis fasciné par les phénomènes inédits du monde dans lesquels nous vivons et je ne comprends pas comment les autres poètes arrivent à s’y soustraire : vivent-ils tous à la campagne ? Tout le monde va au supermarché, lit des magazines, tout le monde a une télévision, un répondeur… Je n’arrive pas à dépasser cet aspect des choses, à échapper à cette réalité ; je suis effroyablement perméable au monde qui m’entoure« (INT, 110-111). Dominique Viart, »Filiations littéraires«, in: Baetens, Jan/Viart, Dominique (Hg.), Écritures contemporaines 2: états du roman contemporain. Actes du colloque de Calaceite Fondation Noesis, 6-13 juillet 1996, Paris/Caen: Lettres modernes minard (»La revue des lettres modernes«), 1999, S. 115-139, hier S. 120. Vgl. Jean-François Lyotard, La condition postmoderne: rapport sur le savoir, Paris: Minuit, 1979.

1. Einleitung

den Rückgriff auf übergeordnete »Meta-Narrative«18 legitimiert werden. ›Postmodern‹ bedeutet nach Jean-François Lyotard, die Pluralität und Heterogenität von Sprachspielen anzuerkennen und skeptisch gegenüber allen totalisierenden Erklärungsversuchen zu sein. Ein Romanprojekt wie dasjenige Balzacs, das den Anspruch erhebt, die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Totalität abbilden zu können, dürfte daher heute kaum noch realisierbar sein. Allerdings wird in der Forschung schon seit geraumer Zeit über ein Ende der Postmoderne mit ihrem proklamierten ›Tod des Autors‹, ihrem Misstrauen gegenüber allen ›großen Erzählungen‹ und ihrer Vorliebe für selbstbezügliche Formspiele diskutiert.19 Besonders auffällig ist dies in Frankreich, wo sich die zeitgenössische Literatur nach einer längeren ›theoretischen‹ Phase in den 1960er und 1970er Jahren seit nunmehr drei Jahrzehnten wieder verstärkt mit Fragen der Geschichte, des Alltags und der Wirklichkeit auseinandersetzt.20 Dominique Viart erkennt in der französischen Gegenwartsprosa verschiedene Formen der Rückkehr (retour au sujet, retour au réel, retour à l’Histoire, retour au récit), die eine neue Lust am Erzählen bewirkt haben sollen.21 Demnach ist es in Frankreich seit 1980 zu einer programmatischen Neuausrichtung der Literatur gekommen, was unter anderem auch zu einer Wiederbelebung älterer Erzählmodelle geführt hat.22 Zu den Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die in diesem Zusammenhang

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Insgesamt unterscheidet Lyotard drei solcher »Meta-Narrative« (oder grands récits), die gleichzeitig als Legitimierungsdiskurse für die Wissensproduktion in der Moderne fungierten, nämlich die »Erzählung der Aufklärung« (le récit des Lumières), das heißt die Idee der Emanzipation des vernünftigen Subjekts, die »Hermeneutik des Sinns« (l’herméneutique du sens) und die »Dialektik des Geistes« (la dialectique de l’Esprit), das heißt die spekulative Erzählung des deutschen Idealismus. Ebd., S. 7f. und S. 54ff. Zur Diskussion um das Ende der Postmoderne siehe etwa Romano Luperini, El fine del postmoderno, Neapel: Guida, 2008; sowie den Sammelband von Christoph Riedweg (Hg.), Nach der Postmoderne. Aktuelle Debatten zu Kunst, Philosophie und Gesellschaft, Basel: Schwabe, 2014. »Aux jeux formels qui s’étaient peu à peu imposés dans les années 1960-1970 succèdent des livres qui s’intéressent aux existences individuelles, aux histoires de famille, aux conditions sociales, autant de domaines que la littérature semblait avoir abandonnés aux sciences humaines.« Dominique Viart/Bruno Vercier, La littérature française au présent: héritage, modernité, mutations, 2. Aufl., Paris: Bordas, 2008, S. 7. Vgl. Dominique Viart, Le roman français au XXe siècle, Paris: Colin, 2011, S. 149-177. Ähnliche Entwicklungstendenzen wurden auch in den Bildenden Künsten, in der Philosophie und im Theater beobachtet. Vgl. Hal Foster, The Return of the Real. The Avantgarde at the End of the Century, Cambridge/London: The MIT Press, 1996; Maurizio Ferraris, Manifest des Neuen Realismus, Frankfurt a.M.: Klostermann, 2014; Markus Gabriel (Hg.), Der Neue Realismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2014; Bernd Stegemann, Lob des Realismus, Berlin: Theater der Zeit, 2015. Ein Blick auf die Entwicklungen der Literatur außerhalb Frankreichs kann diese Hypothese stützen. So scheint die deutschsprachige Gegenwartsprosa der französischen Entwicklung mit zeitlicher Verzögerung nachzufolgen; eine Abkehr vom postmodernen Erzählen wurde auch für die italienische Literatur festgestellt. Vgl. Heribert Tommek, »Formen des Realismus im Gegenwartsroman. Ein konzeptueller Bestimmungsversuch«, in: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, Sonderband 10: Poetik des Gegenwartsromans, hg. von Nadine J. Schmidt und Kalina Kupczynska, 2016, S. 75-87; Søren R. Fauth/Rolf Parr (Hg.), Neue Realismen in der Gegenwartsliteratur, Paderborn: Fink, 2016; sowie Christiane Conrad von Heydendorff, Zurück zum Realen. Tendenzen in der italienischen Gegenwartsliteratur, Göttingen: V & R unipress, 2018.

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Wirklichkeit im Wandel

häufiger genannt werden, zählen Autoren wie Jean Echenoz, François Bon, Leslie Kaplan und nicht zuletzt auch Michel Houellebecq.23 Charakteristisch für die genannten Gegenwartsautoren ist, dass sie den theoretischen Prämissen des Nouveau roman nicht mehr ohne Weiteres folgen, sondern stattdessen den Anschluss an die Tradition des ›realistischen‹ Erzählens suchen. Viart bestimmt die zeitgenössische französische Literatur daher als eine »littérature transitive«, weil sie nach den formalen Experimenten der vorangegangenen Dekaden erstmals wieder etwas über die Wirklichkeit, die Gesellschaft und den Menschen aussagen möchte.24 Angesichts dieser Entwicklungen überrascht es nicht, dass im Zusammenhang mit den verschiedenen Rückkehr-Tendenzen in der französischen Gegenwartsprosa zuletzt auch immer häufiger von einer »Rückkehr zum Realismus«25 bzw. einer »Wiederkehr des Realismus«26 zu hören war. Die hier vorliegende Untersuchung möchte diese Beobachtung am Beispiel des Romanwerks von Michel Houellebecq überprüfen. Da dies nur über den Vergleich mit früheren Erzählmodellen möglich ist, wird mit Balzac ein prototypischer Realist des 19. Jahrhunderts in den Untersuchungshorizont miteinbezogen. Für einen solchen Vergleich spricht zum einen, dass sich Houellebecq selbst in die Tradition des ›realistischen‹ Romans des 19. Jahrhunderts eingeordnet hat.27 Balzac gilt ihm als Vorbild und

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»Les années quatre-vingt marquent un tournant évident à cet égard. Des écrivains comme François Bon, Didier Daeninckx ou Michel Houellebecq, renouent avec une représentation ›engagée‹ du réel immédiat, et l’on peut considérer que la réinscription du matériau narratif dans le contexte historiquement et socialement déterminé du monde contemporain constitue l’un des ancrages forts de l’évolution actuelle du récit.« Anne Cousseau, »Postmodernité: du retour au récit à la tentation romanesque«, in: Blanckeman, Bruno/Mura-Brunel, Aline/Dambre, Marc (Hg.), Le roman français au tournant du XXIe siècle, Paris: Presses Sorbonne Nouvelle, 2014, S. 359-370, hier S. 359. »Il ne s’agit plus en effet d‹ ›écrire‹ – au sens absolu du terme – mais bien d’écrire quelque chose, que ce quelque chose relève du réel, du sujet, de l’Histoire, de la mémoire, du lien social ou encore de la langue.« Dominique Viart, »Fictions en procès«, in: Blanckeman, Bruno/Mura-Brunel, Aline/Dambre, Marc (Hg.), Le roman français au tournant du XXIe siècle, Paris: Presses Sorbonne Nouvelle, 2004, S. 289-303, hier S. 289 (Hervorhebung im Original). Vgl. Wolfgang Asholt, »Die Rückkehr zum Realismus? Écritures du quotidien bei François Bon und Michel Houellebecq«, in: Gelz, Andreas/Ette, Ottmar (Hg.), Der französischsprachige Roman heute: Theorie des Romans – Roman der Theorie in Frankreich und der Frankophonie, Tübingen: Stauffenburg, 2002, S. 93-110. Vgl. Jürgen Link, »›Wiederkehr des Realismus‹ – aber welches? Mit besonderem Bezug auf Jonathan Littell«, in: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie 54, 2008, S. 6-21. »Ich stehe in einer Tradition des realistischen Romans, in der von Gustave Flaubert und Honoré de Balzac. Im neunzehnten Jahrhundert wird der Roman in Frankreich ja sozusagen geboren. Nach der Revolution begriffen die Schriftsteller zum ersten Mal, dass die Gesellschaft etwas ist, das sich transformiert. Vorher, in der Tragödie und Komödie, war es um die ewigen Dinge gegangen. Balzac ist: sich das Ziel setzen, die Gesellschaft so zu beschreiben, wie sie sich unter den eigenen Augen verändert. Mit den neuen Ökonomien: dem Kapitalismus, der Macht der Bank, der Presse. Die Gesellschaft verändert sich immer noch, so dass die Mission von Romanautoren dieselbe sein kann. Ich berufe mich auf Balzac und Flaubert. Das meine ich, wenn ich sage, dass ich mich dem neunzehnten Jahrhundert nahe fühle.« Vgl. Michel Houellebecq, »Man braucht mehr Mut. Interview mit Julia Encke«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.1.2015, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/bu echer/autoren/mehr-mut-ein-gespraech-mit-michel-houellebecq-13388768-p3.html (zuletzt eingesehen am 21.8.2019.)

1. Einleitung

als Modell des Romanschriftstellers schlechthin, weil er die sich wandelnde Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren »neuen Ökonomien: dem Kapitalismus, der Macht der Bank, der Presse« erstmals in aller Deutlichkeit beschrieben und damit den gesellschaftskritischen Roman geradezu erfunden habe.28 Zum anderen bietet sich ein Vergleich mit Balzac auch deshalb an, weil der Autor der Comédie humaine im Laufe des 20. Jahrhunderts zum »Fixpunkt«29 der ästhetischen ›Realismus‹-Debatte wurde und sich die künstlerischen Avantgarden der 1950er Jahre – allen voran der Nouveau roman – in Abgrenzung zu der Erzählweise Balzacs definierten. Eine Untersuchung zum ›Realismus‹ der Gegenwartsliteratur kommt daher kaum umhin, sich mit Balzac auseinanderzusetzen. Durch den diachronen Ansatz unterscheidet sich die hier vorliegende Arbeit zudem von anderen Studien, in denen die historische Perspektive oftmals nur eine untergeordnete Rolle spielt. So wurde Houellebecq zwar schon des Öfteren in die Erzähltradition des 19. Jahrhunderts eingeordnet; eine ausführliche Studie, die sich den jeweiligen Schreibweisen von Balzac und Houellebecq widmet, liegt aber bislang noch nicht vor. Überhaupt scheint sich die Forschung nur am Rande für das Thema zu interessieren. So beklagt Wolfgang Asholt, dass ›Realismus‹ im wissenschaftlichen Diskurs zumeist auf einen historischen Epochenbegriff reduziert werde: »Dans le discours sur le ›réalisme‹ de la critique universitaire, le réalisme devient de plus en plus un phénomène historique.«30 Zu einem ähnlichen Befund gelangt Jörn Steigerwald in seiner Einleitung für ein Dossier mit dem Titel Problèmes du réalisme dans la littérature française contemporaine.31 Ihm zufolge hat die universitäre Kritik bestimmte Vorurteile gegenüber ›realistischer‹ Literatur nach wie vor nicht überwunden. Er vermutet, dass die Frage nach einem ›Realismus‹ der Gegenwart vor allem deshalb kaum Beachtung findet, weil

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Vgl. auch die Aussage: »Il [Balzac] est un type qui n’a pas lâché le dossier ›état de société‹. L’ambition est extrême. Désolé de le dire, mais je ne pense pas qu’il y ait eu une vraie révolution depuis. Proust, ce n’est plus un roman. Il est sorti du cadre, complètement. Je crois que Balzac a défini le type de manière définitive. Et puis Balzac m’est très utile.« Michel Houellebecq, »En toutes lettres (abécédaire houellebecquien)«, in: Novak-Lechevalier, Agathe (Hg.), Michel Houellebecq, Paris: Herne, 2017, S. 175-178, hier S. 175. Joachim Küpper, Ästhetik der Wirklichkeitsdarstellung und Evolution des Romans von der französischen Spätaufklärung bis zu Robbe-Grillet. Ausgewählte Probleme zum Verhältnis von Poetologie und literarischer Praxis, Stuttgart: Franz Steiner, 1987, S. 83. Wolfgang Asholt, »Un renouveau du ›réalisme‹ dans la littérature contemporaine?«, in: Lendemains 38 (150/151), 2013, S. 22-35, hier S. 26. Vgl. Jörn Steigerwald, »Introduction: Problèmes du réalisme dans la littérature française contemporaine«, in: Lendemains 38 (150/151), 2013, S. 6-8.

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Wirklichkeit im Wandel

sich die Literaturkritik bevorzugt mit Autoren auseinandersetzt, deren Texte mit den Prämissen poststrukturalistischer Theorien kompatibel seien.32 Vor dem Hintergrund der skizzierten Problemlage verfolgt die hier vorliegende Studie drei miteinander zusammenhängende Fragestellungen. Erstens versucht sie den Terminus ›Realismus‹ näher zu bestimmen, indem sie unterschiedliche theoretische Ansätze aus der bestehenden ›Realismus‹-Forschung diskutiert. Damit soll überprüft werden, welche dominanten Merkmale oder textuellen Verfahren für ›realistische‹ Literatur im Allgemeinen charakteristisch sind. Denn ein Problem der bisherigen Debatte um die Frage nach einem ›neuen Realismus‹ besteht gerade darin, dass oftmals gar nicht klar ist, auf welche ›Realismus‹-Konzeption dabei Bezug genommen wird. Dies ist umso erstaunlicher, als gerade die Romanistik über eine Vielzahl an TheorieDiskursen zur ›Realismus‹-Frage verfügt. Zweitens möchte die Studie prüfen, wie die hier untersuchten Autoren ihren Anspruch auf eine ›realistische‹ Wirklichkeitsdarstellung in die jeweilige Praxis des Schreibens übersetzen. Welche Themen und Probleme greifen Balzac und Houellebecq in ihren Texten auf? Wie werden diese Themen im Rahmen der Fiktion verarbeitet? Und welche literarischen Darstellungstechniken kommen dabei zum Einsatz? Drittens versucht die Studie das Romanwerk von Houellebecq in einen längeren literarhistorischen Zusammenhang einzuordnen. Konkret geht es dabei um die Frage, ob die Bezugnahme auf Balzac und die Diskurstradition des 19. Jahrhunderts in dem Bewusstsein einer Erneuerung des ›realistischen‹ Romans erfolgt; oder ob sie als intertextuelles »Spiel« mit der Tradition aufgefasst werden muss, das dazu dient, die eigene Position im zeitgenössischen literarischen Feld symbolisch aufzuwerten. Anders gefragt: Handelt es sich bei der Wiederbelebung älterer Erzählformen um eine ›Rückkehr zum Realismus‹ oder um eine neue (›postmoderne‹) Spielart ›realistischen‹ Erzählens? Wie geht ein solcher ›Realismus‹ des postmodernen Zeitalters mit dem problematischen Teil seiner eigenen Geschichte um? Und welchen Einfluss haben die kontroversen Theorie-Debatten des 20. Jahrhunderts auf den Roman ausgeübt?

1.2

Stand der Forschung

In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Romanwerk von Michel Houellebecq haben sich in den letzten Jahren mehrere Schwerpunkte herausgebildet. Einige Studien erkennen in der Verschmelzung von Kunst und Wissenschaft bei Houellebecq ein Erbe der Romantik.33 Andere Forschungsarbeiten rücken das Romanwerk in 32

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»Si l’on considère le rapport de la critique universitaire à la littérature contemporaine, on constate aisément que cette critique s’intéresse de préférence à des auteurs et à des romans qui suivent les injonctions de la ›nouvelle critique‹, voire de la French Theory, tandis que bon nombre d’auteurs contemporains prennent leurs distances par rapport aux programmes d’écriture ›pure‹ ou d’intransivité et ne suscitent ainsi guère l’intérêt de la critique universitaire. Par ailleurs, l’approche universitaire, dans sa lecture du roman contemporain, ressemble fort à cette critique littéraire qui réprouvait le roman réaliste du XIXe siècle. Il s’ensuit donc la question du réalisme dans la littérature contemporaine se pose de nouveau et d’une nouvelle manière.« Ebd., S. 6. Vgl. Aurélien Bellanger, Houellebecq, écrivain romantique, Paris: Léo Scheer, 2010; Ulrich Prill, »Die Ausweitung der Literatur-Zone – Michel Houellebecqs Particules élémentaires zwischen Quanten-

1. Einleitung

die Nähe eines »existenzorientierten Schreibens«34 oder ziehen Parallelen zur Moralistik.35 Häufiger wird Houellebecq in der Forschung jedoch in die Tradition des ›realistischen‹ Erzählens eingeordnet. In Deutschland haben vor allem Wolfgang Asholt und Rita Schober auf eine Kontinuität zwischen Houellebecq und dem 19. Jahrhundert hingewiesen. Laut Asholt haben die Entwicklungen der Literatur in den vergangenen Jahrzehnten allerdings einen solch starken Einfluss auf den Roman ausgeübt, dass heute bloß noch von einem ›prekären‹, ›paradoxen‹ oder sonst wie relativierten ›Realismus‹ die Rede sein kann.36 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch Rita Schober, die in Bezug auf Houellebecq als eine der ersten die These eines renouveau du réalisme vertreten hat. Schober stellt den Autor in die Nachfolge Zolas37 , betont aber gleichzeitig den Umstand, dass die klassische Romanform bei Houellebecq durch bestimmte Vertextungsverfahren (wie z.B. Genre- und Gattungswechsel, mise an abyme-Techniken, den Einbau pragmatischer Diskurse, Ironie usw.) permanent unterlaufen werde.38 Schober schlägt daher vor, die Schreibweise von Houellebecqs Romanen als einen »néo-naturalismeprovocateur«39 zu bezeichnen. Nahezu dieselbe Einschätzung vertritt auch Sandra Rabosseau in Frankreich. Ihrer Meinung nach ist die Verwandtschaft zwischen Houellebecq und Zola offensichtlich »tant la dimension sociologique et polémiste leur est

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physik und Romantik«, in: Leeker, Joachim/Leeker, Elisabeth (Hg.), Text – Interpretation – Vergleich. Festschrift für Manfred Lentzen zum 65. Geburtstag, Berlin: Erich Schmidt, 2005, S. 58-67. Vgl. Julia Pröll, Das Menschenbild im Werk Michel Houellebecqs. Die Möglichkeit existenzorientierten Schreibens nach Sartre und Camus, München: Meidenbauer, 2007; sowie Vincent von Wroblewsky, »Zu Lebens- und Weltentwürfen bei Sartre und Houellebecq«, in: Blasberg, Cornelia/Deiters, Franz-Josef (Hg.), Denken/Schreiben (in) der Krise – Existentialismus und Literatur, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, 2004, S. 505-538. Vgl. Till R. Kuhnle, »Moralistik – ein ethischer Stachel im Zeitalter der Globalisierung? Der französische Gegenwartsroman zwischen Defätismus und Skandal«, in: Krepold, Susanne/Krepold, Christian (Hg.), Schön und gut? Studien zu Ethik und Ästhetik in der Literatur, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008, S. 97-130; Jörn Steigerwald, »(Post-)Moralistisches Erzählen: Michel Houellebecqs Les particules élémentaires«, in: Lendemains 35 (138/139), 2010, S. 191-208; Jutta Weiser, »Posthumane Menschenprüfer. Michel Houellebecqs La possibilité d’une île und die Moralistik«, in: Lendemains 36 (142/143), 2011, S. 70-86; sowie ausführlich Sandra Berger, Moralistisches Spiel – spielerische Moralistik. Das Romanwerk von Michel Houellebecq, Wiesbaden: Harrassowitz, 2014. Vgl. Wolfgang Asholt, »Un renouveau du ›réalisme‹ dans la littérature contemporaine?«, a.a.O., S. 32. Vgl. Rita Schober, »Renouveau du réalisme? ou de Zola à Houellebecq?«, in: Grosselin-Noat, Monique/Dufief, Anne-Simone (Hg.), La représentation du réel dans le roman. Mélanges offerts à Colette Becker, Paris: Oséa, 2002, S. 333-344. Laut Schober steht diese Subversion der klassischen Romanform im Dienst einer Erneuerung des Romans, die auf drei konstitutiven Elementen beruht: (1) auf dem Vorrang des Inhalts gegenüber dem selbstbezüglichen Spiel der ›écriture‹; (2) auf der Rückkehr zu einem ›transitiven‹ Schreiben mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Geschichte und die Figuren; sowie (3) auf einem intendierten Funktionswandel der Literatur, durch den der Leser als eigentlicher Adressat des Romans und Subjekt der Lektüre wieder verstärkt ins Blickfeld geraten soll. Vgl. Rita Schober, »Weltsicht und Romantheorie als Operatoren der Romane Michel Houellebecqs«, in: dies., Auf dem Prüfstand: Zola – Houellebecq – Klemperer, Berlin: Walter Frey, 2003, S. 259-299, hier S. 289f. Rita Schober, »Vision du monde et théorie du roman, concepts opératoires des romans de Michel Houellebecq«, in: Blanckeman, Bruno/Mura-Brunel, Aline/Dambre, Marc (Hg.), Le roman français au tournant du XXIe siècle, Paris: Presses Sorbonne Nouvelle, 2004, S. 505-515, hier S. 515.

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Wirklichkeit im Wandel

commune«40 . Beide Autoren behandeln ähnlich kontroverse Themen (z.B. Arbeit, Sexualität, Kritik am Kapitalismus, Folgen des Individualismus usw.) und berufen sich auf einflussreiche Wissenschaftsdiskurse ihrer jeweiligen Zeit. Im Unterschied zu Zola seien die wissenschaftlichen Exkurse bei Houellebecq allerdings oftmals ironisch gebrochen, wie Rabosseau erklärt, weshalb man streng genommen von »pastiches de romans naturalistes«41 sprechen müsste. Bruno Viard vergleicht den gesellschaftskritischen Anspruch von Houellebecqs Romanen dagegen mit der Zielsetzung der Comédie humaine und bezeichnet den Autor dementsprechend als einen »disciple de Balzac convaincu que le roman est investi de la passionnante responsabilité aristotélicienne de refléter mimétiquement les problèmes de la société«42 . Jochen Mecke wiederum vertritt die Ansicht, dass Houellebecq in seinen Romanen zwei verschiedene ›Realismus‹-Traditionen kombiniere, nämlich zum einen den moralisierenden Diskurs eines Balzac und zum anderen die unpersönliche Erzählweise eines Flaubert.43 Vereinzelt werden in der Forschung auch die spezifisch (post-)modernen Elemente von Houellebecqs Schreibweise betont. Bruno Blanckeman beispielsweise rechnet den Autor zu einer Gruppe von ›Neorealisten‹ (wie z.B. François Bon, Annie Ernaux, Jean Echenoz oder Hervé Guilbert), die zwar die Ambition des ›Realismus‹ aufgreifen, aber auf Vollständigkeit und Systematik verzichten. Was die verschiedenen ›Neorealisten‹ miteinander verbinde, sei der Versuch »de saisir in vivo les mutations culturelles les plus significatives de notre tournant de siècle.«44 Charakteristisch für die »écriture néoréaliste« von Houellebecqs Texten sei eine Technik des »Patchwork«, die unterschiedliche Diskursformen (»documents statistiques, études sociologiques, bulles de BD, slogans publicitaires, tracts politiques ou religieux«45 ) amalgamiere. Blanckeman zufolge handelt es sich dabei jedoch weniger um eine Rückkehr (retour) zur Tradition des ›realistischen‹ Erzählens, sondern vielmehr um eine Fortführung (poursuite) des modernistischen Projekts. Eine ähnliche Position vertritt auch Sabine van Wesemael, wenn sie Houellebecq als einen »auteur post-réaliste« beschreibt: »Chez lui il ne s’agit pas de restaurer une forme traditionnelle, comme l’ont affirmé certains commentateurs de son œuvre, mais de réécrire au second degré certains modèles romanesques d’antan.«46

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Sandra Rabosseau, »Houellebecq ou le renouveau du roman expérimental«, in: Clément, Murielle Lucie/Wesemael, Sabine van (Hg.), Houellebecq sous la loupe, Amsterdam/New York: Rodopi, 2007, S. 43-51, hier S. 45. Ebd., S. 51. Bruno Viard, »Faut-il rire ou faut-il en pleurer? Michel Houellebecq du côté de Marcel Mauss et du côté de Balzac«, in: Clément, Murielle Lucie/Wesemael, Sabine van (Hg.), Houellebecq sous la loupe, Amsterdam/New York: Rodopi, 2007, S. 31-42, hier S. 37. Vgl. Jochen Mecke, »Le social dans tous ses états: le cas Houellebecq«, in: Collomb, Michel (Hg.), L’Empreinte du social dans le roman depuis 1980, Montpellier: Université Paul Valéry, 2005, S. 47-64. Bruno Blanckeman, »Le souci de société (sur quelques écritures néoréalistes)«, in: Collomb, Michel (Hg.), L’Empreinte du social dans le roman depuis 1980, Montpellier: Université Paul Valéry, 2005, S. 2533, hier S. 26. Ebd., S. 30. Sabine van Wesemael, »Michel Houellebecq: un auteur post-postmoderne?«, in: Wesemael, Sabine van/Poll, Suze van der (Hg.), The Return of the Narrative: the Call for the Novel/Le retour à la narration: le désir du roman, Frankfurt a.M.: Lang, 2015, S. 213-226, hier S. 224.

1. Einleitung

1.3

Korpus und Gliederung der Arbeit

Obwohl die Einordnung Houellebecqs in die Tradition des ›realistischen‹ Erzählens weitgehend konsensfähig ist, mangelt es nach wie vor an Untersuchungen, die sich der Frage nach dem ›Realismus‹ seiner Texte aus einer historischen Perspektive widmen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Bezeichnung ›realistisch‹ in aktuellen Forschungsarbeiten zumeist sehr uneinheitlich und undifferenziert verwendet wird. Die vorliegende Studie knüpft hier an, indem sie den ›Realismus‹-Begriff zunächst theoretisch zu bestimmen versucht, bevor sie in detaillierten Einzelanalysen die zugrunde liegenden Schreibpraktiken bei Balzac und Houellebecq untersucht. Für die Interpretation der Romane wird dabei auch auf kulturwissenschaftliche Theorien zurückgegriffen, wie zum Beispiel die Theorie des mimetischen Begehrens und die Sündenbock-Theorie von René Girard, die Theorie des Parasiten von Michel Serres oder die Theorie des Gabentausches von Marcel Mauss. Vereinzelt wird für die Interpretationen auf Überlegungen von Jean Baudrillard zurückgegriffen, um den veränderten Wirklichkeitsbegriff von Houellebecqs Romanen näher zu bestimmen. Die Argumentation selbst erfolgt in drei Schritten: In einem ersten – theoretischen – Teil werden verschiedene Theorie-Diskurse vorgestellt, die für die ästhetische ›Realismus‹-Diskussion im 20. Jahrhundert relevant sind. Dazu zählen der klassisch-hermeneutische Ansatz von Erich Auerbach, die marxistische Ästhetik von Georg Lukács, die formalistischen und strukturalistischen Theorien von Roman Jakobson, Tzvetan Todorov und Gérard Genette sowie das semiotische Modell des »Realitätseffekts« von Roland Barthes. Auf diese Weise soll die Entwicklung der theoretischen ›Realismus‹-Debatte im 20. Jahrhundert nachgezeichnet werden. Der zweite – historische – Teil der Arbeit beschäftigt sich mit Balzac als dem Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans im 19. Jahrhundert. Dabei werden zunächst die Grundzüge von Balzacs wissenschaftlichem Romanprojekt skizziert. Daran anknüpfend werden am Beispiel von zwei Romanen zentrale Aspekte seiner Schreibweise herausgearbeitet. Von den mehr als neunzig Erzählungen und Romanen, aus denen sich das Gesamtwerk der Comédie humaine zusammensetzt, kann hier freilich nur eine kleine, repräsentative Zahl an Texten untersucht werden. Für die hier untersuchten Romane La Cousine Bette (1846) und Le Cousin Pons (1847) spricht zum einen, dass sie nach einem einheitlichen Plan konzipiert sind, da es sich um zwei Episoden einer gemeinsamen Romanserie handelt, die erstmals unter dem übergeordneten Titel Les parents pauvres als Fortsetzungsromane in der Zeitung Le Constitutionnel veröffentlicht wurden. Zum anderen lässt sich die Auswahl auch damit begründen, dass die beiden Zwillingsromane der Parents pauvres das literarische Spätwerk des Autors bilden. Als solches stellen sie nicht nur einen Abschluss, sondern auch eine Synthese seines schriftstellerischen Schaffens dar. Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass Balzac in seinem späten Diptychon zahlreiche Themen und Motive wieder aufgreift, die er bereits in seinen früheren Erzählungen behandelt hatte. Von dem historischen Ausgangsmodell wird sodann im dritten – zeitgenössischen – Teil der Untersuchung ein Bogen zu dem Romanwerk von Michel Houellebecq gespannt, um die eingangs aufgestellte These einer ›Wiederkehr des Realismus‹ zu überprüfen. Anhand von theoretischen Schriften werden auch hier zunächst zentrale As-

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Wirklichkeit im Wandel

pekte von Houellebecqs Weltbild und seiner Romanpoetik präsentiert, bevor in Einzelanalysen vier der bislang insgesamt sieben Romane aus dem Gesamtwerk des Autors untersucht werden. Behandelt werden die Romane Extension du domaine de la lutte (1994), Les particules élémentaires (1998), La carte et le territoire (2010) und Soumission (2015). Der Debütroman Extension du domaine de la lutte ist für die hier untersuchte Fragestellung vor allem wegen seines programmatischen Charakters interessant. Die beiden Nachfolgeromane Les particules élémentaires und La carte et le territoire reflektieren die Bedingungen, unter denen eine Wirklichkeitsdarstellung im 21. Jahrhundert möglich ist, auf unterschiedliche Weise: In Les particules élémentaires geschieht dies über den Rückgriff auf Erkenntnisse der modernen Quantenmechanik, in La carte et le territoire über die Einführung einer Künstlerfigur. Soumission, der letzte hier behandelte Roman, bildet einen Rahmen mit dem Debütroman. Die beiden Texte knüpfen insofern aneinander an, als sie die Funktionsbestimmung der Literatur mit einer Kultur- und Zivilisationskritik verknüpfen.47 Beide Romane suchen nach einem Ausweg aus der malaise der westlichen Zivilisation und finden ihn letztlich in der Lektüre. Im Schlussteil der Arbeit werden die Ergebnisse der Textanalysen zusammengefasst. Houellebecqs Schreibweise – so die zentrale These dieser Untersuchung – versucht sowohl dem Anspruch auf ›Realismus‹ als auch der Kritik am ›realistischen‹ Erzählen gerecht zu werden. Seine Romane versuchen der Welt einen tieferen Sinn abzuringen, relativieren diesen Sinn aber umgehend wieder, indem sie die Textbedeutung durch Verfahren der Ambiguisierung (wie z.B. die Ironie) in der Schwebe lassen. Man kann darin ein Eingeständnis an die ›Postmoderne‹ und den »Verdacht« sehen, der nach wie vor auf dem Roman lastet. Dominique Viart und Bruno Vercier sprechen zu Recht von einem »interdit formel qui pèse sur le récit ›réaliste‹ et sur l’expression du sujet«48 . Sie verzichten daher auf den problematisch gewordenen Begriff des »récit réaliste« und ersetzen ihn durch den Begriff einer »écriture du réel«. Dieser bezeichnet gewissermaßen einen »compromis-synthèse«49 zwischen dem theoretischen Konzept der écriture, das die Literaturtheorie und -praxis bis in die 1980er Jahre hinein dominierte, und dem Anspruch der Literatur, etwas über die Wirklichkeit auszusagen. Auch die hier vorliegende Arbeit spricht deshalb im Titel von Schreibweisen des Realismus, um auf die Schwierigkeiten eines Romanprojektes hinzuweisen, das beiden Ansprüchen gerecht zu werden versucht.

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Von den insgesamt sieben Romanen, die Houellebecq in der Zwischenzeit veröffentlicht hat, bleiben drei Romane unberücksichtigt: Plateforme (2001), sein dritter Roman, illustriert am Beispiel des Tourismus die These einer Analogie-Beziehung zwischen wirtschaftlichem und sexuellem Liberalismus, die Houellebecq bereits in seinem Debütroman entwickelt. Auf eine Analyse von Houellebecqs viertem Roman La possibilité d’une île (2005) wird verzichtet, weil es sich dabei um einen Science-Fiction-Roman handelt, dessen Handlung zum Teil in einer weit entfernten Zukunft spielt. Houellebecqs vorerst letzter Roman Sérotonine (2019) unterscheidet sich zwar stilistisch deutlich von den Vorgängerromanen, enthält aber kaum wesentlich Neues, was die zentralen Themen seiner früheren Romane betrifft (z.B. seine Kritik am Liberalismus oder die These eines Liebesverlusts des modernen Menschen). Dominique Viart/Bruno Vercier, La littérature française au présent, a.a.O., S. 215. Wolfgang Asholt, »Un renouveau du ›réalisme‹ dans la littérature contemporaine?«, a.a.O., S. 28.

2. Theoretische ›Realismus‹-Diskurse im 20. Jahrhundert

2.1

Der Epochenbegriff ›Realismus‹ und das Problem seiner Bestimmung

Der Terminus ›Realismus‹ scheint sich seit jeher einer eindeutigen Definition zu entziehen. Schon Roman Jakobson beklagt in einem Aufsatz aus dem Jahr 1921 die terminologische Unschärfe und extreme »Relativität« des Begriffs.1 In der wissenschaftlichen Forschung existieren mindestens vier verschiedene Verwendungsweisen des Begriffs: Erstens meint ›Realismus‹ eine bestimmte Periode in Literatur und Malerei des 19. Jahrhunderts; zweitens werden damit aber auch ähnliche Stilphänomene in anderen Epochen beschrieben; drittens steht der Begriff im Mittelpunkt einer längeren kunsttheoretischen Debatte, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt; und viertens meint ›Realismus‹ eine Position der Erkenntnistheorie, die den Primat der Dinge (lat. res) und Objekte gegenüber dem Bewusstsein betont.2 Je nach Perspektive und Forschungsschwerpunkt kann der Begriff also ganz unterschiedliche Phänomene bezeichnen. Dennoch haben sich in der literaturwissenschaftlichen Forschung zwei wesentliche Minimalkonsense herausgebildet.3 Ein erster Konsens besteht darin, dass dem Begriff ›Realismus‹ unterschiedliche »Referenzobjekte« entsprechen können. Damit ist gemeint, dass ›realistische‹ Texte nicht die Wirklichkeit an sich beschreiben, sondern immer nur den jeweiligen Wirklichkeitsbegriff einer historischen Epoche modellieren. Ein zweiter Konsens betrifft die Unterscheidung zwischen dem Prädikat und dem Namen ›Realismus‹: Während sich Ersteres nur über das zugrunde liegende Wirklichkeitsbild bestimmen lässt, steht Letzterer stellvertretend 1

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Roman Jakobson, »Über den Realismus in der Kunst« (1921), in: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 19211971, hg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1979, S. 129-139, hier S. 135. Vgl. Florian Lampart, »Realismus«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 7, Tübingen: Niemeyer, 2005, S. 621-640, hier S. 621. Vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht/Jürgen E. Müller, »Sinnbildung als Sicherung der Lebenswelt. Ein Beitrag zur funktionsgeschichtlichen Situierung der realistischen Literatur am Beispiel von Balzacs Erzählung La Bourse«, in: Gumbrecht, Hans-Ulrich/Stierle, Karlheinz/Warning, Rainer (Hg.), Honoré de Balzac, München: Fink, 1980, S. 339-389, hier S. 339.

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Wirklichkeit im Wandel

»für eine Gruppe von Romanen des 19. Jahrhunderts, als deren wichtigste Autoren in Frankreich […] Stendhal, Balzac und Flaubert angesehen werden«4 . Sicher bringt auch eine solche Minimaldefinition einige Schwierigkeiten mit sich. So stellt sich beispielsweise die Frage, wie man den Epochenbegriff ›Realismus‹ von anderen literarischen Strömungen wie dem ›Naturalismus‹ abgrenzen kann. In der Forschung werden die beiden Periodenbegriffe häufig als einheitliche Epoche aufgefasst.5 Allerdings erscheint eine terminologische Unterscheidung der beiden Literatursysteme sinnvoll, weil der ›naturalistische‹ Roman zwar ebenfalls den Anspruch auf ›Realismus‹ erhebt, umgekehrt aber nicht jeder ›realistische‹ Text mit den Methoden des ›Naturalismus‹ operiert.6 Zu diesem generellen Abgrenzungsproblem kommt eine weitere Schwierigkeit hinzu. Denn häufig wird die Bezeichnung ›Realismus‹ im Kontext binärer Oppositionen verwendet, was zur Parteinahme für oder gegen eine der beiden Seiten führt.7 Beispielsweise wird die Epoche des ›Realismus‹ verschiedentlich als Gegenbegriff zur literarischen ›Moderne‹ aufgefasst, wobei keineswegs immer klar ist, was einen ›modernen‹ von einem ›realistischen‹ Text unterscheidet.8 Ein Autor wie Flaubert wird in 4 5

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Ebd. Vgl. etwa René Dumesnil, Le réalisme et le naturalisme, Paris: Duca, 1968; Hans-Joachim Müller, Der Roman des Realismus-Naturalismus in Frankreich. Eine erkenntnistheoretische Studie, Wiesbaden: Athenaion, 1977; Colette Becker, Lire le réalisme et le naturalisme, Paris: Colin, 2010. Unter ›Naturalismus‹ verstehe ich darum eine konsequente Steigerung und Fortführung des ›Realismus‹, wobei der Unterschied zwischen den beiden Literatursystemen vor allem in der Wahl der jeweiligen Methode liegt. Als Hauptvertreter des ›Naturalismus‹ in Frankreich gilt Émile Zola, dessen Romanzyklus Les Rougon-Macquart unmittelbar an das literarische Großprojekt von Balzacs Comédie humaine anschließt. Dabei setzt Zola jedoch noch konsequenter als Balzac auf szientistische Methoden. So überträgt Zola einerseits die Methode des Experimentalmediziners Claude Bernard auf den Roman; andererseits orientiert er sich am positivistischen Wissenschaftsideal von Auguste Comte sowie an der Milieutheorie von Hippolyte Taine. Entsprechend spielen im Naturalismus das Experiment ebenso wie die kausale Verbindung zwischen Außen (Milieu) und Innen (Psyche) eine weitaus wichtigere Rolle als im ›Realismus‹. Bei Zola sind die Individuen darüber hinaus sehr viel stärker durch Gruppenzugehörigkeit, Abstammung und Vererbung determiniert. Ein weiterer Unterschied betrifft die Gruppenbildung: Während sich Schriftsteller wie Stendhal, Balzac oder Flaubert zumeist selbst gar nicht als ›Realisten‹ bezeichneten, entwickelte sich um Zola seit den 1880er Jahren eine ›naturalistische‹ Schule, der etwa auch die beiden Brüder Edmond und Jules Goncourt, Guy de Maupassant, Joris-Karl Huysmans und der Dramatiker André Antoine angehörten. Ausgehend von Frankreich wurde der ›Naturalismus‹ in der Folge zu einer gesamteuropäischen Bewegung mit Anhängern in vielen Ländern, die sowohl auf dem Gebiet der Prosa als auch im Theater und der Lyrik tätig waren. Zur Geschichte des Naturalismus in Frankreich siehe etwa Ronald Daus, Zola und der französische Naturalismus, Stuttgart: Metzler, 1976. Vgl. Fredric Jameson, The Antonimies of Realism, London/New York: Verso, 2013, S. 2. Einen interessanten Abgrenzungsversuch der beiden Literaturepochen unternimmt Michael Titzmann. Unter Rückgriff auf Lotmans Strukturmodell narrativer Texte beschreibt Titzmann den Übergang vom ›Realismus‹ zur ›Frühen Moderne‹ als einen Verlust klarer Grenzziehungen: »Wo der Realismus […] Grenzverteidigung an der Textoberfläche betrieb (die oftmals in der Texttiefe in Frage stand), da betreiben oder erfahren die Figuren in der Frühen Moderne eine Grenzinfragestellung, freiwillig oder unfreiwillig, bewusst oder unbewusst, die Grenzziehung für sich vollziehend oder vor ihr zurückschreckend, mit positivem oder negativem Ausgang für sie.« Der Verlust der Grenze ist im ›Realismus‹ häufig angstbesetzt und wird durch eine Bewegung von oben nach un-

2. Theoretische ›Realismus‹-Diskurse im 20. Jahrhundert

der Forschung wahlweise dem ›Realismus‹ zugeordnet oder aber als Wegbereiter der ›Moderne‹ angesehen.9 Balzac wiederum gilt einerseits als Begründer des modernen ›Realismus‹ und andererseits haftet ihm seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Etikett des ›traditionellen‹ Romans an. Noch schwieriger gestaltet sich das Abgrenzungsproblem von anderen Epochen, wenn man die einzelnen ›Realismus‹-Varianten in den unterschiedlichen Nationalliteraturen berücksichtigt. So haben sich für die deutsche Literatur die zwei Begriffe ›bürgerlicher‹ und ›poetischer Realismus‹ eingebürgert, während man in Bezug auf Frankreich eher vom ›wissenschaftlichen‹ oder ›positivistischen Realismus‹ spricht.10 In Italien werden unter der Sammelbezeichnung ›Neorealismo‹ verschiedene Tendenzen in Literatur, Kino und Ästhetik des frühen 20. Jahrhunderts zusammengefasst, wohingegen sich in der englischsprachigen Literatur und speziell in Lateinamerika seit etwa 1950 ein ›Magischer Realismus‹ entwickelt hat.11 Zwischen all diesen Varianten bestehen jedoch insgesamt mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten, weshalb man streng genommen

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ten, durch ein metaphorisches ›Versinken‹ im Raum oder durch einen ›Sturz‹ ausgedrückt, während der Zusammenbruch klarer Grenzziehungen und ihre Ersetzung durch graduelle Übergänge in der ›Frühen Moderne‹ durch den Vorgang des ›Gleitens‹ oder ›Fließens‹ metaphorisiert wird. Erzählt werden nicht mehr bloß Grenzüberschreitungen, die eine Normverletzung implizieren, ohne dass die Norm selbst in Frage gestellt wird (z.B. Ehebruch), sondern ein »Metaereignis«, das die bestehende Klassifikation der semantischen Räume ersetzt und damit eine Umstrukturierung der bestehenden Weltordnung zur Folge hat. Vgl. Michael Titzmann, »›Grenzziehung‹ vs. ›Grenztilgung‹. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ›Realismus‹ und ›Frühe Moderne‹«, in: ders., Realismus und Frühe Moderne. Beispielinterpretation und Systematisierungsversuche, München: Belleville, 2009, S. 275-307, hier S. 294 und 292f. Für eine Zuordnung Flauberts zur Literatur der Frühen Moderne siehe etwa Silvio Vietta, Der europäische Roman der Moderne, München: Fink, 2007; Barbara Vinken, Flaubert: durchkreuzte Moderne, Frankfurt a.M.: Fischer, 2009; sowie Cordula Reichert, Stil als Schöpfung. Zur Genesis der Moderne bei Baudelaire und Flaubert, Paderborn: Fink, 2013. Zur Einordnung Flauberts in die Tradition des ›Realismus‹ siehe etwa Klaus Heitmann, Der französische Realismus von Stendhal bis Flaubert, Wiesbaden: Athenaion, 1979; Lawrence R. Schehr, Rendering French Realism, Stanford: University Press, 1997; oder Colette Becker, Lire le réalisme et le naturalisme, Paris: Colin, 2010. Vgl. hierzu Sabina Becker, Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 18481900, Tübingen: Francke, 2003; Bernd Balzer, Einführung in die Literatur des bürgerlichen Realismus, Darmstadt: Wissenschaftl. Buchgesellschaft, 2006; Roy C. Cowen, Der poetische Realismus. Kommentar zu einer Epoche, München: Winkler, 1985; Hugo Aust, Literatur des Realismus, 3. Aufl., Stuttgart/Weimar: Metzler, 2000, S. 23ff. Vom ›positivistischen Realismus‹ des 19. Jahrhunderts spricht etwa Jürgen Peper, Ästhetisierung als Zweite Aufklärung. Eine literarästhetisch abgeleitete Kulturtheorie, Bielefeld: Aisthesis-Verlag, 2012, S. 151ff. Die Rede vom ›wissenschaftlichen Realismus‹ bezieht sich für gewöhnlich auf Balzac, Flaubert, Zola und die Brüder Goncourt. Vgl. hierzu Frank Wanning, Gedankenexperimente. Wissenschaft und Roman im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Tübingen: Niemeyer, 1999; sowie Eckhard Höfner, »Wissenschaftsrezeption und Erzählerstrategie im realistischen Roman des französischen und italienischen 19. Jahrhunderts«, in: Danneberg, Lutz et al. (Hg.), Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer, 2002, S. 190-219. Zum ›Neorealismo‹ siehe etwa den Sammelband von Claudia Öhlschläger/Lucia Perrone Capano/Vittoria Borsò (Hg.), Realismus nach den europäischen Avantgarden. Ästhetik, Poetologie und Kognition in Film und Literatur der Nachkriegszeit, Bielefeld: transcript, 2012; zum ›Magischen Realismus‹ vgl. Michael Scheffel, Magischer Realismus. Die Geschichte eines Begriffs und ein Versuch seiner Bestimmung, Tübingen: Stauffenburg, 1990.

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bloß von einer »Familienähnlichkeit« (im Sinne Ludwig Wittgensteins) sprechen kann, nicht aber von einer einheitlichen Definition. Wenn der ›Realismus‹ heute dennoch überwiegend mit der Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts gleichgesetzt wird, dann vor allem deshalb, weil es in dieser Zeit zur Entstehung eines »programmatischen Realismus«12 kam. Der Begriff selbst tauchte erstmals um 1850 im Zusammenhang mit der Malerei Gustave Courbets auf.13 Erst ab diesem Zeitpunkt lässt sich von einer Schulbildung des ›Realismus‹ sprechen, da sich um den Maler schon bald ein »cénacle réaliste«14 formierte. Sprachrohr und theoretischer Kopf der Bewegung war derweil nicht Courbert, sondern der Schriftsteller, Journalist und Kunstkritiker Jules Champfleury. Unter seiner Leitung erschien von November 1856 bis Mai 1857 eine Zeitschrift mit dem programmatischen Titel Réalisme, die jedoch bereits nach der sechsten Ausgabe wieder eingestellt wurde. In den Artikeln und Manifesten dieser Gruppe werden drei Grundprinzipien ›realistischer‹ Kunst betont: Erstens ihr Wahrheits- bzw. Aufrichtigkeitsanspruch, zweitens ihr unmittelbarer Bezug zur Gegenwart und drittens die Forderung, dass zukünftig auch gewöhnliche, alltägliche und hässliche Gegenstände zur Darstellung gebracht werden sollen. Diese

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Vgl. Uwe Dethloff, »Programmatischer Realismus in Frankreich: Malerei und Literatur«, in: ders. (Hg.), Europäische Realismen: Facetten – Konvergenzen – Differenzen, St. Ingbert: Röhrig, 2001, S. 205226; Wolfgang Klein, Der nüchterne Blick. Programmatischer Realismus in Frankreich nach 1848, Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag, 1989; sowie das Kapitel »Programmatic Realism in the Nineteenth Century: Europe«, in: Luc Herman, Concepts of Realism, Columbia: Camden House, 1996, S. 9-32. Dethloff vergleicht die Realismus-Debatte der 1850er Jahre mit dem Streit um die romantische Kunstauffassung der 1830er Jahre. Ein solcher Vergleich erscheint mir jedoch aus zwei Gründen problematisch: Zum einen mussten die Romantiker in ihrem Vorstoß gegen die klassizistische Regelpoetik einen ungleich größeren Widerstand überwinden als die programmatischen Realisten mit ihrer Auflehnung gegen die Repräsentationsvorgaben einer akademischen Kunst; und zum anderen konnten sich die romantischen Dichter auf ein relativ konsistentes Gedankengebäude stützen – man denke etwa an die kunstästhetischen Schriften der Brüder Schlegel im deutschsprachigen Raum oder die poetologischen Überlegungen einer Mme de Staël in Frankreich –, während es den programmatischen Realisten schwer fiel, ein theoretisches Fundament ihrer eigenen Kunstauffassung zu entwickeln. Bis ins frühe 19. Jahrhundert wurde der Begriff ›Realismus‹ hauptsächlich in der Philosophie verwendet, während man in Malerei und Bildender Kunst von ›Materialismus‹ sprach, worunter man eine auf Beobachtung beruhende Nachahmung der Natur (Mimesis) im Gegensatz zur Nachahmung von kanonisierten Vorbildern (imitatio) verstand. Allerdings galt der ›Materialismus‹ lange Zeit als verpönt, da man ihm eine Neigung für anstößige Themen und unsittliche Motive attestierte. Vgl. Luc Herman, Concepts of Realism, a.a.O., S. 10. Dem Kreis gehörten neben Courbet und Champfleury, den beiden führenden Köpfen der Bewegung, noch eine Reihe weiterer Künstler, Kunstkritiker und Literaten (wie z.B. François Bonvin, Camille Corot, Jules Castagnary, Honoré Daumier, Paul Chenavard, Max Buchon, Edmond Duranty oder Fernand Desnoyers) als regelmäßige Mitglieder an. Man tagte in der Brasserie Andler, rue Hautefeuille, auf dem linken Seine-Ufer, dem »Tempel des Realismus«, wie Champfleury den profanen Ort getauft hatte. Zu den meist wöchentlich stattfindenden Sitzungen gesellten sich zeitweise noch andere befreundete Künstler wie Baudelaire, Berlioz oder der Frühsozialist Proudhon. Vgl. Émile Bouvier, La Bataille Réaliste: 1844-1857, Paris: Fontemoing, 1914, S. 231.

2. Theoretische ›Realismus‹-Diskurse im 20. Jahrhundert

drei Prinzipien bilden den Kern einer ›realistischen‹ Doktrin oder, wie Bernhard Weinberg es formuliert, »the holy trinity of realism«15 . Die Diskussion um den ›programmatischen‹ Realismus ist aus zweierlei Gründen interessant: Zum einen zeigt sie, dass die Ausarbeitung einer ›realistischen‹ Kunstdoktrin nicht in der Literatur erfolgte, sondern auf dem Gebiet der Malerei. Bezeichnenderweise haben sich viele Autoren, deren Romane uns heute als exemplarische Werke des ›Realismus‹ gelten, überhaupt nicht als Realisten wahrgenommen und eine solche Zuschreibung teilweise sogar explizit zurückgewiesen.16 Zum anderen macht die Diskussion deutlich, dass ›realistischer‹ Kunst seit jeher ein besonderes Skandalpotenzial innewohnt. Es ist sicherlich kein Zufall, dass sich der ›Realismus‹-Streit der 1850er Jahre ausgerechnet an dem Skandal um die Gemälde von Courbet entzündete, liegt es doch in der Natur der Sache selbst, dass jeder neue ›Realismus‹ zunächst einmal für Empörung sorgt, weil er die bislang gültigen Realitätsvorstellungen in Frage stellt.17 Eine Beschäftigung mit dem Problem der Wirklichkeitsdarstellung in der Literatur gelangt darum zwangsläufig zu der Feststellung, dass es den ›Realismus‹ nicht gibt, wie Wolfgang Preisendanz erklärt, da immer schon unterschiedliche Vorstellungen dessen existiert haben, was als ›realistisch‹ gilt und was nicht.18 15 16

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Bernard Weinberg, French Realism: the Critical Reaction, 1830-1870, New York/London: MLA/Oxford University Press, 1937, S. 103. Das prominenteste Beispiel hierfür ist Flaubert, dessen »Hass« auf den ›Realismus‹ hinlänglich bekannt ist. In einem Brief an Edma Roger des Genettes vom 30. Oktober 1851 schreibt er: »On me croit épris du réel tandis que je l’exècre. Car c’est en haine du réalisme que j’ai entrepris ce roman [Madame Bovary], mais je n’en déteste pas moins la fausse idéalité dont nous sommes bernés par le temps qui court.« Zit. nach: Gustave Flaubert, Correspondance, hg. von Jean Bruneau, Bd. 2: juillet 1851 – décembre 1858, Paris: Gallimard, 1980, S. 643-644. Der Gerichtsprozess gegen Flauberts Roman Madame Bovary (1857) zeigt dies auf eindrückliche Art und Weise. Dass man dem Autor unterstellen konnte, sein Roman verherrliche den Ehebruch, lässt sich u.a. darauf zurückführen, dass die Technik der erlebten Rede, eine Innovation Flauberts, für das damalige Lesepublik noch neu war, was den mit der Anklage betrauten Staatsanwalt Ernest Pinard denn auch zu einer kompletten Fehllektüre des Romans verleiten ließ. Das Missverständnis rührte daher, dass er die Innenansichten der Romanfiguren mit den Ansichten des Erzählers (und vice versa des Autors) verwechselte. Offenbar lebt der ›Realismus‹ aber auch von einer gewissen Tendenz zur Skandalisierung, was sich am Beispiel von Michel Houellebecq beobachten lässt, gegen den in der Vergangenheit bereits zwei Gerichtsverfahren angestrengt wurden. Damit befindet sich Houellebecq in illustrer Gesellschaft, wie die zahlreichen Gerichtsprozesse gegen die Autoren des ›realistischen‹ Romans im 19. Jahrhundert belegen. Das Beispiel Houellebecq zeigt jedoch auch, dass der Skandal heute Teil einer Aufmerksamkeitsökonomie geworden ist, die aus dem Erregungspotential der Romane ökonomischen und symbolischen Profit zu schlagen versucht. Zum Verhältnis von Literatur und Skandal siehe etwa Stefan Neuhaus (Hg.), Literatur als Skandal: Fälle – Funktionen – Folgen, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 2007; sowie Gelz, Andreas/Hüser, Dietmar/Ruß-Sattar, Sabine (Hg.), Skandale zwischen Moderne und Postmoderne: interdisziplinäre Perspektiven auf Formen gesellschaftlicher Transgression, Berlin/Boston: de Gruyter, 2014. Zu den Gerichtsprozessen gegen Flaubert und andere Schriftsteller des 19. Jahrhunderts vgl. Klaus Heitmann, Der Immoralismus-Prozeß gegen die französische Literatur im 19. Jahrhundert, Bad Homburg: Gehlen, 1970. »Viele Züge der mittelalterlichen Dichtung, die sich für einen nichtprofessionellen Leser von heute phantastisch und ›wirklichkeitsfern‹ ausnehmen mögen, sind eben gerade durch den mittelalterlichen Wirklichkeitsbegriff legitimiert und nur dem ›unrealistisch‹, der die eigene Wirklichkeits-

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Nichtsdestotrotz sind die mit dem heutigen ›Realismus‹-Begriff verbundenen Vorstellungen ganz wesentlich von der erzählenden Literatur des 19. Jahrhunderts geprägt. Dies hängt nicht zuletzt auch mit dem Erfolg der Romangattung selbst zusammen.19 Wie Hugo Friedrich anhand der Begriffsgeschichte darlegt, galt der Roman ursprünglich als eine Erzählung mit eher unwahrscheinlichem, fantastischem oder gar märchenhaftem Charakter.20 Aus diesem Grund versuchten etwa noch die Autoren des 18. Jahrhunderts den Begriff zu umgehen, indem sie auf Gattungen wie den Briefroman, das Tagebuch oder die Chronik zurückgriffen. Erst zwischen 1820 und 1827 veränderte sich die Bedeutung der Gattung und der Roman wurde »zum Inbegriff einer phantasiefreien Wirklichkeitserfassung«21 . Für Friedrich liegt die entscheidende Neuerung der drei »großen Realisten« Stendhal, Balzac und Flaubert darin, dass sie nicht mehr die innere, zeitlose Verfassung des Menschen schlechthin darstellen, sondern das Individuum als eingebettet in seine konkrete zeitgeschichtliche Umwelt betrachten. Der neue Wirklichkeitsgehalt des ›realistischen‹ Romans liegt ihm zufolge »in der Entschiedenheit, mit der sie [Stendhal, Balzac, Flaubert] die Gestalten ihrer Schöpfungen in Übereinstimmung mit den Lebensbedingungen und Verhältnissen des damals gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens Frankreichs bringen. Das Schicksal und die Reaktionsweisen ihrer Gestalten sind konkretisiert zum Schicksal und den Reaktionsweisen der so und so gearteten Menschen des 19. Jahrhunderts.«22 Die Darstellung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge gewinnt im Roman in dem Maße an Bedeutung, wie sich unter den Schriftstellern des 19. Jahrhunderts die Einsicht in die soziale und ökonomische Bedingtheit des Menschen durchsetzt. Charakteristisch für den ›realistischen‹ Roman ist nach Friedrich aber nicht nur sein unmittelbarer Aktualitätsbezug, sondern auch das Gefühl einer allgemeinen Banalisierung des Lebens. In den Romanen der von ihm untersuchten Autoren artikuliere sich eine tiefe »Zeitfeindschaft«, die ihre Ursache in der Erfahrung einer »Nicht-Übereinstimmung von Mensch und Umwelt« habe und sich im Pessimismus der Texte literarisch niederschlage.23 All diese Beobachtungen ließen sich auch ohne Weiteres auf die Romane von Houellebecq beziehen, deren Wirklichkeitsbild von vielen Leserinnen und Lesern als »pes-

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konzeption absolut setzt und der nun unter solcher Prämisse die literarische Tradition auf ihre größere oder geringere Wirklichkeitsnähe durchmustert.« Wolfgang Preisendanz, »Das Problem der Realität in der Dichtung«, in: ders.: Wege des Realismus. Zur Poetik und Erzählkunst im 19. Jahrhundert, München: Fink, 1977, S. 217-228, hier S. 222. Im System der literarischen Gattungen nahm der Roman bis etwa 1830 eine eher untergeordnete Rolle neben dem Drama und der Lyrik ein. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg er – befördert durch die Erfindung neuer Drucktechniken, die wachsende Alphabetisierung und die Ausweitung des Lesepublikums – zur dominanten Gattung auf. Zu den Veränderungen des Buchmarktes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe etwa Henri-Jean Martin (Hg.), Histoire de l’édition française, Bd. 3: Le temps des éditeurs: du Romantisme à la Belle Époque, Paris: Promodis, 1985. Vgl. Hugo Friedrich, Drei Klassiker des französischen Romans. Stendhal – Balzac – Flaubert, 8. Aufl., Frankfurt a.M.: Klostermann, 1980, S. 13. Ebd., S. 13. Ebd., S. 23. Ebd., S. 25.

2. Theoretische ›Realismus‹-Diskurse im 20. Jahrhundert

simistisch« wahrgenommen wird. Wie an späterer Stelle noch ausführlicher gezeigt wird, resultiert der Schreibanlass bei Houellebecq aus einer fundamentalen Ablehnung der eigenen Gegenwart. Insofern können die von Hugo Friedrich herausgearbeiteten Merkmale (Aktualitätsbezug, Pessimismus) analog auf den ›Realismus‹ von Houellebecqs Romanwerk übertragen werden. Ungeachtet dessen ist die von ihm vorgenommene Kanonisierung dreier als »klassisch« bezeichneter Realisten in vielerlei Hinsicht problematisch: Zum einen verkennt sie die enorme Spannbreite an ›realistischer‹ Literatur und zum anderen argumentiert sie auf der Grundlage eines rein inhaltlichen Arguments, ohne die formalen Unterschiede zwischen den Autoren in den Blick zu nehmen.24 Um dieses Problem zu umgehen, schlägt beispielsweise René Wellek vor, den ›Realismus‹ als eine Methode der Darstellung aufzufassen, die auf größtmögliche Objektivität abzielt. Entsprechend definiert er den ›Realismus‹ als »the objective representation of social reality«25 . Offen bleibt dabei allerdings, woran man die Objektivität eines Textes bemessen soll. Im Folgenden sollen nun verschiedene ›Realismus‹-Konzepte präsentiert werden, um eine theoretische Grundlage für die spätere Textanalyse zu erarbeiten. Dabei soll gezeigt werden, dass die Frage der Nachahmung im Laufe des 20. Jahrhunderts mehr und mehr zu einem Problem der Repräsentation wurde. Marxistische (Lukács) und hermeneutische (Auerbach) Ansätze bestimmen den ›Realismus‹ in Abhängigkeit von einer empirischen Wirklichkeit, etwa dem Frankreich der Restaurationszeit. Formalistische Ansätze (Jakobson) interessieren sich dagegen vor allem für die poetischen Darstellungsverfahren, die beim Leser den Eindruck einer stabilen und kohärenten Erzählwelt entstehen lassen. Daran anknüpfend betonen strukturalistische Ansätze, dass die Wahrscheinlichkeit eines Textes sowohl von literarischen Konventionen (Todorov) als auch von den jeweils geltenden Normen einer historischen Epoche (Genette) beeinflusst wird. Poststrukturalisten schließlich vertreten die Ansicht, dass es überhaupt keine Realität gibt, auf die ein literarischer Text Bezug nehmen könnte. Realität wird

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Entsprechend mangelt es nicht an Versuchen, die Reihe der Schriftsteller, die man im weitesten Sinne als ›Realisten‹ zu bezeichnen pflegt, über die als kanonisch geltenden Romanautoren des 19. Jahrhunderts hinaus fortzuführen. Zu den Autoren, die in den letzten Jahren dem ›Realismus‹ zugerechnet wurden, zählen Proust, Aragon, Céline oder Simenon. Vgl. Henri Mitterand, L’illusion réaliste: de Balzac à Aragon, Paris: PUF, 1994; Philippe Dufour, Le réalisme: de Balzac à Proust, Paris: PUF, 1998; sowie Jacques Dubois, Les romanciers du réel: de Balzac à Simenon, Paris: Seuil, 2000. René Wellek, »The Concept of Realism in Literary Scholarship«, in: ders., Concepts of Criticism, New Haven/New York: Yale University Press, 1967, S. 222-255, hier S. 240-241. Die vermeintliche Objektivität des ›Realismus‹ war laut Wellek vor allem eine Reaktion auf die Romantik mit ihrer Verherrlichung des Ichs, ihrer Hinwendung zum Fantastischen und Märchenhaften, ihrer Bevorzugung des Traums und ihrer Tendenz zur symbolisch-allegorischen Deutung. An die Stelle des romantischen Gefühlsausdrucks trete im ›realistischen‹ Roman die geregelte naturwissenschaftliche Welt des 19. Jahrhunderts, verstanden als eine Welt von Ursache und Wirkung, ohne das Wunderbare und Unerklärbare. Wellek bezieht sich dabei vor allem auf Flaubert und dessen Versuch, die Unpersönlichkeit des Erzählens zur »technischen Hauptforderung« (ebd., S. 241) des Romans zu machen. Von einer Unpersönlichkeit des Erzählens kann in Bezug auf Balzac nun aber gerade keine Rede sein. Insofern ist auch dieser Bestimmungsversuch des ›Realismus‹ als eine Methode der objektiven Darstellung fragwürdig.

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nun verstanden als ein »Effekt« (Barthes) bzw. als ein kultureller »Code« der Repräsentation.

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›Realismus‹ zwischen Widerspiegelung und Nachahmung

Die marxistische ›Realismus‹-Definition ist vor allem mit dem Namen Georg Lukács verbunden. In einer Reihe von Aufsätzen über Balzac und die französische Literatur des 19. Jahrhunderts hat Lukács seine Auffassung von ›Realismus‹ theoretisch ausgearbeitet.26 Lukács begreift den ›realistischen‹ Roman als Produkt eines spezifischen historischen Augenblicks, nämlich der Konsolidierung der bürgerlichen Gesellschaft und der Entstehung des Kapitalismus als neuer ökonomischer und politischer Kraft. Balzac gilt ihm als der eigentliche Begründer des ›Realismus‹, weil er die Bedeutung dieses historischen Augenblicks in seiner vollen Tragweite erkannt habe – und zwar trotz seiner politischen Überzeugung, die ihn laut Lukács eigentlich zu einer ganz anderen Beurteilung hätte bringen müssen: »Es ist interessant zu beobachten, wie tief und richtig Balzac die menschlichen Konsequenzen der kapitalistischen Entwicklung Frankreichs in den wesentlichen Entwicklungstendenzen bis hinunter zu den feinsten Nuancen sieht – unbeschadet seiner politisch verkehrten, reaktionären Stellungnahmen zu denselben Entwicklungstendenzen.«27 Lukács erkennt darin jedoch keinen Widerspruch. Balzacs »Größe«, so schreibt er eine Formulierung von Karl Marx aufgreifend, beruhe auf der »tiefen Auffassung der realen Verhältnisse«28 , nämlich der Entstehung des modernen Kapitalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Allerdings würden die realen Konflikte zwischen den sozialen Klassen niemals direkt benannt, da Balzac »jede gesellschaftliche Institution in ein Gespinst von persönlichen Interessenkämpfen, sachlichen Gegensätzen zwischen Personen, Intrigen usw. auf[löst].«29 Der Klassenkonflikt erscheine in den Romanen darum versteckt in Form von Geschichten über persönliche Machtkämpfe zwischen den Romanfiguren. Möglich sei dies vor allem deshalb, weil Balzac seine Figuren als sogenannte »Typen« gestaltet habe. Unter einem Typus versteht Lukács weder einen sozialen Durchschnitt noch eine Allegorie, sondern eine Synthese aus dem Allgemeinen und dem Besonderen. Ein Typus besitzt eine individuelle Persönlichkeit, er hat Wünsche, Ziele und subjektive Leidenschaften, er verfügt über eine eigene Vergangenheit, die Spuren hinterlassen hat und seinen Charakter prägt; gleichzeitig ist er aber auch Repräsentant einer sozialen Schicht, einer Berufsgruppe oder Klasse, weshalb seine Handlungen, Absichten und Wünsche immer auch eine Folge der sie bestimmenden Klasseninteressen

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Die Aufsätze wurden später zusammen mit einem Vorwort wieder abgedruckt in: Georg Lukács, Balzac und der französische Realismus, Berlin: Aufbau-Verlag, 1952. Georg Lukács, »Die Bauern« (1934), in: Werke, Bd. 6: Probleme des Realismus III: Der historische Roman, Neuwied-Berlin: Luchterhand, 1965, S. 447-471, hier S. 463 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 465. Ebd., S. 467.

2. Theoretische ›Realismus‹-Diskurse im 20. Jahrhundert

sind.30 Im Begriff des Typus erkennt Lukács die »zentrale Kategorie und das Kriterium realistischer Literaturauffassung«31 , denn erst die Verwendung von typischen Charakteren und typischen Situationen mache es möglich, die komplexen Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen gesellschaftlichem Sein und Bewusstsein in ihren wesentlichen Zügen zu erfassen und darzustellen. Mit der Kategorie des Typus hat Lukács zweifelsohne ein zentrales Merkmal von Balzacs Romanästhetik herausgearbeitet.32 Es stellt sich jedoch die Frage, ob Lukács die ideologische Funktion des Typus nicht überbewertet. Immerhin kann er diese Funktion nur deshalb begründen, weil er von einer Oberflächen- und einer Tiefenstruktur der Romane ausgeht. Erst auf diese Weise kann er die ›falsche‹ Ideologie problemlos an der Oberfläche der Texte (d.h. in der Stimme des Erzählers und einzelner Romanfiguren) identifizieren, während er in der Tiefe von Balzacs Romanen eine rationale Kraft der Analyse ausmacht, die die gesellschaftlichen Widersprüche des Kapitalismus durchschaut und dichterisch gestaltet.33

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»Der Realismus Balzacs beruht auf dem gleich starken Herausarbeiten der spezifisch individuellen und klassenmäßig typischen Züge jeder einzelnen Figur. Aber darüber hinaus betont Balzac stets mit dem größten Nachdruck jenes kapitalistische Gemeinsame, das in den verschiedenen Menschen der verschiedenen Schichten der bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck kommt.« Ebd., S. 469 (Hervorhebung im Original). Georg Lukács, »Vorwort«, in: ders., Balzac und der französische Realismus, a.a.O., S. 8. Die Grundlage für die marxistische Definition des Typus ist eine Bemerkung von Friedrich Engels in einem Brief an die Schriftstellerin Margaret Harkness vom April 1888. Darin führt Engels neben der »Treue des Details« die »getreue Wiedergabe typischer Charaktere unter typischen Umständen« als wichtigstes Kennzeichen ›realistischer‹ Literatur an: »Wenn ich etwas zu kritisieren habe, so ist es dies, dass die Erzählung vielleicht doch nicht realistisch genug ist. Realismus bedeutet, meines Erachtens, außer der Treue des Details die getreue Wiedergabe typischer Charaktere unter typischen Umständen.« Zit. nach: Karl Marx/Friedrich Engels, Über Kunst und Literatur, Bd. 1, Berlin: Dietz, 1967, S. 155-159, hier S. 157. In seinen Lettres sur la littérature erklärt Balzac die Darstellung von Typen zum eigentlichen Ziel der Literatur: »Comme la mission du poète est de peindre des types, l’auteur croit sans doute à la primauté des sentiments républicains sur les sentiments maternels chez les Françaises.« Zit. nach: Honoré de Balzac, Œuvres complètes, hg. von Marcel Bouteron, Bd. 40, Paris: Conrad, 1940, S. 274. Eine ähnliche Bemerkung findet sich auch in einem Brief an Madame Hanska (26.10.1834). Darin erklärt Balzac, seine größte Leistung als Schriftsteller liege darin, wiedererkennbare Typen geschaffen zu haben: »Ainsi, partout j’aurai donné la vie – au type, en l’individualisant, à l’individu en le typisant. J’aurai donné de la pensée au fragment, j’aurai donné à la pensée la vie de l’individu.« Zit. nach: Honoré de Balzac, Lettres à Madame Hanska, hg. und kommentiert von Roger Pierrot, Bd. 1, Paris: Ed. du Delta, 1967, S. 269f. Wie in den späteren Textanalysen noch zu zeigen sein wird, erfährt die Kategorie des Typus in den Romanen von Michel Houellebecq einen entscheidenden Funktionswandel. Während Balzac darum bemüht ist, wiedererkennbare Typen mit einer ausgeprägten Persönlichkeit zu entwerfen, verzichtet Houellebecq darauf, seine Romanfiguren zu individualisieren. Diesen Verlust an Persönlichkeit führt er vor allem darauf zurück, dass sich die Lebensverhältnisse der Menschen im 20. Jahrhundert – zumindest in den westlichen Gesellschaften – zunehmend angeglichen hätten. Houellebecqs Romanfiguren verkörpern daher kaum noch soziale Unterschiede. Die Funktion des Typus wird bei ihm durch Verfahren der Stereotypisierung ersetzt. Seine Figuren sind Parodien künstlich erzeugter Stereotypen, wie sie z.B. in der Werbung, in Magazinen und Ratgebern verwendet werden.

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Genau diese Fähigkeit zur Analyse vermisst Lukács in den Werken der »späten Realisten« (oder Naturalisten), die ihm zufolge vor dem Hintergrund einer bereits fertig konstituierten Gesellschaft geschrieben haben.34 Ihnen sei die »Tiefe der wirklichen Abstraktionsfähigkeit« abhanden gekommen, denn sie bemühten sich nicht länger darum, die historischen Prozesse der gesellschaftlichen Entwicklung zu gestalten, sondern versuchten stattdessen »durch Konkretisierung der Details eine Konkretheit des Ganzen und seiner wirklichen, objektiv entscheidenden Bestimmungen zu erreichen.«35 Im Unterschied dazu gehe Balzac in seinen eigenen Romanen stets »über die Grenzen des kleinlichen, photographischen Naturalismus hinaus« und sei gerade deshalb »in den wesentlichen Fragen immer tief wahr«36 . Lukács begründet die Überlegenheit des ›Realismus‹ damit, dass nur er die Wirklichkeit objektiv ›widerspiegeln‹ würde. Allerdings sind die erkenntnistheoretischen Prämissen seines Widerspiegelungsbegriffs höchst problematisch. Die marxistische Literaturtheorie beruht auf dem Postulat einer objektiven, d.h. unabhängig vom menschlichen Bewusstsein existierenden Wirklichkeit. Damit übersieht sie, dass erst

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Die Unterschiede zwischen den frühen Realisten (Tolstoi, Balzac) und der darauf folgenden Generation von naturalistischen Schriftstellern fasst Lukács in dem Gegensatz von Erzählen und Beschreiben zusammen. ›Erzählen‹ bedeutet ihm zufolge, dass der Schriftsteller durch »Auswahl des Wesentlichen« typische Situationen und Gestalten schafft. Dies setze jedoch einen weitblickenden Schriftsteller voraus, der sich nicht scheut, seine persönlichen Ansichten in den Roman miteinfließen zu lassen. Denn ohne eine »lebendige Weltanschauung« sei es unmöglich, eine gute (›realistische‹) Erzählung zu schreiben. Die naturalistische Beschreibung ist für Lukács darum lediglich ein technisches Ersatzmittel, um das Fehlen von epischer Tiefe zu kompensieren. Den späten Realisten (Flaubert, Zola) wirft er vor, sie hätten vor der Geschichte »kapituliert« und sich mit der Entfremdung als neuer Lebensbedingung abgefunden. Die Naturalisten seien bloße »Berufsschriftsteller«, die sich mit ihrer Rolle als Beobachter des öffentlichen Lebens begnügten, ohne an den großen Kämpfen ihrer eigenen Epoche teilzunehmen. Vgl. Georg Lukács, »Erzählen oder beschreiben« (1936), in: Werke, Bd. 4: Probleme des Realismus I: Essays über Realismus, Neuwied-Berlin: Luchterhand, 1971, S. 197-242, hier S. 214, 228, 232. Lukàcs’ Kritik ist in dieser Form kaum haltbar, denn sie übersieht nicht nur das politische Engagement eines Zola in der Dreyfus-Affäre, sondern auch die sozialkritische Dimension seiner Romane. Zu denken wäre hier etwa an die Darstellung der Bergwerksarbeiter in Germinal (1885). Wenn Lukács darüber hinaus feststellt, dass Flauberts unpersönliche Erzählweise jede Parteinahme ausschließe, die aber notwendig sei, damit sich der Leser mit dem Schicksal der Romanfiguren identifizieren könne, dann schwingt darin zudem ein Literaturverständnis mit, das literarische Texte allein an ihrem didaktischen Wert bemisst. Georg Lukács, »Die Bauern«, a.a.O., S. 469. An Zola kritisiert Lukács, dass seine Charaktere in ihren sozialen und biologischen Dispositionen gefangen seien und ihre Sprache in Folge dessen zu sehr beschränkt bliebe, um die Ursachen ihrer Ausbeutung benennen zu können. Wenn Balzac seine Figuren sprechen lasse, dann gehe es ihm gerade nicht um die Genauigkeit des Ausdrucks. Im Gegenteil: Es sei möglich, dass Balzac einem Bauern Worte in den Mund legt, die dieser aufgrund seiner Herkunft und seines Bildungsstandes unmöglich in dieser Form gesagt haben könnte. Gerade darin liegt laut Lukács jedoch die eigentliche Aufgabe des Dichters. Indem Balzac seine Romanfiguren Dinge sagen lässt, die sie so oder ähnlich niemals aussprechen würden, verleiht er den Ausgebeuteten und Unterdrückten eine Sprache, die ihnen die ›naturalistischen‹ Schriftsteller verweigern. Ebd., S. 467.

2. Theoretische ›Realismus‹-Diskurse im 20. Jahrhundert

die Sprache einen Zugang zu eben dieser Wirklichkeit ermöglicht.37 Hinzu kommt, dass der marxistische Widerspiegelungsbegriff deutlich normativ geprägt ist. Letzten Endes dient er vor allem dazu, eine ›richtige‹ von einer ›falschen‹ Widerspiegelung zu unterscheiden. Unklar bleibt dabei freilich, woran man diesen Unterschied festmachen soll. Peter Bürger fragt daher zu Recht, ab wann sich etwa sagen ließe, dass ein Text die gesellschaftlichen Verhältnisse objektiv widerspiegle und woran sich eine objektive Widerspiegelung überhaupt messen lasse: an dem Text als Abbild oder an der Gesellschaft als dem Abgebildeten? Würde ein Text die empirische Wirklichkeit einfach bloß widerspiegeln, dann bliebe darüber hinaus uneinsichtig, »warum spätere Generationen noch Erkenntnis (und d.h. für sie aktuelle Erkenntnis) aus literarischen Werken einer vergangenen Epoche gewinnen können«38 . Für Bürger liegt die größte Gefahr einer naiven Widerspiegelungstheorie deshalb darin, dass sie den hermeneutischen Prozess außer Kraft setzt und den literarischen Text zu einem bloßen Dokument der Sozialgeschichte macht. Einen ganz anderen methodischen Ansatz als Lukács wählt Erich Auerbach in seiner Studie über den Wandel des Wirklichkeitsbegriffes in der abendländischen Literatur.39 Während Lukács den ›Realismus‹ als Produkt eines bestimmten historischen Augenblicks begreift, untersucht Auerbach die Entstehung dessen, was er »realistische Werke ernsten Stils oder Charakters«40 nennt, in Texten von der Antike bis ins frühe 20. Jahrhundert. Dabei vermeidet er es bewusst, eine klare Definition seines Untersuchungsgegenstandes zu geben, weil ihn dies nach eigener Aussage von dem Zwang befreie, eine Geschichte des literarischen ›Realismus‹ schreiben zu müssen.41 Es geht ihm folglich 37

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Bekanntlich verwendet Lukács die marxistische Widerspiegelungstheorie in seinen späten Schriften dazu, eine überaus fragwürdige Kontinuität zwischen den Realisten des 19. Jahrhunderts und den Vertretern eines ›sozialistischen Realismus‹ (wie z.B. Maxim Gorki) im 20. Jahrhundert herzustellen. Dem Sozialismus spricht Lukács das alleinige Wahrheitsmonopol in Fragen der Geschichte zu, denn nur er sei im Besitz »der richtigen Kenntnis des Weges […], der zur Gegenwart und über diese hinaus in die Zukunft führt«. Lukács ist von der »historisch bedingten Überlegenheit« des sozialistischen Realismus überzeugt, weil er im Gegensatz zu den künstlerischen Avantgarden (allen voran dem Expressionismus) verstanden hätte, welche Bedeutung »die sozialistische Weltanschauung, die Perspektive des Sozialismus für die Literatur besitzt«, nämlich die Fähigkeit, das dialektische Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewusstsein »umfassender und tiefer zu spiegeln und darzustellen, als es der Literatur auf Grundlage früherer Weltanschauungen gegeben sein konnte.« Georg Lukács, Wider den mißverstandenen Realismus, Hamburg: Claassen, 1958, S. 108 und 126. Peter Bürger, »Was leistet der Widerspiegelungsbegriff in der Literaturwissenschaft?«, in: Das Argument, Jg. 17, Bd. 90, 1975, S. 199-228, hier S. 224. Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, 7. Aufl., Bern/München: Francke, 1982. Ebd., S. 517. »Etwas wie eine Geschichte des europäischen Realismus hätte ich niemals schreiben können; ich wäre im Stoff ertrunken, ich hätte mich in die hoffnungslosen Diskussionen über die Abgrenzung der verschiedenen Epochen, über die Zuordnung der einzelnen Schriftsteller zu ihnen, vor allem aber über die Definition des Begriffs Realismus einlassen müssen; ich wäre ferner, um der Vollständigkeit willen, genötigt gewesen, mich mit Phänomen zu befassen, die mir nur flüchtig bekannt sind, so daß ich mir die Kenntnisse über sie ad hoc hätte anlesen müssen, was, nach meiner Überzeugung, eine mißliche Art ist, Kenntnisse zu erwerben und zu verwerten; und die Motive, die

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Wirklichkeit im Wandel

nicht um eine exakte Terminologie, sondern um die Frage, wie ein Text den zugrunde liegenden Wirklichkeitsbegriff einer historischen Epoche literarisch darstellt. Entsprechend setzt Auerbach in seiner Studie die Begriffe ›Nachahmung‹ (Mimesis) und ›dargestellte Wirklichkeit‹ kurzerhand gleich. Die Studie beginnt mit einer Unterscheidung von zwei »Grundtypen«42 erzählter Wirklichkeitsdarstellung in der abendländischen Literatur: auf der einen Seite der äußere, sinnlich-beschreibende ›Realismus‹ der Antike, den Auerbach am Beispiel von Homers Odyssee illustriert, und auf der anderen Seite der innere, psychologisierende ›Realismus‹ der Bibel, wie Auerbach ihn in der Geschichte von der Opferung Isaaks im Alten Testament exemplarisch verwirklicht sieht. Während die homerische Tradition auf Klarheit bzw. Ordnung abzielt und das Sinnlich-Anschauliche in den Erscheinungen betont, führt die biblische Tradition zu psychologischer Tiefe, Unsicherheit der Bedeutung und zur Herausbildung eines Bewusstseins für die Geschichtlichkeit der Dinge. Im ›realistischen‹ Roman des 19. Jahrhunderts werden diese beiden Traditionen laut Auerbach gewissermaßen miteinander verschmolzen. Der moderne ›Realismus‹, wie er in Frankreich zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstand, verknüpft die Sinnlichkeit der antiken Tradition mit dem biblischen Anspruch auf Geschichtlichkeit, denn er zeigt den Menschen »als eingebettet in eine konkrete, ständig sich entwickelnde politischgesellschaftlich-ökonomische Gesamtwirklichkeit«43 . Bei der Bestimmung des modernen (ernsten oder tragischen) ›Realismus‹ greift Auerbach aber nicht nur auf ein inhaltliches, sondern auch auf ein formales Kriterium zurück. Dazu dient ihm die Lehre von den sogenannten »Höhenlagen« (oder »Stilebenen«) der literarischen Darstellung, die einen erhabenen Stil für die tragische Welt, einen komischen oder idyllischen Stil für die alltägliche Welt und einen niederen oder satirischen Stil für die kreatürliche Welt vorsah. Diese Lehre bricht nach Auerbach in dem Moment zusammen, als Schriftsteller wie Stendhal oder Balzac damit beginnen, die alltägliche Wirklichkeit in einem ernsten und bedeutungsvollen Zusammenhang darzustellen: »Indem Stendhal und Balzac beliebige Personen des alltäglichen Lebens in ihrer Bedingtheit von den zeitgeschichtlichen Umständen zu Gegenständen ernster, problematischer, ja sogar tragischer Darstellung machten, zerbrachen sie die klassische Regel von der Unterscheidung der Höhenlagen, nach welcher das alltägliche und praktisch Wirkliche nur im Rahmen einer niederen oder mittleren Stilart, das heißt entweder als grotesk komisch oder als angenehme, leichte, bunte und elegante Unterhaltung seinen Platz in der Literatur haben durfte.«44 Der ›moderne Realismus‹ des 19. Jahrhunderts hatte jedoch einen Vorläufer, wie Auerbach erklärt, denn während des gesamten Mittelalters und der Renaissance existierte

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meine Untersuchung führen, und um derentwillen sie geschrieben wird, wären unter der Masse an materiellen Angaben, die längst bekannt sind und in Handbüchern nachgeschlagen werden können, vollständig versunken.« Ebd., S. 509. Ebd., S. 26. Ebd., S. 431. Ebd., S. 515.

2. Theoretische ›Realismus‹-Diskurse im 20. Jahrhundert

schon einmal ein »stilmischende[r] Realismus«45 , der dieser Lehre von den Höhenlagen des Stils keinerlei Beachtung schenkte. Den entscheidenden Impuls dazu sieht Auerbach in der Passionsgeschichte Christi »mit ihrer rücksichtslosen Mischung von alltäglich Wirklichem und höchster, erhabenster Tragik«46 . Allerdings erfolgten die beiden Verstöße gegen die Doktrin der antiken Stiltrennung unter je ganz verschiedenen Voraussetzungen: Während die christliche Wirklichkeitsauffassung alle Ereignisse in einen vertikalen Begründungszusammenhang einbettet, insistiert der ›moderne Realismus‹ auf den zeitlich-horizontalen Ablauf der Geschichte.47 Auerbachs Mimesis-Buch gehört wohl zu den einflussreichsten Studien zum Problem der Wirklichkeitsgestaltung in der Literatur.48 Dennoch wurde sein Ansatz in der Vergangenheit auch kritisiert. Rainer Warning etwa ist der Ansicht, dass durch die Ausrichtung am 19. Jahrhundert eine normative Wertung in die Betrachtung einfließe.49 Tatsächlich wirkt es bisweilen so, als wollte Auerbach den ›naturalistischen‹ Roman zum Maßstab für vergangene und zukünftige Epochen machen.50 Allerdings verliert

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Ebd., S. 470. Ebd., S. 516. Nahezu mustergültig umgesetzt sieht Auerbach diese frühe Stilmischung in der Geschichte von der Verleumdung Jesu im Neuen Testament: »Eine Szene wie die Verleumdung des Petrus paßt in kein antikes genus; zu ernst für die Komödie, zu alltäglich-zeitgenössisch für die Tragödie, politisch viel zu unbedeutend für die Geschichtsschreibung – und sie hat eine Form von Unmittelbarkeit bekommen, die es in der antiken Literatur nicht gibt.« Ebd., S. 48. Auerbach bezeichnet die christliche Wirklichkeitsauffassung, die er in Texten der Spätantike und des Mittelalters herausarbeitet, als »figural« (Ebd., S. 516). Damit ist gemeint, dass ein Ereignis in der Welt nicht nur sich selbst bedeutet, sondern zugleich auch ein anderes, zeitlich entferntes Ereignis, das es voraussagt oder bestätigt. Mit Hilfe der Figuraldeutung konnte zum Beispiel der Schlaf Adams als eine Vorankündigung oder »Figur« des Todesschlafes Christi interpretiert werden. Eine solche Wirklichkeitsauffassung ist dem ›modernen Realismus‹ vollkommen fremd. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch an der enormen Rezeption, die sein Mimesis-Buch weit über die deutschsprachige Romanistik hinaus erfahren hat. Allein in den letzten Jahren sind unzählige Monografien und Sammelbände erschienen, die bereits im Titel auf Auerbach verweisen. Vgl. etwa Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph, Mimesis: Kultur – Kunst – Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1992; Scholz, Bernhard W. (Hg.), Mimesis. Studien zur literarischen Repräsentation/Studies on Literary Representation, Tübingen: Francke, 1998; Tortonese, Pablo (Hg.), Erich Auerbach: la littérature en perspective, Paris: Presses Sorbonne Nouvelle, 2009; Paccagnella, Ivano (Hg.), Mimesis. L’eredità di Auerbach, Padova: Esedra, 2009; Lima, Luiz Costa, Mimesis. Herausforderungen an das Denken, Berlin: Kadmos, 2012; Balke, Friedrich/Engelmeier, Hanna, Mimesis und Figura. Mit einer Neuausgabe des »Figura«-Aufsatzes von Erich Auerbach, Paderborn: Fink, 2016. Ein weiterer Beleg für die ungeheure Breitenwirkung von Auerbachs Studie ist, dass seine Überlegungen zur Figuraldeutung mittlerweile sogar Einzug in die Geschichtswissenschaften gefunden haben. Vgl. White, Haydn, Figural realism. Studies in the Mimesis effect, Baltimore/London: John Hopkins University Press, 1999. Warning bezeichnet das Mimesis-Buch als eine »teleologische Konstruktion« und meint, dass Auerbachs Verständnis von Realismus »normativ präjudiziert« sei, weil sein primäres Interesse einer ganz bestimmten Wirklichkeit gelte, nämlich der ernsthaft dargestellten Wirklichkeit des Neuen Testaments und des französischen Romans im 19. Jahrhundert. Zudem lasse die Gleichsetzung von ›Realismus‹ mit einer ›ernsthaften‹ Darstellung keinerlei Raum für Ironie. Vgl. Rainer Warning, »Mimesis als Mimikry: Die ›Realisten‹ vor dem Spiegel«, in: Ders., Die Phantasie der Realisten, München: Fink, 1999, S. 9-34, hier S. 11 und S. 23. Über Zola schreibt Auerbach, er sei »der Letzte der großen französischen Realisten« gewesen, denn er habe »mit der Mischung der Stile Ernst gemacht« und sei gerade deshalb über den »bloß äs-

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Wirklichkeit im Wandel

das vorgebrachte Argument durch diesen Einwand nicht an Stichhaltigkeit, denn streng genommen weist Auerbach in seiner Mimesis-Studie nicht nur einen, sondern mehrere Wirklichkeitsbegriffe nach.51 Der Vorteil eines solchen Ansatzes besteht darin, dass er die unterschiedlichen ›Realismen‹ auf Grundlage ihrer jeweiligen Wirklichkeitsbegriffe vergleichbar macht. Indem Auerbach aufzeigt, wie sich die Wirklichkeitsauffassung des Mittelalters im Laufe der Jahrhunderte aus ihren christlichen Bezügen löste, kann er die Geschichte des modernen ›Realismus‹ außerdem als eine Geschichte der fortschreitenden Säkularisierung der Literatur beschreiben. Die eigentliche Originalität von Auerbachs Methode besteht aber darin, dass er den Wandel der Wirklichkeitsbegriffe an ein formal-ästhetisches Prinzip – die allmähliche Auflockerung der antiken Stiltrennungsregel – knüpft, denn erst dieser Umstand macht es möglich, die Entstehung des modernen ›Realismus‹ aus der Entwicklung der Literatur selbst abzuleiten.52 Fraglich ist dagegen, ob sich die Gleichsetzung des ›Realismus‹ mit einer ernsthaften Darstellung der alltäglichen Wirklichkeit in dieser Allgemeinheit aufrechterhalten lässt. Wie in den späteren Analysekapiteln gezeigt wird, weisen die hier untersuchten Romane durchaus auch komische und satirische Elemente auf. Als schwierig erweist sich darüber hinaus die Frage, wie sich Auerbachs Ansatz für die konkrete Textanalyse und Interpretation operationalisieren lässt. Gerade weil Auerbach den Begriff ›Realismus‹ weder systematisch noch theoretisch definiert, verschwimmt das eigentliche Anliegen seines Buches (»die Geschichte der literarischen Eroberung der modernen Wirklichkeit«53 ) mitunter und erst allmählich wird ersichtlich, wie aus zwei inkompati-

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thetischen Realismus der ihm voraufgehenden Generationen« hinausgekommen. Vgl. Auerbach, Mimesis, a.a.O., S. 478 und S. 476. Zu den unterschiedlichen Wirklichkeitsbegriffen in Auerbachs Mimesis-Studie vgl. etwa René Wellek, »Auerbach’s Special Realism«, in: The Kenyon Review 16 (2), 1954, S. 299-307; Ulrich SchulzBuschhaus, »Typen des Realismus und Typen der Gattungsmischung – Eine Postille zu Erich Auerbachs Mimesis«, in: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 20, 1989, S. 51-67; sowie Francesco Orlando, »Codes littéraires et référents chez Auerbach«, in: Tortonese, Paolo (Hg.), Erich Auerbach. La littérature en perspective, Paris: Presses Sorbonne Nouvelle, 2009, S. 211-262. Einen Versuch, den Marburger Romanisten von dem Vorwurf der Normatitvität freizusprechen, unternimmt Wolfgang Asholt, »Vom Hôtel de la Mole zu Germinie Lacerteux: Auerbachs Mimesis und der moderne Realismus als Krisensymptom«, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, Jg. 38, H 3/4, 2014, S. 277-291. Zu fragen wäre jedoch, ob sich diese Entwicklung nicht schon viel früher abzeichnete als im französischen Roman des 19. Jahrhunderts. Richtig ist, dass die Lehre von den drei »Höhenlagen« des Stils in Frankreich aufgrund der Autorität der französischen Klassik länger Bestand hatte als in anderen Ländern. Allerdings beginnt die Vermischung der Stilebenen bereits sehr viel früher (z.B. mit Shakespeare). Insofern könnte man gegen Auerbach einwenden, dass er dem ›realistischen‹ Roman zu viel Bedeutung beimisst. Problematisch ist ferner, dass Auerbachs Auffassung von ›Realismus‹ alles Didaktische, Moralisierende und Lehrhafte von Vornherein ausschließt, weshalb Autoren wie Fielding, Defoe oder Richardson in seiner Studie kaum erwähnt werden. Kritisieren ließe sich ferner das nahezu vollständige Fehlen der spanischen Literatur (das Kapitel über Cervantes wurde erst nachträglich hinzugefügt), genauso wie der Umstand, dass die einzelnen Filiationen zwischen den Nationalliteraturen kaum größere Beachtung finden. Vgl. hierzu René Wellek, »Auerbach’s Special Realism«, a.a.O., S. 299-307. Auerbach, Mimesis, a.a.O., S. 316.

2. Theoretische ›Realismus‹-Diskurse im 20. Jahrhundert

blen Modi der Wirklichkeitsgestaltung im Laufe der Jahrhunderte eine »moderne ernste Realistik«54 entstehen konnte. Dem könnte man entgegenhalten, dass Auerbachs Methode das eigentliche Anliegen des Buches darstellt.55 Diese Methode konzentriert sich auf die Analyse einiger weniger Textpassagen und schenkt dem Leben eines Autors ebenso wie der Struktur seines Werkes kaum größere Beachtung. In minutiösen Detailanalysen arbeitet Auerbach zunächst den Stil eines Textes heraus und gelangt von dort zu dem übergeordneten Kontext der Epoche, welche dem Text sein spezifisches Gepräge gibt.56 Auerbach begreift die literarische Nachahmung nicht im Sinne einer Abbildrelation von Text und Wirklichkeit, sondern er versucht aus dem Stil eines Textes auf dessen zugrunde liegende Wirklichkeitsauffassung zurückzuschließen. Stilbrüche weisen demnach auf Übergänge und Diskontinuitäten in der Geschichte der Literatur hin.57

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Von der Nachahmung zur Darstellung

Während Lukács und Auerbach den Gegenstand dessen, was in der Literatur ›abgebildet‹ oder ›nachgeahmt‹ wird, in einem Stoffbereich außerhalb der erzählten Wirklichkeit suchen, fragen formalistische Ansätze nach den spezifischen künstlerischen Verfahren, mittels derer ein literarischer Text als ›realistisch‹ wahrgenommen wird. Damit verschiebt sich das Problem der Wirkichkeitsdarstellung von der Nachahmung zur Darstellung. Formalistische Ansätze versuchen die spezifische »Poetizität« eines sprachlichen Kunstwerks zu bestimmen, um herauszufinden, »was ein gegebenes Werk zu einem literarischen Werk macht«58 . Dazu lösen sie den literarischen Text aus seinem

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Ebd., S. 431. Auerbach selbst legt dies nahe, wenn er das Vorgehen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern wie Virginia Woolf, Marcel Proust oder James Joyce mit seiner eigenen Methode als Philologe gleichsetzt: »Man kann dies Vorgehen [d.h. das beliebige Herausgreifen eines Lebensverlaufes, in dem zugleich das Ganze eines Schicksals enthalten ist] moderner Schriftsteller mit dem einiger moderner Philologen vergleichen, welche meinen, es lasse sich aus einer Interpretation weniger Stellen aus Hamlet, Phèdre oder Faust mehr und Entscheidenderes über Shakespeare, Racine oder Goethe und über die Epochen gewinnen, als aus Vorlesungen, die systematisch und chronologisch ihr Leben und ihre Werke behandeln; ja man kann die vorliegende Untersuchung selbst als Beispiel anführen.« Ebd., S. 509. Dieses Verfahren, von kleineren Textpassagen zur größeren Einheit der Geschichte fortzuschreiten, um aus dem Stil eines Textes das Charakteristische einer ganzen Epoche abzuleiten, hat Auerbach unter anderem zum Vorbild für den New Historicism gemacht. Vgl. hierzu Stephen Greenblatt, »Erich Auerbach und der New Historicism. Bemerkungen zur Funktion der Anekdote in der Literaturgeschichtsschreibung«, in: ders., Was ist Literaturgeschichte?, aus dem Amerikanischen übers. von Reinhard Kaiser und Barbara Naumann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000, S. 73-100. Auf die Bedeutung des Stils wird insbesondere in den Kapiteln zu Houellebecq noch ausführlicher einzugehen sein. Denn gerade in den Ambivalenzen seines Stils, so meine These, bringen Houellebecqs Romane die Widersprüche und Paradoxien der modernen Welt zum Ausdruck. Roman Jakobson, »Novejšaja russkaja poėzija/Die neueste russische Poesie« (1921), zit. nach: Viktor Erlich, Russischer Formalismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1973, S. 190.

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Wirklichkeit im Wandel

gesellschaftlichen und historischen Kontext, um ihn rein funktional als »Summe aller darin angewandten stilistischen Kunstmittel«59 zu untersuchen. Als einer der ersten hat Roman Jakobson in einem frühen Aufsatz aus dem Jahr 1921 versucht, den ›Realismus‹ in diesem Sinne über die Anwesenheit von bestimmten Verfahren zu definieren. In seinen Überlegungen bezieht sich Jakobson vorrangig auf russische Autoren wie Tolstoi, Gogol oder Dostojewski. In den Werken dieser Autoren macht er zwei besondere »Kunstmittel« aus, die ihm zufolge jedoch charakteristisch für den ›Realismus‹ insgesamt sind. Das erste Verfahren bezeichnet Jakobson als »die Verdichtung des Erzählens mit Hilfe von Bildern, die aufgrund ihrer Korrespondenz herangezogen werden, d.h. also der Übergang vom eigentlichen Terminus zur Metonymie oder Synekdoche.«60 Als Beispiel führt er die Selbstmordszene aus Anna Karenina an, in der Tolstoi den Fokus der Darstellung von der Protagonistin auf die Beschreibung ihrer Handtasche lenkt.61 Dieses unwesentliche Detail wäre früheren Autoren sinnlos vorgekommen, wie Jakobson erklärt, weil es vom Standpunkt der Fabel aus betrachtet vollkommen überflüssig erscheint. Das zweite ›realistische‹ Verfahren betrifft die »Forderung nach konsequenter Motivierung, nach Realisierung der poetischen Verfahren«62 . Beispielsweise können fantastische Elemente durch einen Fiebertraum des Protagonisten motiviert sein. Als motiviert (im Sinne des ›Realismus‹) gilt ein Ereignis folglich dann, wenn es auf eine rationale Erklärung zurückgeführt werden kann. Durch die Motivierung werden Handlung und Figuren in einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang eingebettet. Erst auf diese Weise kann aus einem zusammenhangslosen Geschehen eine zusammenhängende Geschichte werden.63 Jakobson führt seine Überlegungen zum ›Realismus‹ an anderer Stelle fort und gelangt dabei zu der Einschätzung, dass sich erzählende Litera-

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Viktor Šklovskij, Theorie der Prosa, Frankfurt a.M.: Fischer, 1966 [1925], S. 165. Zur Geschichte des Russischen Formalismus und seiner Methode vgl. Viktor Erlich, Russischer Formalismus, a.a.O. Eine Auswahl theoretischer Schriften des Russischen Formalismus enthält der Sammelband von Jurij Striedter (Hg.), Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München: Fink, 1971. Roman Jakobson, »Über den Realismus in der Kunst«, a.a.O., S. 136 (Hervorhebung im Original). Flaubert verwendet in der Eingangsszene von Madame Bovary (1857) ein ganz ähnliches Verfahren. Der Roman beginnt mit einer Episode aus der Kindheit von Charles Bovary. Unmittelbar vor dem ersten Auftritt des jungen Charles beschreibt der Erzähler dessen Mütze, die sich keiner klar definierbaren Kategorie zuordnen lässt. Damit wird einer vereinfachenden Lesart von Vornherein ein Riegel vorgeschoben: Denn genauso wenig, wie sich die sonderbare Kopfbedeckung einem bestimmten Typus von Hut zuschreiben lässt, genauso wenig kann man den späteren Ehemann von Emma Bovary auf die ihm häufig zugeschriebene Rolle eines einfältigen Landarztes reduzieren. Die Mütze erfüllt also nicht nur die Funktion einer Synekdoche, sondern sie ist zugleich auch eine Metapher für die Vielschichtigkeit und Komplexität der Romanfigur. Vgl. Gustave Flaubert, Madame Bovary, Paris: Gallimard (Pléiade), 2013, S. 147. Jakobson, »Über den Realismus in der Kunst«, a.a.O., S. 138 (Hervorhebung im Original). Martínez und Scheffel unterscheiden zwischen einer impliziten und einer expliziten Motivierung. Eine implizite Motivierung liegt vor, wenn der Leser die Zusammenhänge des Geschehens aus dem Erzählten selbst ableiten muss. Allerdings können diese Zusammenhänge durch die erklärenden Kommentare des Erzählers auch transparent gemacht werden. In diesem Fall spricht man von einer expliziten Motivierung. Vgl. Matías Martínez/Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 9., erw. und aktual. Aufl., München: Beck, 2012, S. 114ff.

2. Theoretische ›Realismus‹-Diskurse im 20. Jahrhundert

tur im Allgemeinen und ›realistische‹ Erzähltexte im Besonderen durch eine Dominanz des Metonymischen auszeichnen: »Das Primat des metaphorischen Prozesses in den literarischen Schulen der Romantik und des Symbolismus ist schon mehrfach anerkannt worden. Dagegen wurde noch ungenügend auf die tonangebende Rolle der Metonymie für die sogenannte ›realistische‹ Literaturrichtung verwiesen, welche eine Zwischenstellung einnimmt und beiden gegenübertritt.«64 Jakobson verortet metaphorische Prozesse auf der paradigmatischen (›Selektion‹) und metonymische Beziehungen auf der syntagmatischen Achse (›Kombination‹) der Sprache. Dies erlaubt es ihm, die beiden semantischen Verfahren der Similarität und Kontiguität auf ganze Textstrukturen und Diskurse zu übertragen.65 Die Poesie ist ihm zufolge eher metaphorisch, da lyrische Texte in hohem Maße durch Ähnlichkeiten und Äquivalenzen strukturiert sind. Die Sprache der Poesie wählt (›selektiert‹) aus dem Paradigma an Elementen genau diejenigen aus, die wegen ihrer Ähnlichkeit am ehesten dazu geeignet sind, den Gesamteindruck des Textes zu verstärken.66 Die Sprache der Prosa hingegen verknüpft (›kombiniert‹) Aussagen auf der syntagmatischen Achse zu Sätzen oder Diskursen. Theoretisch lässt sich ein solches Syntagma durch die Konjunktion und nahezu unbegrenzt erweitern. Tatsächlich wird die Menge an potenziellen Satzkombinationen, die sich auf diese Weise formulieren lassen, durch das Prinzip der Kontiguität semantisch eingeschränkt. Im Fall einer Erzählung operieren Kontiguitätsbeziehungen auf zwei verschiedenen Ebenen: Sie betreffen sowohl das einzelne Detail (in Form der Synekdoche) als auch die syntagmatische Verknüpfung von Ereigniszusammenhängen.67 Da sich eine Erzählung 64

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Roman Jakobson, »Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen« (1956), in:Aufsätze zur Linguistik und Poetik, hg. und eingeleitet von Wolfgang Raible, München: Nymphenburger Verlagsbuchhandlung, 1974, S. 117-141, hier S. 135. Jakobson knüpft hier an Überlegungen aus einem frühen Aufsatz über die Lyrik des russischen Dichters Pasternak aus dem Jahr 1935 an. Vgl. Roman Jakobson, »Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak« (1935), in: Roman Jakobson. Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, hg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1979, S. 192-211, insb. S. 200ff. Metonymien unterscheiden sich dadurch von Metaphern, dass erstere auf einer Beziehung der Nähe (oder Kontiguität) zwischen zwei konzeptuell verwandten (d.h. kontigen) Begriffen beruhen, während letztere eine Relation der Ähnlichkeit (oder Similarität) voraussetzen. Die kognitive Metaphern-Theorie geht zudem davon aus, dass die durch eine Metapher in Relation gesetzten Wörter unterschiedlichen Konzeptbereichen angehören. Zur Abgrenzung der Metonymie von der Metapher siehe etwa Raymond W. Gibbs, The poetics of mind. Figurative thought, language, and understanding, Cambridge: Cambridge University Press, 1994, S. 319-358, insb. S. 321ff. Dies zeigt sich sowohl auf der Ebene der Prosodie (z.B. im Gleichklang der Reime) als auch auf den Ebenen der Syntax (z.B. im Versmaß und Rhythmus) und der Semantik (z.B. in der Entsprechung der evozierten Bilder). Was die Funktion der Synekdoche betrifft, so hat Pam Morris einen interessanten Vorschlag unterbreitet, wie metonymische Beziehungen für die Interpretation eingesetzt werden können. Morris bestimmt den ›Realismus‹ als ein referentielles Netzwerk von Zeichen, in dem sich kleinere sprachliche Einheiten (z.B. Lexeme) zu größeren diskursiven und sozialen Strukturen anordnen, aus denen sich sodann Rückschlüsse auf eine außersprachliche Wirklichkeit ziehen lassen. Beispielsweise ist das Wort »hand« im Englischen eine Synekdoche für den Ausdruck »factory hand«, der selbst

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grundsätzlich linear entwickelt, gelten dabei dieselben Einschränkungen wie bei der Verknüpfung von Aussagesätzen. Für die Konstruktion der Fabel bedeutet dies, dass die einzelnen Ereignisse der Handlung in einer räumlichen und zeitlichen Beziehung zueinander stehen müssen. Denn erst wenn die Ereignisse der erzählten Gegenstände metonymisch auseinander hervorgehen, entsteht der Eindruck einer kohärenten (d.h. in sich stimmigen) Erzählwelt. Umgekehrt wird die Kohärenz des Erzählten abgebaut, wo solche Kontiguitätsbeziehungen fehlen und der Gegenstand der Rede willkürlich von einem Punkt zum nächsten übergeht. Im ›realistischen‹ Roman erfolgt dieser Übergang für gewöhnlich automatisch: »Den Prinzipien der Kontiguitätsrelation folgend«, schreibt Jakobson, »geht der realistische Autor nach den Regeln der Metonymie von der Handlung und von den Personen zur räumlichen und zeitlichen Darstellung über.«68 Aber auch der umgekehrte Weg ist möglich, indem der ›realistische‹ Autor von der Beschreibung eines Raumes zur Darstellung der Figuren übergeht. Balzac verwendet dieses Verfahren ausgesprochen häufig in den Expositionen seiner Romane.69 Dabei kann die Beschreibung eines winzigen Details auf der Kleidung oder im Verhalten einer Figur genügen, um in eine Spekulation über den Charakter der betreffenden Person und von dort weiter zu dem größeren Ganzen ihrer Vorgeschichte und ihres Lebens überzuleiten. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich folgendes Bild: Texte werden vor allem dann als ›realistisch‹ wahrgenommen, wenn (a) hinter dem Geschehen eine (wie auch immer motivierte) Notwendigkeit zu erkennen ist und (b) die Erzählung nach dem Prinzip der Kontiguität von einem Gegenstand zum nächsten fortschreitet, ohne dass der Leser dabei mit größeren Verständnisschwierigkeiten konfrontiert wird. In der Terminologie der Russischen Formalisten ausgedrückt: ›Realistische‹ Texte beruhen auf automatisierten Verfahren der Darstellung; sie versuchen gerade nicht, die gewohnten Wahrnehmungsmuster unserer Erfahrung zu verfremden, da eine solche Verfremdung immer

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wiederum Teil der übergeordneten Konzepte »worker« und »working class« ist und somit metonymisch auf den materiellen Produktionsprozess des modernen Industriekapitalismus zurückverweist. Unter Rückgriff auf Überlegungen aus der Akteur-Netzwerk-Theorie argumentiert Morris, dass eine Analyse des literarischen Textes die Verbindungen aufzeigen kann, die zwischen den materiellen Dingen (Objekten) einerseits und den semiotischen Begriffen (Konzepten) andererseits bestehen. Vgl. Pam Morris, »Making the Case for Metonymic Realism«, in: Birke, Dorothee/Butter, Stella (Hg.), Realisms in Contemporary Culture. Theories, Politics, and Medial Configurations, Berlin: de Gruyter, 2013, S. 13-32, hier S. 26 und S. 28ff. Roman Jakobson, »Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen«, a.a.O., S. 135. Zur Illustration kann hier an die berühmte Eingangsszene aus Le Père Goriot (1834) erinnert werden. Der Roman beginnt mit einer räumlichen und zeitlichen Verortung des Geschehens, anschließend wandert der Blick des Erzählers von der Topografie des Viertels, in dem sich die Pension Vauquer befindet, über die Architektur des Gebäudes weiter bis zur Ausstattung der Innenräume. Die Beschreibung des Salons leitet sodann über in eine Aufzählung der Pensionsbewohner, denen das Schicksal oder Geldsorgen ein Leben in dieser trostlosen Unterkunft aufgenötigt haben. Ihren Höhepunkt nimmt die Beschreibung mit dem Auftritt der Pensionswirtin Madame Vauquer und ihrer Katze. Die Beschreibung der Wirtin und ihres äußeren Erscheinungsbildes nimmt die Beschreibung des Salons wieder auf und unterstreicht damit die metonymische Verknüpfung zwischen den Figuren und dem Milieu, in dem sie sich bewegen. Vgl. Honoré de Balzac, Le Père Goriot, Paris: Gallimard (folio classique), 1971, S. 21ff.

2. Theoretische ›Realismus‹-Diskurse im 20. Jahrhundert

auch eine Form der Illusionszerstörung darstellt.70 Formalistische Ansätze haben den Vorteil, dass sie das ohnehin schwer zu bestimmende Problem des Wirklichkeitsbezugs von der inhaltlichen Ebene auf die Ebene der Darstellung verlagern. Gleichwohl haben auch sie einige Schwachstellen. Problematisch ist erstens, dass Jakobson Metonymien einmal als Kennzeichen des ›Realismus‹ beschreibt, ein anderes Mal aber als Merkmal erzählender Literatur insgesamt. Überhaupt ist fraglich, ob sich die Gegenüberstellung von metaphorischer Lyrik und metonymischer Prosa in dieser Allgemeinheit aufrechterhalten lässt. Damit einher geht eine zweite Schwierigkeit: So kann Jakobson mit seiner Unterscheidung von metaphorischen und metonymischen Textverfahren zwar überzeugend darlegen, dass Metonymien im ›realistischen‹ Roman des 19. Jahrhunderts von Bedeutung sind; damit ist aber noch nichts darüber ausgesagt, was mit dem Attribut ›realistisch‹ gemeint ist.71 Wenn sich der ›Realismus‹ durch eine konsequente Motivierung seiner poetischen Verfahren auszeichnet, dann stellt sich darüber hinaus die Frage, bis zu welchem Punkt eine solche Motivierung als ›realistisch‹ gelten kann und wann nicht mehr.72 Tatsächlich ist ja nicht jede Erklärung, die ein Text liefert, um einen Sachverhalt zu motivieren, auch in gleichem Maße überzeugend. Strukturalistische Ansätze versuchen daher, das Problem der Motivierung in ein Problem der Wahrscheinlichkeit zu überführen. Entscheidend für die vraisemblance eines Textes ist aber nicht, ob sich ein Vorfall in

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Mit dem Begriff ›Verfremdung‹ bezeichnen Formalisten wie Viktor Šklovskij Verfahren, die darauf abzielen, einen vertrauten Gegenstand in einem neuen, fremden Licht zu zeigen. Das Gegenteil der ›Verfremdung‹ ist die ›Automatisierung‹. Damit ist gemeint, dass sich literarische Werke, Stile oder Gattungen im Laufe der Zeit abnutzen können und zur Konvention werden. Damit die Kunst ästhetisch wirksam bleibt, muss sie nach Möglichkeiten suchen, ihre Darstellungsmittel durch Verfremdung zu erneuern. Šklovskij macht das Verfahren der Verfremdung unter anderem in den Texten von Tolstoi aus. Bestimmte Dinge nenne Tolstoi nämlich nicht beim Namen, sondern er beschreibe sie so, als ob sie zum ersten Mal gesehen würden. Dazu Šklovskij: »Die Methode der Verfremdung hat Tolstoj ständig verwendet: in einem Fall (im ›Leinwandmesser‹) spricht ein Pferd, und die Dinge werden verfremdet, indem nicht unsere Wahrnehmungsart, sondern die eines Pferdes angewendet wird.« Viktor Šklovskij, »Kunst als Verfahren«, a.a.O., S. 13ff. Um ›realistische‹ Literatur über Verfahren zu bestimmen, müsste man eine Liste mit formalen Merkmalen erstellen und sie von Merkmalslisten anderer literarischer Diskursarten (z.B. einer ›fantastischen‹ Erzählung) abgrenzen. Einen solchen Versuch unternimmt beispielsweise Philippe Hamon. Er definiert den »discours réaliste« über ein Ausgangsmerkmal, von dem her sich alle weiteren Merkmale ableiten lassen. Dieses Ausgangsmerkmal resultiert aus der Beobachtung, dass ›realistische‹ Texte eine pädagogische Absicht verfolgen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen Hamon zufolge alle Störgeräusche (bruits) im Text reduziert werden. Alles, was das Verständnis der Botschaft behindert, wird ausgeblendet. Gleichzeitig ergibt sich aus der pädagogischen Intention des Textes eine Tendenz zur Redundanz. Daher die Vorliebe des ›Realismus‹ für Figuren der Wiederholung, wie z.B. Anapher oder Tautologie. Vgl. Philippe Hamon, »Un discours contraint«, in: Poétique 16, 1973, S. 411-445. Rosmarie Zeller definiert eine ›realistische‹ Motivation als den »Versuch des Künstlers, die Regeln der Kunst als Regeln der Realität auszugeben«. Eine solche Definition ist jedoch wenig hilfreich, da sie nichts darüber aussagt, um welche Regeln es sich dabei handelt. Vgl. Rosmarie Zeller, »Realismusprobleme in semiotischer Sicht«, in: Brinkmann, Richard (Hg.), Begriffsbestimmung des literarischen Realismus, 3. Aufl., Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1987, S. 561-587, hier S. 576.

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der Realität genau so ereignet hat. Julia Kristeva erinnert zu Recht daran, dass der antike Begriff der verisimilitude keine Übereinstimmung mit dem ›Realen‹ meinte, sondern bloß eine Ähnlichkeit zum ›Wahren‹.73 Allerdings ist das Wahrscheinliche (le vraisemblable) der klassischen Tragödie etwas ganz anderes als das, was beispielsweise im sentimentalen Roman dafür gehalten wird. Tzvetan Todorov führt die Wahrscheinlichkeit darum einerseits auf die Beziehung zwischen einem Text und den ihn definierenden Genre-Regeln oder Gattungskonventionen (les règles du genre) zurück; andererseits definiert er das Wahrscheinliche als das Verhältnis eines konkreten Einzeltextes zu dem allgemeineren und diffuseren Text dessen, was er die öffentliche Meinung (l’opinion publique) nennt.74 Diese funktioniere wie eine eigene Gattungsregel, die für alle Textsorten einer bestimmten Epoche gilt. Was innerhalb einer gegebenen Kultur als wahrscheinlich angesehen wird, kann sich im Laufe der Zeit verändern. Entsprechend liegt der klassischen Tragödie im 17. Jahrhundert ein ganz anderer Wahrscheinlichkeitsbegriff zugrunde als dem ›realistischen‹ Roman des 19. Jahrhunderts. In der Klassik war die Wahrscheinlichkeit noch an das Konzept der bienséance gekoppelt, weshalb eine Handlung, die gegen die Regeln des guten Anstands verstieß, als unwahrscheinlich angesehen wurde. Die klassizistische vraisemblance beruhte auf einem System an sittlichen Verhaltensnormen, die, obgleich nirgendwo offiziell kodifiziert, allen Gesellschaftsmitgliedern gleichermaßen bekannt waren. Ein Text musste diese Normen daher nicht benennen, sondern konnte sie stillschweigend voraussetzen. Wie Gérard Genette gezeigt hat, dienten diese Normen zugleich auch als Erklärung für das Verhalten der Figuren, d.h. sie erfüllten die Funktion einer impliziten Motivierung.75 Im Gegensatz dazu zeichnet sich der ›realistische‹ Roman eines Balzac durch einen Überschuss an expliziter Motivierung aus, weil Handlung und Figuren nicht mehr aus dem Geschehen selbst heraus motiviert werden, sondern über den Umweg der Theorie. Damit unterscheidet sich der Wahrscheinlichkeitsbegriff des ›realistischen‹ Romans ganz wesentlich von demjenigen der klassischen Tragödie, wie ihn die aristotelische Poetik lange Zeit verbindlich vorschrieb. Wo Aristoteles die Wahrscheinlichkeit als innere Notwendigkeit des Mythos definiert, da versucht Balzac den Zusammenhang des Erzählten durch eine »motivation du second degré«76 herzustellen. Genette spricht diesbezüglich 73 74

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Vgl. Julia Kristeva, Sēmeiōtikē: recherches pour une sémanalyse, Paris: Seuil, 1985, S. 67. Vgl. Tzvetan Todorov, »Poétique«, in: Durcrot, Oswald et al., Qu’est-ce que le structuralisme?, Paris: Seuil, 1968, S. 97-166, insb. S. 147ff. Diese Unterscheidung von zwei Arten der Wahrscheinlichkeit findet man schon bei Aristoteles. Der aristotelische Wahrscheinlichkeitsbegriff beruht auf der strikten Trennung zwischen den beiden Wahrheitsmedien der Dichtung und der Geschichtsschreibung. Aristoteles zufolge ist die Erkenntnisleistung der Dichtung etwas ganz anderes als die Wahrheit des Historikers. Geht es in der Geschichtsschreibung um das Allgemeine, so in der Dichtung um das Besondere. Während der Historiker den Tatsachen verpflichtet ist, zielen das Epos und die Tragödie auf die Wahrscheinlichkeit ab. Der aristotelische Wahrscheinlichkeitsbegriff erlaubt daher auch kleinere »Fehler« oder Ungereimtheiten in der Darstellung, sofern sie sich entweder auf die größere Zweckmäßigkeit oder auf den herrschenden Glauben zurückführen lassen (Aristoteles, Poetik, 1451 a 36-38): Im ersten Fall bezieht sich die Wahrscheinlichkeit auf die innere Stimmigkeit der Handlung (mythos), im zweiten Fall dagegen auf die jeweils gültigen Glaubenssätze und Meinungen der überwiegenden Zahl von Menschen (doxa). Vgl. Gérard Genette, »Vraisemblance et motivation«, in: ders., Figures II, Paris: Seuil, 1969, S. 71-99. Ebd., S. 99.

2. Theoretische ›Realismus‹-Diskurse im 20. Jahrhundert

auch von einer »vraisemblable artificiel«77 , denn sie versuche dem Erzählten eine Glaubwürdigkeit zu verleihen, die der Text selbst nicht mehr gewährleisten könne. Die Unterschiede zwischen formalistischen und strukturalistischen Ansätzen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Während Formalisten wie Jakobson versuchen, den ›Realismus‹ über Verfahren der Textproduktion (z.B. das Prinzip der Metonymie) zu bestimmen, betonen Strukturalisten wie Todorov oder Genette den Umstand, dass die Wahrscheinlichkeit eines Textes sowohl vom kulturellen Kontext (z.B. die öffentliche Meinung) wie auch von Konventionen der Darstellung (z.B. Gattungsregeln) abhängt. An die Stelle des klassizistischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs ist im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts nun aber eine Form der Beglaubigung getreten, die ihre eigenen Gattungskonventionen mehr und mehr verschleiert und das Geschehen darum anderweitig motivieren muss. Daher rührt etwa noch der Anspruch vieler Romane des 18. Jahrhunderts, keine Erzählungen, sondern Tagebücher oder Briefromane zu sein. Allerdings scheint sich die Konvention der Herausgeber-Fiktion im 19. Jahrhundert überlebt zu haben, weshalb der ›realistische‹ Roman auf den Diskurs der Wissenschaften zurückgreift, um seinen Wahrheitsanspruch zu betonen und die Fiktionalität des Erzählten zu verschleiern. Tzvetan Todorov beschreibt diese Form der Illusionsbildung als eine »Maske«78 , die sich ein Text gebe, um seine eigene Konventionalität zu überspielen und seine Abhängigkeit von einem Referenten in der Wirklichkeit vorzutäuschen.

2.4

Von der Darstellung zum »Code« der Repräsentation

Aus einer etwas anderen Perspektive versucht Roland Barthes die Illusionsbildung zu erklären. In Le degré zéro de l’écriture (1953) führt Barthes die »illusion réaliste« auf die Funktion des passé simple und die Erzählsituation der dritten Person Singular zurück, da sie den Leser in der Sicherheit eines vertrauten und glaubwürdigen Universums wähnen ließen.79 Das Personalpronomen der dritten Person täusche die Existenz einer Instanz vor, die das Geschehen aus sicherer Entfernung lenkt und überwacht. Das passé simple präsentiere die erzählten Vorkommnisse im Tempus einer abgeschlossenen Vergangenheit, in der alles auf eine Ursache zurückgeführt werden kann und sich jedes Individuum einer identifizierbaren Wesensmäßigkeit zuordnen lässt. Beide Erzähltechniken beruhen laut Barthes jedoch auf Konventionen, deren eigentlicher Zweck es sei, die Fiktion des Mythos hinter der Maske des Tatsächlichen zu verbergen. Einen weitaus größeren Einfluss auf die ›Realismus‹-Debatte im 20. Jahrhundert hatte derweil ein Aufsatz, in dem Barthes eine semiotische Erklärung für den sogenannten ›Realitätseffekt‹ liefert.80 Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Analyse eines einzelnen Satzes aus Flauberts Erzählung Un Cœur simple (1877). Gegenstand dieses Satzes ist ein Barometer, das zwischen Schachteln an einer Wand über einem alten

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Ebd., S. 79. Vgl. Tzvetan Todorov, »Introduction«, in: Communications 11/1, 1968, S. 1-4, hier S. 3. Vgl. Roland Barthes, »L’écriture du Roman« (1953), in: ders., Le degré zéro de l’écriture. Suivi de Nouveaux essais critiques, Paris: Seuil, 1972, S. 27-34. Vgl. Roland Barthes, »L’effet de réel«, in: Communications 11, 1968, S. 84-89.

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Klavier angebracht ist.81 Laut Barthes handelt es sich bei dem Hinweis auf das Barometer um ein vollkommen nutzloses (»détail inutile«) und überflüssiges Detail (»détail superflu«), das keine nachvollziehbare Funktion für die Logik der Erzählung hat; es stellt eine Art »Luxus« der Erzählung dar, denn nichts scheint seine Auflistung zu rechtfertigen.82 Für Barthes sind solche narrativen Details wie die Erwähnung des Barometers in höchstem Maße beunruhigend (»inquiétants«83 ), da sie sich allen Erklärungsversuchen einer strukturalistischen Textanalyse entziehen. Aus dieser Beobachtung schließt er, dass ihre vermeintliche Bedeutungslosigkeit – paradoxerweise – selbst wiederum bedeutsam sein müsse. Um diese Paradoxie aufzulösen, entwickelt Barthes in der Folge eine semiotische Erklärung für die Funktion solcher unbedeutenden Details: Für gewöhnlich erfolgt die Bezugnahme eines sprachlichen Zeichens (Signifikant) auf einen Gegenstand (Referent) über den Umweg seiner Bedeutung (Signifikat). Im Fall einer ›realistischen‹ Beschreibung werde dieser semiotische Prozess nun aber dahingehend verkürzt, dass die Referenz mit dem Signifikanten zusammenfalle und die denotative Bedeutung aus dem Signifikat verschwinde. Was als neue Konnotation der Bedeutung zurückbleibe, ist laut Barthes nichts anderes als das ›Reale‹ selbst: »C’est là ce que l’on pourrait appeler l’illusion référentielle. La vérité de cette illusion est celle-ci : supprimé de l’énonciation réaliste à titre de signifié de dénotation, le ›réel‹ y revient à titre de signifié de connotation ; car dans le moment même où ces détails sont réputés dénoter directement le réel, ils ne font rien d’autre, sans le dire, que le signifier : le baromètre de Flaubert, la petite porte de Michelet ne disent finalement rien d’autre que ceci : nous sommes le réel ; c’est la catégorie du ›réel‹ (et non ses contenus contingents) qui est alors signifiée ; autrement dit, la carence même du signifié au profit du seul référent devient le signifiant même du réalisme : il se produit un effet de réel, fondement de ce vraisemblable inavoué qui forme l’esthétique de toutes les œuvres courantes de la modernité.«84 Das semiotische Erklärungsmodell ist alles andere als unproblematisch. Eine erste Schwierigkeit betrifft die Frage, was ein nutzloses Detail ist. Es ist nämlich keineswegs klar, welches Detail für das Verständnis der Erzählung überflüssig ist und welches nicht.85 Die zweite Schwierigkeit betrifft das vorgebrachte Argument selbst. Christopher Prendergast kritisiert zu Recht, dass die Erklärung des »Realitätseffektes«

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»Un vieux piano supportait, sous un baromètre, un tas pyramidal de boîtes et de cartons.« Gustave Flaubert, Un Cœur simple, in: ders., Œuvres, hg. von Albert Thibaudet, Bd. 2, Paris: Gallimard (Pléiade), 1952, S. 591. Barthes, »L’effet de réel«, a.a.O., S. 84. Ebd. Ebd., S. 88 (Hervorhebung im Original). Man könnte argumentieren, dass ein Barometer in der normannischen Landschaft von Flauberts Erzählung, wo das Wetter eher beständig ist, sehr wohl eine Funktion erfüllt, da es nämlich die Trostlosigkeit und Langeweile des Alltags seiner Besitzerin symbolisiert. Ebenso ließe sich argumentieren, dass die Erwähnung des Barometers im Kontext der Beschreibung ästhetisch motiviert ist. Denn der analysierte Satz aus Flauberts Erzählung erhält durch die syntaktische Verzögerung des eingeschobenen Barometers die Form einer Klimax und einen Rhythmus, der fast schon poetische Züge aufweist.

2. Theoretische ›Realismus‹-Diskurse im 20. Jahrhundert

auf einer unzutreffenden Annahme beruht, nämlich der Behauptung einer direkten Beziehung zwischen dem Bezeichnenden (Signifikant) und dem Bezeichneten (Referenten).86 Eine solche Beziehung kann ohne die vermittelnde Rolle von Konzepten jedoch kaum gelingen. Wenn Barthes nun aber behauptet, dass wir in Folge eines semiotischen »Effektes« den Gegenstand selbst vor Augen haben, und nicht das sprachliche Zeichen (d.h. das Wort ›Barometer‹), dann begeht er einen semantischen Fehlschluss, auf den bereits Ludwig Wittgenstein hingewiesen hat, denn er verwechselt die Bedeutung eines Namens mit dem Träger dieses Namens.87 Eine letzte Schwierigkeit, auf die abermals Christopher Prendergast hinweist, betrifft den Umstand, dass Barthes ein ganzes Arsenal an Tropen und Figuren auffährt, um den Leser von der Stichhaltigkeit seines Arguments zu überzeugen. Dazu zählt sowohl der Einsatz von Metaphern (»colusion«, »expulsion«) als auch die Personifikation des Realitätseffektes selbst (»Nous sommes le réel«). Die Wirkung dieser rhetorischen Mittel ist jedoch selbst illusionsstiftend, wie Prendergast ausführt, da sie den analytischen Diskurs außer Kraft setzt und den Leser mit dem Gefühl zurücklässt, dass der Aufsatz die »illusion référentielle« überhaupt nicht erklären möchte, sondern performativ vorführt. Es scheint fast so, als würde sich das sprachliche Zeichen vor den Augen des Lesers in ein Barometer verwandeln.88 Obwohl die semiotische Erklärung des »Realitätseffektes« durchaus problematisch ist, stieß das Konzept insbesondere bei Poststrukturalisten auf breite Resonanz.89 Dies hängt wohl auch damit zusammen, dass sich im Zuge der poststrukturalistischen Theoriebildung allmählich die Vorstellung von der Sprache als einem autonomen Zeichensystem durchsetzte. Für den Strukturalismus ergibt sich der Wert (d.h. die Bedeutung) eines sprachlichen Zeichens aus seiner Differenz zu anderen Zeichen. Poststrukturalistische Theorien leiten daraus die These ab, dass sprachliche Zeichen immer bloß auf 86 87

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Vgl. Christopher Prendergast, The Order of Mimesis. Balzac, Stendhal, Nerval, Flaubert, Cambridge: Cambridge University Press, 1986, S. 72. In seinen Philosophischen Untersuchungen (§ 40) weist Wittgenstein darauf hin, dass Wörter auch dann eine Bedeutung haben, wenn sie keinen zugehörigen Referenten in der Wirklichkeit besitzen: »Es ist wichtig festzustellen, dass das Wort ›Bedeutung‹ sprachwidrig gebraucht wird, wenn man damit das Ding bezeichnet, das dem Wort ›entspricht‹. Dies heißt, die Bedeutung eines Namens verwechseln mit dem Träger des Namens. Wenn Herr N. N. stirbt, so sagt man, es sterbe der Träger des Namens, nicht, es sterbe die Bedeutung des Namens. Und es wäre unsinnig so zu reden, denn hörte der Name auf, Bedeutung zu haben, so hätte es keinen Sinn, zu sagen ›Herr N. N. ist gestorben‹.« Zit. nach: Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1971, S. 40. Vgl. Christopher Prendergast, The Order of Mimesis, a.a.O., S. 70f. Inzwischen hat der Begriff des ›Realitätseffekts‹ auch Einzug in die Kultur- und Medienwissenschaften gehalten. Siehe hierzu etwa den Sammelband von Alexandra Kleihues (Hg.), Realitätseffekte. Ästhetische Repräsentationen des Alltäglichen im 20. Jahrhundert, München: Fink, 2008. Vereinzelt wurde versucht, das semiotische Konzept des ›Realitätseffektes‹ an konkreten Fallbeispielen zu illustrieren. Für die deutschsprachige Literatur siehe hierzu etwa den Sammelband von Brigitta Krumrey/Ingo Vogler/Katharina Derlin (Hg.), Realitätseffekte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Schreibweisen nach der Postmoderne?, Heidelberg: Winter, 2014. Für die französische Literatur existiert eine Studie, die sich mit Realitätseffekten in zwei Romanen von Balzac befasst. Vgl. Joachim Küpper, Balzac und der Effet de réel. Eine Untersuchung anhand der Textstufen des Colonel Chabert und des Curé de village, Amsterdam: Grüner, 1986.

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andere Zeichen verweisen können.90 Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Bestimmung des ›Realismus‹. Wenn sprachliche Zeichen immer nur auf sich selbst verweisen können, es also ein »Text-Äußeres«91 nicht gibt, dann droht die Realität, auf die ein Text Bezug nehmen könnte, hinter dem endlosen Spiel aufeinander verweisender Signifikanten zu verschwinden.92 Für die ›Realismus‹-Diskussion bedeutet dies, dass mimetische Prozesse fortan nicht mehr als ein Problem der Relation von Text und Wirklichkeit verstanden wurden. Die traditionelle Auffassung von der Mimesis und ihrer Fähigkeit, auf die reale Welt Bezug zu nehmen, wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts grundlegend in Frage gestellt. Aus Sicht von Poststrukturalisten wie dem späten Roland Barthes ahmen literarische Texte die Realität nicht einfach nach, sondern sie bedienen sich spezieller »Codes« der Repräsentation, die jedoch immer schon vorgeben, was die Wirklichkeit ist. In S/Z, seiner Analyse von Balzacs Erzählung Sarrasine (1830), definiert Barthes einen solchen »Code« als ein Netzwerk aus Zitaten oder »Stimmen«, die gleichsam in den Text eingewebt sind, deren Ursprung sich aber nicht mehr zurückverfolgen lässt. Jede dieser Stimmen verweist auf etwas anderes »qui a toujours été déjà lu, vu, fait, vécu : le code est le sillon de ce déjà.«93 Eine besondere Rolle spielen dabei die kulturellen Codes. Darunter versteht Barthes die Gesamtheit an Sprichwörtern, Klischees, Gemeinplätzen, Aphorismen und anderen Formen kulturell überlieferten Wissens. Mit Hilfe solcher Codes markiert der Text keineswegs seine Verankerung in einer außersprachlichen Wirklichkeit, sondern bloß seine Bezugnahme auf den schier unerschöpflichen Schatz an Weisheiten und Wissen, »c’est-à-dire au Livre (de la culture, de la vie, de la vie comme culture)«94 . Laut Barthes muss der »Code der Kultur« dem Text unweigerlich Gewalt antun, denn er versucht ihm einen vorgegebenen Sinn aufzuzwingen. Balzacs Erzählungen strotzten nur so von einem Wissen, das einem großen Schulbuch, einem »Manuel Scolaire«95 entnommen zu sein scheint. Dadurch, dass sie immer schon vor-

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Diese Einsicht in die Unhintergehbarkeit der Sprache ist eine Konsequenz aus der poststrukturalistischen Kritik am Logozentrismus und der Verabschiedung dessen, was Derrida das »transzendentale Signifikat« nennt. Derrida zufolge ergibt sich die Bedeutung eines Zeichens nicht aus seiner Beziehung zu einem Referenten in der Wirklichkeit. Zeichen können lediglich auf etwas anderes innerhalb der Sprache selbst verweisen. Sie tragen daher immer schon die »Spur« anderer Zeichen in sich fort. Da dieser Prozess niemals an sein Ende kommt, kann es laut Derrida auch keine abschließende Sinnfestlegung geben. Ein »transzendentales Signifikat«, von dem aus sich die Bedeutung aller anderen Zeichen ableiten ließe, existiert nicht, weil die Bedeutung erst im Prozess der différance, d.h. im permanenten Aufschieben des Sinns, produziert wird. Vgl. Jacques Derrida, De la Grammatologie, Paris: Minuit, 1967, insb. S. 33ff. sowie S. 91ff. Ebd., S. 227. Fredric Jameson hat gegen Derrida und die Verabsolutierung der Sprache als einem autonomen Zeichensystem eingewendet, dass eine solche Auffassung keinen Weg aus dem »Gefängnis« der Sprache lasse, weshalb literarische Texte nur am Grad ihrer Selbst-Bezüglichkeit gemessen werden könnten. Vgl. Fredric Jameson, The Prison-House of Language. A critical account of Structuralism and Russian Formalism, Princeton: University Press, 1972. Roland Barthes, S/Z. Essai, Paris: Seuil, 1970, S. 28 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 28. Ebd., S. 211.

2. Theoretische ›Realismus‹-Diskurse im 20. Jahrhundert

geben, was z.B. das Schöne oder das Weibliche sei, lösen die Romane bei Barthes einen regelrechten »Ekel« der Lektüre aus: »Comme le langage didactique, comme le langage politique, qui, eux non plus, ne suspectent jamais la répétition de leurs énoncés (leur essence stéréotypique), le proverbe culturel écœure, provoque l’intolérance de lecture ; le texte balzacien en est tout empoissé : c’est par ses codes culturels qu’il pourrit, se démode, s’exclut de l’écriture (qui est un travail toujours contemporain) : il est la quintessence, le condensé résiduel de ce qui ne peut être réécrit.«96 Der Umstand, dass Balzac die kulturellen Codes unkritisch übernehme, führt seiner Ansicht nach dazu, dass die Geschichte als etwas Notwendiges und Unveränderbares erscheine. Dem ›Realismus‹ unterstellt Barthes daher eine versteckte Logik der Naturalisierung: »La fin (idéologique) de cette technique est de naturaliser le sens, et donc d’accréditer la réalité de l’histoire«97 . In dieser Tendenz zur Naturalisierung erkennt Barthes eine konservative Kraft, denn durch die Wiederholung des Immer-SchonGesagten und Schon-Geschriebenen stabilisiere der ›Realismus‹ letzten Endes bloß die vorherrschende Ideologie einer Epoche.98 Vor dem Hintergrund der theoretischen ›Realismus‹-Debatte im 20. Jahrhundert mutet es fast schon ironisch an, dass sich der Ideologie-Vorwurf nunmehr gegen Balzac richtet, nachdem die marxistische Ästhetik lange Zeit versucht hatte, den Autor der Comédie humaine ideologisch für sich zu vereinnahmen. Die unterschiedlichen Positionen zeigen jedoch auch, in welchem Maße die Bewertung des ›Realismus‹ von normativen Werturteilen geleitet wird. Wie aus der Zusammenschau der Theorien hervorgeht, unterscheiden sich die einzelnen Ansätze in ihren jeweiligen methodischen Prämissen sehr deutlich voneinander. Eine einheitliche Definition des ›Realismus‹ sucht man daher vergeblich. Nichtsdestotrotz eröffnet die theoretische Bestimmung des ›Realismus‹ auch Perspektiven für die konkrete Textanalyse. So lässt sich beispielsweise fragen, inwiefern sich die Funktion des ›Typischen‹ im Übergang von Balzac zu Houellebecq gewandelt hat. Nützlich erscheint auch das Konzept der ›Motivierung‹, da ›realistische‹ Texte in hohem Maße darauf angewiesen sind, das Erzählte plausibel herzuleiten und zu begründen. Anknüpfungspunkte ergeben sich ferner hinsichtlich des Stils. Mit Erich Auerbach lässt sich der Stil als dasjenige Medium auffassen, das die zugrunde liegende Wirklichkeitsauffassung eines Textes ästhetisch erfahrbar macht. Problematisch erscheinen dagegen die Dominanz des Metonymischen sowie das semiotische Konzept eines ›Realitätseffektes‹. Insgesamt lässt sich in der theoretischen ›Realismus‹-Debatte des 20. Jahrhunderts eine Verschiebung von der nachzuahmenden Wirklichkeit (Auerbach, Lukács) zu den formalen Techniken (Jakobson) und Konventionen der Darstellung (Genette, Todorov) hin zu der Frage nach dem spezifischen Wissen (Barthes) des ›Realismus‹ beobachten.

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Ebd., S. 104. Ebd., S. 30. Zum Verhältnis von Ideologie und Naturalisierung vgl. Stuart Hall, »The rediscovery of ›ideology‹: return of the repressed in media studies«, in: Michael Gurevitch et al. (Hg.), Culture, Society and the Media, London/New York: Routledge, 1982, S. 52-86.

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Ungeachtet dessen lassen sich einige Merkmale festhalten, die für den ›Realismus‹ im Allgemeinen charakteristisch sind. Dazu gehört in erster Linie, dass ›realistische‹ Texte unmittelbar in der historischen Wirklichkeit ihres jeweiligen Entstehungskontextes verankert sind. Dies unterscheidet sie gleichzeitig von Gattungen wie dem historischen Roman oder Science Fiction-Literatur. Daher betonen sowohl Hugo Friedrich als auch Georg Lukács und Erich Auerbach den Aktualitätsbezug des ›realistischen‹ Romans. Entsprechend haben Fragen des dargestellten Inhalts in den hier untersuchten Texten zumeist Vorrang, wenngleich mit Blick auf die Romane von Michel Houellebecq zu zeigen sein wird, dass die Darstellung von Problemen der eigenen Epoche gerade in der Form des Romans reflektiert wird. Ein weiteres Merkmal des ›Realismus‹ betrifft den Wahrheits- bzw. Aufrichtigkeitsanspruch der Texte. ›Realistische‹ Texte erheben den Anspruch, eine wie auch immer definierte ›Wahrheit‹ über den Menschen, die Geschichte oder die Wirklichkeit zu formulieren.99 Auf den ersten Blick zeichnen sich solche Texte daher durch eine gewisse Vordergründigkeit des Erzählens aus, d.h. dem Leser bereitet die Entzifferung des Erzählten in aller Regel keine größeren Verständnisschwierigkeiten. Dies unterscheidet ›realistische‹ Literatur von moderneren Formen des Erzählens wie dem Nouveau roman. Dieser zeichnet sich gerade durch die Hintergründigkeit seiner Darstellung aus, so dass die Deutung des Geschehens dem Vorstellungsvermögen des Lesers überlassen bleibt. Vom Nouveau roman unterscheidet sich ›realistische‹ Literatur auch dadurch, dass sie den Leser mit einem Wirklichkeitsmodell konfrontiert, das dieser lediglich als Ganzes akzeptieren oder verwerfen kann. Im Unterschied etwa zu den Romanen eines RobbeGrillet begnügt sich der ›Realismus‹ für gewöhnlich nicht damit, die Oberfläche der sichtbaren Erscheinungen rein phänomenologisch zu beschreiben, sondern er will den Dingen eine tiefere Bedeutung abgewinnen. Daher die starke Neigung zur Essentialisierung, die unter anderem im Menschenbild und in der Darstellung der Geschlechterrollen zum Ausdruck kommt. Es geht dem ›Realismus‹ aber nicht nur darum, das ›Wesen‹ der menschlichen ›Natur‹ zu ergründen (was ihn im Übrigen mit der Tradition des moralistischen Erzählens verbindet), sondern auch darum, die je eigene Epoche vor dem Hintergrund einzelner historischer Ereignisse geschichtsphilosophisch zu deuten. Um den Leser von der Stichhaltigkeit des zugrunde liegenden Wirklichkeitsbildes zu überzeugen, versuchen ›realistische‹ Texte in der Regel, ihre Fiktionalität zu verschleiern. Im Unterschied dazu stellen ›postmoderne‹ Texte ihre künstlerische Gemachtheit (Artifizialität) zum Zwecke einer paradoxen Illusionssteigerung geradezu heraus. Die Illusionsbildung des ›Realismus‹ hingegen beruht auf einem geheimen Einvernehmen zwischen Autor und Leser oder, wie Georges Blin es formuliert, auf einem

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Streng genommen geht es dem ›Realismus‹ gar nicht um eine Übereinstimmung mit dem ›Realen‹, sondern um eine Ähnlichkeit mit dem ›Wahren‹. Nichts anderes besagt die antike Formel von der verisimilitude der Dichtung. Der in Italien gebräuchliche Terminus verismo ist darum eigentlich präziser als die in der französischen und deutschsprachigen Forschung übliche Bezeichnung. Ein Unterschied zwischen den beiden Begriffen besteht offenbar darin, dass mit dem Terminus ›Realismus‹ zugleich die Verankerung des Textes in einer historischen Realität (wie dem Frankreich der Restaurationszeit) ausgedrückt werden soll.

2. Theoretische ›Realismus‹-Diskurse im 20. Jahrhundert

»pacte de mauvaise foi […] qui se discrédite dans le moment où elle s’accorde«100 . Modernistische und postmodernistische Texte brechen mit diesem »Pakt«, da sie den herkömmlichen Elementen des Romans nur mehr mit Misstrauen begegnen können. Einige dieser Elemente seien hier in der erforderlichen Kürze noch einmal in Erinnerung gerufen. Das Ziel der ›realistischen‹ Illusionsbildung kann erzielt werden (a) durch die Verwendung des Perfekts und der 3. Person Singular, (b) durch ein Übermaß an auktorialer Präsenz, (c) durch narrative Beglaubigungsstrategien (wie z.B. die Herausgeberfiktion) oder (d) durch die Einführung von Stellvertreterfiguren, die innerhalb des fiktiven Weltentwurfes über ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit und Autorität verfügen; sie kann ferner erreicht werden (e) durch den Einbau von Wirklichkeitsreferenzen (wie z.B. Eigennamen, deiktischen Pronomina, Zeit- und Raumangaben) und (f) durch den Rückgriff auf bestimmte (apodiktische) Aussagetypen, die ein scheinbar unanfechtbares Wissen präsentieren. All diese Techniken und Verfahren dienen dazu, die Fiktionalität des Textes vergessen zu machen und den gemeinsamen »Pakt« zwischen dem Autor und dem Leser zu erneuern. Ein letztes dominantes Merkmal, das eng mit dem Wahrheitsanspruch ›realistischer‹ Literatur zusammenhängt, betrifft die Bezugnahme auf epistemische Diskurse. Spätestens seit Balzac tritt der Roman in ein direktes Konkurrenzverhältnis zur Wissenschaft.101 Der Einbau wissenschaftlicher Theorien in den Roman ist ein probates Mittel, um den Aussagen des Textes Glaubwürdigkeit zu verleihen.102 Es genügt je100 Der Autor kann den Wahrheitsgehalt seiner Geschichte nur dann glaubhaft machen, wenn die Authentizität des Erzählten außer Frage steht. Darum muss er als Zeuge einer Geschichte auftreten, die er doch selbst erfunden hat. Der Leser wiederum muss die präsentierte Geschichte zumindest für die Dauer der Lektüre als ›wahr‹ akzeptieren, obwohl er doch eigentlich weiß, dass es sich dabei um eine Fiktion und nicht um die Realität selbst handelt. Autor und Leser werden somit zu Komplizen einer doppelten Selbsttäuschung: »Chacun ici, auteur ou lecteur, fait semblant.« Vgl. Georges Blin, Stendhal et les problèmes du roman, Paris: Corti, 1954, S. 6-7. 101 Winfried Wehle vertritt die Ansicht, dass Balzac »nichts weniger als eine Revolution des Romans ins Werk gesetzt« hat: In literaturtheoretischer Hinsicht habe er »den Roman als Wissenschaft« begründet und in poetologischer Hinsicht habe er damit einen »neuen literarischen Diskurstyp« geschaffen. Vgl. Winfried Wehle, »Littérature des images. Balzacs Poetik der wissenschaftlichen Imagination«, in: Gumbrecht, Hans-Ulrich; Stierle, Karlheinz; Warning, Rainer (Hg.), Honoré de Balzac, München: Fink, 1980, S. 57-81, hier S. 83. 102 Damit steht Balzac am Beginn einer Diskurstradition, die sich als konstitutiv für die literarische ›Moderne‹ erweisen wird. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird sich der literarische Diskurs immer weiter an den Diskurs der Wissenschaften annähern. Während der »Objektivitätsfanatiker« (J. Peper) Flaubert die Unvoreingenommenheit des Erzählens zum vorrangigen Problem des Stils macht, möchte Zola den Roman durch die Übernahme einer ›experimentellen Methode‹ in den Rang einer echten Wissenschaft erheben. Mit seinem Romanzyklus RougonMacquart stellt sich Zola explizit in die Nachfolge Balzacs. Die Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire soll das Projekt einer Gesamtdarstellung der französischen Gesellschaft fortsetzen, nunmehr jedoch verkleidet als Familiengeschichte unter dem veränderten Vorzeichen einer darwinistischen Vererbungslehre. Bei Zola nimmt die Wissenschaftsgläubigkeit nahezu religiöse Züge an. Sein Roman expérimental vollzieht eine »radikale Gleichschaltung« (R. Daus) von Literatur und Wissenschaft, die letzten Endes jedoch die Grenzen des Literarischen selbst aufhebt. Tatsächlich führt die Verquickung von wissenschaftlichem Objektivitätsideal und literarischem Erzählen nur bedingt zu einem befriedigenden Ergebnis, weshalb die verschiedenen Avantgarden des 20. Jahrhunderts in entgegengesetzter Richtung auf einen Subjektivierungsprozess des

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doch nicht, dem Leser lediglich das mitzuteilen, was er vermutlich bereits weiß. Der ›realistische‹ Roman versucht darum nicht nur, eine Aussage über die Wirklichkeit zu formulieren; er möchte dem Leser vielmehr eine ganz bestimmte Sicht auf die Wirklichkeit präsentieren.103 Aus diesem Grund geht der wissenschaftlichen Erklärungsanspruch ›realistischer‹ Literatur häufig mit einer normativen Bewertung einher. Die vermeintliche Objektivität des ›Realismus‹ ist darum auch nur eine scheinbare. Zum einen unterliegt das Wissen, auf das sich die Wirklichkeitsdarstellung stützt, bereits einer Selektion; und zum anderen wird diese Wirklichkeit vom Text selbst implizit beurteilt. Insbesondere die Metaphorik erweist sich dabei als ein wichtiges Verfahren. Sie dient weniger dazu, die dargestellten Sachverhalte zu erklären, sondern leistet vor allem Überzeugungsarbeit im Sinne des präsentierten Wirklichkeitsmodells. ›Realistische‹ Texte operieren daher zumeist auf zwei unterschiedlichen Ebenen: auf der Darstellungsebene wird mittels narrativer Techniken, zeitlicher Referenzen und wissenschaftlicher Theorien ein fiktionales Wirklichkeitsmodell entworfen; auf einer zweiten, symbolischen Ebene wird dieses Wirklichkeitsmodell mit zusätzlicher (metaphorischer) Bedeutung aufgeladen, um dem Leser eine bestimmte vorgegebene Sicht auf die Wirklichkeit zu vermitteln. In den nachfolgenden Kapiteln soll nun genauer untersucht werden, wie Balzac und Houellebecq ihren Anspruch auf ›Realismus‹ in die jeweilige Praxis des Schreibens umsetzen.

Romans hinauslaufen – eine Entwicklung, die ohne den Autor der Comédie humaine jedoch kaum denkbar gewesen wäre. Vgl. Jürgen Peper, Bewußtseinslagen des Erzählens und erzählte Wirklichkeiten. Dargestellt an amerikanischen Romanen des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere am Werk William Faulkners, Leiden: Brill, 1966, S. 12; Ronald Daus, Zola und der französische Naturalismus, a.a.O., S. 23. 103 Man kann mit Jurij Lotman argumentieren, dass der literarische Text das »Modell zweier Objekte« ist, nämlich zum einen das Modell der dargestellten Wirklichkeit und zum anderen das Modell der Persönlichkeit des Autors: »Wenn der Autor ein Objekt im Modell (Kunstwerk) nachbildet, konstruiert er dieses Modell unvermeidlich gemäß der Struktur seiner Weltanschauung und seines Weltempfindens […].« In der Struktur des dargestellten Objektes, d.h. in der Modellierung einer Wirklichkeit, »enthüllt sich vor uns die Bewußtseinsstruktur des Autors und die durch dieses Bewußtsein geschaffene Struktur der Welt – eine bestimmte, sozial und historisch bedingte Weltanschauung.« Vgl. Jurij M. Lotman, Vorlesungen zur einer strukturalen Poetik, München: Fink, 1972, S. 38.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

3.1

Der »Avant-propos« als Programmschrift einer wissenschaftlichen Romanpoetik

Mit Balzac wird die traditionelle Unterscheidung von Geschichtsschreibung und Fiktion einer grundlegenden Revision unterzogen. In seiner Vorrede zur Comédie humaine formuliert Balzac das Ziel, eine »Sittengeschichte« der französischen Gesellschaft schreiben zu wollen.1 Begründet wird dieser Anspruch damit, dass die offizielle Geschichtsschreibung zu einer bloßen Faktensammlung verkommen sei: »En lisant les sèches et rebutants nomenclatures de faits appelés histoire, qui ne s’est pas aperçu que les érivains ont oublié […] de nous donner l’histoire des mœurs« (AP, 9). Dem historiografischen Diskurs wird darum ein literarischer Diskurs gegenübergestellt, um die Lücke zu füllen, die von den Historikern hinterlassen wurde. Wenn Balzac den Roman kurzerhand zu einer »histoire des mœurs« erklärt, dann stellt er sich damit in die Tradition der Aufklärungsphilosophie, denn bereits Voltaire hatte die Beschreibung der mœurs zum Hauptgegenstand des Historikers erklärt.2 An die Stelle der herkömmlichen Geschichtsschreibung, die im Wesentlichen eine Erzählung von Königen und Kriegen war, setzt Voltaire seine eigene Methode einer geschichtsphilosophischen Deutung von historischen Ereigniszusammenhängen, die darauf abzielt, den Fortschritt des Denkens in einer Universalgeschichte der Menschheit zu dokumentieren. Auch Balzac begreift 1

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Vgl. Honoré de Balzac, »Avant-propos« (1842), in: La Comédie humaine, hg. von Marcel Bouteron, Bd. 1: Études de mœurs: scènes de la vie privée, Paris: Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade), 1976, S. 7-20. Im Folgenden abgekürzt als AP. So etwa in seinem Essai sur les mœurs et l’esprit des nations (1756), in dessen einleitender Rede Voltaire dieses Vorgehen damit rechtfertigt, dass die klassische Geschichtsschreibung lediglich nutzlose Details hervorgebracht habe: »Le but de ce travail n’est pas de savoir en quelle année un prince indigne d’être connu succéda à un prince barbare chez une nation grossière. […] À quoi vous serviraient les détails de tant de petits intérêts qui ne subsistent plus aujourd’hui […] ?« Vgl. Voltaire, Essai sur les mœurs et l’esprit des nations et sur les principaux faits de l’histoire depuis Charlemagne jusqu’à Louis XIII, in: Œuvres complètes de Voltaires, Bd. 11, texte établi par Louis Moland, Paris: Garnier, 1878, S. 157.

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seine Aufgabe als Schriftsteller als eine geschichtsphilosophische Tätigkeit, doch im Unterschied zu Voltaire geht es ihm in erster Linie darum zu zeigen, welche zwischenmenschlichen Konflikte sich aus den Veränderungen der Sitten ergeben. In seinem Vorwort erhebt Balzac zudem den Anspruch, die französische Gesellschaft in ihrer Totalität abbilden zu wollen: »La Société française allait être l’historien, je ne devais être que le secrétaire« (AP, 11). Als Sekretär der Gesellschaft kommt ihm die Aufgabe zu, die Sitten und Gebräuche seiner eigenen Epoche zu dokumentieren. Doch damit nicht genug, denn der Romancier will darüber hinaus die Funktionsweise der Gesellschaft, ihre Entwicklungsgesetze und Dynamik beschreiben. Dazu greift er auf Theorien namhafter Naturforscher der damaligen Zeit zurück, wie z.B. Charles Bonnet (1720-1793) oder Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707-1788), die er in einem Atemzug mit dem deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), dem französischen Theosophen Louis Claude de Saint-Martin (1743-1803) und dem schwedischen Mystiker Emanuel Swedenborg (1688-1772) nennt.3 Als Vorbilder erwähnt Balzac

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Es fällt schwer, in dieser heterogenen Auflistung unterschiedlichster Vorbilder ein gemeinsames Ordnungsprinzip zu erkennen. In der Forschung wurde Balzacs wissenschaftliches Romanprojekt daher häufig unter dem Vorzeichen des Scheiterns gedeutet. Andreas Kablitz beispielsweise sieht das Vorwort durch einen »Synkretismus von Theoremen« gefährdet, die sich nicht mehr zu einem einheitlichen Erklärungsmodell zusammenfügen lassen. Ihm zufolge weist die Gesellschaftstheorie, die Balzac in seinem Vorwort entwirft, eine Reihe von »Inkonsistenzen« auf, die sich aus der Konkurrenz unterschiedlicher Theorieansätze ergeben. Erscheinen die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den »Espèces Sociales« anfangs noch ganz im Sinne der Milieutheorie als Funktion sozialer Determinierung, so werden sie am Ende des Vorwortes durch den Verweis auf die menschlichen Leidenschaften einer universalen Anthropologie untergeordnet. Damit werde das ursprüngliche Anliegen allerdings wieder relativiert, so Kablitz, weshalb der Erklärungsanspruch des Vorwortes letzten Endes in eine Aporie münde. Vgl. Andreas Kablitz, »Erklärungsanspruch und Erklärungsdefizit im Avant-propos von Balzacs Comédie humaine«, in: ZFSL, Bd. XCIX, 1989, S. 261286, hier S. 272. Ulrich Broich hat dieser Ansicht widersprochen. Ihm zufolge ist der Synkretismus des Vorwortes »nicht notwendig gleichbedeutend mit dessen Inkonsistenz, sondern Ausdruck von Balzacs Einsicht in die vielschichtige Natur des Menschen«. Wenn sich Balzac um eine polykausale Begründung der Charaktere und ihres Verhaltens bemühe, so werde dies der »Komplexität menschlichen Verhaltens« weitaus gerechter als die monokausalen Erklärungsmodelle eines Zola, der menschliches Verhalten allein durch Herkunft und Vererbung zu erklären versuche. Vgl. Ulrich Broich, »Charakterkonstitution und Modelle für die Erklärung menschlichen Verhaltens im englischen und französischen Roman des 19. Jahrhunderts«, in: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 25 (3/4), 1993, S. 338-359, hier S. 340. Thomas Klinkert wiederum deutet Balzacs Rückgriff auf Erkenntnisse der damaligen Naturforschung als ein Indiz für die »Nobilitierung des Romans« und die »wechselseitige Infizierung von Literatur und Wissenschaft« im 19. Jahrhundert. Klinkert verweist in diesem Zusammenhang auf die zoologischen Theorien von Cuvier und SaintHilaire, die im »Avant-propos« als Vorbilder für das literarische Vorhaben des Romanciers angeführt werden. Diese waren 1830 Gegenstand eines Wissenschaftsstreits der Académie des Sciences, in den sich schließlich sogar Goethe kommentierend einmischte. Obwohl die Zoologen grundverschiedene Ansichten vertraten, was Funktion und Entwicklung der Artenvielfalt betrifft, kann Balzac beiden Positionen etwas abgewinnen. Er beruft sich auf Cuvier und entwirft gleichzeitig ein Gesellschaftsmodell, das, wie Klinkert schreibt, mit Cuviers Grundannahme »in Konflikt steht und somit die epistemologische Kompatibilität« des ganzen Theoriegebäudes gefährdet. Vgl. Thomas Klinkert, Epistemologische Fiktionen. Zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung, Berlin/New York: de Gruyter, 2010, S. 138 und S. 140.

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außerdem die pseudo-wissenschaftlichen Theorien der Physiognomik und der Phrenologie von Johann Caspar Lavater (1741-1801) und Franz Josef Gall (1758-1828) sowie die Theorie des ›animalischen Magnetismus‹ des österreichischen Arztes Franz Anton Mesmer (1734-1815).4 Letzterer glaubte, dass kosmische Energieströme als unsichtbare Kräfte auf den Menschen einwirken und das Fehlen solcher Ströme Krankheiten verursachen könnte. Des Weiteren bezieht sich der Romancier in seinem Vorwort auf den »Wissenschaftsstreit«5 zwischen den beiden Zoologen Georges Cuvier (1769-1832) und Geoffroy Saint-Hilaire (1772-1844). Zwar weiß Balzac die Leistungen Cuviers sehr wohl zu schätzen, doch hinsichtlich des Streites zwischen den beiden Naturforschern schlägt er sich auf die Seite von Saint-Hilaire.6 Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Idee einer »comparaison entre l’Humanité et l’Animalité« (AP, 2). Gemäß der Theorie von Saint-Hilaire geht Balzac davon aus, dass der Körperbau von Wirbeltieren einen einheitlichen Grundbauplan aufweist,

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Die Theorie des animalischen Magnetismus übte eine große Wirkung auf Balzac aus. Beispielsweise ist er davon überzeugt, dass dem Menschen eine bestimmte Menge an Lebensenergie zur Verfügung stehe, die er entsprechend seinen Fähigkeiten und seiner Intelligenz zur Erreichung seiner Ziele einsetzen kann. Auf Balzacs Energetik-Lehre hat bereits Ernst Robert Curtius hingewiesen. Ihm zufolge verwendet Balzac die Begriffe Lebenskraft, Wille, Elektrizität, Denken oder Idee nahezu synonym, um die Fähigkeit des Menschen zu bezeichnen, die ihm zur Verfügung stehende Lebensenergie oder Vitalkraft zu nutzen. In der romantischen Vorstellung des Genies erkennt Balzac die Verkörperung einer maximalen Willenskraft, das heißt das Ideal eines Individuums, das von den kosmischen Energieströmen den bestmöglichen Gebrauch macht. Nach Thomas Stöber verbinden sich in der Comédie humaine eine romantische Konzeption der Energetik mit einem biologisch-vitalistischen Lebensbegriff. Während die früheren Romane im Allgemeinen noch stark von der Romantik geprägt sind, zeigt sich Stöber zufolge in den späteren Texten eine Hinwendung zum Lebensbegriff der Biologie als neuer Wissenschaft vom ›Leben‹. Vgl. Thomas Stöber, Vitalistische Energetik und literarische Transgression im französischen Realismus-Naturalismus. Stendhal, Balzac, Flaubert, Zola, Tübingen: Narr, 2006, S. 51ff. Zu Balzacs Energie-Lehre siehe Madeleine Ambrière, »Balzac et l’énérgie«, in: Romantisme 46, 1984, S. 43-48, sowie grundlegend die Ausführungen bei Ernst Robert Curtius, Balzac, 2. Aufl., Bern: Francke, 1951, S. 63-89. Zum Wissenschaftsstreit zwischen Cuvier und Saint-Hilaire und seinem Einfluss auf Balzac vgl. Françoise Gaillard, »La science: modèle ou vérité. Réflexions sur l’avant-propos à La Comédie humaine«, in: Duchet, Claude/Neefs, Jacques (Hg.), Balzac. L’invention du roman, Paris: Belfond, 1982, S. 57-83. Durch vergleichende anatomische Studien konnte Cuvier nachweisen, dass es im Laufe der Erdgeschichte immer wieder zum Aussterben einzelner Tierarten gekommen war. Aus fossilen Überresten entwickelte er Hypothesen über Bauform und Lebensbedingungen ausgestorbener Tiere. Balzac ist stark beeinflusst von Cuviers Methode. In einer berühmten Passage aus dem ersten Kapitel von La peau de chagrin (1831) nennt er den Zoologen respektvoll »le plus grand romancier de notre siècle«. Zit. nach: Honoré de Balzac, La Comédie humaine, Bd. 10, Paris : Gallimard, 1979, S. 75. Was Balzac an Cuvier bewunderte, war dessen Fähigkeit, aus winzigen Details ein ganzes Erdzeitalter zu rekonstruieren. So wie der Zoologe aus einem Backenzahn auf den Organismus eines ausgestorbenen Lebewesens schließt, so rekonstruiert der Romancier aus einem Möbelstück, einer Einrichtung oder der Architektur eines Gebäudes den Zustand einer ganzen Epoche. Winfried Wehle hat dieses Vorgehen treffend als »Paläontologie der sozialen Gegenwart« bezeichnet. Vgl. Winfried Wehle, »Littératures des images. Balzacs Poetik der wissenschaftlichen Imagination«, a.a.O., S. 63.

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sich die einzelnen Lebewesen aber später entsprechend ihren natürlichen Umweltbedingungen unterschiedlich entwickeln: »L’animal est un principe qui prend sa forme extérieure, ou, pour parler plus exactement, les différences de sa forme, dans les milieux où il est appelé à se développer« (AP, 2). Wenn Balzac die Unterschiede zwischen den Tierarten mit Hilfe einer ›Milieutheorie‹ erklärt, dann nimmt er damit bereits ein zentrales Element des positivistischen Wissenschaftsmodells vorweg.7 Ausgehend von der Idee einer »unité de composition« (AP, 2) versucht Balzac nun, das zoologische Modell auf die Gesellschaft zu übertragen. Dem Reichtum an Tierarten in der Natur stellt er die Vielfalt des sozialen Lebens in der menschlichen Gesellschaft gegenüber: »La Société ne fait-elle pas de l’homme, suivant les milieux où son action se déploie, autant d’hommes différents qu’il y a de variétés en zoologie ? Les différences entre un soldat, un ouvrier, un administrateur, un avocat, un oisif, un savant, un homme d’État, un commerçant, un marin, un poète, un pauvre, un prêtre, sont, quoique plus difficile à saisir, aussi considérables que celles qui distinguent le loup, le lion, l’âne, le corbeau, le requin, le veau marin, la brebis etc.« (AP, 9) Auf Grundlage dieses Vergleichs postuliert Balzac eine Analogie von »Espèces Zoologiques« und »Espèces Sociales« (AP, 9). Dabei orientiert er sich erneut an der Methode des Zoologen Saint-Hilaire. Dieser hatte versucht, die Artenvielfalt der Natur in einem taxonomischen Tableau abzubilden.8 Das klassifikatorische Verfahren lässt sich indes nur mit Einschränkungen auf eine Theorie der Gesellschaft übertragen. Darum muss Balzac das ursprüngliche Analogiemodell im weiteren Verlauf an einigen Stellen modifizieren. Im Kern nennt er dafür drei wesentliche Gründe: Erstens setzt die Natur dem Variationsreichtum der Tiere bestimmte Schranken, die es in der menschlichen Gesellschaft nicht gibt. Beispielsweise genügt es für ein zoologisches Tableau, wenn man die Löwin zusammen mit dem Löwen behandelt »tandis que dans la Société la femme ne se trouve pas toujours être la femelle du mâle« (AP, 8). Erschwerend kommt hinzu, dass bei den Menschen auch Paarungsmöglichkeiten über vorgegebene Klassenund Standesgrenzen hinweg möglich sind: »La femme d’un marchand est quelquefois digne d’être celle d’un prince, et souvent celle d’un prince ne vaut pas celle d’un artiste« (AP, 9). Eine zweite Einschränkung resultiert daraus, dass die Menschen ihrem Denken, ihren Einstellungen und Gefühlen mit Hilfe eines semiotischen Repräsentationssystems Ausdruck verleihen. So verfügt der Mensch nicht nur über Wissenschaften

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In der Einleitung zu seiner vierbändigen Geschichte der englischen Literatur (1863-1864) entwirft Hippolyte Taine die berühmte Begriffstrias von race, milieu und moment, die ihm als Grundlage einer positivistisch-szientistischen Analyse der Nationalliteraturen dient. Vgl. Hippolyte Taine, Histoire de la littérature anglaise, Bd. 1, Paris 1866, insb. S. XXIII-XXXIV. Die im »Avant-propos« entworfene Gesellschaftstheorie ist darum eher ›naturwissenschaftlich‹ als ›soziologisch‹ ausgerichtet. Andreas Kablitz betont in diesem Zusammenhang zu Recht, dass Balzac die Gesellschaft »nicht als eine spezifische Form der Organisation menschlichen Zusammenlebens« auffasst, sondern als Klassifikationssystem der Gattungsspezies ›Mensch‹, die er mit Hilfe wissenschaftlicher Operationen wie Differenzierung und Klassenbildung systematisch zu erfassen versuche. Vgl. Andreas Kablitz, »Erklärungsanspruch und Erklärungsdefizit im Avant-propos von Balzacs Comédie humaine«, a.a.O., S. 265.

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und Künste, sondern auch über Eigentum, das innerhalb der symbolischen Ordnung der Gesellschaft den Charakter von historisch veränderbaren Zeichen annimmt: »[…] les habitudes de chaque animal sont, à nos yeux du moins, constamment semblables en tout temps ; tandis que les habitudes, les vêtements, les paroles, les demeures d’un prince, d’un banquier, d’un artiste, d’un bourgeois, d’un prêtre et d’un pauvre sont entièrement dissemblables et changent au gré des civilisations.« (AP, 9) Sozialen Distinktionsmerkmalen wie Kleidung oder Möbel muss der Sekretär der Gesellschaft darum dieselbe Aufmerksamkeit widmen wie den individuellen Verhaltensdispositionen, den Gewohnheiten, der Lebensweise und der Sprache, kurz den Sitten und Gebräuchen. Aus diesem Grund kommt dem »historien des mœurs« eine doppelte Aufgabe zu: Er muss sowohl die verschiedenen »Espèces sociales« als auch die Funktion der sie umgebenden Gegenstände in seine Analyse miteinbeziehen, »c’est-à-dire les personnes et la représentation matérielle qu’ils donnent de leur pensée« (AP, 9). Im Unterschied zum Tier ist der Mensch nämlich darum bemüht, seine eigene Position innerhalb der Gesellschaft zu behaupten oder zu verbessern. Die Gesellschaft gibt den animalischen Instinkten ebenso viel Raum wie der Intelligenz, weshalb sich zwischen den Menschen ein fortwährender Machtkampf um Status und Prestige entwickelt, der eine folgenschwere Dynamik in Gang setzt: »Si quelques savants n’admettent pas encore que l’Animalité se transborde dans l’Humanité par un immense courant de vie, l’épicier devient certainement pair de France, et le noble descend parfois au dernier rang social« (AP, 9). Was die menschliche Gesellschaft also letztlich auszeichnet, ist der Umstand, dass sie die Gattungsgrenzen der Natur transzendiert.9 Anders als im Tierreich sind die Kategoriengrenzen zwischen den »Espèces sociales« grundsätzlich offen, weshalb ein Adliger in den Rang eines Kleinbürgers absteigen und dieser zum Pair de France aufsteigen kann. Damit fällt die Beschreibung der Gesellschaft ungleich komplizierter aus, als es die zoologische Methode nahelegt. Konsequenterweise gibt Balzac das ursprüngliche Analogiemodell im weiteren Verlauf seiner Argumentation auf, um einen zweiten Bestimmungsversuch der menschlichen Gesellschaft zu wagen. Der »État social« erscheint nun als ein Drittes, welches Natur und Gesellschaft umfasst: »L’État social a des hasards que 9

Rainer Warning deutet das Schlüsselwort des »courant de vie« als Indiz dafür, dass sich in Balzacs Romanwerk ein positivistischer Wissenschaftsanspruch mit einer ›Metaphysik der Tiefe‹ verbindet. Er beruft sich dabei auf Überlegungen Michel Foucaults, die dieser in Les mots et les choses (1966) im Zusammenhang mit der Transformation der epistemischen Wissenschaftskonfigurationen anstellt. Laut Foucault kommt es im 19. Jahrhundert zu einem grundlegenden Wandel der Episteme, in deren Folge die klassische Naturgeschichte durch die moderne Biologie abgelöst wird. Anstatt die Lebewesen gemäß ihren Klassifikationsmerkmalen in eine Taxonomie einzuteilen, konzentriert sich das Interesse der Wissenschaftler fortan auf die innere Organisation und die funktionalen Zusammenhänge eines Organismus: »Der Organismus als Funktionseinheit aber beruht auf einem ihn organisierenden Prinzip, das die positiven Wissenschaften als Bedingung der Möglichkeit ihrer Erkenntnisse voraussetzen müssen, das sich aber positivistischer Erkenntnisse selbst entzieht: das Prinzip ›Leben‹. Dieses in einer unsichtbaren Tiefe verborgene Leben nun wird zum Gegenstand metaphysischer Spekulation.« Vgl. Rainer Warning, »Chaos und Kosmos. Kontingenzbewältigung in der Comédie humaine«, in: Gumbrecht, Hans-Ulrich; Stierle, Karlheinz; Warning, Rainer (Hg.), Honoré de Balzac, München: Fink, 1980, S. 9-55, hier S. 45.

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ne se permet pas la Nature, car il est Nature plus la Société« (AP, 9). Mit dem Einbau des Zufalls hält aber ein »Moment der Ordnungsstörung«10 in die Gesellschaftstheorie Einzug, das, wie Andreas Kablitz anmerkt, den wissenschaftlichen Anspruch des Vorwortes unterminiert. Nachdem sich herausgestellt hat, dass das zoologische Verfahren nicht imstande ist, die Durchlässigkeit der Kategoriengrenzen zu erklären, wird die soziale Mobilität auf das Wirken einer Kontingenz zurückgeführt und damit jeder rationalen Erklärung entzogen. Entsprechend muss Balzac die Aufgabe des Romanciers neu definieren. Gegenstand des »historien des mœurs« sind nun nicht mehr allein die Unterschiede zwischen den verschiedenen »Espèces Sociales«, sondern die menschlichen Konflikte, die sich beim Überschreiten der Klassengrenzen einstellen: »Enfin, entre les animaux, il y a peu de drames, la confusion ne s’y met guère ; ils courent sus les uns aux autres, voilà tout. Les hommes courent bien aussi les uns sur les autres ; mais leur plus ou moins d’intelligence rend le combat autrement compliqué.« (AP, 9) Balzac lässt keinen Zweifel daran, dass die mit der Französischen Revolution verlorengegangenen Standesunterschiede seiner Ansicht nach eine Gefahr für die soziale Ordnung darstellen. Die Machtkämpfe zwischen den Individuen, in deren Folge ein »épicier« zum »pair de France« aufsteigen und ein Adliger in die unteren Ränge der Gesellschaft absteigen kann, werden als Ursache einer allgemeinen »confusion« identifiziert. Ihre Aufwertung zu menschlichen »Dramen« (AP, 19) bietet dem Romancier jedoch zugleich die Möglichkeit, die daraus resultierenden Konflikte literarisch zu gestalten. In ästhetischer Hinsicht erweist sich die soziale Mobilität – ungeachtet ihres Gefahrenpotenzials für die Gesellschaft – somit als gewinnbringend, denn sie liefert dem Romancier den Stoff, aus dem er seine Erzählungen konstruieren kann.11 Mit dem Hinweis auf die sozialen »Dramen« wird ein Erklärungsmuster eingeführt, das die Gesellschaft nunmehr »nach der Maßgabe literarischer Handlungsmodelle«12 bestimmen soll. Damit liefert Balzac erstmals auch eine poetologische Rechtfertigung des eigenen Romanprojekts. Interessanterweise wird die Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit just in dem Moment dem Zugriff der Literatur überantwortet, als die naturwissenschaftliche Methode an ihre Grenzen gerät. Durch den Einbau des Zufalls wird das taxonomische Tableau der Gesellschaft dynamisiert, weshalb es eines neuen Beschreibungsmodells bedarf, um das soziale Chaos zu erklären. Letztlich geht es Balzac dabei wohl primär um eine Legitimierung der Literatur. Denn so wenig der Zufall als Erklärung für die soziale »confusion« taugt, so sehr untermauert er doch den Anspruch des Künstlers, die solchermaßen dramatisierte Wirklichkeit im Medium der Fiktion poetisch zu beschreiben. Daher kann Balzac den Zufall zunächst

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Andreas Kablitz, »Erklärungsanspruch und Erklärungsdefizit«, a.a.O., S. 266. Rainer Warning hat das Vorwort zur Comédie humaine aus diesem Grund eine »Poetik der Sujetkonstitution« genannt. Die soziale Mobilität, die Balzac in seiner Gesellschaftstheorie beschreibt, bewirkt laut Warning eine dramatische Ereignishaftigkeit, die sich konstitutiv auf die Sujetentfaltung des Textes (im Sinne Jurij M. Lotmans) auswirkt. Vgl. Rainer Warning, »Chaos und Kosmos«, a.a.O., S. 13. Kablitz, »Erklärungsanspruch und Erklärungsdefizit«, a.a.O., S. 266.

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noch als Ursache für das gesellschaftliche Chaos verantwortlich machen, um ihn wenig später emphatisch als »le plus grand romancier du monde« (AP, 11) zu bezeichnen. Doch Balzac begnügt sich nicht allein damit, die sozialen Dramen darzustellen, die sich aus dem Abbau der Standesunterschiede ergeben, sondern er versucht, die verborgenen Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Dynamik als solche zu ergründen. Die menschlichen Konflikte sind nämlich nur die sichtbaren Wirkungen (»effets sociaux«) von tieferliegenden Ursachen (»raisons«), die unter der Oberfläche der sozialen Erscheinungen als eigentliche Antriebskräfte (»ce moteur social«) des Sozialen wirken: »Ce travail n’était rien encore. S’en tenant à cette reproduction rigoureuse, un écrivain pouvait devenir un peintre plus ou moins fidèle […] ; mais pour mériter les éloges que doit ambitionner tout artiste, ne devais-je pas étudier les raisons ou la raison de ces effets sociaux, surprendre le sens caché dans cet immense assemblage des figures, de passions et d’événements. Enfin, après avoir cherché, je ne dis pas trouvé, cette raison, ce moteur social, ne fallait-il pas méditer sur les principes naturelles et voir en quoi les Sociétés s’écartent ou se rapprochent de la règle éternelle, du vrai, du beau ?« (AP, 11) Indem Balzac eine solche Tiefendimension in den Begründungszusammenhang einführt, muss er das eigentliche Anliegen seines Vorwortes abermals neu bestimmen. Das Erkenntnisinteresse richtet sich nun auf den verborgenen Sinn (»le sens caché«) der Geschichte; es wird geleitet von dem faustischen Bemühen, zu erkennen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«13 . Entscheidend ist, dass damit eine neue Erklärung eingeführt wird: Nicht das Wirken des Zufalls ist die Ursache für das gesellschaftliche Chaos, vielmehr sind die sozialen Dramen das Ergebnis von Leidenschaften, die als unsichtbare »Tiefenmächte des Lebens und der Geschichte«14 über das Schicksal der Romanfiguren im Einzelnen und der Gesellschaft im Ganzen bestimmen. Folglich wird das ursprüngliche Anliegen einer »histoire des mœurs« kurzerhand in eine »histoire du cœur humain« (AP, 10) umbenannt. Die Suche nach einem Organisationsprinzip der sozialen Wirklichkeit führt Balzac somit wieder zurück in die Abgründe der menschlichen ›Natur‹. Damit gelangt die Argumentation des Vorwortes an einen Punkt, an dem Balzac die ideologischen Prämissen seines Welt- und Menschenbildes preisgeben muss. Zentrales Element dieser Weltanschauung ist die Aufrechterhaltung der sozialen Ord-

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Vgl. Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, V. 382-383. Tatsächlich übt »le grand Goethe« (AP, 8), wie Balzac ihn in seinem Vorwort nennt, einen starken Einfluss auf den Romancier aus. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass Balzac an vielen Stellen seines Werkes auf das faustische Motiv des Paktes zurückgreift. In diesen Zusammenhang fällt auch Balzacs Vorliebe für das Dämonische, etwa wenn er seine Figuren mit diabolischen Zügen ausstattet. Über den Einfluss Goethes schreibt Ernst Robert Curtius: »Das Faustische in Balzac – das unersättliche und unendliche Begehren nach allen Erfüllungen des Daseins – ist nur ein anderer Aspekt dessen, was ich Energie, Wille, Libido nannte. Es ist die Triebfeder seines Schaffens. Es ist der Motor seiner Phantasie. Er projiziert es auf die gesamte Wirklichkeit. Das Begehren wird bei ihm schöpferisches Prinzip.« Ernst Robert Curtius, »Wiederbegegnungen mit Balzac«, in: ders., Kritische Essays zur europäischen Literatur, Frankfurt a.M.: Fischer, 1984, S. 95-119, hier S. 99. Wolfgang Matzat, Diskursgeschichte der Leidenschaften. Zur Affektmodellierung im französischen Roman von Rousseau bis Balzac, Tübingen: Narr 1990, S. 242.

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nung. Diese ist gefährdet, wenn sich die instinktmäßige Natur des Menschen in Form von Leidenschaften ungezügelt entfalten kann: »L’homme n’est ni bon ni méchant, il naît avec des instincts et des aptitudes ; la Société, loin de le dépraver, comme l’a prétendu Rousseau, le perfectionne, le rend meilleur ; mais l’intérêt développe alors énormément ses penchants mauvais.« (AP, 8) Um die zerstörerische Kraft der Leidenschaften zu zügeln, bedarf es eines Regulativs. Diese Funktion übernehmen in Balzacs Gesellschaftstheorie der Katholizismus und die Monarchie, jene zwei »Vérités éternelles« (AP, 13), die zugleich auch die beiden Säulen der französischen Restaurationsgesellschaft darstellen.15 Wenn das monarchische Prinzip auf der Ebene der Gesetze verhindern soll, dass sich der demokratische Mehrheitswille in tyrannischer Weise über die Interessen der Minderheiten hinwegsetzt, so sollen auf der Ebene der Moral die gesellschaftlichen Übel durch religiöse Erziehung eingedämmt und korrigiert werden. Das Christentum und insbesondere der Katholizismus gelten Balzac als stabilisierender Ordnungsrahmen, als »le plus grand élément d’Ordre Social« (AP, 12), da sie die Leidenschaften zügeln, den Egoismus unterdrücken und die instinkthafte, triebmäßige Natur des Menschen zum Verschwinden bringen können. Zu den beiden »ewigen Wahrheiten« von Kirche und Monarchie tritt als drittes Element noch die Familie. Sie bildet die Keimzelle des Sozialen und das Fundament der Gesellschaft, weshalb sie im Vorwort auch als »véritable élément social« (AP, 13) bezeichnet wird. Balzac scheint sehr wohl zu wissen, dass sein Gesellschaftsideal mit den realen Verhältnissen der nachrevolutionären Epoche nur sehr wenig gemeinsam hat. Zumindest lassen sich seine Äußerungen in diesem Sinne deuten, wenn er am Ende seines Vorwortes proklamiert, die Aufgabe der Kunst bestehe darin, nach einem Ideal zu streben: »L’histoire n’a pas pour loi, comme le roman, de tendre vers le beau idéal« (AP, 15). Anders als die Geschichtsschreibung, die es mit historischen Tatsachen zu tun hat, bietet die Fiktion ihm zufolge immer auch die Möglichkeit, eine bessere Welt zu entwerfen: »le roman doit être le monde meilleur« (AP, 15). Allerdings wird diese Forderung durch die Romanfabeln in aller Regel widerlegt.16 In den Romanen dominieren vor allem die 15

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Balzacs politischer Legitimismus, sein Konservatismus und seine fast schon feindselige Abneigung gegen das demokratische Mehrheitsprinzip wurden von der Kritik als Anzeichen einer reaktionären Gesinnung gedeutet. Diese Auffassung vertritt schon Georg Lukács, wenn er schreibt, Balzac habe die gesellschaftlichen Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise durchschaut – ungeachtet seiner politischen Ansichten, die ihn doch eigentlich vom Gegenteil hätten überzeugen müssen. Vgl. Georg Lukács, »Die Bauern«, a.a.O., S. 340. Rainer Warning beobachtet in den Romanen eine auffällige »Gegenstrebigkeit« von Geschichtsund Kommentarebene. So versuche der Erzählerdiskurs einen semantischen Ordnungsrahmen zu modellieren, in dem die normativen Wertvorstellungen des Ancien Régime nach wie vor existieren, gleichzeitig werde die Gültigkeit dieser Vorstellungen durch die erzählte Geschichte in Frage gestellt. Diese Gegenstrebigkeit ist jedoch kein Zufall, sondern »das Charakteristikum einer Wirklichkeitsmodellierung, die die ihr zugrundeliegenden ideologischen Positionen nur noch kontrafaktisch beschwören kann und damit implizit den Verlust ihrer lebensweltlichen Relevanz demonstriert.« Wenn die Romane ein moralisches Bezugssystem heraufbeschwören, das mit der Französischen Revolution seine Legitimität verloren hat, so geschieht dies in dem Empfinden eines schmerzhaften Verlustes. Warning sieht in der Comédie humaine darum das »gigantische Kompen-

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destruktiven Leidenschaften. Diese Leidenschaften werden in der Tiefe der menschlichen Natur verortet und treten an der Oberfläche der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Form von Eifersucht, Neid, Hass und Rivalität in Erscheinung. Verständlich werden diese Konflikte jedoch erst vor dem Hintergrund einer spezifischen Zeiterfahrung, die in den Romanen als Klassendualismus modelliert wird. Ausgangspunkt der folgenden Analysen ist darum der soziale Antagonismus von Bürgertum und Adel. Dabei wird vor allem auf das ›mimetische‹ Begehren der Romanfiguren einzugehen sein, das als Strukturprinzip der beiden untersuchten Romane dient und einen Einblick in das zugrunde liegende Weltbild von Balzacs spätem Diptychon der Parents pauvres geben kann.

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Das mimetische Begehren als Strukturprinzip der Erzählung und Motor der gesellschaftlichen Dynamik: La Cousine Bette (1846) Fiktionalisierung und Rezeptionssteuerung im Incipit

Anders als in vielen seiner früheren Romane, wie Eugenie Grandet (1833) oder Le Père Goriot (1834), die mit einer ausladenden Beschreibung des Handlungsortes einsetzen, wählt Balzac in seinem Spätwerk La Cousine Bette (1846) eine Expositionstechnik, die den Leser nahezu unmerklich in die Fiktion hineinführt.17 Dazu greift Balzac auf ein Verfahren der Romaneröffnung zurück, das er dem populären Unterhaltungsroman entlehnt und das im Wesentlichen auf der Enthüllung eines Rätsels beruht.18 Ermöglicht wird dies dadurch, dass sich die narrative Instanz in der Eingangsszene zurücknimmt und ihre Unwissenheit vortäuscht. Der auktoriale Erzähler schlüpft in die Rolle eines Passanten auf dem Boulevard, der das Geschehen vor ihm auf der Straße scheinbar zufällig beobachtet.19 Hinter dem prätendierten Wahrnehmungshorizont des Passanten zeichnet

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sationsunternehmen« eines Schriftstellers, der versuche, »ästhetisch eine Totalität zu restituieren, die lebensweltlich längst und unwiederbringlich verloren war.« Rainer Warning, »Chaos und Kosmos«, a.a.O., S. 37, 16 und 52. Zitiert wird im Folgenden nicht nach der Pléiade-Ausgabe, da die ursprüngliche Kapiteleinteilung des Romans und die entsprechenden Kapitelüberschriften dort nicht übernommen wurden, sondern nach der »Folio«-Ausgabe. Vgl. Honoré de Balzac, La Cousine Bette, Paris: Gallimard (folio classique), 1972. Im Folgenden CB abgekürzt. Wie Gérard Genette (unter Berufung auf Michel Raimond) gezeigt hat, findet man dieses Verfahren vor allem im roman d’intrigue ou d’aventure, einer Gattung, die von Autoren wie Walter Scott, Jules Vernes oder Alexandre Dumas im Frankreich der 1820er Jahre popularisiert wurde. Vgl. Gérard Genette, »Discours du récit«, in: ders., Figures III, Paris: Seuil, 1972, S. 67-267, hier S. 207f. Dabei handelt es sich um eine erzähltechnische Strategie, die von den Autoren des ›realistischen‹ Romans im 19. Jahrhundert sehr häufig in der Romaneröffnung verwendet wird. Ähnliche Verfahren findet man auch bei Stendhal oder Flaubert, deren Romaneingänge oftmals ebenfalls aus der Sicht eines unmittelbar am Geschehen beteiligten Erzählers vermittelt sind. Zu denken wäre hier etwa an den Romanbeginn von Le Rouge et le Noir (1830), dessen Erzähler sich zu Beginn als »voyageur« ausgibt, um in die geografischen Besonderheiten, die Historie und Mentalität einer französischen Provinzstadt einzuführen. Auch die Romaneröffnung von Madame Bovary (1857) beginnt aus der Sicht eines personalen Erzählers. Die berühmte Einleitungsformel (»Nous étions à l’Étude, quand le Proviseur entra…«) dient als Verfahren der Authentifizierung, denn sie weist den Erzähler als einen Mitschüler des jungen Charles Bovary aus. Erst im Laufe des Eingangskapitels

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Wirklichkeit im Wandel

sich jedoch die lenkende Hand eines allwissenden Erzählers ab, der mit den Figuren ebenso wie mit den Gegebenheiten von Raum und Zeit bestens vertraut ist: »Vers le milieu du mois de juillet de l’année 1838, une de ces voitures nouvellement mises en circulation sur les places de Paris et nommées des milords cheminait, rue de l’Université, portant un gros homme de taille moyenne, en uniforme de capitaine de la garde nationale.« (CB, 29) Der Romanbeginn enthält darüber hinaus eine Reihe weiterer Vertextungsstrategien, die darauf abzielen, einen Eindruck von Wirklichkeitsnähe zu erzeugen. Auffallend ist zunächst die Verwendung des unbestimmten Demonstrativpronomens (»une de ces voitures«), das Balzac mit Vorliebe zur Typisierung eines Sachverhalts, eines Gegenstandes oder einer Romanfigur einsetzt. Der Effekt solcher Formulierungen lässt sich als eine Form der Pseudo-Objektivierung beschreiben: Die deiktischen Pronomina identifizieren einen bestimmten Gegenstand als Element einer Gruppe von existierenden Gegenständen und fordern den Leser dazu auf, die fiktionalen Aussagen des Textes als Aussagen über die Wirklichkeit selbst zu lesen. Eine wichtige Funktion übernimmt dabei auch der Kursivdruck. Er zeigt an, dass es sich bei den hervorgehobenen Textelementen um Fragmente eines »discours social«20 handelt. Durch die typografische Hervorhebung signalisiert der Text, dass die Worte des Erzählers einer »diffusen Sprache der Gesellschaft«21 entnommen sind, die ihren eigentlichen Ort außerhalb des Romans hat. Die Fiktion ist über die zitierte Rede metonymisch mit der Wirklichkeit verbunden. Der Kursivdruck übernimmt somit die Funktion einer Wirklichkeitsreferenz. Mehr noch: Balzac gestaltet den Romanbeginn so, dass die Beschreibung des realen Ortes unmerklich überleitet zum fiktiven Schauplatz des Romans. Ermöglicht wird dies in erster Linie durch die Aufgabe der auktorialen Erzählposition. Obwohl der Erzähler das Geschehen von einem überlegenen Standpunkt aus betrachtet, hält er sein Wissen vorerst zurück. Seine Tätigkeit beschränkt sich ganz auf die Wiedergabe einzelner Handlungsabläufe. Syntaktisch äußert sich dies in einer Dominanz unpersönlicher Partizipial- und Passivkonstruktionen. So registriert der Erzähler erst die Ankunft einer Kutsche und sodann den Auftritt eines Mannes, der die Uniform eines Kapitäns

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wechselt die Erzählperspektive in den Diskurs einer auktorialen Erzählung. Vgl. hierzu Andreas Kablitz, »Realism as a Poetics of Observation. The Function of Narrative Perspective in the Classic French Novel: Flaubert – Stendhal – Balzac«, in: Kindt, Tom (Hg.), What is narratology? Questions and answers regarding the status of a theory, Berlin: de Gruyter, 2003, S. 99-136. Claude Duchet definiert den discours social als »un ensemble de voix brouillées, anonymes, une sorte de fond sonore […] où se mêlent les clichés, les fameuses idées réçues, les stéréotypes socioculturels, les idiolectes caractérisants, les traces d’un savoir institutionnalisé ou ritualisé, des noyaux ou fragments d’idéologies plus ou moins structurés, plus ou moins subsumés par une idéologie dominante, plus ou moins actualisés par des références, inscrits dans des lieux comme dans des personnages, voire montés en scène ou éléments de scène.« Claude Duchet, »Discours social et texte italique dans Madame Bovary«, in: Bart, Benjamin F./Issacharoff, Michael (Hg.), Langages de Flaubert. Actes du Colloque de London (Canada), 1973, Paris: Minard, 1976, S. 143-163, hier S. 145. Frank Leinen, Flaubert und der Gemeinplatz. Erscheinungsformen der Stereotypie im Werk Gustave Flauberts, Frankfurt a.M.: Lang, 1990, S. 116.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

der Nationalgarde angelegt hat. Der Erzähler präsentiert sich dabei als ein aufmerksamer Beobachter, der jedem noch so winzigen Detail in der Physiognomie und auf der Kleidung eine analytische Bedeutung beimisst.22 Aus dem äußeren Erscheinungsbild des unbekannten Mannes zieht er sofort Rückschlüsse auf dessen sozialen Status und Charakter: »La physionomie de ce capitaine appartenant à la deuxième légion respirait un contentement de lui-même qui faisait resplendir son teint rougeaud et sa figure passablement joufflue. À cette auréole que la richesse acquise dans le commerce met au front des boutiquiers retirés, on devinait l’un des élus de Paris, au moins ancien adjoint de son arrondissement. Aussi, croyez que le ruban de la Légion d’honneur ne manquait pas sur la poitrine, crânement bombée à la prussienne.« (CB, 29) Die physiognomische Beschreibung wird indes durch eine Reihe von Textsignalen ironisch gebrochen. Balzac greift auf ein ganzes Arsenal an Tropen und Figuren zurück – aufgeboten werden Metapher (»cette auréole«), Hyperbel (»au moins ancien adjoint«), Litotes (»ne manquait pas«) und Apostrophe (»Aussi, croyez que«) – und markiert damit geradezu überdeutlich den ironischen Unterton der Beschreibung. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Hervorhebung körperlicher Merkmale, insbesondere die Tendenz zur Korpulenz und die rötliche Hautfarbe des Gesichtes. In den Gesichtszügen spiegelt sich darüber hinaus die Selbstgefälligkeit eines kleinbürgerlichen parvenu, der es im Handel zu Wohlstand und Ansehen gebracht hat. Allerdings macht sich der unbekannte Mann in der Uniform eines Kapitäns der Nationalgarde durch die Art und Weise, wie er das Band der Ehrenlegion zur Schau stellt, geradezu lächerlich. All dies wird freilich weniger erzählt, sondern vielmehr gezeigt. Der Text selbst präsentiert die Physiognomik als eine quasi-objektive Wissenschaft, die generalisierbare Aussagen möglich macht, und liefert zugleich eine Demonstration ihrer Erkenntnisleistung: »À la manière seulement dont le capitaine accepta les services du cocher pour descendre du milord, on eût reconnu le quinquagénaire. Il y a des gestes dont la franche lourdeur a toute indiscrétion d’un acte de naissance. Le capitaine remit son gant jaune à sa main droite et, sans rien demander au concierge, se dirigea vers le perron du rezde-chaussée de l’hôtel d’un air qui disait : › Elle est à moi ! ‹ Les portiers de Paris ont le coup d’œil savant, ils n’arrêtent point les gens décorés, vêtus de bleu, à démarche pesante ; enfin ils connaissent les riches.« (CB, 56) Vermeintlich unbedeutende Details und Gegenstände wie Möbel, Kleidung oder die Fassade eines Hauses erhalten den Charakter von lesbaren Zeichen. In ihnen verbirgt sich ein »prophetisches Wissen«23 über die Welt und die Menschen, das sich demjeni22 23

Vgl. hierzu Rainer Warning, »Physiognomik und Serialität. Beschreibungsverfahren bei Balzac und Robbe-Grillet«, in: ders., Die Phantasie der Realisten, München: Fink, 1999, S. 77-88. In seinem Roman Une ténébreuse affaire (1841) spricht Balzac von dem »prophetischen« Charakter der Physiognomik, die er als eine »exakte« Wissenschaft bezeichnet: »Les lois de la physionomie sont exactes, non seulement dans leur application au caractère, mais encore relativement à la fatalité de l’existence. Il y a des physionomies prophétiques. S’il était possible, et cette statistique vivante importe à la Société, d’avoir un dessin exact de ceux qui périssent sur l’échafaud, la science de Lavater et celle de Gall prouveraient invinciblement qu’il y avait dans la tête de tous ces gens,

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Wirklichkeit im Wandel

gen, der die Zeichen zu deuten vermag, unmittelbar erschließt. Eine indiskrete Geste vermag darum ebenso viel auszusagen wie eine offizielle Geburtsurkunde. Nachdem der Leser solchermaßen in die Kunst des Zeichenlesens eingewiesen wurde, vermag er den Auftritt des unbekannten Mannes besser einzuschätzen. Dieser gibt sich schließlich vollends der Lächerlichkeit preis, als er beim Ausstieg aus der Kutsche einen gelben Handschuh – das Erkennungszeichen eines Dandys – überstreift und im Gestus eines Mannes, der sich seiner Position und Stellung sicher ist, die Stufen eines herrschaftlichen Hauses emporsteigt. Der Text kommentiert dieses Verhalten durch die Zuschreibung eines Zitats (»Elle est à moi«), dessen enigmatische Referenz sich erst im Laufe der Exposition gänzlich klären wird. Zuvor übernimmt die narrative Instanz aber noch einmal den Wahrnehmungshorizont einer Figur innerhalb der erzählten Welt: Das Sichtfeld des Erzählers verschmilzt mit dem Blick eines Dieners, der den Besucher in den Salon führt: »Après avoir sonné, le capitaine bourgeois fit de grands efforts pour remettre en place son habit, qui s’était autant retroussé par-derrière que par-devant, poussé par l’action d’un ventre piriforme. Admis aussitôt qu’un domestique l’eut aperçu, cet homme important et imposant suivit le domestique, qui dit en ouvrant la porte du salon: ›M. Crevel !‹« (CB, 56). Mit dem Eintreten des Kapitäns in den Salon ist die Einführung des Lesers in die fiktionale Welt des Romans abgeschlossen. Interessanterweise baut der Text seine deiktische Referenz im Verlauf der Eingangsszene sukzessive ab. An die Stelle des unpersönlichen Artikels (»un gros homme«) tritt zunächst ein Demonstrativpronomen (»ce capitaine«) und zuletzt der bestimmte Artikel (»le capitaine«). Aus dem Mund des Hausdieners erfahren wir schließlich auch den Namen des unbekannten Mannes aus der Kutsche. Es handelt sich um den bürgerlichen Monsieur Crevel, einen »ancien parfumeur«, den der Erzähler an späterer Stelle ironisch als »le représentant si naïf et si vrai du parvenu parisien« (CB, 138) bezeichnet. Bei der Erwähnung seines Namens springt die Hausherrin, die Baronin Hulot, wie von einem elektrischen Schlag getroffen auf. Eine Erklärung für diese sonderbare Reaktion liefert der anschließende Dialog zwischen den beiden Romanfiguren: Crevel, so erfahren wir, hat die geplante Hochzeit von Hortense, der Tochter der Baronin, platzen lassen. Auf die Gründe, die ihn dazu veranlasst haben, wird an späterer Stelle noch genauer einzugehen sein. Entscheidend ist vorerst, dass der Roman im Aufeinandertreffen des bürgerlichen Crevel und der Baronin Hulot eine historische Erfahrung inszeniert, die unmittelbar mit den veränderten politischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen seines Entstehungskontextes zusammenhängen.

3.2.2

Die Zerstörung des Vater-Mythos und die Mimesis des Begehrens

Inwieweit der Roman eine historische Erfahrung artikuliert, lässt sich an den Veränderungen des Figurenrepertoires von Balzacs Spätwerk ablesen. Pierre Barbéris zufolge même chez les innocents, des signes étranges. Oui, la Fatalité met sa marque au visage de ceux qui doivent mourir d’une mort violente quelconque !« Zit. nach: Willi Jung, Theorie und Praxis des Typischen bei Honoré de Balzac, Tübingen: Stauffenberg, 1983, S. 36, meine Hervorhebungen.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

handelt es sich bei den späten Erzählungen der Comédie humaine um »des romans purement bourgeois«24 . Zwar tauchen darin auch weiterhin Repräsentanten der Aristokratie auf, diese spielen aber kaum mehr eine Rolle; umgekehrt nehmen die Vertreter des Bürgertums deutlich mehr Raum ein. Crevel beispielsweise beginnt seine Laufbahn als Gehilfe in der Boutique von César Birotteau. Im Unterschied zu diesem muss Crevel seinen Lebensunterhalt jedoch nicht mehr durch tägliche Arbeit verdienen, sondern er profitiert von den Einkünften seiner Renten. Dies erlaubt es ihm, den extravaganten Lebensstil eines Dandys zu pflegen und gleichzeitig die fixen Ideen des französischen Amtsadels, vorrangig dessen Obsession für Grund und Boden, zu imitieren. Laut Barbéris steht Crevel darum stellvertretend für die zweite Generation des Bürgertums, die mit der naiven Unschuld ihrer Vorgänger gebrochen hat und nur mehr auf Kosten anderer lebt.25 Der Roman selbst findet überaus deutliche Worte für diese neue Situation. So werden die politischen und sozialen Umwälzungen, die zum Aufstieg eines Crevel und damit zum Triumph der Bourgeoisie geführt haben, mit den Auswirkungen einer Naturkatastrophe verglichen: »Dans les révolutions comme dans les tempêtes maritimes, les valeurs solides vont à fond, le flot met les choses légères à fleur d’eau. César Birotteau, royaliste et en faveur, envié, devint le point de mire de l’Opposition bourgeoise, tandis que la triomphante bourgeoisie se représentait elle-même dans Crevel.« (CB, 141) In Balzacs Deutung des Geschichtsverlaufs erscheinen die Revolutionen von 1789 und 1830 nicht als Ereignisse »im Rahmen einer Fortschrittsgeschichte der Menschheit, sondern als Fall in ein moralisches Chaos«26 . Im »Sturm« der Umwälzungen wurden die »soliden Werte«, auf denen das Ancien Régime beruhte, mitgerissen und fortgespült. Die Institutionen von Kirche, Monarchie und Familie wurden ersetzt durch den Individualismus und die Sucht nach Geld und Vergnügen. Was als demokratische Revolution begann, hat eine neue Herrschaftsklasse hervorgebracht, deren Selbstverständnis auf dem Streben nach wirtschaftlichem Profit und persönlicher Freiheit beruht: »Notre temps est le triomphe du commerce, de l’industrie et de la sagesse bourgeoise qui ont créé la Hollande« (CB, 135-136), erklärt der bürgerliche Monsieur Rivet im Roman. Und weiter: »J’adore Louis-Philippe, c’est mon idole, il est la représentation auguste, exacte de la classe sur laquelle il a fondé sa dynastie…« (CB, 137). Treffender lässt sich das politische Glaubensbekenntnis der neuen bürgerlichen Herrschaftsklasse kaum formulieren. Dem Aufstieg des Bürgertums auf der einen steht der Niedergang der Aristokratie auf der anderen Seite gegenüber. Auch in dieser Hinsicht gelangt Balzacs Erzähler zu einer pessimistischen Bewertung des Geschichtsprozesses, hat sich der Adel den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen des bürgerlichen Zeitalters doch weitestgehend angepasst: »Sous la Restauration, la noblesse s’est toujours souvenue d’avoir été battue et volée ; aussi, mettant à part deux ou trois exceptions, est-elle devenue économe, sage, prévoy24 25 26

Vgl. Pierre Barbéris, Mythes balzaciens, Paris: Colin, 1972, S. 253. Ebd., S. 141. Rainer Warning, »Chaos und Kosmos: Kontingenzbewältigung in der Comédie humaine«, a.a.O., S. 21.

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Wirklichkeit im Wandel

ante, enfin bourgeoise et sans grandeur. Depuis, 1830 a consommé l’œuvre de 1793. En France, désormais, on aura de grands noms, mais plus de grandes maisons, à moins de changements politiques, difficiles à prévoir. Tout y prend le cachet de la personnalité. La fortune des plus sages est viagère. On y a détruit la Famille.« (CB, 133) Um zu verstehen, weshalb Balzac die Zerstörung der Familie als Symptom eines gesellschaftlichen Werteverfalls auffasst, ist es hilfreich, sich an die Überlegungen Michel Butors zur Funktion der Familie im Ancien Régime zu halten.27 Laut Butor gründete die feudale Gesellschaftsordnung auf dem Glauben, dass bestimmte Tugenden wie Ehre, Pflichtbewusstsein oder Intelligenz vererbt würden. Die Familie übernahm dabei eine wichtige Aufgabe, denn sie sollte den Wert solcher Tugenden über die Zeit hinweg von einer Generation zur nächsten vermitteln und erhalten. Die großen Adelsfamilien waren nicht nur Namenslinien, sondern sie funktionierten wie Arterien in einem Körper, die den Austausch zwischen den einzelnen Teilen des Gesellschaftskörpers regulierten und damit für den Erhalt des gesamten Organismus sorgten. Natürlich existierten in der Gesellschaft des Ancien Régime kaum zu überwindende Unterschiede zwischen den Ständen, doch die Standesgrenzen sollten gewährleisten, dass Wissen und Erfahrung nicht verloren gingen.28 Durch die Weitergabe der eigenen Kultur sorgten die großen Adelsfamilien somit immer auch für den Fortbestand der Nation und ihrer Geschichte. Der Funktionsverlust des Adels wird im Roman am Beispiel des Barons Hulot und seiner Familie dargestellt. Der Baron selbst ist »un homme de l’Empire« (CB, 121), er verkörpert den Aufstieg und Niedergang des napoleonischen Kaiserreichs, dem er sowohl seinen Titel als auch seine soziale Stellung verdankt. Für seine Verdienste in der Armee wird er von Napoleon persönlich in den Adelsstand erhoben. Durch die Protektion seines Bruders, des Grafen von Forzheim, steigt er unter Napoleon zum Direktor einer wichtigen Abteilung im Kriegsministerium auf. Mit der Rückkehr der Bourbonen auf den Thron verliert er vorerst seine Stellung, wird aber 1823 anlässlich des Spanienfeldzuges wieder in Amt und Würden gesetzt, da man seine Erfahrungen als Generalintendant der napoleonischen Armee benötigt. Innerhalb der Familie existiert das Kaiserreich in all diesen Jahren weiterhin fort. Für seinen Schwiegervater, dem Hulot einst einen lukrativen Auftrag der Armee vermittelt hat, ist der Baron »une émanation du soleil napoléonien« (CB, 159-160). Seine Kinder finden in ihm nicht nur einen fürsorgenden Vater, sondern auch einen mustergültigen Ehemann: »Hortense croyait son père un modèle accompli d’amour conjugal. Quant à Hulot fils, élevé dans l’admiration du baron, en qui chacun voyait un des géants qui secondèrent

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Vgl. Michel Butor, Paris à Vol d’Archange. Improvisations sur Balzac II, Paris: La Différence, 1998, S. 260ff. Beispielsweise hatte ein Bauer auf dem Land nur seine Werkzeuge und seine Muskelkraft zur Verfügung. Entsprechend zielte seine Erziehung darauf ab, ihn zu lehren, wie er diese Werkzeuge am geschicktesten zur Kultivierung des Bodens einsetzen konnte. Ein Handwerker in der Stadt musste, bevor er die Nachfolge seines Vaters antreten konnte, zunächst lernen, wie man zum Beispiel einen Tisch anfertigt. Die Erziehung eines jungen Adligen konzentrierte sich dagegen vor allem auf den Umgang mit den schönen Künsten und den Erzeugnissen des menschlichen Geistes, die er von einer Generation zur nächsten weitergeben sollte.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

Napoléon, il savait devoir sa position au nom, à la place et à la considération paternelle.« (CB, 49) In der Familie wie im Staat gilt das Patriarchat als ordnungsstiftendes Prinzip. Wie selbstverständlich wird der Baron mit der Figur Napoleons, dem verschwundenen Vater einer ganzen Nation, verknüpft. Der Erzähler unterstreicht diese Parallele sogar noch, indem er die Baronin Hulot mit der späteren Kaiserin Joséphine vergleicht: »Depuis le premier jour de son mariage jusqu’en ce moment, la baronne avait aimé son mari, comme Joséphine a fini par aimer Napoléon, d’un amour admiratif, d’un amour maternel, d’un amour lâche.« (CB, 48-49) Adeline ist ihrem Ehemann in unendlicher Liebe und Dankbarkeit verbunden, seit er sie von dem Bauernhof ihrer Kindheit an den kaiserlichen Hof nach Paris gebracht hat. Adeline »vergöttert« ihren Hector – die Anspielung auf den trojanischen Prinzen aus Homers Ilias ist höchst ironisch, da sich der Baron insgesamt wenig ritterlich verhält – und verzeiht ihm jede Schwäche: »Pour Adeline, le baron fut donc, dès l’origine, une espèce de Dieu qui ne pouvait faillir ; elle lui devait tout.« (CB, 51) Der Erzähler führt dies auf den Umstand ihrer märchenhaften Hochzeit zurück. Doch mit dem Ende des Kaiserreichs beginnt sich die Situation der Familie allmählich zu verschlechtern. In dem Maße, wie die Erinnerung an Napoleon aus dem kollektiven Gedächtnis verschwindet, wandelt sich auch das Bild des Barons. Mit seinen kostspieligen Liebschaften hat er die Familie beinahe ruiniert. Mehr als einmal schon musste Adeline die Entgleisungen ihres Gatten entschuldigen. Bezeichnenderweise fallen die ersten Fehltritte des Barons unmittelbar mit dem großen »Finale« des Kaiserreichs zusammen: »Inoccupé de 1818 à 1823, le baron Hulot s’était mis en service actif auprès des femmes. Madame Hulot faisait remonter les premières infidélités de son Hector au grand finale de l’Empire.« (CB, 52) Durch die zeitliche Parallelisierung wird das Schicksal der Familie aufs Engste mit dem Schicksal einer ganzen Epoche verknüpft. Der mythisch überhöhten Figur des Vaters kommt dabei besondere Relevanz zu.29 Genauso wie die französische Nation mit dem Sturz Napoleons ihre symbolische Vaterfigur verliert, entfremdet sich auch der Baron von seinen eigenen Verwandten. Anstatt sich um die Belange seiner Familie zu kümmern, stürzt er sich in diverse Liebesabenteuer. Um seine kostspieligen Affären zu finanzieren, verstrickt er sich in einen Korruptionsskandal und veruntreut schließlich sogar Staatsgelder.30 Einer strafrechtlichen 29

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In der Comédie humaine ist der Mythos vom Vater omnipräsent. Seine deutlichste Manifestation erfährt er zweifelsohne in Balzacs Apostrophierung des alten Goriot zum »Christ de la Paternité«. Vgl. hierzu Ruth Amossy, »Fathers and Sons in Old Goriot: The Symbolic Dimension of Balzac’s Realism«, in: Ginsburg, Michal P. (Hg.), Approaches to Teaching Balzac’s Old Goriot, New York: MLA, 2001, S. 45-53. Zu Balzacs Vaterfiguren siehe auch Klaus Heitmann, »Glanz und Elend des Vaters bei Balzac«, in: Tellenbach, Hubertus (Hg.), Das Vaterbild im Abendland, Bd. 2, Stuttgart: Kohlhammer, 1978, S. 142-157; sowie Lucette Basson, »La figure du père dans les œuvres de jeunesse de Balzac«, in: L’Année balzacienne 18, 1997, S. 375-392. Dazu schickt er seinen Schwiegervater, den greisen Johann Fischer, mit dem Auftrag nach Algerien, die Lebensmittel der einheimischen Bevölkerung zu beschlagnahmen, um sie anschließend zu überteuerten Preisen an die französische Armee zu verkaufen. Der Roman selbst thematisiert die Ungerechtigkeiten des französischen Staates in den Kolonien nicht direkt; doch handelt es sich hierbei wohl um eine der ersten Erwähnungen des französischen Kolonialismus in der Literatur des

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Verfolgung entgeht er nur deshalb, weil sein älterer Bruder, der respektierte Graf von Forzheim, den entstandenen Schaden rechtzeitig reparieren kann. Der Vater hat seine Funktion als moralische Instanz und Garant der politischen Ordnung folglich eingebüßt.31 Wenn es zutrifft, wie Winfried Engler schreibt, dass der Mythos in der Comédie humaine im Allgemeinen als ein »Instrument der Entzifferung nicht eines Gewesenen, sondern des Heutigen«32 fungiert, so ist der Verlust der symbolischen Vaterfigur zugleich ein Indiz dafür, dass die Einheit und Geschlossenheit der Familie (und pars pro toto der Nation) nicht mehr gewährleistet ist. Gleichwohl ist die Zerstörung der Familie nur ein Symptom für das gesellschaftliche Chaos, dessen eigentliche Ursache in den Leidenschaften und dem Begehren des Menschen liegt. Tatsächlich ist Hulot nicht das einzige Beispiel männlichen Fehlverhaltens im Roman. Ihm zur Seite steht Crevel, die andere Vater-Figur des Romans, dessen Aufritt in der Eingangsszene sorgsam vorbereitet wurde. Seit der Hochzeit seiner Tochter Célestine mit Victorin, dem Sohn der Familie Hulot, ist der ehemalige Gemischtwarenhändler längst kein Unbekannter mehr im Hause des Barons. Aus dem Umstand, dass der Familie Hulot die finanziellen Mittel fehlen, um eine Mitgift für die Ehe von Hortense, der Tochter der Familie, aufzubringen, versucht Crevel Profit zu schlagen, indem er der Baronin ein zutiefst unmoralisches Angebot unterbreitet. Im Verlauf ihres Dialoges wird schließlich auch das »Rätsel« der Romaneröffnung aufgelöst, so dass wir nunmehr die Hintergründe seines Besuchs erfahren. Crevel, der um die finanziellen Schwierigkeiten der Familie weiß, hat seinen Einfluss geltend gemacht, um eine aussichtsreiche Hochzeit von Hortense zu verhindern: »Oui, j’ai fait manquer le mariage de votre fille !… et vous ne la marierez point sans mon secour ! Quelque belle que soit mademoiselle Hulot, il lui faut une dot…« (CB, 42). Crevel hat die Verlobung absichtlich sabotiert, um eine alte Rechnung mit dem Baron zu begleichen. Die beiden Männer verbindet nämlich nicht nur ein familiäres Band, sondern auch ein gemeinsames Laster. Über Jahre hinweg haben sie sich dieselben Mätressen geteilt und sind so zu »Brüdern« im Geiste geworden: »Nous sommes devenus comme deux frères« (CB, 39), behauptet Crevel während des Gesprächs mit der Baronin. Doch als Hulot ihm die Sängerin Josépha Mirah ausspannt, kommt es zum Bruch zwischen den beiden Männern und Crevel

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19. Jahrhunderts. Tatsächlich bezieht sich die Korruptionsaffäre des Barons Hulot auf eine wahre Begebenheit, die seiner Zeit für einen regelrechten Skandal in der französischen Presse sorgte. Zu den historischen Hintergründen dieses Skandals siehe Jean-Hervé Donnard, Balzac. Les réalités économiques et sociales dans La Comédie humaine, Paris: Colin, 1961, S. 328ff. Wie Nicole Mozet gezeigt hat, dominiert das Motiv des abwesenden Vaters vor allem in den späten Erzählungen der Comédie humaine. Mozet erkennt darin ein deutliches Zeichen für den wachsenden Pessimismus von Balzacs letzten Lebensjahren: »Les années 1839-1840 constituent une datepivot. En amont, on trouve les grands romans bâtis sur le Thème du Père, comme Eugénie Grandet, Le Cabinet des Antiques, La Recherche de l’Absolu ou Béatrix […]. En aval, les romans de l’absence et de la déréliction, où prolifèrent conjointement une bourgeoisie plus ou moins grotesque et des figures féminines variées […].« Nicole Mozet, La ville de province dans l’œuvre de Balzac. L’espace romanesque: fantasme et idéologie, Paris: SEDES, 1982, S. 13f. Winfried Engler, »Erfindung einer Mythologie der Moderne – Histoire oder histoire(s) im Verständnis von Balzac und Zola«, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, Bd. 114, H. 1, 2004, S. 18-40, hier S. 22.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

beschließt, die Ehefrau seines früheren Komplizen zu erobern, um sich auf diese Weise für den dreisten Diebstahl seiner Geliebten zu rächen. Die Geldsorgen der Familie Hulot bieten ihm dabei ein willkommenes Druckmittel. Im Gespräch mit der Baronin erklärt sich Crevel bereit, die nötige Mitgift für die Ehe von Hortense bereitzustellen, sofern Adeline sich bereit erklärt, seine Geliebte zu werden: »Vous êtes ma vengeance« (CB, 42), lässt er die sichtlich empörte Baronin wissen, die sich durch dieses unmoralische Angebot zum Gegenstand eines persönlichen Rachefeldzuges degradiert sieht. Für Crevel hingegen handelt es sich um ein legitimes Vorgehen, wenn er Adeline gegenüber seine »Rechte« geltend macht: »Aussi, lorsque j’ai été si lâchement trompé par le baron […] me suis-je juré de lui prendre sa femme. C’est justice« (CB, 41). Zur Begründung zitiert er den alttestamentarischen Bibelspruch, dem zufolge Gleiches mit Gleichem zu vergelten sei: »C’est la vieille loi du talion!« (CB, 47). Angesichts seiner wahren Absichten erhält das Bibel-Zitat jedoch einen faden Beigeschmack. Letzten Endes diskreditiert Crevel mit seinem dreisten Erpressungsversuch nämlich bloß die Moral- und Gerechtigkeitsvorstellung eines Bürgertums, das seine Existenzberechtigung damit zu legitimieren versucht, dass es die Privilegien einer korrupten Aristokratie nachahmt. Mit dem Motiv der Rache ist nicht nur das zentrale Romanthema eingeführt, sondern gleichzeitig wird damit auch ein Strukturprinzip der Erzählung freigelegt, das Aufschluss über die Art und Weise gibt, wie Balzac die gesellschaftliche Entwicklung seiner eigenen Gegenwart wahrnimmt und bewertet. Einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis dieses Strukturprinzips liefert der französische Kulturanthropologe René Girard mit seiner Studie über die trianguläre Struktur des Begehrens.33 Girard zufolge ist das menschliche Begehren weder triebmäßig noch spontan, sondern mimetischer Natur. Selbst wenn die Grundbedürfnisse befriedigt sind, bleibt der Mensch dennoch von einem unbestimmten Verlangen beherrscht. Erklären lässt sich dieses Verlangen nur, wenn man die Rolle der Nachahmung (Mimesis) bei der Genese des Begehrens anerkennt. Nach Girard verspürt der Mensch einen unwiderstehlichen Hang »à désirer ce que désirent les Autres, c’est-à-dire à imiter leurs désirs«34 . Sehnsüchte und Wünsche entspringen darum nicht dem eigenen Selbst, wie es etwa das Konzept der romantischen Subjektivität nahelegt; vielmehr ist das Begehren immer schon vermittelt durch die Fixierung auf einen Anderen. Entsprechend beschreibt Girard das menschliche Begehren nicht als eine direkte Relation zwischen Subjekt und Objekt, sondern als ein Dreiecksverhältnis, das auf die vermittelnde Rolle eines Mediators angewiesen ist. In der triangulären Struktur des Begehrens liegt für Girard eine anthropologische Konstante, die jede Gesellschaft und Kultur von Anbeginn an prägt. Gleichzeitig leitet er 33

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Vgl. René Girard, Mensonge romantique et vérité romanesque, Paris: Grasset, 1961 (dt. Figuren des Begehrens. Das Selbst und das Andere in der fiktionalen Realität, 2. Aufl., Wien/Berlin: Lit, 2012). Im Folgenden abgekürzt als MR (bzw. FB). Girard entwickelt hier die theoretischen Grundlagen dessen, was er das Begehren gemäß dem Anderen (FB 13; désir selon l’autre, MR 17), nachgeahmtes Begehren (FB 29; désir imité, MR 34) oder trianguläres Begehren (FB 12; désir triangulaire, MR 16) nennt. Den Begriff des mimetischen Begehrens (désir mimétique) verwendet Girard dagegen erstmals in seiner Studie La Violence et le Sacré, Paris: Grasset, 1972, S. 221 (dt. Das Heilige und die Gewalt, Zürich: Benziger, 1987, S. 219). Girard, Mensonge romantique et vérité romanesque, a.a.O., S. 21.

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daraus eine Erklärung für menschliche Konflikte wie Eifersucht, Hass, Rivalität und Neid ab. Die Mimesis des Begehrens kann nämlich jeder Zeit in eine Spirale der Gewalteskalation umschlagen, so dass die Nachahmung eines Begehrens gleich wieder ein neues Begehren freisetzt, das seinerseits zum Objekt einer weiteren Nachahmung wird. Obwohl Balzac in den Untersuchungen des Kulturanthropologen nur eine untergeordnete Rolle spielt, liefern Girards Einsichten in die mimetische Natur des Begehrens einen Zugang für das Verständnis seiner Romane und seiner Weltsicht.35 Exemplarisch lässt sich dies an der Figur des bürgerlichen Monsieur Crevel illustrieren. Dieser möchte die Baronin Hulot zu seiner Geliebten machen, doch sein Wunsch entspringt keinem spontanen Begehren. Zwar wird Crevel nicht müde, ihre außergewöhnliche Schönheit und Tugendhaftigkeit hervorzuheben, begehrenswert erscheint sie ihm aber vor allem deshalb, weil sie die Frau seines Rivalen ist. Das Schema wiederholt sich, als der Baron die bürgerliche Madame Marneffe zu seiner neuen Mätresse macht. Kaum ist das Begehren des Anderen identifiziert, kennt auch Crevel keinen anderen Wunsch mehr, als die Geliebte seines ehemaligen Komplizen zu besitzen. In der Rivalität der beiden Männer artikuliert sich eine historische Erfahrung, die für die Gesellschaft der nachrevolutionären Epoche insgesamt repräsentativ ist.36 Mit dem bürgerlichen Crevel und dem adligen Hulot stehen sich zwei Repräsentanten jener sozialen Klassen gegenüber, die im Frankreich der Juli-Monarchie um die politische Vorherrschaft kämpfen. Das siegreich aus der Revolution hervorgegangene Bürgertum macht dem Adel nicht nur dessen Vorrechte streitig, sondern imitiert zugleich auch dessen Exzesse. Der bürgerliche Neid wiederum stimuliert das Begehren des Adels, der nun beginnt, die Moralvorstellungen des Bürgertums nachzuahmen, um zu beweisen, dass er seine Privilegien auch verdient hat. Beide Klassen begehren fortan auf dieselbe Weise und rivalisieren um dieselben Dinge. Ästhetisch vermittelt wird diese Rivalität durch die Exzesse der beiden Väter, deren sexualisiertes Begehren somit auch eine Metapher für die politischen Machtkämpfe zwischen Aristokratie und Bürgertum ist. Ihnen gegenüber, gleichsam an der Spitze des von Girard beschriebenen Dreiecksverhältnisses steht Valérie Marneffe. Sie verkörpert den sozialen Gegensatz von Bürgertum und Adel bereits in ihrer eigenen Biografie.37 Zwischen den Romanfiguren bestehen aber noch weitere Korrespondenzbeziehungen. So sind die Titelheldin Lisbeth Fischer

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In seinem Vorwort zur Comédie humaine beschreibt Balzac die menschlichen Leidenschaften als eigentliches »élément destructeur« (AP, 12) des Sozialen. Allerdings lässt er die Frage nach dem Ursprung des Begehrens dabei unbeantwortet. Die Existenz destruktiver Leidenschaften wird konstatiert, ihre Entstehung aber nicht näher erläutert. Die Romane sind diesbezüglich sehr viel präziser, denn sie beschreiben sowohl die Genese des Begehrens als auch die daraus resultierende Wirkung auf die Individuen, die Familie und die Gesellschaft im Ganzen. Im Folgenden nach René Girard, Mensonge romantique et vérité romanesque, a.a.O., S. 144. Valérie ist das uneheliche Kind des Grafen von Montcornet, eines Leutnants der napoleonischen Armee, und dessen bürgerlichen Geliebten. Als solche verkörpert sie gewissermaßen in persona die Ausschweifungen eines korrumpierten Adels und die Machtansprüche eines aufsteigenden Bürgertums. Im Roman dient Valérie als Kulminationspunkt der geheimen Sehnsüchte nahezu aller männlichen Figuren. Auf dem Höhepunkt der Erzählung werden nicht weniger als fünf Männer um die Vaterschaft ihres noch ungeborenen Kindes streiten.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

und Crevel durch das gemeinsame Motiv der Rache verbunden. Auslöser dieser Rache ist in beiden Fällen ein dreister »Diebstahl«. Der Baron macht sich die Mätresse seines bürgerlichen Rivalen zu eigen, während seine Tochter den Geliebten ihrer Kusine stiehlt. Damit setzt sie jene fatale Entwicklung in Gang, in deren Folge Lisbeth all ihre Energie auf die Zerstörung der Familie richtet. Wirft man einen Blick auf den Moment, an dem diese Entwicklung ihren kausalen Ursprung nimmt, so stellt man fest, dass Hortense keineswegs die Urheberin ihres eigenen Begehrens ist. Ihre Gefühle für den polnischen Künstler Wenceslas Steinbock sind vermittelt durch das Begehren einer Anderen. Lisbeth selbst löst diese Gefühle aus, indem sie der Kusine – entgegen ihrer eigentlichen Absicht – von ihrem Liebhaber erzählt. Hortense ist anfangs wenig überzeugt und fordert einen Beweis. Als Gegenleistung bietet sie einen gelben Kaschmirschal, den sie von ihrer Mutter geerbt hat und der eine besondere Faszination auf Lisbeth ausübt: »La cousine Bette, en proie depuis son arrivée à Paris à l’admiration des cachemires, avait été fascinée par l’idée de posséder ce cachemire jaune donné par le baron à sa femme, en 1808, et qui, selon l’usage de quelques familles, avait passé de la mère à la fille en 1830. Depuis dix ans, le châle s’était bien usé ; mais ce précieux tissu, toujours serré dans une boîte en bois de santal, semblait, comme le mobilier de la baronne, toujours neuf à la vieille fille.« (CB 67) Lisbeth ist regelrecht besessen von der Idee, den gelben Kaschmirschal ihrer Kusine zu besitzen. Der Umstand, dass dieser Schal ursprünglich Adeline gehört hatte, macht ihn für sie zu einem Objekt von besonderem Wert. Die beiden Frauen verbindet nämlich ebenfalls ein recht schwieriges Verhältnis. Obgleich die ältere der beiden Frauen, ist Adeline doch ungleich schöner als ihre arme Verwandte. Diese Schönheit ist eine nie versiegende Quelle der Eifersucht für Lisbeth. Mit dem gelben Kaschmirschal, den die ahnungslose Hortense ihrer Kusine als Gegenleistung für den Beweis des »amoureux fantastique« (CB 67) bietet, wird diese Eifersucht erneut entfacht. Die Funktion des Schals liegt also in seiner symbolischen Bedeutung für den sich anbahnenden Konflikt zwischen den beiden Frauen, was durch die Farbe gelb, die Neid und Verrat konnotiert, zusätzlich unterstrichen wird.38 Crevel wird in der Eingangsszene ebenfalls mit gelben 38

In der abendländischen Kulturtradition wird die Farbe ›Gelb‹ mit Geld und Verrat in Verbindung gebracht. Die negative Farbauslegung geht auf das Mittelalter zurück. In der mittelalterlichen Bibel-Exegese ist Gelb das Kennzeichen für den Verräter Judas. Auf diese Weise wurde die Farbe im gesellschaftlichen Leben zum Zeichen der Ausgestoßenen. Beispielsweise wurden die europäischen Juden im Mittelalter verpflichtet, einen gelben Hut zu tragen, eine Kennzeichnung, die im Nationalsozialismus in Form des gelben »Judensterns« wiederbelebt wurde. Was die »Qualität« der Farbe betraf, wurde Gelb im Mittelalter vorrangig als »schmutzig« empfunden. Neben diesen ästhetischen Bedeutungen transportierten die Farben aber auch moralische Wertvorstellungen. Dies erklärt unter anderem, weshalb Gelb zur »Schandfarbe« der Prostituierten und zum Sinnbild des Ehebruchs wurde. Positiv gedeutet steht die Farbe – nicht zuletzt wegen ihrer Ähnlichkeit mit dem Glanz des Goldes – als Signum für Reichtum, Luxus und Eleganz. Negativ gedeutet fungiert sie als Innbegriff für Eifersucht, Neid, Gier und Rachsucht. Zu den kulturgeschichtlichen Bedeutungen der Farbe ›Gelb‹ siehe Christiane Wanzeck, Zur Etymologie lexikalisierter Farbwortverbindungen. Untersuchungen anhand der Farben Rot, Gelb, Grün und Blau, Amsterdam/New York: Rodopi, 2003, S. 76f.

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Handschuhen eingeführt. Die Farbsymbolik verbindet die Figuren und unterstreicht gleichzeitig das gemeinsame Motiv der Eifersucht.

3.2.3

Die Ironisierung romantischer Diskurse von Liebe und Kunst

Wie gezeigt wurde, spielt das mimetische Begehren eine zentrale Rolle bei der Motivierung des Konfliktes zwischen den Romanfiguren. Davon betroffen ist auch die Darstellung der Liebe, wie nun im Folgenden erläutert werden soll. Denn wenn es zutrifft, dass jedes Begehren immer nur durch die Vermittlung eines anderen hervorgerufen wird, so müsste dies auch für den Beginn der Liebe gelten. Im Konzept der romantischen Liebe wird das Begehren aber gerade nicht vom Anderen her gedacht; es entspringt vielmehr der Spontaneität und Autonomie des begehrenden Subjekts.39 Dieses Konzept eines spontanen, d.h. vom Zufall abhängigen Liebesbeginn wird im Roman jedoch als Illusion entlarvt. Balzac ironisiert den romantischen Liebesdiskurs, indem er die Ehe auf ein Allianz-Dispositiv zurückführt, bei dem allein ökonomische und monetäre Gründe ausschlaggebend sind. Besonders deutlich wird dies in der Geschichte von Wenceslas Steinbock, einem jungen Bildhauer, der als politischer Emigrant nach Paris gelangt und dort zunächst in bitterster Armut lebt, bis er von Lisbeth vor dem Selbstmord gerettet wird. Unter der fürsorgenden, aber strengen Aufsicht seiner »Wohltäterin« (CB, 91) gelingt es ihm, als Künstler in der französischen Hauptstadt Fuß zu fassen. Der Pole verkörpert nicht nur den perfekten Schwiegersohn, wie die etwas naive Hortense sofort bemerkt (»Je crois avoir trouvé l’homme, le prétendu qui répond au programme de mama…«), sondern er besitzt auch alle notwendigen Eigenschaften eines romantischen »Genies«.40 Dementsprechend enthusiastisch beschreibt Hortense ihre erste Begegnung mit dem 39

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Wie Niklas Luhmann in Liebe als Passion beschreibt, werden im Konzept der romantischen Liebe erstmals alle äußeren Voraussetzungen der Liebe abgebaut. Die romantische Liebessemantik orientiert sich nicht mehr an Eigenschaften wie Tugend, Reichtum, Schönheit, Abstammung oder Geburt, sondern sie insistiert immer stärker auf die Einzigartigkeit der Person und auf die Autonomie des Gefühls. Man liebt sich als Liebenden und Geliebten, vorbehaltlos aller äußeren Faktoren, um sich selbst im Glück des jeweils Anderen wiederzufinden. Die Exklusivität der Zweierbeziehung stellt die Liebe gleichzeitig auf Dauer und »versöhnt« sie solchermaßen mit der Ehe: »Die Liebe wird zum Grund der Ehe, die Ehe zum immer wieder neu Verdienen der Liebe.« Die von Luhmann beschriebene Transformation des Liebescodes in der Romantik – der Abbau externer Voraussetzungen der Liebe, die Betonung der Individualität, die Verabsolutierung des Gefühls sowie die selbstreferentielle Begründung des ›Liebens um der Liebe willen‹ – führt somit indirekt auch zu der Vorstellung eines spontanen Begehrens. Vgl. Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1982, S. 162-182, hier S. 178. Wie viele romantische Helden – zu denken wäre hier etwa an den schwermütigen René aus Chateaubriands gleichnamiger Erzählung – ist auch Wenceslas von aristokratischer Herkunft. Er entstammt einem alten Adelsgeschlecht (sein Großvater war ein berühmter General des schwedischen Königs Karl XIII.), dessen Ursprünge sich noch dazu in einem fernen, exotischen Land verlieren (ursprünglich stammt die Familie aus dem polnischen Teil Livlands, einer historischen Region des heutigen Baltikums). Darüber hinaus hat sich der junge Mann als Revolutionär verdient gemacht (vor seiner Flucht nach Paris hat Wenceslas die polnische Unabhängigkeitsbewegung unterstützt) und ist ein talentierter Künstler (in Warschau hat er die Schönen Künste unterrichtet). Trotz seines jugendlichen Alters ist er bereits schwer vom Leben gezeichnet (obgleich sein

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

jungen Künstler. Auf die leicht spöttische Bemerkung ihres Vaters, man möge doch wenigstens die legale Zeitspanne von elf Tagen abwarten, ehe man sich verlobt, erwidert sie im Tonfall äußerster Exaltation: »On attend onze jours ? […] Mais, en cinq minutes, je l’ai aimé, comme tu as aimé maman en la voyant ! et il m’aime, comme si nous nous connaissions depuis deux ans. Oui, dit-elle à un geste que fit son père, j’ai lu dix volumes d’amour dans ses yeux. Et ne serat-il pas accepté par vous et par maman pour mon mari quand il vous sera démontré que c’est un homme de génie ! La sculpture est le premier des arts ! s’écria-t-elle en battant des mains en sautant. […] Ne me punis pas de ma confiance, reprit-elle. C’est si bien de crier dans le cœur de son père : › J’aime, je suis heureuse d’aimer ! ‹ répliqua-t-elle. Tu vas voir mon Wenceslas ! Quel front plein de mélancolie !… des yeux gris où brille le soleil du génie !… et comme il est distingué ! Qu’en penses-tu ! Est-ce un beau pays, la Livonie ?…« (CB, 112-113) Ihre schwärmerische Rede ist gespickt mit Elementen, die Hortense offenbar aus der Lektüre populärer Liebesromane (»J’ai lu dix volumes d’amour dans ses yeux«) entnommen hat. Allerdings werden diese Elemente durch die hyperbolische Häufung von Exklamationen (»J’aime, je suis heureuse d’aimer !«) sogleich als sentimentale Klischees entlarvt. Nicht nur steht dem jungen Künstler eine gewisse Neigung zur Melancholie buchstäblich auf der Stirn geschrieben; in seinen Augen meint Hortense darüber hinaus den Beweis seiner künstlerischen Begabung (»des yeux gris où brille le soleil du génie«) zu erkennen. Freilich ist ihr Blick von einiger Naivität getrübt, erweist sich das vermeintliche »Genie« doch in der Folge als ein – seinem Vornamen (»Wences-las«) entsprechend – eher schwacher Charakter. Überhaupt entbehrt die Figurendarstellung nicht der Ironie. Bereits die Kapitelüberschrift (»Le roman de la fille«) desavouiert die romantischen Liebesvorstellungen, die sich Hortense von ihrem Geliebten macht, als bloße Täuschung und Fiktion. Auch die erste Begegnung der beiden Liebenden in einer Boutique ist alles andere als ein romantischer coup de foudre. Sie verdankt ihr Zustandekommen keiner höheren Gewalt und keiner schicksalhaften Fügung, sondern einem rationalen Kalkül, schließlich hat Hortense alles gewissenhaft geplant und bestens arrangiert. Auf ihren spontanen Gefühlsausbruch folgt darum – wenig überraschend – eine eher sachliche Analyse ihrer Lage: »Ma cousine Bette épouser ce jeune homme-là, elle qui serait ma mère ?… Mais ce serait un meurtre ! Comme je suis jalouse de ce qu’elle a dû faire pour lui ! je me figure qu’elle ne verra pas mon mariage avec plaisir« (CB, 113). Wo eben noch die Sprache der Leidenschaft vorherrschte, da spricht nun eine planmäßige und berechnende Vernunft. Skrupellos geht Hortense über die Ansprüche ihrer Kusine hinweg und spricht ihr schließlich sogar das Recht zu lieben ab. Den Baron fordert sie auf, die Hochzeitspläne vorerst nicht publik zu machen, wohl wissend, dass sie sich damit Lisbeths Zorn aufladen würde: »Écoutez ! mon père, si vous voulez me voir mariée, ne parlez à ma cousine de notre amoureux qu’au moment de signer mon contrat de mariage… Depuis six mois, je la questionne à ce sujet !… Eh bien ! il y a quelque chose d’inexplicable en Suizidversuch wenig Heroisches an sich hat), was zugleich auch sein etwas schwermütiges und melancholisches Gemüt erklärt.

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elle.« (CB, 113) Hinsichtlich ihrer Kusine macht sich Hortense keine Illusionen. Worin sie sich jedoch täuscht, und zwar bewusst, ist die Natur ihres Begehrens. Denn die junge Frau sucht sich fortwährend einzureden, ihre Liebe sei das Produkt einer »abgeklärten Subjektivität«41 . In Wahrheit zeigt sich auch hier, dass die »Lüge des spontanen Begehrens«42 lediglich die romantische Illusion von Autonomie verteidigen soll. Hortense liebt »ihren« Wenceslas nicht um der Liebe willen, sondern weil sie den Erwartungen der Mutter (»qui répond au programme de maman«) und der Gesellschaft gerecht zu werden versucht. In der fiktiven Welt des Romans existiert die romantische Liebe nicht mehr. Stattdessen hat die bürgerliche Gesellschaft eine neue Form des Liebens hervorgebracht: »Ce nouvel art d’aimer consomme énormément de paroles évangéliques à l’œuvre du diable. La passion est un martyre. On aspire à l’idéal, à l’infini, de part et d’autre l’on veut devenir meilleurs par l’amour. Toutes ces belles phrases sont un prétexte à mettre encore plus d’ardeur dans la pratique, plus de rage dans les chutes que par le passé. Cette hypocrisie, le caractère de notre temps, a gangrené la galanterie. On est deux anges, et l’on se comporte comme deux démons, si l’on peut. L’amour n’avait pas le temps de s’analyser ainsi lui-même entre deux campagnes, et, en 1809, il allait aussi vite que l’Empire, en succès.« (CB, 121) Zwischen zwei Feldzügen hatte die Liebe keine Gelegenheit, sich selbst zu befragen, um schließlich festzustellen, dass die romantischen Liebesschwüre verbraucht sind. Die scheinheilige Rede (»les paroles évangéliques«) vom Martyrium der Liebe, von Leidenschaft und Authentizität, sind nur mehr leere Phrasen (»toutes ces belles phrases«). Das moderne Individuum glaubt nicht länger daran, dass der Mensch durch die Liebe zu einem besseren Wesen (»si l’on devient meilleurs par l’amour«) werden kann. An die Stelle aufrichtiger Gefühle ist eine allgemeine Heuchelei (»hypocrisie«) getreten, in der zugleich der wahre Charakter des bürgerlichen Zeitalters zum Ausdruck kommt. Denn in der bürgerlichen Gesellschaft stellt die Liebe keinen Selbstzweck dar, sondern sie ist zu einem bloßen Vorwand (»un prétexte«) für persönliche Interessen geworden. Der Roman distanziert sich aber nicht nur von dem Liebesideal der romantischen Epoche, sondern auch von ihrem Kunstverständnis. Dies lässt sich insbesondere an der Figur des polnischen Bildhauers Wenceslas Steinbock zeigen, den Lisbeth nach dessen Ankunft in Paris vor dem Selbstmord rettet und wieder aufbaut. Die Titelheldin erweist sich in der Folge als eine überaus fürsorgende, aber auch strenge Ziehmutter. In den fünf Jahren, die zwischen dem Suizidversuch und dem Romanbeginn liegen, hält sie ihren Zögling vor der Außenwelt verborgen. Dennoch sind ihre Gefühle echt, wie der Erzähler anmerkt: »Tout, dans l’accent, dans les gestes et dans les regards de ces deux êtres, accusait la pureté de leur vie secrète. La vieille fille déployait la tendresse d’une brutale, mais réelle maternité. Le jeune homme subissait comme un fils respectueux la tyrannie d’une mère« (CB, 87). Für Wenceslas erweist sich diese mütterliche Strenge als ein Segen, denn dank Lisbeths Unterstützung beginnt für ihn nun eine Phase schöpferischer Produktivität, die seine Wiedergeburt als Künstler einleitet. 41 42

René Girard, Figuren des Begehrens, a.a.O., S. 24. Ebd.

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In den ersten Jahren ihres Zusammenlebens produziert Wenceslas mehrere Skulpturen, die ihm den Ruf eines vielversprechenden jungen Bildhauers einbringen. Dass er durchaus Talent besitzt, wird ihm von mehreren Personen bestätigt. Sein Freund und Mentor, der Bildhauer Stidmann, nennt ihn »un grand artiste« und meint, dass er es weit bringen könne: »il peut devenir un dieu…« (CB, 94). Wenceslas wäre also zu Großem berufen, doch leider ist er faul. Anstatt zu arbeiten, geht er lieber auf dem Boulevard spazieren. Unterdessen finanziert Lisbeth seinen Lebensunterhalt mit ihrer Arbeit in einer Stickerei. Als ihre Ersparnisse aufgebraucht sind, stellt Wenceslas ihr einen Schuldschein aus. In ihrer Not wendet sich Lisbeth an den Rechtsanwalt Rivet, der ihr erklärt, dass sie nunmehr über ein nützliches Druckmittel verfüge, um den jungen Mann dauerhaft in ihrer Abhängigkeit zu halten. Dieser verhängnisvolle Ratschlag bewirkt eine grundlegende Veränderung im Verhalten der Titelheldin: »L’amour de la domination resté dans ce cœur de veille fille, à l’état de germe, se développa rapidement. Elle put satisfaire son orgueil et son besoin d’action : n’avait-elle pas une créature à elle, à gronder, à diriger, à flatter, à rendre heureuse, sans avoir à craindre aucune rivalité ? Le bon et le mauvais de son caractère s’exercèrent donc également.« (CB, 96) Auf der einen Seite umsorgt Lisbeth ihren Schützling wie eine Mutter, auf der anderen Seite schikaniert sie ihn, macht ihm Vorwürfe und zwingt ihn zu unermüdlicher Arbeit. Eines Tages, als Wenceslas von einem seiner längeren Spaziergänge zurückkehrt, gerät sie so sehr in Rage, dass ihre »tyrannische« Natur vollends mit ihr durchbricht. Sie präsentiert den Schuldschein und macht damit ihren Besitzanspruch an seiner Person geltend: »Vous m’appartenez ! lui dit-elle« (CB, 96). Wenceslas beklagt sich über sein neues Sträflingsleben und entfremdet sich allmählich von Lisbeth, deren Unnachgiebigkeit sie zeitweise »injuste et tyrannique« (CB, 98) macht. Der Romanverlauf gibt ihr im Nachhinein jedoch Recht. Denn kaum ist Wenceslas verheiratet, versiegt sein einstiges Talent. Die Statue für das Grab des Marschalls Montcornet, die er im Auftrag der Regierung anfertigen soll, misslingt. Stattdessen kommt ein Sohn zur Welt: »En deux ans et demi, Steinbock fit une statue et un enfant. L’enfant était sublime de beauté, la statue fut détestable« (CB, 234). Damit bestätigt sich die Prognose des Erzählers, dass Wenceslas nur unter der Ägide seiner strengen Ziehmutter dazu imstande ist, große Kunstwerke hervorzubringen. Für den jungen Künstler erfüllt Lisbeth somit eine doppelte Funktion: Einerseits ist sie selbst eine Art weiblicher Prometheus, ausgestattet mit dem unbändigen Willen, den jungen Polen nach ihrem Bilde zu formen. Andererseits verfügt sie über die Fähigkeit, ihn zu zerstören, wie Wenceslas später selbst erkennt: »Enfin, vous m’avez créé, ne me détruisez pas« (CB, 150). Interessanterweise zieht der Roman einige Parallelen zwischen der Titelheldin und der Kunst. So wird Lisbeth mit verschiedenen Götter-Statuen oder Marien-Darstellungen verglichen.43 Mit der Gottesmutter verbindet sie nicht nur ihre Jungfräulichkeit, sondern auch ihre absolute Liebe

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»Bette, comme une Vierge de Cranach et de Van Eyck, comme une Vierge byzantine, sorties de leurs cadres, gardait la roideur, la correction de ces figures mystérieuse, cousines germaines des Isis et des divinités mises en gaine par les sculpteurs égyptiens. C’était du granit, du basalte, du porphyre qui marchait« (CB, 182).

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für das Werk ihrer eigenen Schöpfung. Der Roman selbst stellt einen expliziten Bezug her zwischen der Geburt eines Kindes und der Genese eines Kunstwerkes: »Celui qui peut dessiner son plan par la parole, passe déjà pour un homme extraordinaire. Cette faculté, tous les artistes et les écrivains la possèdent. Mais produire ! mais accoucher ! mais élever laborieusement l’enfant, le coucher gorge de lait tous les soirs, l’embrasser tous les matins avec le cœur inépuisé de la mère, le lécher sale, le vêtir cent fois de plus belles jaquettes qu’il déchire incessamment ; mais ne pas se rebuter des convulsions de cette folle vie et en faire le chef-d’œuvre animé qui parle à tous les regards en sculpture, à toutes les intelligences en littérature, à tous les souvenirs en peinture, à tous les cœurs en musique, c’est l’Exécution et ses travaux. […] Cette habitude de la création, cet amour infatigable de la Maternité qui fait la mère (ce chefd’œuvre naturel si bien compris par Raphaël !), enfin cette maternité cérébrale si difficile à conquérir, se perd avec une facilité prodigieuse. L’Inspiration, c’est l’Occasion du génie.« (CB, 231) Echte Kunst, verstanden als die schöpferische Hervorbringung eines Werkes, ist für Balzac nur möglich, wenn sich der Künstler vollständig in das Produkt seiner Arbeit vertieft. Dazu bedarf es neben eisernem Willen, Disziplin und Strenge auch ein gewisses Maß an Enthaltsamkeit – eine Eigenschaft, die Lisbeth in ihrer Eigenschaft als »alter Jungfer« mitbringt.44 Im Unterschied dazu wird Wenceslas aufgrund seiner Neigung zum Müßiggang niemals ein großer Künstler sein: »De grands artistes, tels que Steinbock, dévorés par la rêverie, ont été justement nommés des Rêveurs. Ces mangeurs d’opium tombent dans la misère ; tandis que, maintenus par l’inflexibilité des circonstances, ils eussent été de grands hommes« (CB, 236). Der Roman bricht hier ganz deutlich mit dem Kunstideal der Romantik und seiner Vorstellung eines von spontaner Inspiration beseelten Genies (»L’Inspiration, c’est l’Occassion du génie«).45 Wenn sich der Künstler nicht vollständig in seine Arbeit hineinstürzt, bleibt das Kunstwerk ein unvollendetes ›Fragment‹ und gleichzeitig versiegt das künstlerische Talent seines Schöpfers. Nur durch eine »habitude du travail« (CB, 97), so lässt Lisbeth ihren Schützling wissen, sind große künstlerische Leistungen möglich. Liegt es nicht nahe, hierin den Roman-

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In der Figur von Valérie Marneffe wird dieser Zusammenhang ad negativum demonstriert. Valérie ist selbst ein faszinierendes »Kunstwerk«, aber sie erschafft keine neuen Werte, sondern zerstört alles Bestehende. Aus der Ehe mit dem bürgerlichen Monsieur Marneffe geht ein Kind hervor, das nicht geliebt und in der Folge sträflich vernachlässigt wird. Auf dem Höhepunkt der Erzählung bringt Valérie »un enfant non viable« (CB, 371) zur Welt. Damit wird ihr im Unterschied zu Lisbeth, die Wenceslas vorübergehend zu einem Künstler formt, jede schöpferisch-künstlerische Fähigkeit abgesprochen. Die »Inspiration«, das Insignium des romantischen Genies, wird im Roman als Irrtum (»folie«) einer verkopften (»intellektuellen«) Generation von Künstlern abgetan: »Il y a des gens de génie à Paris qui passent leur vie à se parler, et qui se contentent d’une espèce de gloire de salon. Steinbock, en imitant ces charmants eunuques, contractait une aversion croissante de jour en jour pour le travail. Il apercevait toutes les difficultés de l’œuvre en voulant la commencer, et le découragement qui s’ensuivait, faisait mollir chez lui la volonté. L’Inspiration, cette folie de la génération intellectuelle, s’enfuyait à tire-d’aile, à l’aspect de cet amant malade« (CB, 234-244, Hervorhebung im Original).

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

cier selbst zu sehen, dessen unermüdlicher Arbeit wir jenes monumentale Gesamtwerk zu verdanken haben, das uns als Comédie humaine bekannt ist?

3.2.4

Die Kunst als Medium der Selbstreflexion des Erzählten

Die Kunst erfüllt im Roman jedoch noch einen weiteren Zweck: Sie dient als Medium einer permanenten Selbstreflexion des Erzählten. Mit Hilfe der Kunstwerke, die Wenceslas im Laufe der Erzählung produziert, wird nämlich immer wieder auf das Romangeschehen selbst Bezug genommen. Die Kunstwerke übernehmen dabei die Funktion von metatextuellen Kommentaren, in denen das zugrunde liegenden Wirklichkeitsmodell des Romans symbolisch verdichtet wird. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür liefert die Dalila-Episode, auf die an späterer Stelle noch genauer einzugehen sein wird. Die Selbstreflexivität des Textes lässt sich jedoch auch an den übrigen Statuen des Bildhauers illustrieren. Gleich zu Beginn der Erzählung fertigt Wenceslas eine kunstvoll verzierte Standuhr an, deren zwölf Ziffern durch Frauenfiguren ersetzt sind, die von drei kleinen, wild tanzenden Liebesgöttern umringt werden. Auf dem Sockel der Standuhr ruhen diverse Fabeltiere und das Ziffernblatt selbst ragt aus dem Rachen eines Ungeheuers hervor (CB, 98). Es liegt nahe, das Motiv der Standuhr auf das Romangeschehen selbst zu beziehen: Die drei Amorfiguren stehen stellvertretend für die drei Lebemänner (Hulot, Crevel, Wenceslas) des Romans und das Ungeheuer, das sie zu verschlingen droht, symbolisiert die allgegenwärtige Macht des Geldes und die Vergnügungssucht der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft. Bezeichnenderweise fällt die Standuhr am Ende selbst einem ökonomischen Ausbeutungsprozess zum Opfer, da man beschließt, das Original zu vernichten, um den Preis der Reproduktionen künstlich zu erhöhen. Dies entspricht durchaus der Logik des kapitalistischen Produktionsprozesses, denn die Zerstörung des ursprünglichen Modells der Standuhr hat zur Folge, dass sich das Kunstwerk in Eigentum verwandelt, wie der mit der Kommission beauftragte Kunsthändler im Übrigen selbst erklärt: »en détruisant le modèle, cela devient une propriété« (CB, 115). Und weiter: »On n’a jamais fait, dans les arts, de pendule qui contente à la fois les bourgeois et les connaisseurs, et celle-là, monsieur, est la solution de cette difficulté« (CB, 115). Kunst und Liebe teilen im bürgerlichen Zeitalter dasselbe Schicksal: Beide unterliegen den Gesetzen einer ökonomischen Ausbeutung – »exploiter ce modèle« (CB, 114) lautet die Devise – und drohen damit ganz allmählich von der pervertierenden Logik des Geldes zerstört zu werden, ganz so wie die Uhr selbst, die von den Ungeheuern auf dem Sockel verschlungen wird. In abgewandelter Form taucht das Motiv der Standuhr noch in zwei weiteren Kunstwerken des Bildhauers auf. Zunächst in der Statue eines Mädchens, das von zwei kleinen Jungen umringt wird und eine Kornblume in der Hand hält (CB, 123). In diesem Fall verweist das Motiv der Statue auf die Konkurrenz der beiden Väter (Hulot, Crevel) im Roman, die um die Gunst ihrer gemeinsamen Mätresse buhlen. Allerdings ist diese symbolische Verdoppelung des Romangeschehens überaus ironisch, wird das Gebaren der beiden Männer hier doch zugleich als Infantilität entlarvt. Hinter dem Mädchen mit der Kornblume verbirgt sich dagegen niemand anders als Valérie Marneffe. Es entbehrt nicht der Ironie, wenn Balzac dabei ausgerechnet eine Blume wählt, die gemeinhin für

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ihre Anmut und Zerbrechlichkeit bekannt ist.46 Denn ihr Vorname leitet sich von lat. valere ab, was man mit ›kräftig‹ oder ›stark sein‹ übersetzen kann.47 Das Spiel mit den sprechenden Blumen wird auch in einem anderen Kunstwerk fortgeführt. Wenige Wochen nach dem Treffen in der Boutique arbeitet Wenceslas an den Verzierungen einer Kiste, auf der erneut kleine Amorfiguren abgebildet sind, die in einem Feld aus Hortensien herumtollen (CB, 148). Was als romantische Anspielung auf den Namen der Geliebten gedacht ist, ist doch in Wirklichkeit kaum mehr als Kitsch. Entsprechend bleiben Hortenses Reize ebenso blass wie die Farben ihrer Namensgeberin.48 Ein letztes Beispiel dafür, wie mittels der Kunstwerke auf die Romanhandlung Bezug genommen wird, liefert die mit einem Silbersiegel versehene Schachtel, die Wenceslas seiner Wohltäterin Lisbeth zu Beginn der Handlung aus Dankbarkeit für seine Rettung schenkt. Dieses Geschenk erweist sich jedoch schon bald als wahre Büchse der Pandora, denn das Geheimnis um den Urheber der Schachtel stimuliert jene Mimesis des Begehrens, in deren Folge Hortense den »fantastischen Geliebten« ihrer Kusine für sich reklamieren wird: »Ce cadeau consistait en un cachet d’argent, composé de trois figurines adossées, enveloppées de feuillages et soutenant le globe. Ces trois personnages représentaient la Foi, l’Espérance et la Charité. Les pieds reposaient sur des monstres qui s’entre-déchiraient, et parmi lesquels s’agitaient le serpent symbolique.« (CB, 67) Hortense deutet das Silbersiegel als »Verkündung« (CB, 71), als Bestätigung ihrer geheimen Absichten und Pläne. Die religiöse Symbolik ist in diesem Zusammenhang nicht ohne Relevanz, wird damit doch zugleich auf das biblische Motiv vom Sündenfall und die anschließende Vertreibung aus dem Paradies rekurriert. Dadurch wird die Erzählung umgedeutet zu einer Geschichte, die von Anfang an unter dem Vorzeichen der Gewalt steht. Die Monster, die sich unter den christlichen Figuren des Glaubens, der

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Ein populäres Lexikon über die »Sprache der Blumen« aus dem Jahr 1842 vermerkt über die Kornblume: »Le beau bleu de cette fleur, qui ressemble à celui d’un ciel sans nuages, est l’emblème d’un sentiment tendre et délicat qui se nourrit d’espérances.« Louise Cortambert/Louis-Aimé Martin, Le langage des fleurs, Bruxelles: Société belge de librairie, 1842, S. 233. Möglicherweise spielt Balzac mit dem Bild der Kornblume auf das Motiv der blauen Blume aus Novalis’ Romanfragment Heinrich von Ofterdingen (posthum 1802) an. Als Sinnbild für die romantische Sehnsucht nach dem Ursprünglichen wurde die blaue Blume in der deutschen Frühromantik zu einem Symbol für die Vereinigung von Liebe und Poesie, für die Verbindung des Irdischen (die Blume wurzelt in der Erde) mit dem Himmlischen (ihre Farbe erinnert an das Blau des Himmels). Mit dieser allgemeinen Bedeutung verbindet sich ein »speziell erotischer Charakter«, wie Gerhard Schulz in seinen Anmerkungen erklärt, denn im Traum des Protagonisten umschließt die blaue Blume gleichzeitig das Gesicht des Geliebten. Vgl. Novalis, Werke, hg. und kommentiert von Gerhard Schulz, München: Beck, 2001, S. 697. Vgl. Duden. Lexikon der Vornamen, 7., vollständig überarbeitete Aufl., Berlin: Duden Verlag, 2016. In dem bereits zitierten Lexikon über die »Sprache der Blumen« heißt in Bezug auf die Hortensie: »Nous ne possédons l’Hortensia que depuis peu d’années. Quoique ses corymbes de fleurs soient alternativement revêtus de blanc, de pourpre et de violet, que son ensemble ait de l’éclat et qu’elle se plaise dans l’appartement, on se lasse vite de sa froide beauté, image d’une coquette, qui sans grâce et sans esprit voudrait plaire uniquement par sa toilette.« Louise Cortambert/Louis-Aimé Martin, Le langage des fleurs, a.a.O., S. 273.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

Hoffnung und der Nächstenliebe gegenseitig zerreißen, sind die auf ihren Eigennutz bedachten Menschen des bürgerlichen Zeitalters. Die christliche Symbolik stellt die sozialen und politischen Entwicklungen der nachrevolutionären Epoche dabei zugleich in einen heilsgeschichtlichen Deutungszusammenhang. Dies belegen nicht zuletzt die zahlreichen Anspielungen auf das Alte Testament, mittels derer die Ereignisse symbolisch aufgeladen werden. Gleich zu Beginn wird der Baron von seiner Mätresse vor die Tür gesetzt, wo er versteinert stehenbleibt »comme Loth dut sortir de Gomorrhe« (CB, 103). Nachdem Lisbeth von dem Verrat ihrer Kusine erfahren hat, zitiert sie die biblische Geschichte von dem Armen, dessen einziges Lamm von einem reichen Mitbürger geschlachtet wird: »Et voilà que, comme dans l’Ancien Testament, le pauvre possède un seul agneau qui fait son bonheur, et le riche qui a des troupeaux envie la brebis du pauvre et la lui dérobe !« (CB, 129). Crevel stellt die sozialen und ökonomischen Entwicklungen, die zum Aufstieg der konstitutionellen Monarchie geführt haben, später ebenfalls in einen religiösen Zusammenhang. An der Baronin ist er zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr interessiert. Ihren verzweifelten Appell an seine Großzügigkeit weist er barsch zurück: »Vous vous abusez, cher ange, si vous croyez que c’est le roi Louis-Philippe qui règne, et il ne s’abuse pas là-dessus. Il sait comme nous tous, qu’au-dessus de la Charte, il y a la sainte, la vénérée, la solide, l’aimable, la gracieuse, la belle, la noble, la jeune, la toute-puissante pièce de cent sous ! Or, mon bel ange, l’argent exige des intérêts, et il est toujours occupé à les percevoir ! Dieu des Juifs, tu l’emportes ! a dit le grand Racine. Enfin, l’éternelle allégorie du veau d’or !… Du temps de Moïse, on agiotait dans le désert ! Nous sommes revenus aux temps bibliques ! Le veau d’or a été le premier grand livre connu, reprit-il. […] Les Égyptiens devaient des emprunts énormes aux Hébreux, et ils ne couraient pas après le peuple de Dieu, mais après des capitaux.« (CB, 323) Mit seinem Bekenntnis zu Louis-Philippe entlarvt Crevel einmal mehr die Scheinheiligkeit bürgerlicher Tugend. Denn für den ehemaligen Parfümeur ist die konstitutionelle Monarchie lediglich ein Mittel, um sich selbst zu bereichern. Der Gott des bürgerlichen Zeitalters ist das Geld, wie in der hyperbolischen Apostrophierung des Hundert-SousStücks zum sakralen Gegenstand mehr als deutlich zum Ausdruck gebracht wird. Das Bürgertum verehrt das Geld wie einst die Israeliten das goldene Kalb in Ägypten, ehe Moses mit den beiden Gesetzestafeln vom Berg Sinai herabkommt und die Statue zerstört. Neben diese religiöse Symbolik tritt im Roman nun aber eine Metaphorik, die sich kaum noch mit dem Anspruch einer wirklichkeitsnahen Darstellung in Einklang bringen lässt. Auf dem Höhepunkt der Intrige werden Crevel und Valérie von einer sonderbaren Krankheit befallen, die selbst dem berühmten Docteur Bianchon große Rätsel aufgibt: »J’observe en ce moment une maladie perdue. Une maladie mortelle, d’ailleurs, et contre laquelle nous sommes sans armes, dans les climats tempérés, car elle est guérissable aux Indes. Une maladie qui régnait au Moyen Age« (CB, 436). Die Ursache dieser mysteriösen Krankheit, die im Übrigen höchst ansteckend ist, liegt dem Arzt zufolge in einer »altération rapide du sang« (CB, 437) begründet. Unerklärlich ist ihm hingegen, wie sich diese vergessen geglaubte Krankheit in der französischen Hauptstadt verbreiten konnte. Der Leser freilich weiß, dass sie durch ein exotisches Gift verursacht wurde,

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das der Baron Henri Montès de Montéjanos, ein eifersüchtiger Liebhaber von Valérie, aus seinem Heimatland Brasilien nach Paris gebracht hat. Eine Folge dieses Giftes ist, dass sich der Körper der Infizierten auflöst und die Erkrankten unter starken Schmerzen sterben. Was dadurch metaphorisch ins Bild gesetzt wird, ist die zerstörerische Kraft des Geldes, das in den Blutkreislauf der Gesellschaft eindringt und sie von innen heraus zersetzt. Im Gespräch mit Adeline und ihren Kindern beklagt Bianchon das grassierende Elend der unteren sozialen Klassen sowie die Korruption des Staates. Auf die bestürzte Frage der Baronin »D’où vient ce mal profond?« (CB, 434) antwortet der Mediziner wie folgt: »Du manque de religion […] et de l’envahissement de la finance, qui n’est autre chose que l’égoïsme solidifié. L’argent autrefois n’était pas tout, on admettait des supériorités qui le primaient. Il y avait la noblesse, le talent, les services rendus à l’État ; mais aujourd’hui la loi fait de l’argent un étalon général, elle l’a prise pour base de la capacité politique ! Certains magistrats ne sont pas éligibles, Jean-Jacques Rousseau ne serait pas éligible ! Les héritages perpétuellement divisés obligent chacun à penser à soi dès l’âge de vingt ans. Eh bien ! entre la nécessité de faire fortune et la dépravation des combinaisons, il n’y a pas d’obstacle, car le sentiment religieux manque en France, malgré les louables efforts de ceux qui tentent une restauration catholique. Voilà ce que se disent tous ceux qui contemplent, comme moi, la société dans ses entrailles.« (CB, 435-436) Es ist sicherlich kein Zufall, dass Balzac hier ausgerechnet einen Arzt und Wissenschaftler auftreten lässt, um den Verfall der Sitten in der französischen Gesellschaft der Juli-Monarchie anzuklagen. Wie Philippe Hamon gezeigt hat, handelt es sich dabei um eine beliebte Beglaubigungsstrategie des ›realistischen‹ Romans.49 Die Diagnose des Mediziners Bianchon, der auch in anderen Erzählungen der Comédie humaine auftritt, überführt das Erzählte auf eine symbolisch-allegorische Bedeutungsebene. Die bürgerliche Gesellschaft »krankt« einerseits an einem Mangel an Religion, andererseits befördert das Streben nach Reichtum und Geld einen Egoismus, der sich wie ein Geschwür im Staatskörper verbreitet. So wie sich der schöne Körper von Valérie unter dem Einfluss des Giftes des Brasilianers allmählich auflöst, genauso führt die allgegenwärtige Finanzspekulation dazu, dass die Institutionen von Familie und Staat zerfallen. Die konstitutionelle Monarchie ist in der Tat weit von dem staatsbürgerlichen Ideal

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Nach Hamon sieht sich der ›realistische‹ Autor mit der Schwierigkeit konfrontiert, den Leser glauben zu lassen, dass das, was der Roman erzählt, zugleich auch wahr sei. Eine Möglichkeit, das Erzählte zu beglaubigen, besteht ihm zufolge darin, die Informationsvermittlung an eine Stellvertreterfigur zu delegieren. Der Autor erfindet eine fiktive Figur und überträgt ihr die Aufgabe, die pädagogische Botschaft, um die es im jeweiligen Kontext geht, zu übermitteln. Entscheidend ist dabei, dass diese Stellvertreterfigur innerhalb des jeweiligen Spezialdiskurses über eine gewisse Glaubwürdigkeit verfügt: »La source-garant de l’information s’incarne donc dans le récit dans un personnage porteur de tous les signes de l’honorabilité scientifique : une description médicale sera supportée et véhiculée par la bouche d’un personnage de médecin, une information esthétique par la bouche d’un personnage de peintre, une description d’église ou une information sur la religion à travers un personnage de prêtre etc.« Philippe Hamon, »Un discours constraint«, a.a.O., S. 428.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

eines Jean-Jacques Rousseau entfernt, wie Bianchon betont. Statt des gemeinwohlorientierten citoyen hat die Demokratie den eigeninteressierten bourgeois hervorgebracht. Gleichzeitig führt das demokratische Erbrecht (»les héritages perpétuellement divisée«) zu einer Zerstückelung des Grundbesitzes, womit das Ende der großen aristokratischen Familien endgültig besiegelt ist.50 Es ist unschwer zu erkennen, dass der Mediziner Bianchon das Zerstörungswerk der demokratischen Revolutionen ähnlich negativ beurteilt wie der politische Legitimist Balzac.51 Fast scheint es, als habe sich Balzac in seiner Romanfigur ein fiktives Alter ego gegeben. Nicht zufällig tragen der Mediziner Horace Bianchon, der sich für Literatur und Politik interessiert, und der Romancier Honoré de Balzac, dessen Erzähler sich selbst als einen »docteur en science sociales« (CB, 82) bezeichnet, dieselben Initialen.

3.2.5

Weibliche Macht versus männliche Ohnmacht

Es wurde bereits gesagt, dass der soziale Klassenantagonismus von Bürgertum und Adel im Laufe der Erzählung von einem zweiten Dualismus überlagert wird, nämlich demjenigen zwischen den Geschlechtern. In dem Maße, wie die Väter an moralischer Autorität verlieren, gewinnen die Frauen umgekehrt an Einfluss.52 Pierre Barbéris hat 50

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Balzac spielt hier offenbar auf die Abschaffung des gesetzlichen Erstgeburtsrechts im Zuge der demokratischen Revolutionen von 1789 und 1830 an. In der aristokratischen Gesellschaftsform des Ancien Régime galt die sogenannte Primogenitur, d.h. das Vorrecht des Erstgeborenen bei der Erbfolge, was dazu führte, dass sich die feudalen Eigentumsstrukturen auf einige wohlhabende Familien konzentrierten. Die Aufhebung der Primogenitur wurde daher als vordringliche Aufgabe der Revolution betrachtet, um die Forderung nach Gleichheit umzusetzen. Die Einführung des demokratischen Erbrechts hatte zur Folge, dass Grundbesitz und Vermögen immer weiter zerstückelt wurden. Der Historiker und Staatsrechtler Alexis de Tocqueville, ein Zeitgenosse Balzacs, beschreibt das demokratische Erbrecht in seinem Hauptwerk über die Demokratie in Amerika (1835/40) als eine »Maschine« von nie dagewesener Größe, vergleichbar nur mit einer »göttlichen Gewalt«, denn sei das Vorrecht des Erstgeborenen erst einmal abgeschafft, werde die Gesellschaftsordnung der europäischen Völker langsam, aber sicher umgeformt. Vgl. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, hg. von Jacob P. Mayer, Theodor Eschenburg und Hans Zbinden, München: DTV, 1976, Bd. 1, 3. Kapitel, S. 56. In seiner Vorrede zur Comédie humaine spricht sich Balzac explizit gegen das Prinzip der demokratischen Wahl aus, weil es seiner Ansicht nach zur Tyrannei der großen Mehrheit führe. Dieselben Bedenken gegen die demokratische Gleichheit formuliert auch Tocqueville in seinem Hauptwerk Über die Demokratie in Amerika. Die Religion und die Monarchie stellen für Balzac unverzichtbare Institutionen dar, ohne die innerhalb der Gesellschaft kein Ausgleich zwischen den konkurrierenden Interessen hergestellt werden könne. Im »Avant-propos« bezeichnet Balzac die Religion und die Monarchie deshalb als »deux Vérités étérnelles […] vers lesquelles tout écrivain de bon sens doit essayer de ramener notre pays« (AP, 13). Tatsächlich ist die Zerstörung der Familie (und pars pro toto der Nation) vor allem auf das Versagen der männlichen Romanfiguren zurückzuführen. So ahmen die Söhne entweder das Fehlverhalten ihrer Väter nach (wie im Fall von Wenceslas Steinbock) oder sie werfen ihre moralischen Prinzipien über Bord und gehen einen Parkt mit dem Teufel ein (wie im Fall von Victorin Hulot). Es ist einigermaßen bezeichnend für die Weltsicht des späten Balzac, dass die einzigen echten Ausnahmen in dieser Hinsicht ausgerechnet zwei greise Männer sind: der taube Graf von Forzheim, ein Marschall der napoleonischen Armee, und dessen langjähriger Freund, der Prinz von Wissembourg. Sie sind Relikte des Kaiserreichs und gehören damit gewissermaßen zu einer vom Aussterben bedrohten

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den Roman daher einen »roman de la femme«53 genannt. Betrachtet man die Darstellung der Frauen im Roman einmal genauer, so fällt auf, dass der Text eine dualistische Konzeption von Weiblichkeit entwirft, die auf den entgegengesetzten Polen von Spiritualität und Körperlichkeit beruht. Die ideale Frau ist für Balzac ein androgynes Wesen, das die spirituelle Mutterliebe mit den sinnlichen Aspekten weiblicher Verführung in sich vereint.54 Die dualistische Natur der Frau wird an verschiedenen Romanfiguren exemplifiziert. Dabei zeigt sich einmal mehr Balzacs Vorliebe für Oppositionen und scharfe Kontraste. Es lassen sich zwei Gruppen von Frauen identifizieren, die jeweils einen der beiden entgegengesetzten Pole des Weiblichen repräsentieren.55 Auf der einen Seite stehen Romanfiguren, die sich durch Spiritualität und Tugendhaftigkeit auszeichnen (Adeline/Hortense). Ihnen gegenüber stehen jene Figuren, die den sinnlichen Teil der weiblichen Natur verkörpern und daraus ihre – spezifisch »weibliche« – Macht beziehen (Valérie/Lisbeth). Die Position dazwischen wird jeweils von einem Mann (Hector/Wenceslas) besetzt. Gleichzeitig wird diese Dichotomie durch eine moralische Opposition von ›guten‹ und ›bösen‹ Charakteren überlagert, was sich vor allem in der mythologisierenden Beschreibung der Frauen als Engel oder Dämonen niederschlägt.56 Die dämonische Natur der Frau wird durch Valérie Marneffe verkörpert. Sie versteht es, aus dem Begehren der Männer Profit zu schlagen und würde alles dafür tun, um in der sozialen Hierarchie aufzusteigen. Für den Erzähler verkörpert sie »le type de ces ambitieuses courtisanes mariées qui, de prime abord, acceptent la dépravation dans toutes ses conséquences, et qui sont décidées à faire fortune en s’amusant, sans scrupules sur les moyens« (CB, 173). Valérie ist keine Ausnahme, wie der Roman betont, sondern das Symptom eines allgemeinen Sittenverfalls. Denn es ist die moderne, bürgerliche Gesellschaft, die Frauen wie sie hervorbringt: »On voit des madame Marneffe à tous les étages de l’État social, et même au milieu des cours, car Valérie est une triste

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Art. Der Tod des Grafen von Forzheim, der aus Schande über die kriminellen Machenschaften seines Bruders verstirbt, besiegelt denn auch offiziell das Ende dieses heroischen Zeitalters. Pierre Barbéris weist darauf hin, dass sich Balzac bereits in seinen früheren Erzählungen – etwa in Le Lys dans la vallée (1836), Le Curé de village (1839-41) oder La Muse du département (1843) – mit dem Thema der unglücklich verheirateten Frau befasst habe. Er führt dies vor allem auf die Entwicklung eines literarischen Buchmarkts zurück, in welchem sich die Romanschriftsteller an den Vorlieben eines weiblichen Lesepublikums ausrichten. Vgl. Pierre Barbéris, »Préface« in: Honoré de Balzac, La Cousine Bette, Paris: Gallimard (folio classique), 1972, S. 7-24, hier S. 15. Allerdings existiert ein solches Wesen nach Ansicht des Erzählers nur sehr selten: »Être une honnête et prude femme pour le monde, et se faire courtisane pour son mari, c’est être une femme de génie, et il y en a peu« (CB, 317). James Gilroy zufolge erinnert Balzacs Ideal einer bipolaren Natur des Weiblichen an das Konzept der Archetypen, wie es Carl Gustav Jung in seiner analytischen Psychologie entwirft. Vgl. James Gilroy, »The Theme of Women in Balzac’s La Cousine Bette«, in: Rocky Mountain Review of Language and Literature 34/2, 1980, S. 101-115, hier S. 104. Dieser Dualismus von Engeln und Dämonen lässt deutlich den Einfluss des schwedischen Mystikers Swedenborg erkennen. Aus der Beschäftigung mit Swedenborg entwickelt Balzac in seiner Erzählung Seraphita (1834) die Vorstellung eines idealen Menschen, eines Hermaphrodit, der sowohl engelhafte Züge als auch fleischliche Lust in sich vereint. Curtius zufolge hat der AndrogynMythos bei Balzac die Funktion, »den religiösen Spiritualismus mit dem erotischen Glücksstreben auszusöhnen und die asketische Sinnenfeindschaft zu überwinden«. Ernst Robert Curtius, Balzac, a.a.O., S. 126.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

réalité« (CB, 173). Der Erzähler sieht sich sogar genötigt, in einem längeren moralisierenden Diskurs (noch dazu prominent hervorgehoben am Übergang von der Exposition zur eigentlichen Erzählung) vor den Gefahren dieses Frauentypus zu warnen: »Une vraie courtisane, comme les Josépha, les Schontz, les Malaga, les Jenny Cadine etc., porte dans la franchise de sa situation un avertissement aussi lumineux que la lanterne rouge de la Prostitution, ou que les quinquets du Trente-et-Quarante. Un homme sait alors qu’il en va là de sa ruine. Mais la doucereuse honnêteté, mais les semblants de vertu, mais les façons hypocrites d’une femme mariée qui ne laisse jamais voir que les besoins vulgaires d’un ménage, et qui se refuse en apparence aux folies, entraîne à des ruines sans éclat, et qui sont d’autant plus singulières qu’on les excuse en ne se les expliquant point. C’est l’ignoble livre de dépense et non la joyeuse fantaisie qui dévore des fortunes. Un père de famille se ruine sans gloire, et la grande satisfaction lui manque dans la misère.« (CB, 173) Frauen wie Valérie verstecken sich hinter einer Fassade aus Täuschung und Heuchelei. Sie bewahren den Schein einer honnête femme, um ihre männlichen »Opfer« auf diese Weise umso tiefer in den Ruin zu stürzen. Valérie übt eine solch faszinierende Wirkung auf das männliche Geschlecht aus, dass beinahe alle männlichen Romanfiguren den verführerischen Reizen dieser »Danaé bourgeoise« (CB, 165) verfallen. Hortense hat dies erkannt und mahnt ihren Ehemann daher zur Vorsicht: »Si vous venez là, tenez votre cœur à deux mains, car cette femme est un démon ; tous ceux qui la voient l’adorent ; elle est si vicieuse, si affiolante !… elle fascine comme un chef-d’œuvre« (CB, 241). Ihre dämonische Wirkung resultiert aus dem Umstand, dass dem sittlich Anstößigen seit jeher auch ein ästhetisches Potenzial innewohnt. Wenn Valérie fasziniert wie ein Kunstwerk, dann nicht nur aufgrund ihrer Schönheit, sondern auch deshalb, weil das Lasterhafte in ihrer Person einen Reiz für sich darstellt. Valérie ist eine moderne Medusa, deren Blick die Männer augenblicklich zu Stein erstarren lässt. Balzac ruft ein ganzes Arsenal an mythologischen Bezügen auf, um den Nexus von weiblicher Schönheit und Verführung in ein Bild zu zwängen. So wird Valérie im Laufe des Romans mehrfach mit einer Sirene verglichen (CB, 211, 248). Im Mythos entkommt Odysseus dem betörenden Gesang der Sirenen, weil er von der Zauberin Kirke gewarnt wurde und sich in Folge dessen an den Mast seines Schiffes binden lässt; im Unterschied dazu verfällt Wenceslas den verführerischen Reizen von Valérie, da er die mahnenden Worte seiner Ehefrau in den Wind schlägt. Neben dem Odysseus-Mythos werden im Roman noch weitere intertextuelle Bezüge aufgerufen, um den Sittenverfall der Gesellschaft zu beschreiben. So wird Valérie wahlweise als ein »Machiavelli en jupon« (CB, 173), eine »madame de Merteuil bourgeois« (CB, 280), eine »Danaé bourgeoise« (CB, 165), eine »Laïs de Paris« (CB, 172) oder eine »créole parisienne« (CB, 134) bezeichnet. Die Anspielung auf die Marquise de Merteuil aus Choderlos de Laclos’ Briefroman Les Liaisons dangereuses (1782), dürfte dem Publikum des 19. Jahrhunderts ebenso vertraut sein, wie der Verweis auf den antiken Danaë-Stoff oder die Erwähnung der Lais von Korinth, einer griechischen Hetäre aus dem vierten Jahrhundert vor Christus. Mit Hilfe dieser intertextuellen Verweise wird einerseits die Korrumpiertheit des Adels (»madame de Merteuil«) angeprangert, andererseits wird die korrumpierende Macht (»Machiavelli«) des Geldes (»Danaé«, »Laïs«) als Ursache eines gesellschaftlichen Rückfalls

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in eine Art von Naturzustand (»créole«) ausgemacht. Von allen mythologischen Anspielungen dürften jedoch diejenigen am häufigsten sein, die Valérie als »Dämon« (CB, 208, 241, 301, 378), »Schlange« (CB, 253, 330) oder »Ève« (CB, 206, 212, 221, 428) beschreiben und sie damit als personifizierte Versuchung – als »le serpent fait femme« (CB, 253) – ausweisen. Ihre Macht über die Männer bezieht Valérie aus ihrer Fähigkeit zur Verwandlung. So kann sie je nach Situation eine ganz andere sein. Wie eine Schauspielerin wechselt sie in der »comédie du sentiment moderne« (CB, 122) die Rollen. Unterstützt wird sie dabei von ihrer Freundin und Komplizin Lisbeth. Die beiden Frauen ergänzen sich in ihren jeweiligen Fähigkeiten so geschickt, dass sie regelrecht zu einer einzelnen Person verschmelzen: »Comme on le voit, ces deux femmes n’en faisaient qu’une« (CB, 186). Gemeinsam ersinnen sie einen perfiden Racheplan, wobei sie ihre Rollen strategisch untereinander aufteilen: Während Valérie im Vordergrund agiert, hält Lisbeth im Hintergrund die Fäden in der Hand: »Lisbeth pensait, madame Marneffe agissait. Madame Marneffe était la hache, Lisbeth était la main qui la manie, et la main démolissait à coups pressés cette famille qui, de jour en jour, lui devenait plus odieuse« (CB, 187). Als Drahtzieherin der Intrige gegen die Familie ist die Titelheldin zu einer Existenz hinter den Kulissen verdammt.57 Entsprechend tritt sie nur selten auf der Bühne des dramatischen Geschehens selbst auf. Wie Nicole Mozet bemerkt hat, üben Balzacs weibliche Figuren oftmals eine Art kollektive Macht aus, die umso erschreckender anmutet, als ihre Funktionsweise unsichtbar bleibt.58 Die männlichen Figuren stehen dieser als spezifisch ›weiblich‹ charakterisierten Form der Macht nahezu ohnmächtig gegenüber.59 Der Konnex von weiblicher Schönheit, Verführung und Macht wird auch in den beiden Bronzegruppen thematisiert, die das biblische Motiv von Samson und Dalila (Richter 13-16) aufgreifen. Zu Beginn des Romans stellt Wenceslas eine Statue her, die Sam57

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Um die »okkulte« Macht zu umschreiben, die Lisbeth hinter den Kulissen ausübt, greift Balzac auf populäre Verschwörungstheorien der damaligen Zeit zurück. So vergleicht der Erzähler Lisbeth an einer Stelle des Romans mit einem Geheimbund: »Lisbeth, entrée dans l’existence qui lui était propre, y déployait toutes ses facultés ; elle régnait à la manière des Jésuites, en puissances occultes« (CB, 187). Zur Rolle der Jesuiten im Verschwörungsdenken der französischen Restaurationszeit siehe etwa Geoffrey Cubitt, »Conspiracism, Secrecy and Security in Restoration France: Denouncing the Jesuit Menace«, in: Historical Social Research 38, 2012, S. 107-128. Vgl. Nicole Mozet, »La Cousine Bette, roman du pouvoir féminin?«, in: Françoise van RossumGuyon/Michiel van Brederode (Hg.), Balzac et les parents pauvres (Le Cousine Pons, la cousine Bette), Paris: SEDES, 1981, S. 33-46, hier S. 39. Gerade in der französischen Forschung wird dies als Indiz für die zunehmende Misogynie des alternden Balzac gedeutet. Anne-Marie Meininger verweist in ihrer Einführung für die PléiadeAusgabe auf den Umstand, dass die Gegenüberstellung von »femmes nuisibles« und »hommes victimes« in den späten Romanen Balzacs besonders stark ausgeprägt sei: »Le Cousin Pons exprimera plus nettement encore la misogynie de Balzac par l’amitié de deux hommes. Et dans La Cousine Bette, la plus belle, la seule pure et la plus émouvante scène est celle qui met en présence deux hommes: Forzheim et Wissembourg. Il faut aussi accorder l’importance qu’il mérite au fait que l’œuvre de Steinbock n’est évoquée qu’à travers un seul sujet : Samson et Dalila. Ainsi, dans sa propre création, Balzac représente la création artistique par la plus célèbre version de ce thème unique et obsédant : la femme détruit l’homme.« Vgl. Anne-Marie Meininger, »Introduction à La Cousine Bette«, in: Honoré de Balzac, La Comédie humaine, Bd. 7, hg. von Marcel Bouteron, Paris: Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade), 1977, S. 5-51, hier S. 34.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

son dabei zeigt, wie er einen Löwen zerreißt. Auf dem Höhepunkt der Romanhandlung beauftragt Valérie ihn mit der Anfertigung einer zweiten Statue, die das Thema wieder aufgreift, nun aber aus der Sicht Dalilas. In der biblischen Erzählung schneidet Dalila dem schlafenden Samson das Haupthaar ab, woraufhin dieser seine übermenschliche Kraft verliert. Valérie selbst erläutert die Wahl des Motivs wie folgt: »Il s’agit d’exprimer la puissance de la femme. Samson n’est rien, là. C’est le cadavre de la force. Dalila, c’est la passion qui ruine tout« (CB, 251). Indem Valérie eine zweite Bronzestatue anfordert, die in ironischer Weise das Thema der ersten Statue umkehrt, stellt sie zugleich auch die traditionelle Hierarchie der Geschlechterrollen in Frage, der zufolge die Frau immer nur das Andere des Mannes darstellt. Dies unterscheidet sie von Adeline, die diese Hierarchie als natürlich gegeben hinnimmt (»nous autres femmes«). Trotzdem gelingt es dem Roman nicht, den diskursiven Rahmen der Geschlechterontologie zu sprengen. Denn Valérie ist lediglich das Objekt der Kunst, wie etwa auch Nicole Mozet betont, nicht aber deren Subjekt: Sie ist »la chose à sculpter« (CB, 251) und gibt ein wunderbares Modell für die Dalila-Statue ab, doch der eigentliche Urheber und »Schöpfer« dieser Statue ist ein Mann.60 Wenn Valérie den sinnlichen Teil der weiblichen Natur verkörpert, dann repräsentiert Adeline umgekehrt deren spirituelle Seite. Sie ist nicht nur eine vorbildliche Mutter und devote Ehefrau, sondern auch ein Inbegriff von Tugendhaftigkeit. Der Erzähler bezeichnet sie als »cette sainte femme« (CB, 316) oder »cette sainte créature« (CB, 320) und betont »le dévouement extraordinaire de cette belle et noble femme« (CB, 49). Um ihre Familie vor dem Ruin zu retten, ist sie sogar bereit, sich vor Crevel zu prostituieren (CB, 321). Dieser Akt der Selbstaufopferung markiert den Höhepunkt in einer langen Reihe von Kränkungen, die sie stillschweigend über sich ergehen lässt. Mehrfach wird sie im Laufe des Romans mit der Gottesmutter Maria verglichen. Das eindrücklichste Beispiel dafür liefert ihre Stilisierung zur »Mater dolorosa de l’hymne saint« (CB, 384) durch die Sängerin und Kurtisane Josépha Mirah.61 Anders als diese akzeptiert Adeline die von der Gesellschaft vorgeschriebenen Rollenbilder. Ihrer Tochter gegenüber erklärt sie: »Pour leur plaisir, les hommes, mon ange, commettent les plus grandes lâchetés, des infamies, des crimes ; c’est à ce qu’il paraît dans leur nature. Nous autres femmes, nous sommes voués au sacrifice« (CB, 262). Sie akzeptiert ihr Schicksal mit dem Hinweis auf die vermeintliche »Natur« des Mannes. Ihre Tochter wird es ihr später gleichtun und damit ebenfalls das Scheitern ihrer Ehe mit Wenceslas besiegeln. Gemäß dem Vorbild ihrer Mutter vergöttert sie den jungen Mann, gibt jeder seiner Launen nach und sucht nach Gründen, um seine Faulheit zu entschuldigen. Später erkennt sie ihren Fehler und trennt sich von Wenceslas. Adeline hingegen bleibt ihrem Hector bis zum Ende treu, obwohl er sie auch nach seiner Rückkehr in die Familie weiterhin betrügt. Sie unterwirft sich ganz dem Willen ihres Mannes, denn sie ist überzeugt »que la douceur et la

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Vgl. Nicole Mozet, »La Cousine Bette, roman du pouvoir féminin«, a.a.O., S. 45. Es ist einigermaßen bezeichnend, dass diese Heiligsprechung ausgerechnet aus dem Mund von Josépha erfolgt, schließlich gehört die Sängerin und Kurtisane zu den wenigen wirklich sympathischen Charakteren des Romans. Albert Béguin zufolge dienen Künstler und Kurtisanen in den Romanen häufig als direktes Sprachrohr des Autors. Vgl. Albert Béguin, Balzac lu et relu, Paris: Seuil, 1965, S. 108ff.

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soumission étaient les plus puissantes armes de la femme« (CB, 104). Interessanterweise widerspricht der Erzähler ihr in diesem Punkt deutlich: »Elle se trompait en ceci. Les sentiments nobles poussées à l’absolu produisent des résultats semblables à ceux des grands vices« (CB, 104). Mit ihrer übersteigerten Liebe verschlimmert Adeline nicht nur ihre eigene Situation, sondern auch diejenige ihrer Familie. Der Erzähler nennt ihr Verhalten regelrecht fanatisch: »Il n’est donc pas besoin de beaucoup d’intelligence pour reconnaître, dans une âme simple, naïve et belle, les motifs du fanatisme que madame Hulot mêlait à son amour« (CB, 51). Durch ihre Nachsicht leitet Adeline die Katastrophe selbst mit ein. Nicht nur, dass sie die ständigen Fehltritte ihres Mannes stillschweigend akzeptiert; sie ermutigt ihn sogar dazu, sich eine weniger kostspielige Geliebte zu suchen, weil damit allen Beteiligten geholfen sei: »Mon ami, reprit Adeline en faisant un dernier effort, s’il te faut absolument des maîtresses, pourquoi ne prends-tu pas, comme Crevel, des femmes qui ne soient pas chères et dans une classe à se trouver longtemps heureuses de peu. Nous y gagnerions tous. Je conçois le besoin, mais je ne comprends rien à la vanité…« (CB, 104) Der Baron befolgt den Ratschlag seiner Ehefrau und macht sich gleich am nächsten Morgen an die Eroberung von Valérie Marneffe. Damit ist die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten. Erst sehr viel später erfährt Adeline aus dem Mund der Kurtisane, was sie von Frauen wie Josépha und Valérie unterscheidet: »si vous aviez eu, voyez-vous, un peu de notre chique, vous l’auriez empêché de courailler ; car vous auriez été ce que nous savons être : toutes les femmes pour un homme« (CB, 388). Sicherlich entschuldigt diese Erklärung in keiner Weise das Verhalten des Barons; doch letzten Endes scheitert die Ehe eben auch, weil Adeline es nicht versteht, »Engel« und »Dämon« in einer Person zu sein. Die ideale Frau ist für Balzac ein »ouvrage en deux volumes« (CB, 307), das in der Realität indes nur selten vorkommt, denn es bedarf eines gewissen »Genies«, um die sinnlichen Aspekte der Liebe mit Spiritualität und Tugend zu verbinden.62 Was nun aber Adeline betrifft, so ist ihre Verabsolutierung der Tugend zugleich auch ihre größte Schwäche. Denn genauso wie die Liebe nicht ohne das nötige chique auskommt, genauso droht eine allzu exzessiv verfolgte Tugendhaftigkeit in einen unheilvollen Fanatismus umzuschlagen. Valérie bringt dies in pointierter Weise auf den Punkt, wenn sie erklärt: »La Vertu coupe la tête, le Vice ne nous coupe que les cheveux. Prenez garde à vos toupets, messieurs« (CB, 252). Mit der Liebe und dem Laster verhält es sich wie mit der Tugend und dem Terror. Beide sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Entsprechend heißt es in der Widmung, die Balzac den beiden Büchern seiner Parents pauvres voranstellt: »Tout est double, même la vertu« (CB, 28). Die Französische Revolution wollte die republikanische Tugend von den Lastern der Aristokratie befreien, endete jedoch

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»L’amour, cette immense débauche de la raison […], et le plaisir, cette vulgarité vendue sur place, sont deux faces différentes d’un même fait. La femme qui satisfait ces deux vastes appétits des deux natures, est aussi rare, dans le sexe, que le grand général, le grand écrivain, le grand artiste, le grand inventeur, le sont dans une nation. L’homme supérieur comme l’imbécile, un Hulot comme un Crevel, ressentent également le besoin de l’idéal et celui du plaisir; tous vont chercher ce mystérieux androgyne, cette rareté, qui, la plupart des temps, se trouve être un ouvrage en deux volumes« (CB, 307).

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

im Tugendterror eines Robespierre. In der bürgerlichen Gesellschaft ist die Erinnerung an Robespierre auch weiterhin präsent, nur dass die Menschen fortan Tugend heucheln, während in Wirklichkeit das Laster vorherrscht. Ob in der Liebe oder in der Tugend: es geht jedoch vor allem darum, einen Ausgleich zwischen den Extremen zu finden. In der Gegenüberstellung der beiden Frauen (Valérie vs. Adeline) artikuliert sich somit eine Erfahrung, die für die nachrevolutionäre Epoche insgesamt charakteristische ist. Im Folgenden soll nun gezeigt werden, dass die Titelheldin als allegorische Figur auf ein verdrängtes Konfliktpotenzial innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft verweist.

3.2.6

Die Titelheldin als Verkörperung einer unbändigen Naturgewalt

Lisbeth Fischer ist zweifelsohne einer der komplexesten Charaktere des Romans. Genau wie der Baron, der im Roman fast nur durch seine Abwesenheit auffällt, bleibt auch sie fast immer unsichtbar und überlässt den anderen Figuren bereitwillig die Bühne, während sie im Hintergrund die Fäden in der Intrige gegen die Familie ihrer reichen Verwandten zieht. Nicht zufällig wird sie mit einer »Spinne« (CB, 194) verglichen, die sich ein Netz spinnt und dort geduldig auf ihre Beute wartet. Von den Verwandten wird sie zumeist nur »Bette« genannt, was sich auf ihre animalische Natur und ihren scheinbar einfältigen Charakter beziehen lässt. Es wäre jedoch falsch, sich diesem Urteil vorschnell anzuschließen. Wie Christopher Prendergast gezeigt hat, ist das Verhalten der Titelheldin von einer moralischen Ambiguität geprägt, weshalb man in ihr nicht nur einen negativen oder gar bösartigen Charakter sehen kann.63 Letztlich ist Lisbeths Hass auf die Familie ja keineswegs unbegründet. In gewisser Weise tragen ihre Verwandten sogar Mitschuld an der späteren Katastrophe, weil sie sich ihr gegenüber äußerst herablassend verhalten und Lisbeth schlielich das Kostbarste entwenden, das sie besitzt. Allerdings geht der Roman noch weiter in die Vergangenheit zurück, um den Konflikt zwischen der Titelheldin und ihrer Familie zu motivieren. Zwar bildet der »Diebstahl« ihres Geliebten den Auslöser für Lisbeths Rache, die eigentliche Ursache des Konfliktes liegt aber tiefer, nämlich in ihrer fortwährenden Rivalität mit Adeline: »Lisbeth Fischer, de cinq ans moins âgée que madame Hulot, et néanmoins fille de l’aîné des Fischer, était loin d’être belle comme sa cousine ; aussi avait-elle été prodigieusement jalouse d’Adeline. La jalousie formait la base de ce caractère plein d’excentricités, mot trouvé par les Anglais pour les folies non pas des petites mais des grandes maisons. Paysanne des Vosges, dans toute l’extension du mot, maigre, brune, les cheveux d’un noir luisant, les sourcils épais et réunis par un bouquet, les bras longs et forts, les pieds épais, quelques verrues dans sa face longue et simiesque, tel est le portrait concis de cette vierge.« (CB 56, Hervorhebungen im Original) Die Beschreibung von Lisbeths äußerer Erscheinung korrespondiert in auffälliger Weise mit ihrem »exzentrischem« Charakter. Fast scheint es, als wären die körperlichen Anomalien eine direkte Folge ihrer andauernden Eifersucht. Betont werden die maskulinen Züge (»sourcils épais«, »pieds épais«) und der Aspekt physischer Stärke (»bras 63

Vgl. Christopher Prendergast, »Antithesis and Moral Ambiguity in La Cousine Bette«, in: The Modern Language Review 68 (2), 1973, S. 315-332.

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longs et forts«). Es fällt auf, dass ihr kaum weibliche Eigenschaften zugesprochen werden. Stattdessen wird betont, dass Lisbeth über »des qualités d’hommes« (CB, 60) verfüge. Die Beschreibung nimmt regelrecht groteske Züge an: Das Gesicht ist verzerrt in die Länge gezogen und mit Warzen übersäht; zahlreiche Anspielungen, darunter der mehrfach wiederholte Vergleich mit einem Affen, bezeugen ihren animalische Charakter. Auch Lisbeths fehlende Sexualität (»cette vierge«) steht in direktem Zusammenhang mit ihrem grotesken Körperbild. Dies unterscheidet sie zugleich auch von den anderen Romanfiguren. Denn in einer Gesellschaft, in der sich die Libido jeder hemmenden Kontrolle durch die Vernunft entzieht, muss ihre sexuelle Enthaltsamkeit wie eine Abnormität erscheinen. Der Erzähler bezeichnet ihre Jungfräulichkeit an späterer Stelle sogar als »Monstrosität« (CB, 134). Wenn Lisbeths erzwungenes Zölibat in deutlichem Kontrast zu der libidinösen Energie der anderen Romanfiguren steht, dann setzt die Verdrängung ihres sexuellen Begehrens umgekehrt Energien frei, die sie auf die Zerstörung der Familie richtet. Aus dem Fehlen dieser sexuellen Energie erklärt sich jene unbändige Vitalkraft, mit der Balzac nahezu alle seine Monomanen ausstattet.64 Allerdings verfügt Lisbeth seit jeher auch über ein ausgesprochen »wildes« Temperament: »La cousine Bette présentait dans les idées cette singularité qu’on remarque chez les natures qui se sont développées fort tard, chez les Sauvages qui pensent beaucoup et parlent peu« (CB, 59). Die »inexplicable sauvagerie« der »sauvage Lorraine« (CB, 62), wie Lisbeth durchgängig bezeichnet wird, kann jederzeit in rohe Gewalt umschlagen. Ihre Kusine muss dies in ihrer Kindheit am eigenen Leib erfahren. Während Adeline von den Eltern mit eleganten Kleidern ausgestattet wird, muss Lisbeth auf dem Feld arbeiten. Die Familie »opfert« die hässliche Kusine, damit sich die schöne Tochter besser entfalten kann: »La famille qui vivait en commun, avait immolé la fille vulgaire à la jolie fille, le fruit âpre à la fleur éclatante« (CB, 56). Nach außen erduldet Lisbeth diese Benachteiligung, wähnt sie sich jedoch unbeobachtet, lässt sie ihren Aggressionen freien Lauf und zerschneidet heimlich die Kleider ihrer älteren Kusine. Als Lisbeth sich in einem Anflug von kindlicher Raserei an Adelines schöner Nase vergreift, wird sie mit einer Tracht Prügel bestraft. Aus dieser Erfahrung zieht sie eine wichtige Lektion, denn sie erkennt, dass sie ihre Eifersucht fortan verbergen muss. Daran ändert sich auch nichts, als Adeline sie nach ihrem »mariage fantastique« (CB, 56) mit dem Baron zu sich nach Paris holt. Der Ortswechsel hat nicht nur eine Verbesserung ihrer Lebenssituation zur Folge, sondern er wirkt auch mäßigend auf ihre natürlichen »Instinkte«: »Cette fille, dont le caractère ressemblait prodigieusement à celui des Corses, travaillée inutilement par les instincts des natures fortes, eût aimé à protéger un homme faible ; mais, à force de vivre dans la capitale, la capitale l’avait changée à la surface. Le poli parisien faisait rouille sur cette âme vigoureusement trempée.« (CB, 59) Wenn Lisbeth über die »wilde Natur« der Korsen verfügt, so wird diese Wildheit durch die Gesetze der Pariser Gesellschaft vorübergehend gezähmt. Die Hauptstadt »zivilisiert« sie, indem sie Lisbeths ursprüngliche Instinkte einer rationalen »Affektkontrolle«

64

Vgl. Ernst Robert Curtius, Balzac, a.a.O., S. 73.

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unterstellt.65 Allerdings bleibt ihre Neigung zur Gewalt unterschwellig auch weiterhin präsent. Was sich verändert, ist nicht das immer schon latent vorhandene Gewaltpotential, sondern die Form ihrer Dynamik. In Paris lernt Lisbeth ihre Instinkte einzudämmen und zu kontrollieren. Die Metropole bewirkt eine Form der Selbstdisziplinierung, die Peter von Matt sehr treffend als »Intrigengeduld«66 bezeichnet hat. An die Stelle einer impulsiven Affektentladung tritt eine neue Rationalität, die langsam und kalkulierend vorgeht, um an ihr Ziel zu gelangen. Darin besteht der mäßigende Effekt der Großstadt, der Lisbeth aus einem vormodernen »Naturzustand« in die vermeintlich »zivilisierte« Welt der bürgerlichen Gesellschaft katapultiert: »Elle ne domptait que par la connaissance des lois et du monde, cette rapidité naturelle avec laquelle les gens de la campagne, de même que les Sauvages, passent du sentiment à l’action. En ceci peut-être consiste toute la différence qui sépare l’homme naturel de l’homme civilisé. Le Sauvage n’a que des sentiments, l’homme civilisé a des sentiments et des idées. Aussi, chez les Sauvages, le cerveau reçoit-il pour ainsi dire peu d’empreintes, il appartient alors tout entier au sentiment qui l’envahit, tandis que chez l’homme civilisé, les idées descendent sur le cœur qu’elles transforment […].« (CB, 62) In Paris durchläuft Lisbeth einen Prozess der Selbst-Kultivierung: Nach ihrer Ankunft in der Hauptstadt lässt sie sich von der Notwendigkeit einer elementaren Bildung überzeugen und beginnt eine Ausbildung zur Strickerin für Posamenterien bei den Gebrüdern Pons. Damit beginnt ihre »Metamorphose« (CB, 57), wie der Erzähler anmerkt. Mit den Jahren entwickelt sich Lisbeth zu einer »assez adroite et intelligente première demoiselle« (CB, 57). Dennoch bleibt ihre Eifersucht auch weiterhin die Quelle eines unberechenbaren Zorns, der sich eruptiv entladen kann und damit eine latente Bedrohung für die Menschen in ihrer Umwelt darstellt: »Cette fille perdit alors toute idée de lutte et de comparaison avec sa cousine, après en avoir senti les diverses supériorités ; mais l’envie resta cachée dans le fond du cœur, comme un germe de peste qui peut éclore et ravager une ville, si l’on ouvre le fatal ballot de laine où il est comprimé.« (CB, 58) Obwohl es nach außen hin nicht so wirkt, hat Lisbeth die Benachteiligungen, die sie als Kind erfahren musste, nicht vergessen. Neid und Missgunst prägen noch immer ihren Charakter. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die Wahl des Vergleichsobjektes (»comme un germe de peste…«), da es eine Reihe von negativen Assoziationen bereithält. Der Vergleich gipfelt in dem Bild einer von der Pest befallenen Stadt und evoziert damit die Vorstellung einer unheilvollen ansteckenden Krankheit, 65

66

Peter von Matt erkennt darin eine Form der Selbstkontrolle, wie sie Norbert Elias in seiner Studie Über den Prozeß der Zivilisation (1939) am Beispiel der höfischen Gesellschaft beschreibt. Nach Elias unterdrückte der absolutistische Hof Ludwigs XIV. die Machtansprüche des Landadels dadurch, dass er ihn durch Zeremonien an die Residenz band. Ähnlich verhält es sich mit der Titelheldin aus Balzacs Roman, deren »natürliche« Instinkte durch die Gesetze der urbanen Gesellschaft domestiziert werden. Vgl. Peter von Matt, Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist; München: Hanser, 2006, S. 412ff. Ebd., S. 412.

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die sich epidemisch verbreitet und das Gemeinwesen von innen heraus zerstört. Das Bild vom »schwarzen Tod« findet seine Entsprechung in der Beschreibung ihres äußeren Erscheinungsbildes, genauer in den »cheveux d’un noir luisant« (CB, 56) und ihrem »regard noir« (CB, 130), der immer dann aufblitzt, wenn sich der aufgestaute Zorn entlädt. Zu dem Bild vom schwarzen Tod gehört auch das von Warzen übersäte Gesicht der Titelheldin, das Erinnerungen an die im Mittelalter grassierende Beulenpest wachruft. Dasselbe Bild taucht im Zusammenhang mit der Beschreibung des Louvre auf, in dessen unmittelbarer Nähe Lisbeth eine schäbige Mansarde bewohnt. Dort, im Herzen von Paris, wo sich das kulturelle Zentrum der französischen Nation befindet, klafft eine gewaltige Lücke. Die Beschreibung des Stadtviertels evoziert eine Atmosphäre von Tod, Fäulnis und Verfall: »Les ténèbres, le silence, l’air glacial, la profondeur caverneuse du sol concourent à faire de ces maisons des espèces de cryptes, des tombeaux vivants« (CB, 78). Auffällig ist, dass mit der sinnlichen zugleich auch eine moralische Dimension aufgerufen wird: Die Schäbigkeit der Gebäude konnotiert Unmoral, Korruption und Verbrechen. All dies wird freilich nicht benannt, sondern mit Hilfe von suggestiven Bildern heraufbeschworen und mitbedeutet. Im vorliegenden Fall zeigt sich dies beispielsweise in dem Vergleich der baufälligen Häuser im Herzen von Paris mit einer Warze, die man aus dem Gesicht der Stadt entfernen sollte: »Voici bientôt quarante ans que le Louvre crie par toutes les gueules de ces murs éventrés, de ces fenêtres béantes : Extirpez ces verrues de ma face ! On a sans doute reconnu l’utilité de ce coupe-gorge, et la nécessité de symboliser au cœur de Paris l’alliance intime de la misère et de la splendeur qui caractérise la reine des capitales.« (CB, 78) Wenn sich der Erzähler über den elenden Zustand des Louvre empört, so wird damit keine Kritik an den bestehenden Verhältnissens ausgedrückt. Die Empörung ist vielmehr moralischer Natur. Dagegen spielen die sozialen Unterschiede zwischen arm (»la misère«) und reich (»la splendeur«) in der Beschreibung des Stadtviertels nur eine untergeordnete Rolle.67 Wie an späterer Stelle noch gezeigt wird, dient die Krankheitsmetaphorik im Roman in erster Linie dazu, den moralischen Verfall der Juli-Monarchie anzuprangern. Was nun aber die Titelheldin betrifft, so wird diese von Anfang an mit einer unheilbaren Krankheit in Verbindung gebracht. Denn Lisbeth leidet an Schwindsucht, was ihre Verwandten allerdings nicht wissen, da die Symptome nach außen hin nicht sichtbar werden. Nur der Baron ist über ihren Zustand im Bilde, wie er seinem Schwiegersohn heimlich anvertraut: »[…] elle ne vivra pas longtemps, elle est poitrinaire, je le sais. Ne dites ce secret à personne ; que la pauvre fille meure en paix« (CB, 157). 67

Jeannine Guichardet vertritt die These, dass Balzac hier die Redeweise seiner Romanfiguren parodiert: »Le créateur semble plagier l’une de ses créatures, dont il se gausse par ailleurs : le passementier Rivet, bourgeois de Paris, qui tient, à peu près dans les mêmes termes, des propos semblables sur le même sujet.« Jeannine Guichardet, Balzac: » Archéologue de Paris », Paris: SEDES, 1986, S. 168. Tatsächlich äußert der bürgerliche M. Rivet an einer anderen Stelle des Romans einen ganz ähnlichen Gedanken: »[…] ce trou qui, malgré ma répugnance pour tout ce qui ressemble à de l’Opposition, déshonore, j’ose le dire, oui ! déshonore le Louvre et la place du Carrousel« (CB, 137). Allerdings deutet nichts darauf hin, dass der Erzählerkommentar ironisch zu verstehen ist. Balzacs Erzähler scheint hier schlicht und ergreifend dieselbe Meinung zu vertreten wie der bürgerliche M. Rivet.

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In der Figur der Titelheldin sind Tod und Krankheit also gewissermaßen »keimhaft« angelegt und eine winzige Indiskretion genügt, um diese Disposition hervorbrechen zu lassen. Die Nachricht vom Verrat ihrer Kusine stürzt Lisbeth deshalb in eine schwere Krise: »La physionomie de la Lorraine était devenue terrible. Ses yeux noirs et pénétrants avaient la fixité de ceux des tigres. Sa figure ressemblait à celles que nous supposons aux pythonisses, elle serrait ses dents pour les empêcher de claquer, et une affreuse convulsion faisait trembler ses membres. Elle avait glissé sa main crochue entre son bonnet et ses cheveux pour les empoigner et soutenir sa tête, devenue trop lourde ; elle brûlait ! La fumée de l’incendie qui la ravageait semblait passer par ses rides comme par autant de crevasses labourées par une éruption volcanique. Ce fut un spectacle sublime.« (CB, 127) Balzac spart nicht an melodramatischen Mitteln, um die Bedeutung dieses Moments hervorzuheben. Allein der Vergleich mit diversen Raubtieren (»tigres«, »phytonisses«) unterstreicht Lisbeths wilden, unbändigen Charakter, der urplötzlich in Gewalt umschlagen kann. Die zitternden Gliedmaßen sind physische Symptome ihres heraufbrechenden Zorns. All dies kulminiert in dem Bild einer vulkanischen Eruption, das den Betrachter gleichermaßen faszinieren und entsetzen soll angesichts dieses »sublimen« Naturschauspiels. Lisbeth verliert nun buchstäblich den Boden unter den Füßen. Ihre Wut, metaphorisiert zum glühenden Lavastrom, bricht mit aller Gewalt heraus: »Adeline ! se dit Lisbeth. Oh ! Adeline, tu me le payeras, je te rendrai plus laide que moi !…« (CB, 128). Nicht auf die Tochter und den Geliebten richtet sich ihre Wut, sondern auf die Rivalin aus frühen Kindheitstagen: »Adeline va, comme moi, travailer pour vivre, pensa la cousine Bette. […] Ces jolies doigts sauront donc enfin comme les miens ce que c’est que le travail forcé« (CB, 194). Lisbeth ist so aufgebracht, dass ihre Freundin eine Schüssel voll kaltem Wasser bringen muss, damit sie sich abkühlen kann. Die Szene erinnert an das Ritual einer christlichen Taufe.68 Während sich Lisbeth die glühende Stirn befeuchtet, wiederholt sie gegenüber Valérie noch einmal ihren Schwur. Damit setzt ihre »Transformation« ein, wie es in einer der folgenden Kapitelüberschriften heißt, und Lisbeth verwandelt sich in einen »weiblichen Iago« (CB, 134). Wie ihr literarisches Vorbild aus Shakespears Drama Othello sinnt sie fortan auf Rache und geht dabei genauso listig wie ein Mohikaner (CB, 135) vor.69 Gemeinsam mit Valérie sorgt sie dafür, dass Hulot und sein Schwiegersohn mit der Familie brechen. Die Schulden ihres Mannes zwingen Adeline, sich eine kleinere Wohnung zu nehmen und in Paris wie im »Exil« (CB, 189) zu leben. Währenddessen bezieht Valérie ein neues luxuriöses Apartment, das 68 69

Vgl. Peter von Matt, Die Intrige, a.a.O., S. 416. Auch an dieser Stelle greift Balzac auf populäre Stereotype der damaligen Unterhaltungsliteratur zurück, wie sie zum Beispiel durch die Indianerromane von James Fenimore Cooper verbreitet wurden. Der Einfluss Coopers zeigt sich auch in anderen Romanen des Autors. In Les Chuans (1829) benutzt Balzac durchgängig Vergleiche mit Indianerstämmen, um die Anhänger des bewaffneten Aufstandes der königstreuen Bretagne gegen die Revolutionsregierung zu charakterisieren. Dabei handelt es sich zumeist um Klischees, die er aus der Lektüre von Coopers Indianerroman The Last of the Mohicans (1826) übernimmt. Vgl. hierzu etwa Allan H. Pasco, »Personalizing violence in Balzacs Les Chuans«, in: Nineteenth-Century French Studies 41 (3/4), 2013, S. 191-203.

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sie sich von ihren diversen Liebhabern finanzieren lässt. In den Augen der Familie erscheint Lisbeth derweil als Retterin in der Not, denn sie gibt vor, den zwischenzeitlich untergetauchten Baron zu suchen, obwohl sie über seinen Aufenthaltsort längst Bescheid weiß. Am Ende scheint ihr Plan also aufzugehen: Adeline ist ruiniert und die Familie zerstört. Es ist ihr jedoch nicht vergönnt, den Ausgang der Intrige persönlich zu erleben, da Lisbeth wenig später an den Folgen ihrer Schwindsucht stirbt.

3.2.7

Die neue Atala und der vorauseilende Schatten der Revolution

Wie gezeigt wurde, gewinnt das Erzählte im Laufe der Handlung eine symbolische Bedeutung, die vermittels eines weitgespannten Netzes aus metaphorischen und intertextuellen Verweisen zu einer umfassenden Gesellschaftskritik ausgeweitet wird. Ähnliche Befunde lassen sich auch für andere Romane der Comédie humaine anführen. So hat etwa Vittoria Borsò in ihrer Analyse des Père Goriot nachgewiesen, dass die Metaphorik als textimmanentes Strukturprinzip zusätzliche Bedeutungsprozesse konstituiert, die sich mitunter sogar verselbständigen und autonom werden.70 In dem Maße, wie sich die metaphorischen Bezüge verdichten und zum alleinigen Träger der Textbedeutung werden, schwindet jedoch zugleich die Relevanz der Geschichte. Die Romanfabel dient dann bloß noch als »tragendes Gerüst für die Entfaltung der sich auf der syntagmatischen Achse des Textes progressiv verflechtenden Metaphern«71 . Die Charaktere wiederum erhalten – wie gezeigt wurde – eine allegorische Dimension, da sich in ihnen eine für die postrevolutionäre Epoche insgesamt charakteristische Erfahrung kristallisiert. Eine interessante Interpretation des Romangeschehens liefert diesbezüglich Fredric Jameson, indem er Freuds psychoanalytisches Modell von der dreigliedrigen Struktur der Psyche auf die drei Hauptfiguren des Romans überträgt.72 Hulot steht demnach stellvertretend für das Triebbedürfnis einer unbefriedigten Libido, während Adeline den Triebverzicht einer unterdrückten Sexualität repräsentiert. Dem Lustprinzip des Es, verkörpert durch die erotomanischen Exzesse des Barons, steht mit Adeline ein Realitätsprinzip gegenüber, das für die kritische Bewusstseinsleistung des Ich zuständig ist. Lust- und Realitätsprinzip bilden in Freuds psychoanalytischem Modell ein Paar, da die unbewussten Triebe des ersteren durch die rationale Kontrolle des letzteren permanent an die Anforderungen der sozialen Umwelt angepasst werden müssen. Die Funktion des Über-Ichs bleibt nach dieser Lesart für die Titelheldin reserviert. Lisbeth verkörpert sogesehen das moralische Gewissen des Romans, das heißt die verinnerlichten Forderungen, Gebote und Verbote einer elterlichen Autorität. Aus dem Konflikt zwischen Triebbedürfnis und moralischem Gewissen ergeben sich laut Freud nun aber Schuldgefühle, die, wenn sie verdrängt werden, in Form von Aggressionen neu hervorbrechen können.

70 71 72

Vgl. Vittoria Borsò-Borgarello, Metapher: Erfahrungs- und Erkenntnismittel. Die metaphorische Wirklichkeitskonstruktion im französischen Roman des XIX. Jahrhunderts, Tübingen: Narr, 1985, S. 91ff. Ebd., S. 41. Vgl. Fredric Jameson, »La Cousine Bette and Allegorical Realism«, in: PMLA 86 (2), 1971, S. 241-254.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

Dieser Befund lässt sich sehr gut mit den hier dargelegten Ergebnissen verbinden. Wie gezeigt wurde, stehen die sexuellen Exzesse des Barons für das entfesselte Begehren einer Gesellschaft, die ihr kollektives Gedächtnis und ihre symbolische Vaterfigur verloren hat. Es ist nicht unerheblich, dass auch Lisbeth in weiten Teilen der Erzählung hauptsächlich als Abwesende in Erscheinung tritt. Françoise Gaillard fragt nicht zu Unrecht, ob die Titelheldin überhaupt als Hauptfigur des nach ihr benannten Romans betrachtet werden kann, zumal der Auflösungsprozess der Familie lange vor Beginn der eigentlichen Erzählung einsetzt und Lisbeths Rache diese Entwicklung lediglich beschleunigt, nicht aber auslöst.73 Warum also macht Balzac die Figur der »Bette« zur Titelheldin seines Romans? Die Frage nach der Funktion der Titelheldin führt zum Kern des ›Realismus‹-Problems. Gaillard begreift das Verhältnis von (historischer) Wirklichkeit und (fiktionalem) Text im Sinne einer Homologiestruktur. Balzacs Roman beschreibt den moralischen Verfall der französischen Gesellschaft am Ende der Juli-Monarchie. Die historischen Ursachen dieser Staats- und Gesellschaftskrise werden dabei auf psychologische Motive (Eifersucht, Neid) zurückgeführt, damit der Leser die Entstehung dieser Krise durch die Herleitung des Konfliktes zwischen den Romanfiguren unmittelbar miterleben kann. Lisbeths Intrige gegen die Familie, psychologisch motiviert durch ihre Rivalität mit Adeline, verweist dabei zugleich auf ein verdrängtes Konflikt- und Gewaltpotenzial, das als Latenz der Geschichte in der bürgerlichen Gesellschaft fortbesteht und jederzeit neu hervorbrechen kann.74 Auf einer nicht-figurativen Ebene erzählt der Roman die Geschichte einer Rache, auf einer figurativ-allegorischen Ebene hingegen beschreibt er die Rückkehr des mit Gewalt Verdrängten. Dieses Verdrängte taucht nun am Ende der Erzählung wieder auf, nämlich in Gestalt von Atala Judici. Ihr Vorname spielt auf die gleichnamige Novelle des romantischen Schriftstellers Chateaubriand aus dem Jahr 1801 an. Darin wird die Geschichte von Atala, einer christlich getauften Indianerin, und ihrer unerfüllten Liebe zu dem jungen Indianerkrieger Chactas erzählt. Von der naiven Unschuld der Indianertochter ist bei Balzac nichts mehr übriggeblieben. Die »neue Atala« entspricht kaum noch dem romantischen Bild eines Naturmenschen.75 Eine der letzten Kapitelüberschriften 73

74

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Vgl. Françoise Gaillard, »La stratégie de l’araignée (notes sur le réalisme balzacien)«, in: RossumGuyon, Françoise/van Brederode, Michiel (Hg.), Balzac et les parents pauvres (le cousin Pons, la cousine Bette), Paris: SEDES, 1981, S. 179-187, hier S. 179. Zum Begriff der Latenz siehe etwa Hans-Ulrich Gumbrecht, Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, Berlin: Suhrkamp, 2012; sowie Anselm Haverkamp, Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002. Für eine eher kulturwissenschaftlich ausgerichtete Latenztheorie vgl. Ursula Hennigfeld (Hg.), Lazarus – Kulturgeschichte einer Metapher, Heidelberg: Winter, 2016. Die Vorstellung eines romantischen Naturmenschen, der fernab der zivilisierten Gesellschaft in Einklang mit der Natur lebt, taucht bereits in der Literatur der Aufklärung in Form des »edlen Wilden« (le bon sauvage) auf. Als Topos der Gesellschafts- und Zivilisationskritik lebt dieser Mythos vom Naturmenschen in der Romantik fort. Rousseau, auf den sich Balzac im »Avant-propos« beruft, argumentiert in seinem Discours sur l’origine des inégalités parmi les hommes (1755), der Mensch sei von Natur aus gut und erst die Gesellschaft bringe den Eigennutz hervor. Zum Konzept des »bon sauvage« siehe den Sammelband von Monika Fludernik/Stefan Kaufmann (Hg.), Der Alteritätsdiskurs des ›Edlen Wilden‹: Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos, Würzburg: Ergon, 2002.

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beschreibt sie ironisch als »tout aussi sauvage que l’autre et pas aussi catholique« (CB, 448). Sie lebt als »Wilde« inmitten der französischen Hauptstadt, doch dieser »Naturzustand« ist längst kein Ideal mehr: »C’est une fille tout à fait sauvage !« (CB, 450), entfährt es der Baronin beim Anblick des vollkommen verwahrlosten Mädchens. Auf ihre Frage, ob sie ihren Liebhaber und Gönner, den alten Père Vyder, überhaupt liebe, antwortet die fünfzehnjährige Atala mit der zynischen Bemerkung: »Si je l’aime ? […] Je crois bien, madame ! il me raconte de belles histoires tous les soirs !… Et il m’a donné de belles robes, du linge, un châle. Mais, c’est que je suis nippée comme une princesse, et je ne porte plus de sabots ! Enfin, depuis deux mois, je ne sais plus ce que c’est que d’avoir faim. Je ne mange plus de pommes de terre ! Il m’apporte des bonbons, des pralines ! Oh ! que c’est bon, le chocolat praliné !… Je fais tout ce qu’il veut pour un sac de chocolat !« (CB, 450-451) Adeline, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Elend der Menschen in den unteren sozialen Klassen zu bekämpfen, versucht ihr den Weg zur Tugend aufzuzeigen.76 Entsetzt muss die Baronin feststellen, dass Atala längst keine »innocente créature« (CB, 451) mehr ist, sondern tief im »Sumpf« der Prostitution steckt: »Mon Dieu ! se dit à voix basse la baronne, quel est le monstre qui a pu abuser d’une si complète et si sainte innocence ?« (CB, 451). Zu diesem Zeitpunkt weiß sie freilich nicht, dass es sich bei dem Zuhälter der kleinen Atala um niemand anderes als ihren Ehemann handelt. Der Baron ist mittlerweile von der Bildfläche verschwunden, um sich den Forderungen seiner Gläubiger zu entziehen. Seine alte Gewohnheit hat er indessen immer noch nicht aufgegeben. Nur seine Geldsorgen zwingen ihn, sich bei der Suche nach Mätressen auf Mädchen aus den unteren Gesellschaftsschichten zu beschränken. Auf diese Weise trifft er zunächst die blutjunge Olympe Bijou, ein wahres »Juwel«, und kurz darauf die nicht minder junge Élodie Chardin, die er allerdings gleich wieder fallen lässt »comme on jette un roman lu« (CB, 397), als er die fünfzehnjährige Atala Judici kennenlernt. Mit ihr wächst eine neue Generation von jungen Frauen heran, die sich für ein paar schöne Kleider und Süßigkeiten bereitwillig prostituieren. Möglich ist dies deshalb, weil der Staat einerseits die Augen vor dem Elend der unteren Klassen verschließt und es andererseits zulässt, dass Männer wie Crevel oder Hulot die Not der Mädchen ausnutzen, um ihre eigene Vergnügungssucht zu befriedigen. Josépha Mirah, Jenny Cadine, Valérie Marneffe, Olympe Bijou, Élodie Chardin und Atala Judici sind das zynische Produkt einer Gesellschaft, die sich nach dem »Spektakel« sehnt, wie Adeline im Gespräch mit der Kurtisane Josépha bemerkt: »Vous êtes la victime de la société, qui a besoin de spectacles.« (CB, 389)

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Ihr Versuch, die Menschen der Pariser Elendsviertel im Sinne einer christlichen Moral zur Tugend zu erziehen, erinnert an das Programm zur Moralisierung der Arbeiterklasse in der Frühphase der Industrialisierung. Wie Michel Foucault beschreibt, handelte es sich dabei um eine Strategie der Macht, da man mit Hilfe solcher Programme versuchte, die Arbeiter der Schwerindustrie an einem Ort festzuhalten, um einen raschen Wechsel der Beschäftigten zu vermeiden. Vgl. Michel Foucault, »Le jeu de Michel Foucault« (1977), in: ders., Dits et écrits: 1954-1988, Bd. III: 1976-1979, hg. von Daniel Defert und François Ewald, Paris: Gallimard, 1984, S. 298-329, hier S. 306f.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

Das Versagen des Staates wird auch durch das Verschwinden des Vaters thematisiert. Nachdem sich der Baron aus dem Kreis der Familie zurückgezogen hat, wechselt er mehrfach seine Identität, so dass er unter verschiedenen Anagrammen seines Familiennamens zunächst als Père Thoul, als Père Thorec und schließlich als Père Vyder in Erscheinung tritt. Die schrittweise Verfremdung des Familienamens verweist auf die zunehmende Kluft zwischen dem Baron und der Familie. So ist denn auch die Freude über die Rückkehr des »père prodigue« (CB, 457) am Ende nur von kurzer Dauer. Ein Jahr nach seiner feierlichen Wiederaufnahme in den Kreis der Familie erfährt Adeline, dass ihr geliebter Hector eine Affäre mit der Köchin hat. Dieser letzte Schlag ist selbst für die Leid erprobte Baronin zu viel. Drei Tage später liegt sie im Sterben. Kaum ist die gesetzliche Trauerfrist verstrichen, macht der Baron die bürgerliche Agathe Piquetard in Abwesenheit seiner Kinder zu seiner neuen Ehefrau. Dem scheinbar glücklichen Ausgang des ersten Romanschlusses folgt somit ein zweiter, überaus zynischer Romanschluss, dessen sarkastische Kapitelüberschrift (»Un dénouement atroce, réel et vrai«) zugleich einen Eindruck davon vermittelt, wie pessimistisch Balzac die gesellschaftlichen Entwicklungen seiner eigenen Gegenwart wahrnimmt.77 Für die Titelheldin endet die Erzählung bekanntlich mit einem ambivalenten Ergebnis. Ihr Komplott gegen die Familie ist zwar erfolgreich, aber es ist Lisbeth nicht vergönnt, ihre Rache auszukosten, da sie zuvor an den Folgen ihrer Krankheit stirbt. Der eigentliche »Gewinner« des Romans ist indes ein ganz anderer, nämlich Victorin, der Sohn der Familie Hulot, denn nach dem Tod seines Schwiegervaters erbt er dessen Vermögen. Es wäre jedoch verkehrt, hierin eine Form der poetischen Gerechtigkeit zu sehen. Tatsächlich handelt es sich um einen fragwürdigen Ausgang, da Victorin zur Rettung der Familie einen Pakt mit dem Teufel höchstpersönlich eingeht.78

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Pierre Barbéris vertritt die Ansicht, dass sich Balzacs Einstellung zu den gesellschaftlichen Entwicklungen seit etwa 1844 deutlich verändert habe, was man u.a. an der Kongruenz von Handlungszeit und Veröffentlichungszeitpunkt seiner späten Romane ablesen könne. Laut Barbéris lässt der Zeitpunkt der Abfassung erahnen, ab wann eine neue Realität im Bewusstsein des Schriftstellers Gestalt angenommen habe. Gerade in den späten Erzählungen rücke die eigene Gegenwart zunehmend in den Fokus der Darstellung. Während Balzac die Handlung von Les Paysans (1844) noch in das Jahr 1823 verlegt, d.h. auf den Höhepunkt der Restauration, spielen die beiden Erzählungen La Cousine Bette (1846) und Le Cousin Pons (1847) in den letzten Jahren der JuliMonarchie. Das erzählte Geschehen reicht hier sogar unmittelbar in die historische Gegenwart hinein. Le Cousin Pons erscheint Anfang 1847, der Titelheld Pons stirbt Ende 1845. La Cousine Bette erscheint Ende 1846, im selben Jahr heiratet der Baron Hulot seine frühere Köchin. Zeitpunkt der Handlung und Veröffentlichungsdatum überschneiden sich, die Fiktion steht in direktem Kontakt zur Wirklichkeit. Vgl. Pierre Barbéris, Mythes balzaciens, a.a.O., S. 251. Victorins Schwiegervater und seine Geliebte sterben durch ein Gift des brasilianischen Barons von Montéjanos. Der Brasilianer ist jedoch nur die ausführende Hand in einem Mordkomplott, das Victorin mit Hilfe von Madame de Sainte-Estève geschmiedet hat, um die Hochzeit von Valérie und Crevel zu verhindern. Hinter der dämonischen Frauengestalt, die auch unter dem Namen Madame Nourrisson bekannt ist, verbirgt sich niemand anderes als die Tante von Vautrin (alias Carlos Herrera, alias Jacques Collin), dem ehemaligen Galeerensträfling und späteren Chef der Geheimpolizei, der in verschiedenen Erzählungen der Comédie humaine auftritt. Wenn Victorin den Auftrag zur Ermordung – denn um nichts anderes handelt es sich dabei – seines Schwiegervaters und dessen Konkubine gibt, dann wird dies ein höchst zweifelhaftes Licht auf seinen finalen »Sieg«.

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Auch die vermeintlichen Wohltaten der Verwandten gegenüber Lisbeth erscheinen bei näherer Betrachtung in einem zweifelhaften Licht. Statt sie im eigenen Haus aufzunehmen, bringt man sie in einer schäbigen Mansarde unter. Selbst der Erzähler wertet dieses Verhalten als mindestens taktlos: »Sa cousine offrait-elle de la loger chez elle?« (CB, 58). Überhaupt wird die »arme Verwandte« von ihrer reichen Familie zu keinem Zeitpunkt als autonomes Subjekt und gleichberechtigtes Familienmitglied behandelt. Man nennt sie niemals bei ihrem Namen, sondern gibt ihr Spitznamen wie »Chèvre« oder »Bette«. Man macht sich fortwährend über sie lustig: »On se moquait bien d’elle, mais on n’en rougissait jamais« (CB, 58). Schließlich stiehlt man ihr auch noch das Kostbarste, das sie besitzt, und spricht ihr im selben Atemzug das Recht, zu lieben ab: »Tu ne sais pas ce que c’est que d’aimer« (CB, 64). In den Worten von Adeline schwingt deutlch die Herablassung der »schönen« Tochter gegenüber ihrer »hässlichen« Kusine mit. Hinzu kommt, dass Lisbeth ihren Lebensunterhalt durch Arbeiten verdient. Als Adeline ihr eine monatliche Rente bietet als Prämie dafür, dass sie den lange herbeigesehnten Ehemann für Hortense gefunden hat, erblickt Lisbeth darin zu Recht bloß »le dédain moqueur de la parvenue« (CB, 155). Das einzige Familienmitglied, dem Lisbeth sich in echter Sympathie verbunden fühlt, ist der ältere Bruder des Barons: »Le héros de Forzheim aimait assez la cousine Bette, car il se trouvait entre eux des ressemblances« (CB, 76). Der taube Marschall der napoleonischen Armee, selbst ein glühender Anhänger republikanischer Ideale, schätzt Lisbeth nicht nur wegen ihrer Herkunft, sondern auch wegen ihrer politischen Überzeugung: »Je ne doutais pas de vous«, erklärt er, »vous êtes une vrai républicaine, une fille du peuple« (CB, 352). Wie die kleine Atala stammt auch Lisbeth aus dem ›einfachen‹ Volk und wie die meisten Angehörigen dieser Klasse erfährt sie jeden Tag aufs Neue, was es bedeutet, aufgrund ihrer sozialen Herkunft ausgegrenzt und marginalisiert zu werden.79 Im Roman wird ihre Klassenlage durch den Rückgriff auf eine Natur- und Wildheitsmetaphorik abgeschwächt und relativiert. Lisbeth, »la sauvage Lorraine« (CB, 62), ist wie der mysteriöse Brasilianer, der am Romanende das Schicksal ersetzt, eine »Wilde«. Was die Romanfiguren verbindet, ist ihre Neigung zur Gewalt und ihr schier unermessliches Verlangen nach Rache. Damit verkörpert Lisbeth eine Eigenschaft, die sie zu einer Bedrohung für die nach Ruhe und Stabilität suchende Juli-Monarchie macht. In der Figur 79

Helmut Pfeiffer betont den Umstand, dass es sich bei den Titelhelden der Parents pauvres um »Grenzfiguren« handelt. Dies ist insofern erstaunlich, als solche Grenzfiguren im Hinblick auf das »Projekt einer umfassenden Repräsentation« der Gesellschaft, wie Balzac es im Avant-propos formuliert, allenfalls eine marginale Rolle spielen. Im Typeninventar der Comédie Humaine verkörpern die ›armen Verwandten‹ höchstens »Nischenexistenzen am Rande der gesellschaftlichen Dynamik«. Als Randfiguren können sie gleichwohl den Blick auf Exklusions- und Repressionsmechanismen im Zentrum freigeben. Pfeiffer fragt daher zu Recht, »ob nicht erst die Figuren der Marginalität die Lesbarkeit eines sich in Auflösung befindlichen Zentrums ermöglichen«. Er interpretiert La Cousine Bette als einen Roman über »die mögliche Entfesselung der Energien des peuple, jener gesellschaftlichen Unterschicht, die am Rande der Gesellschaft sich bewegt und diese nun zu bedrohen beginnt. Bettes Marginalität steht exemplarisch für die Marginalität des peuple und die dadurch implizierten Gefahren.« Helmut Pfeiffer, »Balzacs Parasiten: Grenzen der Repräsentation in den Parents pauvres«, in: Wehinger, Brunhilde (Hg.), Konkurrierende Diskurse. Studien zur französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Zu Ehren von Winfried Engler, Stuttgart: Franz Steiner, 1997, S. 239-256, hier S. 241.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

der Titelheldin aktualisiert sich mit Gewalt eine Latenz der Geschichte, die von der bürgerlichen Gesellschaft verdrängt wurde: Lisbeth, die ungestüme »fille du peuple« (CB, 352), wird zu einer Chiffre, zur figura einer drohenden Revolution: »La cousine Bette, la sauvage Lorraine, quelque peu traîtresse, appartenait à cette catégorie de caractères plus communs chez le peuple qu’on ne pense, et qui peut en expliquer la conduite pendant les révolutions« (CB, 62). Ist es ein Zufall, dass Wenceslas im Zuge der polnischen Unabhängigkeitsbewegung als politischer Emigrant nach Paris kommt und dort sofort auf Lisbeth stößt? Lässt sich diese Anspielung auf ein zeitgeschichtliches Ereignis, das bei der konstitutionellen Monarchie durchaus Anlass zur Sorge sein musste, nicht auch als Vorahnung dessen deuten, was mit dem Ausbruch der Revolution von 1848 in Frankreich und den übrigen europäischen Ländern Realität werden sollte? Pierre Barbéris stellt in Mythes balzaciens zwar keinen direkten Bezug zu La Cousine Bette her, wenn er schreibt, dass Balzac in den letzten Jahren seines Lebens von einem »pressentiment d’une catastrophe«80 getrieben wurde. Doch nach der Lektüre des Romans werden die Gründe für diese Vorahnung ersichtlich, zeigt sich doch deutlich, dass Balzacs »arme Verwandte« auf die Gefahr eines drohenden Aufstandes der unteren Gesellschaftsklassen hinweist. Oder mit den Worten Albert Béguins: Sie ist die ungebändigte Kraft des Volkes, vor der sich der bekennende Legitimist Balzac am meisten fürchtet.81

3.3

Groteske Wirklichkeitsverzerrung und die Grenzen des wissenschaftlichen ›Realismus‹: Le Cousin Pons (1847)

3.3.1

Der Romanbeginn und die groteske Gestaltung des Titelhelden

Le Cousin Pons, der zweite Teil von Balzacs spätem Diptychon, verknüpft das Thema des entfesselten Begehrens, wie es in La Cousine Bette beschrieben wird, mit einer Krisendiagnose der französischen Gesellschaft in den letzten Jahren der Juli-Monarchie.82 Den beiden Erzählungen liegt eine spezifische Zeiterfahrung zugrunde, die als Geschichten von Aufstieg und Fall zweier Familien vermittelt wird: Am Ende von La Cousine Bette ist der Niedergang des Adels, personifiziert durch die Figur des erotomanischen Barons Hulot, dessen Eskapaden die Familie unaufhaltsam in den Ruin treiben, besiegelt; am Ende von Le Cousin Pons ist der Aufstieg der bürgerlichen Familie Camusot und ihre Umbenennung in Camusot de Marville abgeschlossen. Die beiden »Zwillingsromane«83

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Pierre Barbéris, Mythes balzaciens, Paris, Armin Colin, 1972, S. 313. »Quant au prolétariat ouvrier, et à la population paysanne, on sait à quel point Balzac les a méconnus. A vrai dire, pour des raisons diverses. […] La vérité est que Balzac avait peur de l’ouvrier et considérait avec effroi la menace des mouvements insurrectionnels. Cette terreur instinctive contredit étrangement les textes presque incendiaires que nous citions tout à l’heure, ou les protestations émus de la Cousine Bette contre la misère de certains quartiers de Paris.« Albert Béguin, Balzac visionnaire, Génève: Skira, 1946, S. 142-143. Vgl. Honoré de Balzac, Le Cousin Pons, Paris: Gallimard (folio classique), 1973. Im Folgenden abgekürzt als CP. In einer Widmung, die Balzac seinen »Zwillingsromanen« anlässlich der Erstveröffentlichung als Buchausgabe voranstellt, bezeichnet er die beiden Episoden der Parents pauvres als eine Studie

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schildern somit – jeweils aus einer entgegengesetzten Richtung – eine historische Entwicklung, die mit dem Sieg des Bürgertums als neuer politischer Herrschaftsklasse endet, wobei diese Entwicklung durch die Namensgebung (Camu-sot) zugleich als Nobilitierung der bürgerlichen »Dummheit« ausgewiesen wird.84 Der Umstand, dass Balzac die zwei Erzählungen der Parents pauvres als eigenständiges Diptychon konzipiert hat, erklärt auch die zahlreichen Parallelen auf der Geschichtsebene. In formaler Hinsicht sticht dagegen zunächst einmal die dreiteilige Komposition ins Auge, die Balzac schon im ersten Teil der Romanserie verwendet.85 Zu den Besonderheiten von Balzacs Erzählweise gehört ferner, dass die Romanexpositionen nahezu genauso viel Raum einnehmen wie die Erzählung selbst. In La Cousine Bette setzt der Bericht der dramatischen Ereignisse nach einem Drittel des Geschehens ein und in Le Cousin Pons nimmt die Exposition sogar die Hälfte des gesamten Textes ein. Rainer Warning hat diese ausgeprägte »Anfangsmarkiertheit« von Balzacs Romanen als Charakteristikum einer Wirklichkeitsmodellierung interpretiert, »in der alles auf Ursprünge zurückgeführt werden kann, in der alles seine Wurzeln hat, die freigelegt werden müssen, soll die Geschichte begreifbar werden.«86 Ziel dieses Verfahrens ist es, die Motive der handelnden Figuren aufzuzeigen und jenen Punkt in der Vergangenheit aufzuspüren, von dem aus sich alles Weitere herleitet und erklärt. Die Exposition fungiert somit als eine Art Ursprungssuche: Während sich die menschlichen Dramen für alle sichtbar an der Oberfläche der gesellschaftlichen Erscheinungen abspielen, liegen die Ursachen dieser Konflikte in der Tiefe der Geschichte verborgen und es ist Aufgabe der Exposition, die Gründe, die zur späteren Katastrophe führen, für den Leser transparent zu machen.87 Die Parallelen zwischen den beiden Erzählungen der Parents pauvres zeigen sich aber nicht nur auf der Ebene der Makrostruktur, sondern auch in der Gestaltung der Romananfänge. Balzac hat die zwei Eingangsszenen seiner Romane nahezu identisch konzi-

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in Duplizität: »Mes deux nouvelles sont donc mises en pendant, comme deux jumeaux de sexe différent. C’est une fantaisie littéraire à laquelle on peut sacrifier une fois, surtout dans un ouvrage où l’on essaie de représenter toutes les formes qui servent de vêtement à la pensée. La plupart des disputes humaines viennent de ce qu’il existe à la fois des savants et des ignorants, constitués de manière à ne jamais voir qu’un seul côté des faits ou des idées ; et chacun de prétendre que la face qu’il a vue est la seule vraie, la seule bonne« (CB, 28). Vgl. Pierre Barbéris, Mythes balzaciens, a.a.O., S. 253. Die Romane beginnen mit einer längeren Exposition, in deren Verlauf die Vorgeschichte der beiden Titelhelden erzählt wird. Im Anschluss daran folgt das eigentliche »Drama«, in dessen Mittelpunkt einmal die Rache der »armen Verwandten« an ihren reichen Angehörigen und das andere Mal die »comédie terrible« (CP, 250) des von seiner bürgerlichen Familie ausgegrenzten Titelhelden steht. Auf den ersten, versöhnlichen Romanschluss folgt in beiden Texten noch ein zweiter, überaus zynischer Romanschluss, der mit dem Tod des Titelhelden Pons bzw. mit dem Verrat des Barons an seiner Ehefrau endet. Rainer Warning, »Chaos und Kosmos«, a.a.O., S. 32. Dieselbe Opposition von Oberflächeneffekten und Tiefenwirkung liegt auch dem Gesellschaftsentwurf des »Avant-propos« zugrunde. Hier wie dort geht die Erforschung der UrsacheWirkungsprinzipien von der Oberfläche der gesellschaftlichen Erscheinungen aus, um sodann in der Tiefe der menschlichen Leidenschaften die eigentliche Ursache für das soziale Chaos in der Gesellschaft ausfindig zu machen.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

piert: La Cousine Bette beginnt mit der Ankunft des bürgerlichen Crevel im Haus des Barons Hulot und der Romananfang von Le Cousin Pons zeigt den Titelhelden Sylvain Pons mit einem Fächer in der Hand auf dem Weg zur Präsidentin Camusot. Vermittelt wird die Szene jeweils aus der Sicht eines Erzählers, der sich als anonymer Spaziergänger auf dem Boulevard ausgibt. Diese Form des Romaneingangs dient in erster Linie als narrative Beglaubigungsstrategie. Indem der Erzähler in die Rolle eines unmittelbar am Geschehen beteiligten Beobachters schlüpft, der das bunte Treiben auf dem Boulevard mit einer »attention analytique« (CP, 26) beobachtet, wird nämlich zugleich die Illusion von Wirklichkeitsnähe simuliert. Der Leser soll glauben, dass sich das Erzählte tatsächlich so zugetragen hat, wie es berichtet wird. Erst gegen Ende der Eingangsszene wechselt der Diskurs der Erzählung in eine auktoriale Erzählperspektive, so dass wir schließlich auch Informationen erhalten, von denen der Erzähler-Flaneur unmöglich Kenntnis haben kann. Über die Identität des Mannes mit dem Fächer erfahren wir derweil zunächst nur wenig. Der Erzähler beschränkt sich ganz auf die Beschreibung seines äußeren Erscheinungsbildes, das bei den anwesenden Passanten auf dem Boulevard für sonderbare Reaktionen sorgt und ihnen ein amüsiertes Lächeln ins Gesicht zaubert. Dieses Lächeln scheint seine Ursache in der ungewöhnlichen Kleidung des alten Mannes zu haben: »Ce vieillard, sec et maigre, portait un spencer couleur noisette sur un habit verdâtre à boutons de métal blanc !… Un homme en spencer, en 1844, c’est, voyez-vous, comme si Napoléon eût dedaigné ressusciter pour deux heures. […] À la vue du spencer, les gens de quarante à cinquante ans revêtaient par la pensée ce monsieur de bottes à revers, d’une culotte de casimir vert-pastiche à nœud de rubans, et se revoyaient dans le costume de leur jeunesse ! Les vieilles femmes se remémoraient leurs conquêtes ! Quant aux jeunes gens, ils se demandaient pourquoi ce vieil Alcibiade avait coupé la queue à son paletot.« (CP, 26-27) Ehe wir den Namen des unbekannten Mannes erfahren, wird dieser von den Passanten gedanklich eingekleidet. Mit seinem Spencer erweckt Pons den Eindruck, als sei Napoleon für kurze Zeit noch einmal höchst persönlich aus dem Grab gestiegen. Die Erinnerung an das Kaiserreich wird dabei vor allem durch die Farbsymbolik wachgerufen: 1796 besetzten französische Truppen unter Führung Napoleons, damals noch General des Direktoriums, die Lombardei mit der Hauptstadt Mailand und gründeten die Transpadanische Republik; das Mailänder Militär trug grün-weiße Uniformen, dieselben Farben also, die auf dem Überrock von Pons’ altmodischer Kleidung zu erkennen sind.88 An die siegreichen Feldzüge des späteren Kaisers erinnert sich im Jahr 1844, dem Zeitpunkt der Erzählung, bloß noch ein kleiner Teil der Bevölkerung. Während die älteren Frauen beim Anblick des Spencers an ihre einstigen »Eroberungen« (»conquêtes«)

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Zu den Farben Grün und Weiß kam im Verlauf des italienischen Einigungsprozesses später noch Rot als dritte Farbe der nationalen Einheit hinzu. Diese Farben sind heute noch immer auf der Trikolore abgebildet. Vgl. Elisabeth Fehrenbach, »Über die Bedeutung der politischen Symbole im Nationalstaat«, in: dies., Politischer Umbruch und gesellschaftliche Bewegung. Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte Frankreichs und Deutschlands im 19. Jahrhundert, hg. von Hans-Werner Hahn und Jürgen Müller, München: Oldenbourg, 1997, S. 295-342, hier S. 321.

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zurückdenken, sehen die Jüngeren darin lediglich ein aus der Mode gekommenes Kleidungsstück. Für den physiognomisch geschulten Blick des Erzählers hingegen hat dieses Detail fast schon einen »valeur archéologique« (CP, 25). Mit seinem altmodischen Spencer lässt Pons noch einmal kurz das Bild des Kaiserreichs auferstehen »sans être par trop caricature« (CP, 26). Für diejenigen, die diese glorreiche Zeit noch »de visu« (CP, 27) miterlebt haben, ist er »la personnification de toute une époque« (CP, 26). Für alle anderen ist er ein lebender Anachronismus, und zwar nicht nur, weil er die überlebte Mode des Empire fortträgt, sondern auch, weil er im Geiste in der Vergangenheit lebt. Der Erzähler bezeichnet ihn deshalb scherzhaft als einen »homme-Empire, comme on dit un meuble-Empire« (CP, 27). Diese Rückwärtsgewandtheit verbindet den Titelhelden mit dem Baron Hulot. Wie dieser hat auch Pons von dem Umstand profitiert, dass persönliche Leistung und Talent im meritokratischen System des Kaiserreichs noch belohnt wurden. Hulot wird für seine Verdienste in der napoleonischen Armee vom Kaiser mit dem Adelstitel ausgezeichnet; Pons wird als junger Mann mit einem staatlichen Stipendium nach Rom geschickt, um Musik zu studieren. Von dort kehrt er zwar ohne Kompositionen, dafür jedoch mit einer Reihe von Gemälden, Statuen und Porzellan im Gepäck nach Paris zurück. Während seines Italienaufenthaltes entwickelt sich Pons zu einem »collectionneur féroce« (CP, 33) mit einer besonderen Leidenschaft »pour tout la magnificence du Travail humain« (CP, 38). Mit den Jahren steigert sich diese Leidenschaft zur regelrechten »Manie« (CP, 37). Auch in dieser Hinsicht ähnelt der Kunstsammler Pons dem Erotomanen Hulot. Beide sind Monomanen, die ihre ganze Lebensenergie in den Dienst einer einzigen Leidenschaft stellen und von dieser vollständig aufgezehrt werden.89 So wie der Baron mit seinen Eskapaden die Familie in den Ruin treibt, so entwickelt sich auch Pons mit den Jahren zum »Fanatiker einer selbstgeschaffenen Religion«90 . Beiden Männern fällt es schwer, sich in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren. Beide stürzen sich zum Ausgleich in ein Laster, das in der an Sünden ohnehin schon nicht zu knappen Juli-Monarchie auf fruchtbaren Boden stößt. Während der eine seiner Wollust folgt,

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Auf den Zusammenhang zwischen Balzacs Energetik-Lehre und den großen »Monomanen« seiner Romane verweist bereits Stefan Zweig: »Er [Balzac] weiß, daß jedes Gefühl erst bedeutsam wird, wenn es in seiner Kraft ungebrochen bleibt, jeder Mensch nur groß, wenn er sich konzentriert in ein Ziel, sich nicht verschleudert, in einzelne Begierden zersplittert, wenn seine Leidenschaft die allen anderen Gefühlen zugedachten Säfte in sich auftrinkt […]. Eine Art Mechanik der Leidenschaften ist das Grundaxiom seiner Energetik: der Glaube, daß jedes Leben eine gleiche Summe von Kraft verausgabe, gleichviel, an welche Illusionen es diese Willensbegehrungen verschwende, gleichviel, ob es sie langsam verzettle in tausend Erregungen, oder sparsam aufbewahre für die jähen heftigen Ekstasen, ob in Verbrennung oder Explosion das Lebensfeuer sich verzehre. […] Für ein Werk, das nur Typen schildern will, die reinen Elemente auflösen, sind solche Monomanen allein wichtig. Flaue Menschen interessieren Balzac nicht, nur solche, die etwas ganz sind, die mit allen Nerven, mit allen Muskeln, mit allen Gedanken an einer Illusion des Lebens hängen, sei es […] an der Liebe, der Kunst, dem Geiz, der Hingebung, der Tapferkeit, der Trägheit, der Politik, der Freundschaft.« Stefan Zweig, Drei Meister: Balzac, Dickens, Dostojewski, 2. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer, 1982, S. 28-29. Ebd., S. 29.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

sucht der andere Zuflucht in der Völlerei.91 Pons’ Leidenschaft für gutes Essen steht derjenigen des Barons für seine Mätressen in nichts nach: »Pons n’osa avouer […] qu’il lui fallait à tout prix un bon dîner à déguster, comme à un homme galant une maîtresse à… lutiner« (CP, 48). Im Fall des Ersteren sind die Exzesse des Magens jedoch vor allem eine Kompensation für seine fehlende Sexualität. Denn anders als dem Baron bleiben Pons »des succès auprès des femmes« (CP, 33) aufgrund seiner abstoßenden Hässlichkeit verwehrt: »Le Célibat fut donc chez lui moins un goût qu’une nécessité. La gourmandise, le péché des moines vertueux, lui tendit le bras ; il s’y précipita comme il s’était précipité dans l’adoration des œuvres d’art et dans son culte pour la musique. La bonne chère et le Bric-à-Brac furent pour lui la monnaie d’une femme.« (CP, 43) Dieses Schicksal teilt er mit der »armen Verwandten« aus dem ersten Teil von Balzacs Spätwerk. Lisbeth und Pons leben in einem unfreiwilligen Zölibat, sie finden aber einen hinreichenden Ersatz für die Entbehrungen der Liebe. Lisbeth gewinnt mit Valérie nicht nur eine Komplizin für die Durchführung ihrer Rache, sondern auch eine gute Freundin. Pons wiederum geht die einzige Ehe ein, die ihm die Gesellschaft gestattet, und »heiratet« (CP, 44) einen Mann. In Wilhelm Schmucke, einem deutschen Pianisten, den Pons zu sich ins Orchester des Boulevardtheaters holt, findet er einen treuen Begleiter, der ihn vor den Angriffen der Verwandten verteidigt und Pons nach dessen Tod sogar noch bis ins Grab folgt. Die beiden Freunde führen einen gemeinsamen Haushalt, genau wie in der gleichnamigen Fabel von La Fontaine, auf die sich der Erzähler an mehreren Stellen des Textes bezieht.92 Sie leben »à la manière des amants« (CP, 47) und ergänzen sich gegenseitig in ihren jeweiligen Vorzügen und Schwächen: »Schmucke était aussi distrait que Pons était attentif. Si Pons était collectionneur, Schmucke était rêveur ; celui-ci étudiait les belles choses morales, comme l’autre sauvait les belles choses matérielles« (CP, 47). Auch die Beziehung zwischen den beiden Frauen beruht auf komplementären Eigenschaften. Lisbeths »mâle et sèche nature« kontrastiert mit der »jolie nature créole« von Valérie Marneffe (CB, 181). In der Konzeption der beiden Titelfiguren und ihrer Begleiter zeigt sich also eine auffallende Ähnlichkeit. Bette und Valérie unterstützen sich »comme deux sœurs« (CB, 127); Pons und Schmucke verhalten sich ihrerseits »comme deux frères« (CP, 45). Parallelen ergeben sich auch hinsichtlich des Erscheinungsbildes. Balzac hat seine Hauptfiguren mit einem überaus grotesken Erscheinungsbild ausgestattet. Lisbeths »affen91

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Man findet in den zwei Episoden der Parents pauvres kaum eine Romanfigur, die nicht eine oder mehrere der sieben Todsünden verkörpert. So steht die Titelheldin Lisbeth für Rachsucht und Jähzorn (ira), Pons verkörpert Maßlosigkeit und Völlerei (gula), der Baron Hulot und der Bankier Fritz Keller frönen der Wollust bzw. der Verschwendung (luxuria), der Bildhauer Wenceslas Steinbock zeichnet sich durch seine Faulheit und Trägheit (acedia) aus, die Haushälterin Madame Cibot und ihre Komplizen Rémonencq, Élie Magus und Fraisier sind von Habgier, Habsucht oder Geiz (avaritia) besessen, und die Repräsentanten des Bürgertums, allen voran der ehemalige Gemischtwarenhändler Crevel, seine Geliebte Valérie Marneffe sowie die Präsidentin Camusot, verkörpern sowohl Hochmut (superbia) als auch Missgunst und Neid (invidia). Jean de La Fontaine, »Les deux Amis«, in: Œuvres complètes, Bd. 1: Fables, contes et nouvelles, hg. von Jean-Pierre Collinet, Paris, Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade), 1991, S. 309-310.

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ähnliches« (CB, 56) Gesicht ist stark behaart und mit Warzen übersät; ihre Gliedmaßen sind überdurchschnittlich groß und verleihen ihr »des qualités d’hommes« (CB, 60). Noch drastischer wirkt die Beschreibung des Musikers Pons, dessen Gesichtszüge vollkommen entstellt sind: »Ce visage percé comme une écumoire, où les trous produisaient des ombres, et refouillé comme un masque romain, démentait toutes les lois de l’anatomie. Le regard n’y sentait point de charpente. Là où le dessin voulait des os, la chair offrait des méplats gélatineux, et là où les figures présentent ordinairement des creux, celle-là se contournait en bosses flasques. Cette face grotesque, écrasée en forme de potiron, attristée par des yeux gris surmontés de deux lignes rouges au lieu de sourcils, était commandée par un nez à la Don Quichotte, comme une plaine est dominée par un bloc erratique.« (CP, 28) Es fällt auf, dass Balzac bei der Beschreibung des Gesichtes auf eine Reihe von Begriffen zurückgreift, die einem ästhetischen Diskurs entlehnt sind. Architektur (»charpente«), Malerei (»dessin«) und Bildhauerei (»figure«) dienen als Bezugssystem für einen Vergleich zwischen den physiognomischen Eigenschaften und den Bildenden Künsten. Die deformierten Gesichtszüge des Musikers Pons scheinen die Gesetze der Harmonie und Klarheit zu dementieren. Die Wangenknochen sind bis zur Unkenntlichkeit gekrümmt (»refouillé«) und erinnern wahlweise an einen Schaumlöffel (»écumoire«) oder an einen Kürbis (»potiron«). Die Wangenknochen bestehen aus einer zähflüssigen, formbaren (»gélatineux«) Masse, wobei das Zusammenspiel aus Erhebungen (»bosses flasques«) und Vertiefungen (»creux«), genau wie das Spiel von Licht und Schatten, einen nahezu plastischen Eindruck erweckt. Die hyperbolische Beschreibung dieses grotesk-entstellten Gesichtes erinnert weniger an das Porträt eines Menschen, sondern vielmehr an ein Landschaftsgemälde, was durch den abschließenden Vergleich der Nase mit einem »erratischen« Felsblock inmitten einer flachen Ebene zusätzlich unterstrichen wird.93 Die Nase ist dabei gleich mehrfach kodiert, denn sie verweist einerseits auf Pons’ feinen Riecher für wohlschmeckende Gerichte und andererseits auf seinen Spürsinn beim Aufstöbern von Kunstgegenständen. Mit dem Instinkt eines Raubtieres, das nach Beute sucht, durchstöbert er in Paris die Boutiquen der Antiquitätenhändler und Trödler nach unentdeckten Schätzen. Die Entschlossenheit, die er dabei an den Tag legt, zeichnet sich auch in seiner Physiognomie ab: »le bonhomme, doué d’une bouche sensuelle à lèvres lippues, montrait en souriant des dents blanches digne d’un requin« (CP, 93

Wie Michail Bachtin gezeigt hat, ist die Deformation des Körpers ein zentrales Kennzeichen der Groteske. Der groteske Körper widersetzt sich durch seine Unfertigkeit und »Nichtabgeschlossenheit« dem Leibeskanon der »offiziellen Kultur«. Während die klassizistische Körperdarstellung nur glatte, ebenmäßige und verschlossene Flächen kennt, zeichnet sich der groteske Leib durch das Fehlen einer strengen Harmonie aus. Gleichzeitig wird den Körperöffnungen und den damit einhergehenden Vorgängen des Essens, Trinkens, Schlafens, Ausscheidens, Körperwuchs, Alterns und der Niederkunft eine besondere Funktion beigemessen. Für die Darstellung des grotesken Körpers sind daher vor allem der Mund, die Ausscheidungs- und Geschlechtsorgane, sowie Bauch und Nase von Bedeutung, wobei letztere zugleich den Phallus vertritt. Vgl. Michail M. Bachtin, »Die groteske Gestalt des Leibes«, in: ders., Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, aus d. Russ. übers. von Alexander Kaempfe, Frankfurt a.M.: Fischer, 1990, S. 15-24, hier S. 20.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

29). Die Erwähnung von Mund, Lippen und Zähnen unterstreicht die groteske Dimension der Figurenzeichnung.94 Dasselbe gilt auch für den abschließenden Tiervergleich mit einem Hai. Wenn es um gutes Essen oder Kunst geht, kann Pons gefährlich werden wie ein Raubtier. Die Beschreibung des grotesken Körperbildes scheint nur bedingt mit dem Anspruch auf ›Realismus‹ kompatibel zu sein. Wie an späterer Stelle noch gezeigt wird, dient das Groteske im Roman jedoch als Ausdrucksmittel, um die Erfahrung einer entfremdeten Wirklichkeit ästhetisch darzustellen. Das Groteske gewinnt dabei zugleich etwas Bedrohliches: Die Darstellung des deformierten Körpers verweist hier gerade nicht auf einen harmonischen Zusammenhang von Leben und Geburt, Tod und Wiedergeburt, wie Michail Bachtin dies für die karnevaleske Lachkultur des Mittelalters und der Renaissance behauptet, sondern auf einen existentiellen Bruch in der Einheit von (innerer) Natur und (äußerer) Gesellschaft.95 Pons, der leidenschaftliche Gourmand, frisst alles in sich hinein, aber er spuckt nichts mehr aus. Seine Völlerei ist das Symbol einer sich selbst verschlingenden Welt, die von maßloser Gier, Wollust und animalischer Triebbefriedigung bestimmt wird.96

3.3.2

Der Parasit als Metapher für Störfunktionen des Sozialen

Der Titelheld ist ein Stimmungsbarometer für den Verfall der Sitten im Übergang vom napoleonischen Kaiserreich zur Restauration und Juli-Monarchie. Seine Position innerhalb der Familie verschlechtert sich, je weiter die Verbürgerlichung der Gesellschaft voranschreitet. Während der Regentschaft Napoleons ist Pons ein willkommener Gast in mehreren angesehenen Häusern. Man schätzt seine Gesellschaft, zumal ihm als Musiker der Ruf eines echten Künstlers vorauseilt. Niemand stört sich an seiner Hässlichkeit, denn Pons gilt in diesen Jahren noch als »homme charmant« (CP, 39). Mit dem Beginn der Restaurationszeit verschlechtert sich seine Lage jedoch allmählich. In den Augen seiner Gastgeber wandelt sich Pons vom »Original« zum »pique-assiette« (CP, 40). Seinen Verwandten werden die Besuche zunehmend lästig; auch weil Pons das ihm 94

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Neben der Nase (als Symbol des Phallus) übernehmen der Mund und die dazugehörigen Verdauungswerkzeuge (Lippen, Zähne) laut Bachtin eine wichtige Funktion im »Körperdrama« des grotesken Leibes. In der Kultur des Karnevals ist der Mund dasjenige Organ, das die Grenze zwischen Außen und Innen überwindet. Er verschlingt alles und gibt gleichzeitig alles Erdenkliche – Schimpfwörter, Flüche, Beleidigungen – von sich. Ebd., S. 17. Zu den grotesken Körperdarstellungen bei Balzac siehe auch Vittoria Borsò, »Körperbilder und Leiberfahrung in der Literatur der Moderne«, in: Genge, Gabriele (Hg.), Sprachformen des Körpers in Kunst und Wissenschaft, Tübingen/Basel: Francke, 2000, S. 147-173, insb. S. 165ff. Nicht zufällig entwickelt der erotomanische Baron Hulot bei der Suche nach Kurtisanen denselben animalischen »Jagdinstinkt« wie Pons bei der Suche nach einem guten Abendessen. So reibt sich der Baron jedes Mal, wenn er eine neue Mätresse kennenlernt, in freudiger Erwartung die Hände – ein deutliches Zeichen dafür, dass Balzac die eigene Wirklichkeit nur mehr mit Hilfe der grotesken Überspitzung zum Ausdruck bringen kann: »Le baron repris par la main griffue de la Volupté, sentit toute sa vie s’échapper par ses yeux. Il oublia tout devant cette sublime créature [Atala Judici]. Il fut comme le chasseur apercevant le gibier : devant un empereur, on le met en joue ! – Et, lui dit Josépha dans l’oreille, c’est garanti neuf, c’est honnête! et pas de pain. Voilà Paris ! J’ai été ça ! – C’est dit, répliqua le vieillard en se levant et se frottant les mains« (CB, 365).

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gewehrte Gastrecht allzu leichtfertig missbraucht: »Pons éprouvait d’ailleurs un certain plaisir à bien vivre aux dépens de la société qui lui demandait, quoi ? de la monnaie de singe« (CP, 40). Er bezahlt die ihm dargebotene Gastfreundschaft mit kleineren Gefälligkeiten und Kommissionen, die er im Gegenzug für opulente Speisen bereitwillig ausführt. Mit den Jahren wird er auf diese Weise zum »espion honnête et innocent détaché d’une famille dans une autre« (CP, 41). Von den Abendgesellschaften seiner Verwandten wird er von nun an immer häufiger ausgeschlossen, so dass sich die Anzahl der Häuser, die Pons das »firmament bourgeois« (CP, 57) seiner Familie nennen kann, mit Beginn der Juli-Monarchie auf drei oder vier Häuser reduziert – und dies nur, wie der Erzähler anmerkt, weil Pons die Bedeutung des Wortes ›Familie‹ sehr weit auslegt.97 Von den Verwandten wird er zwar weiterhin geduldet, doch insgeheim macht man sich über ihn lustig und akzeptiert ihn »comme on accepte un impôt« (CP, 41). Da Pons inzwischen als »Parasit« gilt, schweigt er bei Tisch, um das letzte ihm verbliebene Gastrecht im Haus der Familie Camusot nicht auch noch zu verlieren. Für die Konzeption seiner Titelfigur als Parasiten hat sich Balzac an einem berühmten literarischen Vorbild orientiert, nämlich an Diderots Erzählung Le Neveu de Rameau.98 Die Anspielung auf Diderot kann dem zeitgenössischen Publikum kaum entgangen sein, zumal die Erzählung erst 1821, d.h. posthum, in Form einer Rückübersetzung aus dem Deutschen erschienen war.99 André Lorant weist außerdem darauf hin, dass sich die Figur des Parasiten zu jener Zeit überaus großer Beliebtheit erfreute, wovon nicht zuletzt auch ihre häufige Präsenz auf den Theaterbühnen des Boulevard-

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Pons ist ein »cousin germain« der verstorbenen ersten Frau des Präsidenten Camusot, einer gewissen »demoiselle Pons«, die ihrerseits die Alleinerbin der beiden Brüder Pons ist, ehemaligen Hofstickern des Königs, deren Firma im Jahr 1815 von dem bürgerlichen Monsieur Rivet aufgekauft wird (CP, 56). Der Baron Hulot verschafft Lisbeth im Jahr 1809 eine Anstellung als Näherin bei den Brüdern Pons. Die zwei Erzählungen der Parents pauvres sind also nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich durch die Nähe ihrer zwei Titelhelden miteinander verknüpft. Der anonyme Ich-Erzähler dieses Dialogstücks trifft eines Abends im Café de la Régence auf den Neffen des berühmten Komponisten Jean-Philippe Rameau, ein den Parisern wohl vertrautes »Original«. Rameau ist nicht nur Musiker wie Pons; die beiden Männer teilen auch ihre Vorliebe für gutes Essen und sind daher ständig auf der Suche nach einer reich gedeckten Tafel. Beide verschaffen sich dank eines losen Verwandtschaftsverhältnisses Zutritt zu mehreren angesehenen Häusern. Ihre Position als Schmarotzer zwingt sie jedoch gleichermaßen zu eiserner Diskretion. Genau wie Pons die ihm dargebotenen Speisen wortlos in sich hineinschlingt, verzichtet auch Rameau darauf, sich an den Tischgesprächen zu beteiligen. Vgl. Diderot, Le Neveu de Rameau, in: ders., Contes et romans, hg. von Michel Delon, Paris: Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade), 2004, S. 583-665, hier S. 586. Allerdings ist die Figur des Parasiten sehr viel älter. Sie taucht bereits in der griechisch-römischen Komödie auf, z.B. in Lukians Dialogstück Der Parasit oder in dem Theaterstück Curculio (dt. Der Mehlwurm) des römischen Dichters Plautus. Das lateinische Wort parasitus ist ebenfalls ein Lehnwort aus dem Griechischen und bezeichnet einen Tischgenossen, der sich bei reichen Mitbürgern eine kostenlose Mahlzeit erschmeichelt. Der Begriff enthielt also bereits in der Antike seine heute gebräuchliche pejorative Bedeutung. Vgl. Andrea Antonsen-Resch, Von Gnathon zu Saturio. Die Parasitenfigur und das Verhältnis der römischen Komödie zur griechischen, Berlin/New York: de Gruyter, 2004, S. 3f.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

theaters zeugt.100 Im Kontext von Balzacs Roman, so meine These, erfüllt die Figur des Parasiten derweil noch eine andere Funktion: Der Parasit verweist auf Fehlfunktionen eines Systems oder Organismus und kann darum als Metapher für die gestörten Sozialbeziehungen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft interpretiert werden. Untermauern lässt sich diese These, wenn man die Überlegungen des französischen Philosophen Michel Serres zu Rate zieht, die dieser in seinem Buch Le Parasite anstellt.101 Serres beschreibt den Parasiten als einen eingeschlossenen und ausgeschlossenen Dritten, der das Sozialgefüge einer Gemeinschaft durcheinanderbringt und damit Reaktionen auslöst, die letztlich dazu führen, dass ein bestehender »Systemzustand« verändert wird. Soziale Beziehungen sind nach Serres grundsätzlich der Gefahr einer parasitären »Störung« ausgesetzt. Allerdings ist der Parasit für ihn nicht bloß ein Nutznießer, der von anderen nimmt, ohne etwas zurückzugeben, denn er bezahlt die ihm angebotenen Speisen mit seinen Worten und seiner Unterhaltungskunst.102 Anfangs beruht das Verhältnis zwischen dem Wirt und seinem Parasiten auf einer symbiotischen Beziehung. Mit der Zeit droht daraus allerdings ein Verhältnis der Ausbeutung zu werden.103 Wird diese Ausbeutung entdeckt, beginnt der Wirt, das parasitäre Organ abzustoßen, um so die ursprüngliche »Reinheit« des Organismus wiederherzustellen. Eine solche Abwehrreaktion vollzieht auch die Familie Camusot im Roman. Solange Pons am Tisch sitzt, schlingt er die Speisen schweigend in sich hinein. Doch sein be100 André Lorant erwähnt neben Diderots Le Neveu de Rameau noch weitere Quellen, die Balzac für die Figur des Parasiten als Vorbild gedient haben könnten. Unter anderem nennt er das Theaterstück L’Ami de tout le monde (1808) von Louis Benôit Picard, eine Prosakomödie in zwei Akten, in der eine Figur namens Mondoux auftritt, die ganz ähnliche Charaktereigenschaften aufweist wie der Protagonist aus Diderots Erzählung. Zu den Parasiten, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die französischen Theaterbühnen bevölkerten, zählen auch die Figur des M. Fringale aus dem Einakter Le Gastronome sans argent (1821) von A. E. Scribe/Brulay und die Figur des M. Pique-assiette aus der gleichnamigen Vaudeville-Komödie (1824) von Dartois/Gabriel. Letztere kann Balzac möglicherweise als direktes Vorbild für seinen Roman gedient haben, immerhin trägt der Musiker Pons denselben Spitznamen wie die Figur aus dem Theaterstück. Vgl. André Lorant, Les parent pauvres d’Honoré de Balzac. La Cousine Bette – Le Cousin Pons: Étude historique et critique, Genève: Droz, 1967, Bd. 1, S. 252. 101 Vgl. Michel Serres, Le Parasite, Paris: Fayard/Pluriel, 2014. 102 »À table d’hôte, il s’efforce de plaire, il est invité dans ce but et dans cet esprit. Le climat convivial est changé par ses gestes, son bégaiement et sa grimace ; il fait rire ; il prend, il donne, il reprend, il oriente la parole, il communique à l’assemblée un petit frisson chaleureux, celui qui nous assure que nous sommes ensemble. Sans lui, le festin n’est qu’un repas froid. Son rôle est d’animer l’ambiance […]. Son rôle est sociétaire et, par là, théâtral.« Ebd., S. 341. 103 Ein solches Ausbeutungsverhältnis beschreibt Serres anhand der Parabel vom Blinden, der einen Lahmen auf seinen Schultern trägt. Jeder der beiden besitzt etwas, das dem anderen fehlt. Doch die Symbiose dauert nur so lange wie die »Flitterwochen«, denn schnell beginnt der Parasit, das heißt der Lahme, das Regiment zu übernehmen: »L’aveugle donne du solide, la force, le transport, une puissance calculable en calories, et produite par tel ou tel mets, du repas. Que donne, en échange, le cul-de-jatte […]? Il dit, et voilà tout. Il annonce l’obstacle, il veille, il propose la direction. Juché sur les épaules d’une force noire, il la clarifie, l’illumine. Bientôt, il faut dire qu’il la dirige, qu’il lui donne des ordres. Après tout, il n’a pas proposé à l’aveugle un autre contrat que le pacte parasitaire. Car il paie en information, en énergie d’échelle microscopique. Il donne des mots contre de la force, oui, de la voix, du vent, contre une substance solide. Pis encore, il prend le pouvoir, il gouverne.« Ebd., S. 71-72.

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ständiges Kauen überdeckt die Gespräche und wird zu einer Störung, zu einem »Rauschen«104 im Kanal, das den Informationsaustausch bei Tisch behindert. Die Familie fühlt sich durch die Anwesenheit des Störenfrieds belästigt und versucht ihn so schnell wie möglich loszuwerden. Dieser erkennt die Gefahr und ergreift eiligst Gegenmaßnahmen, um seiner Vertreibung aus dem Paradies vorzubeugen. Zu Beginn des Romans überreicht Pons der Präsidentin Camusot einen kostbaren Watteau-Fächer, der früher einmal Madame Pompadour höchstpersönlich gehört haben soll. Auf diese Weise hofft er, das Wohlwollen seiner Gastgeberin erkaufen zu können. Diese weiß mit dem Geschenk jedoch nichts anzufangen, da sie weder den symbolischen noch den ästhetischen Wert des Fächers erkennt. Daher wird Pons am Ende der Eingangsszene unter dem spöttischen Gelächter des Dienstpersonals aus dem Haus gejagt. Die Vertreibung des Parasiten gleicht einem Akt der Reinigung, durch den sich die Familie von ihrem unliebsamen »Mitesser« befreit.105 Zwar bietet sich Pons wenig später die Gelegenheit, sein Gastrecht zurückzugewinnen, indem er der Familie einen vielversprechenden Ehemann für Cécile, die Tochter der Familie Camusot, präsentiert. Doch die Hochzeitspläne erweisen sich als ein Luftschloss – die ironische Kapitelüberschrift dieser Episode lautet »Châteaux en Espagne« (CP, 136) – und Pons wird erneut aus dem Haus gejagt. Damit kehrt an der Tischgesellschaft zwar wieder Ruhe ein. Dafür treten nun aber neue Parasiten auf den Plan, die es auf Pons’ wertvolle Kunstsammlung

104 Serres macht sich in seinem Buch die drei verschiedenen Bedeutungen des Wortes parasite zu Nutze. Im Französischen bezeichnet der Begriff sowohl einen Organismus, der sich im Körper eines fremden Wirtes einnistet und schmarotzt, als auch – im übertragenen Sinne – einen Gast, der die ihm angebotene Gastfreundschaft missbraucht. In seiner dritten Bedeutung bezieht sich der Begriff auf physikalische Störgeräusche, die bei der Kommunikationsübertragung in einem Kanal (z.B. im Radio oder beim Telefonieren) auftreten. Vgl. ebd., S. 25. 105 Auf einen solchen Akt der Reinigung führt Serres die Entstehung des Privateigentums zurück. Er beruft sich dabei auf die etymologische Verwandtschaft von frz. propriété (dt. ›Eigentum‹) und proprété (dt. ›Sauberkeit‹), die auch heute noch in der doppelten Bedeutung von französisch propre (dt. ›eigen‹ und ›sauber‹) fortbesteht. Die Geschichte des Eigentumsrechts beginnt nach Serres mit der Vertreibung eines Dritten, nämlich dem Parasiten. Er illustriert dies an einer einfachen Geschichte: Der Parasit, beispielsweise ein Hase, schmarotzt an den Erträgen eines Gärtners, beispielsweise einem Salat, und hinterlässt eine Spur der Verwüstung. Der Gärtner reagiert auf die Verschmutzung seines Gartens, indem er einen Zaun baut, um den Eindringling fernzuhalten. Umgekehrt kann man sich fremdes Eigentum dadurch aneignen, dass man es beschmutzt. Wer einem anderen in die Suppe spuckt, kann sicher sein, dass dieser ihm seine Mahlzeit überlassen wird. Am besten hält man sich Parasiten dadurch vom Leib, wie Serres (in ironischer Verfremdung eines Rousseau-Zitats) bemerkt, dass man den eigenen Kot auf dem Grundstück verteilt: »Ceux qui voient partout du public manquent d’odorat, voilà tout. Dès que vous le souillez, cependant, il est vôtre. Ainsi le sale est-il le propre, et tout est dit. Le premier qui, ayant conchié un terrain, s’avisa de dire : ceci est à moi, trouva tout aussitôt des gens assez dégoûtés pour le croire. Ils s’écartèrent de chez lui, sans guerre ni traité.« Ebd., S. 257.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

abgesehen haben.106 Interessanterweise kehrt sich das Verhältnis von Wirt und Parasit genau in dem Moment um, als die Familie von der Kunstsammlung ihres »armen Verwandten« erfährt. Pons selbst liefert den entscheidenden Impuls dafür, indem er seine Kusine und deren Tochter zu sich nach Hause einlädt, um sein privates Museum zu besichtigen. Die Besichtigung dient freilich nur als Vorwand für ein Treffen mit Fritz Brunner, der zu diesem Zeitpunkt noch als aussichtsreicher Kandidat für eine Ehe mit Cécile gilt. Vor dem Besuch wird die Wohnung von Pons und Schmucke einer gründlichen Reinung unterzogen, während Cécile gleichzeitig von ihrer Mutter für die anstehende Besichtigung herausgeputzt wird. Die Simultaneität der Ereignisse unterstreicht die Bedeutung dieses Moments.107 Während des Besuches haben die beiden Frauen nur Augen für den potenziellen Schwiegersohn und würdigen die kostbaren Vasen, Gemälde und Skulpturen ihres Verwandten keines Blickes. Brunner hingegen erkennt sofort den Wert der Sammlung und unterbreitet Pons beim Verlassen des Museums ein Angebot. Zufällig wird er dabei von Rémonencq belauscht, der dadurch von der Existenz der Kunstsammlung erfährt. Damit wird eine verhängnisvolle Dynamik in Gang gesetzt, denn kaum sind die Besucher verschwunden, dringen von überall her Parasiten in die Wohnung der beiden Freunde ein. Rémonencq berichtet der Haushälterin Madame Cibot von dem Gespräch und gemeinsam beschließen sie, den Kunstsammler Élie Magus zu Rate zu ziehen. Durch die Vermittlung eines Arztes wird schließlich noch der Rechtsanwalt Fraisier in die Verschwörung eingeweiht. Dieser bietet seine Dienste umgehend der Präsidentin an, wodurch die Intrige weiter an Komplexität gewinnt. Fraisier bleibt jedoch der eigentliche Strippenzieher, der im Hintergrund die Fäden zieht und dabei wesentlich geschickter vorgeht als das verbrecherische Trio aus der Rue de Normandie. Nicht zufällig wird er im Laufe der Erzählung mehrfach mit einer »Spinne« in einem Netz verglichen.108 Hier zeigt sich darüber hinaus ein wesentlicher Unterschied zwischen den 106 Hier zeigt sich eine weitere Parallele zwischen den zwei Romanen. Ausgangspunkt der Erzählung ist in beiden Fällen ein Geschenk. Pons überreicht der Präsidentin Camusot einen wertvollen Fächer; Lisbeth präsentiert ihrer Kusine eine kostbare Schatulle, die sie von ihrem Geliebten, dem polnischen Bildhauer Wenceslas Steinbock bekommen hat. Sowohl Lisbeth als auch Pons halten ihr Geheimnis vor den Augen der Familie verborgen. In dem Moment aber, wo die Verwandten davon erfahren, beginnt die Jagd auf ihren »Schatz« (CP, 36). 107 Dasselbe Verfahren verwendet Balzac auch in La Cousine Bette. Dabei handelt es sich um eine Schlüsselszene des Romans, die den Ausgangspunkt für den späteren Konflikt bildet. Nachdem Hortense von der Existenz des angeblichen Geliebten ihrer Kusine erfahren hat, macht sie sich am nächsten Morgen mit ihrem Vater auf den Weg zu einer Kunstgalerie, um den Namen jenes Künstlers in Erfahrung zu bringen, der die Schatulle ihrer Kusine angefertigt hat. Während Hortense im Inneren der Boutique auf den Bildhauer Wenceslas Steinbock wartet, macht sich ihr Vater, der Baron, draußen vor der Tür an die Eroberung von Valérie Marneffe. Die Simultaneität der beiden Ereignisse unterstreicht nicht nur die Parallele im Verhalten von Vater und Tochter; sie markiert auch jenen Punkt in der Geschichte, an dem die Erzählung irreversibel den Weg ihrer eigenen Katastrophe einschlägt. Durch die Simultaneität der Ereignisse werden der »Diebstahl« der Tochter und der Ehebruch des Vaters metonymisch miteinander verknüpft. Gleichzeitig wird auf diese Weise ein enger Nexus zwischen dem Bereich der Kunst und demjenigen der Liebe bzw. zwischen dem Bereich der Ökonomie und demjenigen der Ehe hergestellt. 108 »La portière [Mme Cibot], entrée dans ce cabinet, comme une mouche se jette dans une toile d’araignée, devait y rester, liée, entortillée, et servir de pâture à l’ambition de ce petit homme de loi«

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Parasiten der unteren Gesellschaftsklassen und denjenigen der höheren Gesellschaft: Während die einen ihr Opfer direkt attackieren, lassen die anderen einen Stellvertreter für sich arbeiten, was weniger Aufwand und Energie erfordert. Gleichzeitig bleibt die Familie unsichtbar und kann auf indirekte Art und Weise am Eigentum ihres Verwandten schmarotzen.109 Mit dem Beginn des »Dramas« kehrt sich das ursprüngliche Verhältnis von Parasit und Wirt somit um und parallel dazu breitet sich die parasitäre Logik in allen Gesellschaftsklassen aus. Interessant ist dabei auch die Symmetrie zwischen den zwei Teilen der Erzählung. In der Eingangsszene trägt Pons einen ausgefransten Seidenhut, der aussieht, als wäre er von der »Lepra« (CP, 28) befallen. Dasselbe Bild taucht später im Zusammenhang mit dem Rechtsanwalt Fraisier auf, dessen Haus ebenfalls Spuren der »Lepra« (CP, 252) aufweist. Es liegt nahe, dies als Metapher für den zunehmenden Befall des sozialen Organismus durch Parasiten zu verstehen. Verstärkt wird diese Krankheitsmetaphorik zudem durch eine Reihe weiterer bedeutungsstiftender Verfahren, die in der Beschreibung des Rechtsanwaltes und seines Hauses zum Einsatz kommen. Als Madame Cibot den Anwalt in dessen Kanzlei aufsucht, um sich mit ihm über das weitere Vorgehen zu besprechen, erwartet sie im Treppenhaus ein Geruch von Salpeter und Feuchtigkeit. Auf den Stufen sammelt sich der Schmutz und an den Wänden hat ein Spaßvogel obszöne Zeichnungen hinterlassen. Das Treppengeländer ist von Fettspuren übersät, die von den Fingerabdrücken der Hausinsassen stammen, und an der Decke zeichnen sich sonderbare Flecken (»des arabesques«) ab, die durch ein Leck im Abwasserkanal verursacht wurden. Vor dem Eingang zur Wohnung nimmt der pestilenzialische Gestank noch einmal zu. Die Tür selbst ist mit Gitterstäben versehen und erinnert an ein Gefängnistor »du plus vilain caractère« (CP, 254-255). Der Eindruck von Krankheit wird hier vor allem durch die sinnliche Dimension der Beschreibung evoziert. Nahezu alle Sinneseindrücke werden angesprochen: neben dem visuellen Eindruck (Flecken auf Wand und Decke) dominieren haptische (Fettspuren) und olfaktorische (Fäulnisgeruch) Signale. Als die Besucherin die Türglocke betätigt, ertönt ein schrilles Läuten, das in auffälliger Weise mit der »voix flûtée« (CP, 257) des Rechtsanwalts harmoniert. Vor dem Auftritt des diabolischen Fraisier erscheint jedoch zunächst ein »cerbère femelle« (CP, 256) in Gestalt der nicht minder schrecklichen Madame Sauvage. Wie die Namensgebung zu erkennen gibt, ist die Beschreibung des Hauses und seiner Bewohner alles andere als ›realistisch‹, sofern man darunter die möglichst ›objektive‹ Darstellung eines sozialen Lebensraumes oder Milieus versteht. Die Beschreibung zielt allein darauf ab, die Gegenstände und Personen mit metaphorischer Bedeutung aufzuladen, um mit der

(CP, 269). – »La bonne de Fraisier [Mme Sauvage] avait déjà reçu le mot d’ordre. Elle avait promis de tramer une toile en fil de fer autour des deux musiciens, et de veiller sur eux comme l’araignée veille sur une mouche prise« (CP, 384). 109 »Il y a deux parasitages. Le premier, plus direct, quoique très astucieux et retors, le second, plus médiat, thématise la relation, la complique, l’élève aux relations de relations. Comme si on inventait là le para-parasite, comme si on décalait le décalage, comme si on s’écartait encore de l’écart. Ruse première, et ruse de la ruse, cela bientôt n’en finira pas. Faire d’abord, puis faire faire. De la main à la voix, de l’aveugle au paralytique, le redoublement passe au logiciel.« Michel Serres, Le Parasite, a.a.O., S. 154-155.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

sinnlichen Wahrnehmungsebene zugleich den Eindruck moralischer Korrumpiertheit zu vermitteln.110 Die Logik des Parasiten verbreitet sich im weiteren Verlauf der Handlung nun aber selbst wie eine Epidemie. Sie infiziert sowohl die unteren Gesellschaftsklassen als auch die höhere Gesellschaft. Nach der Unterredung mit Madame Cibot macht sich der Rechtsanwalt – frisch herausgeputzt und neu eingekleidet – auf den Weg zur Präsidentin Camusot, um ihr seine Dienste bei der Anfechtung des Testaments anzubieten. Derweil dringen die Parasiten aus dem Marais in die Wohnung des Musikers ein, verursachen dabei aber so viel Krach, dass sie den schlafenden Pons aufwecken. Die Szene erinnert an La Fontaines Fabel von der Stadtratte und der Landratte.111 Wie der Wirt in der Fabel wird auch Pons durch ein Geräusch im Nachbarzimmer aufgeschreckt. Als er aufsteht, um nachzusehen, ergreifen die Parasiten schnell die Flucht. Kaum hat er sich zurückgezogen, kehren sie erneut zurück, dieses Mal jedoch in Begleitung des Rechtsanwaltes, der mittlerweile die Regie in der Verschwörung übernommen hat. Zwar kann der Wirt die Eindringlinge ein weiteres Mal vertreiben, doch diese ändern nun ihre Strategie und erklären Pons für verrückt. Das Gesetz ist in der Tat die schärfste Waffe, die den Komplizen zur Verfügung steht. Mit dem Mittel des Rechts fechten der Rechtsanwalt und seine Mandantin später das Testament des verstorbenen Musikers an. Schmucke, der Ausländer ist, versteht weder etwas von dem Kauderwelsch der Haushälterin noch von den juristischen Erklärungen, die ihm der Gerichtsvollzieher vorliest: »pour [lui] ces paroles étaient du grec« (CP, 424). Die Sprache des Rechts ist für ihn lediglich ein »Rauschen«, das ihn in seiner Trauer über den Verlust des Freundes stört. Für die mächtigen Verwandten hingegen ist das Gesetz ein Mittel, um Parasiten von sich fernzuhalten. In der Möglichkeit, das Rauschen zu kanalisieren, liegt laut Serres der Ursprung für die Zentralisierung der Macht.112 Allerdings lässt sich das Rauschen niemals dauerhaft verdrängen. Auch im 110

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Auf diesen Umstand verweist etwa schon Erich Auerbach in seiner Analyse der Eingangsszene desPère Goriot (1838), wenn er schreibt, dass es Balzac in erster Linie darum gehe, eine »sinnlich-sittliche Atmosphäre« zu evozieren: »In seinem ganzen Werk hat Balzac […] die Milieus, und zwar die verschiedensten, als organische, ja dämonische Einheit empfunden und diese Empfindung auf den Leser zu übertragen versucht […]: jeder Lebensraum wird ihm zu einer sinnlich-sittlichen Atmosphäre, welche Landschaft, Möbel, Gerät, Kleidung, Charakter, Umgang, Gesinnung, Tätigkeit und Geschick der Menschen durchtränkt, wobei die allgemeine zeitgeschichtliche Lage wiederum als alle ihre einzelnen Lebensräume umfassende Gesamtatmosphäre erscheint.« Wenn Auerbach diese Atmosphäre als »dämonisch« bezeichnet, dann deshalb, weil sie sich nicht rational erfassen lässt. Das Dämonische durchdringt alle Dinge und Personen, ohne dass man seiner habhaft würde. Die Beschreibung der Pension Vauquer und ihrer Bewohner lasse »keinen systematischen Plan« und »keine Spur von Komposition« erkennen. Auerbach beobachtet eine gewisse »Ordnungslosigkeit« und »rationale Nachlässigkeit des Textes«, die man nicht allein auf die Hast zurückführen könne, mit der Balzac geschrieben habe, sondern die »eine Folge seiner eigenen Besessenheit von suggestiven Bildern« sei. Vgl. Erich Auerbach, Mimesis, a.a.O., S. 440f. und S. 439. Vgl. Jean de La Fontaine, »Le rat de ville et le rat des champs«, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 1: Fables, contes et nouvelles, hg. von Jean-Pierre Collinet, Paris, Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade), 1991, S. 42-43. »Le pouvoir n’est qu’une variété de tintamarre. Oui, bien sûr, c’est là l’origine des supports de discours. Voici la variété des langues, les accents qui marbrent la carte. Ici les étrangers ne comprennent rien, les signaux ne sont pour eux que parasites. Le signal propre est bruit pour un tiers, celui-

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Roman versinkt die erzählte Welt im Lärm der Parasiten. Überall herrschen unreine Klänge, störende Geräusche und missklingende Töne. Madame Cibot terrorisiert die beiden Freunde mit ihren endlosen Wortkaskaden; Pons ist wie benommen und versucht vergeblich, die Haushälterin zum Schweigen zu bringen. Rémonencq spricht ein solches »Kauderwelsch« (CP, 193), dass sich der Erzähler schon nach wenigen Kapiteln genötigt sieht, den Dialekt des Auvergnaten »pour la clarté du récit« (CP, 193) zu übersetzen. Die Parasiten dringen sogar bis in die Sprache selbst ein, schieben sich zwischen die Vokale und stören auf diese Weise die Verständigung: »[…] madame Cibot prodiguait les N dans son langage. Elle disait à son mari : ›Tu n’es n’un amour !‹Pourquoi ? Autant vaudrait demander la raison de son indifférence en matière de religion« (CP, 84). Einen ähnlichen Sprachfehler besitzt auch Mme Poulain, die Mutter des Mediziners, »car la bonne femme parlait en S comme madame Cibot parlait en N« (CP, 236). Das parasitäre Rauschen, das den Raum der Erzählung befällt und bis in die Sprache der Figuren vordringt, ist das Symptom einer im Chaos versinkenden Welt.113

3.3.3

Die Vertreibung des Parasiten und seine Stigmatisierung zum Sündenbock

Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, sind die Sozialbeziehungen zwischen den Romanfiguren ständig der Gefahr einer parasitären Störung ausgesetzt. Diese Störung, so meine These, kann als Indiz dafür gelesen werden, dass Balzac die Krise der Juli-Monarchie – wenige Jahre vor der Revolution von 1848 – auf einen zunehmenden Ordnungsverlust von Staat und Gesellschaft zurückführt. Gleichwohl steht die Familie am Romanende gefestigter da als zuvor. Möglich ist dies nur, weil die bürgerliche Gesellschaft ihre eigenen Ausgrenzungsmechanismen verschleiert, um davon abzulenken, dass sie den Parasiten als notwendigen Bestandteil ihrer Ordnung selbst hervorbringt. In diesem Sinne lassen sich auch die intertextuellen Anspielungen auf Molières Komödie Tartuffe deuten.114 Hier wie dort ist es die allgemeine Hypokrise der Gesellschaft, die es den jeweiligen Figuren erschwert, die Heuchelei der Betrüger zu durchschauen; und wie in Molières Komödie konstituiert sich auch die Familie Camusot nach der Vertreibung ihres Schmarotzers neu. Der Ausgeschlossene wird zum Erneuerer der Ordnung, nur vollzieht sich diese Erneuerung nicht ohne Gewalt. Der Titelheld von Balzacs Roman erfährt im Laufe der Erzählung eine Stigmatisierung, wie sie der französische Kulturanthropologe René Girard in seiner Theorie des Sündenbocks beschreibt.115 Nach Girard versuchen menschliche Gemeinschaften eine Gewalteskalation innerhalb der Gruppe dadurch zu verhindern, dass sie die kollektive Gewalt auf einen Stellvertreter richten. Er beschreibt drei »Stereotype der Verfol-

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ci est exclu. Oui, bien sûr, c’est là l’origine du point central, de la centralisation du pouvoir.« Michel Serres, Le parasite, a.a.O., S. 252. »Au commencement est le bruit, le bruit ne cesse pas. Il est notre aperception du chaos, notre appréhension du désordre, notre seul lien à la distribution éparse des choses.« Ebd., S. 228. Vgl. Molière, Le Tartuffe, in: Œuvres complètes, hg. von Georges Couton, Bd. 1 Paris: Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade), 1971, S. 896-984. Vgl. René Girard, Le bouc émissaire, Paris: Grasset, 1982.

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gung«116 , die seiner Ansicht nach immer dort auftauchen, wo ein Sündenbock stellvertretend für die Gemeinschaft verfolgt und geopfert wird. Ihm zufolge ereignen sich solche Verfolgungen überwiegend in Krisenzeiten (erstes Stereotyp). Ausgelöst werden diese Krisen durch ein Gefühl des Verlustes, durch die Aufhebung aller Differenzen, die eine kulturelle Ordnung definieren. Als Reaktion auf diese Krise imaginiert die Gemeinschaft eine Anschuldigung, die sie auf eine Gruppe oder einen Einzelnen projiziert (zweites Stereotyp). Die beschuldigten Personen werden eines »entdifferenzierenden Verbrechens« angeklagt, um so die »Entdifferenzierung des Sozialen« mit ihnen in Verbindung bringen zu können. Oftmals handelt es sich dabei um Sexualverbrechen (z.B. Inzest, Vergewaltigung), religiöse Verbrechen (z.B. Hostienschändung) oder Verbrechen von besonderer Perfidie (z.B. das Sabbat-Motiv bei den Hexenjagden im Mittelalter oder die Gift-Thematik im Zusammenhang mit Judenverfolgungen). Auf diese Weise legitimiert die Gemeinschaft die gewaltsame Verfolgung des Sündenbockes. Die Verfolgten tragen zudem Zeichen der Opferselektion, die sie aus Sicht ihrer Verfolger als Opfer ausweisen (drittes Stereotyp). Dazu zählt beispielsweise die Zugehörigkeit zu ethnischen und religiösen Minderheiten (z.B. Juden, Ausländer) oder körperliche Anomalien (z.B. Behinderungen). Die Opferzeichen markieren eine Differenz, die den Verfolgern als Vorwand für die Gewaltanwendung dient. In Wirklichkeit werden die Opfer aber nicht wegen ihrer Andersartigkeit verfolgt, wie Girard erklärt, sondern weil sie sich nicht in dem Maße unterscheiden, wie es von ihnen erwartet wird. All diese Merkmale der Verfolgung lassen sich auch in Balzacs Roman nachweisen. Die Vertreibung des Titelhelden aus dem Haus seiner reichen Verwandten ähnelt auffällig genau dem von Girard beschriebenen Schema des Sündenbock-Mechanismus. Als Pons zu Beginn des Romans im Haus seiner Verwandten eintrifft, befindet sich die Familie in einer misslichen Lage, da weit und breit kein passender Ehemann für Cécile zu finden ist und soeben erst eine vielversprechende Verlobung aufgelöst wurde, wie die Präsidentin ihrem Gast berichtet: »[…] on vient de nous dire que ce jeune homme avait fait la folie de partir pour l’Italie, à la suite d’une duchesse du Bal Mabille. C’est un refus déguisé. On ne veut pas nous donner un jeune homme dont la mère est morte, et qui jouit déjà de trente mille francs de rente, en attendant la fortune du père. Aussi, devez-vous nous pardonner notre mauvaise humeur, cher cousin ; vous êtes arrivé en pleine crise.« (CP, 77) Das Ansehen der Familie ist bedroht, nachdem der junge Mann mit einer Gräfin die Flucht ergriffen hat. Das erste Stereotyp der Verfolgung ist somit erfüllt, wenngleich die »Krise« der Familie Camusot vor allem ökonomischer Natur ist, da mit dem Ende der Verlobung zugleich die Aussicht auf ein stattliches Vermögen zunichte gemacht wurde. Dem Titelhelden bietet sich später ganz unverhofft die Möglichkeit, die Ordnung wiederherzustellen und sich dabei zugleich als Retter der Familie darzustellen. Am Boulevardtheater macht Pons die Bekanntschaft von Fritz Brunner, einem Deutschen, der gleichfalls auf der Suche nach einer passenden Verbindung ist und alle notwendigen Voraussetzungen für eine Ehe mitbringt. Zwar ist er nicht besonders attraktiv, dafür aber sehr vermögend und als Ausländer verfügt er obendrein über den Nimbus des 116

Ebd., S. 23ff.

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Exotischen. Als Pons ihn der Familie vorstellt, ist Brunner gerade im Begriff, sich als Bankier in Paris niederzulassen. Cécile ist sofort begeistert von dem jungen »Werther« (CP, 137) und malt sich eine Zukunft mit Kutsche und eigener Loge in der Oper aus (»oh ! maman, j’aurai voiture et loge aux Italiens«). Pons arrangiert ein erstes Treffen in seinem Museum, beide Seiten bekunden Interesse an einem »programme d’alliance« (CP, 123) und schließlich veranstaltet die Familie ein pompöses Abendessen, um den »phénix des gendres« (CP, 139) der Öffentlichkeit zu präsentieren. Pons darf sich zu diesem Zeitpunkt große Hoffnungen machen, dass er in Zukunft weiterhin umsonst an der gedeckten Tafel seiner Verwandten speisen kann. Die Familie ist ihm zu Dank verpflichtet und stellt Pons eine lebenslange Rente als »Finderlohn« in Aussicht. Seiner »Naturalisierung« als echtem Familienmitglied steht somit nichts im Weg. Doch dann macht Brunner plötzlich einen Rückzieher und stürzt die Familie damit abermals in eine schwere Krise. Brunner schlägt die Verlobung mit der Begründung aus, dass Cécile Einzelkind sei. Der Erzähler betreibt einigen Aufwand, um diese unerwartete Wendung aus der Vorgeschichte des Deutschen zu motivieren. Brunner, so erfahren wir, wurde von einer bösen Stiefmutter erzogen, die einen Großteil des Familienvermögens verprasst und so den jungen Fritz zu einem verschwenderischen Leben angestiftet hat. Der Vater gibt dem Sohn die Schuld an seinem Unglück und verstößt ihn. Diese Erfahrung veranlasst Brunner, eine Allianz mit der Familie auszuschlagen, da er befürchtet, dass Cécile in ihrer Eigenschaft als »fille unique« (CP, 145) verwöhnt sei und gleichfalls zur Verschwendung neige.117 Obwohl Pons für das Scheitern der Ehe keine Schuld trägt, wird er persönlich dafür verantwortlich gemacht. Die Präsidentin unterstellt ihm, die Hochzeitspläne absichtlich sabotiert zu haben: »Monsieur […] a voulu répondre à une innocente plaisanterie par une injure« (CP, 146). Pons wird zum »monstre d’ingratitude« (CP, 147) erklärt und aus dem Haus gejagt. Damit ist auch das zweite Merkmal des Sündenbock-Mechanismus erfüllt. Die Familie versucht den drohenden Gesichtsverslust abzuwenden, indem sie alle Schuld auf Pons ablädt. Würden die wahren Gründe für das Scheitern der Verlobung publik, würde die Familie zum Gespött der Gesellschaft. Nach Girard bildet die Krise der Entdifferenzierung, das heißt die Auflösung der Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, die Voraussetzung für die Opferselektion. Die Suche nach einem Sündenbock zielt darauf ab, die Nivellierung dieser Unterscheidung wieder rückgängig zu machen. Nach demselben Muster erfolgt auch die Vertreibung des Titelhelden aus dem Haus seiner reichen Verwandten. Das eigentliche »Verbrechen«, dessen sich Pons schuldig gemacht hat, besteht darin, dass

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Der Aufwand, den der Erzähler betreibt, um das spätere Scheitern der Ehe zu motivieren, steht in keinem Verhältnis zur Notwendigkeit und hat darüber hinaus einen misogynen Beigeschmack. Folgt man der Kette von kausalen Ursachen, die zur Vertreibung des Verwandten führen, bis an den Ursprung zurück, so steht dort der Mythos von der bösen Stiefmutter. Balzac ist regelrecht besessen von der Idee der tyrannischen Mutter. Im Roman wimmelt es nur so von Frauen, die ihrer Mutterrolle nicht gerecht werden. Mme Cibot etwa hat – ähnlich wie Lisbeth – zwar durchaus eine mütterliche Seite und »adoptiert« die beiden Männer, als Pons und Schmucke in die Wohnung in der Rue de Normandie einziehen. Doch aus der fürsorglichen Mutter wird später eine echte Furie: »Moi, la Nature m’a bâtie pour être la rivale de la Maternité« (CP, 245), sagt sie über sich selbst.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

er versucht hat, die Differenz zwischen sich und den Anderen aufzuheben. Pons erliegt dem Irrtum, dass er durch eine gute Tat die Aufnahme in die Familie erlangen könnte. Er verhält sich nicht wie ein Fremder, der er ja streng genommen ist, sondern wie ein gleichberechtigtes Familienmitglied. Die Aufhebung der Differenz gleicht einer Hybris, die sanktioniert werden muss und den sofortigen Ausschluss aus der Gemeinschaft nach sich zieht. Nun erst beginnt die eigentliche Stigmatisierung zum »Sündenbock«, denn binnen weniger Tage hat sich die »Monstrosität« seines Verbrechens herumgesprochen: »En quelques semaines, les familles réunies des Popinot, des Camusot et leurs adhérents avaient remporté dans le monde un triomphe facile, car personne n’y prit la défense du misérable Pons, du parasite, du sournois, de l’avare, du faux bonhomme enseveli sous le mépris, regardé comme une vipère réchauffée au sein des familles, comme un homme d’une méchanceté rare, un saltimbanque dangereux qu’on devait oublier.« (CP, 151) Durch die hyperbolische Aufzählung von Schuldzuweisungen kann der Leser mitverfolgen, wie die Lüge der Präsidentin zur neuen Wahrheit wird. Der Mythos ist ganz im Sinne der Verfolger verzerrt und überdeckt die effektive Gewalt, die über Pons hereinbricht. Der Roman selbst wiederum durchkreuzt die Schuldzuweisung, indem er den Titelhelden zu einer Art Christus-Figur erhebt: Einen Monat nach seiner Vertreibung aus dem Haus der Familie verlässt Pons erstmals die Wohnung, um in Begleitung seines Freundes spazieren zu gehen. Auf dem Boulevard begegnen ihnen mehrere Bekannte, die Pons drei Mal in Folge ignorieren. Die Episode erinnert an die dreimalige Verleugnung des Petrus (Mk 14, 27-31) im Neuen Testament. Für Pons ist es zudem – ähnlich wie für Jesus, der am Abend vor seiner Verhaftung ein letztes Mal zum Ölberg geht, um dort zu beten – der letzte Spaziergang, bevor seine eigene Passionsgeschichte beginnt. Zu Hause angekommen fällt Pons todkrank ins Bett und muss ohnmächtig mitansehen, wie nun von allen Seiten um sein Testament gerungen wird. Auch das dritte Merkmal des von Girard beschriebenen Sündenbock-Mechanismus, die Präsenz von Opferzeichen, findet seine Entsprechung im Roman. In den Augen seiner Verwandten ist Pons ein Ungeheuer und das »Verbrechen«, dessen er sich schuldig gemacht hat, ist so untrennbar mit seinem Wesen verbunden, dass seine »Schuld« von vornherein feststeht. Im Rückblick erscheint darum auch seine körperliche Missbildung als ein Zeichen seiner Opferselektion, ganz so als hätte sein »monströses« Äußeres immer schon eine geheime Affinität zur moralischen »Monstrosität« seiner Person bezeugt. Tatsächlich ist das »Monströse« von Anfang an in der Person des Titelhelden angelegt: »Pons était monstre-né ; son père et sa mère l’avaient obtenu dans leur vieillesse, et il portait les stigmates de cette naissance hors de saison sur son teint cadavéreux qui semblait avoir été contracté dans le bocal d’esprit-de-vin où la science conserve certains fœtus extraordinaires.« (CP, 43) Pons ist das Produkt einer außergewöhnlich späten Zeugung und als solches ist er von Geburt an »stigmatisiert«, denn er trägt die Zeichen dieser »naissance hors de saison« für alle sichtbar auf dem Körper. In den Augen seiner Mitmenschen erscheint die kör-

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Wirklichkeit im Wandel

perliche Missbildung, die Pons von Anfang an begleitet, als ein Indiz seiner Heimtücke und Bösartigkeit. Nach dem Abendessen, als die Familie ihn öffentlich zum Sündenbock erklärt, wird Pons bloß noch als »Ungeheuer« bezeichnet.118 Einmal in die Welt gesetzt, verbreitet sich die Verleumdung wie ein Lauffeuer. Nicht nur die Romanfiguren übernehmen die stigmatisierende Wortwahl, wann immer es ihnen danach ist.119 Auch der Erzähler gebraucht sie an einer anderen Stelle des Romans, nämlich im Zusammenhang mit dem Eisenwarenhändler Rémonencq.

3.3.4

Das ›Monströse‹ und die Entstehung eines kapitalistischen Ausbeutungssystem

In gewisser Weise verkörpert Rémonencq das pervertierte Gegenstück zu Pons und dem jüdischen Kunstsammler Élie Magus.120 Er repräsentiert den Typus des erfolgreichen »brocanteur« (CP, 165), der sich nicht für die Kunst an sich interessiert, sondern darin lediglich ein wertvolles Spekulationsobjekt sieht. Auf den ersten Blick gibt es durchaus Parallelen zwischen ihm und dem Titelhelden: Pons beginnt seine Karriere als Sammler auf dem Höhepunkt des Empire. Im Jahr 1810 kehrt er von seinem Italien-Aufenthalt 118

Monsieur Cardot wiederholt gegenüber Schmucke dieselben Worte, die zuvor bereits die Präsidentin verwendet hatte: »Vous avez pour ami un monstre d’ingratitude« (CP, 154). Die Haushälterin Mme Cibot macht sich die Worte der Präsidentin ebenfalls zu eigen: »vous êtes un monstre d’ingratitude« (CP, 312). Auch Fraisier greift diese Formulierung später auf: »Votre malade se dit innocent, mais le monde le regarde comme un monstre« (CP, 265). Nach der Lektüre des falschen Testaments wiederholt er den Vorwurf erneut: »Votre monsieur est un monstre, il donne tout au Musée, à l’État« (CP, 367-368). 119 Im weiteren Verlauf der Handlung greifen sowohl Täter als auch Opfer auf diese Formulierung zurück. Pons zu Schmucke: »La Cibot est un monstre, elle me tue !« (CP, 336); Schmucke zu Mme Cibot: »Fus êdes un monsdre ! fus afez essayé te duer mon pon Bons« (CP, 370); die Präsidentin Camusot zu Fraisier: »Mais cette mégère [Mme Cibot] est un monstre !« (CP, 305); Mme Cibot zu Rémonencq: »vous êtes un monstre de me parler de ces choses-là…« (CP, 374); Mme Sauvage über Schmucke: »Mais c’est un monstre d’ingratitude« (CP, 402); Topinard zu Schmucke: »[…] vous avez enrichi des monstres, des gens qui veulent vous ravir l’honneur« (CP, 450-451). 120 Mit der Figur des Kunstsammlers beschreibt Balzac ein neuartiges Phänomen der damaligen Zeit. Staatliche Museen gibt es in den 1840er Jahren noch nicht. Dafür wird das Sammeln von Kunstobjekten zur Zeit der Juli-Monarchie zu einer regelrechten Mode. Es entstehen Zeitschriften wie Le Cabinet de l’Amateur et de l’Antiquaire, die einem interessierten Publikum das notwendige Fachwissen über Stilarten und Kunstrichtungen vermitteln. Es finden öffentliche Versteigerungen statt und in Paris eröffnen zahlreiche Boutiquen und Antiquariate, die sich auf den Verkauf von Kunstgegenständen spezialisieren. Selbst die Bourgeoisie beginnt die Mode des Kunstsammelns zu imitieren. Vgl. Pierre-Marc de Biasi, »La collection Pons comme figure du problématique«, in: Rossum-Guyon, Françoise van/Brederode, Michiel van (Hg.), Balzac et les Parents pauvres (Le Cousin Pons, la Cousine Bette), Paris: SEDES, 1981, S. 61-73, hier S. 67ff. Man kann annehmen, dass Balzac diese Entwicklung sehr genau verfolgt hat. In einem Brief an Madame Hanska vom 6. Dezember 1846 schreibt er drei Monate vor der Veröffentlichung seines Romans: »Tu ne te fais pas idée à quel degré de rage les bric-à-brac sont recherchés ; la bourgeoisie s’en mêle, et, quand cette puissance à trente mille têtes fond sur quelque chose, elle l’enlève ; elle balaie tout. Tous les objets de curiosité sont triplés de valeur depuis quelques mois.« Zit. nach: Honoré de Balzac, Lettres à Madame Hanska, Bd. 3: août 1845 – mars 1847, hg. von Roger Pierrot, Paris: Les Bibliophiles de l’Original, 1969, S. 517-521, hier S. 518.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

nach Paris zurück, im Gepäck hat er eine Reihe von Gemälden und anderen Kunstgegenständen. Fortan durchstöbert er die Boutiquen und Antiquariate nach seltenen Kunstwerken, kauft dabei aber nichts, was teurer ist als hundert Francs (CP, 35). Mit den Jahren baut er sich so eine stattliche Sammlung auf, wobei er die weniger wertvollen Stücke regelmäßig gegen noch erlesenere Gegenstände austauscht: »Depuis que les deux amis vivaient ensemble, Schmucke avait vu Pons changeant sept fois d’horloge en en troquant toujours une inférieure contre une plus belle« (CP, 92). Rémonencq dagegen entwickelt ein etwas anderes System der »progression croissante des valeurs« (CP, 165). Seine Karriere als Sammler beginnt unmittelbar nach der Juli-Revolution. Im Jahr 1831 eröffnet er in Paris eine Boutique für Trödelware. Anfangs kauft er vor allem Gebrauchsgegenstände wie defekte Klingeln, gesprungene Teller, abgetane Waagen, Alteisen oder Schrott. Später ergänzt er seinen Bestand um Küchengeschirr, Öllampen und Weißblech. Es folgen Bilderrahmen, Kupfer und Porzellan und ab dem dritten Jahr beginnt Rémonencq schließlich auch mit Standuhren, Armaturen und Gemälden zu handeln: »Bientôt la boutique, un moment changée en Crouteum, passe au muséum. Enfin, un jour, le vitrage poudreux s’est éclairci, l’intérieur est restauré, l’Auvergnat quitte le velours et les vestes, il porte des redingotes ! on l’aperçoit comme un dragon gardant son trésor ; il est entouré de chefs-d’œuvre, il est devenu fin connaisseur, il a décuplé ses capitaux et ne se laisse plus prendre à aucune ruse, il sait les tours du métier. Le monstre est là, comme une vieille au milieu de vingt jeunes filles qu’elle offre au public. La beauté, les miracles de l’art sont indifférents à cet homme à la fois fin et grossier qui calcule ses bénéfices et rudoie les ignorants. Devenu comédien, il joue l’attachement à ses toiles, à ses marqueteries, ou il feint la gêne, ou il suppose des prix d’acquisition, il offre de montrer des bordereaux de ventre. C’est un Protée, il est dans la même heure Jocrisse, Janot, queue rouge, ou Mondor, ou Harpagon, ou Nicodème.« (CP, 165-166) Aus dem ehemaligen »brocanteur« ist mit den Jahren ein »fin connaisseur« geworden. Seine Metamorphose, symbolisch angedeutet durch das Ablegen der alten Kleidung, an deren Stelle ein neuer Gehrock tritt, vollzieht sich parallel zu der Verwandlung der Boutique in ein Museum. Den Übergang bildet das »Crouteum«, ein sonderbares Mischwesen, das aus der monströsen Vereinigung heterogenster Gegenstände hervorgeht.121 Es 121

Es handelt sich wohl um eine Wortschöpfung Balzacs. Der Begriff »Crouteum« setzt sich zusammen aus frz. croûte und museum. Das Substantiv croûte (dt. ›Kruste‹, ›Rinde‹, ›Schicht‹) bezeichnete ursprünglich eine Verkrustung des Blutes oder die harte Rinde eines gebackenen Brotes. Die medizinische Bedeutung wurde später auf die Geologie übertragen, wo der Begriff nun mehr für Sedimentablagerungen der oberen Gesteinsschichten verwendet wurde. Seit dem 18. Jahrhundert ist das Wort außerdem als Synonym für ein besonders schlecht gemaltes Gemälde gebräuchlich, offenbar in Anspielung auf eine unbedacht und grob aufgetragene Farbschicht auf der Leinwand. In dieser übertragenen Bedeutung war der Begriff im 19. Jahrhundert vor allem im Künstlerjargon weit verbreitet. Vgl. Alain Rey (Hg.), Dictionnaire de la langue française, Bd. 1, Paris: Le Robert, 1998, S. 609. Das Wort croûte in der Bedeutung von »tableau douteux, copie qu’on voudrait faire passer pour un original« bzw. »vieux tableau noirci et gercé par le temps« ist seit dem 18. Jahrhundert verbürgt. Ebenfalls seit dem 18. Jahrhundert verbürgt ist die Verwendung von croûtier in der Bedeutung von »brocanteur qui vend de mauvais tableaux«. Daraus leitete sich später die Bedeutung »peintre qui ne fait que des crôutes« ab, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein verwendet wurde. Vgl. Walter von Wartburg, Französisches Etymologisches Wörterbuch, Bd. 2, Basel 1946, S. 1371. Ety-

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ist weder Museum noch Boutique, sondern steht irgendwo dazwischen, was auch syntaktisch durch die Mittelstellung des Nomens angedeutet wird. Rémonencq verfolgt in seiner Boutique indessen ein ganz anderes System der Warenzirkulation als Pons in seinem Museum. Während es Pons allein um den ästhetischen Genuss geht, bedeutet Rémonencq die Kunst recht wenig. Für Fragen von Schönheit (»la beauté«) und künstlerischer Perfektion (»les miracles de l’art«) interessiert er sich nicht. Ihm geht es allein um den Profit (»qui calcule les bénéfices«), den er mit seiner Ware erzielen kann. Darum hortet er in seinem Museum alles, was einen finanziellen Gewinn verspricht. Zwar ersetzt auch Pons von Zeit zu Zeit einzelne Stücke seiner Sammlung, doch wechselt er dabei niemals die Kategorie. Er tauscht Standuhr gegen Standuhr. Rémonencq hingegen verfährt nach der Logik des kapitalistischen Tauschwerts.122 Entscheidend ist für ihn dabei allein der »Mehrwert«, den eine Ware im Austausch gegen eine andere Ware erzielen kann. Im kapitalistischen Tauschwarensystem ist das Geld ein universelles Tauschmedium, mit dessen Hilfe sich jeder beliebige Wert (z.B. Schönheit) problemlos in einen anderen Wert (z.B. Preis) konvertieren lässt. Ein solcher Prozess der Konversion lässt sich auch an der Titelfigur selbst ablesen. Während des Empire ist Pons ein »Original«,

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mologisch verwandt ist das Substantiv croûte darüber hinaus mit dem französischen Wort crotte (dt. ›Schmutz‹, ›Kot‹), das wiederum in einer semantischen Nähe zu dem französischen Adjektiv grotesque steht, das sich aus dem italienischen Wort grotta (dt. ›Höhle‹, ›Kaverne‹) ableitet. In dem Kompositum »Crouteum« schwingt somit ein Teil der Begriffsgeschichte des Wortes ›grotesque‹ mit. Dabei handelt es sich um ein Lehnwort aus dem Italienischen, das ursprünglich eine bestimmte Art von Ornamentik bezeichnete, die man am Ende des 15. Jahrhunderts bei archäologischen Ausgrabungen an den Wänden unterirdischer Grotten (frz. ›grotte‹) in der Nähe von Rom entdeckte. Vgl. Wolfgang Kayser, Das Groteske: seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, Oldenburg: Stalling, 1961, S. 20ff. Man kann nur spekulieren, ob Balzac die Herkunft des Wortes bekannt war. Einige Indizien legen die Vermutung nahe, dass er in seinem Roman die Etymologie des Begriffs mit der Figur seines Titelhelden verwebt. Pons ist ein »grand prix de Rome« (CP, 31). Für den Erzähler besitzt er einen »valeur archéologique« (CP, 25). Seiner Kusine schenkt Pons einen Fächer, der in der Kapitelüberschrift als »Une bonne trouvaille« (CP, 66) umschrieben wird. Als Sammler betreibt Pons selbst eine Art von »Archäologie« (CP, 112), indem er in Vergessenheit geratene Kunstwerke ans Tageslicht befördert. Franc Schuerewegen attestiert dem Roman eine heimliche »Komplizenschaft« mit dem kapitalistischen Tauschwarensystem. Für den Erzähler gebe es nichts, so Schuerewegen, was nicht auf irgendeine Art und Weise mit Bedeutung aufgeladen werden könne. Selbst das kleinste Detail, so unbedeutend es auch scheinen mag, erhalte durch den totalisierenden Zugriff des Erzählers einen »Mehrwert«, da es sofort mit einer zusätzlichen Bedeutung aufgeladen werde. Der Spencer des Titelhelden beispielsweise ist nicht nur ein Kleidungsstück, sondern ein Symbol des Kaiserreiches. Im Laufe der Eingangsszene verwandelt er sich jedoch – dank der hermeneutischen Kompetenz des Erzählers – in »une de ces énormités à crever les yeux« (CP, 26). Auf diese Weise werde das narrative Detail deformiert, wie Schuerewegen erklärt, da es verschiedene symbolische Bedeutungen in sich aufnehmen müsse: »Le ›détail‹ devient ›énormité‹, il vaut plus, grâce à une pratique de la récupération rapportant une plus-value signifiante. L’effritement de la symbolisation antagonique se poursuit donc au niveau du récit même ; tout se passe comme si l’écriture, involontairement, avouait sa complicité avec une démarche marchande vis-à-vis de laquelle elle veut pourtant garder ses distances. Le texte balzacien trahit-il son ancrage dans les mécanismes de l’échange ?« Franc Schuerewegen, »Muséum ou Croutéum ? Pons, Bouvard, Pécuchet et la collection«, in: Romantisme 55, 1987, S. 41-54, hier S. 49.

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in der Restaurationszeit wandelt er sich zum »Parasiten« und in der Juli-Monarchie wird er zum »Monster«; mit der Entdeckung seines Schatzes gewinnt Pons wieder an »Wert« und am Romanende ist er erneut ein »Original«. Sein Ansehen innerhalb der Familie schwankt je nach »Saison«, möchte man meinen, genauso wie die Wechselkurse des Geldes, die politischen Meinungen des Bürgertums oder die Bedeutung der Wörter.123 Im System des Tauschwerts werden die Dinge beliebig austauschbar (konvertierbar) und verlieren damit ihren festen Wert. Die Bourgeoisie tauscht Jacke gegen Gehrock, Geld gegen Titel, Steuern gegen Macht usw. Diese Austauschbarkeit zeigt sich auch in der Beliebigkeit der Vergleichsobjekte, die in der oben zitierten Textpassage aufgelistet werden. Hinter der Aufzählung von Namen steckt keine Systematik. Es tauchen mythologische Götterfiguren (»C’est un Protée«) auf, genauso wie literarische Figuren (»Harpagon«), biblische Gestalten (»Nicodème«) oder Figuren des Volkstheaters (»Jocrisse«, »Janot«, »queue rouge«, »Mondor«). Im Fall der letzteren zeigt sich die allgemeine Konvertierbarkeit der Bezeichnungen auch darin, dass es sich um wiederkehrende Figuren des vaudeville handelt, die in unterschiedlichen Rollen auftreten konnten und hauptsächlich zur Belustigung des Publikums eingesetzt wurden.124 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die Erwähnung der antiken Proteus-Figur. Im Mythos besitzt Proteus, der erste und älteste unter den Göttern, die Fähigkeit zur Metamorphose. Diese Fähigkeit macht aus ihm »sprichwörtlich eine Figur der Unfestigkeit der Erscheinung, der unbegrenzten Wandlungsfähigkeit«125 . An die Stelle der antiken Götterfiguren, so meine These, ist bei Balzac das Geld getreten. Wie Proteus, der uralte Meeresgott, der aus der Tiefe des Ozeans kommt, wo alle Unterschiede verschwimmen, kann auch das Geld jede beliebige Gestalt annehmen. Es verwandelt alles, Menschen und Dinge, in eine Ware und bringt auf diese Weise moderne Ungeheuer wie das »Crouteum« hervor (»Le monstre est là«). Monströs ist das »Crouteum« vor allem deshalb, weil es aus Elementen besteht, die an und für sich nichts miteinander gemein haben. Genauso wie in der antiken Vorstellung der Minotaurus eine Mischung aus Mensch und Tier ist, werden auch im »Crouteum« alle möglichen Dinge – alltägliche Gebrauchsgegenstände und künstlerische Artefakte – verschmolzen. Der 123

Dem allgemeinen Sittenverfall der Gesellschaft entspricht ein Verfall der Sprache, wie der Erzähler in einem längeren Exkurs über die Entwürdigung der Wörter (»l’avissement des mots«) zu Beginn des zweiten Romanteils beklagt. Aus dem Anwalt werde ein »homme de loi«, aus dem Schriftsteller ein »homme de lettres« und jeder noch so einfältige Krämer bezeichne sich heute als »Monsieur« (CP, 250). Es fällt schwer, aus dieser spitzen Bemerkung des Erzählers nicht zugleich die politischen Ansichten des überzeugten Royalisten Balzac herauszuhören. Bekanntlich hegte der Autor tiefe Skepsis gegenüber dem allgemeinen Wahlrecht, das die Bürger seiner Ansicht nach zwar formal gleich mache, aber letztlich nichts anderes sei als eine »Tyrannei« der großen Masse: »L’élection, étendue à tout«, heißt es im Avant-propos, »nous donne le gouvernement par les masses, le seul qui ne soit pas responsable, et où la tyrannie est sans bornes, car elle s’appelle la loi« (AP, 17). 124 Dazu passt auch der Umstand, dass sich die serienmäßig produzierten Stücke des vaudeville durch ihre Nähe zur Regierung des Bürgerkönigs Louis-Philippe auszeichneten. Lothar Matthes vertritt die Ansicht, dass der vaudeville zur Zeit der Juli-Monarchie »eine wichtige Funktion in der Vermittlung epochentypischer Werte des juste milieu nicht zuletzt an subbürgerliche Rezipientengruppen besaß.« Lothar Matthes, Vaudeville. Untersuchungen zu Geschichte und literatursystematischem Ort einer Erfolgsgattung, Heidelberg: Winter 1983, S. 173-174. 125 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1979, S. 150.

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Übergang zum Monströsen liegt dort, wo Kunst zu einem Spekulationsobjekt und das Schöne zu einer Ware mit einem Preis wird, was letztlich nichts anderes bedeutet, als den eigentlichen »Wert« der Kunst zu prostituieren (»comme une veille au milieu de vingt jeunes filles qu’elle offre au public«). Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Anfänge von Rémonencqs Karriere unmittelbar mit dem Beginn der Juli-Monarchie zusammenfallen, als die siegreich aus der Revolution von 1830 hervorgegangene Bourgeoisie ihren Herrschaftsanspruch konsolidiert. Unter der Regentschaft des »Bürgerkönigs« Louis-Philippe setzt in Frankreich eine Frühphase der Industrialisierung ein, die mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes in den 1840er Jahren ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Zeitgleich erreicht auch die Spekulation mit Wertpapieren neue Dimensionen, da für die Erweiterung des Streckennetzes zusätzliches Kapital vonnöten war, das sich die Eisenbahngesellschaften von Aktionären liehen.126 Auch die Romanfiguren werden vom Spekulationsfieber des neuen Eisenbahnzeitalters angesteckt. Der alte Brunner ist »un des fondateurs des chemins de fer badois, avec lesquels il a réalisé des bénéfices immenses« (CP, 109). Er hinterlässt seinem Sohn ein Vermögen von vier Millionen Francs, mit dem die beiden Freunde Fritz und Wilhelm später eine Bank gründen. Gaudissart, der Direktor des Boulevardtheaters, an dem auch Pons und Schmucke arbeiten, gibt seinen Posten auf, um als Teilhaber einer Eisenbahngesellschaft sein Glück zu versuchen (CP, 282). Élie Magus empfiehlt Mme Cibot, das Geld aus dem Verkauf der gestohlenen Bilder in Eisenbahn-Aktien anzulegen (CP, 323). Und selbst der alte Camusot ist »au delà de ses moyens« (CP, 296) in Eisenbahn-Geschäfte verstrickt, weshalb er seiner Schwiegertochter nicht helfen kann, das erforderliche Zensus für die Wahl des Präsidenten zum Abgeordneten aufzubringen. In welchem Maße die Gesellschaft vom Fieber der Spekulation ergriffen wird, verdeutlicht auch das Bild des von der Eisenbahn geschliffenen Sandkorns, das in zahlreichen Reprisen leitmotivisch wiederkehrt: »Empruntons une image aux rails-ways, ne fût-ce que par façon de remboursement des emprunts qu’ils nous font. Aujourd’hui les convois en brûlant leurs rails y broient d’imperceptibles grains de sable. Introduisez ce grain de sable invisible pour les voyageurs dans leurs reins, ils ressentiront les douleurs de la plus affreuse maladie, la gravelle ; on en meurt. Eh ! bien, ce qui, pour notre société lancée dans sa voie métallique avec une vitesse de locomotive, est le grain de sable invisible dont elle ne prend nul souci, ce grain incessamment jeté dans les fibres de ce deux êtres, et à tout propos, leur causait comme une gravelle au cœur.« (CP, 49-50) Mit dem am Romananfang eingeschobenen Bild der Lokomotive wird ein direkter Zeitbezug zur wirtschaftlichen Situation der Juli-Monarchie hergestellt (»notre société lancée dans sa voie métallique«). Die mit dem technischen Fortschritt einhergehende Beschleunigung (»avec une vitesse de locomotive«) versetzt die Gesellschaft in Bewegung,

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Vgl. Wolfgang Asholt, Französische Literatur des 19. Jahrhunderts, Stuttgart/Weimar: Metzler, 2006, S. 17. Zur Rolle der »Eisenbahn-Revolution« siehe etwa Pierre Léon, »La conquête de l’espace national«, in: Braudel, Fernand/Labrouste, Ernest (Hg.), Histoire économique et sociale de la France, Bd. 3/1: L’avènement de l’ère industrielle (1789-annéees 1880), Paris: PUF, 1976, S. 241-274.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

da durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes fortan Entfernungen in immer kürzerer Zeit zurückgelegt werden können. Ihre eigentliche Dynamik bezieht die bürgerliche Gesellschaft jedoch aus dem Geist der Spekulation. Nicht zufällig greift der Erzähler auf ein Vokabular zurück, das dem Kredit- und Geldwesen entlehnt ist (»empruntons«, »remboursement«, »emprunts«). Je mehr das Geld zum alles bestimmenden Prinzip der Gesellschaft wird, desto stärker wirkt es sich auf das moralische Empfinden aus. So wie sich durch den Schienenabrieb der Eisenbahn kleine Sandkörner ablösen, die, wenn sie in den Körper gelangen, dort einen überaus schmerzhaften Nierenstein (»la gravelle«) verursachen, genauso dringt die Spekulation mitten ins Herz (»comme une gravelle au cœur«) der bürgerlichen Gesellschaft und korrumpiert sie, ohne dass sie etwas davon mitbekommt (»dont elle ne prend nul souci«). Der Roman hingegen zeigt die Auswirkungen der Spekulation auf das seelische und körperliche Empfinden der Menschen. Er macht die Prozesse sichtbar, die ansonsten unsichtbar (»invisible«) bleiben, weil ihre zerstörerische Wirkung auf das Herz und die Seele kaum wahrnehmbar (»imperceptible«) ist. Aus den einzelnen Sandkörnern bilden sich nämlich jene Kieselsteine »qui font les avalanches« (CP, 62). Indem sie bei den Menschen neue Begehrlichkeiten weckt, setzt die Spekulation ein gewaltiges kollektives Energiepotential frei, das sich lawinenartig in der Gesellschaft ausbreitet.127 Alle Romanfiguren – mit Ausnahme von Pons und Schmucke – sind besessen von dem Wunsch, reich zu werden und aufzusteigen. Poulain sehnt sich nach einem Posten als Chefarzt in einem Krankenhaus und träumt davon, dass ihm ein einflussreicher Patient aus Dankbarkeit dazu verhelfen werde. Fraisier spekuliert darauf, dass er mit Hilfe der Präsidentin zum Friedensrichter ernannt wird, damit er sich anschließend in eine wohlhabende Familie einheiraten kann. Gaudissart möchte das Theater verlassen und ein »homme sérieux« (CP, 448) werden, um die Tochter eines reichen Pariser Bürgermeisters zu heiraten. Rémonencq träumt davon, Mme Cibot zu heiraten, um mit ihr zusammen eine Boutique auf dem Boulevard zu eröffnen. Im selben Maße, wie die Spekulation die allgemeine Gier entfacht, befördert die demokratische Gleichheit den Neid der Menschen. Obwohl die Standesgrenzen durch die Revolution formal beseitigt wurden, herrscht in der bürgerlichen Gesellschaft keine Harmonie. Im Ancien Régime richtete sich das Begehren vor allem auf die Privilegien der Aristokratie, deren Sozialverhalten man imitierte. Im Zeitalter der Gleichheit kennt das Begehren keine Grenzen mehr. Fortan imitiert einer den anderen und niemand gönnt dem anderen den Erfolg. Anstatt den Hass der unteren Klassen auf die oberen auszumerzen, werden nun alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen von Eifersucht

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Balzac verwendet in seinen Romanen häufig Metaphern und Vergleiche, die dem komplexen Bildbereich des Maschinenzeitalters entlehnt sind. Mit besonderer Vorliebe greift er auf das Bild des Dampfkessels und dasjenige der Lokomotive zurück. Wolfram Nitsch interpretiert diese Metaphorik vor dem Hintergrund von Balzacs Triebenergetik als Ausdruck einer »vitalen Kraftentladung«. Die als verstörend wahrgenommene Beschleunigung der nachrevolutionären Gesellschaft speise sich aus einem »tief verborgenen Energiepotential, für das der Dampfkessel ein dankbares Bild abgibt.« Wolfram Nitsch, »Balzac und die Medien. Technik in der Metaphorik der Comédie humaine«, in: Nitsch, Wolfram/Teuber, Bernhard (Hg.), Vom Flugblatt zum Feuilleton. Mediengebrauch und ästhetische Anthropologie in historischer Perspektive, Tübingen: Narr, 2002, S. 251-262, hier S. 260.

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und Rivalität getrieben. Wie sehr das demokratische Gleichheitsprinzip den Neid der Menschen befördert, lässt sich aus den Worten der Concierge erschließen: »Non, ma parole d’honneur, le monde est renversé ! pourquoi fait-on des révolutions ? Dînez deux fois, si vous en avez le moyen, gueux de riches ! Mais je dis que les lois sont inutiles, qu’il n’y a plus rien de sacré, si Louis-Philippe ne maintient pas les rangs ; car enfin, si nous sommes tous égaux, pas vrai, monsieur, n’une femme de chambre ne doit pas avoir n’un crispin en velours, quand moi, mame Cibot, avec trente ans de probité, je n’en ai pas !…« (CP, 219) Das Begehren der Romanfiguren entspringt keinem spontanen Wunsch, sondern es wird vermittelt durch die Anderen. Mme Cibot, »cette affreuse lady Macbeth de la rue« (CP, 247), beklagt sich permanent darüber, dass sie keine eigene Rente bezieht und beschließt daher »de se faire coucher sur le testament du bonhomme Pons, à l’imitation de toutes les servantes-maîtresses dont les viagers avaient excité tant de cupidités dans le quartier du Marais« (CP, 169). Die trianguläre Struktur des Begehrens, auf die bereits im Zusammenhang mit La Cousine Bette verwiesen wurde, lässt sich auch bei den übrigen Romanfiguren beobachten. Madeleine Vivet, »cette Didon d’antichambre« (CP, 61), hat sich in den Kopf gesetzt, den armen Pons zu heiraten, um die Cousine ihrer Arbeitgeberin zu werden. Pons schlägt ihre Offerten aus und zieht damit ihren Hass auf sich. Sie rächt sich, indem sie den armen Verwandten vor den Augen seiner Familie denunziert. Die Präsidentin Camusot, »ce diable en jupons« (CP, 67), erträgt es nicht, dass sie den Anderen in Ansehen und Stellung unterlegen ist. Neidvoll blickt sie auf ihre reicheren Verwandten und missgönnt ihnen den Erfolg, der ihrem Ehemann verwehrt bleibt.128 Das Begehren kann nicht mehr kanalisiert werden und befällt, befördert durch die wilde Spekulation des neuen Eisenbahnzeitalters, alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Davon betroffen sind auch die beiden Freunde Pons und Schmucke. Sie werden von der historischen Entwicklung mitgerissen und geraten buchstäblich unter die Räder einer Sozialmaschine, die über sie hinwegrollt »comme un tombereau sur un œuf« (CP, 172). Die allgemeine Gier und das entfesselte Begehren, die sich in der Gesellschaft verbreiten, sind allerdings nur eine Seite der Medaille. Während die eine Hälfte der Bevölkerung darauf bedacht ist, sich persönlich zu bereichern, wird die andere Hälfte schamlos ausgebeutet. Gaudissart, der Direktor des Boulevardtheaters, ist als Gesellschafter an mehreren privaten Bühnenproduktionen beteiligt, die er »uniquement et brutalement dans son propre intérêt« (CP, 280) ausbeutet. Pons und Schmucke bekommen dies am eigenen Leib zu spüren: »Les gens habiles doivent comprendre que Pons et Schmucke étaient exploités, pour se servir d’un mot à la mode« (CP, 55).

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»Elle [la présidente] ne pardonnait pas au riche marchand droguiste, ancien président du Tribunal de Commerce, d’être devenu successivement député, ministre, comte et pair. Elle ne pardonnait pas à son beau-père de s’être fait nommer, au détriment de son fils aîné, député de son arrondissement, lors de la promotion de Popinot à la pairie. Après dix-huit ans de services à Paris, elle attendait encore pour Camusot la place de conseiller à la Cour de Cassation, d’où l’excluait d’ailleurs une incapacité connue au Palais.« (CP, 66)

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

Tatsächlich zeigen sich in Frankreich seit den 1840er Jahren, d.h. mit der einsetzenden Industrialisierung, immer deutlicher die Auswirkungen eines kapitalistischen Ausbeutungssystems. Balzac scheint diese Entwicklung durchaus wahrgenommen zu haben, wenngleich er dabei nicht das Elend der zu dieser Zeit gerade erst im Entstehen begriffenen Arbeiterklasse vor Augen hat.129 Ausgebeutet wird im Roman nämlich in erster Linie die Kunst, wie Pons seiner Kusine gegenüber zu verstehen gibt, als er den seltenen Watteau-Fächer präsentiert: »On peut exploiter cela… ça n’a pas été reproduit, on faisait tout unique pour madame de Pompadour…« (CP, 71). In der Logik des Tauschwarensystems werden die Dinge umso wertvoller, je mehr sie sich der Möglichkeit einer technischen Vervielfältigung entziehen. Denn gerade ihre Einzigartigkeit bzw. Einmaligkeit verleiht den Gegenständen ihren Wert: »Eh ! bien, deux vases de Grand-Mandarin ancien, du plus grand format, valent six, huit, dix mille francs, et on a la copie moderne pour deux cents francs !« (CP, 69) Mit dem Beginn des Industriezeitalters werden die Dinge massenweise reproduzierbar. Damit verlieren sie nicht nur an Tauschwert, sondern auch an Qualität: »Alors on a fabriqué des choses admirables et qu’on ne refera plus…« (CP, 68). Während man früher Gegenstände von höchster Kunstfertigkeit (»des choses admirables«) hergestellt hatte, findet man heute bloß noch billige Kopien (»la copie moderne«). Offenbar denkt Balzac hier auch an seine eigene Situation als Romancier.130 Durch den Aufstieg des Feuilletonromans zum neuen Unterhaltungsmedium, verändern sich nämlich auch die Produktionsbedingungen der Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Sie müssen sich fortan verstärkt an dem Geschmack eines populären Massenpublikums orientieren.

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Das Proletariat taucht im Roman nur am Rande auf, nämlich in Gestalt des liebenswürdigen Theaterarbeiters Topinard, der Schmucke nach dem Tod seines Freundes bei sich aufnimmt, obwohl er in seiner heruntergekommenen Wohnung kaum Platz genug für die Familie hat. Der Erzähler bezeichnet das Viertel, in dem Topinard mit seiner Familie lebt, als »une de ces affreuses localités qu’on pourrait appeler les cancers de Paris« (CP, 432). Die Beschreibung der Wohnung und ihrer Bewohner, die als »pauvres mais honnêtes« (CP, 435) charakterisiert werden, steht unter dem Eindruck der dort vorherrschenden sozialen Not. Wenngleich das Proletariat bei Balzac noch nicht als eigenständige soziale Klasse in Erscheinung tritt, so deutet sich in seinen letzten Romanen doch bereits eine Entwicklung an, die Zola und die Autoren des naturalistischen Romans ein Vierteljahrhundert später in ihrer Schilderung der sozialen Elendsquartiere der unteren Gesellschaftsklassen fortführen werden. 130 Für die Veröffentlichung im Constitutionnel stellt Balzac seinem Roman ein Avertissement quasi littéraire voran, in dem er sich über die Zwänge beklagt, die das neue Publikationsmedium den Autoren auferlege: »L’abonné n’est pas un lecteur ordinaire, il n’a pas cette liberté pour laquelle la Presse a combattu ! C’est là ce qui le rend abonné. L’abonné, qui subit nos livres, a douze raisons à vingt sous pièce dans la banlieue, quinze dans les départements et vingt à l’étranger, pour vouloir, pendant tout un trimestre, cinquante francs d’esprit, cent francs d’intérêt dramatique et sept francs de style dans le feuilleton. Les écrivains ont imité l’abonné. Tous ceux qui publient leurs ouvrages en feuilletons n’ont plus la liberté de la forme ; ils doivent se livrer à des tours de forces, qui, depuis quelque temps, les assimilent, hélas ! aux célèbres ténors ; ils en ont les appointements et la gloire viagère.« Zit. nach: Honoré de Balzac, Le Cousin Pons, in: La Comédie humaine, Bd. 7: Études des mœurs : scènes de la vie parisienne, Paris, Gallimard (Pléiade), 1977, S. 1388-1389.

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3.3.5

Die parodistische Transformation des Melodramas

Der Erfolg des Feuilleton-Romans hängt unter anderem auch damit zusammen, dass die Autoren, die mit Fortsetzungsromanen ihr Geld verdienten, die Darstellungstechniken des Melodramas imitierten131 . Auch Balzac benutzt diese Techniken, doch er parodiert sie gleichzeitig, um damit auf die Entwertung der Kunst durch ökonomische Interessen hinzuweisen. Die parodistische Intention zeigt sich vor allem daran, dass der Roman ein Weltbild präsentiert, das in diametralem Gegensatz zum Weltbild des Melodramas steht. Wie Peter Brooks gezeigt hat, erklärt sich die Popularität des Melodramas aus dem Bedürfnis nach Orientierung und moralischer Erbauung.132 Für Anne Ubersfeld ist das Melodrama der Ort »où se fait la réconciliation fantasmatique d’une société, où la bourgeoisie se rêve comme totalité nationale.«133 Das Boulevardtheater liefert kein Abbild der sozialen Wirklichkeit, sondern »l’image qu’une classe donnée (en l’occurrence la classe dominante) se fait d’elle-même et de sa place dans l’univers social.«134 Im Roman wird das Boulevardtheater von dem bürgerlichen Theaterdirektor Gaudissart geleitet. Sein Name verweist auf den Umstand, dass Kunst (art) und Spektakel (gaudium) im bürgerlichen Zeitalter verschmelzen. Für Gaudissart ist das Theater kein Tempel der Freuden, sondern »un lieu de correction pour les mœurs« (CP, 283). Allerdings ist seine Aussage scheinheilig, denn für Gaudaissart dient das Theater hauptsächlich dazu, sich persönlich zu bereichern. Seine Aussage verrät darüber hinaus auch etwas über die bürgerliche Ideologie: Denn das Theater soll Zuschauer nicht einfach nur erziehen, sondern ihre Einstellungen und Verhaltensweisen »korrigieren«. Für die Bourgeoisie ist das Melodrama eine Waffe, mit der sie ihr Weltbild und ihr Selbstverständnis als neue Herrschaftsklasse verbreiten kann. Der Roman führt dem Leser die Vereinnahmung der Kunst durch die bürgerliche Ideologie unmittelbar vor Augen: So wie die Sammlung des Titelhelden am Romanende in den Besitz von Anselme Popinot übergeht, genauso ist auch das Theater in den Hän-

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Dazu zählen zum Beispiel der exzessive Einsatz von Hyperbeln, Antithesen, Stereotypen, überraschenden Peripetien und das Verfahren der poetischen Gerechtigkeit. Vgl. Christopher Prendergast, Balzac, Fiction, and Melodrama, London: Arnold, 1978, S. 6. Der Erfolg des Melodramas resultiert aus dem für die gesamte nachrevolutionäre Epoche charakteristischen Gefühl der Orientierungslosigkeit. Die Französische Revolution hatte die Grundlagen der christlichen Moral zerstört und hinterließ eine Phase extremer politischer, wirtschaftlicher und sozialer Instabilität. Im Kontext dieser allgemeinen Unsicherheit präsentierte das Melodrama ein positives Verhaltensmodell, mit dem sich die Zuschauer identifizieren konnten: »Melodrama starts from and expresses the anxiety brought by a frightening new world in which the traditional patterns of moral order no longer provide the necessary social glue. It plays out the force of the anxiety with the apparant triumph of villainy, and it dissipates it with the eventual victory of virtue. It demonstrates over and over that the signs of ethical forces can be discovered and can be made legible.« Peter Brooks, The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess, 2. Aufl., New Haven/London: Yale University Press, 1995, S. 20. Anne Ubersfeld, »Les bons et le méchant«, in: Revue des sciences humaines 162 (2), 1976, S. 193-203, hier S. 194. Ebd.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

den eines bürgerlichen Parvenüs.135 Vergleicht man nun aber den Handlungsverlauf eines klassischen Melodramas mit dem Roman, so fallen einige Gemeinsamkeiten auf.136 Wie im Melodrama steht auch im Roman ein Fest (die Hochzeit von Cécile) am Anfang des dramatischen Geschehens. Auch die Figurenkonstellation entspricht dem Grundschema eines Melodramas. Alle erforderlichen Charaktere sind vorhanden: eine Gruppe von niederträchtigen Verrätern (Cibot, Rémonencq, Fraisier, die Präsidentin Camusot), die böswillige Verleumdungen gegen einen zu Unrecht Beschuldigten (Pons) vorbringen. Ihm zur Seite steht ein tölpelhafter Freund (Schmucke), der als Einziger von der Unschuld des Opfers überzeugt ist. Und wie im klassischen Melodrama existiert auch bei Balzac eine weibliche Protagonistin, die im Mittelpunkt der Intrige steht und deren »Unschuld« in Gefahr ist, nämlich die Kunstsammlung des Titelhelden. Bezeichnenderweise wird sie im Epilog als eigentliche »Heldin« (CP, 452) des Romans bezeichnet.137 Allerdings weicht der Roman in einem entscheidenden Punkt von dem typischen Handlungsverlauf eines Melodramas ab, denn Balzac verzichtet auf das obligatorische happy end. Anders als im Melodrama erhalten die Verbrecher im Roman nicht ihre gerechte Strafe.138 Sie stehen am Ende sogar noch besser da als je zuvor, denn mit dem 135

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Gaudissart verdankt seine Position als Theaterdirektor niemand anderem als dem Grafen Popinot, mit dem er schon seit jungen Jahren eine freundschaftliche Beziehung pflegt. Popinot beginnt seine Karriere als Gehilfe von César Birotteau. Während der Restaurationszeit gelangt er durch die Erfindung einer »Wundersalbe« zu Reichtum. Nach der Revolution von 1830 wird er Politiker und steigt bis zum Minister auf. Gleichzeitig ist er als Gesellschafter an mehreren Theaterproduktionen beteiligt, wie übrigens auch Crevel, der seine Karriere ebenfalls in der Boutique von César Birotteau beginnt. Mit dem Auftritt des ehemaligen Gemischtwarenhändlers setzt die Handlung von La Cousine Bette ein; am Ende des Romans stirbt Crevel an den Folgen einer mysteriösen Krankheit. In Le Cousin Pons berichtet die Schauspielerin Héloïse Brisetout dem todkranken Musiker, dass Crevel vor wenigen Tagen gestorben sei. Die beiden Handlungen der Parents pauvres überschneiden sich also zeitlich. Zum typischen Handlungsverlauf des Melodramas siehe die Ausführungen bei Julia Przybos, L’entreprise mélodramatique, Paris: Corti, 1987, S. 60ff; zu den wichtigsten Handlungsträgern siehe Anne Ubersfeld, »Les bons et le méchant«, a.a.O.; sowie Wolfgang Asholt, Französische Literatur des 19. Jahrhunderts, a.a.O., S. 109. John Greene betont den Umstand, dass die Kunstsammlung tatsächlich viele Eigenschaften mit der klassischen »Heldin« eines Melodramas teilt, denn diese seien »passive in nature, subordinated to men, victims of the machinalisations of the ›evil‹ characters, beautiful and therefore desirable, and unable either to communicate their plight or to defend themselves.« John Patrick Greene, »Balzac’s Most Helpless Heroine: The Art Collection in Le Cousin Pons«, in: The French Review 69 (1), 1995, S. 13-23, hier S. 18. Die einzige Ausnahme bildet Rémonencq, der für seinen Mord an Monsieur Cibot am Ende doch noch seine gerechte Strafe erhält, als er versehentlich das Glas mit Vitriol trinkt, das die Haushälterin zuvor »dans une intention excellente« (CP, 455) vertauscht hatte. Allerdings wird das Verfahren der poetischen Gerechtigkeit dadurch relativiert, dass nur die abscheulichsten Verbrechen bestraft werden, während die kriminellen Machenschaften der übrigen Romanfiguren ungesühnt bleiben. Dies widerspricht den Aussagen des Autors in seinem Vorwort zur Comédie humaine. Darin betont Balzac, dass in seinen Romanen stets das Gute über das Böse siege: »Les actions blâmables, les fautes, les crimes, depuis les plus légers jusqu’aux plus graves, y trouvent toujours leur punition humaine ou divine, éclatante ou secrète« (AP, 15). Thomas Klinkert sieht darin zu Recht nur eine »Schutzbehauptung« des Schriftstellers, um das eigene Unternehmen vor Kritik zu entlasten. Offenbar geht es Balzac darum, den Vorwurf der Immoralität durch den Hinweis auf die Funkti-

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Erlös aus dem Verkauf der Sammlung erwirbt die Familie ein Grundstück, das sie als Mitgift für die Hochzeit von Cécile ausgibt. Diese Abweichung des Romanschlusses vom Gattungsmodell des Melodramas verdeutlich die parodistische Intention. Balzac spielt die Ästhetik des Melodramas gegen das Melodrama selbst aus. Mehr noch: Er beutet die melodramatischen Darstellungstechniken aus, genauso wie Pons und Schmucke am Boulevardtheater ausgebeutet werden. Das Melodrama setzt in seiner Berechnung auf den goût du spectacle vor allem auf dramatische Bühneneffekte und den Einsatz von Musik.139 Pons und Schmucke verdienen ihren Lebensunterhalt als Musiker im Orchester eines Boulevardtheaters. Dort nimmt die spätere Katastrophe ihren Anfang, denn am Boulevardtheater trifft Pons erstmals Fritz Brunner, dessen Aufkündigung der Verlobung die dramatische Entwicklung überhaupt erst in Gang setzt. Als Pons den Deutschen am Boulevardtheater kennenlernt, wird dort gerade die zweihundertste Vorstellung eines Vaudevilles mit dem Titel »La fiancée du diable« (CP, 100) aufgeführt.140 Der Titel übernimmt hier die Funktion einer indirekten Selbstkommentierung des Romangeschehens, wird damit doch zugleich auf die Verlobung von Cécile und Brunner angespielt. Die Vorgeschichte des Deutschen wiederum scheint selbst einem (schlechten) Melodrama entnommen zu sein. Aufgezogen von einer bösen Stiefmutter, einer zweiten Lucrezia Borgia (CP, 104), die den Großteil des Vermögens ihres Ehemanns verprasst, wird Fritz von seinem Vater, der ihm die Schuld an seinem Unglück gibt, verstoßen und aus dem Haus gejagt. In Straßburg trifft er auf Wilhelm Schwab, den späteren Flötisten am Boulevardtheater, und als auch dessen Erbe durchgebracht ist, versuchen die beiden ihr Glück in Paris. Dank der Unterstützung eines deutschen Hotelbesitzers erhält Fritz eine Anstellung bei den Gebrüdern Keller, zwei reichen Bankiers, während Wilhelm bei dem berühmten Schneider Graff unterkommt. Als Pons die beiden Freunde kennenlernt, hat Fritz gerade völlig unerwartet ein beträchtliches Vermögen geerbt und Wilhelm steckt mitten in den Vorbereitungen für die Hochzeit mit der Tochter seines Arbeitgebers. Für die Ökonomie der Erzählung ist diese Vorgeschichte streng genommen überflüssig, zumal ihr märchenhafter Charakter – Balzac schreibt hier die biblische Geschichte vom on der poetischen Gerechtigkeit ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen.Vgl. Thomas Klinkert, Epistemologische Fiktionen, a.a.O., S. 137. 139 »Music was used as a means of heightening the audience’s emotional awareness of the evil character of the villain, the innocence of the victim, and the imminent danger of the actions performed on the stage.« John Greene, »Balzac’s Most Helpless Heroine«, a.a.O., S. 19. 140 Sehr wahrscheinlich hat Balzac den Titel dieses Vaudevilles frei erfunden. Allerdings wurde 1854, also acht Jahre nach der Veröffentlichung seines Romans, in Paris eine gleichnamige »opéra comique en trois actes« des französischen Dramatikers und Librettisten Eugène Scribe (1791-1861) aufgeführt. Scribe verfasste insgesamt mehr als vierhundert Theaterstücke, Operetten und komische Opern, die meisten davon für das 1820 gegründete Théâtre du Gymnase. Seine Stücke waren zumeist sehr erfolgreich und wurden massenhaft imitiert. In seinem Atelier beschäftigte Scribe zahlreiche Angestellte, die nach genauen Vorgaben ganze Szenen ausarbeiteten. Das erfolgreichste Stück, das Scribe gemeinsam mit dem Opernkomponisten Giacomo Meyerbeer verfasste, ist die fünfaktige Oper Robert le Diable (1831). Möglicherweise spielt der (fiktive) Titel des Vaudevilles auf diese Oper an, immerhin tauchen Scribe und Meyerbeer noch an einer anderen Stelle des Romans auf, nämlich in der ironischen Kapitelüberschrift »L’or est une chimère (paroles de M. Scribe, musique de Meyerbeer, décors de Rémonencq)« (XXVIII).

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

verlorenen Sohn zu einem modernen Märchen um – in krassem Widerspruch zum tragischen Ernst der Romanhandlung steht. Wohl auch deshalb sieht sich der Erzähler genötigt, eigens eine Erklärung nachzureichen: »Ces deux faits : un ami ruiné reconnu par un ami riche, et un aubergiste allemand s’intéressant à deux compatriotes sans le sou, feront croire à quelques personnes que cette histoire est un roman ; mais toutes les choses vraies ressemblent d’autant plus à des fables que la fable prend de notre temps des peines inouïes pour ressembler à la vérité.« (CP, 107) Was der Erzähler hier im Bewusstsein eines Epochenumbruchs (»de notre temps«) proklamiert, ist nichts Geringeres als eine Standortbestimmung des modernen Romans. Zwar ähnelt die wirkliche Welt (»toutes les choses vraies«) bisweilen der Fiktion (»la fable«), wie der Erzähler anmerkt, doch wenn sich die Fabel gänzlich der Wahrheit (»la vérité«) nähern will, wenn sie also Erkenntnismedium, und nicht mehr bloß Fiktion (»roman«) sein möchte, dann muss sie anders vorgehen als bisher. Dann muss der Romancier auch zu Methoden greifen, die vormals nur den Naturforschern, Historikern und Philosophen vorbehalten waren. Kurzum: Er muss die Verwissenschaftlichung des Romans vorantreiben, wie dies Balzac in seinem eigenen Romanprojekt vorschwebt, selbst wenn ihm dieses Vorhaben einiges an Mühe (»des peines inouïes«) abverlangt. Gleichzeitig ist die Aussage des Erzählers aber auch als polemische Spitze gegen die Autoren melodramatischer Theaterstücke zu verstehen, zumal der auktoriale Kommentar im Kontext einer Szene steht, die selbst in höchstem Maße ironisch ist. Nicht zufällig fällt im Zusammenhang mit der »histoire curieuse d’un fils prodigue de Francfort-surMein« (CP, 101) später noch einmal der Hinweis auf das fiktive Vaudeville (»La Fiancée du Diable«) am Boulevardtheater.141 Aber nicht nur, dass die Vorgeschichte von Fritz Brunner einem eigenen Melodrama gleicht; selbst in seinem Äußeren spiegelt sich das manichäische Weltbild des Melodramas, das auf dem Gegensatz von rührseliger Sentimentalität (»la bonhomie des romans d’Auguste Lafontaine«) und schauriger Diabolik (»la raillerie sombre du Méphistophélès de Goethe«) gründet. Zu allem Überfluss (»pour relever tous ces antithèses«) blitzen Brunners schöne blauen Augen bisweilen auch noch »diabolisch« (CP, 101) auf. Dieselbe Diabolik des Blicks benutzt Balzac auch bei den übrigen Romanfiguren. Über die Augenfarben werden Korrespondenzbeziehungen hergestellt, genauso wie über die zahlreichen Tiervergleiche, die auf die bösartige, dämonische und unmoralische Natur der jeweiligen Charaktere verweisen. Élie Magus hat die schelmischen Augen einer Katze (CP, 202), was seine dämonische Erscheinung unterstreicht, galt die Katze doch lange Zeit als sündhaftes Wesen und Inkarnation des Teufels.142 Ré141

»Ah ! si cette histoire avait pu se jouer devant le trou du souffleur pour cette assemblée, au sein de laquelle les journalistes, les lions et quelques Parisiennes se demandaient d’où sortait la figure profondément tragique de cet Allemand surgi dans le Paris élégant en pleine première représentation, seul, dans une avant-scène, c’eût été bien plus que la pièce féerie de la Fiancée du Diable, quoique ce fût la deux cent millième représentation de la sublime parabole jouée en Mésopotamie, trois mille ans avant Jésus-Christ« (CP, 105). 142 Vgl. Cornelia Wörmann/Günter Butzer, »Katze«, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole, hg. von Günter Butzer und Joachim Jacob, 2. Aufl., Stuttgart/Weimar: Metzler, 2012, S. 210-212, hier S. 210.

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Wirklichkeit im Wandel

monencq hat die Augen eines Schweins, in denen seine Gier in konzentrierter Form zum Ausdruck kommt (CP, 168). Beim Anblick der kostbaren Tabakdosen in Pons’ Museum leuchten sie auf wie zwei rote Karfunkel (CP, 327). Rémonencq ist außerdem die »Schlange«, die bei Madame Cibot den »Dämon der Habgier« weckt (CP, 206). Die Haushälterin wiederum ist eine diebische Elster (CP, 264) mit dem Blick eines Tigers (CP, 172). Als sie vom Wert der Kunstsammlung erfährt, entzündet der Teufel höchstpersönlich »un feu sinistre dans ses yeux couleur orange« (CP, 163). Ihre Blicke gleichen Pistolenschüssen (CP, 317), es schießen sowohl Flammen (CP, 228) als auch Goldpailletten (CP, 172) daraus hervor. Den feuerroten Augen der zwei Komplizen aus der Rue de Normandie steht das Giftgrün ihrer Kontrahenten aus der Rue de Hanovre gegenüber. Fraisier hat »les yeux verdâtres« (CP, 257) und die Augen der Präsidentin sind »deux fontaines de biles vertes« (CP, 146). Der Rechtsanwalt scheint alle negativen Eigenschaften in sich zu vereinen. Er ist nicht nur gefährlich wie ein Tiger (CP, 265), sondern auch kalt wie eine Schlange (CP, 327). Mit seinen giftigen Reden lähmt er seine Opfer »comme une araignée magnétise une mouche« (CP, 424). Ihm zur Seite steht die schreckliche Madame Sauvage, die seine Anweisungen zuverlässig ausführt und die beiden Musiker überwacht »comme l’araignée veille sur une mouche prise« (CP, 384). Ihr Blick ist »d’autant plus meurtrier, que ses yeux étaient naturellement sanguinolents« (CP, 256). Das Adverb (»naturellement«) entlarvt die Klischeehaftigkeit solcher »Spezialeffekte«, wie sie das Melodrama vielfach einsetzt, um die dramatische Wirkung beim Auftritt des Verbrechers zu erhöhen. Nicht zufällig bezeichnet Topinard die schreckliche Madame Sauvage später als einen »traître de mélodrame« (CP, 416). Balzac imitiert die Ästhetik des Melodramas, stellt sie aber zugleich in solch übertriebener Art und Weise aus, dass gar kein Zweifel an der parodistischen Intention dieser Imitation bestehen kann. Zudem verletzt er die Gattungskonventionen, die vorsehen, dass das Böse am Ende niemals siegen darf. Der Roman ist somit gewissermaßen selbst ein fehlerhaftes Melodrama und es entbehrt nicht der Ironie, wenn sich der Autor am Ende eigens für die »Fehler« seiner Nachahmung entschuldigt. Der Schlusssatz des Romans, der wohl in erster Linie als ironische Spitze gegen die Abonnenten des Feuilletons zu verstehen ist, lautet: »Excusez les fautes du copiste !« (CP, 455).

3.3.6

Das Ende des romantischen Kunstideals

Dem Melodrama wird im Roman ein anderes Theatermodell gegenübergestellt, dessen theoretische Grundlagen Victor Hugo in seiner Préface de Cromwell (1827) ausgearbeitet hat.143 Darin stellt er dem klassischen Kanon des Naturschönen (»la beauté universelle«) eine Ästhetik der Gattungsmischung gegenüber, die nicht mehr nur das Schöne und Erhabene, sondern auch ihr Gegenbild, das Hässliche und Groteske, in sich auf-

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Vgl. Victor Hugo, »Préface de Cromwell« (1827), in: Théâtre complet, hg. von Jean-Jacques Thierry, Bd. 1, Paris: Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade), 1967, S. 409-454.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

nimmt.144 Was aus der Vereinigung dieser Gegensätze laut Hugo nun aber hervorgehen soll, ist nichts anderes als das Reale selbst: »le réel résulte de la combinaison toute naturelle de deux types, le sublime et le grotesque, qui se croisent dans le drame, comme ils se croisent dans la vie et dans la création. Car la poésie vrai, la poésie complète, est dans l’harmonie des contraires.«145 Das romantische Drama ist für Hugo die moderne Gattung schlechthin, denn es vereint die Gegensätze des Erhabenen und des Sublimen und verweist durch diesen Kontrast auf die Harmonie der gesamten Schöpfung. Inwieweit Balzac dem Modell des romantischen Dramas verpflichtet bleibt, zeigt sich zum Beispiel daran, dass sein Erzähler durchweg eine Terminologie verwendet, die dem Bereich des Theaters entlehnt ist. So erinnert die Eingangsszene des Romans an einen »Bühnenauftritt« des Titelhelden. Der altmodische Spencer, den Pons zu Beginn der Handlung trägt, ist »une de ces énormité à crever les yeux […] que les acteurs recherchent pour assurer les succès de leurs entrées« (CP, 26). Auf dem Boulevard beobachtet der Erzähler die unzähligen Schauspieler »qui composent la grande troupe de Paris« (CP, 26). Am Ende der Eingangsszene wird die französische Hauptstadt zur Bühne eines großen Welttheaters stilisiert: »Paris est la seule ville du monde où vous rencontriez de pareils spectacles, qui font de ses boulevards un drame continu joué gratis par les Français, au profit de l’Art« (CP, 31). Und der zweite Romanteil beginnt erneut mit einem auktorialen Kommentar, der das Romangeschehen ganz im Sinne der romantischen Gattungsmischung als eine »comédie terrible« bezeichnet: »Ici commence le drame, ou, si vous voulez, la comédie terrible de la mort d’un célibataire livré par la force des choses à la rapacité des natures cupides qui se groupent à son lit […]. Cette comédie, à laquelle cette partie du récit sert en quelque sort d’avantscène, a d’ailleurs pour acteurs tous les personnages qui jusqu’à présent ont occupé la scène.« (CP, 250) Die Bezeichnung »comédie terrible« ist eine direkte Replik auf Hugo und seine Definition des romantischen Dramas.146 Entsprechend dieser Vermischung des Komischen und des Tragischen tauchen im Roman vor allem zwei Autoren auf, die für jeweils eine der beiden Seiten Modellcharakter haben: nämlich zum einen Molière und zum anderen Shakespeare. Letzterer ist für Hugo der moderne Dramatiker par excellence, weil er die Harmonie der Gegensätze in höchster Vollendung zur Darstellung gebracht habe.147

144 Die Einführung des Grotesken und des Sublimen wird mit der Notwendigkeit eines Kontrastes begründet, da die einseitige Wiederholung des Schönen zwangsläufig zur Monotonie führen müsse: »la même impression, toujours répétée, peut fatiguer à la longue. Le sublime sur le sublime produit malaisément un contraste, et l’on a besoin de se reposer de tout, même du beau.« Ebd., S. 419. 145 Ebd., S. 425. 146 »Que ferait le drame romantique ? Il broierait et mêlerait artistement ces deux espèces de plaisir. Il ferait passer à chaque instant l’auditoire du sérieux au rire, des excitations bouffonnes aux émotions déchirantes, du grave au doux, du plaisant au sévère. Car […] le drame, c’est le grotesque avec le sublime, l’âme sous le corps, c’est une tragédie sous une comédie.« Ebd., S. 450. 147 »Nous voici parvenus à la sommité poétique des temps modernes. Shakespeare, c’est le Drame ; et le drame, qui fond sous un même souffle le grotesque et le sublime, le terrible et le bouffon, la tragédie et la comédie, le drame est le caractère propre de la troisième époque de poésie, de la littérature actuelle.« Ebd., S. 422.

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Wirklichkeit im Wandel

Die Ästhetik des Erhabenen und des Grotesken ist ein Modell, das es Balzac erlaubt, die gesellschaftliche Wirklichkeit besser erklären zu können als das Melodrama.148 Anders als die Helden des Melodramas, die ohne eigenes Verschulden ins Unglück stürzen, bewegt sich der Titelheld aus Balzacs Roman zwischen den zwei Polen des Erhabenen und des Grotesken. Das Erhabene äußert sich in seiner Hingabe für die Kunst, während das Groteske in seiner Völlerei und seinem äußeren Erscheinungsbild zum Ausdruck kommt. Mit seiner Nase »à la Don Quichotte« wirkt Pons unfreiwillig komisch, ohne dass dies zum Lachen zwingt: »Cette laideur, poussée tout au comique, n’excitait cependant point le rire« (CP, 28). Hinter dem abschreckenden Äußeren verbirgt sich derweil ein überaus sensibles Wesen. Pons ist ein »homme plein d’âme et de délicatesse« (CP, 33). Er hat sich eine gewisse Naivität bewahrt und glaubt fest an die Gültigkeit der Moral wie an das Schöne in der Kunst. Mit seinem Geschenk versucht er, Böses mit Gutem zu vergelten. Für den Erzähler zeigt sich darin seine wahre Größe: »Certainement il atteignit au sublime […]« (CP, 126). Allerdings ist diese noble Geste nicht ganz uneigennützig, da Pons durch das Geschenk sein Gastrecht neu erkaufen möchte. Das Erhabene kann somit jederzeit ins Lächerliche umschlagen, genauso wie dem Grotesken immer auch etwas Tragisches beiwohnt. Dem grotesken Titelhelden stellt Balzac den sublimen Schmucke gegenüber. Der Deutsche ist in der Tat ein wahres Schmuckstück, wie sein Name schon verrät. Musiker und Pianist wie Pons, teilt er zwar dessen Hingabe für die Kunst, nicht aber seine Begeisterung für gutes Essen. Während Pons, der leidenschaftliche »gourmand« (CP, 38), beim Anblick eines köstlichen Gerichts regelmäßig in Verzückung gerät, lebt Schmucke ausschließlich von seiner Musik und seiner »philosophie allemande« (CP, 119). Pons ist im Geiste der napoleonischen Ära aufgewachsen, er ist »un vrai Français de l’Empire« (CP, 119). Schmucke dagegen ist mit der Philosophie des deutschen Idealismus groß geworden, er trägt einen Rest von Romantik in die moderne Welt hinüber. Im Spannungsverhältnis von Natur und Gesellschaft hat er sich eine Form von Ursprünglichkeit erhalten, die mit dem Übergang in das bürgerlich-demokratische Zeitalter verloren gegangen ist: »En France quelque gens fins remplacent cette naïveté d’Allemagne par la bêtise de l’épicier parisien. Mais Schmucke avait gardé toute sa naïveté d’enfant, comme Pons gardait sur lui les reliques de l’Empire, sans s’en douter« (CP, 46). Deutschland dient hier in erster Linie als Bezugspunkt für die mythische Konstruktion eines Bildes vom romantischen Künstler.149 Die Kunstphilosophie der Frühromantik wird im Roman

148 Das Weltbild des Melodramas beruht auf der Gegenüberstellung von ›guten‹ und ›bösen‹ Charakteren. Im Gegensatz dazu liefert die Theorie des romantischen Dramas ein sehr viel differenzierteres Modell. Zum einen kann das Erhabene und das Groteske – anders als das Schöne und das Hässliche – in unterschiedlichen Erscheinungsformen auftreten; und zum anderen können die beiden Pole jederzeit in ihr Gegenteil umschlagen. Letztlich wird das manichäische Weltbild des Melodrams durch die Natur selbst widerlegt, wie der Erzähler im Roman erklärt: »Un homme sans passion, le juste parfait, est un monstre, un demi-ange qui n’a pas encore ses ailes« (CP, 42). 149 Vgl. Philippe Mustière/Patrick Née, »De l’artiste et du pouvoir : l’Allemagne comme horizon mythique du romantisme dans Le Cousin Pons«, in: Rossum-Guyon, Françoise van/Brederode, Michiel van (Hg.), Balzac et les parents pauvres (Le Cousin Pons, la Cousine Bette), Paris, SEDES, 1981, S. 47-59, hier S. 48.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

noch einemal wiederbelebt, um der Ästhetik des Melodramas ein positives Kunstideal gegenüberzustellen, doch in der Realität hat sie sich längst überlebt. In der Figur des deutschen Musikers Schmucke werden typisch romantische Motive zusammengeführt und ironisiert: Abgeschieden von der Gesellschaft, die ihm feindlich gesinnt ist, weil sie ihn nicht versteht, führt der romantische Künstler ein Leben in Einsamkeit. Genauso ergeht es Schmucke nach seiner Ankunft in Paris, bis er eines Tages auf Pons trifft und sie fortan gemeinsam musizieren können. Schmucke, der das »génie de l’amitié« (CP, 171) besitzt, umhegt Pons mit einer Hingabe, wie sie nur Liebende bekunden.150 Wenn es darum geht, seinen Freund vor dessen Feinden zu beschützen, wird aus dem sanftmütigen Deutschen ein »rasender Roland« (CP, 155). Wahre Größe beweist er, als Pons nach dem Besuch bei den Verwandten mit leerem Magen nach Hause kommt, und Schmucke vorschlägt, seine persönlichen Ersparnisse für die Manie des Freundes aufzuwenden (»nous bricapraquerons ensemble«). Doch seine Aufopferung für den geliebten Freund ist zu exzessiv, wie der Erzähler anmerkt, denn Schmucke ist »capable de sacrifier Pons au plaisir de le voir dîner tous les jours avec lui« (CP, 99). Ins Maßlose gesteigert droht das Erhabene unweigerlich ins Groteske abzugleiten. Deutlichstes Indiz dafür ist der Umstand, dass Schmucke sich vor lauter Vorfreude die Hände reibt, wenn er sich ihre gemeinsame Zukunft ausmalt. Ihren höchsten Ausdruck findet Schmuckes Freundschaft jedoch in der Musik. In der Nacht, bevor Pons seinen letzten Atemzug macht, improvisiert Schmucke auf Bitten seines Freundes eine »sublime« Melodie auf dem Klavier: »Schmucke se mit au piano. Sur ce terrain, et au bout de quelques instant, l’inspiration musicale, excitée par le tremblement de la douleur et l’irritation qu’elle lui causait, emporta le bon Allemand, selon son habitude, au-delà des mondes. Il trouva des thèmes sublimes sur lesquels il broda des caprices exécutés tantôt avec la douleur et la perfection raphaëlesque de Chopin, tantôt avec la fougue et le grandiose dantesque de Liszt, […] il fut à la fois Beethoven et Paganini, le créateur et l’interprète ! Intarissable comme le rossignol, sublime comme le ciel sous lequel il chante, varié, feuillu comme la forêt qu’il emplit de ses roulades, il se surpassa, et plongea le vieux musicien qui l’écoutait dans l’extase que Raphaël a peinte, et qu’on va voir à Bologne. Cette poésie fut interrompue par une affreuse sonnerie. La bonne des locataires du premier étage vint prier Schmucke, de la part de ses maîtres, de finir ce sabbat.« (CP, 363) Schmucke spielt ohne Noten, er lässt sich ganz von der Eingebung des Augenblicks leiten. Die musikalische Improvisation erscheint hier ganz im Sinne der romantischen Kunstauffassung als Ausdruck höchster Subjektivität. Mit ihren teils elegisch-traurigen, teils schwungvoll-grandiosen Abfolgen spiegelt sie Schmuckes inneren Zustand, seine Zerrissenheit zwischen Freude und Schmerz. Der Erzähler greift nicht nur auf

150 »Schmucke, en ramenant le soir, vers minuit, Pons au logis, le tenait sous le bras ; et comme un amant fait pour une maîtresse adorée, il indiquait à Pons les endroits où finissait, où recommençait le trottoir ; il l’avertissait quand un ruisseau se présentait ; il aurait voulu que les pavés fussent en coton, que le ciel fût bleu, que les anges fissent entendre à Pons la musique qu’ils lui jouait« (CP, 96).

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Wirklichkeit im Wandel

ein romantisch inspiriertes Vokabular zurück; auch die erwähnten Komponisten (Chopin, Liszt, Beethoven, Paganini) sind allesamt Wegbereiter der Musik der Romantik. Ihnen werden ein Dichter (Dante) und ein Maler (Raphaël) der italienischen Renaissance zur Seite gestellt, so dass alle drei Kunstformen (Musik, Malerei, Literatur) zu einer einzigen Universalpoesie (»cette poésie«) verschmelzen. Aufschlussreich ist auch das Motiv der Nachtigall. Als Topos der Literatur verweist die Nachtigall einerseits auf den Moment der Vereinigung zweier Liebender und andererseits auf den bevorstehenden Tod.151 Im Kontext der vorliegenden Szene ist die Nachtigall jedoch nicht nur eine Todesbotin, die den tragischen Romanschluss vorwegnimmt; sie kündigt vielmehr vom Scheitern der Romantik und damit vom Ende eines Kunstideals, das an der materialistischen Gegenwart zugrunde geht. Nach der romantischen Kunstphilosophie ist der Künstler sowohl Schöpfer (»le créateur«) seines Werkes als auch Dolmetscher (»l’interprète«) der Natur. Wenn er von göttlicher Inspiration beseelt ist, gerät er in einen Zustand äußerster Ekstase (»au délà des mondes«). In der oben zitierten Passage wird dieser Moment deutlich markiert: So wird das Satzende durch die vielfache Verschachtelung von Haupt- und Nebensätzen hinausgezögert; gleichzeitig steigert sich das Tempo mit Beginn des zweiten Satzes, d.h. mit dem Einsetzen der Musik. Dem Wechsel von Verzögerung und Beschleunigung entsprechen die Läufe und Sprünge (»ses roulades«) auf dem Piano. Auf dem Höhepunkt der Beschreibung wird die »sublime« Melodie durch das Läuten einer Türglocke unterbrochen. Schmucke muss das Klavierspielen einstellen, da sich die Nachbarn über den Krach (»ce sabbat«) beschweren. Damit stürzt die gesamte Situation geradewegs in sich zusammen. Pons und Schmucke werden jählings aus ihrem Zustand ekstatischer Verzückung gerissen und stürzen vom Himmel der Romantik auf den Boden der Realität zurück. In der musikalischen Improvisation des sublimen Deutschen lässt Balzac die Kunstauffassung der (Früh-)Romantik mit ihrem Genie-Kult, ihrer Betonung von Subjektivität, Inspiration und Spontaneität noch einmal aufleben, bevor er sie, begleitet von dem Klang einer schrecklichen Totenglocke (»affreuse sonnerie«), ein für alle Mal verabschiedet. Mit dem darauffolgenden Kapitel setzt sodann auch der letzte Romanteil ein, der vom Tod der beiden Freunde Pons und Schmucke handelt.

3.3.7

Das Groteske als Symptom einer »entfremdeten« Welt

Eine Besonderheit des Romans betrifft die auffällige Diskrepanz zwischen der Komik der Darstellung und dem Ernst der erzählten Geschichte. Dies zeigt sich insbesondere in den Kapitelüberschriften, die oftmals einen ironischen Bezug zu den Kapitelin-

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Bei Shakespeare (Romeo and Juliet, III, 5) kündigt der Gesang der Nachtigall das Ende der Liebesnacht von Romeo und Julia an. Als Topos der Literatur ist das Motiv freilich sehr viel älter. Bereits Ovid berichtet im Philomela-Mythos (Metamorphosen, VI, 412ff.), wie Philomela nach ihrer Vergewaltigung durch Tereus ein Gewand anfertigt, in das sie die Bilder ihrer Vergewaltigung einwebt. Auf diese Weise kann sie das Verbrechen öffentlich machen, obwohl Tereus ihr zuvor die Zunge herausgeschnitten hatte. Um sie vor dem Zorn ihres Peinigers zu schützen, verwandelt Zeus sie später in eine Nachtigall. Vgl. Adam Lengiewicz, »Nachtigall«, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole, a.a.O., S. 290-291.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

halten enthalten oder das Erzählte auf komische Weise verfremden.152 Eine komische Wirkung entfalten auch die zahlreichen Vergleiche, bei denen zwei an und für sich unzusammenhängende Bildfelder auf absurde Weise zusammengeführt werden.153 Wolfgang Preisendanz hat diesen Grundzug des Romans als »Karnevalisierung« des Erzählens umschrieben.154 Zwischen dem negativen Wirklichkeitsmodell und der Komik der Darstellung besteht ihm zufolge eine Spannung, aus der sich letztlich die »ästhetische Differenz«155 des Romans erkläre. Diese Einschätzung ist sicherlich nicht falsch, wenngleich die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, dass die Diskrepanz von Komik und Ernst zumindest teilweise auch aus der Übertragung des romantischen Dramenmodells auf den Roman resultiert. Von der Komik, die den Roman über weite Teile beherrscht, ist in den letzten Kapiteln jedoch kaum noch etwas zu spüren. Im Gegenteil: Wenn das Groteske nach Hugo sowohl einen komischen als auch einen schrecklichen Teil aufweist, dann gewinnt Letzteres im Verlauf der Handlung immer mehr an Gewicht. Der Romanschluss selbst ist überaus makaber. Kaum hat Pons seinen letzten Atemzug getan, fallen die Verschwörer wie Aasgeier über den Leichnam her. Schmucke klammert sich ans Bett des ver152

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Für die Kapitelüberschriften greift Balzac auf ein breites Spektrum an rhetorischen Verfahren zurück, aus denen sich ein Großteil dieser Komik erklärt. So gibt es Überschriften, die den Kapitelinhalt auf humoristische Weise zusammenfassen: »Un glorieux débris de l’Empire« (I), »La fin d’un grand prix de Rome« (III). Häufig beruht die Komik auf einem Wortspiel oder einer semantischen Doppeldeutigkeit: »Châteaux en Espagne« (XXIV, LI), »Le fraisier en fleurs« (LII), »Les fruits du fraisier« (LXXIV), »Pour ouvrir une succession on ferme toutes les portes« (LXXI). Vereinzelt enthalten die Überschriften auch intertextuelle Anspielungen oder Gattungshinweise, die eine Spiel-im-Spiel-Situation simulieren: »Un vivant exemple des Deux Pigeons« (XIV), »Un personnage des contes d’Hoffmann« (XXXIV), »L’or est un chimère (paroles de M. Scribe, musique de Meyerbeer, décors de Rémonencq)« (XXVII). In vielen Fällen handelt es sich um Kategorisierungen, durch die ein bestimmter Typus konstruiert wird: »Un type allemand« (XVI), »Un homme de loi« (XLIV), »Spécimen de portier (mâle et femelle)« (XII), »Iconographie du genre brocanteur« (XXIX), »Ragots et politique des vieilles portières« (XXXVI). Andere Kapitelüberschriften enthalten eine moralische Botschaft oder einen didaktischen Ratschlag für den Leser: »Comment on fait fortune« (XVIII), »Ce que coûte une femme« (XXI), »Avis aux vieux garçons« (LIV). Am häufigsten sind aber solche Überschriften, die aufgrund ihrer altmodisch anmutenden Wortwahl wie aus der Zeit gefallen scheinen: »Où l’on voit que les connaisseurs de peinture ne sont pas tous de l’Académie des Beaux-Arts« (XXXV);, »Où l’on voit que les enfants prodigues finissent par devenir banquiers et millionnaires quand ils sont de Francfort-sur-Mein« (XVII). Einige Beispiele mögen dies belegen: Pons’ Gesicht wird dominiert von seiner Nase »comme une plaine est dominée par un bloc erratique« (CP, 28); der Staat sorgt sich genauso wenig um seine Künstler »que le dandy ne se souci le soir des fleurs qu’il a mises à sa boutonnière« (CP, 32); Schmucke betrachtet die Kunstgegenstände seines Freundes »comme un poisson, qui aurait reçu un billet d’invitation, regarderait une exposition de fleurs au Luxembourg« (CP, 92); vor dem Besuch in der Wohnung ihres Verwandten kleidet die Präsidentin Camusot ihre Tochter ein »avec le soin que l’amiral de la flotte bleue mit à armer le yacht de plaisance de la reine d’Angleterre quand elle partit pour son voyage d’Allemagne« (CP, 131); währenddessen reinigen Pons und Schmucke die Wohnung »avec l’agilité de matelots brossant un vaisseau d’amiral« (CP, 131). Vgl. Wolfgang Preisendanz, »Karnevalisierung der Erzählfunktion in Balzacs Les parents pauvres«, in: Gumbrecht, Hans-Ulrich/Stierle, Karlheinz/Warning, Rainer (Hg.), Honoré de Balzac, München: Fink, 1980, S. 391-410. Ebd., S. 407.

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storbenen Freundes, doch man lässt ihm keine Zeit zum Trauern. Seine Seufzer gehen unter im Lärm der schrecklichen Madame Sauvage, die den leblosen Körper in eine Decke wickelt »absolument comme un commis fait un paquet dans un magasin« (CP, 385). Schmucke verzweifelt beim Anblick dieses pietätlosen Vorgehens »où son ami était traité comme une chose« (CP, 386). Auf der Mairie wird er von Kommissionären umlagert, die ihn mit Angeboten für ein Grabmal überschütten. Einer von ihnen bietet sogar an, den Leichnam einzubalsamieren, damit er für alle Ewigkeit erhalten bleibe. Wenn Schmucke diesen Vorschlag mit der Erklärung »Bons est une âme !« (CP, 398) empört zurückweist, so ist dies zugleich als Kritik am Materialismus der bürgerlichen Gesellschaft zu lesen. Angesichts des entwürdigenden Umgangs mit dem Toten – die zynische Kapitelüberschrift lautet: »La mort comme elle est« (CP, 383) – bleibt einem das Lachen buchstäblich im Halse stecken. Zur Trauerfeier in der Kirche erscheint außer Schmucke niemand, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen. Auf dem Weg zum Friedhof Père Lachaise folgen drei leere Kutschen dem Leichenzug, während der Sarg des verstorbenen M. Cibot von einer »foule immense« (CP, 409) begleitet wird. Die Beerdigungsszene selbst ist in weiten Teilen eine Kopie der Schlussszene aus Le Père Goriot.156 Von der Entschlossenheit und Energie, mit welcher der junge Rastignac am Romanende von den Hügeln des Friedhofs aus sein berühmtes »À nous deux maintenant« als Kampfansage an die Pariser Gesellschaft ausspricht, ist in Balzacs letztem Roman allerdings nicht mehr viel zu spüren. Sie ist einer tiefen Resignation gewichen, über die selbst die Komik der Darstellung nicht hinwegzuhelfen vermag. Stattdessen zeigt der zynische Romanschluss, wie das Komische im Verlauf der Handlung ins Makabre tendiert und dabei einen spezifisch modernen Aspekt des Grotesken freilegt, den Wolfgang Kayser als Symptom einer Entfremdung gedeutet hat. Kaysers Definition des Grotesken als »die entfremdete Welt«157 betont den Aspekt des Unheimlichen und Furchterregenden. Unter dem Grotesken versteht er die Gestaltung des »Es«, wobei dieses »Es« nicht im psychoanalytischen, sondern im existentialistischen Sinne zu verstehen ist.158 Das Groteske kündigt vom Einbrechen einer unheimlichen und unergründlichen Macht, deren Anblick uns mit Grauen erfüllt, weil die bestehenden Kategorien der Weltorientierung darin versagen. In der Welt des Grotesken werden die Ordnungen der Natur aufgehoben. Was uns vertraut und heimisch war, erscheint plötzlich als unheimlich und fremd. Wiederkehrende Motive des Grotesken sind das Monströse, das aus der Vermischung von menschlichen und tierischen Eigenschaften bzw. aus dem Fehlen von Proportionen hervorgeht, das Mechanische, das in Gestalt von Puppen, Maschinen oder Marionetten auftritt, sowie das Dämonische, das durch allerlei kriechendes Ungeziefer, dunkle Kreaturen, grinsende Totenschädel repräsentiert wird und das vom Eindringen des Irrationalen oder des Wahnsinns kündigt.159 Vielen dieser Motive begegnet man auch im Roman. Pons und Schmucke stumpfen im Verlauf der Intrige mehr und mehr ab. Sie verwandeln sich in leblose Automaten,

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Vgl. Honoré de Balzac, Le Père Goriot, Paris: Gallimard (folio classique), 1971, S. 365ff. Wolfgang Kayser, Das Groteske, a.a.O., S. 198. Ebd., S. 199. Vgl. ebd., S. 195ff.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

die ihrer »Seele« beraubt wurden.160 Schmucke verliert über den Tod seines Freundes allmählich den Verstand und verfällt schließlich sogar dem Wahnsinn.161 Unter das Groteske fallen auch die diversen Tiervergleiche mit Schlangen, Spinnen oder Kröten, die allesamt dem Bildfeld der biblischen Apokalypse zugerechnet werden können. All dies lässt sich jedoch nur bedingt mit dem Aspekt des Spielerisch-Heiteren verbinden, der in der Natur des Grotesken ebenfalls angelegt ist. Von der »Freude des Wechsels«, die laut Bachtin das »karnevaleske Weltempfinden« auszeichnet, ist bei Balzac kaum etwas zu spüren.162 Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Transformationen, die sich in Frankreich während der Übergangszeit von der Restaurationsgesellschaft zur Juli-Monarchie abzeichnen, werden im Roman gerade nicht als heiter und fröhlich beschrieben. All diesen Transformationsprozessen wohnt vielmehr etwas zutiefst Bedrohliches inne. Was bei Balzac in Form des Grotesken in den Roman einbricht, ist das Entsetzen über eine Welt, in der sich die destruktiven Leidenschaften ungehemmt entfalten können. Von einer Harmonie der Gegensätze, wie sie Hugo vorschwebt, kann angesichts des Romanschlusses kaum die Rede sein. In der von Habgier, Eifersucht und Profitstreben beherrschten Welt des Romans findet das Erhabene keinen Platz mehr. Pons und Schmucke gehen an der sozialen Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde, weil sie unfähig sind, die »grimaces de la comédie sociale« (CP, 127) zu durchschauen. Man kann das Groteske daher mit Wolfgang Kayser als Signatur einer entfremdeten Welt verstehen, die alles Erhabene – Freundschaft, Liebe, Kunst – auf dem Altar des Geldes geopfert hat.163 Wenn die Gestaltung des Gro-

160 »Pons rentrait machinalement chez lui« (CP, 88) – »Le musicien descendit avec rapidité l’escalier ; mais il marcha d’un pas lent par les boulevards, jusqu’au théâtre où il entra machinalement ; il se mit à son pupitre machinalement et dirigea machinalement l’orchestre« (CP, 148) – Schmucke »fit un signe de consentement machinal« (CP, 388) – »[Il] répéta machinalement« (CP, 382, 392) – »[Il] répondit machinalement« (CP, 386) – »Schmucke s’était assis et avait repris sa contenance d’idiot, en essuyant machinalement ses larmes« (CP, 404) – »Schmucke regarda faire machinalement cette opération, qui consiste à sceller du cacher de la justice de paix un ruban de fil sur chaque vantail des portes […]« (CP, 427) – »le vieil Allemand prit machinalement le chemin qu’il faisait avec Pons en pensant à Pons« (CP, 431). 161 »Schmucke ouvrit des yeux effrayés, et fut saisi d’un court accès de folie« (CP, 381) – »Schmucke regardait les deux femmes et ce qu’elles faisaient, absolument comme un fou les aurait regardées« (CP, 388) – »Schmucke, resté seul, sourit comme un fou […]« (CP, 390) – »Schmucke n’écoutait pas ; il était plongé dans une telle douleur qu’elle avoisinait la folie« (CP, 391) – »Schmucke jeta sur cet homme des regards comme en ont les fous avant de faire un mauvais coup« (CP, 400) – »Il est fou, monsieur, dit la Sauvage au maîtres des cérémonies« (CP, 403) – »Il est fou ! se dit Gaudissart« (CP, 441). 162 Bachtin kritisiert an Kaysers Definition, dass seine Theorie auf frühere Erscheinungsformen des Grotesken überhaupt nicht anwendbar sei, weil er das Groteske durch das Prisma einer modernistischen Sichtweise betrachte. Für Bachtin ist das Groteske untrennbar mit dem »karnevalesken Weltempfinden« verbunden, das auf dem Prinzip von Zerstörung und Erneuerung, Leben und Tod beruht: »Die bestehende Welt wird zerstört, um sich in einer neuen Geburt zu erneuern. Die Welt gebiert sterbend. Die Relativität des Bestehenden ist in der Groteske stets eine fröhliche Relativität. In der Groteske herrscht immer die Freude des Wechsels, mag diese Freude und Fröhlichkeit auch reduziert sein (wie in der Romantik).« Michail M. Bachtin, Literatur und Karneval, a.a.O., S. 27. 163 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt beispielsweise auch Ruth Amossy. Sie misst dem Grotesken im Roman im Wesentlichen zwei Funktionen zu: Die erste Funktion besteht in der Subversion

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tesken der Versuch ist, »das Dämonische in der Welt zu bannen und zu beschwören«164 , dann liegt es nahe, in der Allgegenwart des Geldes jene unheimliche und dämonische Macht zu sehen, die Kayser mit dem Begriff des »Es« bezeichnet. Das Geld ist in der Tat eine ganz sonderbare »Chimäre« (CP, 161), wie es in einer Kapitelüberschrift des Romans heißt, denn es verändert seine Gestalt beliebig und führt dazu, dass sich bei seinem Anblick manch heiteres Gesicht in eine hässliche Fratze verwandelt. Bei dem Versuch, die dämonische Macht des Geldes ästhetisch einzufangen, geraten der Anspruch auf ›Realismus‹ und Wissenschaftlichkeit, den Balzac in seinem »Avant-propos« zur Comédie humaine formuliert, nun aber unweigerlich an ihre Grenzen. Denn die Erfahrung der »Entfremdung«, die auf die Allgegenwart des Geldes zurückgeführt wird, lässt sich nicht mehr erzählen, sondern bloß noch heraufbeschwören. Entsprechend werden die wissenschaftlichen (oder pseudo-wissenschaftlichen) Erklärungen des Erzählers oftmals zugunsten von suggestiven Bildern aufgegeben, die weniger erklären, sondern in erster Linie überzeugen sollen. Dies lässt sich gut an den Romanfiguren zeigen, bei deren Gestaltung sich Balzac am Vorbild der Physiognomik orientiert, indem er aus der äußeren Erscheinung, allen voran aus den Formen und Zügen des Gesichts, auf den Charakter oder das Temperament schließt.165 Dahinter steht die Vorstellung, dass sich im Körperbild zugleich das Wesen eines Menschen ausdrückt. So erklärt sich der herrschsüchtige und jähzornige Charakter der Präsidentin Camusot de Marville aus ihrem Neid auf alle, die erfolgreicher und reicher sind als sie. Dieser Neid, der sie im Inneren zerfrisst, verleiht ihr ein überaus hartes und unangenehmes Äußeres: »L’habitude de domination absolue au logis avait rendu sa physionomie dure et désagréable« (CP, 65). Wenn sich ihr Haar, das früher einmal blond gewesen war, mit den Jahren in ein »châtain aigre« (CP, 65) verfärbt hat, dann ist dies eine Folge der Enttäuschungen, die sie im Laufe ihres Lebens zunehmend verbittert haben. Der Erzähler beschreibt sie als »[m]ordante à l’excès« (CP, 66) bzw. als »âpre et sèche comme une brosse« (CP, 66). Ähnliche Formulierungen verwendet er auch im Zusammenhang mit anderen Romanfiguren. Madeleine Vivet, die Zofe der Präsidentin, wird als »veille fille sèche et mince« (CP, 60) bezeichnet. Mme Cantinet, die sich um den todkranken Pons kümmern soll, ist eine »femme sèche et jaune« (CP, 384). Pons wird als »sec et maigre« (CP, des Feuilleton-Romans, denn die groteske Gestaltung des Titelhelden verhindere jede Form von Pathos und erschwere damit eine Identifikation des Lesers mit den Figuren. Daneben erfüllt das Groteske im Roman aber noch eine zweite Funktion, wie Amossy erklärt, denn es dient dazu, die Mechanismen einer »Ökonomie des Begehrens« aufzudecken, die sich der kapitalistischen Produktionsweise angepasst habe: »[…] le grotesque balzacien désigne les voies au gré desquelles les individus se trouvent pris et façonnés par la grande machine capitaliste de l’époque. Il met à nu dans ses distorsions une économie du désir directement reliée à la logique de l’économie générale dont elle est solidaire, et tributaire.« Ruth Amossy, »L’esthétique du grotesque dans Le Cousin Pons«, in: van Rossum-Guyon, Françoise/van Brederode, Michiel (Hg.), Balzac et Les parents pauvres, Paris: SEDES, 1981, S. 135-145, hier S. 144f. 164 Wolfgang Kayser, Das Groteske, a.a.O., S. 202. 165 Zur Rolle der Physiognomik im Romanwerk Balzacs siehe etwa Hans Ludwig Scheel, »Balzac als Physiognomiker«, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 198, 1962, S. 227244; Christopher Rivers, »L’homme hiéroglyphié«, in: Shookman, Ellis (Hg.), The Faces of Physiognomy. Interdisciplinary Approaches to Johann Caspar Lavater, Columbia: Camden House, 1993, S. 144-160; sowie Alain Montandon, »Balzac et Lavater«, in: Revue de littérature comparée 74, 2000, S. 471-491.

3. Balzac als Diskursbegründer des ›realistischen‹ Romans

36) beschrieben und Fraisier ist ein »petit homme sec et maladif, à figure rouge, dont les bourgeons annonçaient un sang très vicié« (CP, 257). Das physiognomische Erklärungsmodell überschneidet sich hier mit der antiken Tradition der Humoralpathologie. In der sogenannten »Vier-Säfte-Lehre« verweist das »Trockene« auf einen Überschuss an Galle, wobei die gelbe Gallenflüssigkeit (im Unterschied zur schwarzen Galle, die auf ein melancholisches Temperament hindeutet) üblicherweise mit Neid und Bösartigkeit verbunden wird.166 Der medizinische Diskurs wird im Roman nun aber gleichzeitig von einer Krankheitsmetaphorik (»dont les bourgeons annonçaient un sang très vicié«) überlagert, die pathologische Zerfallserscheinungen des Sozialen sichtbar machen soll. Eine solche Krankheitsmetaphorik lässt sich jedoch kaum mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit verbinden. Letztlich zeigt die Tendenz zur Metaphorisierung deshalb die Grenzen von Balzacs wissenschaftlichem Romanprojekt auf. Denn wo Theorien nichts mehr erklären, weil sich die soziale Wirklichkeit in rasantem Tempo (»avec une vitesse de locomotive«) verändert, da muss der Romancier auf Ausdrucksmittel zurückgreifen, die das, was sich begrifflich nicht mehr fassen lässt, in eindringlichen Bildern sichtbar machen.

166 Zur antiken Vier-Säfte-Lehre und den verschiedenen Kombinationen ihrer Elemente siehe Klibansky, Raymond/Panofsky, Erwin/Saxl, Fritz, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und Kunst, 2. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990, S. 39-54.

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4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

4.1

Von der Irreversibilität des Verfalls: Houellebecqs Funktionsbestimmung des Romans

Michel Houellebecq zählt zweifelsohne zu den erfolgreichsten Schriftstellern der Gegenwart. Dieser Erfolg erklärt sich nicht nur aus der literarischen Qualität seines Werkes, sondern auch aus der medialen Präsenz des Autors, den die enorme Berichterstattung im Zusammenhang mit der sogenannten »affaire Houellebecq«1 gleichsam über Nacht zu einem international bekannten Star im Kulturbetrieb gemacht hat. Seither genießt er den Ruf eines »Skandalautors«2 , der jedoch keineswegs unbegründet ist, hat Houellebecq die Diskussion um seine eigene Person mit provokativen Äußerungen doch selbst immer wieder neu entfacht.3 Die Kritiker, die sich an seiner antiliberalen Grundhaltung, seinem problematischen Verhältnis zur repräsentativen Demokratie, seinen provozierenden Thesen zur Religion und seinem als rückständig empfundenen Frauenbild stoßen, werfen ihm vor, ein reaktionäres Weltbild zu vertreten.4 Erstmals Stel1

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Gemeint ist eine Affäre rund um die Veröffentlichung von Houellebecqs zweitem Roman Les particules élémentaires (1998) und einen damit zusammenhängenden Gerichtsprozess. Bereits vor der Veröffentlichung des Romans wurde gegen den Autor eine Unterlassungsklage eingereicht, weil Houellebecq darin den Namen eines real existierenden Nudistencamps verwendet hatte. Die mediale Berichterstattung rund um den Prozess wurde vor allem von der Tageszeitung Le Monde befeuert, die den Autor während des Herbstes 1998 mehrmals auf die Titelseite setzte. In einer Rezension des Romans spricht Marion van Renterghem dabei erstmals von der »affaire Houellebecq«. Vgl. Marion van Renterghem, »Le procès de Houellebecq«, in: Le Monde, 9.11.1998, S. 10. Vgl. hierzu Jochen Mecke, »Der Fall Houellebecq: Zu Formen und Funktionen eines Literaturskandals«, in: Eggeling, Giulia/Segler-Meßner, Silke (Hg.), Europäische Verlage und romanische Gegenwartsliteraturen. Profile, Tendenzen, Strategien, Tübingen: Narr, 2003, S. 194-217. Das bekannteste Beispiel betrifft seine Äußerungen über den Islam. In einem Interview nach der Veröffentlichung von Plateforme im Herbst 2001 hatte Houellebecq den Islam als »la religion la plus con« bezeichnet, woraufhin er von verschiedenen muslimischen Vereinen wegen Anstiftung zum Rassenhass angezeigt wurde. Vgl. Michel Houellebecq, »Entretien avec Didier Sénécal«, in: Lire, n° 298, September 2001, S. 28-38, abrufbar unter: https://www.lexpress.fr/culture/livre/michel -houellebecq_804761.html (zuletzt eingesehen am 4.9.2019). In einem Essay des französischen Politologen Daniel Lindenberg wird Houellebecq zum inoffiziellen Wortführer einer Bewegung von »nouveaux réactionnaires« erklärt, unter denen sich sowohl

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lung bezogen hat der Autor zu diesen Vorwürfen in seinem öffentlichen Briefwechsel mit Bernard-Henry Lévy.5 Darin erklärt Houellebecq, was seiner Ansicht nach einen reaktionären von einem konservativen Schriftsteller unterscheidet: »Un réactionnaire est quelqu’un qui estime préférable un état antérieur de l’organisation sociale, possible d’y revenir, et qui milite dans ce sens. Or s’il y a une idée, une seule, qui traverse tous mes romans, jusqu’à la hantise parfois, c’est bien celle de l’irréversibilité absolue de tout processus de dégradation, une fois entamé. Que cette dégradation concerne une amitié, une famille, un couple, un groupement social plus important, une société entière ; dans mes romans il n’y a pas de pardon, de retour en arrière, de deuxième chance : tout ce qui est perdu est bel et bien, et à jamais perdu.«6 Houellebecq formuliert hier die zentrale Prämisse seines Weltbildes und seiner Romanpoetik. Gleichzeitig betont er, was seiner Ansicht nach einen konservativen von einem reaktionären Schriftsteller unterscheidet: »À quelqu’un qui est à ce point persuadé du caractère inéluctable de tout déclin, de toute perte, l’idée de réaction ne peut même pas venir. Si un tel individu ne sera jamais réactionnaire, il sera par contre, et tout naturellement, conservateur. Il considéra toujours qu’il vaut mieux conserver ce qui existe, et qui fonctionne tant bien que mal, plutôt que se lancer dans une expérience nouvelle. Plus sensible aux dangers qu’à l’espérance il sera pessimiste, d’un naturel triste, et en général facile à vivre.«7 Die beiden Aussagen sind aus zweierlei Gründen interessant: Zum einen, weil sie auf ein allgemeines Problem im Umgang mit Houellebecqs Romanen verweisen; und zum anderen, weil sie ein wichtiges Prinzip seiner Romanästhetik freilegen. Nicht zu Unrecht beklagt Houellebecq, dass der Grundgedanke seines Werkes oftmals nicht verstanden würde.8 Dieser Grundgedanke betrifft die grundsätzliche Unumkehrbarkeit aller (biologischen, sozialen und kulturellen) Verfallsprozesse. Demnach ist jeder Versuch, eine einmal in Gang gesetzte Entwicklung umzukehren, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn was verloren ist, so meint der Autor, lasse sich nicht mehr

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Literaten wie Philippe Muray und Maurice Dantec als auch bekannte Philosophen und Medienintellektuelle wie Alain Finkielkraut, Alain Glucksmann, Bernard-Henry Lévy, Alain Renaut, Luc Ferry oder Pascal Bruckner wiederfinden. Gemeinsam sei den neuen Reaktionären ihre Abneigung gegen den Mai 1968, gegen die Massenkultur und ihre Bezugnahme auf konservative Vordenker wie Tocqueville, Nietzsche, Céline, Maurras, de Maistre oder Drieu La Rochelle. Vgl. Daniel Lindenberg, Le rappel à l’ordre: enquête sur les nouveaux réactionnaires, Paris: Seuil, 2002. Vgl. Michel Houellebecq/Bernard-Henry Lévy, Ennemis publics, Paris: Flammarion/Grasset, 2008. Ebd., S. 116 (Hervorhebung im Original). Ebd. (Hervorhebung im Original). Tatsächlich lässt sich im Umgang mit Houellebecq beobachten, dass die philosophischen und ästhetischen Probleme, die in seinen Romanen verhandelt werden, in der Berichterstattung oftmals überhaupt nicht zur Kenntnis genommen werden. Diesen Umstand betont beispielsweise Ruth Cruickshank, wenn sie schreibt: »That the media coverage of such novels dealt predominantly with scandal rather than textual analysis suggests that, likewise, the critical community was increasingly considering a text more in terms of its commercial value than of its metaphysical, ideological or aesthetic interest.« Ruth Cruickshank, »L’Affaire Houellebecq: Ideological Crime and fin de millénaire Literary Scandal«, in: French Cultural Studies 14 (1), 2003, S. 101-116, hier S. 102.

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zurückholen. Für Houellebecq ist die »irréversibilité absolue de tout processus de dégradation« ein universelles Gesetz. Den Beweis für die Gültigkeit dieses Gesetzes liefert ihm die Physik.9 Der Vorwurf, seine Romane würden ein reaktionäres Weltbild propagieren, verbindet Houellebecq mit Balzac. Mit diesem teilt er auch seine kulturpessimistische Sicht auf die eigene Gegenwart. Genau wie Balzac beschreibt auch Houellebecq die Auflösungs- und Verfallsprozesse der französischen Gesellschaft. Allerdings lässt sich der pessimistische Grundton seiner Romane auch auf den Einfluss Arthur Schopenhauers zurückführen, dessen Philosophie tiefe Spuren in Houellebecqs Werk hinterlassen hat.10 Der Einfluss Schopenhauers zeichnet sich schon in dem Essay über den USamerikanischen Schriftsteller Howard Philipps Lovecraft ab, den Verfasser zahlreicher Horrorgeschichten und einer der Begründer der modernen Science Fiction-Literatur.11 Die Bedeutung dieses frühen literaturkritischen Textes, dessen Untertitel (Contre le monde, contre la vie) wie eine von Schopenhauer übernommene Kampfansage anmutet, kann kaum überschätzt werden. Elisabetta Sibilio betont zu Recht, dass darin bereits der ganze Houellebecq enthalten sei: »Tout Houellebecq est là, implicitement, explicitement ou par négation.«12 Und der Autor selbst vermerkt in seinem Vorwort, er habe diese biografische Studie »comme une sorte de premier roman« (HPL, 16) geschrieben. Auffällig daran ist bereits die dreigliedrige Struktur des Essays, die Houellebecq auch in seinen späteren Texten beibehalten wird. Im ersten Teil wird das Leiden an der Welt – ganz im Sinne Schopenhauers – zum Ausgangspunkt für das Schreiben

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»C’est plus qu’organique, c’est comme une loi universelle, s’appliquant aussi bien aux objets inertes ; c’est, littéralement, entropique.« Michel Houellebecq/Bernard-Henry Lévy, Ennemis publics, a.a.O., S. 116. Bei dem Prinzip der Entropie handelt es sich um eine physikalische Zustandsgröße aus dem Gebiet der Thermodynamik. Gemäß dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik lässt sich die Richtung der Übertragung einer gegebenen Stoffmenge (z.B. Wärme, Energie, Ladung) von einem Zustand in einen anderen ohne äußere Einwirkungen niemals umkehren. Offenbar betrachtet Houellebecq eine historische Gesellschaftsformation analog zu einem abgeschlossenen physikalischen System, dessen Zustand sich irreversibel verändert, sobald ein entsprechender Transformationsprozess einmal in Gang gesetzt wurde. Schon der erste Vers (»Le monde est une souffrance déployée«) aus dem Gedichtband Rester vivant (La Différence, 1991) enthält ein verstecktes Schopenhauer-Zitat. Noch deutlicher wird dies in einer direkten Apostrophe in dem Gedichtband La poursuite du bonheur (La Différence, 1991). Darin heißt es: »Je veux penser à toi, Arthur Schopenhauer/Je t’aime et je vois dans le reflet des vitres,/Le monde est sans issue et je suis un vieux pitre,/Il fait froid. Il fait très froid. Adieu la Terre.« Zit. nach: Michel Houellebecq, Poésie, Paris: Flammarion, 2010, S. 197. Die Bedeutung Schopenhauers geht schließlich auch aus einem Buch hervor, in dem Houellebecq seine erste Begegnung mit dem deutschen Philosophen beschreibt und das als Vorbereitung für eine nie realisierte Übersetzung von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) geplant war. Vgl. Michel Houellebecq, En présence de Schopenhauer, Paris: L’Herne, 2017. Vgl. Michel Houellebecq, H.P. Lovecraft. Contre le monde, contre la vie, Paris: du Rocher, 1991. Zitiert wird nach dem zweiten Band der Werkausgabe Houellebecq. 1991-2000, Paris: Flammarion, 2015. Im Folgenden abgekürzt als HPL. Elisabetta Sibilio, »›Je ne savais absolument rien de sa vie‹. Écrire l’autre: Houellebecq, Lovecraft et…«, in: Clément, Murielle Lucie/Wesemael, Sabine van (Hg.), Michel Houellebecq sous la loupe, Amsterdam/New York: Rodopi, 2007, S. 81-91, hier S. 84.

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erklärt. Bei Lovecraft sei dieses Leiden so stark zu spüren, dass die Leser davon regelrecht angesteckt würden. Daraus erkläre sich auch die nahezu kultische Verehrung jenes »Meisters des Horrors« (HPL, 28), der mit seinem Werk einen regelrechten Gründungsmythos (»mythe fondateur«) der modernen Science-Fiction-Literatur geschaffen habe. Im zweiten Teil des Essays untersucht Houellebecq die ästhetischen Verfahren, mittels derer Lovecraft in seinen Erzählungen jene faszinierende Atmosphäre des Grauens, der Angst und des Schreckens heraufbeschwört, die seine Leserinnen und Leser so sehr schätzen.13 Im letzten Teil befasst sich Houellebecq schließlich mit dem Leben des Schriftstellers Lovecraft und den Gründen für dessen zunehmenden Rassismus. Vergleicht man die poetologischen Konzepte Lovecrafts mit denjenigen Houellebecqs, so lassen sich einige Gemeinsamkeiten feststellen. Erstens gilt es daran zu erinnern, dass beide über die Poesie zur Literatur gefunden haben. Wie sein Vorbild Lovecraft, ist auch Houellebecq zunächst Dichter und erst in zweiter Linie Romanschriftsteller. Die beiden Schriftsteller verbindet aber nicht nur ihre Nähe zur Poesie, sondern auch ihr gemeinsames Interesse an wissenschaftlichen Theorien. Was Lovecrafts Ausnahmestellung auf dem Gebiet der Science-Fiction nach Ansicht von Houellebecq begründe, sei der Umstand, dass er die konventionellen Verfahren der Narration um weitere, nicht genuin literarische Elemente ergänzt habe. Beispielsweise integriert er Zeitungsartikel, Polizeiberichte, Forschungsprotokolle oder wissenschaftliche Abhandlungen in seine Erzählungen, um einen Eindruck von Objektivität zu erzielen – ein Verfahren, das Houellebecq in seinen eigenen Romanen übernimmt.14 Über die Funktion von wissenschaftlichen Fachbegriffen in einem literarischen Text bemerkt Houellebecq in seinem Essay: »l’utilisation du vocabulaire scientifique peut constituer un extraordinaire stimulant pour l’imagination poétique. La contenu à la fois précis, fouillé dans les détails et riche en arrière-plans théorique qui est celui des encyclopédies peut produire un effet délirant et extatique« (HPL, 72). Es geht ihm also nicht so sehr darum, eine Illusion von Wirklichkeit zu erzeugen, sondern darum, die Vorstellungskraft des Lesers anzuregen. Beiden Schriftstellern gemeinsam ist schließlich auch ihre fast schon feindselige Einstellung gegenüber der je eigenen Gegenwart. Beide sind, wie Sabine van Wesemael schreibt, von einem regelrechten »Hass« auf die moderne Welt getrieben.15 Dies erklärt auch den programmatischen Ton des Untertitels (Contre le monde, contre la vie). Im 13

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Insgesamt beschreibt Houellebecq sechs narrative Techniken. Dazu zählen (1) eine Romaneröffnung, die den Leser unmittelbar mit dem Grauen bzw. dem Unerklärlichen konfrontiere; (2) das Fehlen jener zwei »Realitäten« des Sexes und des Geldes, über deren Bedeutung man sich im Alltag für gewöhnlich keine Gedanken mache; (3) die detaillierten Beschreibungen von architektonischen Traumlandschaften; (4) die Rolle der sinnlichen Erfahrung, die als Einfallstor für das Fantastische fungiere und die Wahrnehmung in eine »source illimitée de cauchemars« (HPL, 68) verwandle; (5) der Rückgriff auf ein totales Wissen, das alle Bereiche wissenschaftlicher Erkenntnis miteinschließe; und (6) die sonderbar-fantastsiche Verzerrung von Raum und Zeit. So heißt es bereits im Vorwort zur zweiten Auflage seines Essays: »À titre personnel, je n’ai manifestement pas suivi Lovecraft, dans son rejet écœuré de tout sujet ayant trait à l’argent ou au sexe ; mais j’ai peut-être, bien des années plus tard, tiré profit de ces lignes où je le louais d’avoir ›fait exploser le cadre du récit traditionnel‹ par l’utilisation systématique de termes et de concepts scientifiques« (HPL, 17). »Chez Houellebecq, comme chez Lovecraft, une haine absolue de la vie, aggravée d’un dégoût particulier pour le monde moderne, préexiste à toute littérature […]. La science-fiction fonctionne

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Fall von Lovecraft steigert sich dieser Hass zuweilen bis zum offenen Rassismus. Allerdings sei es ihm gelungen, so Houellebecq, diesen Hass durch das Schreiben in eine »hostilité agissante« (HPL, 120) zu verwandeln. Indem er seinen Abscheu vor der Welt schöpferisch wirksam machte, habe Lovecraft einen Weg gefunden, die eigene Existenz zu ertragen. Die enttäuschende Wirklichkeit in Kunst zu transformieren, hierin liegt für Lovecraft (wie für Houellebecq) das Ziel des Schreibens und der Schlüssel zum persönlichen Glück. Denn nur die Kunst ist in der Lage, wie Houellebecq am Ende seines Essays schreibt, eine echte Alternative zum Leben zu entwerfen: »Offrir une alternative à la vie sous toutes ses formes, constituer une opposition permanente, un recours permanent à la vie : telle est la plus haute mission du poète sur cette terre« (HPL, 120). Houellebecq hat hier wohl auch seine eigene »Mission« als Schriftsteller vor Augen.16 Was am Ende dieses frühen literaturkritischen Essays bereits angedeutet wird, hat Houellebecq in späteren Jahren an verschiedenen Stellen weiter ausgeführt. Es lohnt sich, die persönlichen Ansichten des Autors zum Zustand der gegenwärtigen Welt genauer zu betrachten, weil seine Romanästhetik unmittelbar davon beeinflusst ist. Die modernen säkularisierten Gesellschaften, so seine Überzeugung, leiden unter einem überbordenden Individualismus, unter der Auflösung des Sozialen und der fortschreitenden Zerstörung aller menschlichen Emotionen.17 Verantwortlich dafür sei der globale, weltumspannende Kapitalismus und seine Ideologie, der Liberalismus, der alle Lebensbereiche einnehme und das Bewusstsein von Grund auf verändere: »Le capitalisme libéral a étendu son emprise sur les consciences ; marchant de pair avec lui sont advenus le mercantilisme, la publicité, le culte absurde et ricanant de l’efficacité économique, l’appétit exclusif et immodéré pour les richesses matérielles. Pire encore, le libéralisme s’est étendu du domaine économique au domaine sexuel. Toutes les fictions sentimentales ont volé en éclats. La pureté, la chasteté, la fidélité, la décence sont devenues des stigmates ridicules. La valeur d’un être humain se mesure aujourd’hui par son efficacité économique et son potentiel érotique.« (HPL, 116)

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chez Houellebecq, comme chez Lovecraft, comme échappatoire à la réalité quotidienne.« Sabine van Wesemael, Michel Houellebecq. Le plaisir du texte, Paris: L’Harmattan, 2005, S. 18 und S. 19. Wie Elisabetta Sibilio gezeigt hat, dient der literaturkritische Essay über Lovecraft vorrangig als Medium einer Selbstreflexion des Autors. Nicht das Verhältnis des Biografen zu seinem Vorbild stehe im Mittelpunkt des Essays, sondern die Beziehung zu einem anderen Text, nämlich Baudelaires Aufsatz über Edgar Allen Poe (1856). Baudelaire, nicht Lovecraft, sei das eigentliche Modell, an dem sich der Autor orientiere: »[…] dans son premier livre Houellebecq n’a pas choisi comme sujet son vrai modèle. Il a conçu son livre comme le parallèle moderne de l’essai de Baudelaire, en mimant la ›relation biographique‹ instituée entre Baudelaire et Poe. Et, en effet, tout comme Baudelaire utilise cet essai pour exposer sa propre poétique et sa vision du monde, Houellebecq, en analysant la vie et l’œuvre de Lovecraft, pose les bases de sa future production romanesque et expose les principes de son idéologie, d’ailleurs très discutée.« Elisabetta Sibilio, »›Je ne savais absolument rien de sa vie‹«, a.a.O., S. 89. Angesichts einer solch deprimierenden Sicht auf die Gegenwart verwundert es nicht, dass Houellebecqs Romane von der Kritik mit dem Schlagwort des »déprimisme« belegt wurden. Vgl. hierzu Andreas Isenschmid, »Roman und antiliberales Manifest«, in: Steinfeld, Thomas (Hg.), Das Phänomen Houellebecq, Köln: DuMont, 2001, S. 54-60, hier S. 55.

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Eine Mitschuld an dieser Entwicklung trägt laut Houellebecq die Generation von 1968 mit ihrer Forderung nach individueller Selbstverwirklichung. Für Houellebecq ist die libertäre Ideologie der 68er-Generation jedoch nichts anderes als eine Rechtfertigung ihrer persönlichen Selbstsucht. Durch ihre Auflehnung gegen die traditionellen Institutionen von Ehe und Familie habe sie nämlich zugleich auch mit den wenigen verbliebenen moralischen Werten gebrochen, die von der kapitalistischen Logik bis dato noch nicht zerstört wurden. Houellebecq macht den materialistischen Liberalismus der 1968er-Generation einerseits dafür verantwortlich, dass die Liebe in der heutigen Zeit unmöglich geworden sei; andererseits würden die identitätsstiftenden Differenzen zwischen den Menschen durch den Individualismus allmählich aufgelöst. Houellebecq beschreibt diesen Zusammenhang in einem Aufsatz über die moderne Architektur.18 Die vorrangige Aufgabe der modernen Architektur bestehe darin, den zügigen Verkehr von Waren und Personen zu erleichtern. Entsprechend bezeichnet er sie als »un immense dispositif d’accélération et de rationalisation des déplacements humains« (INT, 62). Die moderne Architektur antworte mit erstaunlicher Gleichförmigkeit auf die unterschiedlichen sozialen Bedürfnisse des Menschen, denn sie orientiere sich ganz an der Funktionslogik einer »Marktgesellschaft«: »[…] nous vivons non seulement dans une économie de marché, mais plus généralement dans une société de marché, c’est-à-dire un espace de civilisation où l’ensemble des rapports humains, et pareillement l’ensemble des rapports de l’homme au monde, sont médiatisés par le biais d’un calcul numérique simple faisant intervenir l’attractivité, la nouveauté et le rapport qualité-prix. Dans cette logique, qui recouvre aussi bien les relations érotiques, amoureuses, professionnelles que les comportements d’achat proprement dits, il s’agit de faciliter la mise en place multiple de rapports relationnels rapidement renouvelés (entre consommateurs et produits, entre employés et entreprises, entre amants), donc de promouvoir une fluidité consumériste basée sur une éthique de la responsabilité, de la transparence du libre choix.« (INT, 63, Hervorhebung im Original) Im Anschluss an diese Beobachtung zieht Houellebecq eine interessante Analogie zwischen dem Persönlichkeitsverlust der modernen Architektur und demjenigen des modernen Individuums. So wie die sozialen Räume ihres je eigentümlichen Charakters beraubt würden, genauso lasse sich auch bei den Menschen, die sich in diesen Räumen aufhalten und bewegen, ein ähnlicher Prozess beobachten: »Mobiles, ouverts à la transformation, disponible, les employés modernes subissent un processus de dépersonnalisation analogue. […] Libéré des entraves que constituaient les appartenances, les fidélités, les codes de comportement rigides, l’individu moderne est ainsi prêt à prendre place dans un système de transactions généralisées au sein duquel il est devenu possible de lui attribuer, de manière univoque et non ambiguë, une valeur d’échange.« (INT, 65, Hervorhebung im Original)

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Vgl. Michel Houellebecq, »Approches du désarroi«, in: Interventions, Paris: Flammarion, 1998, S. 5780.

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Gemäß der Logik einer Marktgesellschaft müssen die Beziehungen zwischen Waren und Konsumenten, zwischen Angestellten und Unternehmen, zwischen Liebes- und Sexualpartnern möglichst flexibel und austauschbar sein, um eine stetige Steigerung der individuellen Produktivität zu gewährleisten. Entsprechend sieht sich das moderne Individuum von allen normativen Vorgaben befreit, wie sie etwa Treue (in der Liebe) oder Klassenzugehörigkeit (in der Politik) bedeutet haben. Die Entpersonalisierung zieht aber noch weitere schwerwiegende Konsequenzen nach sich. Houellebecq beschreibt diese Konsequenzen im zweiten Teil seines Aufsatzes, dessen einleitende Kapitelüberschrift (»Le monde comme supermarché et comme désarroi«) zugleich eine ironische Anspielung auf den Titel von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung enthält. In philosophischer Hinsicht, so meint er, könne der moderne Mensch nicht mehr als Subjekt eines einheitlichen Willens aufgefasst werden, weil die zunehmende Ökonomisierung des Lebens zu einer Streuung des Verlangens führe. An die Stelle eines organischen »Willens«, der auf seine eigene Vollendung hin ausgerichtet ist, sei in der »Welt des Supermarktes« ein zielloses »Wollen« getreten, das durch die medialen Bilder der globalen Unterhaltungsindustrie und der Werbung zusätzlich stimuliert wird.19 Aber auch die andere Seite von Schopenhauers Philosophie, die Welt als Vorstellung, ist von dieser Entwicklung betroffen. Denn die Medien erzeugen unentwegt neue Bedürfnisse, die jedoch bloß noch »Simulakren« der Wirklichkeit sind. Houellebecq scheint hier auf Überlegungen zeitgenössischer französischer Philosophen wie Jean Baudrillard oder Gilles Deleuze anzuspielen. Allerdings widerspricht er der Ansicht, dass die Sprache in der Postmoderne ihre »Unschuld« verloren habe.20 Er begreift Kunst und Literatur auch weiterhin als mimetische Tätigkeiten und weist die Prämissen der poststrukturalistischen Theoriebildung zurück, da sie die Literatur lediglich als ein ironisches »Spiel« verstünden.21 Die Zunahme an »Referenzen zweiter Ordnung« (INT, 72) – das heißt an Selbstreflexivität, Kritik und Ironie – macht es seiner Ansicht nach

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»La logique du supermarché induit nécessairement un éparpillement des désirs ; l’homme du supermarché ne peut organiquement être l’homme d’une seule volonté, d’un seul désir. D’où une certaine dépression du vouloir chez l’homme contemporain ; non que les individus désirent moins, ils désirent au contraire de plus en plus ; mais leurs désirs ont acquis quelque chose d’un peu criard et piaillant : sans être des purs simulacres, ils sont pour une large part le produit de déterminations externes – nous dirons publicitaires au sens large. Rien en eux n’évoque cette force organique et totale, tournée avec obstination vers son accomplissement, que suggère le mot de ›volonté‹. D’où un certain manque de personnalité, perceptible chez chacun.« (INT, 72, Hervorhebung im Original) »Profondément infectée par le sens, la représentation a perdu toute innocence. On peut désigner comme innocente une représentation qui se donne simplement comme telle, qui prétend simplement être l’image d’un monde extérieur (réel ou imaginaire, mais extérieur) ; en d’autres termes qui n’inclut pas en elle-même son commentaire critique« (INT, 72, Hervorhebung im Original). Ähnlich argumentiert zum Beispiel auch Maurizio Ferraris in seinem Manifest des Neuen Realismus. Ferraris wendet sich dezidiert gegen die ironische Geisteshaltung vieler postmoderner Denker und kritisiert, dass Begriffe wie ›Wahrheit‹, ›Objektivität‹ oder ›Wirklichkeit‹ heute bloß noch in Anführungszeichen gesetzt werden könnten. Durch diese Selbstzurücknahme wolle der postmoderne Philosoph seine kritische Distanz zum Gegenstand ausdrücken. Ferraris erkennt darin jedoch vor allem das »Protokoll der politischen Korrektheit« und befürchtet, dass der Hang zur Ironisierung die Forderung der Aufklärung, mit dem eigenen Kopf zu denken, konterkarieren könnte. Vgl. Maurizio Ferraris, Manifest des Neuen Realismus, a.a.O., S. 18ff.

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jedoch unmöglich, eine ernsthafte und aufrichtige Aussage über die Wirklichkeit zu formulieren: »Tout art, comme toute science, est un moyen de communication entre hommes. Il est évident que l’efficacité et l’intensité de la communication diminuent et tendent à s’annuler dès l’instant qu’un doute s’installe sur la véracité de ce qui est dit, sur la sincérité de ce qui est exprimé (imagine-t-on, par exemple, une science au second degré ?) […] Tout doit passer par le filtre de l’humour, humour qui finit bien entendu par tourner à vide et par se muer en mutité tragique.« (INT, 72-73) Damit stellt sich die Frage nach der Verortung des Schriftstellers im zeitgenössischen literarischen Feld Frankreichs. Obwohl Houellebecq der eigenen Gegenwart skeptisch gegenübersteht22 , ist die Literatur für ihn, anders als für sein Vorbild Lovecraft, kein Mittel, um der als unbefriedigend empfundenen Wirklichkeit zu entfliehen. Im Gegenteil: Die Ablehnung der modernen Welt bildet für ihn überhaupt erst den Anlass des Schreibens: »L’acte initial [d’écrire] c’est le refus radical du monde tel quel« (INT, 39). Für Houellebecq besteht die Aufgabe der Kunst darin, die gesellschaftlichen Widersprüche und Paradoxien der Gegenwart zu beschreiben: »[…] si l’art parvenait à donner une image à peu près honnête du chaos actuel, je crois que ce serait déjà énorme ; et qu’on ne pourrait vraiment rien lui demander de plus« (INT, 118). Der Roman ist seiner Ansicht nach ein privilegierter Ort für philosophische Debatten, doch er werde heute von verschiedener Seite herausgefordert: »Le triomphe du scientisme a confisqué au roman le droit naturel d’être un lieu de débats et de déchirements philosophiques. Il y aurait d’un côté la science, le sérieux, la connaissance, le réel et, de l’autre, la littérature, son élégance, sa gratuité, ses jeux formels. C’est pour cela, je crois, que le roman est devenu le lieu de l’écriture pour l’écriture. Comme s’il ne lui restait que ça. Je ne suis pas d’accord […].«23 Die Idee eines selbstbezüglichen »Schreibens um des Schreibens« willen hält Houellebecq nicht nur für falsch, sondern sogar für kontraproduktiv. Wenn Literatur für die Menschen relevant sein soll, dann dürfe man sie nicht auf einen »pur exercice du style«24 reduzieren. Gegen den rigiden Formalismus einer auto-reflexiven Literatur setzt Houellebecq darum eine Konzeption von Literatur, die sich mit Problemen der realen Welt beschäftigt: »Je ne me situe ni pour ni contre aucune avant-garde, mais je me rends compte que je me singularise par le simple fait que je m’intéresse moins au langage qu’au monde.

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Der Autor ist davon überzeugt, dass die Menschheit über kurz oder lang auf eine große Katastrophe zusteuert: »Compte tenu du système socio-économico mis en place, compte tenu surtout de nos présupposés philosophiques, il est visible que l’humain se précipite vers une catastrophe à brève échéance, et dans des conditions atroces ; nous y sommes déjà. La conséquence logique de l’individualisme c’est le meurtre, et le malheur« (INT, 47). Michel Houellebecq, »Entretien avec Catherine Argand«, in: Lire, n° 268, 1998, S. 28-34, hier S. 32, abrufbar unter: https://www.lexpress.fr/culture/livre/michel-houellebecq_802424.html (zuletzt eingesehen am 4.9.2019). Ebd.

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Je suis fasciné par les phénomènes inédits du monde dans lequel nous vivons. […]. Je n’arrive absolument pas à dépasser cet aspect des choses, à échapper à cette réalité ; je suis effroyablement perméable au monde qui m’entoure.« (INT, 110-111) Von einem Schriftsteller erwartet er, dass er auch unangenehme Themen klar benennt, selbst wenn er dafür ein hohes Risiko eingehen muss: »En mettant le doigt sur les plaies, on se condamne à un rôle antipathique« (INT, 111). Eine solche Literatur steht in diametralem Gegensatz zur dominanten Literaturauffassung des 20. Jahrhunderts. Anstatt die Antwort auf die Krise des Romans im Konzept der »écriture« zu suchen, wie es die Schriftstellerinnen und Schriftsteller im Anschluss an den Nouveau roman versucht haben, knüpft Houellebecq in seinem eigenen Werk an den gesellschaftskritischen Roman des 19. Jahrhunderts an.25 Allerdings ergeben sich aus den gesellschaftlichen Veränderungen des 20. Jahrhunderts ungeahnte Schwierigkeiten für den Roman, und zwar vor allem, was die Figurenzeichnung und die Entwicklung einer kohärenten Geschichte anbelangt.26 Im Unterschied zu Balzac, der die französische Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts in ihrer Totalität abbilden wollte, interessiert sich Houellebecq vor allem für die Mitte der Gesellschaft: »un écrivain idéal, comme Balzac, va partout. Mais […] à un moment donné, il m’a parut spécialement opportun de m’intéresser aux classes moyennes.«27 Diese Beschränkung auf die »classes moyennes« ist eine Konsequenz aus dem Persönlichkeitsverlust des modernen Individuums. Denn in der Welt des Supermarktes herrscht ein erdrückender Konformismus, was es dem Schriftsteller unmöglich macht, Figuren mit einer wiedererkennbaren Persönlichkeit zu entwickeln: »[…] j’ai souvent l’impression que les individus sont à peu près identiques, que ce qu’ils appellent leur moi n’existent pas vraiment, et qu’il serait en un sens plus facile de définir un mouvement historique« (INT, 45). Eine zweite Schwierigkeit betrifft die Frage, wie eine ereignishafte Romanhandlung im 21. Jahrhundert aussehen könnte. Denn zumindest in den säkularisierten Gesellschaften Westeuropas führen die Menschen heute ein Dasein ohne höheren Zweck: »[…] leur vie prise dans son ensemble n’a ni direction ni de sens. C’est pour

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Laut Rita Schober liegt genau darin die eigentliche Provokation von Houellebecqs Romanen: »Der Zugriff der französischen Literatur auf den kritischen Gesellschaftsroman hatte seit den 70er Jahren dieses Jahrhunderts sehr nachgelassen. Zeitweilig konnte man fast meinen, eine ausufernde Literaturtheorie habe die Literatur selbst völlig überwuchert. Les particules élémentaires brechen mit dieser Fixierung auf die ›écriture‹ – ein Teil des Skandals liegt vielleicht auch in dieser Provokation – und nehmen mit einem gewandelten Romankonzept die Verankerung der Fiktion in der Realität gemäß der Tradition eines Balzac, Flaubert, Zola wieder auf.« Rita Schober, »Weltsicht und Realismus in Michel Houellebecqs utopischem Roman Les particules élémentaires«, in: dies., Auf dem Prüfstand. Zola – Houellebecq – Klemperer, Berlin: Walter Frey, 2003, S. 155-194, hier S. 156. Aus diesem Grund kann es sich bei der Bezugnahme auf Balzac auch nicht um eine bloße »Rückkehr« zum ›realistischen‹ Roman des 19. Jahrhunderts handeln. Dazu noch einmal Rita Schober: »Il [Houellebecq] sait bien évidemment qu’il est impossible de revenir purement et simplement à la tradition réaliste du roman, avec son enchâssement de péripéties dans un flux temporel, sa construction d’une histoire cohérente et ses personnages à la Balzac emblématique d’une époque et d’un caractère.« Rita Schober, »Renouveau du réalisme? Ou de Zola à Houellebecq? Hommage à Colette Becker«, in: dies., Auf dem Prüfstand, a.a.O., S. 195-207, hier S. 202. Michel Houellebecq, »Entretien avec Didier Sénécal«, a.a.O.

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cela qu’il est devenu difficile d’écrire un roman honnête, dénué de clichés, dans lequel, pourtant, il puisse y avoir une progression romanesque« (INT, 116). Für den modernen Menschen gibt es kein Schicksal und keine Abenteuer mehr. Ein solches Leben lässt sich jedoch nur schwer in einer spannenden Geschichte erzählen. Eine Lösung für dieses Problem meint Houellebecq in der »injection brutale dans la matière romanesque de théorie et d’histoire« (INT, 116) gefunden zu haben. Die Idee dazu liefern ihm einerseits die Erzählungen H.P. Lovecrafts und andererseits die deutschen Frühromantiker (und insbesondere Novalis28 ). Sie hätten den Roman als eine ›totale‹ Gattung verstanden, weshalb er (mit Ausnahme der Poesie) streng genommen alles Mögliche enthalten könne: »Isomorphe à l’homme, le roman devrait normalement pouvoir tout en contenir. […] Les ›réflexions théoriques‹, par conséquent, m’apparaissent comme un matériau romanesque aussi bon qu’un autre, et meilleur que beaucoup d’autres. Il en est de même des discussions, des entretiens, des débats… Il en est encore plus évidemment de même de la critique littéraire, artistique ou musicale. Tout devrait au fond pouvoir se transformer en un livre unique […].« (INT, 7) Durch die Aufwertung des Romans zu einem universalen Erkenntnismedium erhält auch die Lektüre eine besondere Funktion. Nicht das Schreiben (im Sinne der écriture), sondern das Lesen ist für Houellebecq das zentrale Movens der Literatur. Denn nur das Lesen biete die Möglichkeit, dem allgemeinen Zeittrend der Beschleunigung zu entkommen: »Un livre en effet ne peut être apprécié que lentement ; il implique une réflexion (non surtout dans le sens d’effort intellectuel, mais dans celui de retour en arrière) ; il n’y a pas de lecture sans arrêt, sans mouvement inverse, sans relecture. Chose impossible et même absurde dans un monde où tout évolue, tout fluctue, où rien n’a de validité permanente : ni les règles, ni les choses, ni les êtres.« (INT, 74, Hervorhebung im Original) Die Lektüre widersetzt sich mit allen Mitteln der Idee einer sich permanent verändernden Gegenwart. Sie fordert Leser, die wirkliche »Subjekte« (INT, 75) sind und eine stabile Existenz führen. Um der Flut an Werbebotschaften, Nachrichten und Informationen zu entkommen, die uns fortwährend neue Bedürfnisse und Wünsche suggerieren, genügt es laut Houellebecq, sich für den Augenblick der Lektüre zu immobilisieren. Jeder Einzelne sei imstande, für sich selbst eine Art »révolution froide« (INT, 80) durchzuführen, um der Welt gegenüber eine ästhetische Haltung einzunehmen.

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»Il faudrait pouvoir tout mettre. Novalis, les romantiques allemands en général entendaient parvenir à une connaissance totale. C’était une erreur que de renoncer à cette ambition« (INT, 40). – »Pour les romantiques, le roman était l’instrument le plus complet de l’art, l’œuvre par excellence, tous les genres devraient y intervenir. Je m’inscris dans cette filiation, même si, comme Novalis, je me suis heurté à la difficulté d’intégrer la poésie au roman. Il y a des définitions, des commentaires scientifiques, des explications historiques, des descriptions mécanistes, des rêves, des dialogues, des paysages dans Les particules élémentaires.« Michel Houellebecq, »Entretien avec Catherine Argand«, a.a.O., S. 32.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

4.2 4.2.1

Leiden als Ausgangspunkt für das Schreiben: Extension du domaine de la lutte (1994) und die Neubegründung des Romans als Wissenschaft Das Erwachen des Schelms

Der 1994 veröffentlichte Debütroman Extension du domaine de la lutte nimmt in zweierlei Hinsicht eine Sonderstellung in Houellebecqs Werk ein.29 Zum einen, weil der Autor bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich als Dichter in Erscheinung getreten war; und zum anderen, weil in seinem Debütroman bereits viele Themen anklingen, auf die Houellebecq in seinen späteren Romanen erneut zurückgreift. Auffällig ist zunächst die dreigliedrige Struktur des Textes, die man auch in den übrigen Romanen vorfindet.30 Der Roman besteht aus 28 Kapiteln, von denen einige mit Überschriften und Motti versehen sind. Inhaltlich weist er kaum eine Geschichte im herkömmlichen Sinne auf; stattdessen wechseln einzelne Episoden und Momentaufnahmen mit theoretischen Überlegungen, metapoetischen Kommentaren und didaktischen Fabeln ab, in denen die zentralen Romanthesen entwickelt werden. In formaler Hinsicht experimentiert der Roman mit unterschiedlichen Erzählformen. Dazu zählt etwa der häufige Wechsel der Erzähltempora (der Roman variiert zwischen passé composé, présent und passé simple) und Stilebenen (insbesondere die Vermischung einer ernsten und einer komischen Tonlage). Die Handlung spielt im Umfeld eines Dienstleistungsunternehmens aus der ITBranche. Der Umstand, dass Houellebecq seinen Debütroman ausgerechnet in diesem Milieu ansiedelt, hat sicherlich auch autobiografische Gründe, da der Autor vor seiner Karriere als Schriftsteller selbst einige Jahre in diesem Bereich tätig war. Darüber hinaus mögen auch literarische Gründe eine Rolle dafür gespielt haben, dass das Romangeschehen im Milieu eines IT-Unternehmens angesiedelt ist, schließlich handelt es sich dabei um einen Wirklichkeitsbereich, der bis dahin kaum Eingang in die Literatur gefunden hatte.31 Damit schreibt sich Houellebecq in die Tradition des 19. Jahr-

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Vgl. Michel Houellebecq, Extension du domaine de la lutte, Paris: Maurice Nadeau, 1994. Im Folgenden abgekürzt durch das Sigel EDL. Houellebecq hat diese wiederkehrende Struktur seiner Romane in einem Zeitungsinterview anlässlich der Veröffentlichung seines Romanes La possibilité d’une île im August 2005 eigens betont: »J’aime qu’un roman soit plus qu’une histoire, plus qu’une narration close. Qu’on puisse entendre des paroles multiples, des points de vue divers. J’aime faire intervenir du commentaire […]. Mais curieusement, et sans que je le calcule à l’avance, mes romans sont toujours en trois parties, qui ont toujours la même proportion. Et il y a toujours quelque chose de franchement nouveau qui intervient au début de la deuxième partie […]. Quant à la troisième partie, elle est toujours plus méditative et sans événement.« Vgl. Michel Houellebecq, »Tout ce que la science permet sera réalisé«, in: Le Monde, 20.08.2005, abrufbar unter www.lemonde.fr/culture/article/2010/11/08/michelhouellebecq-tout-ce-que-la-science-permet-sera-realise_681484_3246.html (zuletzt eingesehen am 22.9.2019). Genau dieses Defizit möchte der Autor nach eigenem Bekunden beheben: »Meinen ersten Roman habe ich geschrieben, weil ich genau in der Art von Informationswelt lebte, die da vorgeführt wird, und weil ich diese Wirklichkeit in keinem anderen Buch wiedergefunden hatte. […] Als Schriftsteller will ich die Welt widerspiegeln.« Vgl. Michel Houellebecq, »Überall Bilder von perfektem Sex«, in: Der Spiegel Nr. 43, 25.10.1999, S. 217, abrufbar unter https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-1497 7446.html (zuletzt eingesehen am 22.9.2019).

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hunderts ein, denn bereits die Autoren des ›realistischen‹ (›naturalistischen‹) Romans wollten der Literatur neue Wirklichkeitsbereiche erschließen.32 An die Stelle des klassischen Industrieproletariats, das im 19. Jahrhundert erstmals Einzug in den Roman hält, tritt bei Houellebecq jedoch das Heer von Angestellten und Beschäftigten aus dem sogenannten Dienstleistungssektor. Dazu zählt auch der namenlose33 Ich-Erzähler, der zu Beginn der Handlung gerade dreißig Jahre alt geworden ist und sich damit in einem Lebensabschnitt unmittelbar nach dem Eintritt in die berufliche »Kampfzone« befindet. Über seine Kindheit und Jugend erfahren wir relativ wenig. Nach einem »démarrage chaotique« (EDL, 15) und dem erfolgreichen Abschluss des Studiums bekleidet er nun eine mittlere Führungsposition (»cadre moyen«) in einem Unternehmen, das für die Einführung einer neuen Software im Landwirtschaftsministerium zuständig ist. Finanziell geht es ihm ausgesprochen gut; weniger gut steht es dagegen mit seinem Privatleben. Mit Ausnahme eines befreundeten Priesters hat er keine sozialen Kontakte, die Wochenenden verbringt er allein, räumt etwas auf und sinniert über das Paradox des Selbstmords. Im Großen und Ganzen ist sein Alltag geprägt von Langeweile, Einsamkeit und dem Gefühl einer »universellen Leere« (EDL, 13). Der Roman beginnt mit dem Bericht einer privaten soirée unter Kollegen. Dem Kapitel ist ein Zitat aus den Römerbriefen (Röm 13,12) als Motto vorangestellt: »La nuit est avancée, le jour approche. Dépouillons-nous donc des œuvres des ténèbres, et revêtons les armes de la lumière« (EDL, 5). Die Wahl dieses Zitats ist in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: Zum einen stellen die Briefe des Heiligen Paulus an die Römer eine Art Gründungsdokument der Kirche dar.34 Ihrer exponierten Stellung innerhalb des Neuen Testaments entspricht die Funktion des Mottos zu Beginn des Romans. Die Abfassungssituation der Briefe, in denen der Apostel Paulus von seinen Reiseplänen nach Rom berichtet, verweist zudem auf die bevorstehende Reise des Ich-Erzählers im zweiten Teil der Erzählung. Darüber hinaus wird mit dem Bibel-Zitat auf einen Konversionsvorgang hingewiesen, analog der Bekehrung des biblischen Saulus zum Apostel Paulus. Die auffällige Licht- und Kampfmetaphorik (»les armes de la lumière«) verleiht diesem Vorgang eine moralische Dimension und stellt einen Bezug zum Romantitel her. Der 32

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Wolfgang Asholt erkennt darin eine »gewisse Analogie« zu dem Romanprojekt der Brüder Goncourt. In ihrer »Préface« zu Germinie Lacerteux (1865) erklären die Goncourts, dass sie der Literatur ein neues soziales Milieu erschließen wollen, indem sie die »malheurs trop bas« der unteren Gesellschaftsklassen zum Thema ihrer Romane machen. Vgl. Wolfgang Asholt, »Die Rückkehr zum Realismus?«, a.a.O., S. 105. Das Spiel mit der eigenen Autobiografie ist ein wiederkehrendes Element von Houellebecqs Romanen. Teilweise tragen seine Protagonisten denselben Vornamen wie der Autor, so zum Beispiel der Wissenschaftler Michel in Les particules élémentaires oder der Ich-Erzähler Michel aus Plateforme. Vereinzelt hat dies in der Forschung zu Verwechselungen oder – schlimmer – zur Gleichsetzung des Autors mit seinen Romanfiguren geführt. So geht etwa auch John McCann in seiner ansonsten sehr überzeugenden Interpretation des Romans unerklärlicherweise davon aus, der namenlose Ich-Erzähler aus Extension du domaine de la lutte würde den Namen Michel tragen. Vgl. John McCann, Michel Houellebecq. Author of our Times, Oxford [u.a.]: Peter Lang, 2010, S. 5-50. Zum historischen Hintergrund der Römerbriefe und ihrer Funktion innerhalb des Neuen Testaments siehe Friedrich-Wilhelm Horn, »Römerbrief«, in: Bibelwissenschaft: Das wissenschaftliche Bibelportal der Deutschen Bibelgesellschaft, abrufbar unter https://www.bibelwissenschaft.de/stichwor t/53931/(letzter Zugriff am 12.12.2017).

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

Gegensatz von Hell und Dunkel, Tag und Nacht, korrespondiert gleichzeitig auch mit der zyklischen Struktur der Erzählung: Der Roman beginnt nach Einsetzen der Dunkelheit und endet an einem Nachmittag, als die Sonne im Zenit. Mit dem einleitenden Motto wird also proleptisch auf die Romanhandlung vorgegriffen. Allerdings steht der sakrale Charakter des Bibel-Zitats in einem deutlichen Kontrast zum profanen Thema der Eingangsszene: »Vendredi soir, j’étais invité à une soirée chez un collègue de travail. On était une bonne trentaine, rien que des cadres moyens âgés de vingt-cinq à quarante ans. À un moment donné il y a une connasse qui a commencé à se déshabiller. Elle a ôté son T-shirt, puis son soutien-gorge, puis sa jupe, tout ça en faisant des mines incroyables. Elle a encore tournoyé en petite culotte pendant quelques secondes, et puis elle a commencé à se resaper, ne voyant plus quoi faire d’autre. D’ailleurs c’est une fille qui ne couche avec personne. Ce qui souligne bien l’absurdité de son comportement.« (EDL, 5) In stilistischer Hinsicht fällt auf, dass der Romanbeginn eine mündliche Kommunikationssituation simuliert.35 Es dominieren Begriffe und Redewendungen, die einem umgangssprachlichen Register entlehnt sind (»connasse«, »resaper«, »boudin«, »bouquin«, »truc«, »boulot«, »vachement«, »mecs«). Auch der Gebrauch des syntaktisch verkürzten Demonstrativpronomens (»ça« anstelle von »cela«) fällt darunter. Parallel dazu existiert aber noch ein zweites Sprachregister, das eher der gehobenen Schriftsprache zuzuordnen ist. Dieser Gegensatz von langage familier und langage soutenu bewirkt eine Komik, die für den Roman insgesamt charakteristisch ist. Denn die Erzählung ist in weiten Teilen vor allem eine Satire der neuen Arbeitswelt. Komisch wirkt auch das Gebaren der jungen Frau, die sich aus unerklärlichen Gründen zunächst auszieht, sich aber umgehend aber wieder anzieht, nachdem sie sich der »Absurdität« ihres Verhaltens bewusst geworden ist. Das einleitende Motto liest sich vor diesem Hintergrund wie ein ironischer Kommentar des Romanbeginns: der Vorgang des Ausziehens und Ankleidens findet seine Entsprechung in dem Gegensatz von »dépouillons« und »revêtons« aus dem Zitat der Römerbriefe. Die Eingangsszene steht somit von Anfang an in einem höchst ironischen Licht.36 Der Ich-Erzähler wiederum erweist sich im weiteren Verlauf der Eingangsszene als wenig zuverlässiger Berichterstatter. Er ist stark alkoholisiert und hält sich hinter einem Sofa versteckt. Von dort belauscht er das Gespräch zweier Frauen, deren Stimmen von oben auf ihn herab zu kommen scheinen »un peu comme le Saint-Esprit« (EDL, 6). Die Gesichter der beiden Frauen sieht er zwar nicht, dafür zeichnen sich auf der gegenüberliegenden Wand die »ombres chinoises« (EDL, 6) ihrer

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Eine ausführliche Analyse der Romaneröffnung unternimmt Hans-Martin Gauger, »Le style de Michel Houellebecq dans Extension du domaine de la lutte«, in: Einfalt, Michael et al. (Hg.), Intellektuelle Redlichkeit – Intégrité intellectuelle. Literatur – Geschichte – Kultur. Festschrift für Joseph Jurt, Heidelberg: Winter, 2005, S. 181-191. Es ist kein Zufall, dass der Erzähler in diesem Kontext einen existenzphilosophischen Schlüsselbegriff verwendet, um das »absurde« Verhalten der jungen Frau zu charakterisieren. Wie an späterer Stelle noch zu zeigen sein wird, enthält der Roman eine Reihe von Anspielungen auf Sartre und Camus, die beiden Hauptvertreter des französischen Existentialismus im 20. Jahrhundert.

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bizarr verformten Körper ab.37 Gegenstand ihres Gespräches ist eine Kollegin aus dem Unternehmen: »Pendant quinze minutes elles ont continué à aligner les platitudes. Et qu’elle avait bien le droit de s’habiller comme elle voulait, et que ça n’avait rien à voir avec le désir de séduire les mecs, et que c’était juste pour se sentir bien dans sa peau, pour se plaire à elle-même etc. Les ultimes résidus, consternants, de la chute du féminisme […]. Moi aussi j’avais bien remarqué cette fille. Difficile de ne pas la voir. D’ailleurs, même le chef de service était en érection.« (EDL, 6) Die Redebeiträge der beiden Frauen werden durch die parataktische Reihung (»et que«) regelrecht ins Lächerliche gezogen. Der Erzähler erkennt in den vorgebrachten Argumenten lediglich eine Ansammlung von »Plattitüden«, die seine These vom Niedergang des Feminismus bezeugen. Er hat jedoch keine Zeit mehr, diese These zu begründen, da er noch vor dem Ende des Gesprächs einschläft. Im Traum erscheinen ihm die beiden Frauen, dieses Mal jedoch Arm in Arm, offenbar haben sie sich solidarisiert, während ihre Kollegin das Geschehen aus der Distanz betrachtet. Auf ihrer Schulter thront der Abteilungsleiter in Gestalt eines »perroquet gigantesque« (EDL, 7), dem sie mit einer »main négligente mais experte« (EDL, 7) über den gefiederten Bauch streichelt.38 Wie Barbara Vinken gezeigt hat, steht das sinnlose Plappern des Papageis stellvertretend für eine Welt, in der die Sprache der Liebe zum Klischee geronnen und nur mehr »toter Buchstabe« ist.39 Dasselbe gilt auch für die beiden Frauen aus der Eingangsszene von Houellebecqs Roman, die zwar die Gemeinplätze des feministischen Diskurses wiederholen, selbst aber gar nicht daran glauben. Im Traum des Ich-Erzählers erfahren wir denn auch, wie es in Wahrheit um die weibliche Solidarität bestellt ist.40 Während die 37

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Das Spiel mit den Schatten erinnert an das berühmte Höhlengleichnis aus dem siebten Buch von Platons Politeia. Wie die Gefangenen in Platons Höhle nimmt auch der Ich-Erzähler lediglich Schattenbilder der reinen Ideen wahr. Er ist weit davon entfernt, die Situation richtig einschätzen zu können, da sein Urteilsvermögen durch den Einfluss des Alkohols getrübt ist. Die Realität auf der anderen Seite des Sofas entgleitet ihm mehr und mehr. John McCann weist zudem darauf hin, dass der ironische Kontext der Eingangsszene eine Reminiszenz an den geselligen Rahmen des Symposiums darstellt. Am Ende des platonischen Dialogs sind die Teilnehmer des Gastmahls betrunken, genau wie der Erzähler am Ende des Kapitels. Das Thema des Dialogs ist das Verhältnis von Liebe und Erotik; das Gespräch der beiden Frauen kreist um Fragen der Verführung. Vgl. John McCann, Michel Houellebecq, Author of our times, a.a.O., S. 14. Damit spielt der Text auf das berühmte Ende von Flauberts Erzählung Un cœur simple (1877) an. Die fromme Haushälterin Félicité meint im Augenblick ihres Todes den Heiligen Geist in Gestalt ihres ausgestopften Papageis zu sehen. Bei Flaubert wird diese Epiphanie wie folgt beschrieben: »[…] elle crut voir, dans les cieux entrouverts, un perroquet gigantesque, planant au-dessus de sa tête.« Die Übereinstimmung reicht also bis in die Wortwahl hinein. Bei Houellebecq steht das Zitat (»un perroquet gigantesque«) jedoch in einen überaus ironischen Kontext. Die Epiphanie des IchErzählers ist wohl in erster Linie seinem Alkoholkonsum zu verschulden. Entsprechend wird die Vision bei Houellebecq auch nur in Form eines abgeschwächten Vergleichs (»un peu comme le Saint-Esprit«) beschrieben. Zit. nach: Gustave Flaubert, Un cœur simple, a.a.O., S. 622. Barbara Vinken, Flaubert. Durchkreuzte Moderne, a.a.O., S. 374-418, hier S. 412. Dass dem Schlafenden im Traum bisweilen eine höhere Erkenntnis oder gar eine göttliche Offenbarung zuteil wird, ist ein Topos der Literatur, den man zum Beispiel schon in der biblischen Erzählung von Josef und seinen Brüdern (Gen 37-50) findet. Vgl. hierzu Klaus Seybold, »Der Traum

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

zwei Frauen über ihre Kollegin lästern, wickelt diese den Abteilungsleiter um den Finger. Houellebecq hat die Eingangsszene seines Debütromans als Enthüllungsszene im buchstäblichen Sinne des Wortes entworfen. Die junge Frau, die sich aus unerklärlichen Gründen entkleidet, führt dem Erzähler die »nackte« Wahrheit über die egoistische Natur des Menschen vor Augen. Diese Entdeckung bewirkt eine heftige Abwehrreaktion seitens des Erzählers, was sich in einer plötzlichen Übelkeit und im Erbrechen äußert.41 Auf das Erbrechen des Protagonisten folgt sogleich die unmittelbare Ernüchterung. Kaum ist der Erzähler erwacht, muss er feststellen, dass seine Autoschlüssel verschwunden sind; als er zwei Tage später zurückkehrt, kann er sich nicht mehr daran erinnern, wo er den Wagen abgestellt hatte. Um sich keine Blöße geben zu müssen, beschließt er, das Fahrzeug als gestohlen zu melden. Seine Begründung entbehrt nicht der Komik: »Beaucoup de voitures sont volées de nos jours, surtout en proche banlieue ; l’anecdote serait aisément comprise et admise, aussi bien par la compagnie d’assurances que par mes collègues de bureau. Comment, en effet, avouer que j’avais perdu ma voiture? Je passerais aussitôt pour un plaisantin, voir un anormal ou un guignol ; c’était très imprudent. La plaisanterie n’est guère de mise, sur de tels sujets ; c’est là que les réputations se forment, que les amitiés se font ou se défont. Je connais la vie, j’ai l’habitude. Avouer qu’on a perdu sa voiture, c’est pratiquement se rayer du corps social ; décidément, arguons du vol.« (EDL, 9) Auf den ersten Blick könnte man den Erzähler in der Tat für einen Spaßvogel (»plaisantin«) halten, enthielte seine Erklärung nicht auch einen gewissen Ernst. Denn er fürchtet nicht nur den Spott seiner Kollegen, sondern viel grundsätzlicher den Ausschluss aus der Gemeinschaft (»se rayer du corps social«).42 Dieselbe Problematik wird auch in der Geschichte eines Mannes thematisiert, der beim Kauf eines Bettes verzweifelt und schließlich sogar Selbstmord begeht: »L’anecdote était généralement rapportée avec un

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in der Bibel«, in: Wagner-Simon, Therese/Benedetti, Gaetano (Hg.), Traum und Träumen. Traumanalysen in Wissenschaft, Religion und Kunst, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1984, S. 32-54. Murielle Clément interpretiert das öffentliche Erbrechen und Onanieren von Houellebecqs Romanfiguren als eine Form des Abjekten. Sie beruft sich dabei auf Überlegungen der französischen Psychoanalytikerin Julia Kristeva, die das Abjekte in ihrer Studie Pouvoir de l’horreur. Essai sur l’abjection als den Vorgang des Abstoßens und Von-sich-Weisens (analog zur frz. ›rejet‹) definiert. Das Abjekte ist das, was wir abstoßen, weil es uns abstößt. Vgl. Murielle Lucie Clément, Houellebecq, sperme et sang, Paris: L’Harmattan, 2003, S. 61ff. Das Abjekte lässt sich aber ebenso auf die misogynen, rassistischen oder xenophoben Entgleisungen der Romanfiguren beziehen, von denen sich der Leser abgestoßen fühlen soll. Wenn der Ich-Erzähler am Ende der Eingangsszene die Reste seines Erbrochenen unter einem Haufen von Kissen versteckt, so könnte man im Anschluss an Kristeva fragen, ob es sich dabei nicht um den Versuch handelt, diese abstoßenden Aspekte der Gesellschaft zu verdrängen. Dass er damit keineswegs falsch liegt, beweist die Reaktion seines Vorgesetzten wenige Tage später: Als der Abteilungsleiter ihn wegen eines verpassten Termins ermahnt, führt der Erzähler in Ermangelung einer besseren Entschuldigung den angeblichen Diebstahl seines Autos an. Daraufhin zeigt sich der Vorgesetzte plötzlich verständnisvoll und entlässt ihn mit den aufbauenden Worten »durchzuhalten« (EDL, 25).

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léger sourire ironique ; pourtant, il n’y a pas de quoi rire ; l’achat d’un lit, de nos jours, présente effectivement des difficultés considérables, et il y a bien de quoi vous mener au suicide« (EDL, 101). Wie der Erzähler anmerkt, bringt der Kauf eines Möbelstückes eine Reihe von Schwierigkeiten mit sich, angefangen bei der Frage nach dem passenden Zeitpunkt für die Lieferung bis zu den technischen Problemen des Transports. Zu diesen grundsätzlichen Schwierigkeiten kommt im Fall eines Bettes nun aber eine weitere Herausforderung hinzu: »Mais le lit, entre tous les meubles, pose un problème spécialement, éminemment douloureux. Si l’on veut garder la considération du vendeur on est obligé d’acheter un lit à deux places, qu’on en ait ou non l’utilité, qu’on ait ou non la place de le mettre. Acheter un lit à une place c’est avouer publiquement qu’on n’a pas de vie sexuelle, et qu’on n’envisage pas d’en avoir dans un avenir rapproché ni même lointain (car les lits durent longtemps de nos jours, bien au-delà de la période de garantie ; c’est une affaire de cinq ou dix, voire vingt ans ; c’est un investissement sérieux, qui vous engage pratiquement pour le restant de vos jours ; les lits durent en moyenne bien plus longtemps que les mariages, on ne le sait que trop bien).« (EDL, 102) Die Verknüpfung scheinbar unzusammenhängender Aspekte – ein alltägliches Ereignis bildet den Anlass für eine philosophische Reflexion – ist ein typisches Verfahren, mit dem Houellebecq in seinen Romanen oftmals einen komischen Effekt erzielt. Diese Komik darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier ein ernstes Thema verhandelt wird. Was die Geschichte des Mannes, der aus Verzweiflung über die Schwierigkeiten beim Bettenkauf Selbstmord begeht, mit der Anekdote des vermissten Autos verbindet, ist der Umstand, dass beide einen Normenkonflikt zwischen den Erwartungen der Gesellschaft und den Wünschen des Individuums thematisieren. Beide Male handelt es sich um Situationen, die ein öffentliches Geständnis (»avouer publiquement«) erzwingen; und in beiden Fällen werden Verhaltensweisen eingefordert, die nicht erfüllt werden können und daher mit sozialer Ächtung bestraft werden.43 Auch der Ich-Erzähler verspürt den Druck der Erwartungshaltungen, doch er geht anders damit um. Er sieht ein, dass es besser ist, sich dem Konformitätsdruck der Gesellschaft zu beugen. Der Schelm (»guignol«) hat seine Lektion gelernt und macht sich nun frohen Mutes daran, die allgemeine Heuchelei seiner Umwelt zu entlarven. Die Demaskierung (desengaño) des gesellschaftlichen Scheins ist das zentrale Thema des pikaresken Romans, mit dem Houellebecqs Debütroman einige Strukturmerkmale teilt. Am Anfang steht dabei für gewöhnlich ein sogenanntes »Erweckungserlebnis«.44 Der Held des spanischen Schelmenromans, der Picaro, erkennt, dass die Welt an und für sich schlecht ist, weil in ihr Egoismus und Gewalt herrschen. Diese Erkenntnis führt 43

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Die gesellschaftlichen Rollenanforderungen können einen fragilen Menschen schwer erschüttern und es bedarf nicht viel, damit ein »être sensible« (EDL, 102) unter dem sozialen Konformitätsdruck zerbricht wie Glas. Nicht umsonst trägt Gérard Leverrier, der Mann aus der Geschichte, diese Zerbrechlichkeit bereits in seinem Namen. Im Folgenden nach Jürgen Jacobs, Der Weg des Pícaro. Untersuchungen zum europäischen Schelmenroman, Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 1998, S. 48. Zu den konstitutiven Gattungsmerkmalen des pikaresken Romans siehe etwa auch das Kapitel »Die Pikareske – Versuch einer Eingrenzung« in: Hans Gerd Rötzer, Der europäische Schelmenroman, Stuttgart: Reclam, 2009, S. 112-123.

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dazu, dass er sein Vertrauen in die Menschen schlagartig verliert. Einen solchen Desillusionierungsprozess durchläuft auch der Erzähler aus Houellebecqs Roman, nachdem er im Traum die wahre, egoistische Natur des Menschen erkannt hat. Bezeichnenderweise beginnt er seine Laufbahn als Schelm just in dem Moment, als er die Heuchelei seiner Umwelt durchschaut. Auf das Erwachen des Schelms folgt bereits im nächsten Kapitel sein erstes Schelmenstück, denn er beschließt, sein Auto bei der Polizei als gestohlen zu melden. Nach dieser Initiation erlebt der Picaro für gewöhnlich eine Reihe von Abenteuern, die ihn mehr und mehr ins Kriminelle abdriften lassen. Im Roman äußert sich diese kriminelle Energie darin, dass der Erzähler auf dem Höhepunkt der Handlung einen Kollegen zum Mord an einem Fremden anstiftet. Am Ende durchläuft der Schelm jedoch in aller Regel eine zweite Erweckung, die ihn die Schändlichkeit seiner Taten erkennen lässt. Er bekennt sich zu seinen Sünden und wendet sich in Folge dessen reuevoll von seiner bisherigen Lebensweise ab. Diese finale Bekehrung bildet den eigentlichen Erzählanlass bzw. den »Rechtfertigungsrahmen«45 des pikaresken Romans, denn der Schelm gelangt nunmehr »zu einer moralischen Wahrheit, die sich gegen die korrupte Welt stellt«46 . Wie noch genauer zu zeigen sein wird, durchläuft der Ich-Erzähler aus Houellebecqs Debütroman ebenfalls eine solche Wandlung. Anders als in der Gattungstradition vorgesehen, führt seine finale Bekehrung jedoch ins Leere.

4.2.2

Schöne neue (Arbeits-)Welt

Die Anlage als Schelmenroman erklärt auch das bereits mehrfach angesprochene Verhältnis von Komik und Ernst. Vor allem die berufliche Welt, in der sich der Ich-Erzähler zu behaupten versucht, wird mit spürbarer Lust und einem trockenen Sarkasmus geschildert.47 Trotz der vereinzelten Situationskomik erscheint die berufliche Welt jedoch überwiegend negativ. Es ist eine Welt, die auf Kriterien von Effizienz und Leistung be-

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Gerd Rötzer, Der europäische Schelmenroman, a.a.O., S. 119. Jürgen Jacobs, Der Weg des Pícaro, a.a.O., S. 55. Etwa wenn der Erzähler typische Floskeln der Unternehmenssprache imitiert oder wenn er zu seiner eigenen Belustigung amüsant klingende, aber vollständig sinnlose Sätze in einer Broschüre des Landwirtschaftsministeriums unterstreicht: »Bien avant que le mot ne soit à la mode, ma société a développé une authentique culture d’entreprise (création d’un logo, distribution de sweatshirts aux salariés, séminaires de motivation en Turquie). C’est une entreprise performante, jouissante d’une réputation enviable dans sa partie ; à tous points de vue, une bonne boîte« (EDL, 17). – »[…] on m’avait remis un volumineux rapport intitulé ›Schéma directeur du plan informatique du ministère de l’Agriculture‹. Là non plus, je ne vois pas pourquoi. Ce document ne me concernait en rien. […] Je feuilletai rapidement l’ouvrage, soulignant au crayon les phrases amusantes. Par exemple : ›Le niveau stratégique consiste en la réalisation d’un système d’informations global construit par l’intégration de sous-systèmes hétérogènes distribués.‹ Ou bien : ›Il apparaît urgent de valider un modèle relationnel canonique dans une dynamique organisationnelle débouchant à moyen terme sur une database orientée objet.‹« (EDL, 29-30). Komisch wirkt auch die Beschreibung der Personen anlässlich einer Konferenz im Landwirtschaftsministerium, allen voran die Karikatur des sozialistischen Landwirts oder diejenige des jungen und dynamischen Abteilungsleiters, der über die Gänge zu schweben scheint und den Erzähler mit dem Blick einer Madonna augenblicklich für sich einnimmt (EDL, 35).

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ruht und in der unproduktive Subjekte gnadenlos aussortiert werden.48 Ein eindrückliches Bild für den enormen Leistungsdruck in der beruflichen »Kampfzone« liefert Catherine Lechardoy, eine Mitarbeiterin des Landwirtschaftsministeriums, die der IchErzähler im Rahmen eines Arbeitsbesuches im Ministerium kennenlernt. Einerseits empört sie sich über den Egoismus ihrer Mitmenschen, andererseits meint sie aber, dass man im Leben kämpfen müsse, um etwas zu erreichen: »De toute façon dans la vie il faut se battre pour avoir quelque chose, c’est ce qu’elle a toujours pensé« (EDL, 2728). Daher besucht sie Fortbildungen und belegt Abendkurse in Controlling, was wohl auch ihrem Bedürfnis entspricht, die »Kontrolle« über ihr eigenes Leben zu behalten. Denn sie ist davon überzeugt, dass sich Probleme nur mit Hilfe einer strengen Methodik beheben lassen: »D’après elle, tout le monde devrait se conformer à une méthodologie rigoureuse basée sur la programmation structurée ; et au lieu de ça c’est l’anarchie, les programmes sont écrits n’importe comment, chacun fait ce qu’il veut dans son coin sans s’occuper des autres, il n’y a pas d’entente, il n’y a pas de projet général, il n’y a pas d’harmonie, Paris est une ville atroce, les gens ne se rencontrent pas, ils ne s’intéressent même pas à leur travail, tout est superficiel, chacun rentre chez soi à six heures, travail fini ou pas, tout le monde s’en fout.« (EDL, 27) Wie die meisten Romanfiguren lebt sie allein, arbeitet bis spät in die Nacht und verbringt die Wochenenden bei ihren Eltern im Béarn, da sie Paris für eine schreckliche Stadt hält, in der man auf offener Straße krepieren könne, ohne dass es jemanden interessiere. Sie sehnt sich nach einem verbindlichen Ordnungsrahmen, einem »projet général«, um die vermeintliche »Anarchie« in der Gesellschaft durch kontrollierte Steuerung wieder in geordnete Bahnen zu lenken, analog dem Modell eines Computerprogramms, das spezifische Vorgaben in einen normativen Code übersetzt, der für alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen verbindlich ist. Nach außen beklagt sie den Mangel an »Harmonie«, doch in ihrem Inneren hat sich eine ungeheure Wut angestaut: »Sa rage est intense, sa rage est profonde« (EDL, 26-27). Diese Wut ist eine Folge der Enttäuschungen, die sie im Laufe ihres Lebens erfahren musste. Denn obwohl sie alles dafür tut, gelingt es ihr nicht, einen geeigneten Partner zu finden. Ein weiterer Vertreter der modernen Arbeitswelt ist Jean-Yves Fréhaut, ein Kollege des Ich-Erzählers. Schon sein Familienname verrät, welches ideologische Weltbild er verkörpert. Fréhaut vertritt die These, dass das Maximum an Wahlmöglichkeiten mit dem Maximum an Freiheit zusammenfällt. Freiheit bedeutet für ihn »la possibilité d’établir des interconnexions variées entre individus, projets, organismes, services« (EDL, 40). In Anbetracht der Tatsache, dass es in seinem Leben keine sozialen Kontakte gibt, erscheint dieser Freiheitsbegriff mehr als fragwürdig. Die Vervielfachung der sogenannten »Freiheitsgrade«, von denen er fabuliert, führt in der fiktiven Welt des

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Sei es altersbedingt wie im Fall der Verabschiedung eines langjährigen Mitarbeiters, der mit der rasanten Entwicklung der Computer-Technologie nicht Schritt halten konnte und darum in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wird (EDL, 44f.), sei es krankheitsbedingt, wie im Fall des IchErzählers, der seinen Kollegen gegenüber einen Termin beim Psychiater erwähnt, was den unmittelbaren »Tod einer Führungskraft« (EDL, 134) zur Folge hat.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

Romans zur Vereinsamung der Menschen. Fréhaut ist somit nicht nur der »prophète enthousiaste« (EDL, 43) des neuen Informationszeitalters, sondern zugleich auch die Verkörperung seiner Paradoxien. Er selbst hat den höchsten Grad an Freiheit erreicht, er hält sich für progressiv, wählt links und begeistert sich für die Gemälde Gauguins.49 Gleichzeitig lebt er alleine, bestellt sein Essen via Minitel und liest Kontaktanzeigen im Teletext. Zu den Anhängern des neuen Informationszeitalters zählt auch der anonyme »Theoretiker«, der ebenfalls im Unternehmen des Ich-Erzählers arbeitet. Der Umstand, dass er namenlos bleibt, kann als Symptom für den Persönlichkeitsverlust der Figuren gedeutet werden. Er vertritt das Ideal einer »société parfaitement informée, parfaitement transparente et communicante« (EDL, 46), in der sich soziale Interaktionen auf den bloßen Austausch von Informationen reduzieren. Er vergleicht die Gesellschaft mit einem »Gehirn« und die Menschen mit »Gehirnzellen«, für die es wünschenswert wäre, so viele Verbindungen wie möglich einzugehen. Der Erzähler hingegen stellt die Erklärungskraft dieser Metapher in Frage, wenn er hinzufügt, dass ein Gehirn ohne ein entsprechendes »projet d’unification« (EDL, 40) nicht funktionieren kann. Alles in allem vermittelt der Roman das Bild einer effizienten und durchrationalisierten, aber substanzlosen Welt. Paradoxerweise hat die Verabsolutierung der Freiheit dazu geführt, dass der Freiheitsbegriff selbst sinnentleert wurde. Die Romanfiguren leben daher einen permanenten Selbstwiderspruch: Einerseits begrüßen sie die Zugewinne an individueller Freiheit, die ihnen das moderne Arbeitsleben ermöglicht; andererseits verzweifeln sie daran, dass sie allein sind und keine sozialen Beziehungen haben. Ihre Antwort auf die moderne Welt schwankt zwischen Müdigkeit, Enttäuschung und einer immensen Verbitterung: »Aucune civilisation, aucune époque n’ont été capable de développer chez leurs sujets une telle quantité d’amertume. De ce point de vue-là, nous vivons des moments sans précédent. S’il fallait résumer l’état mental contemporain par un mot, c’est sans aucun doute celui que je choisirais : l’amertume.« (EDL, 148) Dennoch machen die Figuren keinerlei Anstalten, etwas an diesem Zustand zu verändern. Sie fügen sich problemlos in ihre unterschiedlichen »Rollen« ein. Während einer Dienstreise verständigen sich der Erzähler und sein Kollege schnell über ihre jeweiligen Funktionen »dans le jeu de rôles qui est en train de se mettre en place« (EDL, 53). In der Verwaltungsdirektion des Landwirtschaftsministeriums treffen sie auf einen jungen Mann »[qui] joue son rôle de manière impressionnante« (EDL, 57). Und auf dem Marktplatz von Rouen fragt sich der Ich-Erzähler angesichts des bunten Treibens der Passanten: »Quel jeu se joue ici exactement ?« (EDL, 69). 49

Sein Interesse für Gauguin, den Wegbereiter des Primitivismus, der in den 1880er und 1890er Jahren in die polynesische Kolonie Tahiti geflohen ist, wo er nach eigener Aussage »wie ein Wilder« leben wollte, um zu einer einfachen und ursprünglichen Malweise zurückzukehren, verdeutlicht die ganze Widersprüchlichkeit dieses Denkens. Denn anders als Gauguin, der in seinen Bildern einen offenen »Synkretismus der Weltkulturen« zelebriert, trägt Jean-Yves durch seine Arbeit dazu bei, dass die Unterschiede zwischen den Kulturen verschwinden und sich die Welt zunehmend uniformiert. Zur Einordnung Gauguins in der Kunstgeschichte vgl. Uwe M. Schneede, Die Kunst der klassischen Moderne, München: Beck, 2009, hier S. 17.

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Wirklichkeit im Wandel

4.2.3

Auf der Suche nach einem neuen Stil

Dem rollenkonformen Verhalten der Menschen entspricht die Weigerung des Textes, die Romanfiguren zu individualisieren. So werden zwar einige Angaben zum sozialen Status und zur beruflichen Situation der einzelnen Figuren gemacht, dagegen findet man kaum psychologische Details. Diesbezüglich unterscheidet sich der ›Realismus‹ von Houellebecqs Debütroman ganz wesentlich von demjenigen Balzacs. Während die Romanfiguren bei Balzac sowohl individuelle als auch allgemeine Eigenschaften aufweisen, die sie zu typischen Vertretern einer bestimmten sozialen Gruppe, eines Berufsstands oder Milieus machen, verfügen die Romanfiguren bei Houellebecq kaum noch über eine wiedererkennbare Persönlichkeit. Mitunter werden sie sogar zu bloßen Trägern von Diskursen. Ein Grund für diesen allgemeinen Persönlichkeitsverlust, auf den Houellebecq bereits an anderer Stelle hingewiesen hat50 , ist der Umstand, dass sich die Menschen des 21. Jahrhunderts in ihrer Lebensweise und ihren Einstellungen immer stärker ähneln: »Sous nos yeux, le monde s’uniformise ; les moyens de télécommunication progressent; l’intérieur des appartements s’enrichit de nouveaux équipements. Les relations humaines deviennent progressivement impossibles, ce qui réduit d’autant la quantité d’anecdotes dont se compose une vie. Et peu à peu le visage de la mort apparaît dans toute sa splendeur. Le troisième millénaire s’annonce bien.« (EDL, 16) Obwohl der Roman keine genauen Angaben über den Zeitpunkt der Handlung macht, wird das Geschehen dennoch in der unmittelbaren Gegenwart verortet.51 Es kommt Houellebecq also nicht auf historische Exaktheit an, sondern darauf, historische Entwicklungstendenzen aufzuzeigen, die ein besseres Verständnis der eigenen Gegenwart ermöglichen. In dieser Hinsicht ähneln sich der ›Realismus‹ von Balzac und Houellebecq durchaus: beiden geht es darum, die Veränderungen im Bewusstsein, in den mentalen Einstellungen und den gesellschaftlichen »Sitten« zu beschreiben. Dafür suchen sie nach Zäsuren in der Geschichte, die diesen Mentalitätswandel erklären sollen. Entsprechend wird auch der zeitliche Kontext des Debütromans deutlich als Umbruchsituation (»Le troisième millénaire s’annonce bien«) markiert. Interessant ist, dass zeitgleich mit der Feststellung eines Epochenumbruchs auch eine programmatische Neuausrichtung der Literatur eingefordert wird. Begründet wird dies damit, dass die Auflösung der Sozialbeziehungen einige Schwierigkeiten für den Romanschriftsteller mit sich bringt: »Cet effacement progressif des relations humaines n’est pas sans poser certains problèmes au roman. Comment en effet entreprendrait-on la narration de ces passions fougueuses, s’étalant sur plusieurs années, faisant parfois sentir leurs effets sur 50

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Einen solchen Persönlichkeitsverslust beobachtet Houellebecq auch an der modernen Architektur, die seiner Ansicht nach eine rein funktionale Architektur sei und keine Rücksicht auf die unterschiedlichen sozialen Bedürfnisse der Menschen nehme. Siehe hierzu das Kap. 4.1. Im Roman tauchen verschiedene Formulierungen auf, allen voran die Reprise der adverbialen Bestimmung »de nos jours« (EDL, 9, 42, 94), die das Romangeschehen in der zeitgenössischen Gegenwart situieren.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

plusieurs générations ? Nous sommes loin des Hauts de Hurlevent, c’est le moins qu’on puisse dire.« (EDL, 42) Da sich das Leben der Menschen im 21. Jahrhundert auf eine überschaubare Anzahl von »Anekdoten« reduziert, wird es zunehmend schwieriger, eine Geschichte im herkömmlichen Sinne zu erzählen. Was für den Romancier des 19. Jahrhunderts noch selbstverständlich war, nämlich die Konflikte zu beschreiben, die sich aus den komplexen zwischenmenschlichen Beziehungen ergeben, erweist sich für den zeitgenössischen Schriftsteller als ein schwieriges Unterfangen. Zum einen besitzen die Menschen heute nämlich keine erkennbare Persönlichkeit mehr und zum anderen verspüren sie kaum noch Interesse für einander. In einer Gesellschaft, die aus isolierten Individuen besteht, ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich zwischen zwei Menschen eine intime Kommunikation herstellt. Wir sind in der Tat weit entfernt von den Zeiten, als sich aus der Begegnung zweier Liebender noch stürmische Leidenschaften (»passions fougueuses«) entwickeln konnte, wie es in Emily Brontës Roman Wuthering Heights der Fall ist.52 Eine erste Schwierigkeit, mit welcher sich der Romanschriftsteller heute konfrontiert sieht, besteht somit im Auffinden von Geschichten, von menschlichen Beziehungsdramen, die erzählenswert sind. Damit einher geht eine zweite, ungleich schwierigere Herausforderung, wie der Erzähler ausführt, denn es gilt einen Stil zu entwickeln, der diesen Zustand auszudrücken vermag: »La forme romanesque n’est pas conçue pour peindre l’indifférence, ni le néant ; il faudrait inventer une articulation plus plate, plus concise et plus morne« (EDL, 42). Die Suche nach einem Stil, der in der Lage ist, die Substanzlosigkeit der modernen Welt abzubilden, bildet den Ausgangspunkt für die Erneuerung des ›Realismus‹ in Houellebecqs Debütroman. Es bietet sich an, an dieser Stelle genauer auf die Funktion des Stils bei Houellebecq einzugehen, da die begriffliche Unschärfe des Terminus für einige Kontroversen gesorgt hat.53 So wurde dem Autor in der Vergangenheit des Öfteren vorgeworfen, seine Romane hätten keinen einheitlichen Stil. Jochen Mecke beispielsweise ist der Ansicht, die Teilnahmslosigkeit von Houellebecqs Erzählern sei in eine »Gleichgültigkeit des Stils«54 umgeschlagen. Wenn überhaupt, dann pflege der Autor einen Stil, der über52

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Der Inhalt dieses 1847 erschienenen Romans lässt sich schwer wiedergeben, da das Beziehungsgefüge zwischen den handelnden Figuren überaus komplex ist und die erzählte Zeit mehrere Generationen umfasst. Diese Komplexität spiegelt sich auch in der Erzählstruktur, da das Geschehen aus der Perspektive von zwei unterschiedlichen Ich-Erzählern vermittelt wird, die selbst Teil der fiktiven Welt sind. Im Mittelpukt der Erzählung steht das Verhältnis der beiden Halbgeschwister Catherine und Heathclliff, zwischen denen im Laufe der Jahre eine heftige, aber unerfüllte Leidenschaft entbrennt. Dass der Ich-Erzähler aus Houellebecqs Debütoman ausgerechnet diesen Roman als Beleg für seine These vom Verlust der Liebesfähigkeit anführt, hat sicherlich auch damit zu tun, dass er als klassischer Roman des englischen ›Realismus‹ gilt. Vgl. hierzu etwa Antal Szerb, Geschichte der Weltliteratur, aus dem Ungarischen übertragen von András Horn, Basel: Schwabe, 2016, S. 555ff. Eine ausführliche Darstellung dieser Debatte liefert das Buch von Samuel Estier, À propos du » style « de Houellebecq. Retour sur une controverse (1998-2010), Lausanne: Archipel Essais, 2015. Mit dem Vorwurf der Stillosigkeit setzt sich Dominique Noguez in seinem Kapitel »Le style de Michel Houellebecq« auseinander. Vgl. Dominique Noguez, Houellebecq, en fait, Paris: Fayard, 2003, S. 97-154. Jochen Mecke setzt die Emotionslosigkeit von Houellebecqs Erzählern kurzerhand mit dem Fehlen eines literarischen Stils gleich und bezeichnet die Schreibweise des Autors als eine »Poetik der

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aus »enthumanisierend«55 daher komme, weil sich Houellebecq mitunter nicht zu schade sei, sexistische und rassistische Begriffe (wie »salopes«, »pédé«, »nègre« und »pétasse«) zu verwenden. Diese Einschätzung ist allerdings nur zum Teil zutreffend, denn genauo häufig findet man bei Houellebecq auch Stellen, die von Verständnis, Mitgefühl und Empathie zeugen.56 Gegen die angebliche Indifferenz des Stils lassen sich jedoch noch weitere Gründe anführen: Zwar hat Houellebecq mehrfach betont, dass inhaltliche Fragen für ihn Vorrang gegenüber der Form haben; daraus folgt aber nicht, dass stilistische Probleme für seine Romanästhetik keine Rolle spielen. Versteht man unter ›Stil‹ eine besondere Form der Sprachverwendung (im Sinne sprachlicher Eleganz), so kann man getrost behaupten, dass Houellebecq einem solchen Stilbegriff kaum Bedeutung beimisst.57 Die Suche nach einem Stil, der imstande ist, die Gleichgültigkeit und das Nichts auszudrücken, zielt gerade nicht auf die virtuose Beherrschung der Sprache ab, sondern auf eine anzustrebende Kongruenz von Inhalts- und Ausdrucksebene. Mit anderen Worten: Es geht um einen Stil, der repräsentativ ist für die eigene Epoche. ›Stil‹ in diesem Sinne meint die Gesamtheit an literarischen Ausdrucksmitteln, die geeignet sind, um die zugrunde liegende Wirklichkeitsauffassung der Romane zu transportieren. Ein solcher Stilbegriff kommt dem sehr nahe, was Erich Auerbach mit seinem »Mimesis«-Konzept vorschwebt.58 Am Stil bemisst sich dementsprechend auch das »mimetische« Potenzial von Houellebecqs Romanes, insofern als die Stilbrüche seiner Erzählungen zugleich die Widersprüche und Paradoxien der zeitgenössischen Realität abbilden sollen. Ein auffälliges Verfahren dieser Mimesis ist die Vermischung unterschiedlicher Sprachregister, ein anderes der abrupte Wechsel von einer komischen Tonlage in bitteren Ernst (und vice versa). Auch die Verortung der Romanfiguren in der

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Indifferenz«, was sich vor allem in einer Vorliebe für »Tropen der Teilnahmslosigkeit« (wie der Litotes) niederschlage. Vgl. Jochen Mecke, »Der Fall Houellebecq«, a.a.O., S. 202. Ebd., S. 203. Bruno Viard betont zu Recht, dass es in den Romanen nicht nur eine, sondern mindestens zwei narrative Stimmen gebe: »Le mystère Houellebecq, c’est qu’il existe deux Houellebecq, un méchant Houellebecq, le mieux connu du grand public, provocateur qui dépasse plus souvent qu’à son tour la limite du tolérable, qui profère des énormités d’un air de ne pas y toucher, qui choque par trop le respect dû aux gens. Et un gentil Houellebecq, qui parle d’amour et de bonté, qui prend la défense des enfants délaissés, des filles moches et des vieillards abandonnés. Lire Houellebecq, c’est écouter ces deux voix narratives si opposées, au lieu de n’écouter que celle qu’on préfère, et tenter d’interpréter une contradiction aussi patente et aussi dérangeante.« Vgl. Bruno Viard, Les Tiroirs de Michel Houellebecq, Paris: PUF, 2013, S. 13. Houellebecq hält es in dieser Hinsicht mit seinem philosophischen Lehrmeister Schopenhauer, dem zufolge das einzige Kriterium eines guten Stils darin bestehe, etwas zu sagen zu haben: »Pour tenir le coup, je me suis souvent répété cette phrase de Schopenhauer : ›La première – et pratiquement la seule – condition d’un bon style, c’est d’avoir quelque chose à dire‹ « (INT, 53). Das Schopenhauer-Zitat steht im XXIII. Kapitel (»Über Schriftstellerei und Stil«) des zweiten Bandes von Parerga und Paralipomena. Mit seiner Bezugnahme auf Schopenhauer grenzt sich Houellebecq in diesem Zusammenhang zugleich von dem Konzept der écriture ab. Auerbach geht es um die »Interpretation des Wirklichen durch literarische Darstellung« und das entscheidende Kriterium, anhand dessen er die historische Wirklichkeitsauffassung einer Epoche misst, ist die klassische Lehre von den drei »Höhenlagen« oder Stilebenen der Literatur. Vgl. hierzu das Kap. 2.2.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

Mitte der Gesellschaft trägt dazu bei, ein bestimmtes Bild der Wirklichkeit zu vermitteln. Denn gerade hier zeigt sich die zeitgenössische Realität in ihrer ganzen Anschaulichkeit (»concise«), Oberflächlichkeit (»plate«) und Tristesse (»morne«). Die leitenden Angestellten und mittleren Führungskräfte (»cadres moyens«) in den Romanen, zu denen auch der Erzähler aus Houellebecqs Debütroman zählt, repräsentieren nicht nur einen sozialen Durchschnitt; ihre Durchschnittlichkeit ist vielmehr eine Chiffre für den allgemeinen Zustand der modernen Welt.59 Aus der zugrunde liegenden Wirklichkeitsauffassung ergeben sich aber noch weitere Schwierigkeiten für den Roman. Denn der Mangel an affektiven und sozialen Bezügen, der dem Erzähler zufolge für die heutige Zeit charakteristisch ist, erfordert eine extreme Simplifizierung sowohl auf der Ebene der Erzählung wie auch auf der Ebene der Figuren: »Mon propos n’est pas de vous enchanter par de subtiles notations psychologiques. Je n’ambitionne pas de vous arracher des applaudissements par ma finesse et mon humour. Il est des auteurs qui font servir leur talent à la description délicate de différents états d’âme, traits de caractère etc. On ne me comptera pas parmi ceux-là. Toute cette accumulation de détails réalistes, censés camper des personnages nettement différenciés, m’est toujours apparue, je m’excuse de le dire, comme pure foutaise.« (EDL, 16) Es kann nicht länger darum gehen, den Leser mit der subtilen Darstellung einzelner Seelenzustände (»états d’âme«) und der Beschreibung individueller Charakterzüge (»traits de caractère«) zu langweilen. Ein psychologischer ›Realismus‹ ist nicht mehr zeitgemäß, da sich die Menschen heute kaum noch unterscheiden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass damit jeder Anspruch auf ›Realismus‹ aufgegeben werden muss. Die proklamierte Neuausrichtung der Literatur, die gleichwohl mehr ins »Philosophische« tendiert, erfordert eine Reihe von Aussparungen, Streichungen und Reduktionen: »Pour atteindre le but, autrement philosophique que je me propose, il me faudra au contraire élaguer. Simplifier. Détruire un par un une foule de détails« (EDL, 16). Der Weg zur Erkenntnis führt bekanntlich über die Abstraktion. Um die Bewegungen der Geschichte zu erfassen, muss der Romancier vereinfachen (»simplifier«). Die Komplexitätsreduktion ist notwendig, damit verallgemeinerbare Aussagen möglich werden, die einen Erkenntniszugewinn darstellen und einer wissenschaftlichen Überprüfung standhalten.

4.2.4

Von der Notwendigkeit eines theoriegeleiteten Schreibens

Tatsächlich führt Houellebecq die mit Balzac einsetzende Verwissenschaftlichung des Romans weiter fort. Während sich der Autor der Comédie humaine jedoch am Vorbild der damaligen Naturforschung (Cuvier, Buffon und Saint-Hilaire werden im »Avantpropos« ausdrücklich erwähnt) ausrichtet, orientiert sich Houellebecq am positivistischen Wissenschaftsmodell von August Comte.60 Der Autor des Cours de philosophie po59

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Vgl. Christèle Couteau, «›Les âmes moyennes‹. De la trivialité comme poétique romanesque«, in: Wesemael, Sabine van/Viard, Bruno (Hg.), L’Unité de l’œuvre de Michel Houellebecq, Paris: Classiques Garnier, 2013, S. 13-26. Houellebecq hat seine Interpretation des positivistischen Wissenschaftsmodells unter anderem in einem Vorwort für den Tagungsband eines Forschungskolloquiums zu Auguste Comte dargelegt. Vgl. Michel Houellebecq, »Préliminaires au positivisme«, in: Bourdeau, Michel/Braunstein, Jean-

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sitive wird im Roman zwar nicht erwähnt, dafür erfährt aber der französische Arzt und Physiologe Claude Bernard, der Comtes Methode in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstmals in die Medizin eingeführt hatte, in der Romanmitte eine überraschende Huldigung durch den Erzähler: »Quoi qu’il en soit l’amour existe, puisqu’on peut en observer les effets. Voilà une phrase digne de Claude Bernard, et je tiens à la lui dédier. Ô savant inattaquable ! ce n’est pas un hasard si les observations les plus éloignées en apparence de l’objet qu’initialement tu te proposais viennent l’une après l’autre se ranger, comme autant de cailles dodues, sous la rayonnante majesté de ton auréole protectrice. Certes il doit détenir une bien grande puissance, le protocole expérimental qu’avec une rare pénétration en 1865 tu définissais, pour que les faits les plus extravagants ne puissent franchir la ténébreuse barrière de la scientificité qu’après s’être placés sous la rigidité de tes lois inflexibles. Physiologiste inoubliable je te salue, et je déclare bien haut que je ne ferai rien qui puisse si peu que ce soit abréger la durée de ton règne.« (EDL, 94) Die hochtrabende und metaphorisierte Sprache (»la ténébreuse barrière de la scientificité«), die bizarren Vergleiche (»comme autant de cailles dodues«) und die deutlich überspitzte Stilisierung des Mediziners zum Propheten der Wissenschaft (»savant inattaquable«) verleihen der Passage einen komischen Charakter. Hinzu kommt, dass die Apostrophe des Wissenschaftlers (»physiologiste inoubliable«) im Kontext einer fiktiven Tierfabel erfolgt, deren Stil deutlich mit dem sachlich-neutralen Ton der restlichen Erzählung bricht. Die rhetorische Überfrachtung scheint somit auf den ersten Blick genau das zu widerlegen, was der Text behauptet, nämlich den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass in der oben zitierten Passage tatsächlich alle wesentlichen Elemente des positivistischen Wissenschaftsmodells enthalten sind, etwa die Funktion der Beobachtung (»les observations les plus éloignées en apparence«), die Rolle des Experiments (»le protocole expérimental«) oder die Forderung nach strengen Gesetzmäßigkeiten (»la rigidité de tes lois inflexibles«). Mit der Erwähnung von Claude Bernard stellt der Roman außerdem einen Bezug zu Zola her, der sich in seinem Roman expérimental mit nahezu demselben Enthusiasmus auf den François/Petit, Annie (Hg.), Auguste Comte aujourd’hui. Colloque de Cérisy (3-10 juillet 2001), Paris: Kimé, 2003, S. 7-12. Auch die Romane enthalten zahlreiche, mehr oder weniger versteckte Anspielungen auf den Begründer des Positivismus. Michel, der Ich-Erzähler aus Plateforme (2001), vergnügt sich in seiner Freizeit mit der Lektüre von Comtes sechsbändigem Hauptwerk Cours de philosophie positive (1830-1842). Am Strand von Kuba setzt er seine Lektüre mit Comtes Discours sur l’état positif (1840) fort. Der Wissenschaftler Michel aus Les particules élémentaires (1998) beruft sich in einer Diskussion mit seinem Halbbruder Bruno ebenfalls auf Comte und dessen Überlegungen zur Funktion der Religion in der Gesellschaft. In der persönlichen Bibliothek des Schriftstellers Michel Houellebecq aus La Carte et le territoire (2010) befinden sich neben Autoren wie Alexis de Tocqueville, Charles Fourier, Pierre-Joseph Proudhon, Karl Marx und anderen frühsozialistischen Sozialreformern auch mehrere Bücher des Soziologen. Der Einfluss Comtes auf Houellebecqs Romanästhetik wurde bereits ausgiebig erforscht. Vgl. hierzu David Jérôme, »›Auguste Comte toi-même !‹ Michel Houellebecq et le positivisme«, in: van Wesemael, Sabine/Viard, Bruno (Hg.), L’Unité de l’œuvre de Michel Houellebecq, Paris: Classiques Garnier, 2013, S. 137-148; sowie Eric Sartori, »Michel Houellebecq, romancier positiviste«, in: Wesemael, Sabine van (Hg.), Michel Houellebecq, Amsterdam/New York: Rodopi, 2004, S. 143-151.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

»großen Mediziner« beruft.61 Diese versteckte Anspielung auf ein zentrales Manifest des französischen Naturalismus – zumal zu einem Zeitpunkt, als sich die dominante Literaturkonzeption in Frankreich von dem »traditionellen« Roman eines Balzac oder Zola distanziert hatte – verleiht dem Debütroman einen geradezu programmatischen Charakter.62 Der Roman geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er die von Auguste Comte und Claude Bernard entwickelten Verfahren des Positivismus umgehend auf das Erzählte anwendet. Der Erzähler führt im Verlauf der Handlung regelrechte Milieu-Studien durch, so zum Beispiel anlässlich einer Konferenz im Landwirtschaftsministerium. Die Episode beginnt mit einer Beschreibung des Raumes und einer Aufzählung der anwesenden Personen: »Six personnes sont maintenant réunies autour d’une table ovale assez jolie, probablement en simili-acajou. Les rideaux, d’un vert sombre, sont tirés ; on se croirait plutôt dans un petit salon« (EDL, 34). Der Roman parodiert hier den Stil von Alain Robbe-Grillets Roman La Jalousie, dessen Titel in der Erwähnung des zugezogenen Vorhangs sogar versteckt mitanklingt.63 Mit dem Nouveau Roman und dessen führendem Vertreter verbindet Houellebecq ein schwieriges Verhältnis. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Aufsatz des Autors, in dem sich Houellebecq mit der Funk-

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In seinem Roman expérimental (1880) erklärt Zola die Medizin zur neuen Leitdisziplin der Literatur. Er beruft sich dabei auf Claude Bernard und dessen Introduction à l’étude de la médecine expérimentale (1865). Laut Bernard lassen sich wissenschaftliche Hypothesen nur mittels Überprüfung durch das Experiment verifizieren. Zola greift diesen Gedanken auf. Ihm zufolge wurde die Medizin lange Zeit als eine praktische »Kunst« betrachtet. Erst durch Bernard sei sie in den Rang einer exakten Wissenschaft erhoben worden. Genau dieses Ziel verfolgt Zola für die Literatur, indem er die experimentelle Methode auf den Roman zu übertragen versucht: »Puisque la médecine, qui était un art, devient une science, pourquoi la littérature elle-même ne deviendrait-elle pas une science, grâce à la méthode expérimentale?« Vgl. Émile Zola, Le Roman expérimental, Paris: Charpentier, 1880, S. 30. Zum Wissenschaftsverständnis Zolas siehe den Aufsatz von Eckhard Höfner, »Zola – und kein Ende? Überlegungen zur Relation von Wissenschaft und Literatur. Der Roman Experimental und der Hypothesen-Streit im 19. Jahrhundert«, in: Klinkert, Thomas/Neuhofer, Monika (Hg.), Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800. Theorie – Epistemologie – komparatistische Fallstudien, Berlin: de Gruyter, 2008, S. 127-164. Wolfgang Asholt erkennt darin den Versuch, sich innerhalb des zeitgenössischen literarischen Feldes zu positionieren. Ihm zufolge verfolgt Houellebecq mit seiner Referenz auf Bernard eine doppelte Strategie: »Sans y être le moins du monde obligé, Houellebecq se sert du double modèle de la scientificité d’Auguste Comte et de Claude Bernard et renvoie donc clairement au contexte du naturalisme. D’un côté, c’est certainement par provocation, en se servant d’un modèle maintes fois condamné comme anachronique au cours du XXe siècle. Mais d’autre part, et les deux aspects sont liés, il proteste avec cette référence contre le modèle présenté comme dominant dans la littérature contemporaine.« Wolfgang Asholt, »Une littérature de risque ou les risques de la modernité? À propos du premier roman de Michel Houellebecq Extension du domaine de la lutte«, in: Lendemains 36 (142/143), 2011, S. 18-31, hier S. 26. Auffällig ist vor allem die Verwendung des Temporaladvervs zu Beginn des Zitats. Bei RobbeGrillet dient das leitmotivisch wiederkehrende »maintenant« zur Markierung einer zeitlichen Ellipse, mit der zugleich der Beginn einer neuen Beschreibung eingeleitet wird. Der Roman selbst hat keine Handlung im herkömmichen Sinne, sondern besteht hauptsächlich aus Deskriptionen, in denen eine unpersönliche Erzählinstanz ihre Beobachtungen festhält. Vgl. Alain Robbe-Grillet, La Jalousie, Paris: Minuit, 1957.

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tion der Beschreibung auseinandersetzt.64 Darin kritisiert er, dass die Beschreibung für Robbe-Grillet lediglich ein Selbstzweck sei und nicht von theoretischen Prämissen geleitet werden. Er beruft sich dabei auf Comte und kritisiert, dass eine Beschreibung ohne Theorie, wie Robbe-Grillet es in seinen Romanen praktiziere, in einen bloßen »empirisme sans projet« münde, weil sich der Schriftsteller auf eine »compilation fastidieuse et vide de sens de données expérimentale«65 beschränke. Tatsächlich weicht Houellebecqs eigene Schreibweise deutlich von der »neutralité athéorique«66 eines Robbe-Grillet ab. Während die narrative Instanz in La Jalousie nur Oberflächenphänomene registriert, vollzieht der Ich-Erzähler aus dem Debütroman den Schritt von einer phänomenologischen Beschreibung zur Interpretation. Erst dies erlaubt es ihm, die beobachteten Wahrnehmungsdaten vor dem Hintergrund einer zugrunde liegenden Gesellschaftstheorie zu deuten. Ein eindrückliches Beispiel dieses Verfahrens liefert das Kapitel mit der Überschrift »Le jeu de la place du Vieux Marché« (EDL, 68). Das Kapitel beginnt mit einer Beschreibung von Rouen, der Hauptstadt der französischen Gotik, die allerdings kaum noch etwas von ihrem historischen Charme bewahrt hat. Selbst die mittelalterlichen Fassaden der Altstadt können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Rouen eine dreckige, hässliche Stadt ist. Auf dem historischen Marktplatz, wo Jeanne d’Arc im Jahre 1431 auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, hat man zur Erinnerung an dieses geschichtsträchtige Ereignis eine »bizarre« Konstruktion aus Betonplatten errichtet, die sich bei näherer Betrachtung als Kapelle erweist. Rund um den Platz haben sich Restaurants und Geschäfte angesiedelt. Sichtlich verstört von der »Komplexität« des Ortes, beobachtet der Erzähler eine Zeit lang das sonderbare »Spiel« auf dem Marktplatz von Rouen. Seine Beobachtungen hält er gewissenhaft fest, ganz so wie es die von Comte entwickelte Methode vorsieht. Sogar der Vorgang selbst wird benannt: Insgesamt drei Mal wird im Verlauf der Szene auf die Tätigkeit des Beobachtens hingewiesen. Die wiederkehrende Formulierung »J’observe d’abord«, »J’observe ensuite« und »J’observe enfin« (EDL, 69) verbindet die Beobachtungen miteinander und verleiht ihnen auf diese Weise den Charakter einer methodisch geleiteten Untersuchung. Als erstes registriert der Erzähler, dass die Menschen in kleineren Gruppen oder Banden über den Marktplatz wandern: »J’observe d’abord que les gens se déplacent généralement par bandes, ou par petits groupes de deux à six individus. Pas un groupe ne m’apparaît exactement semblable 64

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Der Aufsatz trägt den Titel »Coupes de sol« und befasst sich mit dem Beschreibungsverfahren von Robbe-Grillets Romanen. Ausgangspunkt ist eine biografische Koinzidenz, nämlich der Umstand, dass beide Autoren am Institut National d’Agronomie in Paris studiert haben. Houellebecq behauptet, dass Robbe-Grillets Literatur von der Ausbildung an der Agrarhochschule stark beeinflusst sei, denn seine Texte würden in vielerlei Hinsicht an die dort unterrichte Methode der Bodenkunde (»la coupe de sol«) erinnern. Allerdings könne man diese Methode kaum als wissenschaftlich im strengen Sinne bezeichnen, da sie im Grunde genommen nur aus der Beschreibung von Bodenprofilen bestünde, ohne von einer chemischen oder physikalischen Analyse begleitet zu werden, weshalb sie letzten Endes auch keine zuverlässigen Prognossen oder Erkenntnisse hervorbringe. Vgl. Michel Houellebecq, »Coupes de sol«, in: ders., Interventions 2: traces, Paris: Flammarion, 2009, S. 275-282. Ebd., S. 281. Ebd.

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à l’autre. Évidemment ils se ressemblent, ils se ressemblent énormément, mais cette ressemblance ne saurait s’appeler identité. Comme s’ils avaient choisi de concrétiser l’antagonisme qui accompagne nécessairement toute espèce d’individuation en adoptant des tenues, des modes de déplacement, des formules de regroupement légèrement différentes.« (EDL, 69) Daraus zieht er die Erkenntnis, dass sich die Menschen in ihrem Auftreten und Verhalten kaum unterscheiden. Besondere Aufmerksamkeit widmet er dabei dem physischen Erscheinungsbild der Menschen. In gewisser Weise erinnert dieses Vorgehen an das physiognomische Verfahren von Balzacs Romanen, wenn die Erzähler aus den Gesichtszügen und dem Körperbild der Figuren Rückschlüsse auf Charakter und Temperament der betroffenen Personen ziehen – ein Verfahren, das Balzac auch auf unbelebte Gegenstände überträgt, etwa wenn sein Erzähler die verblichene Farbe eines Vorhangs oder eines Sessels als ein untrügbares Zeichen für den verblassten Glanz eines aristokratischen Hauses deutet. Auch der Erzähler aus dem Debütroman versteht es, die Dinge und Menschen in seiner Umwelt zu entziffern. Selbst die Kleidung wird für ihn zu einem Zeichen, das er mit dem Blick eines Ethnologen semiotisch zu deuten versteht: »J’observe ensuite que tous ces gens semblent satisfaits d’eux-mêmes et de l’univers ; c’est étonnant, voire un peu effrayant. Ils déambulent sobrement, arborant qui un sourire narquois, qui un air abruti. Certains parmi les plus jeunes sont vêtus de blousons aux motifs empruntés au hard-rock le plus sauvage ; on peut y lire des phrases telles que : ›Kill them all !‹, ou ›Fuck and destroy !‹ ; mais tous communient dans la certitude de passer un agréable après-midi, essentiellement dévolu à la consommation, et par là même de contribuer au raffermissement de leur être.« (EDL, 69-70) Wie bei Balzac sind die Beobachtungen des Erzählers alles andere als wertfrei. Im Gegenteil, der Erzähler ist sichtlich angewidert von dem Schauspiel. Anfangs attestiert er seinen Mitmenschen nur sehr zurückhaltend eine gewisse Selbstzufriedenheit (»semblent satisfaits d’eux-mêmes«), doch diese Zurückhaltung wird mehr und mehr zur Gewissheit (»certitude«). Auch der neutrale Ton der Passage weicht ganz allmählich einem beißenden Spott (»un air abruti«), der schließlich in der ironischen Feststellung gipfelt, dass die Menschen abgesehen von ihrem Einkaufsverhalten nichts mehr miteinander verbindet. Es ist leicht zu erkennen, inwiefern die Beobachtungen des Erzählers hier von einer vorgelagerten Theorie geleitet werden.67 Dass er sich dabei jedoch zugleich eines Vokabulars bedient, das zentrale Begriffe der französischen Existenzphilosophie (»essentiellement«, »leur être«) aufgreift, weist darauf hin, dass es ihm nicht allein um eine Kritik der kapitalistischen Konsumgesellschaft geht, sondern viel grundsätzlicher um die Frage nach der Sinnhaftigkeit und Bedeutung der menschlichen Existenz. Vor 67

Zu denken wäre hier zum Beispiel an die marxistische Kritik der Konsumgesellschaft eines Henri Lefebvre (»Les désirs ne correspondent plus à de vrais bsoins ; ils sont factices«) und eines Guy Debord (»Sans doute, le pseudo-besoin imposé dans la consommation moderne ne peut être opposé à aucun besoin ou désir authentique qui ne soit lui-même façonné par la société et son histoire«). Vgl. Henri Lefebvre, Critique de la vie quotidienne, Bd. 2: Fondements d’une sociologie de la quotidienneté, Paris: L’Arche, 1980, S. 16; Guy Debord, La société du spectacle, Paris: Gallimard, 1992, § 68, S. 44.

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diesem Hintergrund erhält auch die Symbolik des Ortes eine andere Bedeutung. Für die Passanten auf dem Marktplatz von Rouen ist die Geschichte nicht mehr als lebendige Erinnerung präsent. Die historischen Erinnerungsorte der französischen Nation spielen im kollektiven Bewusstsein keine Rolle mehr. Kultur (Jeanne d’Arc) und Religion (Katholizismus) haben ihre gemeinschaftsstiftende Funktion eingebüßt. Die einzige Verbindung zwischen den Menschen besteht in ihrem gemeinsamen Konsumverhalten (»mais tous communient«). Anders als seine Mitmenschen, die im Konsum einen erfüllenden Modus ihrer Existenz (»raffermissement de leur être«) gefunden haben, geht der Erzähler aus dieser Verbindung aber nicht gestärkt hervor. Die Entdeckung, dass sich die Menschen kaum voneinander unterscheiden, führt ihm schlagartig seine eigene Differenz vor Augen: »J’observe enfin que je me sens différent d’eux, sans pour autant pouvoir préciser la nature de cette différence« (EDL, 70). Der Umstand, dass es ihm nicht gelingt, diese Differenz in Worte zu fassen, kann als Symptom einer einsetzenden Identitätskrise gedeutet werden. Am Ende überkommt ihn ein beklemmendes Gefühl und der Erzähler sieht sich genötigt, seine Beobachtung abzubrechen. Trotzdem war sein Aufenthalt in Rouen nicht umsonst, denn zumindest für die Dauer von einigen Minuten konnte er das »Spiel« auf dem Marktplatz durchschauen: »Pendant quelques minutes j’ai pu observer tout cela de manière strictement objective. Et puis une sensation déplaisante a commencé de m’envahir. Je me suis levé et je suis parti rapidement« (EDL, 71). Die Erfahrung der eigenen Alterität stürzt den Erzähler in eine existentielle Krise. Die Identitätskrise des Ich-Erzählers ist eine unmittelbare Reaktion auf die Entdeckung, dass Individualität eine Illusion ist und sich die Menschen im Grunde genommen überhaupt nicht voneinander unterscheiden.68 Selbst die Straßen sind zum Verwechseln ähnlich, wie der Erzähler feststellen muss, als er sich bei der Suche nach seinem Auto plötzlich in einem Labyrinth aus gleichlautenden Namen wiederfindet.69 Ein passendes Bild dieser Situation liefert die ironische Kapitelüberschrift (»Au milieu des Marcel«). Der Erzähler ist ein »Fremder« inmitten von Gleichen. Er fühlt sich seinen Mitmenschen nicht verbunden und kann ihrem Erwerbsstreben keinerlei Freude abgewinnen. Selbst den Verlust des Autos, dem Statussymbol der modernen Konsumgesellschaft, nimmt er achselzuckend zur Kenntnis. Die einzige Beschäftigung, die ihm sichtlich Vergnügen bereitet, ist das Verfassen von absurden Tierfabeln. Ansonsten sind ihm die Sitten und Gebräuche der Gesellschaft relativ gleichgültig. Diese Gleichgültigkeit verbindet ihn mit Meursault, dem Protagonisten aus Camus’ Roman L’Étranger.70 Gemeinsam ist den beiden, dass sie versuchen, ein authentisches Leben ohne falschen Schein zu führen. Beide widersetzen sich den an sie gestellten Erwartungen und geraten dadurch in Konflikt mit der Gesellschaft; und beide gelangen zu der Einsicht, dass 68

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»Bien entendu l’expérience m’a rapidement appris que je ne suis appelé qu’à rencontrer des gens sinon exactement identiques, du moins tout à fait similaires dans leurs coutumes, leurs opinions, leurs goûts, leur manière générale d’aborder la vie« (EDL, 21). »Je suis retourné dans le quartier, mais ma voiture est restée introuvable. En fait, je ne me souvenais plus où je l’avais garée ; toutes les rues me paraissaient convenir, aussi bien. La rue Marcel-Sembat, Marcel-Dassaut… beaucoup de Marcel« (EDL, 8). Vgl. Albert Camus, L’Étranger, in: Œuvres complètes, Bd. 1, hg. von Jacqueline Lévi-Valensi, Paris: Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade), 2006, S. 139-213.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

die Existenz keinen tieferen Sinn hat. Anders als Meursault kann sich der Ich-Erzähler mit dieser Einsicht jedoch nicht abfinden. Während Meursault die ihm auferlegte Strafe akzeptiert und sich auf diese Weise zum Herren über sein eigenes Schicksal erhebt, empfindet er das Fehlen eines Sinns als unbefriedigend. Der Weg der Revolte bleibt ihm verschlossen, ja letztlich verstärkt die Erfahrung des Absurden sein subjektives Leiden sogar noch. Einzig das Schreiben vermag dieses Leiden etwas zu schmälern, wenngleich die therapeutische Wirkung eher begrenzt bleibt: »Les pages qui vont suivre constituent un roman ; j’entends une succession d’anecdotes dont je suis le héros. Ce choix autobiographique n’en est pas réellement un : de toute façon, je n’ai pas d’autre issue. Si je n’écris pas ce que j’ai vu je souffrirai autant – et peut-être un peu plus. Un peu seulement, j’y insiste« (EDL, 14). An dieser Stelle zeigt sich deutlich der Einfluss Schopenhauers, denn für den deutschen Philosophen ist die Erfahrung des Leidens gleichermaßen ein objektiver Tatbestand des menschlichen Daseins.71 Die Romanfiguren leiden indes vor allem unter dem Mangel an sozialen, emotionalen und affektiven Bindungen. Sie sehnen sich nach Nähe und Gemeinschaft, stoßen sich aber gleichzeitig voneinander ab.72 Es gelingt ihnen nicht, eine

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Schopenhauer zufolge bedarf es keines Beweises dafür, dass die Existenz eine unerschöpfliche Quelle des Leidens ist, denn es genügt, sich die allgegenwärtige Not und das Elend der Menschen vor Augen zu führen: »[…] es ist absurd, anzunehmen, daß der endlose aus der dem Leben wesentlichen Not entspringende Schmerz, davon die Welt überall voll ist, zwecklos und rein zufällig sein sollte. Unsere Empfindlichkeit für den Schmerz ist fast unendlich, die für den Genuß hat enge Grenzen. Jedes einzelne Unglück erscheint zwar als eine Ausnahme, aber das Unglück überhaupt ist die Regel« (§ 148). Über die Tatsache hinaus, dass das Leben der meisten Menschen durch Mühsal und harte Arbeit gekennzeichnet ist, lässt sich aber noch ein weiteres Argument dafür anführen, dass die Erfahrung des Leidens und des Schmerzes gegenüber dem Glück und dem Genuss dominiert: »Wie wir die Gesundheit unseres ganzen Leibes nicht fühlen, sondern nur die kleine Stelle, wo uns der Schuh drückt; so denken wir auch nicht an unsere gesamten vollkommen unbedeutenden Angelegenheiten, sondern an irgendeine unbedeutende Kleinigkeit, die uns verdrießt« (§ 149). Mit anderen Worten: Der Schmerz und das Leid sind das Konkrete und Positive, während das Glück zumeist nur als etwas Abwesendes existiert. Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, hg. von Wolfgang Freiherr von Löhneysen, Bd. 5: Parerga und Paralipomena, Zweiter Teil, Kapitel 12 (»Nachträge zur Lehre vom Leiden der Welt«), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1965, S. 343f. Die Situation erinnert an das Gleichnis von den Stachelschweinen aus dem 31. Kapitel des 2. Teils von Parerga und Paralipomena: »Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nahe zusammen, um durch die gegenseitige Wärme sich vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln; welches sie dann wieder voneinander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel; so daß sie zwischen beiden Leiden hin- und hergeworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten.« Eine Erklärung dieses Gleichnisses liefert Schopenhauer im Anschluss an die zitierte Textstelle gleich mit: »So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Inneren entsprungen, die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder von einander ab. Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden und bei welcher ein Beisammensein bestehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte. […] Wer jedoch viel eigne innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Ge-

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Verbindung zu ihren Mitmenschen herzustellen. Die Ausweglosigkeit dieses Unterfangens (»je n’ai pas d’autre issue«) wird an verschiedenen Stellen des Romans betont.73 So zum Beispiel in dem missglückten Annäherungsversuch einer Kollegin, die dem Erzähler zu verstehen gibt, dass sie für ein Liebesabenteuer mit ihm bereit wäre, was dieser jedoch mit den Worten kommentiert: »Décidément, il n’y avait pas d’issue. Je m’excusai brièvement, et je partis vomir dans les toilettes« (EDL, 47). Das öffentliche Erbrechen kann als physisches Symptom eines abstrakten Leidens gedeutet werden, das sich im Laufe der Erzählung zu einem regelrechten »Ekel« ausweitet: »Je n’aime pas ce monde. Décidément, je ne l’aime pas. La société dans laquelle je vis me dégoûte ; la publicité m’écœure ; l’informatique me fait vomir. Tout mon travail d’informaticien consiste à multiplier les références, les recoupements, les critères de décision rationnelle. Ça n’a aucun sens.« (EDL, 82-83) Die Aussage des Erzählers weckt Erinnerungen an einen anderen berühmten Text des französischen Existentialismus, nämlich an Jean-Paul Sartres Roman La Nausée.74 Antoine Roquentin, der Protagonist und Ich-Erzähler des Romans, stürzt beim Anblick einer verfaulenden Wurzel in eine tiefe Krise und nimmt die Dinge in seiner Umwelt fortan als beunruhigend und störend wahr. Die überschäumende Fülle an Existenzen, deren »Da-Sein« durch nichts und niemanden gerechtfertigt ist, verursacht bei ihm ein Gefühl des Überdrusses und des »Zuviel« (de trop). Dann verschwinden die Wörter plötzlich und mit ihnen auch die Bedeutung der Dinge. Roquentin sieht die Welt nun mit ganz anderen Augen und er begreift, dass ihr bloßes Vorhandensein »an sich« (en soi) keine Notwendigkeit besitzt: »Je n’étais pas surpris, je savais bien que c’était le Monde, le Monde tout nu qui se montrait tout d’un coup, et j’étouffais de colère contre ce gros être absurde. On ne pouvait même pas se demander d’où ça sortait, tout ça, ni comment il se faisait qu’il existât un monde, plutôt que rien. Ça n’avait pas de sens […].«75 Die Ähnlichkeiten – sowohl was den Inhalt als auch den genauen Wortlaut der zitierten Textstelle betrifft – sind sicherlich kein Zufall. Sogar die Beschreibung von Rouen, wo sich der Ich-Erzähler länger aufhält, enthält einen versteckten Hinweis auf Sartre: Wenn ihm die Stadt als schmutzig und hässlich erscheint, dann klingt darin zugleich

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sellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben noch zu empfangen.« Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, a.a.O., S. 765. Die Formulierung ist ein wörtliches Zitat aus dem Eingangskapital von L’Étranger. Auf dem Weg zum Friedhof, wo seine verstorbene Mutter beerdigt werden soll, wird Meursault von einer Krankenschwester angesprochen, die ihm erklärt, dass er wegen der drückenden Hitze ein angemessenes Schritttempo finden müsse, damit er keinen Sonnenstich bekomme und sich später in der Kirche nicht erkälte. Meursault kommentiert dies mit den Worten: »Elle avait raison. Il n’y avait pas d’issue.« Während seines Gefängnisaufenthaltes erinnert er sich an die mahnenden Worte der Krankenschwester: »Non, il n’y avait pas d’issue et personne ne peut imaginer ce que sont les soirs dans les prisons.« Vgl. Albert Camus, L’Étranger, a.a.O., S. 150 und S. 188. Vgl. Jean-Paul Sartre, La Nausée, Paris: Gallimard, 1938. Ebd., S. 185.

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der Name des Handlungsortes »Bouville« von Sartres Roman mit an. Ähnlichkeiten ergeben sich zudem aus der Situation der jeweiligen Protagonisten. Wie Roquentin empfindet der Erzähler beim Anblick der ihn umgebenden Menschen nichts als Ekel. Es ist jedoch nicht allein die sinnliche Präsenz der Dinge, die ihn abstößt, sondern die sinnlose Anhäufung von Daten und Informationen, an deren Vervielfältigung er als Programmierer selbst beteiligt ist. Die reale Existenz der Dinge ist einer Welt der Zahlen und binären Codes gewichen, einer Welt der Simulakren und Simulationen.

4.2.5

Das Verhältnis von Freiheit und Determination

Die Auseinandersetzung mit Sartre wird an an verschiedenen Stellen des Textes fortgeführt. Der Ort dieser Auseinandersetzung sind die fiktiven Tierfabeln, deren Bedeutung der Erzähler gleich zu Beginn hervorhebt: »la fiction animalière est un genre littéraire comme un autre, peut-être supérieur à d’autres« (EDL, 9). Mit der Gattungstradition der Fabel, wie sie in Frankreich vor allem mit dem Namen Jean de La Fontaines assoziiert wird, verbindet die fiktiven Tierfabeln jedoch nur wenig.76 Dafür lässt ihre Anordnung – jeweils eine zu Beginn, in der Mitte und am Ende des Romans – einen deutlichen Formwillen erkennen.77 Gegenstand der ersten Tierfabel (Dialogue d’une vache et d’une pouliche) ist die Beobachtung einer bretonischen Kuh, die überleitet in eine philosophische Reflexion über die »Natur« des Menschen. Wie der intradiegetische Erzähler der Tierfabel bemerkt, zeichnet sich das Verhalten der Kuh durch eine beeindruckende Regelmäßigkeit aus. Dies deute auf eine »profonde unité existentielle« (EDL, 9) hin, auf eine vollkommene Identität zwischen ihrem »In-der-Welt-Sein« (»être-au-monde«) und ihrem »An-sich-Sein« (»être-en-soi«). Diese doppelte Referenz auf Heidegger und Sartre, die zwei großen Autoritäten der Existenzphilosophie im 20. Jahrhundert, ist einigermaßen überraschend. Die Erklärung folgt aber unmittelbar auf den Fuß: 76

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Beispielsweise wird die in den Titeln angedeutete Dialogizität zumeist gar nicht eingehalten. Es spricht entweder nur eines der beiden Tiere, wie in der zweiten und dritten Fabel, oder eine fiktive (intradiegetische) Erzählinstanz, die nicht mit den handelnden Figuren identisch ist. Gegen die Gattungstradition spricht auch die Vermischung der Stilebenen und Diskursformen. Teilweise gleichen die Fabeln einem wissenschaftlichen Traktat, teilweise nehmen sie aber auch die Form von fiktiven Memoiren an oder geben sich als politisches Pamphlet aus. In der Forschung wurden die fiktiven Tierfabeln ganz unterschiedlich bewertet. Für Carole Sweeney handelt es sich dabei in erster Linie um eine zweckfreie Form des Schreibens, die sich allen Nützlichkeitsdiskursen entzieht: »The composition of stubbornly uncommercial animal fables […] is a defiantly non-utilitarian activity. Functioning as pretexts for exegetical essayistic exposition, these curious, often violent and imperfectly conceived tales point to a textual space outside of exchange value, a place for thought that has no truck with the niceties of literary good taste.« Vgl. Carole Sweeney, »›And yet some free time remains…‹: Post-Fordism and Writing in Michel Houellebecq’s Whatever«, in: Journal of Modern Literature 33 (4), 2010, S. 41-56, hier S. 48. Douglas Morrey deutet die Tierfabeln dagegen als Indiz für die geistige Verwirrung des Ich-Erzählers und bezeichnet sie daher als einen »degraded discourse of struggle«. Vgl. Douglas Morrey, Michel Houellebecq. Humanity and its Aftermath, Liverpool: University Press, 2013, S. 53. Damit stellt er zugleich die Aufrichtigkeit der darin entwickelten Romanthesen in Frage. Diese würden im Duktus einer hyperbolischen Rhetorik vorgetragen, so dass Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Erzählers aufkämen. Gegen diese These spricht, dass die Fabeln in Aufbau und Komposition einem wohldurchdachten Plan folgen.

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»Hélas, en l’occurrence, le philosophe se trouve pris en défaut et ses conclusions, quoique fondées sur une intuition juste et profonde, se verront frappées d’invalidité s’il n’a auparavant pris la précaution de se documenter auprès du naturaliste.« (EDL, 10) Die Bezeichnung »le philosophe« (EDL, 10) ist wohl als Anspielung auf Sartre zu verstehen. Dem Existenzphilosophen werden die positivistischen Verfahren des Naturforschers (»naturaliste«) gegenübergestellt. Denn solange die Philosophie sich an Begrifflichkeiten abarbeitet, ohne ihre Hypothesen durch Beobachtung der entsprechenden Naturphänomene abzusichern, bleiben ihre Ergebnisse ungültig und spekulativ – eine These, die im weiteren Verlauf der Fabel sogleich überprüft wird. So lassen sich im Falle der bretonischen Kuh die Effekte eines natürlichen Begehrens beobachten, das einem streng vorgegebenen biologischen Mechanismus folgt und eine grundlegende Veränderung ihres gesamten »Wesens« nach sich zieht: »À certaines périodes de l’année (précisément spécifiées par l’inexorable fonctionnement de la programmation génétique), une étonnante révolution se produit dans son être« (EDL, 10). Wenn auf der Erzählebene von animalischen Trieben die Rede ist, so ist auf der Sinnebene die menschliche Sexualität gemeint. Entscheidend ist aber, dass die naturwissenschaftliche Erklärung, die im Rahmen der ersten Tierfabel präsentiert wird, einen Gegenentwurf liefert zu der Freiheitsphilosophie Jean-Paul Sartres.78 Wo Sartre den Menschen zur Freiheit verurteilt sieht, ist die Willensfreiheit bei Houellebecq durch biologische und soziale Faktoren eingeschränkt. Sartres radikaler Freiheitsbegriff wird im Roman durch die Berufung auf das genetische Programm (»l’inexorable fonctionnement de la programmation génétique«) verworfen. Am Ende der Fabel wird die menschliche Freiheit sogar metaphysisch umgedeutet, indem das Schicksal der beiden titelgebenden Tiere in den Kontext des biblischen Sündenfalls überführt wird: »Naturellement, l’éleveur symbolisait Dieu. Mû par une sympathie irrationnelle pour la pouliche, il lui promettait dès le chapitre suivant la jouissance éternelle de nombreux étalons, tandis que la vache, coupable du péché d’orgueil, serait peu à peu condamnée aux mornes jouissances de la fécondation artificielle. Les pathétiques meuglements du bovidé s’avéraient incapables de fléchir la sentence du Grand Architecte. Une délégation de brebis, formée en solidarité, ne connaissait pas un meilleur sort. Le Dieu mis en scène dans cette fiction brève n’était pas, on le voit, un Dieu de miséricorde.« (EDL, 11) Steht die Jugend (in Gestalt des Fohlens) im Zeichen der Lust und der Befriedigung des sexuellen Begehrens, so sind die übrigen Lebensalter (in Gestalt der Kuh) und die breite

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Nach Sartre entspringt die menschliche Freiheit einer bewussten Wahl (choix). Was der Mensch ist, entscheidet er zu jedem Zeitpunkt selbst, indem er sich einen Entwurf (projet) seiner Selbst gibt. Die Freiheit lässt sich Sartre zufolge nicht leugnen. Jede Bezugnahme auf einen äußeren (sozialen) oder inneren (biologischen) Determinismus ist für ihn eine Form der Unaufrichtigkeit (mauvaise foi), die darüber hinwegtäuschen soll, dass der Mensch die volle Verantwortung für sein Handeln übernehmen muss: »[…] l’homme, étant condamné à être libre, porte le poids du monde tout entier sur ses épaules : il est responsable du monde et de lui-même en tant que manière d’être.« Vgl. Jean-Paul Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris: Gallimard, 1943, insb. S. 81ff. und S. 477ff., hier S. 598.

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Masse der Menschen (verkörpert durch die Delegation der Schafe) zu den »traurigen« Freuden einer künstlichen Befruchtung verdammt. Mit dieser allegorischen Deutung greift der Erzähler bereits auf den Inhalt der zweiten Tierfabel vorweg. Ausgangspunkt dieser Fabel (Dialogues d’un teckel et d’un caniche) ist ein Manuskript, das einer der beiden Hunde im Schreibtisch seines Herrchens gefunden haben will. Im Rahmen dieser Herausgeberfiktion wird sodann ein Ereignis aus der Kindheit des (intradiegetischen) Erzählers berichtet. Er beobachtet ein junges Mädchen am Strand, ihr Blick geht zu einer Gruppe von Jungen, die das »frivole« Federballspiel des Mädchens aufmerksam verfolgen. Es folgen einige »theoretische« Überlegungen zum Ursprung der Sexualität. Verschiedene Beobachtungen ließen den Schluss zu, so der Erzähler, dass hinter dem sexuellen Begehren »une force plus profonde et plus cachée« (EDL, 86) mitwirke.79 Zum Beweis wird die Geschichte einer Klassenkameradin namens Brigitte Bardot erzählt. Mit der berühmten Schönheitsikone des französischen Films hat sie jedoch so gut wie nichts gemein, denn anders als ihre reale Doppelgängerin ist sie von abschreckender Hässlichkeit. Der intradiegetische Erzähler ist schonungslos in der Auflistung ihrer körperlichen Defizite: »Au moment où je l’ai connu, dans l’épanouissement de ses dix-sept ans, Brigitte Bardot était vraiment immonde. D’abord elle était très grosse, un boudin et même un surboudin, avec divers bourrelets disgracieusement disposés aux intersections de son corps obèse. […] sa peau était rougeâtre, grumeleuse et boutonneuse. Et sa face était large, plate et ronde, avec de petits yeux enfoncés, des cheveux rares et ternes. Vraiment la comparaison avec une truie s’imposait à tous, de manière inévitable et naturelle.« (EDL, 88) Die rhetorische Übertreibung (»un surboudin«) und der bizarre Tiervergleich (»la comparaison avec une truie«) legen den Verdacht nahe, der Erzähler wolle sich über die Figur lustig machen. Doch die Beschreibung ist frei von Spott und Häme. Der Erzähler zeigt sich sogar äußerst solidarisch mit seiner Klassenkameradin. Die Kränkungen, die sie während der Pubertät über sich ergehen lassen musste, werden mit aufrichtiger Empathie und Anteilnahme geschildert. Für die fiktive Brigitte Bardot ist der eigene Körper eine regelrechte Fatalität. Dies zeigt sich etwa auch in der Wahl des reflexiven Verbums (»s’imposait«), das ohne aktivisches Subjekt auskommt. Auch der Vergleich mit einer Sau zwingt sich »von selbst« auf, ganz so als wäre hier eine unpersönliche, anonyme Macht am Werk, die mit schicksalhafter Notwendigkeit (»de manière inévitable et naturelle«) über das Glück und Unglück der Figuren entscheidet. Nachdem der Erzähler seine theoretischen Prämissen an einem Beispiel illustriert hat, werden drei zentrale Wahrheiten – »trois nobles vérités« (EDL, 95) – über die Sexualität verkündet:

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Auch an dieser Stelle zeigt sich der Einfluss Schopenhauers. Die Rede von einer geheimnisvollen Kraft, die unsere Affekte kontrolliert, verweist auf das Prinzip eines metaphysischen Willens. Dieser Wille ist ein »blinder«, d.h. erkenntnisloser, und »unaufhaltsamer Drang« nach Dasein, der sich nach Schopenhauer in den verschiedenen Objektivationen der (belebten und unbelebten) Natur manifestiert. Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, hg. von Ludger Lütkehaus, 5. Aufl., München: DTV, 2011, hier S. 361.

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Erstens soll es sich bei der Sexualität um ein System der sozialen Hierarchisierung handeln; zweitens soll die Liebe trotz ihres problematischen ontologischen Status (»malgré sa fragilité ontologique«) dabei eine Rolle spielen; und drittens gilt es, die »natürliche« Funktion der Sexualität von dem menschlichen Bedürfnis nach Liebe zu unterscheiden. Ursprünglich, so der Erzähler, diente die Sexualität allein dem Erhalt der Gattungsspezies ›Mensch‹.80 Heute erfülle sie jedoch eine ganz andere Funktion. Eine Erklärung liefert das anschließende Kapitel, dessen ironische Überschrift (»Retour aux vaches«) zugleich einen Bogen zurück zum Inhalt der ersten Tierfabel schlägt. Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht eine Analogie von wirtschaftlichem und sexuellem Liberalismus: »Décidément, me disait-je, dans nos sociétés, le sexe représente bel et bien un second système de différenciation, tout à fait indépendant de l’argent ; et il se comporte comme un système de différenciation au moins aussi impitoyable. Les effets de ces deux systèmes sont d’ailleurs strictement équivalents. Tout comme le libéralisme économique sans frein, et pour des raisons analogues, le libéralisme sexuel produit des phénomènes de paupérisation absolue. Certains font l’amour tous les jours ; d’autres cinq ou six fois dans leur vie, ou jamais. Certains font l’amour avec des dizaines de femmes ; d’autres avec aucune. C’est ce qu’on appelle la ›loi du marché‹. […] En système économique parfaitement libéral, certains accumulent des fortunes considérables ; d’autres croupissent dans le chômage et la misère. En système sexuel parfaitement libéral, certains ont une vie érotique variée et excitante ; d’autres sont réduits à la masturbation et la solitude.« (EDL, 100) Die Analogie beruht darauf, dass beide Bereiche gleichermaßen den Gesetzmäßigkeiten des »Marktes« unterworfen seien. Die Übertragung der ökonomischen Funktionslogik auf den Bereich der Intimbeziehungen führt dem Roman zufolge zu brutalen Ausschlussmechanismen. Denn wo allein das »erotische Kapital«81 über Erfolg und Miss80

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In dem Kapitel »Metaphysik der Geschlechtsliebe« aus dem Zweiten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung beschreibt Schopenhauer die Sexualität als ein Instrument der Natur, das im Dienste der Gattungsreproduktion steht. Wenn sich die Menschen bei der Partnerwahl von Eigenschaften wie Schönheit oder physischer Stärke leiten lassen, dann deshalb, weil hinter der geschlechtlichen Liebe ein alles bestimmender ›Wille zum Leben‹ stehe, der sich auch in der zukünftigen Generation verwirklichen will. Daher komme es bei der Partnerwahl zu einer Art von natürlicher Selektion. Die Menschen handeln laut Schopenhauer nämlich nicht aus Einsicht, sondern aus Instinkt. Der Wille lenkt und leitet sie, weshalb der Intellekt – nach einem geflügelten Wort Schopenhauers – zumeist nicht Herr im eigenen Hause ist. Die Liebe ist demnach ein Mechanismus, den die Natur entwickelt hat, um den Intellekt zu täuschen. Ihr Ziel ist es, zwei Menschen mit sich ergänzenden Eigenschaften zusammenzubringen, damit aus dieser Verbindung ein neues Individuum hervorgeht, das zugleich die bestmöglichen Voraussetzungen mitbringt, um den Fortbestand der Gattung zu sichern. Dafür komme es aber nicht darauf an, ob die Liebe erfüllt wird oder nicht. Entscheidend ist laut Schopenhauer allein der sinnliche Genuss, den die körperliche Vereinigung zweier Liebender verspricht, selbst wenn er nur von kurzer Dauer ist. Je leidenschaftlicher die Liebe, desto deutlicher zeige sich darin der »Genius der Gattung«. Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und als Vorstellung, a.a.O., S. 616-660. Der Begriff des ›erotischen Kapitals‹ stammt von der Soziologin Catherine Hakim, die ihn in Anlehnung an Pierre Bourdieu als vierte Vermögensklasse neben dem ökonomischen (Reichtum, Geld, Vermögen, Besitz), dem kulturellen (Erziehung, Bildung, Manieren, Geschmack) und dem sozialen Kapital (Freundschaften, Netzwerke, Beziehungen) entwickelt. Allerdings ist ihre Definition

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erfolg entscheidet, werden körperliche Attraktivität und Schönheit zur alles bestimmenden Norm. Aus diesem Grund misst unsere Kultur der Jugend einen solch hohen Stellenwert bei. Umgekehrt bleibt jenen, die diese Kriterien nicht erfüllen, der Zugang zum »Markt der Körper« verwehrt.82 Die beiden Formen der Ausgrenzung, die ökonomische wie die sexuelle, sind somit zwei Seiten ein- und derselben Medaille: »[…] le libéralisme sexuel, c’est l’extension du domaine de la lutte, son extension à tous les âges de la vie et à toutes les classes de la société« (EDL, 100). Indem er die Menschen zu Marktteilnehmern macht, verwandelt der Liberalismus das Leben in einen andauernden Konkurrenzkampf. Dieser Konkurrenzkampf ist ebenso unnachgiebig und gnadenlos wie die Natur, weil er kein Erbarmen mit den Schwachen, Kranken, Alten, Hässlichen und Armen kennt. Er wirft die Menschen in eine Art von Naturzustand zurück, in dem Gefühle wie Liebe oder Mitleid nicht existieren. Diese Lesart wird unter anderem auch durch die Metaphorik nahegelegt. Der gesamte Roman ist durchzogen von Tiervergleichen der unterschiedlichsten Art.83 All diese Vergleiche sollen den Leser an seine eigene »Natur« erinnern, wie Robert Dion gezeigt hat, eine Natur, die als überaus grausam und gefährlich dargestellt wird, weil in ihr ein instinktmäßiger Verhaltensdeterminismus und das Gesetz des Stärkeren vorherrschen.84 Wenn es sich bei der »Natur« um ein unhintergehbares Faktum handelt, dann wird diese Einsicht in der dritten Tierfabel auf den Kapitalismus übertragen. Protagonist dieser Fabel (Dialogues d’un chimpanzé et d’une cigogne) ist ein Schimpanse, der von einer Horde Störche eingesperrt wird. Eines Morgens fasst er sich ein Herz und hält eine flammende Rede, um gegen seine Gefangenschaft zu protestieren. Auf den ersten Blick wirkt diese Rede recht abstrus. Sie handelt von Spermatozoen, die gegen den Strom schwimmen und daher zu spät am »großen Fest der genetischen Vereinigung« (EDL, 125) eintreffen; von einem unerfahrenen Storch, der beim Flug über

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des erotischen Kapitals als »a nebulous but crucial combination of beauty, sex appeal, skills of self-presentation and social skills« insgesamt recht vage. Für eine Diskussion der zentralen Romanthese ist der Begriff aber dennoch von heuristischem Nutzen. Vgl. Catherine Hakim, Honey Money. The Power of Erotic Capital, London: Allen Lane, 2011, S. 1. Houellebecq umschreibt diese Ausschlussmechanismen anhand der Metapher vom Supermarkt als dem wahrem »Paradies der Moderne«. Zumindest in den westlichen Gesellschaften symbolisiert er eine Welt des Überflusses, in der alle Bedürfnisse befriedigt werden – vorausgesetzt man verfügt über das entsprechende Kleingeld. Ansonsten dienen die Türen des Supermarktes als eine unsichtbare Grenze: »Le supermarché est l’authentique paradis moderne ; la lutte s’arrête à sa porte. Les pauvres, par exemple, n’y entrent pas« (INT, 42). Norbert Lejailly, ein Kollege des Ich-Erzählers, hat »exactement le faciès et le comportement d’un porc« (EDL, 36). Raphaël Tisserand hat die Gesichtszüge eines »crapaud-buffle« (EDL, 54). Unter den Teilnehmern einer Fortbildung macht er umgehend die »weibliche Beute« (EDL, 56) ausfindig. Zum Abendessen erscheint er in einem schwarzen Anzug »qui lui donne un peu l’allure d’un scarabée« (EDL, 62). Die unglückliche Brigitte Bardot aus der zweiten Tierfabel zwingt dem Erzähler den Vergleich mit einer »Sau« (EDL, 88) ab. Während sich die Jungen aus ihrer Klasse »comme des crabes« (EDL, 91) um ihre Mitschülerinnen drängeln, hofft sie vergeblich auf die Liebe. Der Erzähler kommentiert dies trocken mit den Worten: »Une vipère se serait déjà suicidée, à sa place.« (EDL, 92). Die Liste ließe sich noch weiter fortführen. Vgl. Robert Dion, »Faire la bête: Les fictions animalières dans Extension du domaine de la lutte«, in: CRIN: Cahiers de recherche des instituts néerlandais de langue et de littérature française 43, 2004, S. 55-66, hier S. 59.

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das Meer mit heftigen Luftströmen zu kämpfen hat und in Folge dessen den Anschluss an die Gruppe verliert; und von Robespierre, der unter dem höhnischen Gelächter des Volkes im August 1793 zur Guillotine geführt wird. Was diese Beispiele verbindet, ist der Umstand, dass in allen drei Fällen eine Fatalität beschreiben wird.85 Jedes Mal kämpft ein Individuum gegen äußere Widerstände (gegen die Biologie, die Natur und die Geschichte) und scheitert. Eine solche Fatalität ist aber auch der Kapitalismus, wie der Erzähler bemerkt: »De tous les systèmes économiques et sociaux, le capitalisme est sans conteste le plus naturel. Ceci suffit déjà à indiquer qu’il devra être le plus pire« (EDL, 124-125). Zusammenfassen lässt sich die Argumentation der drei Tierfabeln wie folgt: In der ersten Tierfabel wird die menschliche Freiheit durch biologische Faktoren eingeschränkt; in der zweiten Fabel wird die »Natur« als unerbittlich und grausam dargestellt, weil es in ihr kein Mitleid und kein Erbarmen mit den Schwachen gibt; und in der dritten Tierfabel wird behauptet, dass der Kapitalismus genau diese negative Seite der menschlichen »Natur« zum Vorschein bringt. Wenn sich die Biologie des Menschen nicht verändern lässt, dann gilt dies auch für den Kapitalismus, weil er von allen Wirtschaftsformen am ehesten der menschlichen »Natur« entspricht. Jeder Versuch, sich gegen den Kapitalismus (und die Natur) aufzulehnen, ist daher von vornherin zum Scheitern verurteilt. Am Ende der dritten Fabel wird der Schimpanse von den Störchen regelrecht massakriert, weil er die bestehende Ordnung in Frage gestellt hat: »Ayant remis en cause l’ordre du monde, le chimpanzé devait périr ; réellement, on pouvait le comprendre ; réellement, c’était ainsi« (EDL, 126). Gegen die Kräfte der Natur und die Biologie ist der Einzelne machtlos, genauso wie gegen den Kapitalismus. Die Fabel selbst endet mit einer Liebeserklärung an Robespierre, den gescheiterten Revolutionär, dem beim Betreten der Guillotine außer Schmerz nur »Hoffnung« blieb.86 Diese philosophischen Gedanken über das Verhältnis von Freiheit und Determinismus, über das Wesen der menschlichen »Natur« und die Machtlosigkeit des Individuums werden im zweiten Teil des Romans an einem konkreten Einzelschicksal exemplifiziert. 85 86

Ebd., S. 64. Bezeichnenderweise folgt die letzte Tierfabel unmittelbar auf eine philosophische Reflexion über die »paradoxe Nützlichkeit« (EDL, 124) des Selbstmords. Der Ich-Erzähler schlägt ein fiktives Gedankenexperiment vor: Man stelle sich einen Schimpansen vor, der in einem engen Käfig eingesperrt ist und mit wachsender Aggressivität auf seine Gefangenschaft reagiert; füge man nun aber eine Öffnung in den Käfig ein, hinter der sich ein tiefer Abgrund auftut, würde sich der Schimpanse augenblicklich beruhigen. Die Bedeutung dieses Gleichnisses liegt auf der Hand: Die Existenz ist ein Käfig, der den Menschen wahnsinnig und gewaltbereit werden lässt. Was bleibt ist die Hoffnung, dem Wahnsinn und der Gewalt selbst ein Ende bereiten zu können. In L’être et le néant führt Sartre das Beispiel eines Menschen an, der beim Blick in den Abgrund von Schwindel ergriffen wird. Dieser Schwindel ist laut Sartre Ausdruck einer existentiellen Angst (angoisse). Was sie hervorruft, ist die Erkenntnis, dass wir Herren unseres eigenen Schicksals sind. Wenn wir beim Blick in die Tiefe erschaudern, dann deshalb, weil wir erkennen, dass keine höhere Gewalt uns daran hindert, uns selbst in den Abgrund hinabzustürzen. Die Angst ist für Sartre darum immer auch Freiheitsbewusstsein, sie ist »la saisie réflexive de la liberté d’elle-même«. Sartre, L’être et le néant, a.a.O., S. 108. Bei Houellebecq verhält es sich freilich genau umgekehrt: Die Angst des Schimpansen resultiert aus dem Bewusstsein der eigenen Unfreiheit und es ist die Möglichkeit des Selbstmords, die ihn beruhigt.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

4.2.6

Liebe und Gewaltverzicht als höchste Formen der Freiheit

Der zweite Romanteil beginnt mit der Beschreibung einer Meerenge am Horn von Afrika, die auf den ersten Blick vollkommen aus dem Rahmen der eigentlichen Erzählung fällt.87 Für das Verständnis des Romans ist sie jedoch insofern von Bedeutung, als sie Houellebecqs Menschenbild in einem poetischen Bild zusammenfasst: »Aux approches de la passe de Bab-el-Mandel, sous la surface équivoque et immuable de la mer, se dissimulent de grands récifs de corail, irrégulièrement espacés, qui représentent pour la navigation un danger réel. Ils ne sont guère perceptibles que par un affleurement rougeâtre, une teinte légèrement différente de l’eau. Et si le voyageur éphémère veut bien rappeler à sa mémoire l’extraordinaire densité de la population de requins qui caractérise cette portion de la mer Rouge […], alors on comprendra qu’il éprouve un léger frisson, malgré la chaleur écrasante et presque irréelle qui fait vibrer l’air ambiant d’un bouillonnement visqueux, aux approches de la passe de Babel-Mandel. Heureusement, par une singulière compensation du ciel, le temps est toujours beau, excessivement beau, et l’horizon ne se départ jamais de cet éclat surchauffé et blanc que l’on peut également observer dans les usines sidérurgiques, à la troisième phase du traitement du minerai de fer […]. C’est pourquoi la plupart des pilotes franchissent cet obstacle sans encombre, et bientôt ils cinglent en silence dans les eaux calmes, iridescentes et moites du golfe d’Aden.« (EDL, 51-52) Inhaltlich wird der Text über zwei semantische Felder strukturiert: auf der einen Seite die vermeintliche Schönheit der Natur, auf der anderen Seite die von ihr ausgehende Gefahr. So faszinierend das Naturschauspiel auch sein mag, so zweideutig (»équivoque«) ist es zugleich. Die unbewegte (»immuable«) See ist trügerisch, denn die Korallenriffe, die sich in der Meerenge gebildet haben, machen die Durchfahrt zu einem echten Wagnis. Unter der vermeintlich ruhigen Wasseroberfläche lauert derweil noch eine andere Gefahr, deren Existenz dem Reisenden nicht bewusst ist und die ihn erschaudern ließe, sofern er davon wüsste. Das Zittern (»frisson«) des Reisenden findet seine Entsprechung im Bild einer unruhigen, pulsierenden Natur. Eine sonderbare Spannung liegt in der Luft, das Ganze wirkt nahezu unwirklich (»irréelle«). Die erdrückende Hitze verursacht ein ständiges Flimmern der Atmosphäre (»fait vibrer l’air ambiant«), Luft und Wasser scheinen zu kochen (»bouillonnement«). Alles verschmilzt zu einer sprudelnden, zähflüssigen (»visqueux«) Masse, deren Konsistenz sodann in einem kühnen Vergleich mit dem kochenden Stahl der Eisenverarbeitung verknüpft wird. Dieser assoziative Sprung zwischen dem Bildbereich einer belebten Natur und demjenigen industrieller Produktion (»les usines sidérurgiques«) bewirkt einen scharfen Kontrast, der

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Eingeschlossen zwischen dem Horn von Afrika und der arabischen Halbinsel verbindet die Meerenge Bab el Mandeb das Rote Meer und den Golf von Aden. Ihren arabischen Namen, der in etwa mit »Tor der Tränen« übersetzt werden kann, bezieht sie aus dem Umstand, dass es sich um eine der meist befahrenen und zugleich gefährlichsten Seestraßen der Welt handelt. Vgl. Ivan B. Welch, »Bab el Mandeb«, in: Encyclopedia of World Geopgraphy, hg. von R. W. McColl, New York: Facts on File, 2005, S. 69.

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erst am Ende der Beschreibung wieder aufgelöst wird. Wie durch eine himmlische Fügung (»par une singulière compensation du ciel«) ist das Wetter in dieser Gegend stets außergewöhnlich gut (»excessivement beau«), gleichsam als sollte das günstige Klima für die erlittenen Strapazen entschädigen. Beim Blick in die Ferne kann der »voyageur éphémère« bereits den verschwommenen Horizont und damit das Ziel seiner Reise erkennen. Ist die gefährliche Meerenge überwunden, erwarten ihn ungleich ruhigere Gefilde (»les eaux calmes«). Die Darstellung des Lebens als Seefahrt ist ein gängiger Topos der Literatur.88 Darum liegt es nahe, das poetische Bild auf die Situation des Menschen zu übertragen. Der Text scheint dabei zudem eine Erlösungstheologie nahezulegen, denn das Ziel der Reise wird mit der Hoffnung auf ein religiöses Jenseits verknüpft. Gleichzeitig ist in der Beschreibung der Meerenge deutlich der Einfluss Arthur Schopenhauers zu erkennen. Für Houellebecq wie für Schopenhauer hat die Natur ihre Ursprünglichkeit eingebüßt. Zwar bietet sie noch immer Momente der Ruhe und der Erhabenheit, aber unter der friedlichen Oberfläche rumort es gewaltig. Denn im Inneren der Welt arbeitet ein blinder, erkenntnisloser Drang, ein metaphysischer »Wille«, der Leiden, Schmerz, Gewalt und Egoismus in die Welt bringt. Die unermesslichen Tiefen des Ozeans sind folglich nichts anderes als die durch diesen Willen verursachten oder verstärkten Abgründe der menschlichen Existenz selbst.89 Inhaltlich greift der Text mit dem Motiv der Reise proleptisch auf die bevorstehende Dienstreise des Ich-Erzählers und seines Arbeitskollegen Raphaël Tisserand vorweg.90

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Eine ausführliche Untersuchung dieses literarischen Topos unternimmt Christoph Hönig, Die Lebensfahrt auf dem Meer der Welt. Der Topos. Texte und Interpretation, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000. Im ersten Band (§ 63) von Die Welt als Wille und Vorstellung wählt Schopenhauer ein ähnliches Bild, um die Situation des Menschen in der Welt zu umschreiben: »[…] wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegrenzt, heulend Wasserberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt voll Quaalen [sic], ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis, oder die Weise wie das Individuum die Dinge erkennt, als Erscheinung.« Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, a.a.O., S. 457. Nach Schopenhauer sieht der Mensch nur die Erscheinung der Dinge, das ist die Welt als Vorstellung, nicht aber ihr eigentliches Wesen, nämlich die Welt als Wille. Was ihn daran hindert, den Willen als das Ding »an sich« zu erkennen, ist das Prinzip der Individuation (principium individuationis). Dieses Prinzip beruht auf den Kategorien von Raum und Zeit. Sie erzeugen die Illusion einer Vielheit und Verschiedenheit, indem sie die Dinge »individuiert« erscheinen lassen, obwohl es sich dabei in Wirklichkeit um apriorische Anschauungsformen des erkennenden Subjekts handelt. Aus dem Individuationsprinzip entspringt laut Schopenhauer der Egoismus, da er eine Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich überhaupt erst ermöglicht. Das Ziel seiner Ethik besteht deshalb darin, das Individuationsprinzip zu überwinden, um zu erreichen, dass der Einzelne sich selbst im Anderen wiedererkennt. Am Ende dieser knapp dreiwöchigen Rundreise, die sie von Paris nach Rouen und wieder zurück führt, sollen die beiden Arbeitskollegen rechtzeitig vor Weihnachten wieder in Paris sein. Der kreisförmigen Bewegung dieses »périple« (EDL, 38) entspricht die zyklische Struktur der Erzählung. Der Roman beginnt an einem Freitagabend nach Einbruch der Dunkelheit und endet mittags, als die Sonne im Zenit steht. Es handelt sich hierbei um ein wiederkehrendes Motiv in Houellebecqs Romanen. Seine Protagonisten begeben sich häufig auf eine Reise, die sie am Ende wieder zurück an ihren Ursprung führt. Julie Delorme spricht diesbezüglich von einer »propension

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

Der Name dieses Kollegen ist auf doppelte Weise kodiert: Sein hebräischer Vorname, der sich in etwa mit »Gott hilf« übersetzen lässt, verweist auf den Erzengel Rafael, den Schutzpatron der Kranken und Pilger.91 Sein französischer Nachname bezeichnet den Beruf des Webers und erinnert damit an einen Berufsstand, der in besonderem Maße unter den Folgen der industriellen Revolution litt und massenhaft verarmte.92 Dieser Kontext schwingt auch in der zentralen Romanthese mit, wonach der sexuelle und der wirtschaftliche Liberalismus gleichermaßen »des phénomènes de paupérisation absolue« (EDL, 100) produzieren. Dem sozialen Elend der Weber im 19. Jahrhundert entspricht die sexuelle Misere von Raphaël Tisserand. Er hat ein solch abstoßendes Äußeres, dass alle seine Annäherungsversuche an das weibliche Geschlecht von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Der Erzähler ist schonungslos und brutal in seiner Erklärung: »Le problème de Raphaël Tisserand – le fondement de sa personnalité, en fait – c’est qu’il est très laid. Tellement laid que son aspect rebute les femmes, et qu’il ne réussit pas à coucher avec elles« (EDL, 54). Ökonomisch gehört Tisserand zu den Gewinnern des neuen Informationszeitalters. Er selbst bringt es auf den Punkt, wenn er seinem Kollegen gegenüber behauptet: »Nous sommes les rois« (EDL, 61). Dagegen zählt er eindeutig zu den Verlierern der sexuellen Revolution, was ihn jedoch nicht davon abhält, auch weiterhin fest an die Liebe zu glauben.93 Dies verbindet ihn mit der fiktiven Brigitte Bardot aus der zweiten Tierfabel. In einer Welt, in der ein Teil der Menschen von den Freuden der körperlichen Liebe ausgeschlossen ist, besteht nun aber immer auch die Gefahr, dass die eigene Impotenz in Gewalt umschlägt. So muss Brigitte der sexuellen »Befreiung« ihrer Klassenkameradinnen und Klassenkameraden mit wachsendem Frust und »stillem Hass« beiwohnen:

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au voyage circulaire«. Obwohl Ausgangs- und Endpunkt der Reise zusammenfallen, kehren die Figuren verändert zurück. Vgl. Julie Delorme, »Du guide touristique au roman. Plateforme de Michel Houellebecq«, in: Clément, Murielle Lucie/Wesemael, Sabine van (Hg.), Michel Houellebecq sous la loupe, Amsterdam/New York: Rodopi, 2007, S. 287-300, hier S. 287. Im Alten Testament ist Rafael der Wegbegleiter von Tobias auf dessen Reise nach Medien. Dort soll er dessen erblindeten Vater heilen und Tobits Braut Sara von bösen Dämonen befreien. Vgl. hierzu Paul Deelaers/Bernhard Lang, »Rafaël«, in: Neues Bibel-Lexikon, hg. von Manfred Görg und Bernhard Lang, Bd. III, Zürich: Benzinger, 2001, S. 273-274; sowie André Boudart, »Raphaël«, in: Dictionnaire encyclopédique de la Bible, publié sous la direction du Centre informatique et Bible/Abbaye de Maredsous, Turnhout: Brepols, 1987, S. 1093-1094. In Frankreich leitete der Aufstand der Seidenweber von Lyon im November 1831 eine Reihe von Arbeiterrevolten ein, die in den folgenden Jahren auch auf die Nachbarländer übergreifen sollten. Berühmtheit erlangte dabei vor allem der Aufstand der schlesischen Weber im Jahr 1844, da er in Kunst und Literatur vielfach aufgegriffen und bearbeitet wurde. Zu den bekanntesten Beispielen zählen das Gedicht Die Schlesischen Weber (1844) von Heinrich Heine, das naturalistische Drama Die Weber (1894) von Gerhard Hauptmann oder die Lithographien Ein Weberaufstand (1894-1898) von Käthe Kollwitz. Vgl. hierzu Christina von Hodenberg, Aufstand der Weber. Die Revolte von 1844 und ihr Aufstieg zum Mythos, Bonn: Dietz, 1997. Dem Ich-Erzähler gegenüber erklärt er, dass ihn ein Rest von Stolz bislang davon abgehalten habe, zu einer Prostituierten zu gehen. Als sein Kollege ihn deshalb tadelt, antwortet er: »Je finirai peutêtre par le faire. Mais je sais que certains hommes peuvent avoir la même chose gratuitement, et en plus avec de l’amour. Je préfère essayer ; pour l’instant, je préfère encore essayer« (EDL, 99-100).

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»Elle ne pouvait qu’assister, avec une haine silencieuse, à la libération des autres ; voir les garçons se presser, comme des crabes, autour du corps des autres ; sentir les relations qui se nouent, les expériences qui se décident, les orgasmes qui se déploient ; vivre en tous points une autodestruction silencieuse auprès du plaisir affiché des autres. […] la jalousie et la frustration fermentèrent lentement, se transformant en une boursouflure de haine paroxystique.« (EDL, 91) Wo Balzac die Entstehung von Eifersucht, Hass und Gewalt als Folgewirkungen einer sozialen Ausgrenzung beschreibt, da schildert Houellebecq die Pathogenese solcher destruktiver Emotionen als Produkt einer sexuellen Ausgrenzung. Genau wie im Fall der Titelheldin aus La Cousine Bette, die als Kind von ihrer Familie zugunsten der schöneren Kusine »geopfert« wird, erwächst der Neid der Romanfigur auch hier aus einer Erniedrigung, die sie als Kind erfahren hat. Und genau wie bei Lisbeth gären (»fermentèrent«) die negativen Gefühle auch bei Brigitte zunächst eine Weile unbeobachtet von der Außenwelt, schwellen allmählich an (»boursouflure«) und entladen sich schließlich völlig unerwartet (»paroxystique«), wenn auch nicht vollkommen unbegründet, nach innen und nach außen. Die Gewalt äußert sich einerseits in spontanen Zornesausbrüchen und andererseits im Hass auf die eigene Person. Besonders deutlich zeigt sich diese Ambivalenz von innerer und äußerer Gewalt an der Figur des Ich-Erzählers. Auf dem Höhepunkt seiner Depression zerschlägt er einen Spiegel, um sich selbst zu verletzten (EDL, 128); später denkt er darüber nach, sich mit einer Schere zu kastrieren (EDL, 143). Seine Zerstörungswut richtet sich aber nicht nur auf den eigenen Körper, sondern auch auf die Menschen in seiner Umgebung. Im Laufe der Erzählung wird der Ton seiner Kommentare zunehmend aggressiver. Schon zu Beginn des Romans macht er abfällige Bemerkungen über das weibliche Geschlecht.94 Später erfahren wir von der gescheiterten Beziehung mit seiner Ex-Freundin, die von der Psychoanalyse komplett verdorben wurde.95 Rückblickend bedauert er es »de ne pas lui avoir tailladé les ovaires« (EDL, 105). In die misogynen Entgleisungen mischen sich auch rassistische Töne. Im Zug nach Paris betrachtet der Ich-Erzähler die vorbeiziehende Landschaft, als ihm ein betrunkener Mann im Abteil auffällt. Ihm gegenüber sitzt ein Geschäftsmann, der sich vom Anblick des Anderen gestört fühlt, offenbar, weil der Mann schwarz ist:

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»Je n’éprouvais aucun désir pour Catherine Lechardoy ; je n’avais nullement envie de la troncher. Elle me regardait en souriant, elle buvait du Crémant, elle s’efforçait d’être courageuse ; pourtant, je le savais, elle avait tellement besoin d’être tronchée. Ce trou qu’elle avait au bas du ventre devait lui apparaître tellement inutile. Une bite, on peut toujours la sectionner ; mais comment oublier la vacuité d’un vagin ?« (EDL, 46-47) »Véronique était ›en analyse‹, comme on dit ; aujourd’hui, je regrette de l’avoir rencontrée. Plus généralement, il n’y a rien à tirer des femmes en analyse. Une femme tombée entre les mains des psychanalystes devient définitivement impropre à tout usage, je l’ai maintes fois constaté. Ce phénomène ne doit pas être considéré comme un effet secondaire de la psychanalyse, mais bel et bien comme son but principal. Sous couvert de reconstruction du moi, les psychanalystes procèdent en réalité à une scandaleuse destruction de l’être humain. Innocence, générosité, pureté… tout cela est rapidement broyé entre leurs mains grossières.« (EDL, 103)

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»Non loin de moi dans la voiture, un Noir écoute son walkman en descendant une bouteille de J and B. Il se dandine dans le couloir, sa bouteille à la main. Un animal, probablement dangereux. J’essaie d’éviter son regard, pourtant relativement amical. Un cadre vient s’installer en face de moi, sans doute gêné par le nègre. Qu’est-ce qu’il fout-là, lui ! il devrait être en première. On n’est jamais tranquille.« (EDL, 82) Der Erzähler reagiert sichtlich gereizt auf die Störung durch die beiden fremden Männer. Auf die Erwähnung des betrunkenen Mannes (»un Noir«) folgt der abfällige Vergleich mit einem gefährlichen Tier (»Un animal«) und zuletzt sogar die rassistische Bezeichnung (»le nègre«) mit dem bestimmten Artikel. In der Veränderung seiner Wortwahl lässt sich ablesen, wie die anfängliche Gereiztheit in Rassismus umschlägt. Da er den Anblick des Mannes im Anzug nicht erträgt, wendet sich der Erzähler erneut der Landschaft auf der anderen Seite des Fensters zu: »Je suis obligé de me tourner vers le paysage pour ne plus le voir« (EDL, 82). Das Objektpronomen (»le«) ist an dieser Stelle bewusst zweideutig gehalten, denn die deiktische Referenz wird allein dadurch disambiguiert, dass sich die vorangehenden Sätze auf den Geschäftsmann im Anzug, und nicht auf den Schwarzen, beziehen.96 Dass in der sprachlichen Entgleisung dennoch Rassismus mitschwingt, zeigt sich spätestens in der versuchten Anstiftung zum Mord an einem jungen Schwarzen. Der Ich-Erzähler und sein Arbeitskollege Raphaël Tisserand besuchen am Weihnachtsabend eine Diskothek, um sich die Zeit während ihrer gemeinsamen Reise zu vertreiben. Tisserand will die Gelegenheit nutzen, um Frauen aufzureißen. Der Erzähler verfolgt dagegen ganz andere Pläne. In der Diskothek sucht er sich umgehend eine Position, von wo aus er eine gute Sicht auf das »théâtre des opérations« (EDL, 111) hat. Die Tanzfläche wird zum Ort eines perfiden Menschen-Experiments, in welchem dem Erzähler die Rolle des Versuchsleiters und Tisserand die Rolle einer »Laborratte« zukommt.97 Wie erwartet, liefert das Experiment die vorhergesehenen Ergebnisse. Kaum betritt Tisserand die Tanzfläche, wenden sich die Frauen angewidert von ihm ab. Mit jeder weiteren Abfuhr lässt sich beobachten, wie die Enttäuschung in Aggressivität umschlägt. Sein Verhalten wird zunehmend »brutaler« (EDL, 115). Nachdem er bereits zwei Mal abgewiesen wurde, unternimmt er einen letzten verzweifelten Versuch und fordert ein Mädchen, das kaum älter als fünfzehn Jahre ist, zum Tanz auf. Doch Tisserand hat sich längst nicht mehr unter Kontrolle: »Il balançait la fille avec brutalité, sans desserrer les dents, l’air mauvais ; chaque fois qu’il la ramenait vers lui il en profitait pour lui plaquer la main sur les fesses« (EDL, 116). Nach dem Tanz flüchtet das Mädchen zu ihren Freundinnen. Im selben Augenblick erscheint ein etwa siebzehnjähriges Mädchen in Begleitung eines jungen Schwarzen auf der Tanzfläche. Auf diesen Augenblick hat der Erzähler offenbar gewartet, denn er gibt seine passive Beobachterrolle nun auf und greift direkt in das 96

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»Il a une montre Rolex, une veste en seersucker. À l’annulaire de la main gauche il porte une alliance en or, moyennement fine. Sa tête est carrée, franche, plutôt sympathique. Il peut avoir une quarantaine d’années. Sur sa chemise blanc crème on distingue de fines rayures en relief, d’un crème légèrement plus foncé. Sa cravate est d’une largeur moyenne, et bien entendu il lit Les Échos. Non seulement il les lit mais il les dévore, comme si de cette lecture pouvait, soudain, dépendre le sens de sa vie.« (EDL, 82) Vgl. Dominique Noguez, Houellebecq, en fait, a.a.O., S. 135.

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Experiment ein, indem er seinem Kollegen unmissverständlich klar macht, dass sein Schicksal damit besiegelt sei: »›Bien entendu. C’est foutou depuis longtemps, depuis l’origine. Tu ne représenteras jamais, Raphaël, un rêve érotique de jeune fille. Il faut en prendre ton parti ; de telles choses ne sont pas pour toi. De toute façon, il est déjà trop tard. L’insuccès sexuel, Raphaël, que tu as connu depuis ton adolescence, la frustration qui te poursuit depuis l’âge de treize ans laisseront en toi une trace ineffaçable. À supposer même que tu puisses dorénavant avoir des femmes – ce que, très franchement, je ne crois pas – cela ne suffira pas ; plus rien ne suffira jamais. Tu resteras toujours orphelin de ces amours adolescentes que tu n’as pas connues. […] Il n’y aura pour toi ni rédemption, ni délivrance. C’est ainsi. Mais cela ne veut pas dire, pour autant, que toute possibilité de revanche te soit interdite. Ces femmes que tu désires tant tu peux, toi aussi, les posséder. Tu peux même posséder ce qu’il y a de plus précieux en elles. […] Lance-toi dès ce soir dans la carrière du meurtre ; crois-moi, mon ami, c’est la seule chance qu’il te reste. Lorsque tu sentiras ces femmes trembler au bout de ton couteau, et supplier pour leur jeunesse, là tu seras vraiment le maître ; là tu les posséderas, corps et âme. Peut-être même pourras-tu, avant leur sacrifice, obtenir d’elles quelques savoureuses gâteries ; un couteau, Raphaël, est un allié considérable.‹« (EDL, 117-118) Der Umstand, dass der Erzähler sich einer christlichen Terminologie (»rédemption«, »délivrance«) bedient, ruft einen bekannten biblischen Topos auf, nämlich die Erzählung von der Versuchung Jesu in der Wüste durch den Satan (Mt 4, 1-11; Lk 4, 1-13). Tatsächlich erweist sich der Erzähler als ein überaus geschickter Manipulator. Er spricht seinen Kollegen durchgehend mit dem Vornamen (»Raphaël«) an, was den persuasiven Charakter seiner Rede unterstreicht, und schlägt ihm vor, eine Laufbahn als Mörder einzuschlagen. Tisserand soll die Liebe aufgeben und nach Macht streben, um so die Kontrolle über die Frauen zurückzugewinnen.98 Als Tisserand erklärt, er wolle statt des

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Der Sozialpsychologe Erich Fromm beschreibt in seiner Studie über die Anatomie der menschlichen Destruktivität ein ganz ähnliches Verhalten, das er als »bösartige Aggression« bezeichnet. Darunter versteht er »die spezifisch menschliche Leidenschaft zu zerstören und absolute Kontrolle über ein Lebewesen zu haben«. Fromm führt diese Aggressionen auf die verschiedenen Bedürfnisse des Menschen zurück. Ein grundlegendes Bedürfnis bestehe darin, effektiv zu sein, das heißt etwas zu bewirken. Denn wirken zu können (sei es in intellektueller oder künstlerischer Hinsicht, sei es in der Arbeit oder im Privatleben, bei Freunden oder der Familie) bedeute, dass man aktiv ist: »Letzten Endes beweist es, daß wir sind. Man kann dieses Prinzip auch so formulieren: Ich bin, weil ich etwas bewirke.« Damit der Mensch sich nicht als passives Objekt erlebt, muss er das Gefühl erwerben, etwas zu bewirken. Denn das Gefühl, zur Wirkungslosigkeit verdammt zu sein, ist »eines der schmerzlichsten und vielleicht fast unerträglichsten Erlebnisse« überhaupt, weshalb »der Mensch fast alles versuchen wird, um es zu überwinden«. Laut Fromm wird der Mensch sogar vor Grausamkeit und Mord nicht zurückschrecken, um diesem Gefühl zu entgehen. Man kann sich die eigene Wirkmächtigkeit auf unterschiedliche Art beweisen, zum Beispiel indem man im geliebten Menschen ein Lächeln, im Sexualpartner eine Reaktion oder im Gesprächspartner Interesse hervorruft, »[a]ber man kann dasselbe Bedürfnis auch befriedigen, indem man über andere Macht gewinnt, indem man ihre Angst miterlebt, indem der Mörder die Todesangst auf dem Gesicht des Opfers beobachtet […].« Erich Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1977, S. 14, 265, 267, 266.

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Mädchens lieber ihren Freund umbringen, hat der Ich-Erzähler sein Ziel erreicht: »je savais alors que j’avais gagné« (EDL, 118). Sie verfolgen das Paar bis zu einem nahegelegenen Strand, wo Tisserand den jungen Mann mit einem Messer töten soll. Die Darstellung des Mordprojektes ist ein Pastiche der berühmten Strandszene aus L’Étranger. Am Ende dieser Szene tötet Meursault einen jungen Araber, mit dem er kurz zuvor in ein blutiges Handgemenge verwickelt war. Auf die Ähnlichkeiten zwischen den zwei Texten wurde in der Forschung bereits mehrfach hingewiesen.99 Übereinstimmungen ergeben sich sowohl aus der Wahl des Tatorts (Strand) als auch aus der Identität der Opfer (»Araber« vs. »Mischling«). Die Gemeinsamkeiten reichen sogar bis ins »motivische Detail«100 hinein, wie Thomas Hübener in seiner Analyse zeigt. Allerdings stehen die beiden Szenen, zumindest was den Zeitpunkt der Tat betrifft, unter genau umgekehrten Vorzeichen.101 Auch in einem anderen Punkt weicht der Roman von der Vorlage ab. Bei Camus geht dem Verbrechen ein handfester Streit voraus, der

Vgl. hierzu etwa das Kapitel »Camus-Allusionen« bei Thomas Hübener, Maladien für Millionen. Eine Studie zu Michel Houellebecqs ›Ausweitung der Kampfzone‹, Hannover: Wehrhahn, 2007, S. 117-138, sowie Jean-Louis Cornille, »Extension du domaine de la Littérature ou J’ai Lu L’Étranger«, in: Clément, Murielle Lucie/van Wesemael, Sabine (Hg.), Michel Houellebecq sous la loupe, Amsterdam/New York: Rodopi, 2007, S. 133-143. 100 Thomas Hübener, Maladien für Millionen, a.a.O., S. 118. Beispielsweise wird die Bluttat in beiden Fällen durch eine auffällige Farbsymbolik angekündigt. Beim ersten Zusammenstoß zwischen Meursault und den Arabern leuchtet der Strand rot auf. Als später die tödlichen Schüsse fallen, ist der Stand abermals in ein rotes Licht getaucht. Bei Houellebecq wird die Bluttat ebenfalls durch eine solche Farbsymbolik vorbereitet. Zwei Mal betrachtet der Erzähler die vorbeiziehende Landschaft aus dem Fenster seines Zugabteils und beide Male ist sie in ein bedrohliches Rot getaucht. Auf der Fahrt nach Rouen leuchtet die Sonne »terriblement rouge« (EDL, 53) und das Wasser des nahen Flusses ist scharlachrot gefärbt: »Nous longeons la Seine, écarlate, complètement noyée dans les rayons du soleil levant – on croirait vraiment que le fleuve charrie du sang« (EDL, 54). Auf der Rückfahrt nach Paris drei Wochen später wiederholt sich dasselbe Naturschauspiel: »C’est curieux, maintenant il me semble que le soleil est redevenu rouge, comme lors de mon voyage aller.« (EDL, 82). Die Mordtat wird durch die Farbsymbolik also regelrecht heraufbeschworen. Parallelen ergeben sich auch hinsichtlich der Tat selbst. In beiden Fällen findet die Übergabe der Tatwaffe – hier ein Revolver, dort ein Messer – unter ähnlichen Umständen statt. Als Meursault die Waffe an sich nimmt, spiegelt sich das Sonnenlicht im glatten Stahl des Revolvers; und als der Ich-Erzähler sein Messer aus dem Rucksack zieht, leuchtet die Klinge im Licht des Mondscheins auf: »ses dentelures luisaient joliment sous la lune« (EDL, 119). 101 Bei Camus erfolgt das Verbrechen an einem Sommertag unter dem Eindruck einer erdrückenden Nachmittagssonne. Houellebecq verlegt das Ereignis in eine Vollmondnacht im Winter, wobei das Mondlicht den Erzähler beinahe zärtlich einzuhüllen scheint: »la nuit était enveloppante et tendre« (EDL, 120). Trotzdem bleibt der usprüngliche Kontext präsent, erfahren wir doch, dass das Klima für diese Jahrszeit ungewöhnlich mild ist: »La température de l’air était de plus en plus douce, anormalement douce ; on se croirait au mois de juin« (EDL, 120).

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als Motiv für das Verbrechen aber keine Rolle spielt.102 Der Ich-Erzähler handelt dagegen mit Vorsatz. Er entwickelt schon frühzeitig einen »Plan« und besorgt sich ein großes Messer, das er vorsorglich im Handschuhfach seines Autos deponiert (EDL, 111). Allerdings führt das Experient nicht zum vorgesehenen Ergebnis, da Tisserand im letzten Augenblick vor einem Mord zurückschreckt. Mit dem Messer bewaffnet schleicht er sich hinter die Dünen, doch beim Anblick des zärtlich ins Liebesspiel vertieften Paares sieht er von seinem Vorhaben ab: »J’aurais pu les tuer ; ils n’entendaient rien, ils ne faisaient aucune attention à moi. Je me suis masturbé. Je n’avais pas envie de les tuer ; le sang ne change rien« (EDL, 120). Er trifft (ganz im Sinne Sartres) eine Wahl und entscheidet sich gegen Hass und Gewalt, und für die Liebe. Erstaunlicherweise wurde dieser Gewaltverzicht häufig nicht gesehen oder stillschweigend übergangen.103 Was Tisserand betrifft, so sollte man nicht vorschnell aus dem äußeren Erscheinungsbild auf seinen Charakter schließen. Dies würde nämlich bedeuten, dem Text selbst in die Falle zu gehen.104 Tisserand versucht alles, um bei den Frauen gut anzukommen; nur wird er jedes Mal zurückgewiesen: »Simplement, elles ne veulent pas de lui« (EDL, 54).

102 Erst vor Gericht wird ein solcher Kausalzusammenhang hergestellt, als man versucht, die Ereignisse am Strand zu rekonstruieren. Tatsächlich fallen die tödlichen Schüsse eher zufällig und im Affekt, zumal Meursault mit der Angelegenheit schon abgeschlossen hat: »[…] quand j’ai été plus près, j’ai vu que le type de Raymond était revenu. Il était seul. Il reposait sur le dos, les mains sous la nuque, le front dans les ombres du rocher, tout le corps au soleil. Son bleu de chauffe fumait dans la chaleur. J’ai été un peu surpris. Pour moi, c’était une histoire finie et j’étais venu là sans y penser.« Albert Camus, L’Étranger, a.a.O., S. 175. 103 In der Forschung wurde die Romanfigur oftmals negativ bewertet. Martina Stemberger beispielsweise erkennt in ihr gar einen latenten »antisemitischen Subtext«. Ihr zufolge ist die Romanfigur aus »perfekt aufeinander abgestimmten Versatzstücken eines fertig zur Verfügung stehenden stereotypen Repertoires« zusammengesetzt. So evoziere Tisserand aufgrund seiner äußeren Erscheinung einerseits das Bild eines »hässlichen Juden«; andererseits werde er in ein »orientalisches Motivsystem« eingebettet und durchgehend »metaphorisch animalisiert«. Mit den beiden Themenbereichen ›Geld‹ und ›Sexualität‹ würden zudem »zwei Kernbereiche (vielleicht die Kernbereiche überhaupt) der antisemitischen Stereotypisierung des ›jüdischen‹ Anderen« angesprochen. Dieser Einschätzung ist aus verschiedenen Gründen zu widersprechen. Zum einen übersieht Stemberger, dass ausnahmslos alle Figuren im Roman mit Tiervergleichen versehen werden. Es geht Houellebecq also nicht darum, einzelne ethnische oder religiöse Gruppen herabzusetzen; vielmehr sollen die Tiervergleiche den Leser an seine eigene »tierische« Natur erinnern. Zum anderen verkennt Stemberger den sozialkritischen Impetus der Erzählung, wenn sie die beiden Regulative der spätkapitalistischen Weltordnung, das Geld und die Sexualität, losgelöst vom globalen Kontext des Romangeschehens betrachtet. Die These einer Analogiebeziehung von wirtschaftlichem und sexuellem Liberalismus dient ja gerade dazu, das Schicksal von Raphaël Tisserand und den anderen Verlierern der sexuellen Revolution zu erklären, und nicht etwa dazu, ein bekanntes antisemitisches Stereotyp zu verbreiten. Vgl. Martina Stemberger, »(Des-)Illusionen. Skepsis und Stereotypie in Michel Houellebecqs Extension du domaine de la lutte«, in: Romanische Forschungen 120/2, 2008, S. 190-200, hier S. 191, 194, 195, 196 und 195. 104 Es ist keineswegs so, dass Tisserand durchgehend negativ und unsympathisch dargestellt wird. In Wahrheit ist er eine überaus freundliche und liebenswerte Person. Als der Erzähler während ihrer Dienstreise in Rouen erkrankt, macht er sich große Sorgen; später besucht er ihn im Krankenhaus, spricht mit den Ärzten, bringt Kuchen und versorgt seinen Kollegen mit Büchern (EDL, 78). Auch gegenüber den Frauen verhält er sich in der Regel sehr anständig. Beispielsweise lehnt er es ab, sich ihre Liebe mit Geld zu erkaufen.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

Trotzdem verzichtet er darauf, sich durch den Mord an einem Unschuldigen für sein persönliches Unglück zu rächen. Damit beweist er wahre Größe. Houellebecq hat seine Romanfigur als veritable Christus-Figur konzipiert. Der Roman selbst liefert eine ganze Reihe von Hinweisen, die eine solche Interpretation nahelegen. Nach seinen Plänen für das Weihnachtsfest befragt, erklärt Tisserand: »On ne fait rien à Noël. Je suis juif […]. Enfin, mes parents sont juifs« (EDL, 110). Tisserand ist Jude, aber er praktiziert nicht. Wie Jesus hat er den Glauben seiner Eltern hinter sich gelassen und damit die Voraussetzung für eine religiöse Erneuerung geschaffen. Seinem Kollegen gegenüber erklärt er, dass Informatiker heute die eigentlichen »Könige« (EDL, 61) seien, ganz so wie Jesus dem römischen Statthalter Pontius Pilatus vor Gericht erklärt, dass er als König in die Welt gekommen sei (Joh 18, 33-38). In Rouen besuchen er und sein Kollege eine Bar, die sich in einer Art »Kaverne« (EDL, 63) befindet. Damit wird wohl auf die Grablegung Jesu in einem Felsen (Mt 27, 57-62) angespielt. Ausgerechnet an diesem Ort verliert Tisserand zum ersten und einzigen Mal den Mut. Er durchläuft seine schwerste »Krise« (EDL, 64), ganz so wie Jesus im Garten Gethsemane, wo er in der Nacht vor seiner Kreuzigung mit Judas und den anderen Jüngern betet, um sie auf die kommende Versuchung vorzubereiten (Luk 22, 39-46). Anschließend treffen wir Tisserand erst am Weihnachtsabend in der Diskothek »L’Escale« (EDL, 109) wieder. Der Name dieser Diskothek leitet sich von italienisch scala für »Treppe«, »Leiter« oder »Skala« ab. Darin klingt wiederum der Name der Heiligen Treppe (scala santa) in Rom an, die zur Kapelle Sancta Sanctorum neben dem Lateranpalast führt.105 Houellebecq verlegt den Höhepunkt des Geschehens somit an einen Ort, dessen Name indirekt auf die Passion Christi verweist. Bezeichnenderweise korrespondieren die 28 Kapitel des Romans auffällig deutlich mit den 28 Stufen der Heiligen Treppe. Auch an die dreimalige Verleugnung des Petrus (Joh 18, 12-28) wird im Roman erinnert. Drei Mal sucht Tisserand in der Diskothek die Nähe der Frauen, drei Mal wird er von ihnen abgewiesen. Sein Leidensweg (»son calvaire«) endet noch in derselben Nacht, als sein Fahrzeug auf der Autobahn im Nebel mit einem Lastwagen kollidiert. Der Text selbst lässt offen, ob es sich dabei um einen Unfall oder Selbstmord handelt: »Je ne devais jamais revoir Tisserand ; il se tua en voiture cette nuit-là, au cours de son voyage de retour vers Paris. Il y avait beaucoup de brouillard aux approches d’Angers ; il roulait plein pot, comme d’habitude. Sa 205 GTI heurta de plein fouet un camion qui avait dérapé au milieu de la chaussée. Il mourut sur le coup, peu avant l’aube.« (EDL, 121) Die zeitlichen Umstände des Unfalls – im Text heißt es, man feierte »la naissance du Christ« (EDL, 121) – verleihen dem tragischen Ende von Tisserand den Charakter eines Opfertods. Tisserand stirbt stellvertretend für all jene, die wie er niemals die Liebe

105 Der Legende nach wurde diese Treppe von der Heiligen Helena, der Mutter des römischen Kaisers Konstantin, aus dem Statthalterpalast des Pilatus in Jerusalem nach Rom transportiert, weil Jesus während des Gerichtsprozesses dort Tropfen seines Blutes vergossen haben soll. Zur sogenannten »Pilatus-Treppe« siehe etwa die Ausführungen bei Thomas Raff, Die Sprache der Materialität. Anleitung zu einer Ikonografie der Werkstoffe, Münster: Waxmann, 2008, S. 108-109.

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kennengelernt haben. Die Nachricht von seinem Tod erreicht den Erzähler – in offenkundiger Erinnerung an die Zeit bis zur Auferstehung Christi – drei Tage später. Damit verweist der Text zugleich auf die Möglichkeit eines Neuanfangs. Nicht zufällig kündigt sich im Augenblick seines Todes bereits ein neuer Tag, ein Ostermorgen an, der das Versprechen auf ein Leben nach dem Tod symbolisch einlöst, nachdem die Existenz selbst nichts anderes als ein permanenter Kampf war: »Au moins, me suis-je dit en apprenant sa mort, il se sera battu jusqu’au bout. […] Jusqu’au bout et malgré les échecs successifs il aura cherché l’amour. Écrasé entre les tôles dans sa 205 GTI, sanglé dans son costume noir et sa cravate dorée, sur l’autoroute quasi déserte, je sais que dans son cœur il y avait encore la lutte, le désir et la volonté de la lutte.« (EDL, 121) An dieser Stelle spielt der Roman auf den berühmten Schlusssatz von Camus’ philosophischem Hauptwerk Le myhte de Sisyphe an.106 Für Camus verkörpert Sisyphos den Inbegriff des »absurden Helden«, weil er die ihm auferlegte Strafe in stiller Verachtung der Götter, in Hass gegen den Tod und in Liebe zum Leben akzeptiere. Aus dem Wissen, dass die Existenz an und für sich absurd ist, zieht Sisyphos für sich den Schluss, die ihm auferlegten Prüfungen als seine ureigene Schöpfung zu betrachten. Denn es gibt kein Schicksal, so Camus, das nicht durch Verachtung überwunden werden könne; insgeheim freue sich Sisyphos sogar, dass er den Göttern ein Schnippchen geschlagen habe.107 Am Ende steht die Aufforderung, dass wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen sollen. Auch Tisserand kämpft bis zum Schluss mit seinem Schicksal, obwohl sein Versuch, eine Partnerin zu finden, ganz und gar aussichtslos ist. Wie Sisyphos ist er dazu verdammt, für alle Ewigkeiten einen schweren Stein zu tragen. Aber der Kampf gegen Bergesgipfel vermag hier eben gerade kein Menschenherz mehr zu erfüllen. Da die Liebe unmöglich ist, verliert die Existenz ihren Sinn. Ohne Liebe gibt es keinen Grund mehr, sich gegen das Schicksal aufzulehnen. Anders als Sisyphos wählt Tisserand darum nicht den Weg der Revolte, sondern er entscheidet sich – sehr wahrscheinlich – für den Freitod. Damit wird erneut auf die Philosophie des Absurden angespielt. Bei Camus resultiert die menschliche Freiheit aus dem Bewusstsein der Absurdität. Sisyphos weiß, dass es für ihn keine Erlösung geben wird und dieses Wissen nimmt ihm jede Angst. Die Freiheit, die aus seiner Revolte gegen die Götter entspringt, ist eine positive Freiheit (›Freiheit zu‹). Sie befähigt ihn dazu, sein Schicksal als eine persönliche Angelegenheit zu betrachten. Bei Houellebecq verhält es sich genau umgekehrt. Frei zu sein bedeutet hier, dass der Mensch aus allen sinnstiftenden Bezügen losgelöst und auf sich selbst zurückgeworfen ist. Eine solche Freiheit ist negativ (›Freiheit von‹), denn sie bezeichnet

106 Darin heißt es: »Je laisse Sisyphe au bas de la montagne ! On retrouve toujours son fardeau. Mais Sisyphe enseigjne la fidélité supérieure qui nie les dieux et soulève les rochers. Lui aussi juge que tout est bien. […] La lutte elle-même vers les sommets suffit à remplir un cœur d’homme. Il faut imaginer Sisyphe heureux.« Albert Camus, Le mythe de Sisyphe. Essai sur l’absurde, Paris: Gallimard, 1942, S. 168. 107 »Il n’est pas de destin qui ne se surmonte par le mépris.« Und weiter: »Tout la joie silencieuse de Sisyphe est là. Son destin lui appartient. Son rocher est sa chose.« Ebd., S. 166 und 167.

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einzig und allein das Recht, das zu tun, was man tun möchte, ohne von anderen daran gehindert zu werden.108 Beide Freiheitsbegriffe werden im Roman aus unterschiedlichen Gründen verworfen. Der negative Freiheitsbegriff, wie ihn der Liberalismus in seiner Betonung individuelle Freiheitsrechte verwendet, führt dem Roman zufolge zur Vereinzelung und Vereinsamung der Menschen.109 Der positive Freiheitsbegriff, wie er Camus vorschwebt, will den Menschen dazu befähigen, die Verantwortung für seine Existenz zu übernehmen, ohne auf die Hilfe einer fremden Macht zu hoffen. Ein Leben ohne Hoffnung hat für die Romanfiguren jedoch keinen Sinn, ja ein solches Leben verfehlt den Sinn der Existenz nachgerade. Im Roman werden die Philosophie des Absurden und die christliche Erlösungstheologie durch ein Motiv verbunden, das dem breiten Repertoire an Tiervergleichen entnommen ist. Als Tisserand in den frühen Morgenstunden auf der Autobahn ums Leben kommt, trägt er noch immer denselben schwarzen Anzug mit der goldenen Krawatte, der ihm das Aussehen eines »Skarabäus« (EDL, 62) verleiht. Wer würde bei dem Bild des Skarabäus, der Kugeln aus Mist formt und sie, den Lauf der Sonne imitierend, rückwärts vor sich herschiebt, nicht an den antiken Sisyphos denken, der seinen schweren Stein den Berg hinaufrollt? Gleichzeitig nimmt der Vergleich mit einem Skarabäus auch den Erlösungsgedanken wieder auf. Im alten Ägypten wurde der Skarabäus als Symbol einer Selbstzeugung verehrt, da er seinen Samen in Mistkugeln ablegt, diese vergräbt und einen Monat später daraus wie neugeboren hervorgeht.110

4.2.7

Pathologien des Sozialen

Mit dem Tod von Raphaël Tisserand endet die gemeinsame Reise der zwei Arbeitskollegen. Den Ich-Erzähler erwartet nun die Rückkehr in die Welt der beruflichen Kampfzone (»la domaine de la lutte«) mit ihren täglichen Strapazen, ihrer Langeweile und Tristesse. Dieser zweiten Lebensphase, die unmittelbar mit dem Erwachsenenalter einsetzt, steht die unbeschwerte Zeit der Kindheit gegenüber, eine Welt der Vorschriften (»la domaine de la règle«) und des ungestörten Spielens, in der das Interesse für die

108 Zur Unterscheidung von ›positiver‹ und ›negativer‹ Freiheit siehe Isaiah Berlin, Freiheit. Vier Versuche, aus dem Englischen von Reinhard Kaiser, Frankfurt a.M.: Fischer, 1995, insb. S. 39ff. 109 Houellebecqs Kritik am Liberalismus beruht darauf, dass der Liberalismus die Menschen als Einzelwesen und nicht als soziale Wesen betrachtet. Der Liberalismus zieht die individuellen Freiheitsrechte dem gemeinschaftlichen Guten vor. Auf diese Weise befördert er einen Individualismus, der jedes Gefühl von Gemeinschaft und Solidarität zerstört. Zur Kritik an der politischen Philosophie des Liberalismus und seinem Menschenbild vgl. Charles Taylor, »Der Irrtum der negativen Freiheit«, in: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, aus dem Englischen von Hermann Kocyba, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1988, S. 118-144. 110 Zum Skarabäus und seiner Symbolik im Alten Ägypten siehe Emma Brunner-Traut, »Der Skarabäus«, in: dies., Gesammelte Mythen. Beiträge zum altägyptischen Mythos, 3. Aufl., Darmstadt: Wissen. Buchgesellschaft, 1988, S. 5-15. In der frühchristlichen Antike wurde der Skarabäus zunächst als Sinnbild Christi gebraucht, so etwa in der Auslegung des Lukasevangeliums durch Ambrosius, bevor diese Symbolik als blasphemisch interpretiert wurde und verschwand. Vgl. Franz-Josef Döger, »Christus im Bilde des Skarabäus«, in: ders., Antike und Christentum. Kultur- und religionsgeschichtliche Studien, 2. Aufl., Münster: Aschendorff, 1974, Bd. 2, S. 230-240.

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Menschen und das Verlangen, die Welt zu entdecken, noch groß waren, wie der Erzähler in einer direkten Leser-Apostrophe erklärt: »Vous avez eu une vie. Il y a eu des moments où vous aviez eu une vie […]. Comme votre appétit de vivre était grand, alors ! L’existence vous apparaissait riche de possibilités inédites« (EDL, 13). Mit dem Eintritt in das Berufsleben verschwindet der kindliche Lebenshunger ebenso wie das Bedürfnis, sich für andere einzusetzen. Denn obwohl den modernen Menschen immer mehr Freizeit zur Verfügung steht, wissen sie paradoxerweise nichts damit anzufangen: »Cependant, il reste du temps libre. Que faire ? Comment l’employer ? Se consacrer au service d’autrui ? Mais, au fond, autrui ne vous intéresse guère. Écouter des disques ? C’était une solution mais au fil des ans vous devez convenir que la musique vous émeut de moins en moins. Le bricolage, pris dans son sens le plus étendu, peut offrir une voie. Mais rien en vérité ne peut empêcher le retour de plus en plus fréquent de ces moments où votre absolue solitude, la sensation de l’universelle vacuité, le pressentiment que votre existence se rapproche d’un désastre douloureux et définitif se conjuguent pour vous plonger dans un état de réelle souffrance.« (EDL, 12-13) Die Verwendung des betonten Personalpronomens (»vous«) durchbricht die TagebuchFiktion. Der Leser soll sich in den Aussagen des Erzählers wiedererkennen und sie auf seine eigene Lebenswirklichkeit rückbeziehen. Man könnte die Passage aber auch als eine Art Selbstgespräch auffassen. In diesem Fall ließe sich das Personalpronomen als Indiz einer Persönlichkeitsspaltung deuten, die mit dem Beginn einer Psychose zusammenfällt.111 Das erzählende Subjekt spaltet sich in eine zweite Person, in ein »Du«, das nicht mehr mit dem »Ich« identisch ist. Tatsächlich zeigt der Erzähler Symptome einer bipolaren Störung, was sich in starken Stimmungsschwankungen, Lustlosigkeit und Gewaltfantasien äußert. Später erfahren wir, dass er seit Längerem an einer Depression leidet. In Rouen überbrückt er die Zeit vor dem Besuch der Diskothek mit einem Dominospiel, wobei er beide Parteien zugleich spielt (EDL, 110). Das Spiel gegen sich selbst ist ein deutliches Anzeichen für eine Schizophrenie.112 Was die Ursachen seiner Erkrankung anbelangt, so sind diese weniger psychischer, sondern vor allem sozialer Natur. Der Ich-Erzähler führt das Leben eines umherschweifenden »Schizos«, wie Gilles Deleuze und Félix Guattari das schizophrene Subjekt der spätmodernen Epoche nennen.113 Sie bezeichnen die Schizophrenie als Krankheit der 111 112

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Vgl. John McCann, Michel Houellebecq. Author of our times, a.a.O., S. 14. Die Szene erinnert an die berühmte Schachnovelle (1942) von Stefan Zweig. Der Ich-Erzähler dieser Novelle berichtet von einem Schachspiel gegen einen ehemaligen Schachweltmeister an Bord eines Passagierschiffs während der Überfahrt von New York nach Buenos Aires. Als die Partie schon hoffnungslos verloren scheint, greift ein fremder Mann in das Geschehen ein und verhilft dem Erzähler zum Sieg. Wie sich herausstellt, handelt es sich dabei um einen österreichischen Emigranten, der von der Gestapo verhaftet wurde und die Verhöre, denen er ausgesetzt war, nur deshalb überlebt hat, weil er ein Buch besaß, das eine Sammlung von 150 Meisterpartien enthält, die er während seiner Gefangenschaft auswendig gelernt hat. Allerdings erkrankt er in Folge dessen an einer Psychose und erleidet jedes Mal, wenn er ein Schachbrett berührt, einen Nervenzusammenbruch. Im Unterschied zu frühere Gesellschaftsformationen ist die »kapitalistische Maschine« Deleuze und Guattari zufolge unfähig, einen einheitlichen »Code« bereitzustellen, der das gesamte gesellschaftliche Feld umfasst. An die Stelle eines solchen Codes hat er eine »Axiomatik abstrakter Quan-

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»kapitalistischen Maschine«, denn sie entspricht deren immanenter Tendenz zur Deterritorialisierung.114 Jede Deterritorialisierung produziert das »Reale«, indem sie die bestehenden Grenzen der gesellschaftlichen Wunschproduktion auflöst und verschiebt. Entsprechend bewegt sich auch der Schizophrene ständig an der Grenze zum »Realen«, bringt alle Codes durcheinander und sorgt auf diese Weise für die freie Zirkulation der Wunschströme und Sinnzuschreibungen.115 Für den Schizophrenen existiert die Trennung zwischen Mensch und Natur, Ich und Nicht-Ich, Innen und Außen nicht mehr; er sieht überall nur Produktionsprozesse, die das eine im anderen erzeugen und aneinanderkoppeln. Man kann die Romanfiguren mit Deleuze und Guattari darum als »Maschinen« auffassen, deren Funktionsfähigkeit durch die soziale Umwelt gestört wird. Kleinere Ausbesserungsmaßnahmen und Reparaturen (»bricolage«) zögern die allmähliche Zerstörung dieser »Maschinen« zwar hinaus, können die Katastrophe, die Vorahnung eines endgültigen und schmerzhaften Desasters (»le pressentiment d’un désastre douloureux et définitif«), aber nicht aufhalten. Auch der Krankenhausaufenthalt des Ich-Erzählers in Rouen ist eine solche Reparatur. Mitten in der Nacht verspürt er einen

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titäten« in Form des Geldes gesetzt, damit die produzierten Dinge (Waren, Menschen, Zeichen und Bedeutungen) frei zirkulieren können. Auf diese Weise treibt der Kapitalismus die Auflösung des »Sozius« (d.h. des Gesellschaftskörpers) voran und überführt die gesellschaftliche »Wunschproduktion« (sprich das Begehren) in das soziale Feld eines »organlosen Körpers«, in dem es keine festen Sinnzuschreibungen gibt und die decodierten »Wunschströme« nicht länger reguliert werden. Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari, Capitalisme et Schizophrénie: L’Anti-Œdipe, Paris: Minuit, 1972, S. 41ff. »Quand on dit que la schizophrénie est notre maladie, la maladie de notre époque, on ne doit pas vouloir dire seulement que la vie moderne rend fou. Il ne s’agit pas de mode de vie, mais de procès de production. […] En fait, nous voulons dire que le capitalisme, dans son processus de production produit une formidable charge schizophrénique sur laquelle il fait porter tout le poids de sa répression, mais qui ne cesse de se reproduire comme limite du procès. Car le capitalisme ne cesse pas de contrarier, d’inhiber sa tendance en même temps qu’il s’y précipite ; il ne cesse de repousser sa limite en même temps qu’il y tend. Le capitalisme instaure ou restaure toutes sortes de territorialités résiduelles et factices, imaginaires ou symboliques, sur lesquelles il tente, tant bien que mal, de recoder, de tamponner les personnes dérivées des quantités abstraites.« Ebd., S. 42. Für die Figur des »Schizos« wählen Deleuze und Guattari das Bild des umherschweifenden Nomanden, der nirgendwo sesshaft werden kann. Offenbar verbinden sie damit die Hoffnung, dass die ihm eigentümliche Weise des Umherschweifens den »Schizo« eines Tages dazu bringn wird, sein ursprüngliches Verhältnis zur Erde wiederzufinden: »Quant au schizo, de son pas vacillant qui ne cesse de migrer, d’errer, de trébucher, il s’enfonce toujours plus loin dans la déterritorialisation, sur son propre corps sans organes à l’infini de la décomposition du socius, et peut-être est-ce sa manière à lui de retrouver la terre, la promenade du schizo. Le schizophrène se tient à la limite du capitalisme : il en est la tendance développée, le surproduit, le prolétaire et l’ange exterminateur. Il brouille tous les codes, et porte les flux décodés du désir. Le réel flue« (Ebd., S. 43). Der nomadische Mensch, der sich mit dem »Körper der Erde« versöhnt hat, soll eine positive Gegenkraft zum Kapitalismus sein und so zum Ausgangspunkt für eine »kreative[…] Neugestaltung« werden. Vgl. Winfried Kudszus, »Literatur und Schizophrenie. Forschungsperspektiven«, in: ders. (Hg.), Literatur und Schizophrenie. Theorie und Interpretation eines Grenzgebietes, Tübingen: Niemeyer, 1977, S. 1-12, hier S. 5. Wie an späterer Stelle noch zu zeigen sein wird, verwirft der Romanschluss diese Hoffnung: Die Versöhnung mit der Natur bleibt aus, da der Ich-Erzähler nicht imstande ist, der unaufhörlichen Abfolge von Sinnzuschreibungen etwas Positives abzugewinnen.

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stechenden Schmerz in der Brust: »la douleur était franchement localisée au niveau du cœur« (EDL, 73). Im Krankenhaus teilt man ihm mit, dass er unter einer Perikarditis, einer Entzündung des Herzbeutels, leidet: »Les examens terminés il s’approche de moi et m’annonce que j’ai une péricardite, et non un infarctus, comme il l’avait cru tout d’abord. Il m’apprend que les premiers symptômes sont rigoureusement identiques ; mais contrairement à l’infarctus, qui est souvent mortel, la péricardite est une maladie très bénigne, on n’en meurt jamais en aucun cas.« (EDL, 75) Man kann das sonderbare Herzleiden des Erzählers als Symptom eines allgemeinen Liebesverlustes auffassen. Die Krankheit symbolisiert demnach nicht bloß das individuelle Leiden am Zustand der Welt, sondern sie fungiert als Metapher einer weit umfassenderen sozialen Pathologie.116 Die Menschen, so die Diagnose, leiden unter den Exzessen des Individualismus und dem Verlust an sozialen, emotionalen und affektiven Bezügen. Nichtsdestotrotz gewöhnt man sich mit der Zeit an diesen Zustand, genauso wie die Patienten sich an ihr Leben im Krankenhaus gewöhnen: »On s’habitue vite à l’hôpital. Pendant toute une semaine j’ai été assez sérieusement atteint, je n’avais aucune envie de bouger ni de parler ; mais je voyais les gens autour de moi qui bavardaient, qui se racontaient leurs maladies avec cet intérêt fébrile, cette délectation qui paraît toujours un peu indécente à ceux qui sont en bonne santé ; je voyais aussi leurs familles, en visite. Eh bien dans l’ensemble personne ne se plaignait ; tous avaient l’air très satisfaits de leur sort, malgré le mode de vie peu naturel qui leur était imposé, malgré, aussi, le danger qui pesait sur eux ; car dans un service de cardiologie la plupart des patients risquent leur peau, au bout du compte.« (EDL, 77) Die Patienten machen nicht den Eindruck, als wollten sie irgendetwas an ihrem Zustand ändern. Sie scheinen durchaus zufrieden mit ihrer Situation und fügen sich problemlos in die neue Umgebung ein. Sie akzeptieren das Leiden, als würde es sich dabei um eine unabänderliche Notwendigkeit handeln. Niemand beklagt sich, obwohl ihr Zustand alles andere als »natürlich« ist (»malgré le mode de vie peu naturel qui leur était imposé«). Die Menschen befinden sich in einer paradoxen Situation: Einerseits leiden 116

Hier lassen sich Parallelen zu Balzac erkennen. Wie gezeigt wurde, bedient sich Balzac ebenfalls einer solchen Krankheitsmetaphorik, um den Mangel an Religion und den Sittenverfall der Gesellschaft zu kritisieren. Offenbar handelt es sich dabei um ein beliebtes Verfahren, um gesellschaftliche Missstände anzuprangern. Auch Wolfgang Asholt erkennt in der Erkrankung des Ich-Erzählers »tous les symptômes d’une maladie généralisée« und verweist in diesem Zusammehang auf Zola: »Cette pathologie sociale et individuelle renvoie implicitement au modèle du naturalisme zolien et à sa base ›scientifique‹ de la médecine expérimentale. Bien sûr, Houellebecq ne veut pas écrire l’histoire d’un individu (sans famille!) sous la Cinquième République de la dernière décade du XXe siècle, mais la pathologie généralisée nous montre une société non moins malade que celle décrite par Zola, un siècle et demi plus tôt.« Wolfgang Asholt, »Une littérature de risques ou les risques de la modernité?«, a.a.O., S. 22. In einem Punkt hat Asholt jedoch Unrecht: Houellebecq erzählt durchaus die Geschichte eines Individuums (ohne Familie) im Frankreich der Fünften Republik. In Les particules élémentaires wird die Lebensgeschichte der beiden Halbbrüder Bruno und Michel aufs Engste mit der französischen Sozialgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verknüpft.

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sie unter den ihnen auferlegten Strapazen, andererseits wird dieses Leiden genussvoll beklagt (»cette délectation«). Letztlich finden sie sich aber mit dieser Situation ab und ignorieren die Gefahren, die damit einhergehen (»malgré, aussi, le danger qui pesait sur eux«). Der Kapitalismus entfremdet die Menschen, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Diese Entfremdung vollzieht sich jedoch nicht ohne Gewalt. Das Partizip »imposé« impliziert die Ausübung einer unpersönlichen, anonymen Gewalt, die dennoch real ist. Dass die Patienten auf der Kardiologie buchstäblich ihre Haut riskieren, wie der Erzähler anmerkt, hat für ihr praktisches Handeln kaum Konsequenzen. Sie verzichten ohne Weiteres auf jede Form von Autonomie, so wie der Zimmernachbar des Erzählers, der sich bereitwillig in die Obhut der Ärzte und Wissenschaftler begibt: »Mais dès qu’il arrivait à l’hôpital il abdiquait toute volonté ; il déposait son corps, ravi, entre les mains de la science« (EDL, 78). Der Kapitalismus macht die Menschen nicht nur krank, sondern auch willenlos. Er produziert Subjekte, deren Existenz keinen anderen Zweck hat als die Anhäufung von Eigentum und Besitz. Mit Erstaunen stellt der Erzähler fest, dass sich sein Zimmergenosse sogar die Sprache der Ärzte angeeignet hat und jedes Mal, wenn eine Behandlung ansteht, in freudiger Erwartung von »ma pneumo« oder »ma cata veineuse« (EDL, 78) spricht. Die Beziehung zwischen dem Kranken und seiner Krankheit hat sich in ein Besitzverhältnis verwandelt. Der Kranke betrachtet seine Gebrechen als etwas, das er besitzt.117 Er passt sich den gegebenen Umständen an und macht sich die unnatürliche Situation so zu eigen. Dem Ich-Erzähler bereitet der Akt des Besitzergreifens jedoch große Schwierigkeiten. Im Krankenhaus macht er die Erfahrung, dass Körper und Geist auseinanderbrechen: »Comparativement, je me sentais un malade plutôt désagréable. J’avais en fait certaines difficultés à reprendre possession de moi-même. C’est là une expérience étrange. Voir ses jambes comme des objets séparés, loin de son esprit, auquel elles seraient reliées plus ou moins par hasard, et plutôt mal.« (EDL, 78) Das Selbst löst sich auf, weil Körper und Geist nicht mehr als Einheit wahrgenommen werden. Wenn der Erzähler sagt, dass die Patienten ihre Haut riskieren, so ist dies durchaus wörtlich zu nehmen. Denn die Haut ist eine Art Hülle, die dem Selbst eine Struktur gibt, ohne die es zerbrechen würde. John McCann weist darauf hin, dass die Haut jene Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen dem Ich und der Welt markiert, durch die zwei Menschen, etwa im Liebesakt, in Kontakt zueinander treten.118 Aber auch der umgekehrte Fall ist denkbar: Die Haut erfüllt sowohl eine verbindende als auch eine trennende Funktion. Als Sinnesorgan wirkt sie unmittelbar auf unser Empfinden ein und macht die Welt somit erfahrbar und spürbar; als Schutzhülle und Membran sorgt sie dafür, dass Fremdkörper nicht in den Organismus eindringen. Die 117

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Erich Fromm beschreibt dieses Verhalten in seinem Buch Haben oder Sein im Zusammenhang mit dem »Haben-Modus« des Privateigentums: »Leute, die über ihre Gesundheit sprechen, tun es im Gefühl des Besitzes, sie sprechen von ihren Krankheiten, ihren Operationen, ihren Behandlungen, ihrer Diät, ihren Medikamenten. Es ist eindeutig, daß Gesundheit und Krankheit als Besitz empfunden werden; und selbst mangelhafte Gesundheit zählt ebenso zum Besitzstand wie die Aktien eines Aktionärs, die einen Teil ihres Nominalwertes eingebüßt haben.« Erich Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen der Gesellschaft, Stuttgart: DTV, 1976, S. 90. John McCann, Houellebecq. Author of our Times, a.a.O., S. 27.

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Romanfiguren fühlen sich in der Regel in ihrem eigenen Körper gefangen. Tisserand bezeichnet sich selbst als Frosch unter einer Glasglocke bzw. als Hähnchenschenkel in einer Zellophan-Folie: »J’ai l’impression d’être une cuisse de poulet sous cellophane dans un rayon de supermarché« (EDL, 99). Der Erzähler pflichtet ihm bei, denn er kennt das Gefühl, von der Außenwelt abgeschnitten zu sein, ganz so als wäre er »protégé du monde par une pellicule transparente, inviolable, parfaite« (EDL, 99). Beide Figuren nehmen ihren Körper als immunisierende Grenze wahr, die sie von Anderen trennt. Eine solche immunisierende Wirkung übt auch der Liberalismus aus, da er die Menschen als isolierte Einzelwesen betrachtet und ihren Sinn für Gemeinschaft, Mitgefühl und Solidarität von innen heraus zerstört.119

4.2.8

Die erschöpfte westliche Kultur

Wie man sieht, wird das individuelle Schicksal der Romanfiguren aufs Engste mit soziokulturellen Entwicklungen verknüpft, die einen tiefgreifenden Mentalitätswandel hervorgebracht haben. Genau wie Balzac begnügt sich auch Houellebecq nicht bloß damit, die sichtbaren Effekte dieses Mentalitätswandels an der Oberfläche der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu beschreiben, sondern er fragt nach den tiefer liegenden Ursachen, die diese Entwicklung überhaupt erst ermöglicht haben. Die bürgerliche Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts, wie sie Balzac beschreibt, leidet unter dem Verlust an traditionellen Werten; sie »krankt« nicht nur am Egoismus der Menschen, an ihrem Streben nach Reichtum und ihrer Vergnügungssucht, sondern auch an einem Mangel an Religion. Auch Houellebecq beschreibt eine Gesellschaft, die unter den Exzessen des Individualismus leidet.120 Seine Romanfiguren führen eine Existenz ohne feste Bindun119

Die immunisierende Wirkung des Liberalismus wird von biopolitischen Theorien bereits seit Längerem kritisiert. Aus Sicht der Biopolitik führt der Liberalismus mit seiner Betonung des Privaten zu einer Zerstörung der Gemeinschaft. Wie Roberto Esposito betont, kann eine »Immunisierung« in bestimmten Fällen (z.B. im Kontext des Terrorismus) durchaus wünschenswert sein. Einen Körper zu immunisieren, bedeutet ihn gegen Angriffe von außen zu verteidigen. Dies ist gemeint, wenn beispielsweise von einer Stärkung des Immunsystems die Rede ist. Esposito hebt aber nicht nur die lebenserhaltende Funktion der Immunität hervor, sondern er macht zugleich deutlich, dass die Immunisierung im Extremfall zu einer Gefahr werden kann: »Immunität ist zwar zur Erhaltung unseres Lebens notwendig, doch sobald sie eine bestimmte Schwelle überschreitet, zwingt sie das Leben in eine Art Käfig, der uns letztlich nicht nur unsere Freiheit, sondern auch den Lebenssinn selbst verlieren lässt – nämlich jene Öffnung der Existenz außerhalb ihrer selbst, der man den Namen communitas gegeben hat.« Esposito hat dabei vor allem die Auswirkungen einer »negativen Biopolitik« vor Augen, etwa das Sicherheitsdilemma moderner Gesellschaften, die zum Schutz ihrer Bürger einmal gewonnene Freiheitsrechte beschneiden. Seine Überlegungen lassen sich jedoch ebenso auf die fiktive Welt des Romans übertragen. Die Figuren erleben ihre Existenz ja ebenfalls als eine Art »Käfig«, aus dem es kein Entrinnen gibt. Vgl. Roberto Esposito, »Communitas, Immunitas, Biopolitik«, in: Borsò, Vittoria (Hg.), Wissen und Leben – Wissen für das Leben. Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik, Bielefeld: transcript, 2014, S. 63-71, hier S. 65. 120 Der Nachfolgeroman Les particules élémentaires (1998) greift dieses Thema bereits in der Metapher des Romantitels wieder auf. Hinsichtlich der Gesellschaftsanalyse wird der Roman sehr viel deutlicher: Die Menschen in den westlichen Gesellschaften verbindet nichts, sie leben losgelöst von allen traditionellen Bindungen (Familie, Kirche, Nation) und führen eine Existenz als isolierte »Elementarteilchen«.

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gen und ohne tieferen Sinn; Kultur und Nation haben ihre identitätsstiftende Funktion eingebüßt und die Menschen des frühen 21. Jahrhunderts verbindet kaum noch etwas miteinander. Das gilt insbesondere für die Religion, die in traditionellen Gesellschaften lange Zeit als Bindeglied zwischen den Menschen diente.121 Der Bedeutungsverlust der Religion wird auch im Roman zur Sprache gebracht. Von Anfang an stellt der Text eine Reihe von Bezügen zur christlichen Religion her, etwa durch das einleitende Bibel-Zitat, den strafenden Gott aus der ersten Tierfabel oder die Christus-Analogie. Das Thema der Religion wird aber vor allem über die Figur des befreundeten Priesters in den Roman eingeführt. Dieser erscheint je einmal am Anfang und am Ende der Erzählung. Während eines gemeinsamen Abendessens mit dem Erzähler formuliert der Priester gleich zu Beginn seine These vom vitalen Erschöpfungsprozess der westlichen Zivilisation: »Notre civilisation, dit-il, souffre d’épuisement vital. Au siècle de Louis XIV, où l’appétit de vivre était grand, la culture officielle mettait l’accent sur la négation des plaisirs et de la chair ; rappelait avec insistance que la vie mondaine n’offre que des joies imparfaites, que la seule vraie source de félicité est en Dieu. Un tel discours, assure-t-il, ne serait plus toléré aujourd’hui. Nous avons besoin d’aventure et d’érotisme, car nous avons besoin de nous entendre répéter que la vie est merveilleuse et excitante ; et c’est bien entendu que nous en doutons un peu.« (EDL, 31-32) Der Umstand, dass diese Worte aus dem Mund eines Geistlichen kommen, verleihen der These vom Niedergang der westlichen Kultur besondere Relevanz. Denn als Priester kommt ihm gewissermaßen schon von Amtes wegen die Aufgabe zu, über das Seelenheil der Menschen zu wachen und den allgemeinen Sittenverfall zu beklagen. Dieselbe Beglaubigungsstrategie verwendet auch Balzac, indem er die Kultur- und Gesellschaftskritik, die seinen Romanen zugrunde liegt, an eine Stellvertreterfigur delegiert, die innerhalb eines bestimmten Spezialdiskurses über besondere Glaubwürdigkeit verfügt. Während Balzac dafür die Figur des Wissenschaftlers und Mediziners Bianchon wählt, überträgt Houellebecq diese Aufgabe einem katholischen Priester. Für Jean-Pierre Buvet, so der Name dieses Priesters, steht außer Frage, dass die Erneuerung der westlichen Kultur nur über den Glauben erfolgen kann.122 Die Antwort auf den zerstörerischen In121

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Für den französischen Soziologen Émile Durkheim besteht die Funktion der Religion in ihrer sozialen Integrationsleistung. Ihm zufolge werden Menschen durch religiöse Überzeugungen und Riten zu einer moralischen Solidargemeinschaft verbunden. In Les formes élémentaires de la vie religieuse (1912) definiert Durkheim die Religion darum als »un système solidaire de croyance et de pratiques relatives à des choses sacrées […] et qui unissent en une même communauté morale, appelée Éligse, tous ceux qui y adhèrent.« Émile Durkheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse, 5. Aufl., Paris: PUF, 2003, S. 65. In Soumission (2015) wird diese Möglichkeit einer religiösen Erneuerung in der Figur des fiktiven muslimischen Präsidenten Mohammed Ben Abbes weitergedacht. Der Islam bildet darin den Ausgangspunkt für eine Erneuerung der europäischen Kultur. Ben Abbes hat eine politische Vision für Frankreich und Europa: Er möchte die europäischen Staaten mit den nordafrikanischen Mittelmeerländern zusammenbringen und eine Europäische Union begründen, die so zu alter Größe zurückfinden soll. Was das Christentum für das Römische Imperium unter Kaiser Augustus war, soll der Islam für eine Allianz aus südeuropäischen und nordafrikanischen Mittelmeerländern sein. Ob der politische Islam tatsächlich in der Lage ist, die Nachfolge des Christentums anzutreten, wird in einem späteren Kapitel dieser Arbeit noch ausführlicher zu diskutieren sein.

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dividualismus kann ihm zufolge nur in der Rückbesinnung auf Jesus Christus beruhen: »D’après lui, Jésus est la solution ; la source de vie. D’une vie riche et vivante« (EDL, 32). Der Erzähler hat diesen Überlegungen nichts zu entgegnen; er bezieht die Kritik seines Freundes unmittelbar auf seine eigene Person: »J’ai l’impression qu’il me considère comme un symbole pertinent de cet épuisement vital. Pas de sexualité, pas d’ambition ; pas vraiment de distraction, non plus. Je ne sais que lui répondre ; j’ai l’impression que tout le monde est un peu comme ça« (EDL, 32). Anders als bei Balzac wird diese kulturpessimistische Zeitdiagnose in Houellebecqs Roman durch eine gewisse Komik abgeschwächt. Als sich die beiden Freunde am Ende der Erzählung abermals begegnen, befindet sich der Priester in einer schweren Krise. Er ist dem Alkohol verfallen, wie sein Name im Übrigen schon erahnen lässt, und hat eine Affäre mit einer Frau begonnen. Bereits die in der Kapitalüberschrift (»La confession de Jean-Pierre Buvet«) angedeutete Bekenntnissituation rückt die nachfolgende Szene in ein ironisches Licht, wird damit doch zugleich auf die Confessions von Jean-Jacques Rousseau angespielt. Während des Gesprächs der beiden Freunde läuft im Hintergrund ein Fernseher, auf dem eine unbekleidete Tänzerin zu sehen ist, die von Pythonschlangen und Anakondas umringt wird (EDL, 138). In Anbetracht der Tatsache, dass der katholische Priester den Verführungen des weiblichen Geschlechts nicht widerstehen konnte, wirkt diese Anspielung auf das Motiv des biblischen Sündenfalls einigermaßen komisch. Nichtsdestotrotz transportiert auch sie eine versteckte Kritik, denn in der modernen Gesellschaft wird der Einzelne fortwährend durch die sexualisierten Bilder der Werbung medial verführt.123 Gegen die Allgegenwart des Sex ist auch die Religion machtlos, denn sie kann das Begehren nicht mehr kanalisieren. In Houellebecqs Debütroman hat die Religion ihr einstiges Erlösungspotenzial längst verloren. Die Romanfiguren verharren, wie Sandra Berger treffend schreibt, »im Dilemma einer gänzlich auf sich selbst zurückgeworfenen Existenz ohne Möglichkeit zur Transzendenz und ohne die Fähigkeit, ihr Dasein zum Positiven hin zu wenden.«124 Allerdings gehen die Romanfiguren unterschiedlich damit um: Die unglückliche Catherine Lechardoy entscheidet sich für den Weg der Anpassung und des Kampfes, während ihr Leidensgenosse Raphaël Tisserand den radikalen Weg des Freitods wählt. Der Ich-Erzähler wiederum unternimmt den Versuch einer ästhetischen Auflehnung gegen die bürgerliche Gesellschaft, womit er zugleich den Weg der historischen Avantgarden aus dem frühen 20. Jahrhundert einschlägt. Exemplarisch dafür steht eine Traumsequenz gegen Ende des Romans. Nach dem Besuch bei seinem Freund, dem Priester, fällt der Erzähler in einen tiefen Schlaf. Im 123

In seinem Aufsatz »Approches du désarroi« geht der Autor auf die Rolle der Werbung ein. Diese funktioniere wie ein gewaltiges »Über-Ich«, das bei den Menschen unentwegt Bedürfnisse erzeuge und ihre Existenz damit in ein rastloses Streben nach Ersatzbefriedigungen verwandle: »Bien qu’elle [la publicité] vise à susciter, à provoquer, à être le désir, ses méthodes sont au fond assez proches de celles qui caractérisaient l’ancienne morale. Elle met en effet en place un Surmoi terrifiant et dur, beaucoup plus impitoyable qu’aucun impératif ayant jamais existé, qui se colle à la peau de l’individu et lui répète sans cesse: ›Tu dois désirer. Tu dois être désirable. Tu dois participer à la compétition, à la lutte, à la vie du monde. Si tu t’arrêtes, tu n’existes plus. Si tu restes en arrière, tu es mort.‹« (INT, 76) 124 Sandra Berger, Moralistisches Spiel – spielerische Moralistik, a.a.O., S. 70.

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Traum, dem zweiten nach der Eingangsszene, hat er eine »vision mystique« (EDL, 141). Er schwebt über der Kathedrale von Chartres, die ein letztes Geheimnis, ein »secret ultime« (EDL, 141), zu bewahren scheint. Vor dem Eingangsportal tummeln sich alte, kranke und gebrechliche Menschen. Der Erzähler, ausgestattet mit Flügeln, umkreist die Kathedrale, deren Türme mit bunt bemalten Figuren verziert sind »où éclatent les horreurs de la vie organique« (EDL, 142). Er hat die Orientierung verloren und droht abzustürzen, doch auf einmal wechselt die Umgebung und er befindet sich inmitten einer verschneiten Landschaft wieder. Der Wind weht einen Zeitungsartikel aus der Zeit der Jahrhundertwende heran: »Suis-je reporter ou journaliste ? Il semblerait, car le style des articles m’est familier. Ils sont écrits sur ce ton de complainte cruelle cher aux anarchistes et aux surréalistes« (EDL, 142). In gewisser Weise erinnert der Stil seiner Tierfabeln tatsächlich an die anarchistischen Pamphlete der Surrealisten mit ihrem sozialrevolutionären Impetus, ihren gewagten Bildassoziationen und kühnen Gedankensprüngen. Allerdings gelangt der Erzähler am Ende seines Traumes zu der Einsicht, dass der surrealistische Akt der Revolte, die Auflehnung gegen bürgerlicheTraditionen und Wertvorstellungen die Welt keineswegs besser gemacht habe. Die libertären Ideale der frühen Avantgarden, so scheint der Roman nahezulegen, haben nicht zur erhofften Transformation der Wirklichkeit geführt.125 Hatten die Surrealisten geglaubt, dass es die Welt notfalls mit Gewalt zu revolutionieren gelte, so muss der Ich-Erzähler einsehen, dass dieses Ziel verfehlt wurde.126 Im Traum nimmt die Gewalt schier unermessliche Dimensionen an. Der Erzähler sieht sich plötzlich am Tatort eines grausamen Verbrechens wieder. Folterwerkzeuge – Sägen, Bohrer, Meißel und Scheren – bedecken den Boden: »Et tout cela est magique, aventureux, libertaire« (EDL, 142). Das Scheitern des avantgardistischen Projektes, das in der Traumsequenz nacherzählt wird, verweist auf das Scheitern aller künstlerischen und sozialreformerischen Bemühungen, eine Alternative zum Kapitalismus zu entwerfen. Politische Aktionen (Streiks, Proteste) und ästhetische Programme (Manifeste), die auf eine Veränderung der Wirklichkeit abzielen, laufen ins Leere, denn sie ändern an der »Natur« des Menschen nichts.127 Hinzu kommt, dass es für die Romanfiguren keinen Ausweg aus dem

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In der Forschung wurde oftmals darauf verwiesen, dass die historischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts ihren proklamierten Anspruch nicht erfüllen konnten. Nach Ansicht von Peter Bürger muss das avantgardistische Projekt einer »Überführung der Kunst in Lebenspraxis« als gescheitert betrachtet werden, da es den Avantgarden nicht gelungen sei, sich der Vereinnahmung durch die Institution ›Kunst‹ zu entziehen. Vgl. Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974, S. 72. Im Zweiten Manifest des Surrealismus verknüpft André Breton das Aufbegehren der Avantgarden gegen die Tradition und gegen die bürgerlichen Wertvorstellungen explizit mit der Gewalt, indem er den willkürlichen Gewaltakt als einfachsten »surrealistischen Akt« bezeichnet: »L’acte surréaliste le plus simple consiste, revolvers aux poings, à descendre dans la rue et à tirer au hasard, tant qu’on peut, dans la foule. Qui n’a pas eu, au moins une fois, envie d’en finir de la sorte avec le petit système d’avilissement et de crétinisation en vigueur à sa place toute marquée dans cette foule, ventre à hateur de canon.« André Breton, »Second Manifeste du Surréalisme« (1930), in: ders., Manifestes du surréalisme, Paris: Gallimard, 1973, S. 78. In den Nachfolgeromanen, insbesondere in Les particules élémentaires (1998) und La possibilité d’une île (2005), werden Houellebecqs »posthumane« Erzähler versuchen, die menschliche »Natur« auf

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Dilemma einer auf sich selbst zurückgeworfenen Existenz gibt: Weder können sie Beistand von göttlicher Seite erwarten noch sind sie imstande, irgendetwas am Zustand der modernen Welt zu ändern.128 Der Debütroman zeigt aber dennoch eine Möglichkeit auf, wie es gelingen kann, mit der als unzureichend wahrgenommenen Wirklichkeit zurecht zu kommen. Houellebecq folgt diesbezüglich den Empfehlungen seines Lehrmeisters Schopenhauer. Um die Ursachen für das viele Leid aus der Welt zu schaffen, bedarf es laut Schopenhauer einer veränderten Einstellung zum Leben. Diese Einstellung sieht er in der Lebensweise des Asketen und Heiligen verwirklicht, denn der Asket ist sich bewusst, dass das anzustrebende Ziel allen Daseins nur in der »vorsätzliche[n] Brechung des Willens«129 bestehen kann. Die Rolle des Heiligen kommt im Roman Tisserand zu. Sein Freitod ist die ultimative Auflehnung gegen die Welt und eine radikale Form der Willensverneinung, die Schopenhauer im Übrigen abgelehnt hätte.130 Der Roman verurteilt ihn deswegen aber nicht. Seine imitatio Christi rückt ihn vielmehr in die Nähe jener frühchristlichen Mystiker, die, wie Schopenhauer schreibt, »aus wirklicher, innerer Erfahrung reden«; allerdings wird eine solche Erfahrung nicht Jedem zuteil, weshalb Schopenhauer sie als ein Werk der Gnade bzw. als eine »Gnadenwirkung«131 beschreibt. Houellebecq übernimmt den zentralen Gedanken dieser Erlösungslehre: Wem es gelingt, den alles beherrschenden »Willen zum Leben« zu verneinen, der gelangt zu innerer Ruhe und Frieden.132 Die Verneinung des Willens soll dazu führen, dass der Mensch sich selbst im Anderen wiedererkennt und Mitleid mit dem Schicksal seiner Mitmenschen empfindet.

andere Weise zu verändern, nämlich durch den Einsatz von Gentechnik und Biotechnologie. Ob dieser Versuch tatsächlich Ernst zu nehmen ist, wird Gegenstand des folgenden Kapitels sein. 128 Camus lehnt den metaphysischen »Sprung« in den Glauben ab, damit der Mensch sich selbst zum Herren über sein Schicksal erhebt. Im Gegensatz dazu verwirft Houellebecq die Vorstellung, der Mensch könne sein Schicksal aus eigenen Kräften zum Positiven hin gestalten. Douglas Morrey fasst diesen Umstand wie folgt zusammen: »The consequence of Houellebecq’s (narrators‘) depressive lucidity, in other words, is a chronic inability to act. […] And the political consequences of Houellebecq’s writing must therefore stem from this ›exhausted, depressing premise that there is in fact no alternative‹.« Douglas Morrey, Michel Houellebecq, a.a.O., S. 45. 129 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, a.a.O., S. 504 (W I/4, § 68). 130 Vgl. hierzu etwa Dieter Birnbacher, »Schopenhauer und das ethische Problem des Selbstmords«, in: Schopenhauer-Jahrbuch 66, 1985, S. 115-130. 131 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, a.a.O., S. 519 (W I/4, § 70) und 703 (W II, Kap. 48). 132 Als Vorbild dienen Schopenhauer neben den christlichen Mystikern vor allem die indischen Religionen. Die von ihm empfohlene Willensverneinung weist etliche Übereinstimmungen mit der buddhistischen Philosophie auf. Vgl. hierzu Urs App, »Schopenhauers Begegnung mit dem Buddhismus«, in: Schopenhauer-Jahrbuch 79, 1998, S. 35-58. Houellebecqs Debütroman enthält eine Reihe von Anspielungen auf Texte des Buddhismus. So ist dem fünften Kapitel des zweiten Teils ein Vers aus dem Dhammapada vorangestellt, einer Anthologie von 423 Sprüchen des Buddha, die als Verhaltensratschläge für ein glückliches und zufriedenes Leben gedacht sind. Ein Zitat aus dem Satipatthana Sutta, einer Lehrrede Buddhas über die Grundlagen der Achtsamkeit, taucht als Motto des vorletzten Kapitels auf. Und der Erzähler der dritten Tierfabel gebraucht eine Sanskrit-Formel aus den Upanischaden, einer von Schopenhauer heiß verehrten Sammlung philosophischer Schriften des Hinduismus.

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Dies besagt die Sanskrit-Formel »tat twam asi«, die im Kontext der zweiten Tierfabel erwähnt wird und die das leitende Prinzip von Schopenhauers Mitleidsethik darstellt.133 Schopenhauer sieht im Mitleid die eigentliche moralische Triebfeder des Menschen, weil sich auf diese Weise der Egoismus überwinden lasse. Zwar kann das Mitleid nicht verordnet oder absichtlich herbeigeführt werden, da es auf einer »unmittelbaren und intuitiven Erkenntniß der metaphysischen Identität aller Wesen«134 beruht, aber es kann vermittelt werden und dabei spielt die Literatur eine wichtige Rolle. Denn im Idealfall kann sie Verständnis und Mitgefühl erzeugen und so eine Bewusstseinsänderung im erkennenden Subjekt, d.h. im Leser und der Leserin, bewirken.135

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Die Karte als poetologische Metapher

Die Literatur bietet aber noch einen zweiten Nutzen: Zwar hat das Scheitern des avantgardistschen Projekts uns gezeigt, dass Kunst und Literatur die Wirklichkeit nicht transformieren können; daraus folgt aber nicht, dass sie vollkommen sinnlos wären. Selbst wenn es nicht gelingt, etwas am gegenwärtigen Zustand der modernen Welt zu

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Das tat twam asi, das sich in etwa mit »Das bist du« übersetzen lässt, meint kein emphatisches Mitfühlen, sondern ist als »Mit-Leiden« im buchstäblichen Sinne des Wortes zu verstehen. Wer mit dem Unglück anderer mitleidet, erkennt im Gegenüber sein eigenes Wesen und setzt damit das alles bestimmende Prinzip der Individuation außer Kraft. Er versteht, dass alle Individuen ein- und demselben »Willen zum Leben« unterworfen sind und diese Einsicht ermöglicht es ihm, den Egoismus zu überwinden. Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, a.a.O., S. 460, 483 und 698 (W I/4, § 63 und § 66 sowie W II, Kapitel 47). Ebd., S. 699 (W II, Kapitel 47). Im Roman wird die Bedeutung des Mitleids vor allem ex negativo aufgezeigt. Schon der Erzähler der ersten Tierfabel stellt fest, dass der Gott dieser Fabel kein »Dieu de miséricorde« (EDL, 11) sei. Immer wieder wird im Verlauf der Handlung illustriert, dass es dem modernen Menschen an Mitleid fehle. Dies illustrieren beispielsweise die Berichte über den plötzlichen Tod eines SupermarktKunden (EDL, 67) und die verbotenen Sterbehilfepraktiken in einem Krankenhaus (EDL, 139). Damit soll vor allem Eines gezeigt werden: Dadurch, dass der Kapitalismus den Wert des Lebens allein an seiner ökonomischen Verwertbarkeit bemisst, zerstört er alle zwischenmenschlichen Gefühle. Darin ähnelt er der Psychoanalyse mit ihrer »scandaleuse déstruction« (EDL, 103) des Selbst, wie der Erzähler an einer anderen Stelle des Romans bemerkt und wie die zynische Reaktion seiner Freundin auf die Nachricht vom Suizid eines Kollegen zeigt. Auch der Erzähler selbst macht die Erfahrung, in einer Welt ohne Mitgefühl und Empathie zu leben. Auf dem Weg zum Krankenhaus stoppt er an einer Kreuzung ein Autor, doch der Fahrer ignoriert ihn, obwohl sich der Erzähler in einem miserablen Zustand befindet: »Je les regarde, j’implore muettement leur pitié, en même temps je me demande s’ils se rendent bien compte de ce qu’ils sont en train de faire. Et puis feu vert, le type redémarre« (EDL, 74-75). Vereinzelt wird das Mitleid im Roman aber auch positiv formuliert. Beim Gedanken an das Unglück jener, die von der sexuellen Befreiung ausgeschlossen sind, wird der Erzähler der zweiten Tierfabel von einer »compassion douloureuse« (EDL, 46) ergriffen. Eine sarkastische Bemerkung über eine frühere Klassenkameradin entschuldigt er umgehend mit den Worten: »J’implore son pardon au nom de l’humanité entière« (EDL, 91). Und der namenlose Ich-Erzähler verspricht in einer Leserapostrophe zu Beginn des Romans, er werde dem Leser bei allem Weiteren zur Seite stehen: »Je suis là. Je ne vous laisserai pas tomber. Continuez votre lecture« (EDL, 14). In einer Welt, die ihre Fähigkeit zur Anteilnahme eingebüßt hat, kann zumindest die Lektüre noch eine Verbindung stiften.

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ändern, so kann die Literatur doch zumindest dazu beitragen, ihre Beschaffenheit zu entziffern: »L’écriture ne soulage guère. Elle retrace, elle délimite. Elle introduit un soupçon de cohérence, l’idée d’un réalisme. On patauge toujours dans un brouillard sanglant, mais il y a quelques repères. Le chaos n’est plus qu’à quelques mètres. Faible succès, en vérité.« (EDL, 14) Mit der Metapher vom »blutigen Nebel« spielt der Roman auf den tödlichen Unfall von Raphaël Tisserand während einer nebligen Nacht an. Zwar bleiben die genauen Umstände seines Todes im Dunkeln; aber der Text selbst gibt Anhaltspunkte (»repères«), um das Ereignis zu erklären, auch wenn diese Erklärung unter Verdacht (»soupçon«) steht, ein falsches oder ungenaues Bild von der Wirklichkeit abzugeben.136 Es handelt sich darüber hinaus um eine poetologische Metapher, die auf den Umstand verweist, dass wir niemals mit absoluter Sicherheit wissen können, was die Realität ist. Wir nehmen die Ereignisse nur verschwommen wahr, da die Wirklichkeit hinter einem dichten Nebelschleier liegt. Der Nebel verdeckt die Landschaft und macht es dadurch unmöglich, die Realität der Dinge »an sich« zu schauen. Dennoch existiert eine Wirklichkeit, auch wenn wir keinen unmittelbaren Zugriff darauf haben. Erfassen lässt sich die Wirklichkeit nämlich nur, indem wir sie in Worte fassen. Das Schreiben (»l’écriture«) kann eine Andeutung von Kohärenz, eine »Idee« von Realismus geben. Am eigentlichen Zustand der Welt ändert es aber nichts. Wenn das Schreiben keine Linderung verspricht, so ist dies zugleich als Absage an den Nouveau roman und seine Nachfolger zu verstehen. Dem selbstbezüglichen Spiel der Sprache (im Sinne der écriture) wird eine Literaturauffassung gegenübergestellt, die sich am Akt des Lesens ausrichtet: »Quel contraste avec le pouvoir absolu, miraculeux, de la lecture ! Une vie entière à lire aurait comblé mes vœux ; je le savais déjà à sept ans. La texture du monde est douloureuse, inadéquate ; elle ne me paraît pas modifiable. Vraiment, je crois qu’une vie entière à lire m’aurait mieux convenu.« (EDL, 14-15) Indem der Debütroman solchermaßen die Bedeutung der Lektüre hervorhebt, verwirft er gleichzeitig jede Form von politisch engagierter Literatur (im Sinne Sartres). Der Schriftsteller verfügt nicht (oder nur selten) über die Macht, die Wirklichkeit zu ändern. Alles, was er tun kann, ist etwas Ordnung in das bestehende Chaos zu bringen, um die »Textur« der Welt lesbar zu machen.137 Anders als in der realen Welt, wo die 136

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Mit dieser Anspielung auf den Titel von Nathalie Sarrautes Buch L’Ère du soupçon gibt der Autor zu verstehen, dass der ›Realismus‹ nach den künstlerischen Avantgarden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer problematischen Kategorie geworden ist. Laut Sarraute haben Autor und Leser im 20. Jahrhundert gleichermaßen den Glauben an die traditionellen Erzähltechniken des Romans verloren. Daher müsse der Schriftsteller heute auf Ausdrucksmöglichkeiten zurückgreifen, die mit der ›realistischen‹ Illusionsbildung brechen. Vgl. Nathalie Sarraute, L’Ère du soupçon, a.a.O., S. 57-79. Wie man an dieser Stelle sieht, steht Houellebecq den Prämissen der poststrukturalistischen Literaturkritik skeptisch gegenüber.Für Roland Barthes kann die moderne Literatur nur eine schreibbare Literatur sein, während der ›Realismus‹ des 19. Jahrhunderts in seinen Augen eine lesbare Literatur ist. Hinter dem Schreibbaren (le scriptible) verbirgt sich laut Barthes die gesamte Potenzialität des-

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Dinge an und für sich keine Bedeutung haben (sie »sind« schlicht und ergreifend »da«, wie Robbe-Grillet meint), ist in einem Text alles bedeutungsvoll. Sprachliche Zeichen (Wörter und Sätze) haben jedoch nicht nur eine Bedeutung (d.h. einen Wahrheitswert), sondern auch einen »Sinn« (den darin ausgedrückten Gedanken), der durch den jeweiligen Kontext bestimmt wird.138 Beim Lesen erhalten die Dinge eine Bedeutung und einen Sinn, den sie ansonsten nicht besitzen. Darin liegt die »wunderbare Macht« der Lektüre. Dieser Sinn ist jedoch äußerst prekär und läuft Gefahr, durch den Text selbst ambiguisiert zu werden. Denn der Roman verweigert einen abschließenden »Text-Sinn«, indem er unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten offeriert. Einige Wochen nach seiner Reise hinterlässt der Ich-Erzähler zwei Notizen auf dem Schreibtisch, bevor er das Büro verlässt: in der ersten Notiz rechtfertigt er sein Gehen mit einem Streik der Eisenbahn-Gewerkschaft, in der zweiten entschuldigt er sich damit, dass er krank sei (EDL, 129). Tatsächlich lässt er sich später in die Psychiatrie einweisen, wo er längere Gespräche mit einer Psychologin führt, die ihm vorwirft, er spreche in zu allgemeinen soziologischen Begriffen (EDL, 145). Der Erzähler vertritt die These, dass die Krankheiten seiner Mitpatienten vor allem soziale Ursachen hätten. Er behauptet sogar, dass viele der Patienten gar nicht verrückt seien, sondern bloß unter einem Mangel an Liebe litten. Die Psychologin teilt diese Ansicht nicht; ihr zufolge sind die Ursachen der Erkrankung psychischer Natur. Es konkurrieren also zwei verschiedene Erklärungsmodelle, zwei »Grammatiken« (EDL, 147), die jede für sich den Anspruch erhebt, die Wirklichkeit besser erklären zu können. Der Roman selbst verzichtet darauf, sich auf eine der Optionen festzulegen. Für das soziale Erklärungsmodell spricht vor allem die gescheiterte Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler und seiner Ex-Freundin. Die beiden gehören einer »génération sacrifiée« (EDL, 114) an, die zu großen Gefühlen nicht mehr imstande ist. Denn die Liebe »comme innocence et comme capacité d’illusions, comme aptitude à résumer l’ensemble de l’autre sexe à un seul être aimé« (EDL, 114) kann nur dort entstehen, wo die sozialen Verhältnisse eine Kultur hervorbringen, die die Genese echter Gefühle ermöglicht. Dass dies heute längst nicht mehr der Fall ist, daran lässt der Roman kaum Zweifel: »Phénomène rare, artificiel et tardif, l’amour ne peut s’épanouir que dans des conditions mentales spéciales, rarement réunies, en tous points opposées à la liberté de mœurs qui

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sen, was heute noch geschrieben (und das heißt: neu geschrieben) werden kann. Das Lesbare (le lisible) ist für ihn dagegen ein negativer, reaktionärer Wert, der auf der Wiederholung dessen beruht, was immer schon gesagt (déjà dit) oder geschrieben (déja écrit) wurde. Ein lesbarer Text macht aus dem Rezipienten einen bloßen Konsumenten des Textes, da ihm lediglich die Wahl bleibt, den vorgegegbenen Textsinn als Ganzen anzunehmen oder zu verwerfen. Ein schreibbarer Text macht den Leser dagegen zum eigentlichen Textproduzenten, da er sich beim Aufspüren eines Textsinns von einem Ende des Textes zum anderen hin- und herbewegen muss, ohne dabei jemals an ein Ende zu gelangen. Nur auf diese Weise könne der Leser vom »Zauber der Signifikanten« mitgerissen werden und ganz in die »Wollust des Schreibens« eintauchen. Vgl. Roland Barthes, S/Z, a.a.O., S. 10ff. Obwohl Houellebecq dem Literaturkritiker kritisch gegenübersteht, gibt er ihm dennoch in einem Punk Recht: Genau wie Barthes betont er die aktive Rolle des Lesers, ohne den sich ein endgültiger Textsinn niemals einstellen kann. Vgl. Gottlob Frege, »Über Sinn und Bedeutung«, in: ders., Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, hg. und eingeleitet von Günther Patzig, Göttingen: V & R, 1962, S. 38-63.

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caractérise l’époque moderne« (EDL, 114). Während seines Aufenthaltes in der Psychiatrie gelangt der Erzähler später zu der Überzeugung, dass er auf die Welt gekommen sei, um einen vorgefertigten Plan zu erfüllen »un peu comme, dans les Évangiles, le Christ accomplit ce qu’avaient annoncé les prophètes« (EDL, 150). Er tritt nun offiziell die Nachfolge von Tisserand, dem Propheten der Liebe, an. Er verlässt die Klinik an einem Frühlingstag. Es ist der 26. Mai, der Tag seiner Zeugung, deren Ablauf wir unmittelbar miterleben dürfen: »Le coït avait pris place dans le salon, sur un tapis pseudo-pakistanais. Au moment où mon père prenait ma mère par-derrière elle avait eu l’idée malencontreuse de tendre la main pour lui caresser les testicules, si bien que l’éjaculation s’était produite. Elle avait éprouvé du plaisir, mais pas de véritable orgasme. Peu après, ils avaient mangé du poulet froid. Il y avait de cela trente-deux ans, maintenant ; à l’époque, on trouvait encore de vrais poulets.« (EDL, 150-151) Natürlich ist es vollkommen unmöglich, dass der Erzähler den Moment seiner eigenen Zeugung miterlebt hat. Wenn er ihn dennoch schildert, dann deshalb, weil hier die Wurzel allen Übels liegt. Die Zeugung selbst ist alles andere als romantisch: Sie findet auf einem billigen pakistanischen Teppich ohne echten Orgasmus statt und wird mit kaltem Hühnchen gefeiert. Die Komik soll den Leser dafür sensibilisieren, dass hier ein ernstes Problem verhandelt wird. Schuld am Leiden des Protagonisten sind die Eltern, so die naheliegende Erklärung, denn sie haben den Sohn ohne Liebe gezeugt.139 Der Roman liefert neben der sozialen also noch eine zweite, psychoanalytische Erklärung für das Leiden des Protagonisten.140 Die beiden Erklärungen stehen in einem ambivalenten Spannungsverhältnis zueinander: Sie konkurrieren miteinander, ohne dass klar ist, welche von ihnen das letzte Wort hat. Nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie begibt sich der Erzähler auf eine Reise in die Ardèche. Diese Reise wird für ihn zu einer Suche nach den Ursprüngen der eigenen Identität. Einem Psychologen gegenüber erklärt er, dass seine Eltern aus diesem Teil Frankreichs stammen. Er beschließt nach Saint-Cirgues-en-Montagne zu fahren, da ihm dieser Ort auf einer Michelin-Karte wegen seiner isolierten Lage besonders interessant erscheint: »Le nom s’étalait, dans un isolement splendide, au milieu des forêts et des petits triangles figurant les sommets ; il n’y avait pas la moindre agglomération à trente kilomètres à la ronde« (EDL, 129). Die Karte ist eine Metapher für die Erkenntnis-

Der Nachfolgeroman Les particules élémentaires greift dieses Thema wieder auf. Schuld an der Liebesunfähigkeit der beiden Protagonisten sind die Eltern und insbesondere die Mutter von Michel und Bruno. Sie verlässt ihre Söhne, um sich in einer Hippie-Kommune selbst zu verwirklichen. Aus Sicht des Romans hat die hedonistische Selbstkultur der 68er-Generation die moralischen Grundlagen der Liebe zerstört. Diese Kritik wird bereits im Debütroman angedeutet. Bezeichnenderweise verlässt der Ich-Erzähler die psychiatrische Klinik an einem Tag im Mai, womit zumindest indirekt auf die Ereignisse vom »Mai 1968« Bezug genommen wird. 140 Eine psychoanalytische Lektüre des Romans unternimmt Sabine van Wesemael, »La peur de l’émasculation«, in: Clément, Murielle Lucie/van Wesemael, Sabine (Hg.), Michel Houellebecq sous la loupe, Amsterdam/New York: Rodopi, 2007, S. 169-183. 139

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leistung der Literatur im Allgemeinen und des Romans im Speziellen.141 Die Funktion einer Karte besteht darin, die räumliche Struktur eines Territoriums abzubilden. Dazu muss sie die Komplexität des natürlichen Raumes reduzieren, etwa indem sie die Orte, Straßen, Flüsse, Wälder oder Wiesen durch Symbole ersetzt. Auch der Roman muss »simplifizieren« (EDL, 16), wie es in einer frühen metapoetischen Passage heißt, sofern er bestimmte Muster und Strukturen aufzeigen möchte. Die Karte ist – neben dem Motiv des Nebels – somit die zweite poetologische Metapher des Romans. Wenn der Nebel das ist, was uns die Sicht auf die Realität versperrt, dann ist die Karte umgekehrt ein Werkzeug, mit dessen Hilfe wir uns im Nebel orientieren können. Mit anderen Worten: Die Literatur ist eine Karte, die die »Textur« der Wirklichkeit »lesbar« macht, indem sie die komplexen Verbindungen zwischen den Punkten (d.h. den Ereignissen) und den sie hervorbringenden »Fluchtlinien« (den geschichtlichen Bewegungen) veranschaulicht.142 Der Ich-Erzähler gelangt mit Hilfe seiner Michelin-Karte am Ende zu einer essentiellen Entdeckung. Als er die Lage des Ortes auf der Karte studiert, hat er das Gefühl, dass ihn dort eine finale Offenbarung, »une révélation d’un ordre ultime« (EDL, 129), erwartet. Nach seiner Ankunft am Bahnhof leiht er sich ein Fahrrad und fährt hinaus in die Natur. Doch schon nach wenigen Kilometern wird ihm die »Absurdität« (EDL, 153) seines Vorhabens bewusst. Die Straße führt einen steilen Berg hinauf und macht die Fahrt somit zu einer einzigen Tortur. Wie Sisyphos kämpft er sich auf den Gipfel und erleidet dabei Qualen, die gleichwohl ein wenig »abstrakt« (EDL, 153) bleiben. Er hat längst aufgehört, seinen Handlungen einen tieferen Sinn beizumessen: »Mais il y a déjà longtemps que le sens de mes actes a cessé de m’apparaître clairement« (EDL, 152153). Am nächsten Morgen setzt er seine Reise fort. Die Fahrt nimmt nunmehr einen »heroischen« (EDL, 155) Charakter an. Sie führt ihn durch einen herrlichen Wald und

In den späteren Romanen, allen voran in La carte et le territoire, taucht die Metapher der Karte wieder auf. Jed Martin, der Protagonist des Romans, feiert seinen Durchbruch als Künstler mit Fotografien von Michelin-Karten, die er Satellitenbilden desselben Territoriums gegenüberstellt. Auf diese Weise möchte er die Überlegenheit der Karte gegenüber der fotografischen Abbildung dokumentieren. Auf die poetologischen Implikationen dieser-Metapher wird in einem späteren Kapitel noch ausführlicher einzugehen sein. 142 An dieser Stelle ergeben sich Berührungspunkte zur »Geophilosophie« von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Dabei handelt es sich um eine philosophische Methode, mit deren Hilfe die Beziehung zwischen Ereignissen und den sie hervorbringenden Bewegungen der Geschichte illustriert werden soll. Ein Ereignis konstituiert sich durch Überschneidungen mehrerer »Fluchtlinien«. Damit sind Bewegungen gemeint, die in die Geschichte zurückfallen, aber nicht aus ihr hervorgehen. Entscheidend ist dabei, dass sich ein Ereignis (wie z.B. die Entstehung des Kapitalismus oder der »Mai 1968«) niemals bloß auf einen einzelnen Punkt in der Geschichte zurückführen lässt. Solange die Bewegungen, die ein Ereignis hervorbringen, noch nicht abgeschlossen sind, lässt sich der Ursprung dieses Ereignisses nicht rekonstruieren. Das Ereignis hat keine Konsistenz, es verdichtet sich erst dann, wenn sich mehrere solcher Fluchtlinien überschneiden. Es geht Deleuze und Guattari mit dieser philosophischen Methode darum, die Fixierung auf einen metaphysischen Ursprung durch ein Denken in Kategorien von Bewegung und Werden zu ersetzen. Ihnen zufolge verfügt jedes historische Ereignis über eine eigene Kartografie, mit deren Hilfe sich die entsprechenden Werdensprozesse analysieren lassen. Vgl. hierzu das Kapitel »Géophilosophie«, in Gilles Deleuze/Félix Guattari, Qu’est-ce que la philosophie?, Paris: Minuit, 1991, S. 82-108, insb. S. 105ff. 141

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über saftige grüne Wiesen, auf denen Osterglocken blühen. Alle Voraussetzungen einer harmonischen Verschmelzung mit der Natur scheinen gegeben: »On est bien, on est heureux ; il n’y a pas d’hommes. Quelques choses paraît possible, ici. On a l’impression d’être à un point de départ« (EDL, 155). Doch dann wird ihm bewusst, dass die Schönheit der Natur sein Leiden nur verstärkt. Eine gewaltige »mentale Ohrfeige« (EDL, 155) reißt ihn jäh aus der friedlichen Kontemplation der Natur. Das Romanende liest sich wie eine Kontrafaktur des Romanschlusses von L’Étranger. In der Nacht vor seiner Hinrichtung befindet sich Meursault in einem Zustand absoluter Glückseligkeit. Kurz zuvor hatte er einen heftigen Streit mit einem Priester, der ihn von der Notwendigkeit einer Beichte überzeugen will. Aber Meursault weist den Priester barsch zurück, da er seine letzten Stunden nicht mit dem Gedanken an Gott verschwenden möchte. Der Streit mit dem Priester hat eine »Reinigung« zur Folge. Die Gleichgültigkeit der Welt verwandelt sich in eine Indifferenz gegenüber dem Schicksal. Mit Gott als oberster moralischer Instanz verschwindet zugleich die Unterscheidung von Gut und Böse. Die metaphysische Leere, die hiernach übrigbleibt, wird von Meursault als positiv und befreiend wahrgenommen. Beim Anblick der sternklaren Nacht empfindet er eine tiefe Verbundenheit mit dem Kosmos und er sieht ein, dass er auch ohne Aussicht auf Erlösung glücklich sein kann.143 Ganz anders verhält es sich im Fall des Ich-Erzählers aus Houellebecqs Debütroman. Die Indifferenz, mit der Meursault seinem Tod entgegen sieht, ist einer lähmenden Resignation gewichen. Auch der Naturbezug wirkt keineswegs befreiend, obwohl die Landschaft überaus sanft und friedlich ist. Es gelingt dem Erzähler nicht, sich mit der Absurdität der Existenz abzufinden. Im Gegenteil, er kann nicht aufhören, über den Sinn der Existenz nachzudenken: »Combien je me sens capable, jusqu’au bout, d’imposantes représentations mentales ! Comme elle est nette, encore, l’image que je me fais du monde !« (EDL, 155). Letzten Endes scheitert seine metaphysische Revolte, weil er der Welt gegenüber nicht gleichgültig sein kann. Entsprechend bleibt die erhoffte Versöhnung mit der Natur aus, die »sublime fusion« findet nicht statt: »Je m’avance encore un peu plus loin dans la forêt. Au-delà de cette colline, annonce la carte, il y a les sources de l’Ardèche. Cela ne m’intéresse plus ; je continue quand même. Et je ne sais même plus où sont les sources ; tout, à présent, se ressemble. Le paysage est de plus en plus doux, amical, joyeux ; j’en ai mal à la peau. Je suis au centre du gouffre. Je ressens ma peau comme une frontière, et le monde extérieur comme un écrasement. L’impression de séparation est totale ; je suis désormais prisonnier en moi-même. Elle n’aura pas lieu, la fusion sublime ; le but de la vie est manqué. Il est deux heures de l’après-midi.« (EDL, 156)

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»Comme si cette grande colère m’avait purgé du mal, vidé d’espoir, devant cette nuit chargée de signes d’étoiles, je m’ouvrais pour la première fois à la tendre indifférence du monde. De l’éprouver si pareil à moi, si fraternel enfin, j’ai senti que j’avais été heureux, et que je l’étais encore.« Albert Camus, L’Étranger, a.a.O., S. 213-214.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

So steht am Ende zwar kein »Todesurteil«, wie Dorothe Kimmich schreibt, dafür aber »vermutlich« der Selbstmord des Erzählers.144 Dennoch bleibt der Romanschluss ambivalent. Denn er ist weniger ein Abschluss, sondern vielmehr ein Ausgangspunkt für weitere Erzählungen. Zumindest schließt der letzte Satz die Möglichkeit eines Neuanfangs nicht aus, was übrigens auch durch die Kreisform des Romans angedeutet wird: Der Roman beginnt an einem Freitagabend und endet an einem Nachmittag, als die Sonne gerade im Zenit steht. Es ist zugleich die Stunde des Todeskampfes Christi (er wird um 12 Uhr ans Kreuz genagelt und stirbt um 15 Uhr), als dieser sich in einem letzten verzweifelten Aufbegehren an seinen Vater wendet und fragt: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?«

4.3 4.3.1

Gesellschaftskritik und Wissenschaftsskepsis in Les particules élémentaires (1998) Der Romaneingang als Pastiche eines ›realistischen‹ Romans?

Wie im vorangehenden Kapitel gezeigt wurde, distanziert sich Houellebecqs Debütroman nicht nur von den zwei dominanten Literaturmodellen des 20. Jahrhunderts, dem Nouveau roman und dem roman existentialiste, sondern er proklamiert zugleich auch eine Neuausrichtung der Literatur nach dem Vorbild des ›realistischen‹ Romans des 19. Jahrhunderts. Begründet wird diese Neuausrichtung damit, dass sich die Lebenswirklichkeit der Menschen im 21. Jahrhundert radikal verändert habe und es Aufgabe der Literatur sei, diese Veränderungen abzubilden. Allerdings darf sich ein zeitgenössischer ›Realismus‹ dem Debütroman zufolge nicht mehr in einer Fülle von psychologischen Details verlieren; stattdessen muss er simplifizieren, um die Strukturen einer veränderten Wirklichkeit (nach dem Modell der Karte) lesbar zu machen. Mit dem Nachfolgeroman Les particules élémentaires führt Houellebecq dieses Schreibprojekt fort, wenngleich er die klassischen Darstellungstechniken des ›Realismus‹ um spezifisch ›postmoderne‹ Verfahren ergänzt.145 Auf den ersten Blick weist der Roman kaum Ähnlichkeiten mit den Erzählungen Balzacs auf. Dies liegt vor allem daran, dass die Handlung sehr stark fragmentiert ist und verschiedene Zeitebenen parallel verlaufen. Der Roman selbst besteht aus drei Teilen, die von einem Prolog und einem Epilog eingerahmt werden. Der Prolog führt den Leser in die Materie ein: »Ce livre est avant tout l’histoire d’un homme, qui vécut la plus grande partie de sa vie en Europe occidentale, durant la seconde moitié du XXe siècle« (PE, 7). Erzählt werden die Lebensgeschichten von Michel Djerzinski, einem Molekularbiologen und Physiker, dessen wissenschaftliche Erkenntnisse den Weg zur Erschaffung eines gentechnisch »verbesserten« Menschen vorbereiten, und seinem Halbbruder Bruno Clément, einem neurotischen Erotomanen, der als typischer Vertreter der post-68er Generation präsentiert wird. Im Epilog erfahren wir,

144 Vgl. Dorothee Kimmich, »Indifferenz oder: Prothesen des Gefühls. Bemerkungen zu einer männlichen Variation«, in: arcadia 44 (1), 2009, S. 161-174, hier S. 174. 145 Zitiert wird nach der Taschenbuchausgabe Michel Houellebecq, Les particules élémentaires, Paris: Flammarion (J’ai lu), 1998. Im Folgenden abgekürzt als PE.

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dass die narrative Instanz selbst ein Angehöriger jener posthumanen Spezies ist, deren Existenz durch Michels Forschungen möglich gemacht wurde.146 Dieser erzähltechnische Kunstgriff hat zur Folge, dass die dargestellten Ereignisse aus einer weit entfernten Zukunft heraus erzählt werden, was dem Leser allerdings erst im Epilog bewusst wird. Erzählzeitpunkt ist das Jahr 2079. Für den Klon-Erzähler gehören die Ereignisse, von denen der Roman berichtet, somit einer längst vergessenen Vergangenheit an. Die Anhänger der posthumanen Spezies haben alle Verbindungen zu ihren menschlichen Vorfahren abgebrochen: »Ayant rompu le lien filial qui nous rattachait à l’humanité, nous vivons. À l’estimation des hommes, nous vivons heureux ; il est vrai que nous avons su dépasser les puissances, insurmontables pour eux, de l’égoïsme, de la cruauté et de la colère ; nous vivons de toute façon une vie différente. La science et l’art existent toujours dans notre société ; mais la poursuite du Vrai et du Beau, moins stimulée par l’aiguillon de la vanité individuelle, a de fait acquis un caractère moins urgent. Aux humains de l’ancienne race, notre monde fait l’effet d’un paradis.« (PE, 316) Die posthumanen Menschen »leben« in einem wahren Paradies, wie durch die dreifache Wiederholung von »nous vivons« deutlich betont wird. Das Prinzip der Individuation ist außer Kraft gesetzt und mit ihm sind zugleich auch Egoismus, Eitelkeit und Gewalt aus der Welt verschwunden. Obwohl die Rahmenhandlung in eine ferne Zukunft projiziert wird, handelt es sich nicht um einen Science Fiction-Roman im strengen Sinne. Die eigentliche Erzählung spielt nämlich in der unmittelbaren Gegenwart. Erzähltempus ist das passé simple, womit zugleich die Illusion einer stabilen und in sich abgeschlossenen Diegese erzeugt wird. Vermittelt wird das Geschehen aus Sicht eines auktorialen Erzählers, der sich beliebig in die Romanfiguren hineinversetzen kann. Der Roman selbst beginnt mit einer Zeitangabe und dem Bericht von Michels Abschied aus dem Forschungsinstitut von Palaiseau, wo er zwölf Jahre lang gearbeitet hat: »Le 1er juillet 1998 tombait un mercredi. C’est donc logiquement, quoique de manière inhabituelle, que Djerzinski organisa son pot de départ un mardi soir« (PE, 13). Ein solcher Romanbeginn in medias res erinnert an die Romaneröffnungen Balzacs, die ebenfalls mit einer exakten zeitlichen Verortung des Geschehens einsetzen. Auch ansonsten weist die Romanstruktur einige Gemeinsamkeiten zu Balzac und dem ›realistischen‹ Roman des 19. Jahrhunderts auf. Beispielsweise folgt auf die Romaneröffnung, die von Michels Verabschiedung berichtet, eine längere Analepse, in der zunächst die Familiengeschichte von Michel und Bruno nachgereicht wird, ehe die Erzählung mit Beginn des zweiten Teils zurück in die eigentliche Erzählgegenwart springt. Dasselbe Verfahren einer »aufbauenden Rückwendung« (E. Lämmert) verwendet auch Balzac. Wie gezeigt

146 Dies wird bereits durch ein Gedicht am Ende des Prologs angedeutet. Sprecher dieses Gedichts ist ein anonymes »nous« (PE, 9). Im Epilog erfahren wir, dass es sich dabei um Angehörige einer posthumanen Spezies handelt. Man könnte den Sprecher dieses Gedichts mit dem Chor einer griechischen Tragödie vergleichen. Wie dieser taucht er je einmal am Anfang und Ende des Romans auf, um das Erzählte zu kommentieren. Beim zweiten Mal erhebt er sich dabei sogar ganz offiziell, um das Wort zu ergreifen: »Le narrateur se lève, se rassemble et il rappelle / Avec équanimité, mais fermement, il se lève et il rappelle / Qu’une révolution métaphysique a eu lieu« (PE, 295).

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

wurde, dienen die ausschweifenden Expositionen von Balzacs Romanen dazu, die Vorgeschichte der Figuren zu erzählen, um auf diese Weise den späteren Romankonflikt zu motivieren. Häufig reicht diese Vorgeschichte sehr weit in die Vergangenheit zurück. Auch die Familienchronik von Michel und Bruno lässt sich bis spät ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Der Erzähler liefert uns gleich zu Beginn des Romans eine Beschreibung der bäuerlichen Lebensweise von Michels Großvater: »Né en 1882 dans un village de l’intérieur de la Corse, au sein d’une famille de paysans analphabètes, Martin Ceccaldi semblait bien parti pour mener la vie agricole et pastorale, à rayon d’action limité, qui était celle de ses ancêtres depuis une succession indéfinie de générations.« (PE, 24) Bei Balzac werden in den Rückblenden immer auch historische Prozesse skizziert, die aufs Engste mit dem individuellen Schicksal der Figuren verknüpft sind. Die Funktion solcher Rückblenden liegt auf der Hand: Um die Probleme der Gegenwart aufzeigen zu können, muss der Erzähler in die Vergangenheit zurückgehen und jenen Punkt in der Geschichte aufdecken, von dem aus sich die späteren Konflikte herleiten und erklären. Houellebecq macht sich dieses Verfahren zu Nutze, um den Kontrast zwischen den posthumanen Klonen und ihren menschlichen Vorfahren zu verstärken: »Il s’agit d’une vie depuis longtemps disparue de nos contrées, dont l’analyse exhaustive n’offre donc qu’un intérêt limité ; certains écologistes radicaux en manifestant par périodes une nostalgie incompréhensible, j’offrirai cependant, pour être complet, une brève description synthétique d’une telle vie : on a la nature et le bon air, on cultive quelques parcelles (dont le nombre est précisément fixé par un système d’héritage strict), de temps en temps on tire un sanglier ; on baise à droite à gauche, en particulier sa femme, qui donne naissance à des enfants ; on élève lesdits enfants pour qu’ils prennent leur place dans le même écosystème, on attrape une maladie, et c’est marre.« (PE, 24) Die Synthese des bäuerlichen Lebens richtet sich an ein Publikum aus fiktiven (zukünftigen) Lesern, denen ein entsprechendes Hintergrundwissen fehlt. Indirekt wird damit aber auch der reale (zeitgenössische) Leser angesprochen, dessen Lebensweise sich ja ebenfalls sehr deutlich von dem bäuerlichen Leben der Menschen im 19. Jahrhundert unterscheidet. Aus Sicht des Klon-Erzählers ist dieses Leben derweil charakteristisch für die menschliche Existenz im Allgemeinen. Das Leben des Menschen wird auf einige mechanistische Kriterien wie körperliche Arbeit, Reproduktion, Kindererziehung, Krankheit und Tod reduziert. Einzelne Begriffe sind durch Kursivdruck hervorgehoben, weil es sich hierbei um Phänomene handelt, deren Bedeutung sich den posthumanen Menschen nicht mehr ohne Weiteres erschließt. Neben »enfants« (PE, 24) sind dies Begriffe wie »pitié« (PE, 46), »âme« (PE, 69), »existence individuelle« (PE, 76), »grâce« (PE, 92) oder »acte libre« (PE, 92). Offenbar kann sich der posthumane Erzähler nur bedingt in die spezifisch menschliche Erfahrungswelt hineinversetzen.147 Gerade diese Distanz er147

Lisbeth Korthals Altes fragt zu Recht, wie der Klon-Erzähler die Gefühlswelt und Pysche seiner menschlichen Vorfahren beschreiben will, wenn die entsprechenden Begriffe gar nicht mehr gebräuchlich sind. Vgl. Liesbeth Korthals Altes, »Voicy, irony and ethos: the paradoxical elusiveness of

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möglicht es ihm aber, die Lebensweise der Menschen im 20. Jahrhundert vermeintlich objektiv zu schildern. Beispielhaft dafür steht ein weiterer Exkurs des Erzählers, der uns ein allgemeines, wenngleich auch sehr schematisches Bild von Michels Großeltern und ihrer Generation vermittelt: »Voici les idées de cette génération qui avait connu dans son enfance les privations de la guerre, qui avait eu vingt ans à la Libération ; voici le monde qu’ils souhaitaient léguer à leurs enfants. La femme reste à la maison et tient son ménage (mais elle est très aidée par les appareils électroménagers ; elle a beaucoup de temps à consacrer à sa famille). L’homme travaille à l’extérieur (mais la robotisation fait qu’il travaille moins longtemps, et que son travail est moins dur). Les couples sont fidèles et heureux ; ils vivent dans des maisons agréables en dehors des villes (les banlieues). Pendant leurs moments de loisir ils s’adonnent à l’artisanat, au jardinage, aux beaux-arts. À moins qu’ils ne préfèrent voyager, découvrir les modes de vie et les cultures d’autres régions, d’autres pays.« (PE, 49) Die vermeintliche Objektivität des Erzählers spiegelt sich auch in dem unpersönlichen Stil der Erzählung. Rita Schober spricht in Bezug auf die nüchterne Sprache des Romans von einem »Protokollstil« und stellt fest, dass Houellebecq bevorzugt parataktische Kurzsätze verwendet, die den Charakter einer bloßen Aufzählung haben.148 Auffällig an diesem auktorialen Kommentar ist aber noch eine andere stilistische Besonderheit: In gewisser Weise erinnert das einleitende »voici« an jene wiederkehrenden Formulierungen, mit denen Balzacs Erzähler eine Rückblende oder einen längeren Exkurs ankündigen.149 An Stellen wie diesen zeigt sich, warum Houellebecq ein wahrer Meister des Pastiches ist. Er imitiert das Modell des ›realistischen‹ Romans (à la Balzac), doch diese Nachahmung ist immer schon ironisch gebrochen. Die Ironie resultiert vor allem aus dem Kontrast zwischen dem dargestellten Inhalt und der Form der Darstellung. Der Erzähler wirkt teilnahmslos und gelangweilt, was insbesondere durch die monotone Satzstruktur zum Ausdruck kommt. Trotzdem ist in der Beschreibung von Michels Großeltern auch eine gewisse Nostalgie zu spüren. Das traditionelle Familienmodell der Nachkriegsgeneration wird im Roman geradezu verklärt. Die Großeltern repräsentieren das Modell einer harmonischen Kleinfamilie, das durch die gesellschaftliche Liberalisierung der 1970er Jahre abgeschafft wurde. Der Roman führt dies – wie noch

Michel Houellebecq’s polemic writing in Les particules élémentaires«, in: Blödorn, Andreas/Langer, Daniela/Scheffel, Michael (Hg.), Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen, Berlin/New York, de Gruyter, 2006, S. 165-193, hier S. 185. 148 Rita Schober, »Weltsicht und Realismus«, a.a.O., S. 166. 149 Formulierungen, auf die Balzac regelmäßig zurückgreift, sind unter anderem voici comment oder voici pourqoui. Einige Beispiele aus den Parents pauvres mögen dies belegen: »Puis les deux amis se retrouvèrent le soir au théâtre où Pons avait placé Schmucke. Voici comment« (CP, 50-51) – »Malheureusement l’escroquerie et souvent le crime accompagnent l’exercice de cette faculté sublime [la divination]. Voici pourquoi« (CP, 186) – »Quand, à Paris, une femme a résolu de faire métier et marchandise de sa beauté, ce n’est pas une raison pour qu’elle fasse fortune. On y rencontre d’admirables créatures, très spirituelles, dans une affreuse médiocrité, finissant très mal une vie commencée par les plaisirs. Voici pourqoui« (CB, 171) – »Voici comment Valérie donna la nouvelle de ce fait, entièrement personnel. Elle déjeunait avec Lisbeth et monsieur Marneffe« (CB, 267).

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

ausführlicher zu zeigen sein wird – vor allem auf die individualistische Selbstkultur der Hippie-Generation zurück. Diese habe durch die Infragestellung von Ehe und Familie alle Grundlagen eines harmonischen Zusammenlebens zerstört. Auch in dieser Hinsicht ergeben sich deutliche Parallelen zu Balzac. In der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, wie sie Balzac beschreibt, dominieren Eifersucht, Neid und Rivalität. Gleichzeitig wird das moralische Fundament der Gesellschaft – die Familie – durch das allgemeine Streben nach Reichtum und Vergnügung von innen heraus zerstört. In der liberalen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts hat das hedonistische Streben nach Selbstverwirklichung jeden Sinn für Gemeinschaft verdrängt. Auf die gesellschaftskritische Dimension des Romans wird an späterer Stelle ausführlicher einzugehen sind. Zuvor soll aber untersucht werden, auf welche Art von Wissen sich der Erzähler beruft und welche Konsequenzen sich daraus für das zugrunde liegende Menschenbild des Romans ergeben.

4.3.2

Die Konkurrenz von wissenschaftlichem und moralistischem Diskurs

Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Balzac und Houellebecq betrifft die wissenschaftlichen Exkurse ihrer Erzähler. In seinem »Avant-propos« zur Comédie humaine hatte Balzac die menschliche Gesellschaft in Analogie zum Tierreich modelliert. Ganz ähnlich verfährt auch der Erzähler aus Houellebecqs Roman, wenn er bestimmte Verhaltensweisen der Romanfiguren anhand von Beispielen aus der Tierwelt erläutert. So lesen wir etwa im Anschluss an eine Kindheitserinnerung aus der Schulzeit von Michel, als dieser erstmals Bekanntschaft mit seiner Jugendliebe Annabelle macht, den folgenden Erzählerkommentar: »Si les aspects fondamentaux du comportement sexuel sont innés, l’histoire des premières années de la vie tient une place importante dans les mécanismes de son déclenchement, notamment chez les oiseaux et les mammifères. Le contact tactile précoce avec les membres de l’espèce semble vital chez le chien, le chat, le rat, le cochon d’Inde et le rhésus macaque (Macaca mulatta). La privation du contact avec la mère pendant l’enfance produit de très graves perturbations du comportement sexuel chez le rat mâle, avec en particulier inhibition du comportement de cour. Sa vie en auraitelle dépendu (et, dans une large mesure, elle en dépendait effectivement) que Michel aurait été incapable d’embrasser Annabelle.« (PE, 58-59) Der Erzähler überträgt die Beobachtungen zum Sexualverhalten von männlichen Ratten, die er wissenschaftlichen Studien entnommen zu haben scheint, auf das Verhalten der Romanfiguren. Allerdings muss der Leser die entsprechenden Schlussfolgerungen selbst herleiten, weil der Kausalzusammenhang zwischen den beiden Sachverhalten unausgesprochen bleibt. Michels Unfähigkeit, seine Jugendliebe Annabelle zu küssen, wird als eine pathologische »Störung« präsentiert, deren Ursache in dem frühkindlichen Entzug der Mutterliebe zu suchen sind. Die Bedeutung naturwissenschaftlicher Erklärungen geht auch aus einer anderen Kindheitserinnerung von Michel hervor. Im Sommer 1967 tollen er und seine Kusine auf einer Wiese. Am nächsten Tag sind sie mit roten Pusteln übersäht, die von einer Grasmilbe (Thrombidium holosericum) hervorgerufen werden und einen grässlichen Juckreiz verursachen (PE, 33). Beispiele wie diese, in

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denen ein profundes zoologisches Wissen präsentiert wird, findet man überaus häufig. So folgt auf die Beerdigung von Brunos Großvater ein längerer Exkurs über Insekten (Musca, Curtonevra), die ihre Larven im Leichnam von Verstorbenen aussetzen und so ihre Zersetzung vorantreiben (PE, 39). An anderer Stelle wird berichtet, wie Bruno als Erwachsener damit beginnt, literarische Texte zu verfassen, um seine unerfüllte Libido zu kompensieren. Der Erzähler erläutert das Prinzip einer solchen »Ersatzhandlung« (PE, 178) am Beispiel einer ausgehungerten Henne (Gallus domesticus), die auf den Entzug ihres Futters mit Aggressivität reagiert und den Boden mechanisch nach Nahrung absucht. Neben dem (natur-)wissenschaftlichen Diskurs existiert im Roman nun aber noch ein zweiter Diskurs, der in der Tradition der französischen Moralistik steht, weil darin über die Situation des Menschen im Allgemeinen und das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im Besonderen reflektiert wird. Während der wissenschaftliche Diskurs die Romanfiguren als Objekte behandelt, fasst der moralistische Diskurs sie als Subjekte auf. Im ersten Fall beruft sich der Erzähler auf theoretisches Wissen aus unterschiedlichen Disziplinen (z.B. Psychologie, Soziologie, Biologie oder Zoologie), um das Verhalten der Romanfiguren zu erklären. Dementsprechend zeichnet sich die Erzählerrede durch ein hohes Maß an Distanz und Unpersönlichkeit aus. Im zweiten Fall werden die Figuren als Leidende betrachtet, die einsam, verzweifelt und sexuell frustriert sind. Dies führt dazu, dass der Erzähler seine Distanz zum Geschehen aufgibt und sich in die Romanfiguren hineinversetzt. Der Grad an emotionaler Beteiligung kann dabei variieren und reicht von empathischem Mitleid bis zu Sarkasmus.150 Teilweise lässt der Erzählerdiskurs sogar ein gewisses Maß an Pathos erkennen, das in der Regel jedoch umgehend wieder von einer klinischen Analyse abgelöst wird.151 Es konkurrieren als sowohl zwei narrative Diskurse als auch zwei unterschiedliche Sprach- und Stilregister.

150 Für die Darstellung der Innenansicht greift Houellebecq u.a. auf das Mittel der erlebten Rede zurück. Die affektive Beteiligung des Erzählers fällt dabei sehr unterschiedlich aus. Übernimmt der narrative Diskurs die Wahrnehmungsperspektive von Michel, ist die Erzählerrede zumeist in einem sachlichen Ton gehalten; versetzt sich der Erzähler dagegen in die Perspektive von Bruno, übernimmt er auch dessen emotionalisierte Wortwahl. So wird zum Beispiel die gesamte Episode auf dem Campingplatz aus Brunos Sicht geschildert. Der Text selbst macht jedoch unmissverständlich klar, dass es sich dabei um Ansichten der Romanfigur handelt. Im Verlauf der Szene verwendet der Erzälher eine ganze Reihe von inquit-Formeln. Dazu zählt beispielsweise die mehrfache Verwendung von »voilà ce que pensait Bruno« (PE, 104; 106) oder die Formulierungen »aimait à dire Bruno« (PE, 106) und »pensait encore Bruno« (PE, 106). Es scheint fast so, als wollte sich der Autor auf diese Weise von den Äußerungen seiner Romanfigur distanzieren. 151 Vgl. hierzu die Aussage des Autors: »Sur un plan plus littéraire, je ressens vivement la nécessité de deux approches complémentaires : le pathétique et le clinique. D’un côté la dissection, l’analyse à froid, l’humour ; de l’autre la participation émotive et lyrique, d’un lyrisme immédiat.« Michel Houellebecq, »Entretien avec Jean-Yves Jouannais et Christophe Duchatelet«, in: ders., Interventions, Paris: Flammarion, 1998, S. 37-48, hier S. 44.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

Wann immer vom Menschen als einem »être humain«152 gesprochen wird, fasst der Erzähler seine Beobachtungen in Form von kürzeren Sentenzen oder Aphorismen zusammen, die an die Maximen von La Rochefoucauld erinnern. Dennoch wäre es falsch, den narrativen Diskurs ausschließlich auf die literarische Tradition der Moralistik zu beziehen.153 Tatsächlich findet man diese moralisierenden Sentenzen auch in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Balzacs Erzähler haben eine ausgesprochene Neigung für moralisierende Sentenzen und Verallgemeinerungen.154 Auch die narrative Instanz aus Houellebecqs Romans verfügt über ein Wissen, das dem Bestand an allgemeinen Weisheiten entnommen zu sein scheint. Beispielhaft dafür steht die Beschreibung von Annabelles Schönheit, die so außergewöhnlich ist, dass sich darin bereits das »tragische Schicksal« der Romanfigur ankündigt: »Sans beauté la jeune fille est malheureuse, car elle perd toute chance d’être aimée. Personne à vrai dire ne s’en moque, ni ne la traite avec cruauté ; mais elle est comme transparente, aucun regard n’accompagne ses pas. Chacun se sent gêné en sa présence, et préfère l’ignorer. À l’inverse une extrême beauté, une beauté qui dépasse de trop loin l’habituelle et séduisante fraîcheur des adolescentes, produit un effet surnaturel, et semble invariablement présager un destin tragique.« (PE, 57-58) Der moralisierende Tonfall des Erzählers lässt keinen Zweifel an dem Wahrheitsgehalt seiner Aussage aufkommen. Apodiktischen Aussagen wie diesen begegnet man relativ häufig in ›realistischer‹ Literatur.155 Meist handelt es sich dabei um Aussagen, die eine pädagogische Botschaft oder eine »Moral« enthalten. So heißt es etwa im unmittelbaren Anschluss an die eben zitierte Passage über die verhängnisvollen Effekte einer solchen Schönheit: »Tel est l’un des principaux inconvénients de l’extrême beauté chez les jeunes filles : seuls les dragueurs expérimentés, cyniques et sans scrupules se sentent à la hauteur ; ce sont donc en général les êtres les plus vils qui obtiennent le trésor de leur virginité.« (PE, 58, meine Hervorhebung)

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»Mais l’être humain est prompt à établir des hiérarchies, c’est avec vivacité qu’il aspire à se sentir supérieur à ses semblables« (PE, 64, meine Hervorhebung) – »Au milieu de la grande barbarie naturelle, les êtres humains ont parfois (rarement) pu créer de petites places chaudes irradiées par l’amour. De petits espaces clos, réservés, où régnaient l’intersubjectivité et l’amour« (PE, 88, meine Hervorhebung). Vgl. hierzu Sandra Berger, »Les discours (pseudo-)scientifiques dans l’œuvre houellebecquienne«, in: Clément, Murielle Lucie/van Wesemael, Sabine (Hg.), Michel Houellebecq à la une, Amsterdam/New York: Rodopi, 2011, S. 101-112. Schon Erich Auerbach stellt fest, dass Balzac seinem Erzähler häufig Formulierungen in den Mund legt, die den Charakter »moralisch-allgemeiner Sentenzen« haben. Diese sentenzartigen Formulierungen »sind bisweilen als einzelne Beobachtungen geistreich, aber sie werden meist unmäßig verallgemeinert; manchmal sind sie auch nicht einmal geistreich, und wenn sie zu längeren Ausführungen sich auswachsen, so kommt oft das zustande, was man mit einem vulgären deutschen Wort Kohl nennt.« Vgl. Erich Auerbach, Mimesis, a.a.O., S. 446. Vgl. Michael Riffaterre, Fictional Truth, 2. Aufl., Baltimore/London: The John Hopkins University Press, 1993, S. 8ff.

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Ähnliche Formulierungen findet man auch bei Balzac. Tatsächlich zeigen beide Autoren eine ausgesprochene Neigung für generalisierende Aussagen jeglicher Art.156 Damit wird eine Erkenntnis formuliert, die nicht rational begründet werden muss, weil es sich streng genommen nicht um eine epistemologische Wahrheit handelt, sondern um eine Erkenntnis, die der intuitiven Erfahrung entspringt.157 Trotz dieses Unterschiedes überschneiden sich der wissenschaftliche und der moralistische Diskurs in einem Punkt: Beide versuchen ein verallgemeinerbares Wissen über die menschliche »Natur« oder das »Wesen« des Menschen zu gewinnen. Als Wissenschaftler beschäftigt sich Michel seit vielen Jahren mit der Natur. Bereits als Kind schaut er bevorzugt Tierdokumentationen im Fernsehen. Die Fernsehbilder, die er in seiner Lieblingsserie La vie des animaux sieht, prägen seine Vorstellung von der Natur nachhaltig: »Les gazelles et les daims, mammifères graciles, passaient leurs journées dans la terreur. Les lions et les panthères vivaient dans un abrutissement apathique traversé de brèves explosions de cruauté. Ils tuaient, déchiquetaient, dévoraient les animaux les plus faibles, vieillis ou malades ; puis ils replongeaient dans un sommeil stupide, uniquement animé par les attaques des parasites qui les dévoraient de l’intérieur. Certains parasites étaient eux-mêmes attaqués par des parasites plus petits ; ces derniers étaient à leur tour un terrain de reproduction pour les virus.« (PE, 36)

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Ein eindrückliches Beispiel dafür liefert das folgende Zitat aus dem Roman: »Les hommes de leur âge se trouvaient grosso modo dans la même situation ; mais cette communauté de destin ne devait engendrer nulle solidarité entre ces êtres : la quarantaine venue, les hommes continuèrent dans leur ensemble à rechercher des femmes jeunes – et parfois avec un certain succès, du moins pour ceux qui, se glissant avec habileté dans le jeu social, étaient parvenus à une certaine position intellectuelle, financière ou médiatique ; pour les femmes, dans la quasi-totalité des cas, les années de la maturité furent celles de l’échec, de la masturbation et de la honte« (PE, 107, meine Hervorhebungen). Teilweise verwenden Balzac und Houellebecq dieselben sprachlichen Mittel, um ihre Romanfiguren zu charakterisieren. Beispielsweise fällt der Erzähler im Roman das folgende Urteil über Brunos Vater: »Comme tous les vieux libertins il devenait sentimental sur le tard, et se reprochait amèrement d’avoir gâché la vie de son fils par son égoïsme ; ce n’était d’ailleurs pas entièrement faux« (PE, 78). Dieselbe Formulierung findet man auch bei Balzac. So heißt es über den ehemaligen Gemischtwarenhändler Crevel: »Mais Crevel, incapable de comprendre les arts, avait voulu, comme tous les bourgeois, dépenser une somme fixe, connue à l’avance« (CP, 403). Es ließen sich noch eine Reihe weiterer Beispiele anführen. Oftmals bewegen sich solche Verallgemeinerungen an der Grenze zum Klischee oder zum Stereotyp. Über den deutschen Pianisten Schmucke heißt es zum Beispiel: »Schmucke, très fort comme tous les Allemands sur l’harmonie, soigna l’instrumentation dans les partitions dont le chant fut fait par Pons« (CP, 52). Und die Tochter des jüdischen Kunstammlers Élie Magus wird wie folgt beschrieben: »Là se trouvait l’appartement de sa fille, le fruit de sa vieillesse, une Juive, belle comme sont toutes les Juives quand le type asiatique reparaît pur et noble en elles« (CP, 197). Wie an späterer Stelle noch zu zeigen sein wird, bedient sich Houellebecq in seinen Romanen ebenfalls gängiger Klischees und Stereotype, wenngleich er diese – anders als Balzac – zumeist durch Übertreibung offen ausstellt. Nach Kant sind apodiktische Urteile »a priori behauptend«, denn sie drücken eine logische Notwendigkeit aus, ohne diese jedoch nach den Gesetzen des Verstandes beweisen zu können. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. von Raymund Schmidt, 3. Aufl., Hamburg: Meiner, 1990, S. 115 (§ 9, B101/A76).

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Durch seine geliebten Tierdokumentationen gelangt Michel schon bald zu einer »unerschütterlichen« Überzeugung: »Michel frémissait d’indignation, et là aussi sentait se former en lui une conviction inébranlable : prise dans son ensemble la nature sauvage n’était rien d’autre qu’une répugnante saloperie ; prise dans son ensemble la nature sauvage justifiait une destruction totale, un holocauste universel – et la mission de l’homme sur la Terre était probablement d’accomplir cet holocauste.« (PE, 36) Die Natur ist eine einzige »saloperie«, weil es in ihr kein Mitleid gibt. Die schwächeren Geschöpfe leben in ständiger Angst vor den stärkeren Tieren, die ihrerseits wieder von Parasiten und Viren befallen werden. Was hier beschrieben wird, ähnelt nur vordergründig einem darwinistischen Überlebenskampf. Nicht das Prinzip der natürlichen Selektion, dem zufolge nur diejenigen Individuen einer Spezies überleben, die sich am besten an ihre Umwelt anpassen, steht Pate für das Naturverständnis des Romans, sondern die Philosophie Schopenhauers. Michel erkennt, dass die gesamte Natur, von ihrer größten bis zur kleinsten Einheit, von ein- und demselben »Willen zum Leben« bestimmt wird. Schopenhauers metaphysischer »Wille« ist ein stetiger (»hungriger«) Drang, ein unermüdliches und »endloses Streben«158 nach Dasein, das sich auf allen Ebenen der evolutionären Stufenleiter manifestiert, angefangen bei der anorganischen Natur über die Pflanzenwelt und das Tierreich bis hinauf zum Menschen. Aus dem erkenntnislosen (»blinden«) Drang nach Leben wird beim Menschen ein von Erkenntnisund Bewusstsein geleiteter Wille. Die verschiedenen Erscheinungsformen des Willens (Mensch, Tier, Pflanze, Stein) geraten miteinander in Konflikt, weil jede von ihnen versucht, sich der vorhandenen Materie einer niedrigeren Entwicklungsstufe zu bemächtigen. Letztlich erweist sich der Stufenbau der Natur darum als Resultat eines »allgemeine[n] Kampfes«, dessen Auswirkungen sich beim Menschen als der höchsten Objektivation des Willens in ihrer ganzen (»furchtbarsten«159 ) Deutlichkeit zeigen. Vor diesem Hintergrund ist auch die Aussage Schopenhauers zu verstehen, dass der Mensch »im 158 159

Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, a.a.O., S. 229 (Erster Band, zweites Buch, § 29). »So sehen wir in der Natur überall Streit, Kampf und Wechsel des Sieges, und werden eben darin weiterhin die dem Willen wesentliche Entzweiung mit sich selbst deutlicher erkennen. Jede Stufe der Objektivation des Willens macht der andern die Materie, den Raum, die Zeit streitig. Beständig muß die beharrende Materie die Form wechseln, indem, am Leitfaden der Kausalität, mechanische, physische, chemische, organische Erscheinungen, sich gierig zum Hervortreten drängend, einander die Materie entreißen, da jede ihre Idee offenbaren will. Durch die gesamte Natur läßt sich dieser Streit verfolgen, ja, sie besteht eben wieder nur durch ihn […]: ist doch der Streit selbst nur die Offenbarung der dem Willen wesentlichen Entzweiung mit sich selbst. Die deutlichste Sichtbarkeit erreicht dieser allgemeine in der Thierwelt, welche die Pflanzenwelt zur ihrer Nahrung hat, und in welcher selbst wieder jedes Thier die Beute und Nahrung eines andern wird, d.h. die Materie, in welcher seine Idee sich darstellte, zur Darstellung einer andern abtreten muß, indem jedes Thier sein Daseyn nur durch die beständige Aufhebung eines fremden erhalten kann; so daß der Wille zum Leben durchgängig an sich selbst zehrt und in verschiedenen Gestalten seine eigene Nahrung ist, bis zuletzt das Menschengeschlecht, weil es alle anderen überwältigt […] in sich selbst jenen Kampf, jene Selbstentzweiung des Willens zur furchtbarsten Deutlichkeit offenbart, und homo homini lupus wird.« Ebd., S. 208 (§ 27).

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Grunde etwas [ist], das nicht seyn sollte«160 . Wie Schopenhauer gelangt auch Michel allmählich zu der Einsicht, dass die Grausamkeit der Natur ihre vollständige Auslöschung (»une destruction totale«) rechtfertigen würde. Ihm zufolge bedarf es einer umfassenden Reinigung, eines »holocauste universel«, um die Natur auszulöschen und eine neue Spezies zu entwickeln, die weniger grausam und gewaltbereit ist als der Mensch. In der fiktiven Zukunft des Romanschlusses wird dieses Ziel tatsächlich realisiert. Im Zuge seiner Forschungen findet Michel später eine Möglichkeit, die menschliche »Natur« durch eine Modifikation des menschlichen Genoms zu verbessern. Damit ebnet er den Weg für eine metaphysische Transformation, aus der zwar kein neuer »Übermensch« hervorgeht wie bei Nietzsche, wohl aber ein neues posthumanes Wesen, das mit dem Egoismus seiner Vorgänger gebrochen hat.161 Wenn der Roman die animalische Natur allein auf ihre grausamen Aspekte reduziert, dann deshalb, weil sich darin zugleich die Grausamkeit des Menschen widerspiegelt. Letzten Endes ist die Tierwelt nämlich nichts anderes als ein Spiegel für die menschliche Gesellschaft: »Les sociétés animales fonctionnent pratiquement toutes sur un système de dominance lié à la force relative de leurs membres. Ce système se caractérise par une hiérarchie stricte : le mâle le plus fort du groupe est appelé l’animal alpha ; celui-ci est suivi du second en force, l’animal bêta, et ainsi de suite jusqu’à l’animal le moins élevé dans la hiérarchie, appelé animal oméga. Les positions hiérarchiques sont généralement déterminées par des rituels de combat ; les animaux de rang bas tentent d’améliorer leur statut en provoquant les animaux de rang plus élevé, sachant qu’en cas de victoire ils amélioreront leur position. Un rang élevé s’accompagne de certains privilèges : se nourrir en premier, coupler avec les femelles du groupe. Cependant, l’animal le plus faible est en général en mesure d’éviter le combat par l’adoption d’une posture de soumission (accroupissement, présentation de l’anus). Bruno se trouvait dans une situation moins favorable.« (PE, 46, Hervorhebung im Original) Sowohl das Tierreich als auch die Gesellschaft beruhen auf einem System der Dominanz, in dem das Gesetz des Stärkeren regiert. Mensch und Tier verbindet zudem eine angeborene Neigung zur Gewalt. Dem Erzähler zufolge ist der Mensch sogar das grausamste Tier von allen: »La brutalité et la domination, générales dans les sociétés animales, s’accompagnent déjà chez le chimpanzé (Pan troglodytes) d’actes de cruauté gratuite accomplis à l’encontre de l’animal le plus faible. Cette tendance atteint son comble chez les sociétés humaines primitives, et dans les sociétés développées chez l’enfant et l’adolescent jeune.« (PE, 46)

160 Ebd., S. 589 (Zweiter Band, viertes Buch, Kapitel 41). 161 Nietzsche, der bekanntlich stark von Schopenhauer inspiriert war, greift den Gedanken seines Lehrmeisters auf und radikalisiert ihn. Aus der Feststellung, dass der Mensch im Grunde genommen etwas sei, das nicht sein sollte, zieht Nietzsche den Schluss, dass der Mensch als solcher überwunden werden müsse. So lässt er seinen Zarathustra sagen: »Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr getan, ihn zu überwinden?« Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen, München: Goldmann, 1981, S. 11.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

Die Tendenz zur Gewalt zeigt sich beim Menschen schon in jungen Jahren. Auf dem Internat wird Bruno von seinen Klassenkameraden gedemütigt, verprügelt und misshandelt. Er muss am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, am untersten Ende der sozialen Hierarchie zu stehen. Unter allen Mitschülern auf dem Internat ist er das »animal oméga«. Folglich bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Demütigungen stillschweigend über sich ergehen zu lassen, was dem Erzähler zufolge allerdings »des dégâts psychologiques irréversibles« (PE, 46-47) nach sich zieht. Auch Michel macht die Erfahrung, dass der Mensch eine angeborene Neigung zur Grausamkeit besitzt. Während seiner Schulzeit erlebt er, wie seine Mitschüler sich daran erfreuen, Tiere zu verletzen und zu quälen. Daraus zieht er den Schluss, dass allein der Mensch die Fähigkeit besitzt, anderen Lebewesen grundlos Schmerzen beizufügen.162 Diese Neigung zur willkürlichen Grausamkeit (»actes de cruauté gratuite«) zeigt sich bereits beim Affen. Was den Menschen aber vom Tier unterscheidet, ist der Umstand, dass er über ein Selbstbewusstsein und eine Individualität verfügt: »Entre deux et quatre ans, les enfants humains accèdent à une conscience accrue de leur moi, ce qui provoque chez eux des crises de mégalomanie égocentrique. Leur objectif est alors de transformer leur environnement social (en général composé de leurs parents) en autant d’esclaves soumis au moindre frétillement de leurs désirs ; leur égoïsme ne connaît plus de limites ; telle est la conséquence de l’existence individuelle.« (PE, 183) In der Phase vom zweiten bis zum vierten Lebensjahr entwickelt das Kind eine Reihe von motorischen Fähigkeiten, die es in die Lage versetzen, sich von anderen Menschen abzugrenzen.163 Es entwickelt ein Ich-Gefühl und beginnt, seinen Willen gegen den 162

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Der Roman greift hier das philosophische Problem des acte gratuit auf. Der Begriff geht zurück auf André Gide und meint eine willkürliche Handlung, die frei von jeglichem persönlichem Nutzen ist und ohne erkennbare Motivation erfolgt. In Le Prométhée mal enchaînée (1899) lässt Gide einen Kellner zu Wort kommen, der hierin die differentia specifica des Menschen erblickt, und in Les Caves du Vatican (1914) setzt Gide eine solche Willkürhandlung literarisch um. Lafcadio, der Protagonist des Romans, stößt einen ihm unbekannten Mann aus einem fahrenden Zug, um zu beweisen, dass die Freiheit nur in einer sinnlosen, zweckfreien und interesselosen Tat gegeben sei. Allerdings übersieht er dabei, dass just durch diese Begründung der Mord nicht mehr willkürlich und unmotiviert ist. Obwohl Gide gemeinhin als Erfinder des Begriffs gilt, ist das philosophische Problem des acte gratuit nicht nur mit seinem Namen verbunden. Bereits Dostojewski behandelt die Problematik in Schuld und Sühne (1866) und Camus greift sie in L’Étranger (1942) erneut auf. Auch Meursault begeht ein Verbrechen ohne Motiv, als er am Strand auf einen Araber trifft und diesen tötet, ohne es zu wollen. Houellebecq hat die berühmte Mordszene in seinem Debütroman umgeschrieben. Zum Begriff des »acte gratuit« und seiner literarischen Umsetzung siehe die Studie von Martin Raether, Der Acte gratuit. Revolte und Literatur. Hegel – Dostojewski – Nietzsche – Gide – Sartre – Camus – Beckett, Heidelberg: Winter, 1980. Houellebecq kann sich dazu auf wissenschaftliche Theorien zur Identitätsbildung, wie das psychosoziale Entwicklungsmodell des dänischen Psychoanalytikers Erik H. Erikson, berufen. Anders als Freud, der die Entwicklung des Selbstbewusstseins aus der Libido erklärt, beschreibt Erikson die Herausbildung einer Ich-Identität aus dem Spannungsfeld von Bedürfnissen und Wünschen des Individuums einerseits und den sich permanent verändernden Anforderungen seines sozialen Umfeldes andererseits. Aus diesem Spannungsverhältnis resultieren Krisen und Konflikte, deren Bewältigung entscheidend zur Entwicklung des Individuums beiträgt. Erikson beschreibt diesen

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Widerstand anderer durchzusetzen. Für den Klon-Erzähler hat die Vorstellung einer »individuellen Existenz« freilich keinerlei Bedeutung, denn die posthumanen Wesen verfügen über kein solches Ich-Bewusstsein mehr. Mit der Individualität ist darum auch der Egoismus aus der Welt verschwunden.164 Der Mensch ist aber nicht nur imstande, anderen Lebewesen grundlos Schmerzen zuzufügen; er besitzt darüber hinaus auch die Fähigkeit zu moralischem Handeln. Bereits als kleiner Junge verfügt Michel über ein ausgeprägtes Moralempfinden, das er aus der Lektüre seiner Comic-Hefte gewinnt. Schnell erkennt er, dass jede Moral, die ihren Namen verdient, im Grunde genommen ein zeitloses, universal gültiges Normensystem bereithält: »La pure morale est unique et universelle. Elle ne subit aucune altération au cours du temps, non plus qu’aucune adjonction. Elle ne dépend d’aucun facteur historique, économique, sociologique ou culturel ; elle ne dépend absolument de rien du tout. Non déterminée, elle détermine. Non conditionnée, elle conditionne. En d’autres termes, c’est un absolu.« (PE, 35) Auf dem Internat verkörpert der sympathische Erzieher Jean Cohen das moralische Gesetz. Er ist es, der Bruno von den Misshandlungen seiner Mitschüler erlöst und die Täter ihrer gerechten Strafe überführt. Ansonsten verfügen vor allem Frauen wie Michels Großmutter über ein moralisches Urteilsvermögen, während die Männer diese Fähigkeit zumeist vermissen lassen. Durch das Fernsehen gelangt Michel als kleiner Junge zu einer weiteren Erkenntnis, denn er versteht, dass die Fähigkeit zur Liebe ebenfalls in der Natur vorhanden ist: »Au milieu de cette saloperie immonde, de ce carnage permanent qu’était la nature animale, la seule trace de dévouement et d’altruisme était représentée par l’amour maternel, ou par un instinct de protection, enfin quelque chose qui insensiblement et par degrés conduisait à l’amour maternel.« (PE 164) Die Tatsache, dass ein solch starker natürlicher Instinkt wie die Mutterliebe (»l’amour maternel«) existiert, liefert ihm den Beweis, dass der Mensch nicht nur gewalttätig und Prozess anhand von acht aufeinander folgenden »Stufen« oder Entwicklungsphasen, wobei jede Stufe eine eigene Krise mit sich bringt, die bewältigt werden muss, um Entwicklungsstörungen auf der nächst höheren Stufe zu vermeiden. Vgl. Erik H. Erikson, Identiy, Youth and Crisis, New York: Norton, 1968. 164 Auch hier lässt sich der Einfluss Schopenhauers nachweisen. Schopenhauer sieht im Egoismus eine der drei »Haupttriebfedern« des Menschen neben der Bosheit und dem Mitleid. Dazu kommt es, weil sich der Mensch als ein Individuum erkennt, das anderen Individuen wollend gegenübersteht. Eine Überwindung des Egoismus ist laut Schopenhauer deshalb nur möglich, wenn der Einzelne das Prinzip der Individuation durchschaut und aufhört, sich selbst und die Welt im Hinblick auf die eigene Sicherheit bzw. das eigene Wohlbefinden zu betrachten. Dies setzt einen gewissen Grad an Bewusstsein und Erkenntnis voraus. Denn nur der von Erkenntnis geleitete Mensch kann das principium individuationis durchschauen, indem er im Anderen zugleich sein eigenes Wesen erkennt. Auf dieser Grundlage entwickelt Schopenhauer seine Mitleidsethik. Wer im Anderen sich selbst erkennt, der wird unweigerlich davor zurückschrecken, andere zu verletzen. Dies besagt die Sanskrit-Formel »Tat twam asi« (»Dies bist du«), auf die sich Schopenhauer in seiner Mitleidsethik beruft. Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, a.a.O., S. 460 (Erster Band, viertes Buch, § 63).

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

egoistisch ist, sondern auch Mitgefühl empfinden kann. Er ist zu schlimmsten Grausamkeiten ebenso imstande wie zu altruistischen Empfindungen. In der Schule erlebt Michel, wie seine männlichen Mitschüler grundlos Tiere quälen.165 Von den Mädchen ist dergleichen hingegen nicht zu befürchten. Für Michel ist darum klar, dass Frauen eindeutig die »besseren« Menschen sind: »[…] décidément, les femmes étaient meilleures que les hommes. Elles étaient plus caressantes, plus aimantes, plus compatissantes et plus douces ; moins portées à la violence, à l’égoïsme, à l’affirmation de soi, à la cruauté. Elles étaient en outre plus raisonnables, plus intelligentes et plus travailleuses.« (PE, 164-165) Als Forscher sucht Michel dreißig Jahre später nach einer Möglichkeit, die negativen Eigenschaften des Mannes in der Struktur des menschlichen Genoms zu unterdrücken, um einen Menschen zu programmieren, der nur noch weibliche Eigenschaften aufweist. Dem Roman zufolge ist die höchste Erscheinungsform der Moral die bedingungslose, aufopferungsvolle und selbstlose Liebe einer Mutter.166 Michels Großmutter verkörpert diese Eigenschaft wie kaum eine andere Romanfigur. Sie ist ein Sinnbild an Aufopferungsbereitschaft und damit das genaue Gegenstück zu ihrer Tochter, der diese Eigenschaft verlernt hat, weil sie in einer Kultur aufwächst, die Selbstverwirklichung als höchstes Lebensziel ausgibt. Christiane besitzt die Fähigkeit zur selbstlosen Liebe ebenfalls. Bruno findet in der Beziehung mit ihr alles, was ihm seit seiner frühesten Kindheit verwehrt blieb. Seinem Zynismus begegnet sie mit Nachsicht und Geduld. Am Ende seiner erschütternden Beichte nimmt sie ihn in den Arm und tröstet ihn. Christianes Liebe ist ein Geschenk, das Bruno vollkommen unerwartet zuteil wird und das er genauso schnell wieder verliert, weil er unfähig ist, die »Gabe« der Liebe zu erwidern.

4.3.3

Houellebecqs »Theorie« der Liebe als einer Gabe

Wie in den Kapiteln zu Balzac gezeigt werden konnte, folgt das Begehren im bürgerlichen Zeitalter keinem spontanen Impuls, sondern einem rationalen Kalkül. Entspre165

Dass der Mensch seine Fähigkeit zum Mitleid durch die Erfahrung mit anderen Lebewesen ausbilden kann, wusste bereits Schopenhauer. In seiner Preisschrift Über die Grundlage der Moral (1839) spricht er von der Gefahr einer Verrohung des Menschen. Wer sich gegenüber anderen Lebewesen grausam verhalte, der könne auch kein Mitgefühl für seine Mitmenschen empfinden, sondern neige dazu, im Umgang mit ihnen ebenfalls grausam zu sein. Tierquälerei lasse den Menschen abstumpfen. Um das eigene Empathievermögen zu schulen, schlägt Schopenhauer vor, dass ein Jeder, gleichsam zur Übung, Mitleid mit den Tieren haben soll. Vgl. Arthur Schopenhauer, Über die Grundlage der Moral, hg. von Peter Welsen, Hamburg: Meiner, 2007, S. 60. 166 Für den Molekularbiologen Michel ist der Mann ein Relikt aus einer frühen Phase der Evolution, als Bären noch eine Gefahr darstellten und die Möglichkeit einer künstlichen Befruchtung nicht gegeben war. Darum gelangt er zu dem Schluss, dass eine Welt nur aus Frauen der unsrigen in jeder Hinsicht vorzuziehen wäre. Sein Halbbruder Bruno pflichtet ihm bei, wenngleich er das Ganze aus einer soziologischen Perspektive betrachtet. Während es in früheren Epochen möglich gewesen sei, dass ein Mann in der Erziehung seines Sohnes einen Lebenszweck gefunden habe, gebe es in der heutigen Gesellschaft nichts mehr, was ein Vater seinem Sohn vermitteln könne, weil die »idéologie du changement continuel« (PE, 169) das Leben auf eine Existenz als Individuum reduziere.

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chend steht am Ursprung der Liebe auch keine abgeklärte Subjektivität, wie es die romantische Literatur behauptet, sondern die »Mimesis des Begehrens« (R. Girard). Balzacs Romane entlarven den romantischen Liebesdiskurs als eine Illusion, die an den Gegebenheiten der materiellen Wirklichkeit zerschellt. Denn die bürgerliche Gesellschaft hat eine neue Form des Liebens hervorgebracht, die ihre Begründung nicht mehr in der Selbstreferenz des Liebens (N. Luhmann) sucht, sondern in der Befriedigung selbstsüchtiger Motive. Genau wie die Kunst ist auch die Liebe zu einem käuflichen Objekt geworden, das sich an den Erfordernissen eines kapitalistischen Tauschwarensystems orientiert. Dieser Tausch beruht auf dem Einsatz pekuniärer Mittel, um dafür im Gegenzug sinnliches Vergnügen zu erhalten. Auch die Ehe dient nicht länger dazu, die Liebe auf Dauer zu stellen. Stattdessen werden Ehen geschlossen, um eine aussichtsreiche Mitgift zu erhaschen. Bei Houellebecq hat sich dieses Problem erübrigt, da es in seinen Romanen so gut wie keine funktionierenden Ehen mehr gibt. Die Romanfiguren sind Einzelkämpfer und konkurrieren um die Gunst potenzieller Sexualpartner, ohne sich auf eine echte Beziehung einzulassen. Sie sind unfähig zur Liebe und interessieren sich bloß noch für den sinnlichen Genuss, den ihnen der Liebesakt verspricht. Aus der »comédie du sentiment moderne« (CB, 122) des bürgerlichen Zeitalters, wie Balzac seinen Erzähler sagen lässt, ist bei Houellebecq eine »comédie de l’amour physique« (PE, 144) geworden. Auf die Gründe, die diesen Verlust an Liebesfähigkeit herbeigeführt haben, soll nun genauer eingegangen werden. Dazu ist es erforerlich, das zugrunde liegende Liebesmodell des Romans zu untersuchen. Houellebecqs Vorstellung von der Liebe ist stark beeinflusst von dem französischen Soziologen Marcel Mauss und dessen Gabentheorie.167 In seinem Essai sur le don (1924/25) versucht Mauss zu belegen, dass die Gabe ein universell gültiges Prinzip ist, das sowohl in archaischen wie in modernen Gesellschaften existiert.168 Bei der Gabe handelt es sich für Mauss um eine symbolische Form des Tausches, die er im Rahmen

167

Auf den Einfluss des französischen Soziologen verweist beispielsweise auch Bruno Viard. Er betont zu Recht, dass die erste Gabe, die ein Mensch empfängt, die unerschütterliche Liebe einer Mutter zu ihrem Kind ist: »Tout le problème de Michel Houellebecq et de ses personnages, c’est que n’ayant pas reçu, ils sont de mauvais donneurs. Le premier don, c’est l’amour maternel. Les héros de Michel Houellebecq en ont tous été frustrés. N’ayant pas été aimés par leur mère ni par leur père, ils se sont convaincus qu’ils n’étaient pas aimables. Ils n’ont rien à donner, puisqu’ils n’ont rien reçu, et se trouvent incapables d’amorcer la moindre dialectique du don.« Viards Analyse überschneidet sich mit den hier angestellten Überlegungen. Wenn Viard zum Beispiel feststellt, dass die Kritik an der »civilisation occidentale« bei Houellebecq auf eine »crise du don« in den Gesellschaften Westeuropas zurückgeführt wird, so ist ihm in jeder Hinsicht beizupflichten. Vgl. Bruno Viard, »Faut-il en rire ou en pleurer? Michel Houellebecq du côté de Marcel Mauss et du côté de Balzac«, a.a.O., S. 33 und 34. 168 Die Tauschbeziehungen in archaischen Gesellschaften unterscheiden sich nach Mauss in dreifacher Hinsicht von Marktbeziehungen. Erstens sind es dort nicht nur Individuen, die sich durch eine Gabe wechselseitig verpflichten, sondern auch Clans, Familien oder Stämme. Zweitens werden dabei nicht nur materielle Güter oder Reichtümer ausgetauscht, sondern nahezu alles (Höflichkeiten, Feste, Riten, militärische Hilfe, Frauen, Kinder, Tänze, Feste usw.). Und drittens steht die NichtErwiderung einer Gabe in den meisten archaischen Gesellschaften unter Strafe und kann mitunter sogar Kriege nach sich ziehen. Vgl. Marcel Mauss, Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques, Paris: PUF, 2012, S. 68f.

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einer allgemeinen »Theorie der Verpflichtung«169 behandelt. Es geht ihm um den Nachweis, dass die vermeintliche Freiwilligkeit der Gabe (»le caractère volontaire, pour ainsi dire, apparament libre et gratuit«) in vielen Fällen ein bloßer Formalismus, eine Fiktion und eine Lüge (»mensonge social«170 ) ist. Denn hinter der scheinbar freiwilligen Geste steht die moralische Verpflichtung, eine einmal empfangene Gabe auch zu erwidern. Zwei Aspekte dieser Gabentheorie sind für die vorliegende Analyse von besonderer Bedeutung. Zum einen verbindet Mauss seine Gabentheorie mit einer Kritik am ökonomischen Tauschmodell des Marktes. Wie Mauss in seinem Essay zeigt, lassen sich bestimmte Tauschbeziehungen mit dem Begriff des ökonomischen Eigennutzes nicht erklären. Ebenso widerspricht er der weit verbreiteten Vorstellung, dass sich der Markt als »natürliche« Form des Tausches in allen Gesellschaften entwickelt habe. Denn in der Welt des Marktes werden Tauschprozesse durch Gesetze und Verträge geregelt, während der Austausch von Dingen im Fall der Gabe auf sozialen Regeln beruht. Durch die Pflicht, eine empfangene Gabe zu erwidern, binden sich Tauschpartner darüber hinaus moralisch aneinander. Zum anderen versucht Mauss zu belegen, dass das Prinzip der Gabe das Zustandekommen von Sozialbeziehungen ermöglicht. In vielen archaischen Kulturen sind die ausgetauschten Gaben keine unbelebten Dinge, wie Mauss nachweist, sondern sie haben eine »Persönlichkeit« und tragen die Spur ihrer vorherigen Besitzer mit sich fort. Person und Sache durchdringen sich gegenseitig und verschmelzen auf diese Weise miteinander.171 Folglich sind die Personen, die sich durch eine Gabe wechselseitig binden, auch keine bloßen Vertragspartner. Wer etwas schenkt, gibt damit nämlich immer auch etwas von sich selbst weiter. Umgekehrt nimmt der Empfänger einer Gabe einen Teil der fremden Person in sich auf.172 Die Gabe ermöglicht eine Form der Intersubjektivität, die anderen Tauschbeziehungen vollkommen fremd ist. Das Gegenteil eines freiwilligen Gabentausches ist eine Transaktion nach dem juristischen Modell eines Vertrages. Das Vertragsmodell beruht auf dem Prinzip der Äquivalenz oder Gleichwertigkeit der getauschten Dinge. Ein Tausch kommt dabei nur unter der Voraussetzung zustande, dass beide Vertragspartner dieselben unveräußerlichen »Rechte« besitzen. Aus diesem Grund wird das Vertragsmodell oftmals als Grundlage liberaler Staatstheorien (z.B. Hobbes’ Leviathan) verwendet, wie etwa auch der Erzähler aus dem Roman weiß: »L’existence individuelle, le sentiment de liberté qui en découle constituent le fondement naturel de la démocratie. En régime démocratique, les relations entre individus sont classiquement réglées par la forme du contrat. Tout contrat outrepassant les droits

169 Ebd., S. 82. 170 Ebd., S. 64. 171 »Si on donne les choses et les rend, c’est parce qu’on se donne et se rend ›des respects‹ – nous disons encore ›des politesses‹. Mais aussi c’est qu’on se donne en donnant, et, si on se donne, c’est qu’on se ›doit‹ – soi et son bien – aux autres.« Ebd., S. 171. 172 Iris Därmann beschreibt das Gabenprinzip sehr treffend als eine »dingliche Fremderfahrung des Anderen«, weil derjenige, der etwas gibt, dadurch zugleich auch einen Teil seiner Persönlichkeit mit abgibt und derjenige, der eine Gabe empfängt, dadurch ein Stück des Anderen in sich aufnimmt. Vgl. Iris Därmann, Theorien der Gabe zur Einführung, Hamburg: Junius, 2012, S. 22.

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naturels d’un des cocontractants, ou non assorti de clauses claires de révocation, est par le fait même réputé nul.« (PE, 76) Allerdings zerstört das liberale Vertragsmodell jeden Sinn für Gemeinschaft, da es den Rechten des Individuums einen höheren Stellenwert beimisst als seinen Pflichten gegenüber der Gesellschaft. Am Beispiel von Bruno zeigt der Roman, welche Auswirkungen dies für die Sozialbeziehungen der Menschen haben kann. Wie die meisten seiner Zeitgenossen ist Bruno davon überzeugt, dass ihm gewisse »Rechte« zustehen. Auf dem Campingplatz beobachtet er eine Gruppe junger Mädchen beim Duschen. Obwohl ihm bewusst ist, dass sein Verhalten unmoralisch ist, spielt er dennoch mit dem Gedanken, sich vor den Augen der Mädchen auszuziehen: »Il avait le droit d’enlever son caleçon, d’aller attendre près des douches. Il avait le droit d’attendre pour prendre une douche« (PE, 105, meine Hervorhebung). Wenig später beobachtet er ein Paar beim Sex in einem Whirlpool. Abermals beharrt er auf seinem Recht, den Whirlpool mitbenutzen zu dürfen: »›C’est mon droit…‹ pensa Bruno avec rage. Il retira rapidement ses vêtements, pénétra dans le jacuzzi« (PE, 138, m.H.). Immerhin lernt er bei dieser Gelegenheit seine spätere Freundin Christiane kennen. Nachdem die beiden ein Paar geworden sind, verbringen sie mehrere Wochen in Südfrankreich. In den Dünen von Cap d’Agde verfasst Bruno einen Erlebnisbericht, in dem er seine Beobachtungen über die dort praktizierte Freizügigkeit festhält. Für Bruno handelt es sich dabei um die Verwirklichung einer konkreten Utopie. Ihm zufolge verfolgt der Ort ein humanistisches Menschheitsideal, das nach dem Kant’schen Prinzip des guten Willens organisiert ist.173 In seinem Erlebnisbericht bezeichnet Bruno das Strandcamp als »le lieu adéquat d’une proposition humaniste, visant à maximiser le plaisir de chacun sans créer de souffrance morale insoutenable chez personne« (PE, 220). Die Atmosphäre, so notiert er, sei geprägt von gegenseitigem Respekt und Rücksichtnahme. Jeder dürfe sich an den sexuellen Handlungen beteiligen und niemand werde ausgeschlossen, denn alle verbinde das gemeinsame Ziel eines größtmöglichen sexuellen Vergnügens (»plaisir«). Bruno beschreibt das hier praktizierte Modell der Freizügigkeit in Analogie zum liberalen Gesellschaftsmodell als eine »sexualité social-démocrate« (PE, 222). Die besondere Faszinationskraft dieses Modells beruhe darauf, dass sich alle Mitglieder durch einen »Vertrag« verpflichteten: »Cette attitude respectueuse et légaliste, assurant à chacun, s’il remplit les termes du contrat, de multiples moments de jouissance paisible, semble en tout cas disposer d’un pouvoir de conviction puissant, puisqu’elle s’impose sans difficulté, et cela en dehors du moindre code explicite, aux éléments minoritaires présents sur la station (bœufs frontistes languedociens, délinquants arabes, Italiens de Rimini).« (PE, 222) Durch die gegenseitige Vertragsbindung entfalle die Notwendigkeit einer übergeordneten Moral, die Grenzüberschreitungen sanktioniert und Tabubrüche unter Strafe stellt. In einem solchen Vertragsmodell sind moralische Gesetze nicht bindend, weil allen 173

Brunos Aufsatz trägt den Titel »Pour une esthétique de la bonne volonté« (PE, 215). Allein die Wahl dieses Titels deutet darauf hin, dass seine Darstellung nur mit Vorsicht zu genießen ist. Bezeichnenderweise wird sein Text später von der Zeitschrift Esprit abgelehnt, und zwar »zu Recht« (PE, 215), wie der Erzähler eigens betont.

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Menschen – unabhängig davon, ob es sich um Rassisten des Front National, um kriminelle Migranten oder nervende Touristen handelt – dieselben unveräußerlichen »Rechte« zustehen. Der Roman selbst spart nicht an Ironie, um Brunos euphorische Beschreibung des Ortes zu relativieren. Während ihres Aufenthaltes in Cap d’Agde freunden sich Christiane und Bruno mit einem deutschen Pärchen an. Nach dem gemeinsamen Partnertausch beim Sex servieren Rudi und Hannelore Kirschwasser. Man versteht sich bestens und es fehlt lediglich ein Hund, wie Bruno anmerkt, dann wären sie »Le Club des Cinq« (PE, 219) aus der gleichnamigen Kinderbuchreihe von Enid Blyton. Die Ironie verkehrt die Utopie in ihr genaues Gegenteil. Während des Sexualaktes herrscht die meiste Zeit über eisiges Schweigen (»Aucune parole n’est échangée«) und dem basisdemokratischen Anschein zum Trotz existieren auch hier dieselben Ausschlussmechanismen wie andernorts: »Au Cap d’Agde comme ailleurs un individu obèse, vieillissant ou disgracieux sera condamné à la masturbation« (PE, 222). Bei näherer Betrachtung zeigen sich also deutliche Risse im Fundament der vermeintlichen Idylle. In einem System der absoluten Freizügigkeit, wie es Bruno vorschwebt, können die Sexualpartner beliebig wechseln. Ein solches System stellt keine moralischen Ansprüche, da es allein um die Maximierung des sinnlichen Vergnügens geht. In den SwingerClubs, die Christiane und Bruno später in Paris besuchen, gibt es keine Verbote oder Tabus. Alles ist erlaubt, bis hin zum Sadismus, solange die jeweiligen Handlungen im gegenseitigen Einvernehmen erfolgen.174 In einem streng monogamen System ist die Liebe dagegen nicht nur ein sinnlicher, sondern auch ein intellektueller Genuss, der nur durch die Vermittlung eines geliebten Wesens erreicht werden kann. Anders als das System der sexuellen Freizügigkeit stellt die romantische Liebe zwei moralische Anforderungen an die Liebenden, nämlich einerseits das Versprechen auf gegenseitige Treue und andererseits die Pflicht zur Erwiderung der Liebe. Ein solches Modell ist Bruno jedoch fremd, da er es nie gelernt hat, seine eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. Wenn die Romanfiguren bei Houellebecq unfähig zur Liebe sind, dann liegt dies daran, dass sie verlernt haben, vorbehaltlos und ohne Rücksichtnahme auf das eigene Begehren zu geben. Um die Liebe zu beginnen, bedarf es nämlich einer selbstlosen Geste, einer Art ersten Impuls, der den Gabentausch-Mechanismus in Gang setzt und die Liebe damit auf Erwiderung hoffen lässt. Christiane hat dieses Prinzip intuitiv verinnerlicht. Als Bruno ihr gegenüber bekennt, dass er nicht geglaubt habe, jemals eine Frau wie sie zu treffen, antwortet sie: »il faut un peu de générosité, il faut que quelqu’un commence« (PE, 200). Im Whirlpool lebt Christiane diese Großzügigkeit vor, indem sie Bruno vollkommen unvermittelt befriedigt. Bruno selbst beschreibt diesen Moment später wie folgt: »Il n’y avait aucun élément

174

In Plateforme besuchen Michel und seine Freundin Valérie einen Swinger-Club in Paris. Dort treffen sie auf eine Bekannte, die in den sadistischen und masochistischen Praktiken der Besucher nichts Verwerfliches erkennen will: »À partir du moment où il y a libre consentement des participants, je ne vois pas le problème. C’est un contrat, c’est tout.« Valérie hingegen empfindet das, was sie an diesem Ort erlebt, als abstoßend und erwidert der Bekannten: »Je ne crois pas qu’on puisse librement consentir à l’humiliation et la souffrance. Et même si c’est le cas, ça ne me paraît pas une raison suffisante.« Vgl. Michel Houellebecq, Plateforme, Paris: Flammarion, 2001, S. 182.

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de séduction, c’était quelque chose de très pur« (PE, 142). Tatsächlich erfolgt die Bereitschaft zum Sex sehr schnell und ohne vorbereitende Kommunikation oder Verführung. Kurz zuvor hat Christiane sogar noch Sex mit einem anderen Mann. Die konstatierte »Reinheit« kann sich also nicht auf den Liebesakt selbst beziehen, zumal dieser in unverhohlen deutlichen Worten beschrieben wird. Man sollte sich von der obszönen Darstellungsweise jedoch nicht täuschen lassen. Denn die pornografischen Bilder sollen den Leser »in die Falle locken«, wie Thomas Klinkert schreibt, und ihn vergessen lassen, dass sie »in einem widersprüchlichen Verhältnis zu der epistemologischen Reflexivität des Textes stehen, ebenso wie zu den kulturpessimistischen Anschauungen des Erzählers.«175 Wenn Bruno das Ereignis dennoch als »rein« bezeichnet, so meint er damit offenbar den Umstand, dass Christiane ihm etwas gibt, ohne ihrerseits etwas von Bruno zu verlangen. Man kann dem Autor vorwerfen, dass seine Darstellung der Sexualität und sein Frauenbild einem männlichen Phantasma entspringen. Allerdings führt Houellebecq seine Leserinnen und Leser dabei in vielen Fällen gezielt hinters Licht. Dies lässt sich ebenfalls an der Figur von Christiane belegen. Nach dem Liebesakt im Whirlpool erzählt sie Bruno von der gescheiterten Ehe mit ihrem Ex-Mann, den sie nahezu abgöttisch verehrt hatte: »J’étais très amoureuse de mon mari. Je caressais, je léchais son sexe avec vénération ; j’aimais le sentir en moi. J’étais fière de provoquer ses érections, j’avais une photo de son sexe dressé, que je conservais tout le temps dans mon portefeuille ; pour moi c’était comme une image pieuse, lui donner du plaisir était ma plus grande joie. Finalement, il m’a quitté pour une plus jeune.« (PE, 142) Es ist kaum vorstellbar, dass eine Frau so hingebungsvoll liebt, dass sie sogar ein Bild vom erigierten Penis ihres Mannes wie eine Reliquie (»comme une image pieuse«) mit sich führt. In der Tat wirkt es, als handle es sich hierbei um die »groteske Übersteigerung einer Weiblichkeitsimagination«176 , wie man dem Autor verschiedentlich auch vorgeworfen hat. Allerdings ist die zitierte Passage dermaßen überspitzt, dass sie beinahe komisch wirkt. Die Komik resultiert aus dem Kontrast zwischen dem profanen Gegenstand einerseits und dem religiösen Vokabular andererseits. Die religiöse Symbolik macht aus Christiane eine Heilige, die sich mitsamt ihrem Körper für die Männer hingibt (»lui donner du plaisir était ma plus grande joie«). Man erkennt die Provokation: Christiane ist eine Art weiblicher Christus, was durch die Namensgebung ja in gewisser Weise auch angedeutet wird. Wie Jesus opfert sie sich für ihre Nächsten auf und wird zum Dank dafür verraten. Der letzte Satz bringt dies auf eindrucksvolle Art und Weise zum Ausdruck. Auf die hyperbolische Reihung parataktischer Kurzsätze, die allesamt mit dem Personalpronomen der ersten Person Singular (»je«) beginnen, folgt im letzten Satz ein Wechsel des grammatikalischen Subjekts (»il«). Dadurch kann die finale Aussage als Kritik am männlichen Geschlecht gelesen werden. Obwohl sich Christiane bis zur Erschöpfung aufopfert, wird sie am Ende von ihrem Mann verlassen.

175 176

Thomas Klinkert, Epistemologische Fiktionen, a.a.O., S. 332. Katharina Chrostek, Utopie und Dystopie bei Michel Houellebecq, Frankfurt a.M.: Lang, 2011, S. 95.

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Der Bericht von Christianes gescheiterter Ehe verfolgt also nicht das Ziel, eine männliche Wunschphantasie zu befriedigen; sie hat vielmehr demonstrativen Charakter, denn sie soll zeigen, dass allein Frauen dazu imstande sind, wahrlich selbstlos zu lieben. Gleichsam zum Beweis dieser These wird Christiane am Ende des Romans ein weiteres Mal verraten. Als sie nach ihrem Unfall an den Rollstuhl gefesselt ist, erklärt Bruno, dass er sich um sie kümmern werde. Doch dann meldet er sich mehrere Tage lang nicht zurück. Durch sein Zögern gibt er Christiane zu verstehen, dass ihre Liebe ihm nichts bedeutet. Darin besteht seine Schuld, sein »Fehler«, wie Bruno am Ende selbst erkennt: »Le corps de Christiane ne pourrait plus aimer, il n’y avait plus aucun destin possible pour ce corps et c’était entièrement de sa faute« (PE, 249). Umgekehrt verkörpert Christiane (wie übrigens auch Michels Großmutter) aufgrund ihrer Bereitschaft, sich für andere hinzugeben, das Ideal einer selbstlosen Liebe. Die Frauen sind darum letzten Endes auch die moralischen Sieger, während die Männer die eigentlichen »Schurken« des Romans sind. Bruno lässt Christiane sitzen, nachdem sie ein Pflegefall geworden ist; und Michel denkt nicht einmal daran, dass seine Jugendliebe Annabelle mit ihm nach Irland reisen könnte. Annabelle ist neben Christiane die eigentliche »Heldin« des Romans. Sie repräsentiert all jene Eigenschaften (wie Liebe, Mitgefühl und Güte), die dem Roman zufolge das Wesen des Weiblichen schlechthin ausmachen.177 Sie ist ein wahrer Engel, muss aber im Laufe des Romans viel Unglück über sich ergehen lassen, was sie zu einer überaus tragischen Figur macht. Ihre außergewöhnliche Schönheit wird ihr bereits in jungen Jahren zum Verhängnis. Da sie Michels schüchternes Verhalten als Desinteresse an ihrer Person deutet, beginnt sie eine Beziehung mit dem jungen David di Meola, wird ungewollt schwanger und muss abtreiben. Jahre später wird sie ein weiteres Mal sitzengelassen und treibt erneut ab. Dass sie dennoch fest an die Liebe glaubt, kommentiert der Erzähler wie folgt: »Il était peu vraisemblable, aujourd’hui, qu’une fille de dix-sept ans puisse faire preuve d’une telle naïveté ; il était surtout peu vraisemblable, aujourd’hui qu’une jeune fille de dix-sept ans accorde une telle importance à l’amour« (PE, 282). Auch das späte Liebesglück, das sie in der Beziehung mit Michel findet, ist nur von kurzer Dauer, da Annabelle an Gebärmutterkrebs erkrankt und wegen des erhöhten Risikos eine dritte Abtreibung vornehmen lassen muss. Damit sind ihre Hoffnungen, doch noch ein Kind zu bekommen, endgültig zerstört. Als die Ärzte bei einer Routinekontrolle schließlich neue Metastasen entdecken, schluckt sie eine Überdosis Medikamente, fällt ins Koma und stirbt wenige Tage später im Beisein ihrer Familie im Krankenhaus. Ihr Selbstmord stürzt Michel in eine tiefe Krise, zumal er sich selbst die Schuld an ihrem Tod gibt: »Ce n’était pas entièrement de leur faute, songeait-il ; ils avaient vécu dans un monde pénible, un monde de compétition et de lutte, de vanité et de violence ; ils n’avaient pas 177

Vgl. hierzu auch die Aussage des Autors in einem Interview: »Oui, c’est une espèce d’icône. Mais je ne cherche pas la vraisemblance, à la base. Ce qui compte dans un personnage comme Annabelle, je dirais même dans tous mes personnages féminins, c’est que ce soit visualisable. Cela n’exclut pas un certain flou dans ma description physique du personnage, mais il faut pourtant que le lecteur ait l’impression de le voir.« Zit. nach: Martin de Haan, »Entretien avec Michel Houellebecq«, in: Wesemael, Sabine van (Hg.), Michel Houellebecq, Amsterdam/New York: Rodopi, 2004, S. 9-27, hier S. 24.

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Wirklichkeit im Wandel

vécu dans un monde harmonieux. D’un autre côté ils n’avaient rien fait pour modifier ce monde, ils n’avaient nullement contribué à l’améliorer.« (PE, 284) Wenn Annabelle und Christiane am Romanende sterben, so ist dies nicht, wie man verschiedentlich gemeint hat, eine gerechte »Strafe« für ihr vermeintlich sündhaftes Leben.178 Die beiden Frauen müssen vielmehr sterben, weil sie zu gut sind für die Welt, in der sie leben. Michels Schuldeingeständnis und seine späte Einsicht, dass weder er noch Annabelle etwas getan haben, um diese Welt zu verbessern, wird ihn in seinen letzten Lebensjahren dazu bringen, all seine Anstrengungen darauf zu konzentrieren, die menschliche »Natur« dahingehend zu verändern, dass die Möglichkeit der Liebe wieder gegeben ist.

4.3.4

Die drei Geschichtsebenen des Romans

Die Gründe für die Liebesunfähigkeit der Protagonisten werden im Roman ausführlich diskutiert. Dabei wird das individuelle Schicksal von Michel und Bruno aufs Engste mit dem Schicksal einer ganzen historischen Epoche verknüpft. Darin überschneiden sich die Romanprojekte von Balzac und Houellebecq. In seinem Vorwort zur Comédie humaine hatte Balzac den Anspruch formuliert, eine Sittengeschichte Frankreichs (»histoire des mœurs«) in der Zeit von der Französischen Revolution bis zur Juli-Monarchie zu schreiben. Houellebecq überträgt dieses Projekt auf die französische Gesellschaft des 20. Jahrhunderts. Sein Roman schildert die »évolution des mœurs« (PE, 40) von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die Gegenwart. Im Unterschied zu Balzac beschränkt er sich dabei aber nicht nur auf Frankreich; vielmehr versucht er, historische Entwicklungslinien nachzuzeichnen, die für die liberalen Gesellschaften des Westens insgesamt charakteristisch sind. Gemeinsam ist den beiden Autoren wiederum, dass sie ihre Gesellschaftskritik vor dem Hintergrund bestimmter Krisenmomente entwickeln: Bei Balzac sind dies die sozialen Revolutionen von 1789 und 1830, bei Houellebecq die sexuelle Revolution von 1968 und ihre Folgewirkungen.179 Aus Sicht von Balzac

178

179

Diese These vertritt beispielsweise Dougals Morrey. Ihm zufolge werden die Frauen in den Romanen für das Unglück und die sexuelle Misere der männlichen Protagonisten verantwortlich gemacht und müssen darum mit ihrem Leben bezahlen. Für Morrey ist dies offenbar ein Beweis für die frauenverachtende Einstellung des Autors. So schreibt er: »In the tradition of true misogynistes, Houellebecq’s narrators define women immediately and exclusively by their sexuality and at the same time appear angered or offended by that sexuality.« Vgl. Douglas Morrey, Michel Houellebecq, a.a.O., S. 16. Dieser Einschätzung ist jedoch aus mehreren Gründen zu widersprchen. Erstens ist es schlichtweg falsch, dass ausnahmslos alle weiblichen Charaktere in den Romanen sterben. Es gibt durchaus Frauen wie Olga in La carte et le territoire oder Esther in Plateforme, die dieses Schicksal nicht teilen. Zweitens übersieht Morrey, dass die männlichen Protagonisten in der Regel sehr viel schlechter abschneiden als ihre weiblichen Partner. Und schließlich hat der Autor einer solchen Interpretation selbst widersprochen: »C’est parfaitement idiot. Il n’y a jamais de punition dans mes livres. En général, les gens qui meurent n’expient rien, ils meurent, c’est tout.« Zit. nach: Martin de Haan, »Entretien avec Michel Houellebecq«, a.a.O., S. 15. »Si les romans de Houellebecq sont légitimement comparés à ceux de Balzac, c’est, au plus profond, parce qu’ils sont, eux aussi, l’histoire de familles décomposées après avoir traversé un épisode révolutionnaire. 1968 est une révolution libérale comme le furent 1789 et 1830. Houellebecq

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

hat die Französische Revolution ein ungeheures Energiepotenzial in Form von Leidenschaften freigesetzt, das durch keine übergeordnete Instanz (Monarchie, Staat, Kirche) mehr kontrolliert werden kann. In der bürgerlichen Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts kennt das Begehren keine Grenzen. Auch die Zerstörung der Familie (und damit der großen »Namenslinien« der französischen Nation) ist für Balzac ein Werk der demokratischen Revolutionen. Diese Entwicklung setzt sich in den Romanen von Houellebecq fort, wie nun im Folgenden ausführlicher gezeigt werden soll. Innerhalb der Erzählung können drei verschiedene Geschichtsebenen unterschieden werden: Auf der ersten Ebene stehen die individuellen Lebensgeschichten von Bruno und Michel. Ihre Familienchronik reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück und erweist sich als ausgesprochen komplex, da sie zwar eine gemeinsame Mutter, aber unterschiedliche Väter haben.180 Auf der zweiten Ebene werden die Biografien der beiden Protagonisten mit der Sozial- und Mentalitätsgeschichte Frankreichs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verknüpft. Nahezu beiläufig werden im Verlauf der Handlung Ereignisse der realen Zeitgeschichte in den Diskurs der Erzählung eingesponnen.181 Auf diese Weise entsteht ein relativ umfassendes Porträt der französischen Gesellschaft in der Zeit von 1950 bis ungefähr 1990. Auf einer dritten Ebene wird die fran-

écrit après 1968 omme Balzac écrit après 1830.« Bruno Viard, Les tiroirs de Michel Houellebecq, a.a.O., S. 25. 180 Die Familiengeschichte der beiden Protagonisten erinnert an den autobiografischen Roman Le premier homme von Albert Camus. Dieser unvollständig gebliebene Roman, der erst posthum veröffentlicht wurde, beginnt ebenfalls mit der Geschichte der Großeltern. Kurz nach der Jahrhundertwende kommen die Großeltern des Erzählers als Siedler in die algerische Kolonie. Der Vater stirbt während des Ersten Weltkriegs, weshalb der Sohn in ärmlichen Verhältnissen bei seiner Mutter aufwächst. Ein wohlgesinnter Lehrer fördert den Jungen und vermittelt ihm einen Studienplatz in Paris. Die Familiengeschichte der beiden Halbbrüder aus Houellebecqs Roman weist einige Parallelen auf. Brunos Großvater wird 1882 als Sohn einer Familie von Analphabeten und Bauern auf Korsika geboren. Eigentlich wäre ihm das einfache Leben seiner Vorfahren beschieden, wie der Erzähler anmerkt, doch ein Lehrer erkennt das besondere Talent des Jungen und verschafft ihm ein Stipendium für die Polytechnische Hochschule. Nach dem Studium arbeitet der Großvater eine Zeitlang als Ingenieur in Algerien, wo er seine spätere Frau, eine Tabakwarenhändlerin, kennenlernt, deren Urgroßeltern einst als Siedler in die französische Kolonie gekommen waren. Aus der Ehe entspringt eine Tochter, Janine, die Mutter von Michel und Bruno. Über den Lebensweg von Brunos Großvater heißt es im Roman, er sei einigermaßen »symptomatisch« (PE, 24) für so viele junge Männer, denen das Bildungssystem der Dritten Republik einen unverhofften sozialen Aufstieg ermöglicht habe. 181 Erwähnt werden u.a. die Entstehung der kommunistischen Volksrepublik China im Jahr 1960 (PE, 30) und die Besetzung Tibets durch Maos Rote Garden (PE, 31), der Ausbruch des algerischen Unabhängigkeitskriegs 1954 und die berühmte Aussage »L’Algérie, c’est la France« des damaligen französischen Innenministers François Mitterrand (PE, 40), die Veröffentlichung von Sgt Peppers und Days of Future Passed im Jahr 1967 (PE, 84), die Mondlandung von Apollo 11 am 21. Juli 1969 und die Live-Übertragung von Niels Armstrongs ersten Schritten auf dem Mond (PE, 34), die Gründung der Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo im November 1970 (PE, 55) und das Erscheinen der ersten Ausgabe von Emmanuelle im Sommer 1974 (PE, 68) und schließlich der Hinweis auf ein Buch des französischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing mit dem Titel Démocratie française aus dem Jahr 1976, in dem dieser von der Entstehung einer »vaste classe moyenne aux contours peu tranché« (PE, 64) spricht.

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zösische Sozialgeschichte nun aber ihrerseits wieder in den Erklärungszusammenhang einer weitaus umfassenderen Ideen- und Diskursgeschichte eingebettet. Die Ebene der Sozialgeschichte setzt mit der Nachkriegszeit ein. Diese erscheint im Roman als eine Übergangsphase, in der die Vernunftehe (»mariage de raison«) durch eine Liebesehe (»mariage d’amour«) abgelöst wird. Die 1950er Jahre werden als »véritable âge d’or du sentiment amoureux« (PE, 54) bezeichnet. Auch Michel und Annabelle wachsen im Glauben an die »große Liebe« (PE, 56) auf. Gegen Ende der 1960er Jahre verliert das Modell der Liebesheirat jedoch an Überzeugungskraft. In Zeitschriften und Magazinen entbrennt ein »ideologischer Kampf« (PE, 54) um die Frage, ob junge Mädchen vor der Ehe sexuelle Erfahrungen machen sollten. Parallel dazu verbreitet sich eine aus Nordamerika stammende »consommation libidinale de masse« (PE, 54) in den Gesellschaften Europas. Die Romanfiguren erleben diese Phase auf unterschiedliche Art und Weise. Während Michel und Annabelle die Auswirkungen der liberalisierten Sexualmoral erst spät zu spüren bekommen, sind Bruno und Christiane direkt davon betroffen. Janine Ceccaldi, die Mutter von Bruno und Michel, wird im Roman als eine »Vorreiterin« (PE, 25) der sexuellen Revolution beschrieben. Solche Vorreiter wirken als »accélérateur d’une décomposition historique« (PE, 26), das heißt sie tragen zwar zur Verbreitung neuer Ideen bei, sind jedoch nicht deren eigentliche Urheber.182 Die Kultur des New Age, die in den 1960er Jahren aus Kalifornien nach Europa dringt, begünstigt die Verbreitung dessen, was in der Folge als »sexuelle Befreiung« bezeichnet wird: »Il est piquant de constater que cette libération sexuelle a parfois été présentée sous la forme d’un rêve communautaire, alors qu’il s’agissait en réalité d’un nouveau palier dans la montée historique de l’individualisme. Comme l’indique le beau mot de ›ménage‹, le couple et la famille représentaient le dernier îlot de communisme primitif au sein de la société libérale. La libération sexuelle eut pour effet la destruction de ces communautés intermédiaires, les dernières à séparer l’individu du marché. Ce processus de destruction se poursuit de nos jours.« (PE, 116, Hervorhebung im Original) Der Roman betrachtet die sexuelle Revolution nicht als Fortschritt, sondern als eine weitere Etappe im Siegeszug des Individualismus (»la montée historique de l’individualisme«). Die Generation von 1968 stellte die Institutionen von Ehe und Familie in Frage und proklamierte stattdessen das Recht auf individuelle Selbstverwirklichung.

182

Nicht der Einzelne entscheidet über den Verlauf einer Revolution, heißt es in einem Kapitelmotto aus dem ersten Teil des Romans, welches dem Cours de philosophie positive von Auguste Comte entnommen ist, sondern die Gesamtheit der sozialen Situation: »Dans les époques révolutionnaires, ceux qui s’attribuent, avec un si étrange orgueil, le facile mérite d’avoir développé chez leur contemporains l’essor des passions anarchiques, ne s’aperçoivent pas que leur déplorable triomphe apparent n’est dû surtout qu’à une disposition spontanée, déterminée par l’ensemble de la situation sociale correspondante« (PE, 68). Diese Regel gilt für soziale wie für wissenschaftliche Revolutionen gleichermaßen. Damit sich neue Ideen verbreiten können, müssen sie auf günstige Umweltbedingungen treffen. Das geistige Klima am Physikalischen Institut von Kopenhagen beispielsweise begünstigte die Entwicklung der Quantentheorie. Und der Freiheitsdrang der 68erGeneration trug dazu bei, dass die libertären Ideen der New Age-Bewegung in Westeuropa auf breite Resonanz stießen.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

Der Roman erkennt darin jedoch keinen Freiheits- und Emanzipationsgewinn; die gesellschaftliche Liberalisierung habe vielmehr den letzten Zufluchtsort des Menschen (»le dernier îlot de communisme primitif«) vor der zunehmenden Macht des »Marktes« zerstört. Das Ideal einer bürgerlichen Kleinfamilie (»ménage«), wie es die Großeltern von Bruno und Michel verkörpern, ist für die nachfolgende Generation nur noch in der Erinnerung präsent. Der Roman zeichnet die einzelnen Etappen dieses Prozesses minutiös nach. Entscheidende Wegmarken sind die Verschreibung der Pille auf Rezept und das Gesetz zur Legalisierung der Verhütung (PE, 116). Allein im Jahr 1974 werden binnen weniger Monate drei weitere Gesetze verabschiedet, die allesamt in eine ähnliche Richtung weisen.183 Eine wichtige Rolle neben der Gesetzgebung spielt auch die Kultur. Stellvertretend dafür stehen drei Kinofilme, die eine von Sex und Gewalt geprägte Jugendkultur propagieren, nämlich Stanley Kubricks A Clockwork Orange (1972), Brian de Palmas Horror-Musical Phantom of the Paradise (1974) und die Komödie Les Valseuses (1974) des französischen Regisseurs Bertrand Blier. Aber nicht nur in kultureller Hinsicht markiert das Jahr 1974 einen Wendepunkt; auch für die Romanfiguren stellt es eine wichtige Zäsur in ihrem Leben dar. Im Sommer 1974 hat Bruno zum ersten Mal Sex mit einem Mädchen, Annabelle küsst erstmals einen Jungen und selbst bei Michel deuten sich erste Anzeichen einer einsetzenden Adoleszenz an. Das persönliche Schicksal der Romanfiguren ist von den soziokulturellen Entwicklungen somit direkt betroffen. Allerdings wird die »libération des mœurs« (PE, 69) gerade nicht als »Befreiung« gefeiert. Der Roman beschreibt vielmehr drei negative Folgewirkungen der gesellschaftlichen Liberalisierung. Eine erste Folgewirkung betrifft die versteckten Ausschlussmechanismen des neuen Sexualitätsdispositivs. In einem System der absoluten Freizügigkeit, wo Liebespartner beliebig wechseln können, entscheidet vor allem körperliche Attraktivität über Erfolg und Misserfolg bei der Partnersuche.184 Darum hat sich in den liberalen Gesellschaften Westeuropas seit etwa 1970 ein regelrechter Körperkult herausgebildet. Nicht zufällig fallen die Gesetzesreformen des Jahres 1974 und die Eröffnung des ersten Fitnessstudios in Paris zeitlich zusammen (PE, 69). Als Ort der körperlichen Selbstoptimierung steht das Fitnessstudio stellvertretend für die Unterwerfung der Subjekte unter die Logik des Marktes. Infolge dieses neuen Körperkultes verändert sich auch die Rolle des Begehrens.

183

Dazu gehört erstens ein Gesetz zur Herabsetzung der Volljährigkeit von 21 auf 18 Jahre; zweitens ein Gesetz, durch das der Straftatbestand des Ehebruchs aus dem bürgerlichen Gesetzbuch gestrichen und Scheidungen im gegenseitigen Einvernehmen ermöglicht wurden; und drittens ein Gesetz, das Schwangerschaftsabbrüche bis zur zehnten Woche entkriminalisierte (PE, 69). 184 Bereits in Extension du domaine de la lutte hatte der Ich-Erzähler die These aufgestellt, wonach die sexuelle Revolution nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer hervorgebracht habe. Von der allgemeinen Freizügigkeit profitierten demnach vor allem diejenigen, die über ›erotisches Kapital‹ verfügen, während sich alle anderen in einer verschärften Konkurrenzsituation wiederfänden. In Les particules élémentaires führt Houellebecq diese These weiter aus: Wenn Jugendlichkeit und körperliche Attraktivität zur alleinigen Währung auf dem Markt der Körper werden, dann führt dies zum Ausschluss derer, die diese Kriterien nicht erfüllen. Wie viele ihrer Generation fühlen sich Michel und Bruno darum bereits mit zwanzig Jahren alt und je älter sie werden, desto mehr schämen sie sich dafür (PE, 121).

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In den liberalen Gesellschaften Westeuropas wird das Begehren permanent durch äußere Einflüsse und künstliche Reize stimuliert. Diese Tendenz wird durch die Werbung und die globale Unterhaltungsindustrie noch zusätzlich verstärkt. Wie schon bei Balzac wird die französische Gesellschaft in Houellebecqs Roman buchstäblich »zerfressen« von ihrem eigenen Begehren: »Dans un monde qui ne respecte que la jeunesse, les êtres sont peu à peu dévorés« (PE, 112). Brunos unstillbarer Appetit ist ein Symptom dieses entfesselten Begehrens. In dieser Hinsicht ist er ein Nachfahre des armen Verwandten Pons. Wie dieser kompensiert er seine unbefriedigte Libido durch Völlerei. Seine erotomanischen Neigungen verbinden ihn darüber hinaus mit dem Baron Hulot. Als Erwachsener kann Bruno seine sexuellen Fantasien nur mehr in Swinger-Clubs befriedigen. Das dort praktizierte Sexualitätsmodell bezeichnet der Erzähler als »system sadien« (PE, 244), weil es sich hierbei um Orte einer permanenten Grenzüberschreitung handelt. Die massenmediale Verbreitung dieses Sexualmodells durch die Träger der »offiziellen Kultur« (PE, 244), allen voran der Werbung und der Pornografie, senkt jedoch gleichzeitig auch die Hemmschwelle für Grenzüberschreitungen in anderen Bereichen. Dies hat zur Folge, dass Tabubrüche nicht länger sanktioniert werden.185 Die Entkoppelung des sexuellen Begehrens von jeglicher Moral führt darum drittens zu einem Anstieg der Gewalt. Dem Roman zufolge machen sich seit Mitte der 1970er Jahre in allen westlichen Gesellschaften die ersten Anzeichen physischer Gewalt bemerkbar: »La violence physique, manifestation la plus parfaite de l’individuation, allait réapparaître en Occident à la suite du désir« (PE, 154). Wie schon in seinem Debütroman erfindet Houellebecq auch dieses Mal eine Stellvertreterfigur, um diese Romanthese zu plausibilisieren. In vorliegenden Fall ist es ein fiktiver kalifornischer Staatsanwalt, der seine persönlichen Erfahrungen als Ermittler in einer brutalen Mordserie mit soziologischen Erkenntnissen zusammenführt und daraus eine »Theorie« über den Ursprung der Gewalt ableitet. Bei den Urhebern dieser Mordserie handelt es sich um Anhänger einer satanistischen Sekte, die in den 1980er Jahren eine Reihe von grausamen Verbrechen begangen haben sollen.186 Der Staatsanwalt vertritt die These, dass die Verbrechen

185

Es ist kein Zufall, dass Bruno immer wieder in Bereiche vordringt, die von der Gesellschaft tabuisiert werden. Als Schüler masturbiert er in einem öffentlichen Zugabteil (PE, 63). Auf dem Campingplatz beobachtet er eine Gruppe junger Mädchen beim Duschen (PE, 105). In der Schule macht er rassistische Bemerkungen über einen schwarzen Schüler (PE, 192) und präsentiert einem Mädchen aus der elften Klasse nach dem Unterricht sein Genital (PE, 197). All diese Beispiele sollen zeigen, dass die Entfesselung des Begehrens zu einer permanenten Grenzüberschreitung führt und immer weitere Tabubrüche in anderen Bereichen nach sich zieht. 186 Zu den Verantwortlichen dieser Mordserie gehört auch der junge David di Meola, den Bruno und Christiane im Sommer 1975 kennenlernen. David ist der Sohn von Francesco di Meola, dem Gründer einer Hippie-Kommune in Südfrankreich und späteren Geliebten von Janine Ceccaldi. Nach dem Tod seines Vaters reist David nach Kalifornien, wo er in den Umkreis einer satanistischen Sekte gerät. Die Anhänger dieser Sekte führen rituelle Tieropfer durch und organisieren Abtreibungspartys. Mit der Zeit werden die Gewaltexzesse immer grausamer. Die Sektenmitglieder filmen sich dabei, wie sie ihre Opfer foltern und anschließend töten. Die Gruppe selbst weist einige Ähnlichkeiten zu der sogenannten »Manson Family« auf, einer sektenähnlich strukturierten HippieKommune, die 1969 in der Nähe von Los Angeles mehrere rassistisch motivierte Morde verübt hat. Charles Manson, der Anführer dieser Sekte, wurde 1971 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt

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nur möglich waren, weil die sexuelle Revolution ein ungeheures Maß an »sadistischer« Energie freigesetzt habe: »Après avoir épuisé les jouissances sexuelles, il était normal que les individus libérés des contraintes morales ordinaires se tournent vers les jouissances plus larges de la cruauté ; deux siècles auparavant, Sade avait suivi un parcours analogue. En ce sens, les serial killers des années quatre-vingt-dix étaient les enfants naturels des hippies des années soixante.« (PE, 211) Grausamkeit und körperliche Gewalt sind demnach eine logische Konsequenz der gesellschaftlichen Liberalisierung. Nachdem die Sexualität von allen moralischen Tabus »befreit« wurde, muss sich das Begehren notwendigerweise andere Quellen der Triebbefriedigung suchen. Genau wie Balzac wird die gesellschaftliche Entwicklung Frankreichs auch bei Houellebecq in einen größeren geschichtsphilosophischen Zusammenhang gestellt. Eine solche Vorgehensweise ist freilich nur auf dem Weg der Abstraktion möglich. Aus diesem Grund entwirft der Roman neben der individuellen Lebensgeschichte der beiden Protagonisten und der französischen Sozialgeschichte im 20. Jahrhundert noch eine weitere Geschichtsebene, auf der sich jene »mutations métphysiques« vollziehen, die eine »transformations radicales et globales de la vision du monde adoptée par le plus grand nombre« (PE, 7) zur Folge haben.

4.3.5

Das Verhältnis von Sozial- und Ideengeschichte

Da diese Transformationen mit einer grundlegenden Revision des jeweils geltenden Weltbildes einhergehen, vollziehen sie sich nicht »sans avoir été annoncée, préparée et facilitée au moment de leur occurence historique« (PE, 179). Im Prolog erfahren wir, dass es in der Geschichte der Menschheit bislang erst drei solche Transformationen gegeben hat.187 Michel ist der Wegbereiter für die dritte »mutation métaphysique«, die sich jedoch erst in der fiktiven Zukunft des Romanschlusses ereignet. Die erste große

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und starb 2017 im Gefängnis. Vgl. hierzu David Edward Cooper, The Manson Murders: A Philosophical Inquiry, Cambridge: Schenkman, 1974. Die Rede von den drei »mutations métaphysiques« erinnert an das »Dreistadienmodell« des französischen Soziologen Auguste Comte. In seinem 1842 abgeschlossenen Hauptwerk Cours de philosophie positive entwickelt Comte ein allgemeines Fortschrittsmodell des menschlichen Geistes. Nach Comte durchlaufen die einzelnen Wissensbereiche drei Zustände, nämlich den theologischen (oder fiktiven), den metaphysischen (oder abstrakten) und schließlich den wissenschaftlichen (oder positiven) Zustand. Der Positivismus als dritte und letzte Stufe dieses evolutionären Entwicklungsmodells bildet nach Comte die höchste Form der Philosophie überhaupt. Die positivistische Grundannahme lautet, dass der Mensch weder das Wesen noch den Ursprung oder Zweck der ihn umgebenden Dinge erkennen kann. Er kann lediglich versuchen, die sichtbaren Erscheinungen zu studieren, um sinnvolle Aussagen über die Beziehungen zwischen den Phänomenen zu formulieren. Comte möchte die Soziologie in den Rang einer exakten Wissenschaft erheben. Dazu muss sie ihm zufolge die Gesetze der sozialen Natur aufdecken. Denn erst das Wissen um Gesetzmäßigkeiten erlaubt es, Prognosen über die Zukunft aufzustellen. Die Anerkennung der sozialen »Tatsachen« ist für Comte das Resultat eines langwierigen Lernprozesses, den die Menschheit zunächst als Ganzes durchlaufen muss. Vgl. hierzu Raymond Aron, Les étapes de la pensée sociologique. Montesquieu, Comte, Marx, Tocqueville, Durkheim, Pareto, Weber, Paris: Gallimard, 1967, S. 77-140.

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Revolution erfolgte bereits in der Antike, als die heidnische Kultur durch das Christentum abgelöst wurde. Das christliche Weltbild wurde im Laufe der Jahrhunderte jedoch allmählich durch eine materialistische Naturauffassung verdrängt.188 Diese Entwicklung bereitete die zweite metaphysische Revolution vor, nämlich die Entstehung der modernen Wissenschaften im 19. Jahrhundert. Michel erklärt seinem Halbbruder Bruno in einem längeren Gespräch, das um den Roman Brave New World (1932) von Aldous Huxley kreist, die ganze Tragweite dieser zweiten metaphysischen Transformation: »La mutation métaphysique ayant donné naissance au matérialisme et à la science moderne a eu deux grandes conséquences : le rationalisme et l’individualisme. L’erreur d’Huxley est d’avoir mal évalué le rapport de forces entre ces deux conséquences. Spécifiquement, son errerur est d’avoir sous-estimé l’augmentation de l’individualisme produite par une conscience accrue de la mort. De l’individualisme naissent la liberté, la sensation du moi, le besoin de se distinguer et d’être supérieur aux autres.« (PE, 160) Michel wirft Huxley vor, ein unverbesserlicher Optimist gewesen zu sein, der davon überzeugt war, dass die Menschheit dank der Wissenschaft auf eine bessere Zukunft zusteuere. Er liest den Roman Brave New World gerade nicht als eine totalitäre Gesellschaftsvision, sondern als Utopie, zumal Huxley in seinem Roman Island (1962) dreißig Jahre später erneut eine Gesellschaftsutopie entworfen habe. Außerdem soll der Roman maßgeblich dazu beigetragen haben, die libertären Ideale der New Age-Kultur zu verbreiten.189 Auch Bruno ist der Ansicht, dass Huxley in seinem Roman keine dystopische Zukunft beschreibe, sondern das »Paradies« (PE, 157). Im Unterschied zu Bruno hält Michel dies jedoch für gefährlich. Mit wachsendem Ekel (»avec un dégoût croissant«) fasst er die Überlegungen des Schriftstellers zusammen. Er widerspricht Huxley aus zwei Gründen: Zum einen lasse der Individualismus bei den Menschen das Bedürfnis entstehen, sich von anderen abzugrenzen; und zum anderen verstärke er den Konkurrenzkampf auf dem Feld der Sexualität, sofern diese erst einmal von der Funktion der Fort-

188 Diesen Gedanken formuliert der Autor unter anderem auch in einem von ihm verfassten Vorwort zum Sammelband eines Kolloquiums, das sich der Aktualität von Auguste Comte widmet. Darin setzt sich Houellebecq intensiv mit Überlegungen des französischen Soziologen zur Funktion der Religion auseinander. Über Jahrhunderte hinweg, so schreibt er, habe die christliche Religion als universelles Erklärungsmodell (»système d’explication du monde«) gedient. Das Christentum prägte nicht nur das mittelalterliche Verständnis vom Kosmos, sondern auch die politischen und sozialen Systeme, die sozialen Hierarchien, die ethischen Wertmaßstäbe und das ästhetische Empfinden. Mit dem Siegeszug des Rationalismus verloren die religiösen Weltdeutungsmuster aber zunehmend an Bedeutung und wurden in Folge dessen durch materialistische Erklärungen ersetzt. Damit gingen zwei wichtige Funktionen verloren, die bis dahin von der Religion erfüllt wurden: Erstens leitet die Religion die Menschen zu moralischem Handeln an und zweitens stiftet sie Gemeinschaft und Solidarität unter ihnen. Vgl. Michel Houellebecq, »Préliminaires au positivisme«, in: Bourdeau, Michel/Braunstein, Jean-François/Petit, Anne (Hg.), Auguste Comte aujourd’hui. Colloque de Cérisy (3-10 juillet 2001), Paris: Kimé, 2003, S. 7-12. 189 Unter den Anhängern der Hippie-Bewegung erfreute sich Huxleys Roman Island (nicht zuletz wegen der darin entworfenen Gesellschaftsutopie) großer Beliebtheit. Der Schriftsteller wird im Roman als »le véritable père spirituel du mouvement« (PE, 80) bezeichnet. Angeblich soll Francesco di Meola, der Geliebte von Brunos und Michels gemeinsamer Mutter, den Schriftsteller persönlich gekannt haben, bevor er im Süden von Frankreich eine eigene Hippie-Kommune gründet.

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pflanzung abgekoppelt sei. Aus dem Individualismus entspringen der Egoismus und das Begehren. Das Begehren (»désir«) wiederum ist – im Unterschied zum rein sinnlichen Vergnügen (»plaisir) – eine andauernde Quelle des Leidens, des Hasses und des Unglücks. Nahezu alle Gesellschaftsutopien – von Platon bis Huxley – hätten versucht, das menschliche Begehren zu unterdrücken, doch in der »société érotique-publicitaire« (PE, 161) von heute sei dies geradezu unmöglich: »Pour que la société fonctionne, pour que la compétition continue, il faut que le désir croisse, s’étende et dévore la vie des hommes« (PE, 161). Den Einwand seines Bruders, dass dieses Problem durch den Einsatz von Medikamenten und Drogen gelöst werden könnte, wie es Huxley in Brave New World im Übrigen auch angedeutet habe, lässt Michel nicht gelten. Vielversprechender erscheint ihm dagegen ein Vorschlag von Huxleys älterem Bruder Julian, einem britischen Biologen, Verhaltensforscher und späteren Generalsekretär der UNESCO. In seinem Buch What I dare to think (1931) bemühe sich Julian Huxley darzulegen, dass das Begehren nur durch die Religion im Zaum gehalten werden könne. Da mit dem Fortschritt der Wissenschaften aber alle Grundlagen der Religion zerstört wurden, versuche er ähnlich wie Auguste Comte eine neue Religion zu entwerfen, die mit dem wissenschaftlichen Zeitalter kompatibel sei. Letztlich sei Julian Huxley nämlich zutiefst davon überzeugt »qu’aucune société ne peut subsister sans religion« (PE, 161). Auch Michel teilt diese Einschätzung. Für ihn ist die Religion ein »mécanisme utile et ingénieux« (PE, 162), weil sie die Menschen unter dem Dach einer gemeinsamen Kirche zusammenbringe und so die negativen Folgen der Individualisierung eindämmen könne.190 Umgekehrt wird die mit der Aufklärung und dem Rationalismus einhergehende Säkularisierung kritisch beäugt. Der Erzähler bezeichnet den Aufstieg des Agnostizismus zum neuen »principe de la République« als einen »triomphe hypocrite, progressif et même légèrement sournois, de l’anthropologie matérialiste« (PE, 70). Der Roman diskutiert den Unterschied zwischen einer materialistischen und einer christlichen Anthropologie am Beispiel des Gesetzes über die Abtreibung.191 Bei der Frage nach der ethischen Begründung der Abtreibung stehen sich zwei gegensätzliche »Weltsichten« (PE, 69) gegenüber: Auf der einen Seite ein christlich inspiriertes Menschenbild, das von der Idee einer unsterblichen »Seele« ausgeht, und auf der anderen

190 In seinem Vorwort zum Sammelband über Auguste Comte fasst der Autor diesen Umstand wie folgt zusammen: »Comte avait bien compris que la religion, sans cesser de s’intégrer à un système du monde acceptable par la raison, avait pour mission de relier les hommes et de régler leurs actes […].« Michel Houellebecq, »Préliminaires au positivisme«, a.a.O., S. 11 (Hervorhebung im Original). Ähnlich argumentiert auch Émile Durkheim, der zweite Ahnherr der französischen Soziologie neben Comte, in einem religionssoziologischen Essay aus dem Jahr 1912. Durkheim definiert die Religion als »un système solidaire de croyance et de pratiques relatives à des choses sacrées […] et qui unissent en une même communauté morale, appelée Église, tous ceux qui y adhèrent.« Émile Durkheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse, 5. Aufl., Paris: PUF, 2003, S. 65. 191 Das Gesetz zur Legalisierung der Abtreibung (Loi Veil) wurde im November 1974 unter heftigen Protesten von der französischen Nationalversammlung verabschiedet. Maßgeblich vorangetrieben wurde das Gesetz von der damaligen Gesundheitsministerin und Holocaust-Überlebenden Simone Veil. Es sieht vor, dass eine Abtreibung bis zur zehnten Woche der Schwangerschaft der freiwilligen Entscheidung der Frau überlassen wird. Erst nach dieser Zeit treten Bestimmungen in Kraft, die medizinisch nicht erforderliche Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellen.

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Seite ein materialistisches Menschenbild, das auf der Vorstellung einer »existence individuelle autonome« (PE, 69) beruht. Während erstere das ungeborene Leben grundsätzlich als schützenswert erachtet, überlässt letztere die Entscheidung darüber, was als Leben gilt, einem »consensus social« (PE, 69). Die materialistische Anthropologie bewerte das menschliche Leben ganz anders als die christliche Anthropologie, denn sie reduziere den Fötus auf »un petit amas d’organes en état de différenciation progressive« (PE, 69). Im Gegenzug werde der alternde Körper als ein »amas d’organes en état de dislocation continue« (PE, 69) betrachtet. Damit verändere sich nicht nur die Einstellung zum Leben, sondern auch diejenige zum Tod. Für den modernen Menschen sei der Gedanke an den eigenen körperlichen Verfall unerträglich, so der Erzähler, da man im Laufe seines Lebens notwendigerweise an einen Punkt gelange, wo die Summe an körperlichen Vergnügungen die zu erwartenden Schmerzen nicht länger überwiege. Früher oder später müsse man sich daher Gedanken über den Selbstmord machen, wie dies im Übrigen auch einige prominente Philosophen des 20. Jahrhunderts getan hätten: »Il est à ce propos amusant de noter que Deleuze et Debord, deux intellectuels respectés de la fin du siècle, se sont l’un et l’autre suicidés sans raison précise, uniquement parce qu’ils ne supportaient pas la perspective de leur propre déclin physique. Ces suicides n’ont provoqué aucun étonnement, aucun commentaire ; plus généralement les suicides des personnes âgés, de loin les plus fréquents, nous paraissent aujourd’hui absolument logiques.« (PE, 248) Wenn sich Christiane am Romanende mitsamt ihrem Rollstuhl das Treppenhaus hinabstürzt, dann erinnert dies in gewisser Weise an den Selbstmord von Deleuze, der sich 1995 nach schwerer Krankheit aus dem Fenster seiner Pariser Wohnung stürzte.192 Man kann diese Parallele als einen makabren Kommentar auf die poststrukturalistische Philosophie verstehen. Der Erzähler behauptet an anderer Stelle, dass Denker wie Foucault, Deleuze, Derrida oder Lacan im 20. Jahrhundert maßlos überschätzt wurden.193 Der Roman geht aber auch mit anderen prominenten Intellektuellen scharf ins Gericht. Insbesondere der Philosoph Jean-Paul Sartre ist Gegenstand einer polemischen Satire. So wird berichtet, dass Janine Ceccaldi, die Mutter von Michel und Bruno, in den 1950er Be Bob mit Sartre in Paris getanzt hat. Allerdings entsteht aus der Begegnung nichts Ernstes, da Janine von der »Hässlichkeit« des Philosophen überrascht ist und sie sich auch von seiner Philosophie nur »wenig beeindruckt« (PE, 26) zeigt. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch der Ort, an dem es zur Begegnung zwischen Sartre und Janine gekommen sein soll. Angeblich haben sich die beiden in einer Diskothek namens »Tabou« (PE, 26) getroffen, einem legendären Jazz-Club im 17. Arrondissement

192 193

Vgl. John McCann, Michel Houellebecq. Author of our times, a.a.O., S. 81. »Le ridicule global dans lequel avaient subitement sombré, après des décennies de surestimation insensée, les travaux de Foucault, de Lacan, de Derrida et de Deleuze ne devait sur le moment laisser le champ libre à aucune pensée philosophique neuve, mais au contraire jeter le discrédit sur l’ensemble des intellectuels se réclamant des ›sciences humaines‹ ; la montée en puissance des scientifiques dans tous les domaines de la pensée était dès lors devenue inéluctable.« (PE, 314)

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

von Paris, in dem bis zu seiner Schließung im Jahr 1962 nahezu alle berühmten französischen Schriftsteller, Philosophen und Künstler verkehrten. Boris Vian bezeichnete den Ort später als ein »centre de folie organisée«194 . Offenbar versucht der Roman auf diese Weise einen Zusammenhang zwischen dem existentialistischen Lebensgefühl der 1950er Jahre und dem Freiheitsdrang der darauffolgenden Generation von Philosophen herzustellen. Tatsächlich haben Autoren wie Deleuze oder Foucault mit ihren Theorien das geistige Klima der 68er-Generation stark beeinflusst, indem sie die traditionelle Sexualmoral mit ihren Verboten und »Tabus« in Frage stellten.195 Die sexuelle Revolution markiert so gesehen den Endpunkt eines längeren historischen Prozesses, in dessen Verlauf die letzten Überreste einer Jahrhunderte alten jüdisch-christlichen Kultur durch eine »civilisation de loisirs« (PE, 68) abgelöst wurden. Im 20. Jahrhundert werden Tabubrüche nicht mehr im selben Maße sanktioniert, wie dies in früheren Epochen üblich war. Neben der Sexualität betrifft dies auch jene Bereiche des Lebens, die vormals als sakrosankt galten. Dazu zählt beispielsweise der Umgang mit dem Tod. Zwar stößt der Freitod auch in den weitgehend säkularisierten Gesellschaften des Westens nach wie vor auf Widerstand; doch gilt das Verbot der Selbsttötung heute nicht mehr uneingeschränkt, da es als Resultat einer individuellen Entscheidung aufgefasst wird.196 Houellebecqs Romanfiguren entscheiden sich für den Freitod, weil sie den Verfall des eigenen Körpers nicht ertragen können. Während der Suizid in der modernen Gesellschaft enttabuisiert wird, wird der Gedanke an den Tod selbst mehr und mehr verdrängt.197 Ein einprägsames Bild dieser Verdrängung liefert

194 Boris Vian, Manuel de Saint-Germain-des-Prés, Paris: Chêne, 1974, S. 130 195 Insbesondere Deleuze wird im Roman als Theoretiker der sexuellen Revolution dargestellt. Brunos Vater, ein erfolgreicher Dokumentarfilmer, beginnt nach seiner Scheidung eine Affäre mit einer jungen Frau, die sich selbst Julia Love nennt und eine der ersten bekannten Pornodarstellerinnen Frankreichs gewesen sein soll. Die beiden verkehren mit zahlreichen Größen des französischen Kinos, wie dem Regisseur und Drehbuchautor José Bénazéraf, der sie zu einem gemeinsamen Abendessen mit Freunden einlädt. Zufällig ist bei dieser Gelegenheit auch Deleuze anwesend. Die Begegnung mit dem Philosophen hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck auf die Geliebte von Brunos Vater: »Lors d’un dîner chez Bénazéraf, sa maîtresse avait rencontré Deleuze, et depuis elle se lançait régulièrement dans des justifications intellectuelles du porno, ce n’était plus supportable« (PE, 78) . 196 In seinem Essay Le Suicide (1897) behauptet Émile Durkheim, dass die Religion einen Schutz vor dem Selbstmord biete. Es sei jedoch nicht allein der Glaube, der Menschen davon abhalte, sich das Leben zu nehmen, sondern die Integrationskraft der religiösen Gemeinschaft. Anhand von Statistiken weist Durkheim nach, dass die Selbstmordrate unter Protestanten höher ist als unter Katholiken, obwohl beide Konfessionen den Selbstmord als »Sünde« verwerfen. Durkheim führt dies darauf zurück, dass Katholiken in höherem Grade in die Gemeinschaft der Kirche intergriert seien als Protestanten. Außerdem messe der Protestantismus der individuellen Willensfreiheit einen höheren Stellenwert bei als der Katholizismus: »Or, la seule différence entre le catholicisme et le protestantisme, c’est que le second admet le libre exament dans une bien plus large proportion que le premier. […] Le protestant est davantage l’auteur de sa croyance. La Bible est mise entre ses mains et nulle interprétation ne lui en est imposée. La structure même du culte réformé rend sensible cet état d’individualisme religieux.« Émile Durkheim, Le Suicide, 10. Aufl., Paris: Quadrige/PUF, 1986, S. 156-157. 197 Wie Philippe Ariès in seiner Studie L’homme devant la mort gezeigt hat, wurde der Tod lange Zeit als notwendiger Bestandteil des Lebens betrachtet und akzeptiert. Im Zuge der Säkularisierung ver-

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eine Szene gleich zu Beginn der Erzählung. Nach seiner Verabschiedung aus dem Institut findet Michel zu Hause angekommen seinen Kanarienvogel tot auf dem Käfigboden vor. Da er nicht weiß, was er mit dem Kadaver machen soll, lässt er ihn kurzerhand im Müllschlucker verschwinden: »Après une hésitation il déposa le cadavre de l’oiseau dans un sac plastique qu’il lesta d’une bouteille de bière, et jeta le tout dans le vide-ordures. Que faire d’autre ? Dire une messe ?« (PE, 16). Als Wissenschaftler glaubt Michel nicht an ein Leben nach dem Tod. Dementsprechend emotionslos nimmt er den Verlust seines Haustieres zur Kenntnis. Einige Monate später erfährt er aus einem Brief der Stadtverwaltung von Crécy, dass der Leichnam seiner Großmutter exhumiert werden muss, weil an der Stelle, wo sich ihr Grab befindet, eine Bushaltestelle entstehen soll (PE, 229). Hier zeigt sich die Verdrängung des Todes darin, dass der Friedhof einem Ort weichen muss, der das genaue Gegenteil einer letzten Ruhestätte ist, nämlich ein Ort des Wartens.198 Während der Exhumierung wirft Michel einen kurzen Blick in das Grab: »Il avait vu le crâne souillé de terre, aux orbites vides, dont pendaient des paquets de cheveux blancs. Il avait vu les vertèbres éparpillées, mélangées à la terre. Il avait compris« (PE, 230). Der letzte Satz bezieht sich weniger auf die mahnenden Worte des Totengräbers, der Michel kurz zuvor noch gewarnt hatte, sondern er drückt vielmehr eine tiefere Einsicht aus: Michel begreift, dass der menschliche Körper unweigerlich dem Verfall ausgesetzt ist. Diese Einsicht wird durch den Kontrast mit dem Totengräber, der die sterblichen Überreste seiner Großmutter in eine Plastiktüte einpackt, noch zusätzlich verstärkt. Denn

blasste jedoch die Vorstellung von einem Leben nach dem Tod, weshalb der Tod heute als etwas angesehen werde, das sich nicht fassen lässt und daher Angst einflößt. In der modernen Gesellschaft wird der Tod darum gewissermaßen ausgelagert. Man stirbt nicht mehr im Kreis seiner Familie, sondern in Krankenhäusern, Altenheimen und Hospizen: »Un type absolument nouveau de mourir est apparu au cours du XXe siècle, dans quelques unes des zones les plus industrialisée, les plus urbanisées, les plus techniquement avancées du monde occidental – et sans doute n’en voyons-nous que le premier âge. […] la société a expulsé la mort, sauf celle des hommes d’État. Rien n’avertit plus dans la ville que quelque chose s’est passé : l’ancien corbillard noir et argent est devenu une banale limousine grise, insoupçonnable dans le flot de la circulation. La société ne fait plus de pause : la disparition d’un individu n’affecte plus sa continuité. Tout se passe dans la ville comme si personne ne mourait plus.« Philippe Ariès, L’homme devant la mort, Paris: Seuil, 1977, S. 557. Zur Todesverdrängung in der Moderne siehe etwa auch die Studien von Armin Nassehi/Georg Weber, Tod, Modernität und Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Todesverdrängung, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1989, S. 277ff.; und Sandra Joachim-Meyer, Sinnbilder von Leben und Tod. Die Verdrängung des Todes in der modernen Gesellschaft, Marburg: Tectum, 2004, S. 56ff. 198 Die Beobachtung, dass die moderne Gesellschaft den Tod auslagert, wird unter anderem auch durch Michel Foucaults Konzept der »Heterotopie« bestätigt. Unter einer Heterotopie versteht Foucault Orte, die eine vollkommene Andersartigkeit ausdrücken. Als Beispiele nennt er das Bett der Eltern, Gärten, Irrenanstalten, Bordelle, Gefängnisse, Bibliotheken, Ferienkolonien usw. Nach Foucault können sich solche Heterotopien wandeln oder sogar verschwinden; es können aber auch ganz neue Heterotopien entstehen. Der Friedhof gilt ihm als eine wandelbare Heterotopie par excellence (»le cimetière est absolument l’autre lieu«). Bis ins 18. Jahrhundert hinein befand sich der Friedhof zumeist angegliedert an die Kirche im Zentrum einer Stadt. Im Laufe der Zeit wurden die Gräber jedoch allmählich immer weiter an den Rand der Stadt verlegt »comme si c’était en même temps un centre et un lieu d’infection, et en quelque sorte de contagion de la mort.« Michel Foucault, Die Heterotopien/Les Hétérotopies – Der utopische Körper/Le corps utopique. Zwei Radiovorträge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005, S. 37-52, hier S. 43 und 44.

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das Plastik ist ja gerade ein Material, das sich dem natürlichen Zerfall widersetzt.199 Gleichzeitig zeigt diese Episode aber auch, dass unsere Gesellschaft dem Tod im Allgemeinen keine besondere Bedeutung mehr beimisst. Noch deutlicher wird dies in einer späteren Szene des Romans, als Michel nach dem Tod seiner Jugendliebe Annabelle mit ansieht, wie ihr lebloser Körper eingeäschert wird: »Le cercueil fut assujetti sur une plate-forme mobile qui conduisait à l’intérieur du four. Il y eut trente secondes de recueillement collectif, puis un employé déclencha le mécanisme. Les roues dentées qui actionnaient la plate-forme grincèrent légèrement ; la porte se referma. Un hublot de Pyrex permettait de surveiller la combustion. Au moment où les flammes jaillirent des énormes brûleurs, Michel détourna la tête. Pendant environ vingt secondes, un éclat rouge persista à la périphérie de son champ visuel ; puis ce fut tout. Un employé recueillit les cendres dans une petite boîte, un parallélépipède de sapin blanc, et les remit au frère aîné d’Annabelle.« (PE, 288) Es fällt auf, dass die Beschreibung ohne jegliche Emotionen auskommt. Der Fokus liegt ganz auf dem mechanischen Ablauf (»un employé déclencha le mécanisme«) der Prozedur. Die Verwendung von Markennamen (»hublot de Pyrex«), Spezialbegriffen (»parallélépipède«) und Fachausdrücken (»plate-forme«, »roues dentées«) verleiht der Beschreibung darüber hinaus einen technischen Charakter. Wie schon auf dem Friedhof wendet Michel auch dieses Mal im entscheidenden Moment seinen Blick ab, um nicht mit ansehen zu müssen, wie der Sarg mit Annabelles Leichnam von den Flammen erfasst wird. In der lapidaren Bemerkung des Erzählers (»puis ce fut tout«) wird einerseits das Ende von Michels großer Liebe besiegelt; andererseits klingt darin aber auch eine Kritik an der Gesellschaft an, die ihren Toten keine Achtung mehr entgegenbringt.200

4.3.6

Die Quantenmechanik als Beschreibungsmodell der sozialen Wirklichkeit

Wie aus den bisherigen Ausführungen hervorgeht, überschneiden sich die sozialen Analysen von Balzac und Houellebecq in vielerlei Hinsicht. Beide Autoren kritisieren die negativen Folgen des Individualismus, sie betrauern die Zerstörung der Familie und beklagen den Bedeutungsverlust der Religion. Gemeinsam ist den beiden Autoren aber auch der Rückgriff auf wissenschaftliche Diskurse. Balzac bezieht sich einerseits auf (pseudo-)wissenschaftliche Theorien wie die Physiognomik, die von sichtbaren Eigenschaften (z.B. den Gesichtszügen) ausgeht, um auf den Charakter und das ›Wesen‹ eines Menschen zu schließen. Andererseits glaubt er daran, dass im Inneren der menschlichen Natur unsichtbare Kräfte wirken, die sich an der Oberfläche in Form von 199 Vgl. John McCann, Michel Houellebecq. Author of our times, a.a.O., S. 84. 200 Auch in dieser Hinsicht zeigen sich Parallelen zwischen Balzac und Houellebecq. So wird die These, wonach der Tod in der Moderne verdrängt wird, bereits durch den Romanschluss von Le Cousin Pons bestätigt. Am Ende des Romans wird Pons in Abwesenheit seiner Familie auf dem Friedhof Père Lachaise bestattet, während die Präsidentin Camusot versucht, aus dem Tod ihres »armen Verwandten« Profit zu schlagen. So wie Balzac den Materialismus der bürgerlichen Gesellschaft denunziert, die alles Heilige (Familie, Freundschaft, Liebe, Tod) auf dem Alter des Geldes opfert, genauso kritisiert Houellebecq die modernen, säkularisierten Gesellschaften dafür, dass sie den Wert des Lebens einzig und allein an der Erfüllung sinnlicher Vergnügungen bemisst.

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Leidenschaften manifestieren. Dasselbe Spannungsverhältnis von Oberfläche und Tiefe durchzieht auch das Romanwerk von Houellebecq. Symptomatisch dafür sind die beiden philosophischen Systeme, auf die sich Houellebecq in seinen Texten regelmäßig bezieht: auf der einen Seite das positivistische Wissenschaftsmodell eines Auguste Comte und auf der anderen Seite die Willensmetaphysik Arthur Schopenhauers. Jedes dieser philosophischen Modelle liefert einen eigenen Zugang zur Wirklichkeit: Wo die positivistischen Verfahren der Beobachtung und der Beschreibung an ihre Grenzen stoßen, da versucht die Willensmetaphysik eine Tiefendimension freizulegen, um nach dem verborgenen Sinn hinter den Erscheinungen an der Oberfläche zu fragen; und wo die metaphysische Spekulation überhand nimmt, da korrigiert die positivistische Methode dies durch die Betonung der sozialen Tatsachen. Die beiden philosophischen Systeme ergänzen sich gegenseitig, ohne dass eines von ihnen das alleinige Wahrheitsmonopol für sich beanspruchen kann. Zwar schließen sich die beiden Modelle gegenseitig aus, zusammen ergeben sie jedoch ein sich ergänzendes (d.h. komplementäres) Bild der Wirklichkeit. Genau diese Komplementarität, die erstmals von den Theoretikern der modernen Quantenmechanik zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckt wurde, lässt sich auch auf den anderen Ebenen des Textes feststellen. In der Forschung wurde bereits des Öfteren darauf verwiesen, dass Houellebecq quantenmechanische Konzepte poetologisch auf den Roman überträgt.201 Erstaunlicherweise wurden genau diese Aspekte in der polemischen Debatte nach der Veröffentlichung des Romans weitgehend ignoriert.202

201 Auf die poetologische Bedeutung der Quantenmechanik für den Roman verweist beispielsweise Thomas Klinkert. Er vertritt die Ansicht, dass man Houellebecqs Roman nicht einfach nur »als reaktionäre Abrechnung mit der 68er-Generation« lesen kann. Eine solche Lesart reduziere den Text ausschließlich auf die darin geäußerte Kritik an der sexuellen Revolution und klammere die poetologische Dimension der Quantenmechanik aus. Die Quantenmechanik zeige jedoch gerade, dass es in der Welt der Physik keine absoluten Wahrheiten gebe. Nimmt man diese Erkenntnis ernst, dann relativiert sich dadurch jedoch zugleich der Wahrheitsanspruch des Romans. Klinkert gelangt daher zu dem Schluss, dass »die soziologischen Analysen, die das Elend der Nach-68erGeneration pauschal auf die sexuelle Promiskuität der Eltern zurückführen, nur eine von mehreren möglichen Wahrheiten sind.« Die unterschiedlichen Lebensverläufe der beiden Halbbrüder sind ihm zufolge »ein Beleg für die Pluralität der historischen Wahrheitskonstruktionen. Aus einer Ursache (sie haben dieselbe Mutter) ergeben sich entgegengesetzte Wirkungen.« Thomas Klinkert, Epistemologische Fiktionen. Zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung, Berlin/New York: de Gruyter, 2010, S. 326 und 328-329. Für eine ausführliche Diskussion der Quantenmechanik und ihrer poetologischen Implikationen siehe die Studie von Betül Dilmac, Literatur und moderne Physik. Literarisierungen der Physik im französischen, italienischen und lateinamerikanischen Gegenwartsroman, Freiburg i.Br.: Rombach, 2012, S. 131-182. Mit Aspekten der Quantenphysik und ihrer Funktion für den Roman befassen sich auch die Aufsätze von Christian Monnin, »Le roman comme accélérateur de particules. Autour de Houellebecq«, in: Liberté 41, 1999, S. 11-28; Vincent Aurora, »La mesure de l’homme: Le positivisme d’Auguste Comte et la mécanique quantique dans Les Particules Élémentaires de Michel Houellebecq«, in: Versants 43, 2003, S. 163-185; sowie Ursula Hennigfeld, »Le principe d’incertitude chez Houellebecq, Volpi et Ferrari«, in: Burnautzki, Sarah/Ruhe, Cornelia (Hg.), Chutes, ruptures et philosophie. Les romans de Jérôme Ferrari, Paris: Classiques Garnier, 2018, S. 197-214. 202 Vgl. hierzu die Aussage des Autors: »La partie théorique n’a pas été comprise, c’est consternant […]. Et personne ne s’est intéressé à ce que j’ai essayé de dire à propos de la mécanique quan-

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

Dabei erschließt sich die Bedeutung der Quantenmechanik bereits aus der Metapher des Romantitels. »Elementarteilchen« sind die kleinsten, nicht weiter zerlegbaren Bausteine der Materie (z.B. Elektronen, Neutronen, Protonen oder Quarks), die im Rahmen des Standardmodells der Teilchenphysik beschrieben werden.203 Obwohl diese Teilchen für das bloße Auge nicht zu erkennen sind, spielen sie dennoch eine wichtige Rolle für die Struktur der uns umgebenden Welt. Denn die Stabilität eines Atoms wird von den elektromagnetischen Kräften (oder Wechselwirkungen) zwischen den Elementarteilchen im Inneren des Atomkerns beeinflusst. Genau wie im Inneren eines Atoms wirken auch in der Gesellschaft Kräfte, die sich auf die soziale Kohäsion auswirken können. Lassen die Wechselwirkungen zwischen den Teilchen (den Individuen) nach, droht das Atom (die Gesellschaft) zu zerfallen. Genau dies vollzieht sich, zumindest dem Roman zufolge, seit etwa 1970 in den liberalen Gesellschaften des Westens. Die Quantenmechanik dient somit zunächst einmal als Beschreibungsmodell für die Zerfallserscheinungen des Sozialen. Im Roman erfüllt sie jedoch noch eine weitere Funktion. Anders als die klassische Mechanik eines Newton liefert die Quantenmechanik keine exakte Beschreibung der tatsächlichen Verhältnisse im Inneren des Atoms. Stattdessen formuliert sie Theorien darüber, wie sich die Elementarteilchen mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit verhalten. Überträgt man diese Erkenntnis auf den Roman, so hat dies weitreichende Konsequenzen für das Problem der Wirklichkeitsdarstellung. Denn von der quantenmechanischen Unsicherheit ist letzten Endes auch der Wahrheitsanspruch des Romans betroffen.204 Tatsächlich lässt sich im 20. Jahrhundert nicht mehr ohne Weiteres behaupten, der Roman bilde die Wirklichkeit mimetisch ab. Dasselbe gilt auch für die Quantenmechanik, deren Modelle die physikalische Natur nur annäherungsweise beschreiben können. Da die Gesetze der klassischen Mechanik in der Welt der Atome und subatomaren Teilchen nicht mehr gelten, sahen sich die frühen Theoretiker der Quantenmechanik dazu genötigt, neue Begrifflichkeiten einzuführen, um das Verhalten der Atome beschreiben zu können. Für den Schriftsteller stellt sich gleichfalls die Frage, wie sich die Wirklichkeit heute noch darstellen lässt, nachdem die Fähigkeit der Literatur, eine außersprachliche Wirklichkeit abzubilden, in Zweifel gezogen wurde. Zweifel an der Erklärungskraft der klassischen Mechanik kamen den Atomphysikern erstmals, als sie entdeckten, dass Licht sowohl in Form einer elektromagnetischen Welle als auch in Form von quantifizierbaren Lichtteilchen, sogenannten Photonen,

tique. […] c’est l’épilogue qui a suscité le plus de critiques, au détriment de tout le reste.« Michel Houellebecq, »Tout cela a été très fatigant. Entretien avec Antoine de Gaudemar«, in: Libération, 19.11.1998, abrufbar unter: https://next.liberation.fr/livres/1998/11/19/houellebecq-tout-cela-a-ete-t res-fatigant_251381 (zuletzt eingesehen am 20.9.2019). 203 Vgl. Harald Fritzsch, Elementarteilchen: Bausteine der Materie, München: Beck, 2004, S. 13. 204 Betül Dilmac zufolge dient die Quantenmechanik im Roman vorrangig als »Medium der Selbstreflexion« für das Problem der Wirklichkeitsdarstellung. Mit Hilfe der Quantenmechanik artikuliere der Roman einerseits »Zweifel an der Möglichkeit eines Erfassens und einer objektiv-authentischen Darstellung der Wirklichkeit«; und andererseits erteile er dadurch einem »naiv-realistischen Erzählen« eine deutliche Absage. Dilmac interpretiert den Einbau quantenmechanischer Konzepte daher als den Versuch, »einer prekär gewordenen Realität dichterisch gerecht zu werden.« Vgl. Betül Dilmac, Literatur und moderne Physik, a.a.O., S. 141.

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auftreten kann. Bereits um die Jahrhundertwende hatten Physiker wie Albert Einstein oder Max Planck erkannt, dass sich Licht entweder wie ein Teilchen oder wie eine Welle verhält, je nachdem, welche Eigenschaft des Lichtes man beobachtet.205 Houellebecq überträgt diesen »Welle-Teilchen-Dualismus« auf die Romanfiguren. Während eines Gesprächs mit seinem Bruder, stellt sich Michel die Frage, ob man Bruno überhaupt als Individuum betrachten könne oder ob er nicht vielmehr Teil einer historischen Bewegung sei: »Pouvait-on considérer Bruno comme un individu ? Le pourrissement de ses organes lui appartenait, c’est à titre individuel qu’il connaîtrait le déclin physique et la mort. D’un autre côté sa vision hédoniste de la vie, les champs de forces qui structuraient sa conscience et ses désirs appartenaient à l’ensemble de sa génération. De même que l’installation d’une préparation expérimentale et le choix d’un ou plusieurs observables permettent d’assigner à un système atomique un comportement donné – tantôt corpusculaire, tantôt ondulatoire –, de même Bruno pouvait apparaître comme un individu, mais d’un autre point de vue il n’était que l’élément passif du déploiement d’un mouvement historique.« (PE, 178) Die Erfahrung des körperlichen Verfalls ist etwas, das jeder Mensch auf ganz persönliche Weise erlebt. In dieser Hinsicht kann Bruno als Individuum betrachtet werden. Gleichzeitig sind seine Lebensweise und seine Einstellungen aber auch repräsentativ für eine ganze Generation. Je nach Perspektive kann Bruno darum entweder als Individuum (Teilchen) oder als Teil einer historischen Bewegung (Welle) angesehen werden. Wenn Michel seinen Bruder als »passives Element« beschreibt, so deutet er damit zudem an, dass Bruno durch äußere Einflüsse bestimmt wird und folglich in seinem Handeln nicht frei ist. Er bewegt sich in einem Kräftefeld (»champs de forces«), das fortwährend auf ihn einwirkt, und obwohl er dagegen ankämpft, wird er vom Strudel der Geschichte mitgerissen.206 Sein Leben gleicht einem Teilchen-Beschleuniger, der ihn mit Hochgeschwindigkeit kollidieren lässt. Eine solche Kollision steht auch am Beginn des zweiten Romanteils. Auf dem Weg zum Campingplatz verliert Bruno kurzzeitig die Kontrolle über das Auto. Sein Peugeot streift kurz die Leitplanke, dreht sich einmal um

205 Aus der Beobachtung, dass wellenförmiges Licht unter gewissen Umständen auch Teilcheneigenschaften besitzt, formulierte der französische Physiker Louis-Victor de Broglie im Jahr 1923 die Hypothese, dass umgekehrt auch Materieteilchen (z.B. Elektronen) als Wellen auftreten können. Die Existenz von Materiewellen wurde später in Experimenten bestätigt, als man nachweisen konnte, dass Elektronen ähnliche Interferenzmuster aufweisen wie Licht. Vgl. hierzu etwa John Polkinghorne, Quantum Theory. A Very Short Introduction, Oxford/New York: Oxford University Press, 2002, S. 18ff. 206 In der Nacht bevor Bruno auf dem Campingplatz seine spätere Freundin Christiane kennenlernt, hat er einen sonderbaren Traum (PE, 135f.). Er befindet sich in einem Tunnel voller Wasser, an dessen Ausgang mehrere Turbinen befestigt sind, die einen gewaltigen Sog erzeugen und Bruno mit sich reißen. Am Ende seines Traumes befindet sich Bruno mit zersplittertem Schädel auf einer Wiese. Am Horizont erblickt sein einzelnes Auge (»son œil unique«) eine Reihe von überdimensionalen Zahnrädern. Im Traum wird Bruno vom Strudel der Geschichte mitgerissen und gerät unter die Räder einer gewaltigen Maschine, die seinen Körper in Stücke reißt.

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die eigene Achse und entgeht nur knapp einem Zusammenstoß mit einem vorbeirasenden Jaguar, der unter wildem Gehupe davonfährt. Die beiden Autos verhalten sich wie zwei identisch geladene Teilchen, deren Bahnen sich zufälligerweise kreuzen.207 Eine Kollision bleibt deshalb aus, weil sich die Teilchen gegenseitig abstoßen. Die elektromagnetischen Kräfte bewirken jedoch eine Art »Spin«-Effekt, was dazu führt, dass die Autos abgelenkt werden. Während das stärkere Teilchen (der Jaguar) seinen Weg unbeirrt fortsetzt, gerät das schwächere Teilchen (Brunos Peugeot) ins Strudeln und verändert seine Bahn. Bruno schleudert dem Fahrer des Jaguars zwar noch Beleidigungen hinterher, doch diese erreichen ihn nicht mehr. Die Passage soll zeigen, dass Bruno dem Geschehen machtlos ausgesetzt ist. Er ist zu keinem Zeitpunkt Herr der Lage, sondern ein »passives Element« der Ereignisse. Es wirken Kräfte auf ihn ein, deren Ursache sich ihm entziehen. Der Roman selbst liefert keine Erklärung dafür, warum Bruno die Kontrolle über sein Auto verliert. Dieses Erklärungsdefizit ist jedoch nicht allein der Unwissenheit des Erzählers zuzuschreiben. Es ist vielmehr unmöglich, alle Faktoren anzugeben, die als Erklärung für das Ereignis dienen können. Und zwar deshalb, weil es nicht bloß einen, sondern verschiedene Gründe geben kann. Mit den Begriffen der klassischen Physik lässt sich der Zwischenfall auf der Autobahn darum nicht erklären. Wenn der Erzähler über die Ursachen des Unfalls schweigt, dann ist dies nicht als »Messfehler« in der Versuchsanordnung des Romans zu deuten, sondern als eine Folge seiner quantenmechanischen Ausrichtung. Im Unterschied zur klassischen Mechanik kann die Quantentheorie nämlich niemals exakt erklären, wie die Ergebnisse einer Messung zustande kamen. Verantwortlich dafür ist das sogenannte Unbestimmtheitsprinzip, auch Unschärferelation genannt, das erstmals 1927 von dem deutschen Physiker Werner Heisenberg formuliert wurde.208 Es besagt, dass die Ergebnisse einer Messung verschwimmen, wenn mehrere Variablen (wie Ort, Geschwindigkeit oder Impuls) zur selben Zeit gemessen werden. Je genauer der eine Wert bestimmt wird, desto ungenauer (»unschärfer«) wird der andere. Aus der Unschärferelation folgte für Heisenberg, dass sich keine zuverlässigen Aussagen über die Vergangenheit oder Zukunft eines quantenphysikalischen Ereignisses treffen lassen, solange keine Messung daran vorgenommen wurde.209 207 Im Folgenden nach John McCann, Michel Houellebecq. Author of our Times, a.a.O., S. 73f. 208 Die Heisenbergsche Unschärferelation wird im Roman zwar nicht erwähnt, doch dafür wird der Leser gleich zu Beginn mit dem Namen ihres Entdeckers Werner Heisenberg vertraut gemacht. Am Tag nach seiner Verabschiedung aus dem Forschungsinstitut von Palaiseau beginnt Michel mit der Lektüre von Heisenbergs Autobiografie Das Teil und das Ganze aus dem Jahr 1969. Ein längerer Auszug aus einem frühen Kapitel wird sogar eigens im Wortlaut zitiert (PE,22). Darin beschreibt Heisenberg seine erste Begegnung mit der Quantentheorie während eines Spaziergangs am Starnberger See im Frühjahr 1920. 209 Das Unbestimmtheitsprinzip, das Heisenberg erstmals im Februar 1927 in einem Brief an seinen Kollegen Wolfgang Pauli erwähnt, stellte die bis dahin geltenden Vorstellungen der Physik über die Realität grundlegend in Frage. Die klassische Mechanik eines Newton besteht aus Elementen (z.B. Körpern), deren Eigenschaften (z.B. Geschwindigkeit, Ort oder Richtung) exakt vorgesagt werden können. Die Quantenmechanik hingegen enthüllt eine Vielzahl von Wahrscheinlichkeiten, die durch die Handlungen eines Beobachters in die Welt gebracht werden. Aus erkenntnistheoretischer Sicht war die Quantentheorie für die Physik das, was Kants »kopernikanische Wende« für die Philosophie darstellte. Heisenberg und die anderen Quantenphysiker waren sich dessen

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Die grundsätzliche Unbestimmtheit der Quantenmechanik macht es nicht nur unmöglich, eine widerspruchsfreie Aussage über die Wirklichkeit zu treffen; sie eröffnet auch die Frage, ob den Quanteneffekten überhaupt eine eigene Realität zugesprochen werden kann oder ob sie nicht vielmehr als Objekte einer Theorie behandelt werden müssen. Eine Antwort auf diese Frage liefert die sogenannte Kopenhagener Deutung der Quantentheorie, die erstmals 1927 von dem dänischen Physiker Nils Bohr formuliert wurde.210 Bohr beschrieb die Realität von Quanteneffekten mit Hilfe des sogenannten Komplementaritätsprinzips. Es besagt, dass zwei sich widersprechende Erklärungen in sich korrekt sein können, obwohl sie einander ausschließen. Mit seinem Komplementaritätsprinzip lieferte Bohr einen wichtigen Impuls für die Entwicklung der Quantentheorie. Am Physikalischen Institut in Kopenhagen, das Bohr 1919 gegründet hatte, versammelten sich zahlreiche Atomphysiker der ersten Stunde, darunter Werner Heisenberg, Wolfgang Pauli, Max Born oder Paul Dirac. Der Erzähler beschreibt das geistige Klima an diesem Institut, wo neben physikalischen Problemen auch Fragen der Philosophie, Kunst oder Religion diskutiert wurden, in geradezu überschwänglichen Worten: »Rien de comparable ne s’était produit depuis les premiers temps de la pensée grecque. C’est dans ce contexte exceptionnel que furent élaborés, entre 1925 et 1927, les termes essentiels de l’interprétation de Copenhague, qui invalidait dans une large mesure les catégories antérieures de l’espace, de la causalité et du temps.« (PE, 17) Michel gelingt es in seiner Zeit als Wissenschaftler nicht, an seinem Forschungsinstitut eine ähnliche Atmosphäre der geistigen Freiheit und des intellektuellen Austauschs zu schaffen: »L’ambiance au sein de l’unité de recherches qu’il dirigeait était, ni plus ni moins, une ambiance de bureau. Loin d’être des Rimbaud du microscope qu’un public sentimenbewusst, wie ihre intensive Beschäftigung mit der Philosophie Kants bezeugt. Heisenbergs Autobiografie enthält ein eigenes Kapitel mit dem Titel »Quantenmechanik und Kantsche Philosophie«. Und Carl Friedrich von Weizsäcker, ein anderer prominenter Atomphysiker, veröffentlichte noch in den Kriegsjahren einen Aufsatz zu dem Thema. Vgl. Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze. Gespräche im Unkreis der Atomphysik, 13. Aufl., München: Pieper, 2017, S. 141-149; sowie Carl F. von Weizsäcker, »Das Verhältnis der Quantenmechanik zur Philosophie Kants«, in: Die Tatwelt: Zeitschrift für Erneuerung des Geisteslebens 17, 1941/42, S. 66-98. 210 Die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie löst den Widerspruch zwischen den formalen Objekten und ihrem Realitätsstatus dadurch auf, dass sie den Quanteneffekten nur dann eine Realität zuweist, wenn sie auch tatsächlich beobachtet wurden. Bohr vertrat die Ansicht, dass die Eigenschaften eines Objektes, etwa das Verhalten von Elektronen oder von Licht, durch die Beobachtung festgelegt werden. Er behauptete, dass der Zustand eines Quantensystems durch den Messakt beeinflusst wird, weil der Beobachter selbst Teil des Systems ist. Ein Elektron verhält sich je nach Situation wie eine Welle oder ein Teilchen, weil es genau das ist, was man gerade untersucht. Solange keine Messung durchgeführt wurde, befindet sich das Elektron in einer undefinierbaren Überlagerung aller möglichen Zustände. Bohr nahm an, dass die sogenannte »Wellenfunktion« (eine mathematische Gleichung, die alles enthält, was über ein Quantensystem bekannt ist) im Augenblick einer Messung »kollabiert«, so dass alle Wahrscheinlichkeiten mit Ausnahme des Messergebnisses verschwinden. Vgl. John Polkinghorne, Quantum Theory, a.a.O., S. 36f., S. 44f. und S. 48f.

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tal aime à se représenter, les chercheurs en biologie moléculaire sont le plus souvent d’honnêtes techniciens, sans génie, qui lisent Le Nouvel Observateur et rêvent de partir en vacances au Groenland.« (PE, 17) Die Molekularbiologen erfüllen ihre Aufgaben zuverlässig und kompetent, aber sie sind keine Forscher im strengen Sinne. Ihre Tätigkeit beschränkt sich auf einige routinemäßige Abläufe, die keine Kreativität und kein »Genie« erfordern. Ihnen fehlt jener Drang nach Erkenntnis, der Bohr und seine Kollegen dazu veranlasste, die bekannten Gefilde der Physik zu verlassen und wissenschaftliches Neuland zu betreten. Sie träumen davon, in fernen Ländern Urlaub zu machen, schaffen es aber nicht aus ihrer eigenen Komfortzone herauszukommen. Der Vergleich mit Rimbaud ist dabei keineswegs zufällig gewählt, wird damit doch zugleich auf die enge Verbindung von Literatur und Wissenschaft als zwei sich gegenseitig ergänzenden, d.h. komplementären Wahrheitsmedien angespielt.211 Dieselbe Komplementarität zeigt sich nun aber auch in der binären Anlage der beiden Hauptfiguren. Michel ist ein introvertierter Naturwissenschaftler und betreibt Spitzenforschung auf dem Gebiet der Physik und der Molekularbiologie; Bruno ist Geisteswissenschaftler und arbeitet als Lehrer für französische Literatur an einem Gymnasium. Die beiden leben in zwei verschiedenen Welten, die dennoch Teil einer gemeinsamen Wirklichkeit sind. Brunos Welt ist ihrer Struktur nach »melodramatisch« (PE, 122). Sie ist kompliziert und voller schmerzhafter Erfahrungen. Am Ende lässt sich Bruno sogar in die Psychiatrie einweisen, weil er sein eigenes Leben nur noch mit Schmerzmitteln und Medikamenten ertragen kann. Michel hingegen führt ein relativ unspektakuläres und unkompliziertes Dasein. Er lebt in einer Welt, die nach den gesetzlichen Feiertagen, den sportlichen Großereignissen und den Werbekatalogen der Supermärkte organisiert ist (PE, 122). Seine Welt ist präzise, zuverlässig und ermöglicht ein geringes, aber konstantes Maß an Glück.

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Betül Dilmac interpretiert diese Komplementarität vor dem Hintergrund des sogenannten »ZweiKulturen-Topos«. Ihr zufolge werden die zwei Disziplinen »in epistemologischer Hinsicht als einander gleichberechtigt ausgewiesen«. Dies zeige sich beispielsweise daran, dass die Lebensgeschichten der beiden Halbbrüder in etwa gleich viel Raum einnehmen, obwohl der Roman vorgibt, lediglich die Geschichte eines Mannes (Michel) zu erzählen. Dass der Roman den beiden Halbbrüdern und den mit ihnen verbundenen Disziplinen denselben Stellenwert beimisst, komme auch durch die »Deckungsgleichheit« ihrer jeweiligen Arbeiten zum Ausdruck. Vgl. Betül Dilmac, Literatur und moderne Physik, a.a.O., S. 172, 170 und 171. Es ist fraglich, ob man Michels wissenschaftliche Studien tatsächlich auf eine Stufe mit den literarischen Versuchen seines Halbbruders stellen kann, da es berechtigte Zweifel an Brunos schriftstellerischen Fähigkeiten gibt und seine pamphletartigen Essays zumeist in einem höchst ironischen Kontext präsentiert werden. Umgekehrt scheint der Roman aber auch skeptisch zu sein, was die zwei Wissenschaftskulturen anbelangt, immerhin werden zahlreiche prominente Vertreter des französischen Existenzialismus (Sartre, Camus) und Poststrukturalismus (Deleuze, Derrida, Foucault) in ihrer Leistung herabgewürdigt. Aber auch den vermeintlich objektiven Naturwissenschaften begegnet der Roman zumindest teilweise mit Skepsis, schließlich wird das Streben nach (rationaler) Erkenntnis als eine wesentliche Ursache für die zunehmende Enthumanisierung des Lebens (und des Todes) dargestellt. Wie noch zu zeigen sein wird, lässt sich der utopische Romanschluss ebenfalls als Beleg für die Wissenschaftsskepsis des Romans interpretieren.

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Die beiden Brüder leben nicht nur in zwei getrennten Welten, auch ihre Lebenswege verlaufen unterschiedlich. Bruno, der ältere der beiden Halbbrüder, wächst bei der Großmutter in Algerien auf. Michel verbringt seine Kindheit bei der Großmutter in Frankreich. Zu seinem zwölften Geburtstag bekommt Michel einen Chemie-Baukasten geschenkt, was sein Interesse für die Naturwissenschaften erklärt. Bruno wird von seiner Großmutter mit Süßigkeiten verwöhnt und entwickelt sich zu einem »enfant obèse et craintif« (PE, 41). Während Michel eine unbeschwerte Kindheit in Crécy-en-Brie verbringt, wird Bruno auf dem Internat verprügelt und misshandelt. Die unterschiedlichen Sozialisationen wirken sich nachhaltig auf die Entwicklung der Protagonisten aus. Kurz vor dem Abitur entdeckt Michel die Riemann’sche Integralrechnung für sich. Etwa zur selben Zeit masturbiert Bruno im Zug vor fremden Mädchen. Michel beginnt ein Physikstudium, Bruno hingegen entscheidet sich (hauptsächlich wegen der vielen Frauen) für ein Literaturstudium. Während Michel sich in die Theorie der Hilbert-Räume einliest, frequentiert Bruno die unzähligen Fressbuden des Quartier Latin: »Bruno commença à manger. Il se stabilisa rapidement autour d’un parcours alimentaire qui descendait le boulevard Saint-Michel. D’abord il commençait par un hot-dog, dans l’échoppe au croisement de la rue Gay-Lussac ; il continuait un peu plus bas par une pizza, parfois un sandwich grec. Dans le McDonald’s au croisement du boulevard Saint-Germain il engloutissait plusieurs cheeseburgers, qu’il accompagnait de CocaCola et de milk-shakes à la banane ; puis il descendait en titubant de la rue de la Harpe avant de se terminer aux pâtisseries tunisiennes. En rentrant chez lui il s’arrêtait devant le Latin, qui proposait deux films porno au même programme. […] Il rentrait en général vers minuit, lisait Chateaubriand ou Rousseau.« (PE, 150-151) Auf seinem Weg durch das Quartier Latin bewegt sich Bruno routinemäßig von einem Restaurant zum nächsten, ganz so, als würde er dabei von unsichtbaren Kräften angezogen, die ihn so lange auf einer vorgegebenen Bahn (»parcours«) halten, bis ein neuer Impuls seine Richtung verändert. Nachdem er unkontrolliert mehrere Fertiggerichte in sich hineingeschlungen hat, kommt Bruno vor einem Sex-Kino zur Ruhe (»Il se stabilisa«). Anschließend liest er bis spät in die Nacht hinein romantische Literatur, was darauf hindeutet, dass sein Konsum pornografischer Inhalte lediglich eine Sehnsucht nach authentischen Gefühlen kaschiert. Die Ursachen dieser Zwangsstörung werden sowohl soziologisch als auch psychoanalytisch hergeleitet. In soziologischer Hinsicht sind Brunos unstillbarer Appetit und seine hemmungslose Sexualität zwei verschiedene Varianten des Massenkonsums. Sie sind das Resultat von Kräften, die eine ganze Generation erfasst und das Begehren von jeglicher Triebkontrolle entbindet. Aus psychoanalytischer Sicht ist Brunos Völlerei eine Ersatzhandlung für seine gestörte Libido, wobei die Ursachen dieser Neurose in einem Ereignis aus Brunos früher Kindheit zu suchen sind. Während einer Kinovorstellung im Dezember 1970 legt Bruno seine Hand auf das Bein einer Mitschülerin neben ihm. Diese lässt sich den Annäherungsversuch kurz gefallen, bevor sie seine Hand wortlos beiseiteschiebt. Noch als Erwachsener erinnert sich Bruno an das flüchtige Glück dieses Moments, auf das sogleich eine bittere Enttäuschung folgt. Die Kino-Episode steht am »Ursprung« seiner obsessiven Fokussierung auf das weibliche Geschlecht, wie es in der Kapitelüberschrift »Tout est la faute de Caroline Yessayan« (PE, 51) heißt. Eine psychoanalytische Lesart wird darüber hinaus

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auch durch das gestörte Mutter-Sohn-Verhältnis nahegelegt. Im Sommer 1974, als Bruno gerade volljährig geworden ist, onaniert er im Zimmer seiner Mutter, während diese auf dem Bett liegt und schläft. Eine schwarze Katze, die ihn dabei beobachtet, erschlägt er kurz darauf mit einem Stein.212 Die Szene verfolgt Bruno bis ins Erwachsenenalter. Beim Anblick von Christianes Körper erinnert er sich an das Bild seiner nackten Mutter (PE, 141). Die psychoanalytische Motivierung von Brunos zwanghafter Sexualität steht gleichberechtigt neben der sozialen Analyse des Romans, der zufolge die Promiskuität der Eltern dazu geführt hat, dass ihre Kinder ohne Sexualmoral aufwächst. Auch in dieser Hinsicht erweist sich das quantenmechanische Prinzip der Komplementarität als strukturbildend für die Erzählung.213 Obwohl Michel und Bruno die Wirklichkeit auf unterschiedliche Art und Weise erleben, hängt ihr Schicksal dennoch aufs Engste miteinander zusammen. Während Bruno heimlich Chateaubriand und Rousseau liest, entdeckt Michel die Romane von Samuel Beckett. Je sehnsüchtiger Bruno von der Liebe träumt, desto mehr sinniert Michel über die Bedeutung des Todes und das Gefühl einer existentiellen Verzweiflung. Was dem einen widerfährt, bleibt nicht ohne Auswirkungen auf den anderen, und zwar selbst dann, wenn die beiden nicht zusammen sind. Dies geht bisweilen sogar soweit, dass sie zeitgleich dieselben Dinge tun. Nach dem Besuch seines Bruders verbringt Michel das Wochenende damit, den Heizkörper neben seinem Bett zu betrachten. Zur selben Zeit fixiert Bruno am anderen Ende der Stadt die Rohre seiner Heizung: »Exactement comme son demi-frère au même moment, et sans le savoir, il contemplait stupidement, et pendant des heures, les tubulures de son radiateur« (PE, 166). Die Simultaneität der Ereignisse lässt sich quantenmechanisch beschreiben. Bruno und Michel verhalten sich wie zwei »verschränkte« Teilchen, die sich trotz ihrer räumlichen Distanz gegenseitig beeinflussen. Bekanntlich wollte Einstein eine solche »spukhafte Fernwirkung«214 nicht wahrhaben und entwickelte darum mit seinen Physiker-Kollegen Boris Podolsky und Nathan Rosen ein Gedankenexperiment, um die Vorstellung von verschränkten Teilchen

Es handelt sich um ein beliebtes Motiv der Kunstgeschichte. In Eduard Monets Gemälde Olympia (1863) wird das verdeckte Geschlechtsteil einer Frau durch eine schwarze Katze am Bildrand symbolisiert. Das Gemälde selbst ist offenbar von Baudelaires Gedicht »Le Chat« beeinflusst. Darin wird die Katze als ein schamloses Wesen beschrieben, von dem sich der Dichter angezogen fühlt: »Lorsque mes doigts caressent à loisir / Ta tête et ton dos élastique, / Et que ma main s’enivre du plaisir / De palper ton corps électrique, // Je vois ma femme en esprit. […].« Zit. nach: Charles Baudelaire, Œuvres complètes, hg. von Claude Pichois, Bd. 1, Paris: Gallimard, 2006, S. 35. 213 Die Komplementarität manifestiert sich zum einen auf der Ebene der epistemischen Diskurse, allen voran den beiden philosophischen Systemen (Comte, Schopenhauer); sie zeigt sich zum anderen auch auf der Ebene der Motivierung, da die Romane neben der soziologischen zumeist noch eine zweite, psychoanalytische Erklärung für das Verhalten der Figuren anführen. Damit wird einer eindimensionalen Lesart von vornherein ein Riegel vorgeschoben. Balzacs Erzählungen weisen eine solche Offenheit der Textdeutung nicht auf. Mit ihrem Überschuss an (expliziter) Motivierung lassen sie dem Leser kaum Spielraum bei der Interpretation. Balzacs Schreibweise zielt darauf ab, jeden Zweifel an der Stichhaltigkeit des zugrunde liegenden Wirklichkeitsbildes zu unterbinden. 214 In einem Brief an den Physiker Max Born vom 3. März 1947 schreibt Einstein: »Ich kann aber deshalb nicht ernsthaft daran glauben, weil die Theorie mit dem Grundsatz unvereinbar ist, dass die Physik eine Wirklichkeit in Zeit und Raum darstellen soll, ohne spukhafte Fernwirkung.« Zit. nach: Audretsch, Jürgen, Die sonderbare Welt der Quanten. Eine Einführung, München: Beck, 2008, S. 112. 212

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zu wiederlegen.215 Erst in den 1980er Jahren gelang es einer Forschergruppe um den französischen Physiker Alain Aspect, die Existenz von verschränkten Teilchen mittels Experimenten zu beweisen. Der Nachweis von quantenmechanischen Verschränkungen stellte das physikalische Weltbild vor erhebliche Schwierigkeiten, wie der Erzähler anmerkt, denn entweder mussten die Teilchen nicht-lokale Eigenschaften aufweisen oder aber die Teilchen konnten keine intrinsischen Eigenschaften haben. In jedem Fall aber musste die Vorstellung einer »réalité sous-jacente« (PE, 125) aufgegeben werden. Den Quantenphysikern blieb darum bloß die Möglichkeit, die beobachteten Phänomene mathematisch zu beschreiben. Um die Wahrscheinlichkeit von Quantenereignissen zu berechnen, entwickelte der US-amerikanische Physiker Robert B. Griffiths später eine eigene Methode. Er schlug vor, die einzelnen Messergebnisse einer Versuchsreihe in Form einer »Geschichte« zusammenzufassen. Da sich ein Teilchen zum Zeitpunkt einer Messung aber genauso gut an diesem Ort befinden kann wie an einem anderen, genügt es in aller Regel nicht, lediglich eine einzige Geschichte zu konstruieren. Stattdessen müssen mehrere Szenarien beschrieben werden, wobei dasjenige mit der größten Wahrscheinlichkeit als »konsistent« gilt.216 Im Roman erklärt Michel seinem Bruder, wie das Konzept einer solchen consistent history zu verstehen ist:

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Der Aufbau dieses Gedankenexperiments, das als »EPR-Experiment« bekannt geworden ist, lautet wie folgt: Ein Atomkern zerfällt in zwei kleinere Teilchen, die in entgegengesetzter Richtung auseinanderdriften. Wenn das Atom zuvor in Ruhe war, haben die entstandenen Teilchen denselben Impuls und Drehimpuls (»Spin«). Nach der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik müssten sich die zwei Teilchen solange in einer Überlagerung aller möglichen Zustände befinden, bis eine Messung an einem von ihnen vorgenommen wird. Nimmt man nun aber an, dass die Teilchen miteinander verschränkt sind, so führt dies laut Einstein zu einem Paradox: Damit beide Teilchen gleichzeitig denselben Wert annehmen können, müssten sie nämlich über eine sehr große räumliche Distanz hinweg miteinander kommunizieren. Eine solche Kommunikation ist jedoch unmöglich, da nach der Relativitätstheorie keine Information schneller als mit Lichtgeschwindigkeit übertragen werden kann. Folglich könnte ein Signal nicht ohne Zeitverzögerung an einen anderen Ort gelangen, selbst wenn die zu überbrückende Distanz sehr gering ist. Einstein und seine Kollegen vertraten die Ansicht, dass die beiden Photonen bereits zum Zeitpunkt ihrer Trennung wissen, in welchem Zustand sie sich bei einer späteren Messung befinden. Sie tragen diese Informationen mit sich fort und schalten später simultan auf diesen Wert um. An die Vorstellung, dass die Realität eines Quantenzustandes an die Beobachtung eines Subjektes geknüpft ist, konnte Einstein sich nicht gewöhnen. Er glaubte an die »lokale Realität« der Physik, also daran, dass alles in der Welt unabhängig von einem Beobachter existiert. Vgl. hierzu Brigitte Röthlein, Schrödingers Katze. Einführung in die Quantenphysik, 9. Aufl., München: DTV, 2015, S. 65ff. Um die Wahrscheinlichkeit von Quantenereignissen berechnen zu können, entwickelte Griffiths eine mathematische Gleichung, die mehrere Eigenschaften eines quantenphysikalischen Systems mit Hilfe von logischen Operatoren (wie »und«, »oder«, »wenn…, dann…«) zueinander ins Verhältnis setzt. Anschließend werden mehrere disjunkte Geschichten zu einer größeren Geschichte zusammengesetzt, wobei die Wahrscheinlichkeit der größeren Geschichte gleich der Summe der Wahrscheinlichkeiten der beiden kleineren ist. Auf diese Weise lässt sich die Menge an möglichen Geschichten immer weiter einschränken, bis eine mehr oder weniger konsistente Geschichte übrigbleibt. Vgl. hierzu Roland Omnès, Quantum Philosophy. Understanding and Interpreting Contemporary Science, Princeton: Princeton University Press, 1999, S. 178f.

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»La mémoire d’une vie humaine, lui expliqua son demi-frère beaucoup plus tard, ressemble à une histoire consistante de Griffiths. […] Une histoire de Griffiths est construite à partir d’une suite de mesures plus ou moins quelconques ayant lieu à des instants différents. Chaque mesure exprime le fait qu’une certaine quantité physique, éventuellement différente d’une mesure à l’autre, est comprise, à un instant donné, dans un certain domaine de valeurs. Par exemple, au temps t1 , un électron a une certaine vitesse, déterminée avec une approximation dépendant du mode de mesure ; au temps t2 , il est situé dans un certain domaine de l’espace ; au temps t3 , il a une certaine valeur de spin. À partir d’un sous-ensemble de mesures on peut définir une histoire, logiquement consistante, dont on ne peut cependant pas dire qu’elle soit vraie ; elle peut simplement être soutenue sans contradiction.« (PE, 65-66, Hervorhebung im Original) Die zitierte Passage lässt sich als metapoetischer Kommentar zum Wahrheitsgehalt des Romans (im Besonderen) und zum Erkenntnispotenzial der Literatur (im Allgemeinen) auffassen. Literatur und Quantentheorie versuchen auf je unterschiedliche Art und Weise eine möglichst widerspruchsfreie Aussage über die Natur der gesellschaftlichen oder physikalischen Wirklichkeit zu formulieren. Genau wie in der Erinnerung bleiben jedoch auch bei der mathematischen Rekonstruktion von Quanteneffekten einige Lücken, die auf die Grenzen unseres zur Verfügung stehenden Wissens verweisen. Folglich kann eine solche Rekonstruktion niemals im strengen Sinne »wahr« sein, da sie keine Notwendigkeit, sondern bloß eine Wahrscheinlichkeit ausdrückt.217 Überträgt man die quantenmechanische Theorie der consistent histories auf den Roman, so bedeutet dies, dass es auch hier keine absoluten Wahrheiten mehr geben kann, sondern »allenfalls plausible, konsistente Hypothesen«218 . Damit wird jedoch zugleich auch der Wahrheitsanspruch des Textes relativiert, wie Thomas Klinkert anmerkt, weshalb der behauptete Kausalzusammenhang zwischen dem Schicksal der Romanfiguren und der kulturellen Liberalisierung nur eine von vielen möglichen Erklärungen darstellt. Dies bedeutet aber nicht, dass dem Roman jegliches Erkenntnispotenzial abgesprochen würde. Im Gegenteil: Die Funktion der Literatur besteht gerade darin, die Lücken oder Leerstellen in der naturwissenschaftlich Beschreibung der Welt zu füllen. Aus diesem Grund betont der Epilog noch einmal eigens den »fiktiven« Charakter der Erzählung: 217

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Während die Welt der klassischen Physik aus Objekten mit stabilen (intrinsischen) Eigenschaften besteht, existieren in der Quantenmechanik nur momentane Quantenzustände. Der Übergang von einem Quantenzustand zum nächsten folgt dabei keine vorherbestimmten Determinismus. In der klassischen Mechanik eines Newton lassen sich Position, Geschwindigkeit oder Impuls eines Körpers jederzeit exakt bestimmen. In der Quantenmechanik bleibt es dem Zufall überlassen, wo sich ein Teilchen vor oder nach der Messung aufhält. Bekanntlich konnte sich Albert Einstein nie an die Vorstellung gewöhnen, dass die physikalische Natur der Quantenwelt allein vom Zufall abhängen soll. Sein Kollege Nils Bohr hielt diesen Umstand dagegen für eine Tatsache. Den Streit zwischen den beiden Physikern beschreibt Werner Heisenberg in seiner Autobiografie wie folgt: »›Gott würfelt nicht‹, das war ein Grundsatz, der für Einstein unerschütterlich feststand, an dem er nicht rütteln lassen wollte. Bohr konnte darauf nur antworten: ›Aber es kann doch nicht unsere Aufgabe sein, Gott vorzuschreiben, wie Er die Welt regieren soll.‹« Zit. nach: Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze, a.a.O., S. 100. Thomas Klinkert, Epistemologische Fiktionen, a.a.O., S. 328.

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»Sur la vie, l’apparence physique, le caractère des personnages qui ont traversé ce récit, nous connaissons de nombreux détails ; ce livre doit malgré tout être considéré comme une fiction, une reconstitution crédible à partir de souvenirs partiels, plutôt que comme le reflet d’une vérité univoque et attestable. […] Ce qui suit, par contre, appartient à l’Histoire, et les événements qui découlent de la publication des travaux de Djerzinski ont été tant de fois retracés, commentés et analysés qu’on pourra se limiter à un résumé bref.« (PE, 307) Der Roman gleicht einer consistent history im Sinne Griffiths, da aus der Aneinanderreihung einzelner Beobachtungen (Messungen) allmählich ein kohärentes Bild von der Wirklichkeit hervorgeht. Nichtsdestotrotz bleiben auch hier einige »zones d’ombres« (PE, 307), die durch die Fiktion gefüllt werden müssen. Es handelt sich daher nicht um eine wahre Geschichte, sondern um eine mehr oder weniger glaubwürdige Rekonstruktion (»une reconstitution crédible«) von Erinnerungsfragmenten (»à partir de souvenirs partiels«). Sein Wissen über die beiden Protagonisten bezieht der Erzähler aus Michels wissenschaftlichem Nachlass, allen voran den sogenannten Clifden Notes, in denen dieser seinen Forschungsaufenthalt in Irland dokumentiert. Natürlich handelt es sich dabei in erster Linie um eine Beglaubigungsstrategie des Textes, wie Rita Schober anmerkt, denn für den Klon-Erzähler gehört das, was im Roman erzählt wird, bekanntlich einer weit zurückliegenden Vergangenheit an, wohingegen das, was im fiktiven Romanschluss geschildert wird, als historisch verbürgt und damit als Tatsache (»appartient à l’Histoire«) dargestellt wird.219

4.3.7

Der utopische Romanschluss zwischen Ironie und Ernst

Dem Wissenschaftler Michel kommt im Roman die Aufgabe zu, eine Lösung für die Probleme zu finden, unter denen die Menschen in den liberalen Gesellschaften des Westens leiden. Nach dem Vorbild von Auguste Comte entwickelt er in seinen letzten Lebensjahren die wissenschaftlichen Grundlagen einer neuen Gesellschaftsordnung. Anders als bei Comte erfolgt die Lösung im Roman jedoch nicht auf dem Weg der Sozialreform, sondern in Form der Gentechnik: »Dès que le code génétique serait entièrement déchiffré (et ce n’était plus qu’une question de mois), l’humanité serait en mesure de contrôler sa propre évolution biologique; la sexualité apparaîtrait alors clairement comme ce qu’elle est : une fonction inutile, dangereuse et régressive.« (PE, 268) Das Beispiel seines Halbbruders führt Michel vor Augen, dass die Sexualität ein Übel ist, von dem man die Menschheit befreien muss. Auf diese Weise will er das Begehren (»désir«), das eine andauernde Quelle von Gewalt und Egoismus darstellt, unterdrücken. Zwei Zufälle bringen ihn dabei auf die richtige Spur. In den Abendnachrichten erfährt er, dass eine Mars-Sonde Bakterien entdeckt hat, deren DNS mit derjenigen von Bakterien auf der Erde identisch ist (PE, 124). Daraus leitet Michel die folgende Überlegung ab: Wenn alle Lebewesen denselben genetischen Code in sich tragen, müsste es

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Vgl. Rita Schober, »Weltsicht und Realismus«, a.a.O., S. 166.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

dann nicht möglich sein, die Individualität zum Verschwinden zu bringen? Tatsächlich verfügen die posthumanen Menschen nicht mehr über eine eigene Persönlichkeit, da sie nach dem Vorbild von Zwillingen geschaffen sind, die – genau wie bei der »spukhaften Fernwirkung« zweier verschränkter Teilchen – durch eine »mystérieuse fraternité« (PE, 313) verbunden sind. Eine Studie der Universität von Ohio liefert Michel den zweiten Hinweis für seine Forschungen. Demnach entwickeln sich künstlich erzeugte Hefepilze schneller als solche, die sich auf natürlichem Weg vermehren (PE, 267). Dies bestätigt Michels eigene Vermutung, dass eine künstliche Reproduktion zwei entscheidende Vorteile mit sich bringt: Zum einen sind gentechnisch veränderte Arten leistungsstärker, wie Michel in Experimenten mit geklonten Kühen, die deutlich mehr Milch geben als andere Kühe, zeigen konnte; und zum anderen verschwinden durch das Klonen die bei der geschlechtlichen Fortpflanzung zwangsläufig auftretenden Probleme in der ElternKind-Beziehung. Bei seinen Forschungen konzentriert sich Michel darum in erster Linie darauf, alle problematischen Strukturen aus der DNS zu entfernen. Er verändert das menschliche Genom dahingehend, dass nur weibliche Eigenschaften übrigbleiben. Gleichzeitig findet er einen Weg, das Lustempfinden zu optimieren, indem er die sogenannten »Krause-Korpuskeln«, die sich ansonsten nur an Penis und Klitoris befinden, auf der gesamten Körperoberfläche verteilt (PE, 317). Damit bieten sich den posthumanen Menschen neue, bislang unvorstellbare Glücksmöglichkeiten. Die Abschaffung der Sexualität »comme modalité de reproduction« (PE, 312) bedeutet also keineswegs auch das Ende allen sinnlichen Vergnügens (»plaisir«). Mit dieser Lösung schreibt sich der Roman in die Tradition literarischer Gesellschaftsutopien ein, die ein anzustrebendes Gesellschaftsideal durch die Erschaffung eines neuen Menschentypus zu erreichen versuchen – mit dem Unterschied, dass dieses Ziel durch die gentechnische Manipulation des Erbgutes heute erstmals in der Geschichte der Menschheit in greifbarer Nähe zu sein scheint.220 Die Geschichte von Bruno und Michel legt den Verdacht nahe, dass eine solche Entwicklung erstrebenswert sei. Die Gentechnik erscheint als wahre Erlösungstechnologie: Sie befreit die Menschen von den Übeln der Sexualität, ohne ihre positiven Aspekte zu unterdrücken. Die posthumanen Wesen kommen ohne geschlechtliche Fortpflanzung aus, genießen aber weiterhin die Freuden der sinnlichen Liebe. Mit der Sexualität verschwindet sowohl das Begehren als auch der Individualismus aus der Welt. Die zukünftige Gesellschaft ist eine weibliche Gesellschaft, in der es keinen Egoismus und keine Gewalt mehr gibt. Auf den ersten Blick scheint es, als würde die wissenschaftliche Utopie des Romanschlusses begrüßt. Bei näherer Betrachtung kommen jedoch Zweifel auf, ob diese Lösung tatsächlich ernst zu nehmen ist. Vieles spricht dafür, dass der Roman vor den Gefahren warnt, die ein 220 Am 26. Juni 2000 gab der damalige US-Präsident Bill Clinton im Beisein der beiden Genforscher Craig Venter und Francis Collins die vollständige Entschlüsselung des menschlichen Genoms bekannt. Collins, bekannt als Leiter des internationalen Humangenomprojekts, war es gelungen, eine grobe Karte aller verschiedenen Basenabfolgen zu erstellen, mit deren Hilfe sich einzelne Gensequenzen segmentieren lassen. Private Konkurrenz bekam das Forschungsprojekt durch das im Mai 1998 gegründete Unternehmen Celera des US-amerikanischen Genforschers Craig Vainter. Dieser hatte eine Methode entwickelt, mit der sich das menschliche Genom noch schneller und günstiger entschlüsseln ließ. Vgl. hierzu Hans Melderis, Geheimnis der Gene. Die Geschichte ihrer Entschlüsselung, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2001.

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gentechnischer Eingriff in das menschliche Leben mit sich brächte. So gesehen würde der Romanschluss keine Utopie, sondern eine Dystopie entwerfen. Der Roman selbst enthält zahlreiche »Unbestimmtheiten«, die eine abschließende Bewertung erschweren oder sogar unmöglich machen. Er offeriert zwei konkurrierende Deutungsmöglichkeiten, je nachdem, ob man die wissenschaftliche Lösung des Romanschlusses als Antwort auf die Probleme der Romanfiguren interpretiert oder als Beleg dafür, dass der wissenschaftliche und technische Fortschritt die Enthumanisierung des Lebens weiter fortführen wird, wie dies auf der ideengeschichtlichen Ebene angedeutet wurde. Michel selbst wartet die technische Umsetzung seiner Forschungsergebnisse gar nicht ab, sondern begeht vorher Selbstmord. Seine Arbeit wird fortgesetzt von Frédéric Hubczejak, dem Herausgeber der sogenannten Cliffden Notes, der Michels wissenschaftliche Entdeckungen erstmals einem breiteren Publikum zugänglich macht. Obwohl er selbst nicht das Zeug zu einem großen Wissenschaftler hat, wie der Erzähler anmerkt, ist sein Verdienst doch unbestritten. Bereits in jungen Jahren ist Hubczejak von einer einzigen Idee besessen: »l’humanité devait disparaître ; l’humanité devait donner naissance à une nouvelle espèce, asexuée et immortelle, ayant dépassé l’individualité, la séparartion et le devenir« (PE, 308). Diese Idee verfolgt er überaus zielstrebig. In den ersten Jahren nach Michels Selbstmord versucht Hubczejak das Thema auf die politische Bühne zu bringen. Später startet er eine weltweite Kampagne zur Legalisierung des Klonens von Menschen. Das Motto dieser Kampagne (»Demain sera féminin«) entnimmt er Michels persönlichen Notizen, ohne zu wissen, dass dieser das Zitat ursprünglich aus dem Werbekatalog »3 Suisse« entnommen hat (PE, 123). Es entbehrt nicht der Ironie, dass ein profaner Werbeslogan solchermaßen zur Devise für die Erschaffung eines posthumanen Menschen wird. Hinzu kommt, dass Hubczejak die Ergebnisse von Michels Forschungen offenbar falsch interpretiert. Wie sich herausstellt, unternimmt Hubczejak eine »lecture trop étroitement positiviste des travaux de Djerzinski« (PE, 313), was dazu führt, dass er die philosophischen Implikationen verkennt und somit außer Acht lässt, dass eine »mutation biologique« notwendigerweise durch eine »mutation métaphysique« ergänzt werden muss. Allerdings ändert diese »méconnaissance grossière des enjeux philosophique du projet« (PE, 313) nichts daran, dass Hubczejak sein Ziel – die Erschaffung eines genetisch verbesserten Menschen – mit allen Mitteln vorantreibt. Hubczejak selbst gibt sich als glühender Anhänger der New Age-Bewegung zu erkennen. Diese versuche das 20. Jahrhundert ebenso wie »son immoralisme, son individualisme, son aspect libertaire et antisocial« (PE, 311) hinter sich zu lassen. Spätestens an diesem Punkt gilt es misstrausch zu werden, denn der Roman selbst legt eine ganz andere Interpretation der Geschichte nahe. Die New Age-Kultur wird ja gerade nicht als Antwort auf die individualistische Selbstkultur der 1970er Jahre dargestellt, sondern als eine ihrer Ursachen. Wenn Hubczejak sie dennoch verteidigt, dann weckt dies natürlich Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Romanschlusses einschließlich seiner utopischen Lösung. Ironischerweise möchte Hubczejak die negativen Folgen des Liberalismus ausgerechnet mit Hilfe der libertären Ideologie des New Age überwinden. Letztlich erweist sich diese »idéologie bâtarde et confuse« (PE, 311) jedoch als in sich widersprüchlich. Einerseits versuchen ihre Anhänger, das spirituelle Vakuum, das die Moderne den Menschen hinterlassen hat, durch pseudo-religiöse Elemente (wie die Esoterik) zu kompen-

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sieren; andererseits sind sie fest davon überzeugt, dass die Wissenschaft das einzige unwiderlegbare Wahrheitsmedium darstellt: »[…] ils ne faisaient en réalité confiance qu’à la science, la science était pour eux un critère de vérité unique et irréfutable. Comme tous les autres membres de la société, ils pensaient au fond d’eux-mêmes que la solution à tout problème – y compris aux problèmes psychologiques, sociologiques ou plus généralement humains – ne pouvait être qu’une solution d’ordre technique.« (PE, 314) Dieser Widerspruch zwischen einem materialistischen Weltbild einerseits und dem Bedürfnis nach spiritueller Sinnstiftung andererseits grenzt dem Erzähler zufolge an »schizophrénie« (PE, 314). Am Ende geht der religiöse Obskurantismus der New AgeBewegung eine unheilvolle Allianz mit der neuen Biotechnologie ein, denn die Gentechnik, die laut Hubczejak den Weg in eine bessere Zukunft weisen soll, führt in letzter Konsequenz dazu, dass die menschliche Spezies ein für alle Mal verschwindet. Genau darin liegt nun aber die eigentliche Ironie des Romans, wie Per Buvik schreibt: »L’ironie réside […] dans le fait que la technologie censée améliorer les conditions de l’homme est en réalité utilisée en vue de l’abolir. En d’autres mots, l’état parfait de l’humanité ne peut être atteint que lorsqu’elle aura été anéantie !«221 Michel und seine Nachfolger verfolgen ein humanistisches Ziel: Sie wollen eine Gemeinschaft von Menschen erschaffen, die einander in Solidarität und Mitgefühl verbunden sind. Doch eine solche Gemeinschaft ist nicht in Aussicht. Ihre Erfüllung findet die Utopie erst in der Abschaffung des Menschen und seiner Ersetzung durch ein posthumanes Wesen.222 Wenn Michel Per Buvik, »Inauthenticité et ironie. À propos des Particules élémentaires«, in: Clément, Murielle Lucie/Wesemael, Sabine van (Hg.), Michel Houellebecq à la Une, Amsterdam/New York: Rodopi, 2011, S. 75-90, hier S. 82. Wie man an diesem Beispiel erkennen kann, resultiert die Ironie von Houellebecqs Romanen daraus, dass die gesellschaftskritischen Aussagen der Erzählebene durch die Geschichtsebene dementiert werden. Für Éric Bordas handelt es sich dabei um eine Ironie zweiten Grades, die ihre eigentliche Absicht offen lässt: »L’ironie de l’ironie de Houellebecq est, exactement, dans cette très désagréable hésitation, qui ne permet jamais de distinguer la mention critique de l’usage complice […].« Es lasse sich oftmals nicht entscheiden, ob beispielsweise mit den sexistischen Äußerungen der Romanfiguren ein bestimmter (misogyner) Diskurs parodiert wird oder ob sich die provokanten Aussagen nicht vielmehr gegen den Diskurs der political correctness richten. Letztlich zeige diese Form der Ironie aber nur die Belanglosigkeit des Diskurses selbst auf: »Cette ironie ›postmoderne‹ est ainsi très proche, dans sa morale, de cette ironie de l’ironie, […] qui pousse Houellebecq à favorisier les discours les plus odieux pour mieux montrer l’irrémédiable inanité de tout discours, comme de toute réaction à un discours.« Vgl. Eric Bordas, »Ironie de l’ironie«, in: Jouve, Vincent/Pagès, Alain (Hg.), Les lieux du réalisme. Pour Philippe Hamon, Paris: Presses Sorbonne Nouvelle, 2005, S. 341-358, hier S. 357 und S. 358. 222 Houellebecqs vierter Roman La possibilité d’une île (2005) führt den utopischen Romanschluss von Les particules élémentaires fort. Der Roman besteht aus zwei parallel verlaufenden Handlungssträngen. Im Mittelpunkt des ersten Handlungsstranges steht der Ich-Erzähler Daniel 1, ein erfolgreicher Komiker, der es mit frauenverachtenden Witzen zum Millionär gebracht hat. Gegenstand des zweiten Handlungsstranges sind seine beiden Klon-Nachfolger Daniel 24 und Daniel 25. Sie verdanken ihre Existenz einer religiösen Sekte, den Elohimiten, deren Anhänger auf die Ankunft eines »Großen Wesens« warten. Unter ihnen befindet sich auch ein Wissenschaftler, der einen Weg gefunden hat, das menschliche Gedächtnis zu speichern, um es nach dem Tod auf einen neuen Körper zu übertragen. Zwischen dem Ahnherrn Daniel 1 und seinen Reinkarnationen liegt eine 221

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am Ende des Romans im Meer verschwindet, dann wohl auch deshalb, weil er die ganze Tragweite seiner wissenschaftlichen Entdeckungen erkannt hat. Vermutlich hat er begriffen, dass sich die von ihm angestoßene Entwicklung nun, wo die Büchse der Pandora geöffnet ist, nicht mehr aufhalten lässt. Desplechin, sein Vorgesetzter am CNRS, hatte ihn diesbezüglich gewarnt, doch seine mahnenden Worte fanden bei Michel kein Gehör. Laut Desplechin ist das Streben nach Erkenntnis im abendländischen Denken so tief verwurzelt, dass die westliche Welt ihm nahezu alles geopfert hat: »Aucune puissance économique, politique, sociale ou religieuse n’est capable de tenir face à l’évidence de la certitude rationnelle. On peut dire que l’Occident s’est intéressé au-delà de toute mesure à la philosophie et à la politique, qu’il s’est battu de manière parfaitement déraisonnable autour de questions philosophiques ou politiques ; on peut dire aussi que l’Occident a passionnément aimé la littérature et les arts ; mais rien en réalité n’aura eu autant de poids dans son histoire que le besoin de certitude rationnelle. À ce besoin de certitude rationnelle, l’Occident aura finalement tout sacrifié : sa religion, son bonheur, ses espoirs, et en définitive sa vie. C’est une chose dont il faudra se souvenir, lorsqu’on voudra porter un jugement d’ensemble sur la civilisation occidentale.« (PE, 270) Dass der Drang nach rationaler Gewissheit fatale Folgen nach sich ziehen kann, zeigt das Beispiel der Quantenmechanik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hatten die Atomphysiker anfangs noch gehofft, dass die Kernenergie ausschließlich für zivile Zwecke genutzt werden würde, so mussten sie spätestens mit dem Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki einsehen, dass sie mit ihren Forschungen eine Entwicklung angestoßen hatten, die sie selbst nicht mehr kontrollieren konnten. Mit der Forderung, die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit nicht zu missbrauchen, kamen die Physiker zu spät. Es waren »Forderungen, nicht zu sündigen nach dem Sündenfall«223 . Wenn die Wissenschaftler den Bau der Atombombe nicht verhindert haben, dann liegt dies vermutlich auch dran, dass sie dem Drang nach Erkenntnis nicht widerstehen konnten. Offenbar war die Aussicht auf eine technische Umsetzung ihrer Entdeckungen zu verführerisch, ließ sich auf diese Weise doch überprüfen, ob sich die physikalischen Theorien in der Praxis bewähren würden. Die Biowissenschaften müssen sich heute ebenfalls die Frage nach ihrer Verantwortung gegenüber dem Menschen stellen. Im Roman löst der Molekularbiologe Michel mit

Zeitspanne von mehreren tausend Jahren. In dieser Zeit hat sich die Zahl der Menschen nach zahlreichen Katastrophen drastisch reduziert. Die wenigen Überlebenden ziehen in Horden durch das Land, während die »néo-humains« aus Furcht vor den »sauvages« in abgeschiedenen Zellen leben, die sie niemals verlassen. Ihr Leben ist überaus monoton, ein Tag gleicht dem anderen. Sozialbeziehungen existieren nicht mehr. Am Ende verlässt der Klon-Erzähler jedoch sein sicheres Zuhause und begibt sich auf die Suche nach einer Frau. Damit zerstört der Roman jede Hoffnung darauf, dass die Biotechnologie die Menschheit in eine bessere Zukunft führen wird. Der Klon-Erzähler Daniel 25 wünscht sich nichts sehnlicher, als die Eintönigkeit seiner Existenz zu überwinden. Er verzichtet auf seine Unsterblichkeit, um wieder Mensch zu werden. 223 Friedrich Dürrenmatt, »›Heller als tausend Sonnen‹ – Zu einem Buch von Robert Jungk 1956«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 6, hg. von Franz Josef Görtz, Zürich: Diogenes, 1988, S. 636-640, hier S. 640.

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seinem Streben nach Erkenntnis eine ähnlich fatale Entwicklung aus wie die Atomphysiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aber auch die Geisteswissenschaften sind von dieser Verantwortung nicht ausgenommen. Houellebecq selbst hat die Schriftsteller und Philosophen des 20. Jahrhunderts an anderer Stelle dafür kritisiert, dass sie von den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften keine Notiz genommen hätten.224 Folglich hätten sie auch keine Antworten auf die philosophischen, politischen und ethischen Fragen geben können, die durch die Entdeckungen der Physik oder der Biotechnologie entstanden seien. Im Roman werden zahlreiche französische Intellektuelle der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – allen voran Sartre und Deleuze – zum Gegenstand einer Satire gemacht. Das Romanende enthält darüber hinaus eine Anspielung auf das berühmte Schlussbild aus Les mots et les choses, in dem Foucault in Aussicht stellt, dass der Mensch eines Tages verschwinden könnte wie ein Gesicht im Sand.225 Houellebecq übernimmt dieses Schlussbild von Foucault. Der Roman endet mit den Worten: »Au moment où ses derniers représentants vont s’éteindre, nous estimons légitime de rendre à l’humanité ce dernier hommage ; hommage qui, lui aussi, finira par s’effacer et se perdre dans les sables du temps ; il est cependant nécessaire que cet hommage, au moins une fois, ait été accompli. Ce livre est dédié à l’homme.« (PE, 316-317) Aus Sicht einer Wissensarchäologie, wie sie Foucault in Les mots et les choses betreibt, ist der Mensch eine relativ junge »Erfindung« und als solche wird er auch wieder verschwinden, wenn sich neue historische Wissensformationen herausbilden, die ihn als etwas anderes als ein Rechtssubjekt oder einen medizinisch-biologischen Gattungsbegriff definieren. Für Houellebecq hingegen ist der Mensch eine biologische, psychologische und moralische Realität, die möglicherweise Gefahr läuft, sich mit Hilfe der Biotechnologie selbst abzuschaffen. Die ironische Widmung, mit der sein Roman schließt, ist daher nicht nur eine Replik auf Foucaults These vom Ende des Menschen, sondern auch eine Warnung vor den Gefahren, die aus dem menschlichen Erkenntnisstreben 224 »Sur le plan scientifique et technique, le XXe siècle peut être placé au même niveau que le XIXe siècle. Sur le plan de la littérature et de la pensée, par contre, l’effondrement est presque incroyable, surtout depuis 1945, et le bilan consternant : quand on se remémore l’ignorance scientifique crasse d’un Sartre et d’une Beauvoir, pourtant supposés s’inscrire dans le champ de la philosophie, quand on considère le fait presque incroyable que Malraux a pu – ne fût-ce que très brièvement – être considéré comme un ›grand écrivain‹, on mesure le degré d’abrutissement auquel nous aura mené la notion d’engagement politique, et on s’étonne de ce que l’on puisse, encore aujourd’hui, prendre un intellectuel au sérieux […].« Michel Houellebecq, »Sortir du XXe siècle«, in: ders., Interventions 2, Paris: Flammarion, 2009, S. 219-226, hier S. 225. 225 »Une chose en tout cas est certain : c’est que l’homme n’est pas le plus vieux problème ni le plus constant qui se soit posé au savoir humain. En prenant une chronologie relativement courte et un découpage géographique restreint – la culture européenne depuis le XVIe siècle – on peut être sûr que l’homme y est une invention récente. […]. Si ces dispositions venaient à disparaître comme elles sont apparues, si par quelque événement dont nous pouvons tout au plus pressentir la possibilité, mais dont nous ne connaissons pour l’instant encore ni la forme ni la promesse, elles basculaient, comme le fit au tournant du XVIIIe siècle le sol de la pensée classique, – alors on peut bien parier que l’homme s’effacerait, comme à la limite de la mer un visage de sable.« Michel Foucault, Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris: Gallimard, 1966, S. 398.

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entstehen können. Wenn Literatur und Philosophie sich nicht des Menschen annehmen, dann ist es nur logisch, dass sich mit den neuen Lebenswissenschaften, allen voran der Biotechnologie und der Genetik, am Ende eine ganz andere Vorstellung vom Leben durchsetzen wird. Oder wie der Autor selbst es formuliert: »Si c’est techniquement réalisable, ce sera techniquement réalisé.«226

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Das Ende der Glaubwürdigkeit: ›postmodernes‹ Erzählen in La carte et le territoire (2010) Ein ›postmoderner‹ Roman?

Der mit dem Prix Goncourt 2010 ausgezeichnete Roman La carte et le territoire knüpft in vielerlei Hinsicht an den Vorgängerroman an.227 Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Künstler namens Jed Martin, dessen Werk – wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird – auffällige Parallelen zu Houellebecqs eigenem Romanwerk aufweist. Wie schon in den früheren Romanen wird die Erzählung durch ungefähre Zeitangaben (»la France des années 2010«), temporale Adverbialbestimmungen (»de nos jours«) und Anspielungen auf die jüngere Zeitgeschichte (wie die Finanzkrise 2008) unmittelbar in der zeitgenössischen Wirklichkeit verankert. Wie schon in Les particules élémentaires reicht die erzählte Zeit auch dieses Mal über die Gegenwart hinaus. Der Roman endet im Jahr 2036 und damit in einer nicht allzu weit entfernten Zukunft. Der Erzähler ist ein Kunsthistoriker, der sich in einer Art Retrospektive mit dem Leben und Werk von Jed Martin auseinandersetzt. Wie schon in den früheren Romanen experimentiert Houellebecq auch dieses Mal mit unterschiedlichen Gattungselementen. So schreibt sich der Roman einerseits in die Tradition des französischen Künstler- bzw. Malerromans des 19. Jahrhunderts ein.228 Andererseits knüpft er an den gesellschaftskritischen Roman Balzacs an und verknüpft die Lebensgeschichte des Protagonisten mit der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Frankreichs im 20. Jahrhundert. Gleichzeitig spielt der Roman aber auch mit dem (›postmodernen‹) Genre des Anti-Kriminalromans.229 Auch 226 Michel Houellebecq, »Entretien avec Jean-Yves Jouannais et Christophe Duchatelet«, a.a.O., S. 44. 227 Vgl. Michel Houellebecq, La carte et le territoire, Paris: Flammarion, 2010. Im Folgenden abgekürzt als CT. 228 Zur literarischen Tradition des Malerromans vgl. die Studie von Angelica Rieger, Alter ego. Der Maler als Schatten des Schriftstellers in der französischen Erzählliteratur von der Romantik bis zum Fin de siècle, Köln [u.a.]: Böhlau, 2000. 229 Der ›postmoderne‹ Kriminalroman (auch ›Anti-Kriminalroman‹ oder ›Anti-Detektivgeschichte‹ genannt) zeichnet sich dadurch aus, dass er seine Zugehörigkeit zum Genre des Kriminalromans hervorhebt und gleichzeitig subvertiert. Charakteristisch dafür ist das Spiel mit der Erwartungshaltung des Lesers und den konstitutiven Gattungsmerkmalen, etwa indem das Verbrechen am Ende nicht mehr aufgeklärt wird oder aber die Aufklärung nur mehr die Folge einer Verkettung von Zufällen, Fehldeutungen und Verwechslungen darstellt. Prominente Beispiele dieser (›postmodernen‹) Spielart des Kriminalromans sind Thomas PynchonsThe Crying of Lot 49 (1966), Umberto Ecos Il nome della rosa (1988) oder Paul Austers New York Trilogy (1985-87). Vgl. hierzu Mettin Genç, »Gattungsreflexion/Schemaliteratur«, in: Düwell, Susanne et al. (Hg.), Handbuch Kriminalliteratur. Theorien – Geschichte – Medien, Stuttgart: Metzler, 2018, S. 3-13, hier S. 11.

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thematisch knüpft die Erzählung an Houellebecqs frühere Romane an. Wenn Les particules élémentaires eine Erzählung über die Mutter war, dann rückt in La carte et le territoire nun die Figur des Vaters in den Vordergrund. Wie in allen Romanen des Autors, ist der Auflösungsprozess der Familie aber schon abgeschlossen, lange bevor die eigentliche Erzählung einsetzt. Jeds Vater, ein erfolgreicher Architekt und Unternehmer, ist »le chef d’une famille décomposée« (CT, 35). Die Mutter, so erfahren wir, hat sich bereits in jungen Jahren das Leben genommen. Weil der Vater beruflich eingespannt ist, verbringt Jed seine Kindheit auf dem Internat, wo er in den Genuss einer klassischen Bildung kommt, die seine künstlerische Entwicklung nachhaltig prägt. In der Forschung wurde vermerkt, dass der Roman einen »Bruch«230 im bisherigen Romanwerk des Schriftstellers markiert. Allerdings beruht dieser Bruch weniger auf einer thematischen Schwerpunktverschiebung, sondern vielmehr auf dem Verzicht fiktionaler Lösungsangebote. Hatten Houellebecqs frühere Erzählungen noch versucht, einen Ausweg aus der Misere des modernen Lebens zu skizzieren, so scheint sein fünfter Roman gänzlich ohne soziale Utopien oder Gentechnik auszukommen.231 Das Scheitern der Lebensentwürfe und Utopien wird hier zu einer Grunderfahrung der spätkapitalistischen Moderne. Wie Jed Martin im Laufe seiner Karriere feststellt, entscheiden weder ästhetische Programme noch Manifeste über den Wert der Kunst, sondern allein das Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Am Ende des Romans zieht sich Jed Martin enttäuscht aus der Gesellschaft zurück, um sich fortan ausschließlich seiner Kunst zu widmen. Sein Rückzug ist Ausdruck einer tiefen Resignation und zeugt von einer großen Skepsis hinsichtlich der Frage, welche Bedeutung die Kunst für das Leben hat. Schon der Debütroman hatte das modernistische Projekt der frühen Avantgarden, die Überführung der Kunst in Lebenspraxis, für gescheitert erklärt. La carte et le territoire führt diese Perspektive fort. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere kommen Jed Martin erstmals Zweifel an den kulturellen Leistungen der Moderne.232 Vom Fenster des Pariser Polizeipräsidiums aus betrachtet er die Kuppel eines benachbarten Gebäudes. Dabei wird ihm bewusst, dass die Moderne längst an ihr Ende gekommen ist:

230 Sandra Berger, Moralistisches Spiel – spielerische Moralistik, a.a.O., S. 247 231 Louis Betty erkennt in Houellebecqs Romanwerk eine »gradual exhaustion of utopian confidence« und interpretiert den Roman daher als Abschluss eines zunehmenden Desillusionierungsprozesses: »[…] Houellebecq’s work may be read in terms of a progressive disenchantment with nineteenth-century utopian remedies to social and existential ills, culminating in La carte et le territoire in favor of a more traditional form of social order evocative of the social, spiritual, and moral values of the Old Regime: Family, Land, Church.« Louis Betty, »Michel Houellebecq and the Promise of Utopia. A Tale of Progressive Disenchantment«, in: French Forum 40 (2-3), S. 97-109, hier S. 98. 232 Ähnliche Bedenken wie die Romanfigur äußert kein geringerer als Roland Barthes in einer Tagebuchnotiz vom 25. August 1979. Darin heißt es: »Toujours cette pensée : et si les Modernes se trompaient ? S’ils n’avaient pas de talent ?« In einer anderen Notiz vom 13. August 1977, die zusammen mit Auszügen aus einem früheren Tagebuch unter dem Titel »Délibération« in der Zeitschrift Tel Quel veröffentlicht wurde, schreibt Barthes: »Tout d’un coup, il m’est devenu indifférent de ne pas être moderne.« Zit. nach: Roland Barthes, Œuvres complètes, hg. von Éric Marty, Bd. 5, Paris: Seuil, 2002, S. 980 und S. 676. Man kann annehmen, dass Houellebecq mit der Geschichte des Zitats vertraut ist. In seinem Debütroman Extension du domaine de la lutte fungiert es als Kapitelmotto im zweiten Teil des Romans (EDL, 106).

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»Le dôme de l’Institut avait une vraie grâce, dut-il convenir un peu malgré lui. Évidemment, donner une forme arrondie à un bâtiment ne pouvait se justifier en aucune manière ; sur le plan rationnel, c’était simplement de la place perdue. La modernité était peut-être une erreur, se dit Jed pour la première fois de sa vie. Question purement rhétorique, d’ailleurs : la modernité était terminée en Europe occidentale depuis pas mal de temps déjà.« (CT, 337) Es ist sicherlich kein Zufall, dass sich diese Erkenntnis ausgerechnet beim Anblick eines Bauwerks einstellt. An der Frage der Architektur entzündete sich Mitte der 1970er Jahre die Debatte um die sogenannte ›Postmoderne‹.233 Die Anhänger einer postmodernen Architektur (wie Robert Venturi, Charles Moore und Philipp Johnson in den USA, Oswald M. Unger in Deutschland, James Stiling in Großbritannien oder Aldo Rossi in Italien) forderten eine Abkehr von der Abstraktion der reinen Formen, wie es die beiden Hauptvertreter der klassischen Moderne – Le Corbusier und Mies van der Rohe – vertreten hatten.234 Ihre Kritik richtete sich gegen die Rückführung der Architektur

233 Die Bezeichnung ›postmodern‹ war ursprünglich ein polemischer Kampfbegriff der nordamerikanischen Literaturdebatte der 1960er Jahre, bevor sie um 1975 in die Architektur aufgenommen und positiv umgedeutet wurde. Vgl. Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 3. Aufl., Weinheim: VCH-Verlag, 1991, S. 12-14; sowie Hans-Ulrich Gumbrecht, »Postmoderne«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von Klaus Weimar, Bd. 3, Berlin [u.a.]: de Gruyter, 2007, S. 136-140, hier S. 138. Der Begriff bezeichnet jedoch nicht nur Tendenzen in Literatur, Kunst und Architektur, sondern auch ein neuartiges Epochenbewusstsein, das sich in Abgrenzung zur Moderne definieren lässt. In der Soziologie bezieht sich die ›Moderne‹ für gewöhnlich auf einen historischen Entwicklungsprozess, der je nach Periodisierung im 16. oder 17. Jahrhundert einsetzt und mit dem Fortschrittsoptimismus der Aufklärung, der Entstehung der modernen Wissenschaften, dem Aufkommen neuer Technologien, dem Beginn des modernen Industriekapitalismus, dem Abbau traditioneller Standesunterschiede und dem Prozess der Säkularisierung assoziiert wird. In Kunst und Literatur wird der Begriff »als ein Reflexivwerden und als Selbstkritik der Moderne« aufgefasst. Vgl. Peter V. Zima, Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, 4. Aufl., Tübingen: Francke, 2016, S. 237. Zur ›Klassischen Moderne‹ werden vor allem die historischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts gerechnet. Dazu gehören so unterschiedliche Kunstrichtungen wie Kubismus, Expressionismus, Surrealismus, abstrakte Malerei, Dada, Futurismus, Neue Sachlichkeit, Bauhaus, Funktionalismus usw. Im Englischen haben sich dafür die Begriffe Modernism und High Modernism eingebürgert. Allerdings lässt sich der Beginn der Moderne auch früher datieren. In diesem Fall bezeichnet der Terminus ›Moderne‹ eine Entwicklung, die mit Baudelaire, dem Erfinder des Begriffs »modernité«, einsetzt und von den verschiedenen Bewegungen des Symbolismus, Ästhetizismus und Naturalismus bis zu den frühen Avantgarden fortgesetzt wird. Für eine ausführliche Begriffsbestimmung vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht, »Modern, Moderne, Modernität«, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner [u.a.], Bd. 4, Stuttgart: Klett-Cotta, 1978, S. 93-131. Zu den Erscheinungsformen der literarischen Moderne siehe etwa den Sammelband von Gotthart Wunberg/Stephan Dietrich (Hg.), Hg.), Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende, 2. Aufl., Freiburg: Rombach, 1998. 234 Für Le Corbusier und Mies van der Rohe hatte das Ideal von Klarheit und Transparenz oberste Priorität. Darum setzten sie auf einfache Baustoffe wie Stahl oder Beton, die schon bald zu Erkennungszeichen eines neuen ›internationalen Stils‹ wurden, der sich in Bürogebäuden, Wolkenkratzern oder Mietskasernen verbreitete und die Innenstädte rund um den Globus in einen »Ozean der Monotonie« verwandelte. Vgl. Heinrich Klotz, »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Revision der Moderne: post-

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

auf ihre elementaren (»primären«235 ) Bauformen und gegen das Primat der Vereinfachung. Stattdessen wollten sie eine vielfältigere Formensprache entwickeln, die sich an den lokalen und regionalen Eigenheiten des Ortes und den Bedürfnissen der Menschen orientiert.236 Der Roman selbst greift diese Debatte an verschiedenen Stellen auf. Jeds Vater berichtet beim Weihnachtsessen mit seinem Sohn, dass er als junger Architekturstudent versucht hatte, die funktionalistische Bauweise der Moderne zu überwinden. Rückblickend muss er sich jedoch eingestehen, dass dieses Ziel verfehlt wurde. Wie so viele seiner Altersgenossen, die mit den Studentenprotesten von 1968 aufgewachsen sind, hatte auch er gehofft, dass man den Kapitalismus auf diese Weise reformieren könnte. Für die nachfolgende Generation ist diese Hoffnung bloß noch eine Illusion. Als Jed Martin am Beginn seiner Karriere steht, hat sich das Gros seiner Kolleginnen und Kollegen mit den Verhältnissen abgefunden: »Jed consacra sa vie […] à l’art, à la production de représentation du monde, dans lesquelles cependant les gens ne devaient nullement vivre. Il pouvait de ce fait produire des représentations critiques – critiques dans une certaine mesure, car le mouvement général de l’art comme de la société tout entière portait en ces années de la jeunesse de Jed vers une acceptation du monde, parfois enthousiaste, le plus souvent nuancée d’ironie.« (CT, 37)

moderne Architektur 1960-1980. Katalog zur Ausstellung des Deutschen Architekturmuseums, Frankfurt a.M., 1. Juni – 10. Oktober 1984, München: Prestel, 1984, S. 7. 235 »Architektur ist das kunstvolle, korrekte und großartige Spiel der unter dem Licht versammelten Baukörper. Unsere Augen sind geschaffen, die Formen unter dem Licht zu sehen: Lichter und Schatten enthüllen die Formen: die Würfel, Kegel, Kugeln, Zylinder oder Pyramiden sind die primären Formen, die das Licht klar offenbart; ihr Bild erscheint uns rein und greifbar, eindeutig. Deshalb sind sie schöne Formen, die allerschönsten.« Le Corbusier, Ausblick auf eine Architektur: 1922, Berlin [u.a.]: Ullstein, 1963, S. 35. 236 Dazu setzten sie auf den Einsatz von Schmuck und Ornamenten, auf die Durchmischung unterschiedlicher Bauformen und eine »Doppelkodierung« der Räume, die die Grenze zwischen dem Elitären und dem Populären aufheben sollte. Bereits 1969 hatte der US-amerikanische Literaturkritiker Leslie Fiedler diese »Doppelkodierung« in einem Aufsatz mit dem Titel »Cross the Border – Close the Gap« zur Forderung einer neuen (›postmodernen‹) Literatur erhoben. Fiedler kritisiert die Literatur der Klassischen Moderne (M. Proust, J. Joyce, Th. Mann, T. S. Elliot), weil sie die Menschen nicht mehr erreichen würde und weil es eine »elitäre« Literatur für die »Gebildeten« sei. Die Literatur dürfe jedoch nicht bloß intellektuell sein, sondern müsse auch den Geschmack des Massenpublikums ansprechen. Aus diesem Grund plädiert Fiedler dafür, die Grenze zwischen trivialer Unterhaltungs- und klassischer »Höhenkammliteratur« aufzubrechen. Nahezu dieselbe Argumentation entwickelt der US-amerikanische Architekturtheoretiker Charles Jencks in seinem Buch The Language of postmodern Architecture (New York: Rizolli, 1977). Die postmoderne Architektur versuche den Anspruch des »Elitären« durch eine Erweiterung ihrer Formensprache in verschiedene Richtungen zu überwinden. Sie richte sich einerseits an eine kunsttheoretisch gebildete Elite, andererseits solle sie auch »den Mann auf der Straße« ansprechen. Da sich die jeweiligen »Codes« aber verändern können, müsse der Architekt seine Gebäude »überkodieren«. Dazu solle er ein Übermaß an »populären Zeichen und Metaphern« einsetzen, die verschiedenen Dinge zugleich meinen und ausdrücken können. Zit. nach Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne, a.a.O., S. 85-98, hier S. 88 und S. 91.

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Die Geschichte des Vaters steht stellvertretend für das Scheitern der postmodernen Kunst. Die Postmoderne wird im Roman verworfen, weil sie unfähig ist, eine kritische Haltung gegenüber der Wirklichkeit einzunehmen. Dass sich der Erzähler in diesem Zusammenhang auch gegen das Kunstmittel der Ironie ausspricht, ist einigermaßen überraschend. Immerhin ist das Romanwerk von Houellebecq wie kaum ein anderes von Ironie durchzogen.237 Es handelt sich dabei jedoch nur um einen scheinbaren Widerspruch. Denn die Kritik des Erzählers richtet sich nicht gegen die Ironie im Allgemeinen, so meine These, sondern gegen ein (›postmodernes‹) Ironie-Verständnis, das sich in Kategorien des Spiels, der Maskerade und des ironischen Zitats beschreiben lässt.238 Von einem solchen Ironie-Verständnis hat sich Houellebecq deutlich abgegrenzt, weil durch die Zunahme an Referenzen »zweiter Ordnung« Zweifel an der Aufrichtigkeit des Sprechers und des Wahrheitsgehaltes seiner Aussage entstünden, so dass jede Form von künstlerischer Kommunikation unmöglich werde.239 Mit dieser Einschätzung ist der Autor keineswegs allein. Gegen den Postmodernismus haben sich früh kritische Stimmen zu Wort gemeldet. Fredric Jameson beispielsweise attestiert der Postmoderne eine »Tiefenlosigkeit«, die er an drei wesentlichen Tendenzen festmacht: einem Rückgang an historischer Tiefe, einem Schwinden

237 Vgl. hierzu etwa Bruno Blanckeman, »L’ironie dans l’œuvre romanesque de Michel Houellebecq«, in: Alexandre, Didier/Schoentjes, Pierre (Hg.), L’Ironie: formes et enjeux d’une écriture contemporaine, Paris: Classiques Garnier, 2013, S. 49-64. 238 Die Grundzüge eines solchen Ironie-Verständnisses hat Umberto Eco in seiner Nachschrift zu Der Name der Rose dargelegt. Nach Eco mussten die Avantgarden der Klassischen Moderne im Laufe des 20. Jahrhunderts einsehen, dass sie bei ihrem Versuch, die Abstraktion der Formen bis zur Unendlichkeit voranzutreiben, in eine Sackgasse geraten waren. Je weiter sie die Auflösung der Handlung und Figuren, Linien und Farben, Töne und Harmonien vorantrieben, desto deutlicher zeigte sich ihnen, dass sie an einen Punkt gelangt waren, an dem sie entweder verstummen mussten oder vom Publikum nicht mehr verstanden wurden. Diese Aporie bewegte die postmodernen Künstler zu der Erkenntnis, »daß die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefaßt werden muß: mit Ironie, ohne Unschuld.« In der Postmoderne lässt sich laut Eco kaum noch »unschuldig« sprechen, da alles, was gesagt werden kann, bereits in irgendeiner Form gesagt wurde. Die einzige Möglichkeit, die dem Schriftsteller oder Künstler bleibt, um eine »falsche Unschuld« zu vermeiden, besteht darin, die eigenen Aussagen als ironisches Zitat auszugeben. Vgl. Umberto Eco, »Postmodernismus, Ironie und Vergnügen«, in: ders., Nachschrift zum ›Namen der Rose‹, München: Hanser, 1984, S. 76-82, hier S. 76 und S. 79. 239 »L’introduction massive dans les représentations de références, de dérision, de second degré, d’humour a rapidement miné l’activité artistique et philosophique en la transformant en rhétorique généralisée. Tout art, comme toute science, est un moyen de communication entre les hommes. Il est évident que l’efficacité et l’intensité de la communication diminuent et tendent à s’annuler dès l’instant qu’un doute s’installe sur la véracité de ce qui est dit, sur la sincérité de ce qui est exprimé (imagine-t-on, par exemple, une science au second degré ?). L’effritement tendanciel de la créativité dans les arts n’est ainsi qu’une autre face de l’impossibilité toute contemporaine de la conversation. Tout se passe en effet, dans la conversation courante, comme si l’expression directe d’un sentiment, d’une émotion, d’une idée était devenue impossible, parce que trop vulgaire. Tout doit passer par le filtre déformant de l’humour, humour qui finit bien entendu par tourner à vide et par se muer en mutité tragique.« (INT, 72-73)

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

des Affekts und einem Verlust an kritischer Distanz.240 Für Jameson sind die postmoderne Kunst und Kultur auf engste mit der Logik des Spätkapitalismus verknüpft. In der Postmoderne gibt es laut Jameson keinen Ort mehr, von dem aus Kritik an der Ideologie des Marktes formuliert werden könnte, weil der Kapitalismus alle Bereiche des Lebens und des Denkens durchdrungen hat. Auch die ästhetische Produktion ist zu einem integralen Bestandteil der kapitalistischen Warenproduktion geworden. Ein postmodernistisches Kunstwerk (wie Andy Warhols Diamond Dust Shoes) versuche gar nicht erst, eine bestimmte Erfahrung auszudrücken, sondern bilde lediglich ein Simulakrum der Konsumgesellschaft ab. Einen Beleg für die postmoderne Oberflächenzentriertheit sieht Jameson in dem inflationären Gebrauch des Pastiches, das an die Stelle der (modernistischen) Parodie getreten sei. Denn das Pastiche begnügt sich mit der neutralen Imitation eines Stils, ohne den satirischen (und das heißt: kritischen) Impuls der Parodie zu übernehmen. Es steht stellvertretend für eine »Kunst der Imitate, denen ihr Original entschwunden ist«241 . Mit La carte et le territoire hat Houellebecq nun aber einen Roman geschrieben, den man gewissermaßen selbst als Pastiche eines ›postmodernen‹ Romans bezeichnen kann. Dafür sprechen zunächst einmal zwei naheliegende Gründe: Zum einen wird über die Figur des Vaters unmittelbar auf die Debatte um die postmoderne Architektur Bezug genommen; zum anderen spielt der Text an vielen Stellen explizit auf Theorien postmoderner Philosophen wie Gilles Deleuze oder Jean Baudrillard an. Darüber hinaus experimentiert der Roman mit Konzepten der Selbstreflexivität, Intertextualität und Metafiktionalität, die man im weitesten Sinne ebenfalls als ›postmodern‹ bezeichnen kann.242 Dazu gehört auch die Auflösung von Raum und Zeit, die paradoxen Wiederholungsschleifen und mise-en-abyme-Techniken, die Verdoppelung der Romanfiguren und das Spiel mit der eigenen Autobiografie.243 Aber nicht nur in formaler Hinsicht ähnelt der Roman einem postmodernen Text. Auch die erzählte Welt nimmt Züge einer ›hyperrealen‹ Wirklichkeit an, in der alle Ordnungen künstlich sind und die Kunst nicht mehr so aussieht wie die Welt (das ist die Illusion des ›Realismus‹), sondern die Welt so wie die Kunst (das ist die Realität der ›Postmoderne‹). Die Darstellungsebene des Textes spiegelt somit genau das, was auf der Ebene des dargestellten Inhalts beschrieben wird: die Verwandlung der realen Welt 240 Vgl. Fredric Jameson, »Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus«, in: Huyssen, Andreas/Scherpe, Klaus R. (Hg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1986, S. 45-102, hier S. 58. 241 Ebd., S. 61. 242 Gerhard Regn beschreibt fünf Kennzeichen ›postmoderner‹ Literatur, nämlich die Verwendung konventioneller bis klischeehafter Erzählmuster, die Entfaltung von Intertextualitätsbezügen, die Ausgrenzung tradierter Formen der Sinnstiftung, die Vorliebe für historische Themen und die Ausrichtung der Literatur an ihrem Unterhaltungswert. Vgl. Gerhard Regn, »Postmoderne und Poetik der Oberfläche«, in: Hempfer, Klaus (Hg.), Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne, Stuttgart: Franz Steiner, 1992, S. 52-74, hier S. 55. 243 Das Spiel mit der eigenen Biografie ist ein wiederkehrendes Element von Houellebecqs Romanen. So hat der Autor in der Vergangenheit bereits des Öfteren autobiografische Elemente in seine Texte eingebaut. In La carte et le territoire wird dieses Spiel aber noch einmal gesteigert, da der (reale) Schriftsteller hier einerseits als (fiktive) Romanfigur und andererseits als Kunstwerk in Gestalt eines (fiktiven) Gemäldes auftaucht.

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Wirklichkeit im Wandel

in eine Welt der Simulation. Auf einer metapoetischen Ebene spricht sich der Text jedoch gleichzeitig für ein Literatur- und Kunstverständnis aus, das die Beschreibung der sozialen Wirklichkeit zum vorrangigen Ziel der Kunst erklärt. Damit wird die postmoderne Ironie (d.h. das selbstbezügliche Spiel mit der Tradition und der Erwartungshaltung des Lesers) gewissermaßen selbst ironisiert. Die Ironie wendet sich gegen die Ironie, um die postmoderne Ästhetik gegen den ,Realismus‘ auszuspielen.

4.4.2

Die Möbius-Schleife als Grundstruktur der Erzählung

›Postmodern‹ sind auch die komplexe Geometrie des Romans und seine verschachtelte Zeitstruktur. Wie Aymeric d’Afflon nachgewiesen hat, imitiert der Roman die Form einer Möbius-Schleife.244 Eine solche Möbius-Schleife befindet sich auch auf dem Grabstein des fiktiven Michel Houellebecq (CT, 309). Damit liefert uns der Roman selbst einen wichtigen Hinweis für die Selbstreflexivität des Textes. Eine Möbius-Schleife lässt sich konstruieren, indem man ein Band um 180 Grad verdreht und seine beiden Enden anschließend verbindet, so dass jede Seite des Bandes unmittelbar in sich selbst übergeht. Die zyklische Struktur des Möbius-Bandes entspricht einer inversen Wiederholung, bei der es weder Anfang noch Ende gibt. Folgt man dem Verlauf eines Möbius-Bandes in eine Richtung, so gelangt man nach zwei Durchläufen automatisch wieder zurück an den Ausganspunkt.245 Die geometrische Form des Möbius-Bandes spiegelt sich in der Romanstruktur wider. Der Roman selbst besteht aus drei Teilen, die von einem Prolog und einem Epilog eingerahmt werden. Verbunden werden die einzelnen Romanteile durch das dreimalige Weihnachtsfest, das Jed Martin die ersten beiden Male zusammen mit seinem Vater und das letzte Mal allein verbringt. Zeitlich umfasst die Romanhandlung somit eine Dauer von ungefähr drei Jahren. Allerdings wird die erzählte Geschichte immer wieder durch Rückblenden und Ellipsen unterbrochen. Der Epilog fasst die letzten Lebensjahre von Jed Martin in extremer Zeitraffung zusammen. Er steht darum in gewisser Weise außerhalb der eigentlichen Erzählung. Der Prolog wiederum weist denselben geometrischen Aufbau wie der Roman auf: Er besteht aus vier Abschnitten, die 244 Vgl. Aymeric d’Afflon, »L’animal lecteur, et autres sujets sensibles. La Carte et le Territoire de Michel Houellebecq«, in: Littérature 163, 2011, S. 62-74. 245 Wegen seiner paradoxalen Form wurde das Möbius-Band zum Emblem der Postmoderne. Baudrillard verwendet es als Beschreibungsmodell für die Logik der Simulation, in der es keine lineare Kontinuität mehr gibt und sich die Tatsachen von ihrem objektiven Grund lösen. In der simulierten Realität stehen die Referenten nicht länger außerhalb des Diskurses, wie Baudrillard schreibt, sondern sie verschmelzen mit dem Modell, das sie hervorbringt und ihnen vorausgeht: »Tous les référentiels mêlent leurs discours dans une compulsion circulaire, mœbienne.« In dem Maße wie das Reale hinter den Modellen verschwindet, wird das objektiv Gegebene zum Produkt einer diskursiven Erzeugung. Dies hat zur Folge, dass unterschiedliche Hypothesen gleichzeitig wahr sein können: »Tout cela est vrai simultanément. C’est le secret d’un discours qui n’est plus seulement ambigu, comme peuvent l’être les discours politiques, mais qui traduit l’impossibilité d’une position determinée de pouvoir, l’impossibilité d’une position déterminée du discours. Elle traverse les discours sans qu’ils le veuillent. Qui dénouera cet imbroglio ? Le nœud gordien pouvait au moins se trancher. La bande de Mœbius, elle, si on la divise, résulte en une spirale supplémentaire sans que soit résolue la réversibilité des surfaces (ici la continuité réversible des hypothèses).« Jean Baudrillard, Simulacres et simulation, Paris: Galilée, 1981, S. 34 und 32.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

durch das wiederkehrende Leitmotiv des Durchlauferhitzers zusammengehalten werden. Der erste Abschnitt beginnt mit der Beschreibung eines fiktiven Bildes, auf dem die beiden Gegenwartskünstler Jeff Koons und Damien Hirst abgebildet sind. Dass es sich dabei um ein Porträt handelt, an dem der Protagonist gerade arbeitet, erschließt sich erst nach ein paar Zeilen. Der Leser wird dadurch bereits zu Beginn des Romans mit dem poetischen Verfahren der Ekphrasis vertraut gemacht, das im Verlauf der Handlung mehrfach herangezogen wird, um die Gemälde von Jed Martin zu beschreiben.246 Am Ende des ersten Abschnitts wird Jed Martin von sonderbaren Geräuschen in der Küche aufgeschreckt: »Dans la cuisine […] le chauffe-eau émit une succesion de claquements sec« (CT, 11). Anschließend wird in einer Rückblende die Vorgeschichte des Gerätes erzählt. Ein Jahr zuvor musste der Durchlauferhitzer repariert werden, nachdem er schon einmal ähnliche Geräusche von sich gegeben hatte. Mit dem dritten Abschnitt springt der Prolog anschließend zurück in die Erzählgegenwart des Romans. Damit erhält die Erzählung eine zyklische Struktur. Als Jed nach dem Weihnachtsessen mit seinem Vater in seine Wohnung kommt, stellt er zufrieden fest, dass der Durchlauferhitzer noch immer funktioniert. Mitten in der Nacht wird er jedoch von einer ungewöhnlichen Hitze aus dem Schlaf gerissen. Es gelingt ihm, die Temperatur des Durchlauferhitzers zu verringern. Da er nicht mehr einschlafen kann, wendet er sich dem Porträt der beiden Künstler zu und zerstört es, indem er Hirst mit einem Spachtel in die Augen sticht. Anschließend übergibt er sich und schläft auf dem Fußboden ein. Damit endet der Prolog, der durch die zweifache Erwähnung des Porträts jeweils am Anfang und am Ende eingerahmt wurde. Die nun folgenden Romanteile wiederholen dieses Schema noch einmal. Nach dem Prolog folgt eine längere Analepse, die eine Zeitspanne von mehreren Jahrzehnten umfasst und den gesamten ersten Romanteil einnimmt. Sie reicht von Jeds Kindheit, über sein Studium an der Kunsthochschule bis zur Ausstellung seines Fotoprojektes. Mit dem Beginn des zweiten Teils springt die Erzählung zurück an den Punkt, an dem der Prolog zuvor geendet hatte.247 Jed erwacht am Weihnachtsmorgen in einer Lake aus Erbrochenem, neben ihm liegen noch immer die Überreste des zerstörten Bildes. Die Analepse fällt somit genau in die zeitliche Ellipse zwischen dem Erbrechen des Protagonisten und seinem Erwachen am nächsten Morgen. Sie ist »encapsulée dans cette faille temporelle qu’est le sommeil«248 . Wie schon im Prolog springt die Erzählung nach die-

246 Zu den bekanntesten Beispielen einer literarischen Bildbeschreibung, die gattungsbildend für die antike Tradition der Ekphrasis geworden ist, zählt die Schildbeschreibung des Achill in Homers Illias. Vgl. hierzu Erika Simon, »Der Schild des Achilleus«, in: Boehm, Gottfried/Pfotenhauer, Helmut (Hg.), Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München: Fink, 1995, S. 123-142. 247 Eberhard Lämmert hat diese Form der nachgeholten Exposition als »aufbauende Rückwendung« bezeichnet. Balzac verwendet diese Expositionstechnik in den zwei Episoden seiner Parents pauvres ebenfalls. Der Erzähler trägt in einer solchen Rückwendung das für das weitere Verständnis der Geschichte notwendige Material (z.B. biografische Fakten und Hintergründe über die seelische Entwicklung der Charaktere) zusammen, um die künftigen Ereignisse zu motivieren. Vgl. Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart, Metzler, 1955, S. 104. 248 Aymeric d’Afflon, »L’animal lecteur, et autres sujets sensibles«, a.a.O., S. 65.

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Wirklichkeit im Wandel

ser Rückblende zurück an den Ausgangspunkt der Geschichte. Vieles verhält sich nun aber genau umgekehrt wie im ersten Teil: Nach dem Erfolg seiner Foto-Ausstellung im ersten Teil gerät die Vernissage seiner Ölgemälde im zweiten Teil zu einer regelrechten Farce.249 Im ersten Teil verliebt sich Jed in Olga und die beiden verbringen mehrere glückliche Monate zusammen. Im Zweiten Teil sehen sie sich erstmals nach ihrer Trennung zehn Jahre zuvor wieder, doch für die beiden gibt es keine Aussicht auf eine gemeinsame Zukunft mehr. Der Roman vollzieht also eine doppelte Bewegung, die dem zweifachen Durchlauf eines Möbius-Bandes entspricht. Das Ende der Beziehung zwischen Jed und Olga markiert den Wendepunkt, an dem die Bewegung kippt und sich die Richtung des MöbiusBandes ändert. Nach der Trennung von Olga erkennt Jed »qu’il venait, presque à son insu, de franchir une nouvelle étape dans le déroulement de sa vie« (CT, 103). Es folgt jene überaus produktive Schaffensperiode, in der Jed seine beiden Porträtserien anfertigt. Darunter befindet sich auch das Porträt von Jeff Koons und Damien Hirst, das er am Ende des Prologs zerstört. Der Prolog selbst endet mit den Worten: »il était visiblement parvenu à une fin de cycle« (CT, 29). Zwar fertigt Jed in der Folge noch ein weiteres Porträt an, nämlich das Bild des Schriftstellers Michel Houellebecq, das nun gewissermaßen an die Stelle des zerstörten Porträts der beiden Gegenwartskünstler tritt. Doch nach der Übergabe des Gemäldes wird Jed schlagartig bewusst »qu’il allait maintenant quitter ce monde dont il n’avait jamais véritablement fait partie« (CT, 260). Damit ist das Möbius-Band vollständig durchlaufen. Die Kreisform korrespondiert mit dem zyklischen Geschichtsbild des Romans. Dies lässt sich an der Familiengeschichte des Protagonisten zeigen. Jeds Großvater ist der erste in einer langen Reihe von Vorfahren, dem es gelingt, aus der »pure et simple reproduction sociale du même« (CT, 38) auszubrechen. Obgleich er in eine Klasse hineingeboren wurde, die sich vor allem aus Bauern und Landarbeitern zusammensetzt, gelingt es ihm, den Kreislauf der sozialen Reproduktion zu durchbrechen und Fotograf zu werden. Da die Fotografie zu jener Zeit noch nicht sehr weit entwickelt ist, beschränkt sich seine Tätigkeit als Fotograf auf Familienfeste, Hochzeiten und Taufen. Im Vergleich dazu kommt das Architekturstudium von Jeds Vater bereits einer veritablen »promotion sociale« (CT, 38) gleich. Der Großvater unterstützt die Entscheidung seines Sohnes, weil er in jungen Jahren selbst eine »ambition artistique« (CT, 212) hegte. Nach dem Studium gibt der Vater seine künstlerischen Ambitionen jedoch auf, um einen bürgerlichen Beruf zu ergreifen. Erst der Enkel schafft es, seinen Lebensunterhalt als Künstler zu bestreiten. Seine Bewerbungsmappe für die Kunsthochschule besteht aus einer Sammlung von Fotografien, die Jed Martin mit der Kamera seines Großva-

249 Es scheint fast so, als würde sich in der Lebensgeschichte des Protagonisten jene Aussage aus der Einleitung des Achtzehnten Brumaire bewahrheiten, wonach sich die Geschichte immer zwei Mal ereignet, nämlich einmal als Tragödie und einmal als Farce. Vgl. Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 11, Berlin: Akademie-Verlag, 1985, S. 96-189, hier S. 96.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

ters anfertigt. Damit schließt sich der Kreis: dem Enkel gelingt das, was dem Großvater noch verwehrt blieb.250 Genau wie die Familienchronik unterliegt auch die Geschichte wiederkehrenden Zyklen. Am Ende des Romans kehren sowohl Jed Martin als auch Houellebecq an den Ort ihrer Kindheit zurück. »On finit comme on a commencé« (CT, 248), erklärt der Schriftsteller bei ihrem letzten Treffen. Zu diesem Zeitpunkt haben die beiden Künstler ihre jeweiligen Krisen überwunden. Was für die Romanfiguren zutrifft, gilt in noch größerem Ausmaß für die Gesellschaft und den Kapitalismus. Das kapitalistische Wirtschaftssystem beruht auf periodisch wiederkehrenden Krisen, in denen bestehende Strukturen durch neue Innovationen verdrängt und abgelöst werden.251 Auf Phasen des wirtschaftlichen Aufschwungs folgen Phasen der Stagnation und der Krise. Für Karl Marx handelt es sich dabei um systemimmanente Krisen des Kapitalismus, deren Ursachen in der kapitalistischen Produktionsweise selbst begründet liegen.252 Im Roman wird mit Hilfe der technischen Metapher des Durchlauferhitzers auf die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus angespielt. Auch der Durchlauferhitzer, mit dem Jed Martin im Prolog zu kämpfen hat, verzeichnet unterschiedliche Phasen und Zustände: Anfangs funktioniert er störungsfrei, dann fällt er plötzlich aus und es bedarf einer grundlegenden Reparatur, um ihn erneut zum Laufen zu bringen. In der Folge arbeitet er eine Zeit lang so, wie man es von ihm erwartet (er reguliert die Temperatur und erzeugt ein angenehmes Klima in der Wohnung), doch dann fällt er wieder aus. Als Jed am Ende des Romans den Weihnachtsabend in seinem Atelier verbringt, meldet sich der Durchlauferhitzer erneut zu Wort. 250 Vgl. hierzu auch die Aussage des Erzählers: »[…] le fils est la mort du père c’est certain mais pour le grand-père le petit-fils est une sorte de renaissance ou de revanche […]« (CT, 21). 251 Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter hat für diesen Vorgang den Begriff der »schöpferischen Zerstörung« geprägt. Damit ist gemeint, dass bestehende Geschäftsmodelle, Produkte, Dienstleistungen oder Technologien in regelmäßigen Abständen durch neue Innovationen ersetzt werden. Für Schumpeter ist das Prinzip der »schöpferischen Zerstörung« eine Notwendigkeit, damit eine Neuordnung des Wirtschaftslebens stattfinden kann. Vgl. Joseph Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 8. Aufl., Tübingen: Francke, 2005, S. 134ff. Man kann davon ausgehen, dass Houellebecq mit den Überlegungen des österreichischen Ökonomen vertraut ist. In La possibilité d’une île werden sowohl der Begriff der »schöpferischen Zerstörung« als auch der Name seines Erfinders erwähnt. Vgl. Michel Houellebecq, La possibilité d’une île, Paris: Flammarion, 2005, S. 49 und 140. 252 »Aber erst von der Zeit an, als die mechanische Industrie so tiefe Wurzeln geschlagen hatte, daß sie auf die ganze nationale Produktion einen überwiegenden Einfluß ausübte; als durch sie der Außenhandel dem Binnenhandel den Rang abzulaufen begann; als sich der Weltmarkt sukzessive ausgedehnter Gebiete in der neuen Welt, in Asien und in Australien bemächtigte; als schließlich die industriellen Nationen, die auf die Arena traten, zahlreich genug geworden waren – erst von dieser Zeit an datierten jene sich stets wiedererzeugenden Zyklen, deren aufeinanderfolgende Phasen Jahre umfassen und die immer hinauslaufen auf eine allgemeine Krise, die Ende eines Zyklus und Ausgangspunkt eines neuen ist. Bis jetzt ist die periodische Dauer solcher Zyklen zehn oder elf Jahre, aber es gibt keinerlei Grund, diese Zahl als konstant zu betrachten. Im Gegenteil, aus den Gesetzen der kapitalistischen Produktion, wie wir sie eben entwickelt haben, muß man schließen, daß sie variabel ist und daß die Periode der Zyklen sich stufenweise verkürzen wird.« Karl Marx, Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx, Karl/Engels, Friedrich, Werke, Bd. 23, Berlin: Dietz, 1974, S. 662.

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Wirklichkeit im Wandel

»De fait il tournait en rond, c’est le moins qu’on puisse dire. Il était tellement désœuvré que, depuis quelques semaines, il s’était mis à parler à son chauffe-eau. Et le plus inquiétant – il en avait pris conscience l’avant-veille – était qu’il s’attendait maintenant à ce que le chauffe-eau lui réponde. L’appareil produisait il est vrai des bruits de plus en plus variés : gémissements, ronflements, claquements sec, sifflements de tonalité et de volume variés ; on pouvait s’attendre un jour ou l’autre à ce qu’il accède au langage articulé. Il était, en somme, son plus ancien compagnon.« (CT, 384) Nach all den Jahren hat Jed gelernt, mit den Geräuschen (»Artikulationen«) des Durchlauferhitzers zu leben. Zwischen den beiden hat sich sogar eine besondere Form der Kommunikation entwickelt: Jed spricht mit der Maschine und wartet darauf, dass sie ihm antwortet. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten, denn die Maschine sendet akustische Signale aus, die Aufschluss über ihren Zustand geben. Am Ende des Prologs fällt der Durchlauferhitzer aus, nachdem er heiß gelaufen ist. Analog dazu häufen sich am Romanende die Zeichen, dass die »kapitalistische Maschine«253 überhitzt ist: »Depuis la dernière crise financière, bien pire que celle de 2008, qui avait entraîné la faillite du Crédit Suisse et de la Royal Bank of Scotland, sans parler de nombre d’autres établissements moins considérables, les banquiers faisaient profil bas; c’est le moins qu’on puisse dire. […] De manière plus générale, on vivait une période idéologiquement étrange, où tout un chacun en Europe occidentale semblait persuadé que le capitalisme était condamné, et même condamné à brève échéance, qu’il vivait ses toutes dernières années, sans que pourtant les partis d’ultra-gauche parviennent à séduire audelà de leur clientèle habituelle de masochistes hargneux. Un voile de cendres semblait s’être répandu sur les esprits.« (CT, 382-383) Obwohl die immer kürzer werdenden Zyklen der Wirtschafts- und Finanzkrisen das Symptom einer umfassenden Krise des Kapitalismus sind, scheint niemand in den westeuropäischen Gesellschaften gewillt oder imstande, eine Alternative zum gegenwärtigem Wirtschaftssystem zu entwerfen, so sehr haben die Aschewolken (»voile de cendres«) des heiß gelaufenen Kapitalismus den Blick auf das übergeordnete Ganze vernebelt. Bislang hat die kapitalistische Maschine all ihre Krisen überlebt und bleibt daher auch weiterhin in Betrieb, genau wie Jeds Durchlauferhitzer: »Son chauffe-eau avait finalement survécu à Houellebecq, se dit Jed en rentrant chez lui, considérant l’appareil qui l’accueillait en ronflant sournoisement, comme une bête vicieuse« (CT, 356). Die Metaphorisierung des technischen Gerätes zur »wilden Bestie« passt zur Rede vom globalen »Raubtierkapitalismus«. Die verheerenden Tendenzen eines unregulierten Kapitalismus zeigen sich insbesondere auf dem Kunstmarkt. Am Ende des Romans hat die

253 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Capitalisme et schizophrénie, Bd. 1: L’Anti-Œdipe, Paris: Minuit 1972, S. 41.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

Spekulation mit Kunstgegenständen unermessliche Dimensionen angenommen.254 Für Jed Martin ist dies ein Grund, sich aus der Welt zurückzuziehen.

4.4.3

Vom Scheitern der Liebe und anderer Utopien

Bis dahin allerdings liest sich die Lebensgeschichte des Protagonisten und sein kometenhafter Aufstieg zu einem der teuersten Künstler der Welt wie ein einziger Roman. Er selbst vergleicht sich nach dem Erfolg seiner Foto-Ausstellung mit einer Romanfigur aus dem 19. Jahrhundert, wie sie in den Erzählungen der französischen Realisten vorkommen.255 Jed Martins persönlicher Roman beginnt mit der Ausstellung seines Kartenprojekts. Bei dieser Gelegenheit lernt er die junge Russin Olga Sheremoyova kennen, die für das französische Unternehmen Michelin arbeitet und die Ausstellung in dessen Auftrag begleitet. Nachdem Jed und Olga ein Paar geworden sind, reisen sie in die französische Provinz. Dort genießen sie »ce bonheur épicurien, paisible, raffiné sans snobisme, que la société occidentale propose aux représentants de ses classes moyennes-élevées en milieu de vie« (CT, 96). Der Roman spart nicht an Ironie, um die hedonistische Lebensweise einer privilegierten Mittelschicht zu denunzieren. Bei der Wahl ihrer Reiseziele orientieren sich Jed und Olga an den Vorschlägen von Reiseführern wie French Touch, deren »prose poétique« (CT, 98) ausgiebig zitiert wird. Das Bild, das diese Reiseführer von Frankreich zeichnen, ist eine Synthese aus Tradition und sinnlichem Genuss, hat aber nur wenig mit der typischen Lebensweise der meisten Franzosen gemein: »Cette juxtaposition d’éléments vieille France ou terroir et d’équipements hédoniste contemporains produisait parfois un effet étrange, presque celui d’une faute de goût ; mais c’était peut-être ce mélange improbable, se dit Jed, que recherchait la clièntele de la chaîne, ou du moins son cœur de cible.« (CT, 99) Die Verwendung des Italique ist eine Technik, auf die bereits Balzac und Flaubert zurückgreifen, um die Gemeinplätze und überkommene Vorstellungen ihrer eigenen Epoche zu denunzieren. Mit dem Kursivdruck wird die Bezugnahme auf eine fremde Redeweise – hier die Werbesprache der Reiseführer – markiert und der entsprechende Diskurs gleichzeitig parodistisch unterlaufen. Für Jed und Olga wird die Reise in die Provinz zu einer bitteren Enttäuschung. Was Olga betrifft, so muss sie recht schnell einsehen, dass sich ihr Eindruck nicht mit dem Bild von Frankreich deckt, das sie sich in ihrer Jugend zurechtgelegt hat:

254 »Beaucoup d’experts avaient cru qu’à la période de frénésie spéculative qui avait précéde succéderait une période plus calme, où le marché croîtrait lentement, régulièrement, à un rythme normal ; certains avaient même prédit que l’art deviendrait une valeur refuge ; ils s’étaient trompés. […] la spéculation dans le domaine de l’art était devenue encore plus intense, plus désordonnée et plus frénétique […].« (CT, 383) 255 »Parmi ses lectures d’adolescence, dans son collège de jésuites, il y avait eu ces romans réalistes du XIXe siècle français, où il arrive que des personnages de jeunes gens ambitieux réussissent par les femmes ; mais il était surpris de se retrouver dans une situation similaire, et à vrai dire il avait un peu oublié ces romans réalistes du XIXe siècle français […]« (CT, 75).

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»Olga faisait partie de ces Russes attachants qui ont appris au cours de leurs années de formation à admirer une certaine image de la France – galanterie, gastronomie, littérature et ainsi de suite – et se désolent ensuite régulièrement de ce que le pays réel corresponde si mal à leurs attentes.« (CT, 69) Die Verwendung deiktischer Demonstrativpronomen (»faisait partie de ces Russes«) ist ein häufiges Verfahren des Realismus. Es präsupponiert die Existenz eines Sachverhaltes in der realen Welt, ohne diesen Sachverhalt logisch begründen zu müssen. Auf diese Weise werden Gegenstände, Personen oder Situationen einem bestimmten Typus zugeordnet und damit gewissermaßen objektiviert. In vorliegenden Fall soll damit ein typischer Sozialisierungsprozess angezeigt werden. Olgas Vater, so erfahren wir, ist Biologe an der Moskauer Universität. Ihre Herkunft aus dem akademischen Milieu soll ihre Affinität für die französische Kultur erklären. Mit den Jahren verblasst ihre Liebe zu Frankreich jedoch mehr und mehr. Als man ihr anbietet, den Aufbau eines Fernsehsenders zu koordinieren, mit dem Michelin seine Präsenz auf dem russischen Markt ausbauen möchte, fällt Olga die Entscheidung darum nicht schwer. Am Pfingstmontag verkündet sie Jed beim Frühstück, dass sie zurück nach Russland gehen wird: »C’est là, le lundi de Pentecôte, au petit déjeuner, qu’Olga annonça à Jed qu’elle retournait en Russie à la fin du mois. Elle dégustait à cet instant une confiture de fraise des bois, et des oiseaux indifférents à tout drame humain gazouillaient dans le parc originellement dessiné par Le Nôtre. Une famille de Chinois, à quelques mètres d’eux, se goinfrait de gaufres et de saucisses.« (CT, 99f.) Die Nachricht trifft Jed vollkommen unerwartet und stürzt ihn vom höchsten Glück geradewegs ins tiefste Unglück. Ein solcher Einbruch des Tragischen inmitten der Idylle ist in der Welt der Reiseführer und Magazine nicht vorgesehen. Weder die chinesische Familie am Nachbartisch noch die Natur nehmen Anteil an Jeds Unglück. Draußen im Park zwitschern die Vögel »gleichgültig« gegenüber allen »menschlichen Dramen«. Dieselbe Gleichgültigkeit spiegelt sich auch in der Erzählweise. Der nüchterne Stil kontrastiert deutlich mit der hohen Emotionalität der Szene. Dieser Kontrast bewirkt eine Komik, bei der es sich jedoch nicht um Ironie, sondern um Humor handelt. Während die Ironie nämlich Ernsthaftigkeit vortäuscht, wo eigentlich nur Scherz gemeint ist, beruht der Humor, wie Arthur Schopenhauer schreibt, »auf einer subjektiven, aber ernsten und erhabenen Stimmung, welche unwillkürlich in Konflikt geräth [sic!] mit einer ihr sehr heterogenen, gemeinen Außenwelt, der sie weder ausweichen, noch sich selbst aufgeben kann«.256 Im Humor artikuliert sich somit eine bestimmte Einstellung zur

256 In seiner Theorie des Lächerlichen beschreibt Schopenhauer den Humor als eine von mehreren Erscheinungsformen des Lachens neben der Ironie, dem Witz, der Parodie und dem Scherz. Der Humor beruht auf einer Inkongruenz von Begriff und Realem (d.h. Anschaulichem). Um Ironie handelt es sich dagegen, wenn wir »auf die Meinung des Anderen, welche das Gegentheil der unserigen sind, mit scheinbarem Ernst eingehen und sie mit ihm zu theilen simulieren«. Als Paradebeispiel einer ironischen Haltung gilt ihm das sokratische Verfahren der Verstellung, das Unwissenheit vortäuscht, wo eigentlich das Wissen vorherrscht. Während die Ironie im Ernst beginnt und im Lachen endet, verhält es sich im Falle des Humors gerade umgekehrt. Der Humor zwingt zum Lachen, verbirgt dahinter jedoch meist einen ernsten Kern. Vgl. Arthur Schopenhauer, »Zur

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

Welt. Er ist eine Form, mit der Gleichgültigkeit der modernen Welt umzugehen. Zu den Imperativen dieser Welt, speziell der modernen Arbeitswelt, gehört, dass man seine persönlichen Lebensziele der beruflichen Karriere unterordnet. Auch Olga kann das Angebot ihres Arbeitgebers unmöglich ablehnen, ohne sich in den Augen ihrer Vorgesetzten selbst herabzusetzen: »[…] c’était une mutation qu’elle ne pouvait en aucun cas refuser, aux yeux de la direction générale un refus aurait été non seulement incompréhensible mais même criminel, un cadre d’un certain niveau n’a pas seulement les obligations par rapports à l’entreprise mais aussi par rapport à lui-même, il se doit de soigner et de chérir sa carrière comme le Christ le fait pour l’Église, ou l’épouse pour son époux, il se doit tout du moins de prêter aux appels de sa carrière ce minimum d’attention sans lequel il montre à ses supérieurs consternés qu’il ne sera jamais digne de s’élever au-dessus d’une position subalterne« (CT, 100). Anders als im vorherigen Fall handelt es sich hierbei nicht um Humor, sondern um Ironie. Ironisiert wird ein ökonomischer Diskurs, der Leistungswille und Aufopferungsbereitschaft zu »Tugenden« einer Führungskraft erklärt. Dieser Diskurs, dessen ideologische Glaubenssätze (»elle ne pouvait en aucun cas«, »un cadre d’un certain niveau n’a pas seuelement«, »il se doit«, »il ne sera jamais digne«) der Erzähler mit der aufgesetzten Miene der Ernsthaftigkeit wiederholt, wird durch den doppelten Vergleich mit dem Opfertod Christi und der Selbstaufgabe einer devoten Ehefrau geradewegs ins Lächerliche gezogen. Die Übertreibung ist ein parodistisches Verfahren, mit dem Houellebecq – hier wie an vielen Stellen seines Werkes – die moderne Arbeitswelt als ein System von Pflichten und sozialen Zwängen kritisiert.257 Für Jed und Olga kann es keine gemeinsame Zukunft geben, weil keiner von ihnen bereit ist, auf die eigene Karriere zu verzichten. Olga wäre wohl noch am ehesten dazu bereit; ein Wort von Jed hätte genügt, wie der Erzähler anmerkt, um sie von ihren Plänen abzubringen. Doch weil Jed schweigt, trennen sich ihre Wege wenige Wochen später am Flughafen von Roissy. Ihr Abschied verläuft alles in allem sehr nüchtern, emotionslos und fast schon »professionell«. Nebenbei erfahren wir nun auch die Gründe für Jeds Schweigen: »Jed n’était pas jeune, il ne l’avait à proprement parler jamais été ; mais il été un être humain relativement inexpérimenté. En matière d’êtres humains il ne connaissait que Theorie des Lächerlichen«, in: Die Welt als Wille und Vorstellung, a.a.O., Bd. II, Kapitel 8, S. 107-120, hier S. 118. 257 Mehr noch als in den früheren Romanen thematisiert La carte et le territoire die Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit. Dies wird zum Beispiel durch die Figur des Architekten Jean-Pierre Martin nahegelegt, der mehr Zeit mit seiner Arbeit als mit der Familie verbringt und darum eine gewisse Mitschuld am Selbstmord seiner Frau trägt. Dass der Kapitalismus den Menschen von seiner Arbeit entfremdet, wird aber auch durch die Anspielungen auf Charles Fourier (17721837) und William Morris (1834-1896) nahegelegt. Jeds Vater erläutert seinem Sohn während ihres Weihnachtsessens die sozialreformerischen Utopien von William Morris. Der Schriftsteller Houellebecq erklärt ihm wenig später das von Fourier entworfene Modell der »Phalanstères«, einer landwirtschaftlichen Wohn- und Produktionsgenossenschaft, und erwähnt in diesem Zusammenhang auch die von Étienne Cabet (1788-1856) in seinem utopischen Roman Voyage en Icarie (1840) begründete »Ikarier«-Bewegung (CT, 257).

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son père, et encore pas beaucoup. Cette fréquentation ne pouvait pas l’inciter à un grand optimisme, en matière de relations humaines. Pour ce qu’il avait pu en observer l’existence des hommes s’organisait autour du travail, qui occupait la plus grande partie de la vie, et s’accomplissait dans des organisations de dimensions variable. À l’issue des années de travail s’ouvrait une période plus brève, marquée par le développement de différentes pathologies. Certains êtres humains, pendant la période la plus active de leur vie, tentaient en outre de s’associer dans des micro-regroupements, qualifiés de familles, ayant pour but la reproduction de l’espèce ; mais ces tentatives, les plus souvent, tournaient court, pour des raisons liées à la ›nature des temps‹, se disait-il vaguement en partageant un expresso avec son amante (ils étaient seuls au comptoir du bar Segafredo, et plus généralement l’animation dans l’aéroport était faible, le brouhaha des inévitables conversations ouaté par un silence qui semblait consubstantiel à l’endroit, comme dans certaines cliniques privées). Ce n’était qu’une illusion, le dispositif général de transport des êtres humains, qui jouait un rôle si important aujourd’hui dans l’accomplissement des destinées individuelles, marquait simplement une légère pause avant d’entamer une séquence de fonctionnement à capacité maximale, lors de la période des premiers grands départs. Il était cependant tentant d’y voir un hommage, un hommage discret de la machinerie sociale à leur amour si vite interrompu.« (CT, 102-103, Hervorhebungen im Original) Die gesamte Passage zeichnet sich durch eine auffällige Inkongruenz von Form und Inhalt aus. Ein hochemotionaler Augenblick, der Abschied zweier Liebender, wird im sachlich-nüchternen Stil einer soziologischen Analyse geschildert. Der Erzähler gibt sich scheinbar ungerührt vom Schicksal der Romanfiguren und beschreibt den Augenblick mithilfe eines wissenschaftlichen und technischen Vokabulars (»organisation de dimensions variable«, »micro-regroupement«, »reproduction de l’espèce«, »dispositif général de transport«, »machinerie sociale«). Auch die sterile Atmosphäre des Flughafens, dem prototypischen »Nicht-Ort«258 der Moderne, wird der Emotionalität der Szene keineswegs gerecht. Offenbar geht es dem Erzähler darum, etwas Allgemeines über die Situation des Menschen auszusagen. Die anthropologische Dimension seiner Beobachtungen wird mehrfach betont (»un être humain«, »en matière d’êtres humains«, »l’existence des hommes«). Erst gegen Ende nimmt die Passage poetischere Züge an. Während Jed mit seiner Geliebten (»son amante«) an einer Espresso-Bar auf den Abflug wartet, scheint das hektische Treiben um sie herum kurzfristig stillzustehen, gleichsam als wollte das Universum ihrer Liebe noch ein letztes Mal huldigen, bevor die gewaltige Sozialmaschine (»machinerie sociale«) sie endgültig auseinanderreißt. Dieser Eindruck erweist sich jedoch als Täuschung (»illusion«), denn in der modernen Welt, wie Houellebecq sie beschreibt, können romantische Gefühle auf Dauer nicht bestehen. Letztlich vermag daher keiner der beiden Liebenden den »processus de déliaison« (CT, 102) zu unterbrechen. Olga wartet auf ein Zeichen von Jed, das nicht kommt, weil er die Trennung für unvermeidlich hält. Wie falsch er damit liegt, wird ihm erst klar, als sich die beiden zehn Jahre später wiedersehen:

258 Vgl. Marc Augé, Non-lieux. Introduction à und anthropologie de la surmodernité, Paris: Seuil, 1992.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

»[…] la vie vous offre une chance parfois se dit-il mais lorsqu’on est trop lâche ou trop indécis pour la saisir la vie reprend ses cartes, il y a un moment pour faire les choses et pour entrer dans un bonheur possible, ce moment dure quelques jours, parfois quelques semaines ou même quelques mois mais il ne se produit qu’une fois et une seule, et si l’on veut y revenir plus tard c’est tout simplement impossible […] on s’est simplement montré indigne du don qui vous avait été fait.« (CT, 242) Zwei Gründe führen zum Scheitern der Beziehung. Zum einen der Umstand, dass es Jed – wie übrigens fast allen männlichen Romanfiguren Houellebecqs – an Willensstärke und Entschlossenheit fehlt. Aus diesem Grund kann man sein Handeln auch nicht als tragisch bezeichnen. Verantwortlich für sein Unglück sind weder das Schicksal noch die Umstände, sondern in erster Linie seine Lethargie. Gerade weil er nichts unternimmt, um die »Gabe« der Liebe zu erwidern, erweist er sich ihrer als unwürdig (»indigne«). Zum anderen scheitert die Beziehung aber auch deshalb, weil Jed aus seiner eigenen Familiengeschichte weiß, dass sich Familie und Karriere auf Dauer schwer miteinander vereinbaren lassen. Das Beispiel seiner Eltern gibt ihm in dieser Hinsicht wenig Anlass zu Optimismus. Die gescheiterte Ehe der Eltern ist Gegenstand eines längeren Gesprächs zwischen Jed und seinem Vater, das strukturell genau in der Romanmitte angesiedelt ist. Bei dieser Gelegenheit spricht der Vater erstmals offen über den Selbstmord seiner Frau. Deren Geschichte weckt Erinnerungen an eine andere berühmte Romanfigur. Wie Emma Bovary, die Titelheldin aus Flauberts Roman Madame Bovary, hat auch Jeds Mutter große Erwartungen an das Leben und genau wie diese muss sie erkennen, dass ihre Wünsche, Hoffnungen und Träume in der Ehe mit Jeds Vater nicht erfüllt werden. Ihr tragisches Ende weist einige Parallelen zum Selbstmord von Emma Bovary auf, angefangen bei der Wahl des Tötungsmittels (Zyankali hier, Arsen dort) bis zur Beschreibung ihres emotionalen Zustandes, als sie das tödliche Gift schluckt.259 Stellt die Erzählung der Mutter eine Reminiszenz an Madame Bovary dar, so wird in der Geschichte des Vaters das Thema der Éducation sentimentale aufgegriffen. Frédérick Moreau, der Protagonist des Romans,

259 Wie der Architekt von einer Nachbarin erfährt, soll die Mutter unmittelbar vor ihrem Tod geradezu glücklich und enthusiastisch gewirkt haben, ganz so als würde sie gleich zu einer Reise aufbrechen, von der sie nicht mehr zurückkehren wird: »Ce qui m’a le plus choqué, c’est ce que m’a raconté la voisine, qui l’a croisée juste avant. Elle revenait de faire ses courses, elle venait probablement de se procurer le poison – on n’a jamais su comment, d’ailleurs. Ce que m’a dit cette femme, c’est qu’elle avait l’air heureuse, incroyablement enthousiaste et heureuse. Elle avait exactement, m’a-t-elle dit, l’expression de quelqu’un qui s’apprête à partir en vacances. C’était du cyanure, elle a dû mourir presque instantanément ; je suis absolument certain qu’elle n’a pas souffert« (CT, 208). Ähnlich beschreibt auch Flaubert die letzten Augenblicke seiner Titelheldin. Von Schulden erdrückt, wendet sich Emma an ihren früheren Geliebten, der sie jedoch abweist. Daraufhin beschließt sie in einem Anflug von »Heroismus«, wie es im Text heißt, sich das Leben zu nehmen: »Puis, dans un transport d’héroïsme qui la rendait presque joyeuse, elle descendit la côte en courant, traversa la planche aux vaches, le sentier, l’allée, les halles, et arriva devant la boutique du pharmacien.« Kaum hat sie das tödliche Arsen geschluckt, wirkt sie auf einmal friedlich und beruhigt, ja regelrecht heiter: »Puis elle s’en retourna subitement apaisée, et presque dans la sérénité d’un devoir accompli.« Vgl. Gustave Flaubert, Madame Bovary, a.a.O., S. 426 und 427.

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Wirklichkeit im Wandel

zieht als junger Student aus der Provinz nach Paris, um dort Karriere als Jurist zu machen; doch wie die meisten seiner Freunde aus der Generation von 1848 muss er sich viele Jahre später eingestehen, dass eine »hoffnungsvolle Existenz« vergeudet wurde »im Nichts auf eine Revolution, die nicht kommen mag«260 . Auch Jeds Vater kommt als Student mit großen Erwartungen in die Hauptstadt, um gemeinsam mit seinen Freunden die damals vorherrschende Bauweise zu revolutionieren, was jedoch nicht gelang: »Le Corbusier nous paraissait un esprit totalitaire et brutal, animé d’un goût intense pour la laideur ; mais c’est sa vision qui a prévalu, tout au long du XXe siècle« (CT, 213). Statt funktionalistische Wohneinheiten zu bauen, wie es zur damaligen Zeit üblich war, wollten sie eine Architektur entwickeln, die näher an den Bedürfnissen des Menschen ist.261 Während des Weihnachtsessens mit seinem Sohn erzählt der Architekt ausführlich von den Träumen seiner Jugend: »J’étais jeune […], je m’apprêtais à devenir architecte, et j’étais à Paris ; tout me paraissait possible. Et je n’étais pas le seul, Paris était gai à l’époque, on avait l’impression qu’on pouvait reconstruire le monde. C’est là que j’ai rencontré ta mère, elle était au Conservatoire, elle jouait du violon.« (CT, 215) Mit den Jahren sind die idealistischen Ziele seiner Jugend jedoch verblasst und rückblickend muss sich der Architekt eingestehen, dass er sich sehr viel mehr vom Leben erhofft hatte »que de construire des résidences balnéaires à la con pour des touristes débiles« (CT, 208). Am Romanende nimmt er sich (wie schon Jeds Mutter vor ihm) vollkommen desillusioniert das Leben. Die missglückten Lebensentwürfe der Eltern stehen stellvertretend für die gescheiterten Utopien einer ganzen Generation. Die Architekten, denen sich Jeds Vater in jungen Jahren anschließt, sind mit den Ideen zeitgenössischer Philosophen aufgewachsen. Inspiriert von den Theorien poststrukturalistischer Denker – einer der Philosophen, dessen Name während des Weihnachtsessens explizit erwähnt wird, ist Gilles Deleuze – veröffentlichen sie Manifeste, in denen sie eine komplexere Architektur fordern: »Nous y défendions l’idée qu’une société complexe, ramifiée, aux niveau d’organisation multiples […] allait de pair avec une architecture complexe, ramifiée, multiple, laissant une place à la créativité individuelle« (CT, 215f.). Was ihnen vorschwebt, ist eine Architektur, die so verästelt (»ramifiée«) ist, dass sich unzählige Verbindungsmöglichkeiten ergeben. Eine solche Architektur, so meinen sie, könne das Ideal einer hierarchielosen Gesellschaft endlich verwirklichen. In der Realität wird diese Utopie niemals erfüllt. Kurz vor seinem vierzigsten Geburtstag bemerkt Jed, dass er weder Familie noch Freunde hat: »il avait certes maintenu 260 Bernd Oei, Flaubert. Die Entzauberung des Gefühls, Berlin: Lit, 2010, S. 234. 261 In der Nachkriegszeit entwickelte Le Corbusier das Konzept der sogenannten »Wohneinheiten« (unités d’habitation), bestehend aus vorgefertigten Basismodulen, die industriell hergestellt werden können und flexibel einsetzbar sind. Gleichzeitig sollten die neuen Wohneinheiten aber auch dem Bedürfnis nach Schönheit und Erholung gerecht werden. Das bekannteste Beispiel einer solchen Wohneinheit ist der zwischen 1947 und 1952 gebaute Wohnblock in Marseille, ein Skelettbau aus Stahlbeton, der über dreihundert Wohnungen umfasst und Le Corbusiers Idee einer »vertikalen Stadt« zum Ausdruck bringen sollte. Vgl. Françoise Choay, Le Corbusier, übers. von Lilo und Gerd Heene, Ravensburg: Otto Maier, 1960, S. 19.

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un résidu de vie sociale mais celle-ci n’évoquait en rien un réseau ou un tissu organique ni quoi que ce soit de vivant, on avait affaire à un graphe élémentaire et minimal, non ramifié, aux branches indépendantes et sèches« (CT, 243). An die Stelle des organischen Gesellschaftskörpers, wie er Balzac im 19. Jahrhundert vorschwebte, ist das rhizomartige Modell einer Gesellschaft getreten, deren einzelne Teile durch keinen übergeordneten Zweck mehr zusammengehalten werden. Nach dem Tod seines Vaters entdeckt Jed auf dem Dachboden seines elterlichen Hauses einen Karton mit Zeichnungen, auf denen der Architekt seine Utopie einer zukünftigen Stadt entworfen hat: »Cela n’évoquait en rien un immeuble d’habitation, mais plutôt une sorte de réseau neuronal, où les cellules habitables étaient séparées par de longs passages incurvés, couverts ou à l’air libre, qui se ramifiaient en étoile. Les cellules étaient de dimensions très variables, et de forme plutôt circulaire ou ovale […]. Un autre point frappant était l’absence totale de fenêtres ; les toits, par contre, étaient transparents. Ainsi, une fois rentrées chez eux, les habitants de la cité n’auraient plus aucun contact visuel avec le monde extérieur – à l’exception du ciel.« (CT, 390-391) Die komplexe Geometrie dieser Stadt gleicht einem weit verzweigten Rhizom, das in alle Richtungen auseinanderstrebt. Man kann vermuten, dass es in einer solchen Stadt keine Hierarchien und keine repressiven Strukturen gibt. Die Menschen wohnen in isolierten Zellen und haben jeglichen Kontakt zur Außenwelt verloren. Gleichzeitig sind sie durch eine Art transzendentalen Bezug zum Himmel verbunden. Offenbar hat sich Jeds Vater in seinen letzten Lebensjahren von den revolutionären Zielen seiner Jugend losgesagt und eine Stadt entworfen, die auf rein geistigen Verbindungen gründet. Die futuristischen Entwürfe bleiben die utopischen Träume eines Menschen, der nicht aufgehört hat, die Welt mit Hilfe der Kunst verändern zu wollen. Nach den Enttäuschungen, die das Leben für ihn bereithielt, hat der Architekt gewissermaßen die Flucht nach vorne ergriffen und immer unrealistischere Städte entworfen. Letzten Endes ist diese Flucht jedoch ein Eingeständnis in das Scheitern seiner Träume.262

4.4.4

Untergangsvisionen des Kapitalismus

Im Unterschied zu seinem Vater verfolgt Jed Martin nicht das Ziel, die Welt mit Hilfe der Kunst zu verändern. Er beschränkt sich darauf, die Veränderungen der Wirklichkeit in seinen Kunstwerken abzubilden. Seine künstlerische Entwicklung verläuft in mehreren Etappen. Schon als kleiner Junge malt er bevorzugt Blumen aus dem Garten des elterlichen Hauses. Sein erstes Gemälde ist eine Gouache-Zeichnung mit dem Titel

262 Am Weihnachtsabend erzählt der Architekt, dass er als Kind häufig Schwalbennester gebaut habe, die von den Vögeln aber nicht angenommen wurden: »À l’âge de dix ans, je me souviens que j’avais essayé de construire un nid pour les hirondelles qui passaient l’été dans la remise. […] Mais elles n’ont jamais voulu utiliser mon nid. Jamais. Elles ont même cessé de nicher dans la remise…« (CT, 211). Fasst man die im Frühling wiederkehrenden Schwalben als Symbol der Hoffnung auf, dann steht das Nest wohl stellvertretend für die Sehnsucht nach einem intakten Familienleben. Wie Jed Martin viele Jahre später bemerkt, hat sein Vater im Grunde genommen nie aufgehört, Schwalbennester zu bauen. Seine futuristischen Stadtentwürfe sind Ausdruck einer Realitätsflucht.

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»Les foins en Allemagne« (CT, 36). Das Motiv der Heuernte lässt die ›realistische‹ Ausrichtung seiner Kunst erkennen und nimmt zugleich das zentrale Thema seines Werkes vorweg, nämlich die Beschäftigung mit der menschlichen Arbeit.263 Dieses Thema wird ihn auch während seines Studiums an der Kunsthochschule weiter beschäftigen. In dieser Zeit befasst sich Jed Martin ausschließlich mit der Fotografie. Seine Bewerbungsmappe trägt den Titel »Trois cents photos de quincaillerie« (CT, 48) und dokumentiert die technischen Erzeugnisse menschlicher Produktion. Das Ergebnis ist »un catalogue exhaustif des objets de fabrication humaine à l’âge industriel« (CT, 38f.). Zukünftige Kunsthistoriker, so lässt uns der Erzähler wissen, werden in den frühen Fotografien des Protagonisten eine »hommage au travail humain« (CT, 49) erkennen. Bereits diese frühe Sammlung von Fotografien zeuge von dem Versuch einer »description objective du monde« (CT, 49). Der enzyklopädische Anspruch dieses Projekts erinnert an Balzac, dessen Romanprojekt ja ebenfalls versucht, die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Totalität zu erfassen. Zudem misst Balzac den Gegenständen, mit denen die Menschen ihren Einstellungen symbolisch Ausdruck verleihen, eine ähnlich große Bedeutung bei wie Jed Martin. Nach dem Studium übernimmt Jed Aufträge für Werbezeitschriften und Magazine. Er gibt die Objektfotografie jedoch schnell wieder auf, als er erkennt, dass der kommerzielle Zweck dieser Tätigkeit jeden kreativen Impuls zerstört. Damit beginnt eine zweite Schaffensperiode, die seinen Durchbruch als Künstler einleitet. Den Grundstein dafür bildet die Foto-Ausstellung seines Kartenprojekts. Dazu kommt es, als Jed an einer Autobahn-Raststätte zwischen zwei in Zellophan-Folie eingewickelten Honig-Sandwiches eine Michelin-Karte entdeckt, deren Anblick ihn augenblicklich fasziniert: »Jamais il n’avait contemplé d’objet aussi magnifique, aussi riche d’émotion et de sens que cette carte Michelin 1/150 000 de la Creuse, Haute-Vienne. L’essence de la modernité, de l’appréhension scientifique et technique du monde s’y trouvait mêlée avec l’essence de la vie animale« (CT, 52). An der Kasse ist Jed so aufgeregt, dass ihm die Hände zittern. In Paris kauft er »dans un état de frénésie nerveuse« (CT, 60) alle verfügbaren Michelin-Karten. Anschließend fotografiert er die Karten aus verschiedenen Winkeln und verfremdet sie mit Hilfe des Computers. Für die Ausstellung einige Monate später stellt er den Fotografien Satellitenbilder derselben Landschaft gegenüber: »Le contraste était frappant : alors que la photo satellite ne laissait apparaître qu’une soupe de verts plus ou moins uniformes parsemée de vagues taches bleues, la carte

263 Bei der Heuernte handelt es sich um ein Sujet, das man in vielen ›realistischen‹ Gemälden des 19. Jahrhundert findet. Zu denken wäre hier etwa an das Bild La sieste pendant la saison des foins (Musée des Beaux-arts, Paris, 1867) von Gustave Courbet oder an das Gemälde Les foins (Musée d’Orsay, Paris, 1877) des französischen Malers Jules Bastien-Lepage. Zola bezeichnete das Bild des Letzteren anlässlich des Pariser Salons von 1878 als ein »Meisterwerk« des Naturalismus. Dass er dabei auf den zur damaligen Zeit weitaus populären Begriff ›Realismus‹ verzichtete, ist wohl vor allem seiner eigenen programmatischen Zielsetzung zu verschulden. Jedenfalls wurde das bäuerliche Leben im Gefolge dieser Ausstellung zu einem beliebten Motiv der Malerei im Frankreich der Dritten Republik. Vgl. Marnin Young, Realism in the Age of Impressionism. Painting and the Politics of Time, New Haven/London: Yale University Press, 2015, S. 30ff.

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développait un fascinant lacis de départementales, de routes pittoresques, de points de vue, de forêts, de lacs et de cols.« (CT, 80) Auf diese Weise will er zeigen, dass die kartografische Repräsentation der fotografischen Abbildung überlegen ist. Diese Überlegenheit kommt auch im Titel seiner Ausstellung zum Ausdruck, der gleichzeitig als Metapher für den Romantitel dient: »La carte est plus intéressante que le territoire« (CT, 80). Die Karte ist vor allem deshalb interessant, weil sie »mittels Abstraktion das Wesentliche hervorhebt und Strukturen erkennbar werden lässt«264 . Ihre Überlegenheit resultiert aus der Fähigkeit, die Komplexität der Wirklichkeit zu reduzieren. Im Unterschied zu den Satellitenfotos, die ein gegebenes Territorium maßstabsgetreu abbilden, handelt sich bei den fotografierten Michelin-Karten gerade nicht um eine mimetische Kunst. Die Fotos repräsentieren nicht die Natur selbst, sondern eine bereits bestehende Repräsentation der Natur. Es handelt sich also gewissermaßen um Repräsentationen zweiter Ordnung. Die MichelinKarten, ursprünglich ein Medium der wissenschaftlichen Weltaneignung, verwandeln sich durch Jeds nachträgliche Bearbeitung in einen ästhetischen Gegenstand.265 Im Mittelpunkt der dritten Schaffensperiode, die spätere Kunsthistoriker unter dem Schlagwort »retour à la peinture« (CT, 115) zusammenfassen werden, stehen die zwei Serien der einfachen Berufe (»métiers simple«) und der Unternehmenskompositionen (»compositions d’entreprise«). Die Fertigstellung dieser insgesamt 64 Ölgemälde nimmt mehr als zehn Jahre in Anspruch. Das Ergebnis ist eine Porträtreihe unterschiedlicher Berufe und ihrer typischen Repräsentanten. Neben Vertretern kleinbürgerlicher Berufe porträtiert Jed auch bekannte Führungspersönlichkeiten aus Industrie und Medien. Nachdem er sich in seiner Jugend mit den Produkten menschlicher Arbeit befasst hat, widmet er sich also nun den Produzenten selbst. Dabei verfolgt er das Ziel, die gesellschaftlichen Produktionsmittel in ihrer Gesamtheit zu erfassen (CT, 118). Dieser Totalitätsanspruch verbindet sein künstlerisches Vorhaben mit dem Romanprojekt Balzacs. Sowohl Balzac als auch Jed Martin sehen sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, wie sich die Gesellschaft in ihrer Totalität erfassen lässt. Eine Lösung für dieses Problem bietet das Verfahren der Typisierung. Was Balzac in der Literatur versuchte, nämlich alle relevanten Teilaspekt der Gesellschaft mit Hilfe von Typen abzubilden, überträgt Jed Martin auf die Malerei: Er porträtiert typische Vertreter einzelner Berufszweige und Branchen, um die Gesamtheit an existierenden Berufen zu erfassen. Dass der Roman über die Figur des Künstlers auf die Romanpoetik von Balzac anspielt, geht auch aus den Erklärungen des fiktiven chinesischen Kunstkritikers Wong Fu

264 Julia Berger, Moralistisches Spiel – spielerische Moralistik, a.a.O., S. 251. 265 Wie im Kapitel zum Debütroman Extension du domaine de la lutte gezeigt wurde, ist die Karte bei Houellebecq vor allem eine poetologische Metapher für die Erkenntnisleistung der Literatur (Kunst). Ihre Funktion besteht darin, einen gegebenen Raum (ein Territorium) und die ihn konstituierenden Elemente symbolisch abzubilden. Die Literatur ähnelt insofern einer Karte, als sie Verbindungen zwischen den Punkten (d.h. den Ereignissen) und den sie hervorbringenden Linien (d.h. den geschichtlichen Bewegungen) aufzeigt. Aus historischer Sicht ist die Karte darüber hinaus ein Symbol für die naturwissenschaftlich-technische Erschließung der modernen Welt.

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Xin hervor. Dieser unterstreicht in seiner Studie über den Maler, dass für eine »représentation à peu près réaliste« (CT, 117) eine Mindestanzahl an Primärfarben erforderlich sei. Erhöhe man das Spektrum an Farben, könne man ein sehr viel umfassenderes (»plus étendu«) und subtileres (»plus subtile«) Porträt erzielen. Darüber hinaus betont er, dass sich die gesellschaftlichen Produktionsbedingungen einer Epoche mittels einer gewissen Anzahl an »professions type« rekonstruieren ließe »dont le chiffre selon lui (c’est un chiffre qu’il donne sans l’étayer en aucune manière) peut être fixé entre dix et vingt« (CT, 117). Man kann hierin eine versteckte Hommage an das Romanprojekt von Balzac sehen. In seinem Vorwort zur Comédie humaine geht Balzac davon aus, dass circa drei- bis viertausend Personen genügen, um ein vollständiges Abbild der Gesellschaft zu erhalten.266 Mit Balzac verbindet Jed Martin zudem die soziale Dimension seiner Kunst. Der Schriftsteller Michel Houellebecq verordnet seinen jüngeren Kollegen nicht in der modernistischen Tradition Picassos, sondern in derjenigen des flämischen BarockMalers Anthonis van Dyck. Denn dieser interessiere sich weniger für die Singularität einer Person, als vielmehr für das soziale Umfeld der Porträtierten: »ce n’est pas Ducon qui intéresse Van Dyck, c’est la Guilde des Marchands« (CT, 172). Diese Dialektik von Individualität und Sozialität spiegelt sich auch in den Titeln der Gemälde von Jed Martin wider.267 Unter den Bildern, die er für seine beiden Berufsserien anfertigt, befindet sich auch das Porträt »Bill Gates et Steve Jobs s’entretenant du futur de l’informatique« (CT, 184). Der Microsoft-Gründer und sein Konkurrent verkörpern zwei verschiedene Facetten des modernen Kapitalismus: Während der streng und erschöpft wirkende Bill Gates an einen »banquier de Balzac« (CT, 188) erinnert, ähnelt der trotz seiner Krankheit eher jugendlich auftretende Steve Jobs einem Erfinder oder Ingenieur »si souvent décrit par Jules Vernes« (CT, 187). Im Vorwort für den Ausstellungskatalog von Jeds Ölgemälden betont Houellebecq den Umstand, dass beide Unternehmer im Grunde genommen zutiefst religiöse Menschen seien. Was den Microsoft-Gründer zum Inbegriff eines »capitaliste sincère« (CT, 186) mache, sei der unerschütterliche Glaube an die Leistungsfähigkeit des Marktes. Über den Apple-Gründer heißt es, er sie die »incarnation de l’austérité, du Sorge traditionellement associés au capitalisme protestant« (CT, 185). Damit spielt der Roman auf einen Aufsatz des deutschen Soziologen Max Weber an, dem zufolge der moderne Kapitalismus aus der asketischen Lebensweise der frühen Puritaner entstan-

266 »Ce n’était pas une petite tâche que de peindre les deux ou trois mille figures saillantes d’une époque, car telle est, en définitif, la somme des types que présente chaque génération et que la Comédie humaine comportera« (AP, 18). 267 Die Porträts tragen Titel wie »Ferdinand Desroches, boucher chevalin« (CT, 116), »Claude Vorilhon, gérant de bar-tabac« (CT, 116), »Maya Dubois, assistante de télémaintenance« (CT, 117) oder »Aimée, escort-girl« (CT, 119). Während die Bilder aus der Serie der einfachen Berufe ausschließlich fiktive Personen darstellen, tauchen in der Serie der sogenannten Unternehmenskompositionen auch reale Personen auf. Die Gemälde tragen Titel wie »L’architecte Jean-Pierre Martin quittant la direction de son entreprise« (CT, 12), »Bill Gates et Steve Jobs s’entretenant du futur de l’informatique« (CT, 116), »Le journaliste Jean-Pierre Pernaut animant une conférence de rédaction« (CT, 193), »L’introduction en Bourse de l’action de Beate Uhse« (CT, 183-184) und »L’ingénieur Ferdinand Piëch visitant les ateliers de production de Molsheim« (CT, 194).

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

den ist.268 Webers Aufsatz über den ›Geist‹ des Kapitalismus bildet die Vorlage für das Porträt der beiden Unternehmer. Es zeigt den Microsoft-Gründer und seinen Konkurrenten bei einer Schachpartie im Haus von Jobs in Kalifornien. Die Ausgangslage der Figuren auf dem Brett deutet einen leichten Positionsvorteil für Gates an. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass sein Gegenüber die Partie mit einem riskanten Damenopfer noch für sich entscheiden kann. Im Hintergrund zeichnen sich die Umrisse einer »surrealen« Landschaft ab. Auf der Wiese hinter dem Haus vergnügen sich zwei Mädchen beim Frisbeespiel, während sich die von der untergehenden Sonne goldbraun verfärbten Wellen in den unendlichen Weiten des Ozeans verlieren: »Le soir tombait, magnifiquement, dans l’explosion d’un soleil couchant que Martin avait voulu presque improbable dans sa magnificence orangée, sur la Californie du Nord, et le soir tombait sur la partie la plus avancée du monde ; c’était cela aussi, cette tristesse indéfinie des adieux, que l’on pouvait lire dans le regard de Jobs.« (CT, 187) Das Gemälde wirkt vor allem deshalb unwahrscheinlich (»improbable«), weil Szenerie und Farbgebung symbolisch überladen sind. Die untergehende Sonne kündig vom Ende einer Epoche. Die explodierenden Sonnenstrahlen hüllen das Anwesen des AppleGründers in ein orangefarbenes Licht. Jobs selbst scheint eine Traurigkeit auszustrahlen, die mit der Untergangsstimmung harmoniert. Schon bald wird über der kalifornischen Landschaft die Nacht hineinbrechen und den am weitesten entwickelten Teil der Welt in Dunkelheit hüllen. In die Untergangsvision mischt sich derweil das Gefühl eines Neubeginns. Denn mit dem nächsten Tag wird eine andere Sonne heraufziehen und den Erdball in ein neues Licht tauchen. Man kann das Gemälde als eine Allegorie auf das Ende des modernen Kapitalismus westlicher Prägung deuten. Tatsächlich könnte das Bild auch den Untertitel »Une brève histoire du capitalisme« (CT, 188) tragen, wie der fiktive Houellebecq in seinem Vorwort für den Ausstellungskatalog schreibt. Der alte Industriekapitalismus, dessen Untergang Jed bereits in seinem Fotoprojekt für die Kunsthochschule dokumentiert hatte, ist an sein Ende gekommen und weicht einem neuen kapitalistischen ›Geist‹. Das Schachspiel auf dem Gemälde endet – sehr wahrscheinlich – mit dem Sieg von Steve Jobs als dem »Propheten« eines neuen Zeitalters. 268 Weber führt die Entstehung des modernen Kapitalismus auf das puritanische Arbeits- und Berufsethos zurück, das seinen prägnantesten Ausdruck in der calvinistischen Gnadenlehre findet. Weil der Calvinismus keine befriedigende Antwort auf die Frage geben konnte, wann dem je einzelnen Menschen die göttliche Gnade zuteil wird, begannen seine Anhänger nach Merkmalen zu suchen, die ihre Zugehörigkeit zu den Auserwählten bezeugen sollten. Damit konnte das wirtschaftliche Profitstreben als Erfolgszeichen für die Erfüllung der je eigenen Berufung umgedeutet werden. Aus der Sorge um das Seelenheil entwickelte sich jene »rastlose Berufsarbeit«, die letztlich zu der Vorstellung von der Arbeit als Beruf führte. Die religiöse Umdeutung der weltlichen Berufsarbeit war »der denkbar mächtigste Hebel« für die weltweite Expansion dessen, was Weber den »Geist« des Kapitalismus nennt: »Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte. Heute ist ihr Geist – ob endgültig, wer weiß es? – aus diesem Gehäuse entwichen. Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischer Grundlage beruht, dieser Stütze nicht mehr.« Vgl. Max Weber, »Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus« (1904/05), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen: Mohr, 1988, S. 1-205, hier S. 105, 192 und 204.

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Ein konkretes Bild des untergehenden Industriekapitalismus bietet sich Jed bei seinem Zwischenstopp in Beauvais. Die Stadt, einst eine Hochburg der französischen Textilindustrie, befindet sich heute im wirtschaftlichen Niedergang. Der einzige Mensch, dem Jed dort begegnet, ist ein heillos überforderter Japaner, der im Auftrag seines Unternehmens die defekten Maschinen einer veralteten Industrieanlage reparieren soll. Der Verfall der Textilindustrie von Beauvais illustriert den Übergang von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft. Ein etwas abstrakteres Bild dieses Transformationsprozesses präsentiert sich dem Protagonisten am Flughafen von Shannon, als er den Reiseplan einer Fluggesellschaft studiert. Unter den Reisezielen befinden sich einige unbekannte Städte in Spanien und Polen, aber keine europäische Hauptstadt. Von Houellebecq hatte Jed kurz zuvor erfahren, dass eine große Zahl polnischer Arbeiter nach Irland komme, um dort Geld zu verdienen, während irische Touristen für ihren Urlaub nach Spanien reisen. Die Karte mit den Fluglinien veranschaulicht diese Verschiebung der Kräfteverhältnisse: »Ainsi, le libéralisme redessinait la géographie du monde en fonction des attentes de la clièntele, que celle-ci se déplace pour se livrer au tourisme ou pour gagner sa vie. À la surface plane, isométrique de la carte du monde se substituait une topographie anormale où Shannon était plus proche de Katowice que de Bruxelles, de Fuerteventura que de Madrid.« (CT, 148) Der Liberalismus verändert die Struktur der Erde, indem er die frei beweglichen Ströme von Kapital und Arbeit im Sinne des Kapitalismus lenkt und reguliert.269 In der Folge transformieren sich auch die Gesellschaften und es ist Aufgabe des Romans, diese Transformationsprozesse zu kartografieren. Bei Houellebecq dient die Karte darum in erster Linie als poetologische Metapher für die Literatur selbst.270 Wenn sich die 269 Im Anti-Œdipe, dem ersten Band von Capitalisme et schizophrénie, versuchen Gilles Deleuze und Félix Guattari die Entstehung des modernen Kapitalismus historisch aus der Verbindung zweier Ströme abzuleiten, nämlich der decodierten Produktionsströme des Geld-Kapitals einerseits und den decodierten Arbeitsströmen in Form des ›freien Arbeiters‹ andererseits. Der Kapitalismus setzt ihnen zufolge unentwegt neue Energien frei, die das Begehren des Menschen und seine Verwurzelung an einem Ort auflösen. Deleuze und Guattari bezeichnen diesen Prozess als »Deterritorialisierung« und meinen, dass die »kapitalistische Maschine« mit ihren unregulierten Strömen unentwegt schizophrene Subjekte produziere, wobei schizophren nicht im klinischen-psychiatrischen Sinne zu verstehen ist, sondern in der Bedeutung dessen, was sie den »Schizo« nennen: »Quant au schizo, de son pas vacillant qui ne cesse de migrer, d’errer, de trébucher, il s’enfonce toujours plus loin dans la déterritorialisation, sur son propre corps sans organes à l’infini de la décomposition du socius, et peut-être est-ce sa manière à lui de retrouver la terre, la promenade du schizo.« Offenbar verbinden Deleuze und Guattari damit die Hoffnung, dass sich der »Schizo« eines Tages an die nomadische Lebensweise gewöhnen könnte, die ihm der Kapitalismus aufzwingt. Die Romanfiguren unternehmen durchaus Versuche in diese Richtung, werden aber letzten Endes immer wieder von der Bewegung der Ströme eingeholt. Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari, L’Anti-Œdipe, Paris: Minuit, 1972, S. 43. 270 Es ist sicherlich kein Zufall, dass Houellebecqs Protagonisten oftmals mit Hilfe einer Landkarte zu einer tieferen Erkenntnis gelangen. Nicht nur im Fall von Jed Martin gibt eine Michelin-Karte den Anstoß für eine »révélation esthétique« (CT, 51). Auch der Ich-Erzähler aus dem Debütroman gelangt mit Hilfe einer solchen Karte zu einer »essentiellen Entdeckung« (EdL, 129), die ihn erkennen lässt, wie die Textur der Welt beschaffen ist.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

Wirklichkeit (das Territorium) verändert, dann kann die Literatur (die Karte) diese Veränderungen abbilden und damit »lesbar« machen. Nichts anderes versucht Jed Martin mit seinen Ölgemälden, wenn er Berufe auf der Leinwand festhält, die es in den postindustriellen Gesellschaften Westeuropas zukünftig nicht mehr geben wird. In den westeuropäischen Gesellschaften kommt es seit etwa 1980 zu einer starken Kulturalisierung der Ökonomie.271 Ein wichtiger Bestandteil der spätmodernen Ökonomie sind daher Künstler und Kreative. Anders als im klassischen Industriekapitalismus beruht die Wirtschaftsleistung dieses neuen »Kulturkapitalismus«272 im Wesentlichen auf der Vermarktung von kurzfristigen Moden und Trends. Aus diesem Grund müssen die Wertschöpfungsprozesse immer schnellere Produktzyklen hervorbringen, während die Lebensdauer der Produkte gleichzeitig immer kürzer wird.273 Davon betroffen ist auch der Künstler als Produzent von »kulturellen Gütern«, wie der Schriftsteller Houellebecq seinem Kollegen Jed Martin erklärt: »Nous aussi, nous sommes des produits…, poursuivit-il, des produits culturels. Nous aussi, nous serons frappés d’obsolescence. Le fonctionnement du dispositif est identique – à ceci près qu’il n’y a pas, en général, d’amélioration technique ou fonctionnelle évidente ; seule demeure l’exigence de nouveauté à l’état pur « (CT, 167-168). Auch der Künstler unterliegt dem Gebot der permanenten Innovation und verfügt somit über ein Verfallsdatum. Denn die immer kürzer werdenden Innovationszyklen haben zur Folge, dass die Aufmerksamkeitsspanne und das Interesse für einen Künstler schnell wieder verfliegen. Eine Möglichkeit, sich dem Vergessen zu entziehen, besteht darin, mit gezielten Provokationen und Skandalen auf sich aufmerksam zu machen.274 Eine andere Möglichkeit besteht darin, den Autonomiestatus der Kunst aufzugeben und sich der ökonomischen Verwertungslogik anzupassen. Genau diese Strategie verfolgen

Vgl. hierzu Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2017, S. 111ff. 272 Ebd., S. 113. 273 Der Schriftsteller Houellebecq berichtet im Roman von seiner eigenen Erfahrung als Konsument und kritisiert in diesem Zusammenhang das »diktat irresponsable et fasciste« (CT, 166) der Werbeindustrie, weil diese in immer kürzeren Abständen neue Bedürfnisse erschaffe und das Leben der Menschen damit in ein zielloses Umherirren (»une errance sans fin«) zwischen den sich ständig ändernden Produktlinien verwandle. 274 Houellebecq hat diese Möglichkeit in der Vergangenheit bereits des Öfteren erprobt, indem er sich mit provokanten Äußerungen in die Debatten um seine Romane eingemischt hat. Zusätzlich befeuert wird die Spekulation um die Person des Autors auch dadurch, dass er in seinen Texten autobiographische Elemente miteinfließen lässt. In der öffentlichen Wahrnehmung gilt Houellebecq darum als jemand, der sich hinter der Maske seiner Figuren zu verstecken weiß. In der Forschung hat sich dafür der Begriff der ›posture‹ eingebürgert, der auf feldtheoretischen Überlegungen des französischen Soziologen Pierre Bourdieu aufbaut. Damit ist gemeint, dass sich Autoren durch gezielte Rollenspiele und andere Formen der Selbstdarstellung eine bestimmte Position innerhalb des literarischen Feldes erstreiten. Vgl. hierzu Jérôme Meizoz, »Die posture und das literarische Feld: Rousseau, Céline, Ajar, Houellebecq«, in: Joch, Markus/Wolf, Norbert Christian (Hg.), Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen: Niemeyer, 2005, S. 177-188; sowie Louise Moor, »Posture polémique ou polémisation de la posture? Le cas de Michel Houellebecq«, in: COnTEXTES [En ligne], 10 (2012).

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die beiden Gegenwartskünstler Jeff Koons und Damien Hirst auf dem zerstörten Porträt aus der Eingangsszene. Das Porträt bildet das Gegenstück zu dem fiktiven Gemälde der beiden Unternehmensgründer. So wie Bill Gates und Steve Jobs zwei verschiedene Facetten des modernen Kapitalismus repräsentieren, genauso verkörpern Jeff Koons und Damien Hirst zwei unterschiedliche Tendenzen der zeitgenössischen Kunst. Das Porträt zeigt sie in der Umgebung eines künstlich beleuchteten Wohnzimmers. Die Einrichtung ist überaus steril und scheint von dem Werbefoto eines Luxushotels inspiriert zu sein. Damit wird auf die ökonomische Verflechtung von Kunst und Markenbildung hingewiesen.275 Beide tragen einen dunklen Anzug, was ihnen eher das Aussehen von Geschäftsleuten als von Künstlern gibt. Während Koons den Eindruck eines »pornographe mormon« vermittelt, erscheint Hirst wie »un artiste britannique typique de sa génération« (CT, 10). Auf dem Tisch zwischen ihnen steht ein Korb mit kandierten Früchten »à laquelle ni l’un ni l’autre ne prêtait aucune attention« (CT, 9). Das Motiv erinnert an ein Stillleben, d.h. an eine Gattung, die in der europäischen Kunsttradition auf eine lange Geschichte zurückblicken kann. Der Umstand, dass die zwei Gegenwartskünstler dem Obstkorb keinerlei Beachtung schenken, kann als Kritik an der Geschichtsvergessenheit postmoderner Kunst gedeutet werden. Denn die Postmoderne benutzt die Vergangenheit hauptsächlich als Material, um sie auf spielerisch-ironische Weise neu zusammenzusetzen. Aus Sicht des Kapitalismus ist dieser Eklektizismus überaus vielversprechend, denn theoretisch lassen sich auf diese Weise unendlich viele Rekombinationen generieren, mit denen die Kulturproduzenten die Forderung des Marktes nach dem Neuem befriedigen. Sicherlich lässt sich diese Entwicklung nicht auf die Postmoderne allein beschränken. Schon Balzac kritisiert die kapitalistische Verwertungslogik, weil sie den Autonomiestatus der Kunst untergräbt. Die Statuen des polnischen Bildhauers Wenceslas Steinbock (in La Cousine Bette) werden reproduziert und gleichzeitig zerstört man ihre Vorlage, um die Nachfrage künstlich anzukurbeln. Die Kunstsammlung des armen Musikers Pons (in Le Cousin Pons) gelangt am Ende des Romans in die Hände seiner bürgerlichen Verwandten. Mit dem Erlös aus dem Verkauf der Kunstwerke erwirbt die Familie Grundbesitz und zementiert damit ihre Macht. Das Bürgertum sieht in der Kunst vor allem ein Spekulationsobjekt, das sich zum Zwecke der Profitmaximierung beliebig tauschen lässt. Damit wird aus dem Schönen eine Ware (mit einem Preis) und aus dem Kunstwerk ein bloßer Wertgegenstand. Die Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts ähnelt der unsrigen, nur dass sich die Beziehug zwischen dem Kunstwerk und dem Markt in der Zwischenzeit professionalisiert hat. Die Transformation des Kunstsystems in einen Markt für kulturelle Güter wird im Roman auf eindrucksvolle Art beschrieben. Schon im Verlauf der Karten-Ausstellung lässt sich beobachten, wie Jeds künstlerisches Anliegen von einer Strategie der Kommerzialisierung überlagert wird. Nach dem Erfolg der Ausstellung entwickelt Michelin eine Verkaufsstrategie, um Jeds Fotografien zu vermarkten. Auf diese Weise tritt das Kunstwerk in das Feld einer offenen Konsumption ein, wo es wie eine gewöhnliche Ware gehandelt werden kann. An der Planung von Jeds Ölgemälde-Ausstellung sind 275 Vgl. hierzu Norbert Bolz, »Marketing als Kunst oder was man von Jeff Koons lernen kann«, in: Dettmar, Ute/Küpper, Thomas (Hg.), Kitsch: Texte und Theorien, Stuttgart: Reclam, 2007, S. 298-301.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

noch weitere Akteure beteiligt: Um die Vorbereitung der Vernissage kümmert sich der Galerist Franz Teller; eine Pressesprecherin soll den Kontakt zu Journalisten und Kritikern herstellen, um für die nötige Aufmerksamkeit zu sorgen. Mit der Kampagne soll von Anfang an ein ganz bestimmter Markt angesprochen werden, wie Jed erklärt: »On ne vise pas tellement le marché français, pour cette exposition. De toute façon, il n’y a presque pas d’acheteurs français pour l’art contemporain, en ce moment« (CT, 143-144). Die wichtigsten Akteure sind jedoch die Kunstliebhaber und Sammler, die mit ihrem Kapital bestimmen, was als Kunst gehandelt wird. Denn entscheidend für das Ansehen und die Relevanz eines Künstlers sind weder ästhetische Programme noch theoretische Diskurse, wie der Galerist bemerkt, sondern allein sein Erfolg auf dem Kunstmarkt: »on en est à un point de toute façon où le succès en termes de marché justifie et valide n’importe quoi, remplace toutes les théories, personne n’est capable de voir plus loin, absolument personne« (CT, 202). Avantgarde ist, was gekauft wird. Auf Jed Martin trifft dies allerdings nur bedingt zu, da er mit seinem Werk durchaus ein künstlerisches Programm verfolgt. Dass seine Ölgemälde trotzdem ein finanzieller Erfolg sind, dafür liefert der Galerist Franz Teller eine überraschende Erklärung: »[…] depuis longtemps le marché de l’art est dominé par les hommes d’affaires les plus riches de la planète. Et aujourd’hui pour la première fois ils ont l’occasion, en même temps qu’ils achètent ce qui est le plus à l’avant-garde dans le domaine esthétique, d’acheter un tableau qui les représente eux-mêmes« (CT, 200). Nach der Ausstellung erhält Jed unzählige Angebote von Persönlichkeiten aus der ganzen Welt, die sich von ihm porträtieren lassen wollen. »On est revenus aux temps de la peinture de cour d’Ancien Régime« (CT, 200), meint sein Galerist dazu. Tatsächlich ist die Kunst in der Gegenwart zu einem Statussymbol für eine »neohöfische Kaste der Superreichen«276 geworden. Die Künstler reagieren auf die Nachfrage des globalen Geldadels, indem sie den Kunstmarkt unter sich aufteilen und ihre passenden Nischen suchen: »Il y a eu, en effet, une espèce de partage : d’un côté le fun, le sexe, le kitsch, l’innocence ; de l’autre le trash, la mort, le cynisme« (CT, 202). Das zerstörte Porträt »Damien Hirst et Jeff Koons se partageant le marché d’art« (CT, 20) hätte in der Tat eine gelungene Allegorie dieser Situation abgegeben, wie der Galerist erklärt, verkörpern die beiden »Stars« der zeitgenössischen Kunstszene doch wie kaum ein anderer jenes »geheime[] Einverständnis zwischen dem Kapital und der Avantgarde«277 , von dem Jean-François Lyotard im Zusammenhang mit der postmodernen Ästhetik des Erhabenen spricht. Jeds Vater vergleicht sie halb ernst, halb scherzhaft mit den »großen Meistern« der Renaissance, weil sie in ihren Ateliers eine ganze Kompanie von Werkstattassistenten für sich arbeiten lassen und ihre (in Serie produzierten) Werke oftmals bloß noch signieren.278 276 Hanno Rauterberg, »Jeff Koons. Ein Millionenpudel«, in: Die Zeit, Nr. 47, 14.11.2013. 277 Jean-François Lyotard, »Das Erhabene und die Avantgarde«, in: Merkur, Jg. 38, H. 424, 1984, S. 151164, hier S. 163. 278 »[…] les soi-disant grands maîtres de la Renaissance – que ce soit Botticelli, Rembrandt ou Léonard de Vinci – se comportaient en réalité purement et simplement comme les chefs d’entreprises commerciales ; exactement comme Jeff Koons ou Damien Hirst aujourd’hui, les soi-disant grands maîtres de la Renaissance dirigeaient d’une main de fer des ateliers de cinquante, voire cent assis-

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Am Beispiel von Jeff Koons und Damien Hirst beschreibt der Roman die »Entmythologisierung des Künstlers als kreativem Subjekt«279 , das heißt seine Umkodierung von einer bürgerlichen Ausnahmefigur zu einem wirtschaftlichen Marktsubjekt. Diese Umkodierung hängt nicht zuletzt auch mit der Entstehung eines neuen »Kreativwirtschaft« zusammen. So sind die Akteure kreativer Tätigkeiten heute nicht mehr allein in den Bildenden Künsten (Architektur, Design), sondern auch in daran angrenzenden Bereichen (Marketing, Werbung) tätig, wo der kreative Impuls in der Regel methodischrational geplant wird.280 Dem planvoll agierenden Kreativen, der gleichzeitig auch Unternehmer ist, stellt der Roman mit Jed Martin nun aber einen anderen Künstlertypus gegenüber. Als Jed längst international bekannt ist, erläutert er in einem Interview, was es für ihn bedeutet, »Künstler« zu sein: »[…] être artiste, à ses yeux, c’était avant tout être quelqu’un de soumis. Soumis à des messages mystérieux, imprévisibles qu’on devait donc faute de mieux et en l’absence de toute croyance religieuse qualifier d’intuitions […]. Ces messages pouvaient impliquer de détruire une œuvre, voire un ensemble entier d’ouvrages, pour s’engager dans une direction radicalement nouvelle, ou même parfois sans direction du tout, sans disposer du moindre projet, de la moindre espérance de continuation« (CT, 104-105). Was die »condition d’artiste« demnach ausmacht, ist der Umstand, dass der Künstler spontanen Eingebungen (»intuitions«) folgt, ohne genau zu wissen, wohin sie ihn führen. Mitunter kann dies sogar dazu führen, dass er sein Werk zerstört, um einem neuen Impuls zu folgen. Dies steht in diametralem Widerspruch zu allen ökonomischen Zwecksetzungen. Denn die Zerstörung eines Kunstwerkes macht alle Bemühungen seiner Kommerzialisierung zunichte. Die Berufung auf die vorreflexive Intuition kann daher als Versuch gedeutet werden, die künstlerische Autonomie gegenüber den Vereinnahmungstendenzen durch den Markt zu retten, ohne einem als überholt geltenden Originalitätswahn und Geniekult anheimzufallen. Wenn der Künstler darüber hinaus quasi-religiösen Botschaften »unterworfen« ist, dann kommt dies allerdings einer Mystifikation des Künstlers gleich. Im Laufe seiner Karriere schlägt Jed Martin selbst immer wieder neue Wege ein. Seine Abkehr von der Objektfotografie begründet er mit dem Wechsel des darzustellenden Sujets. Die Malerei ist seiner Ansicht nach sehr viel besser dazu geeignet, die Persönlichkeit eines Menschen auszudrücken. Es ist bezeichnend, dass ihm genau dies in zwei Fällen nicht gelingt, nämlich zum einen bei dem Porträt eines jungen Priesters und zum anderen bei dem Porträt der beiden Gegenwartskünstler. Im Fall des Ersteren scheitert sein Versuch, weil Glaube und Religion einer Vergangenheit angehören »que plus personne ne comprenait vraiment« (CT, 97). Im Fall der Letzteren missglückt das

tants, qui produisaient à la chaîne des tableaux, des sculptures, des fresques. Eux-mêmes se contentaient de donner la direction générale, de signer l’œuvre achevée, et surtout ils se consacraient aux relations publiques auprès des mécènes du moment – princes ou papes« (CT, 219). 279 Andreas Reckwitz, Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Bielefeld: transcript, 2016, S. 196. 280 Vgl. hierzu Alexandra Manska, Kapitalistische Geister in der Kultur- und Kreativwirtschaft. Kreative zwischen wirtschaftlichem Zwang und künstlerischem Drang, Bielefeld: transcript, 2016, S. 85.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

Porträt, weil es ihm nicht gelingt, den spezifischen Charakter ihres Werkes zu erfassen. Man kann dies als Beleg für die Ausdruckslosigkeit postmoderner Kunst interpretieren. Der Roman selbst insistiert dagegen auf die Originalität des künstlerischen Ausdrucks. Für den Galeristen Franz Teller beispielsweise zählt weniger die künstlerische Geste, sondern vor allem der individuelle Blick des Künstlers: »ce n’est pas une forme d’art particulière, une manière qui m’intéresse, c’est une personnalité, un regard posé sur le geste artistique, sur sa situation dans la société« (CT, 110).

4.4.5

Rollenspiel und Maskerade: der Autor und sein fiktives Alter Ego

Wenn im vorangehenden Abschnitt gesagt wurde, die postmoderne Kunst sei eine ausdruckslose Kunst, so ist damit gemeint, dass der postmoderne Künstler sich nicht selbst ausdrückt bzw. das Kunstwerk nicht als Ausdruck einer zu repräsentierenden Wirklichkeit aufgefasst wird. In diesem Sinne versteht etwa auch Roland Barthes das Schreiben als eine intransitive Geste der Einschreibung, d.h. es hat kein Objekt mehr und kann nicht länger als Ausdruck eines inneren Gefühls oder einer persönlichen Sichtweise verstanden werden.281 Schreiben im Sinne des ›Realismus‹ bezieht sich jedoch notwendigerweise auf ein Objekt, sei es die Geschichte, die Gesellschaft oder die Wirklichkeit, das im literarischen Text abgebildet wird. In der Postmoderne gestaltet sich dieses Abbildverhältnis jedoch ungleich schwieriger als noch im 19. Jahrhundert, weil sich in der Zwischenzeit die Einsicht von der Unhintergehbarkeit der Sprache durchgesetzt hat. Die Sprache liefert den einzigen Zugang zur Wirklichkeit und markiert zugleich die Grenzen unseres Weltbezugs. Die Schwierigkeit einer ›realistischen‹ Abbildung besteht deshalb darin, die diskursive Beschaffenheit der Wirklichkeit im literarischen Text mitabzubilden. Für die simulierte Realität der Postmoderne gilt dies umso mehr, da Kategorien wie ›Wirklichkeit‹ und ›Wahrheit‹ heute in sehr viel stärkerem Ausmaß medial inszeniert sind. Houellebecqs ›postrealistische‹ Schreibweise zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Inszenierung von Realität in der von Aufmerksamkeit getriebenen Medienökonomie zur Darstellung bringt. Möglich wird dies unter anderem durch den Einbau von Eigennamen. Tatsächlich wimmelt es im Roman nur so von Namen, die dem Leser aus anderen Kontexten bekannt sein dürften.282 Dazu zählen nicht nur bekannte Persönlichkei281

»[L]‹écrivain ne peut qu’imiter un geste toujours antérieur, jamais originel ; son seul pouvoir est de mêler les écritures, de les contrarier les unes par les autres, de façon à ne jamais prendre appui sur l’une d’elles ; voudrait-il s’exprimer, du moins devrait-il savoir que la ›chose‹ antérieur qu’il a la prétention de ›traduire‹, n’est elle-même qu’un dictionnaire tout composé, dont les mots ne peuvent s’expliquer qu’à travers d’autres mots, et ceci indéfiniment […].« Roland Barthes, »La mort de l’auteur« (1968), in: Essais critiques, Bd. 4, Paris: Seuil, 1984, S. 61-67, hier S. 65. 282 Die Erwähnung realer Persönlichkeiten ist kein Alleinstellungsmerkmal von Houellebecqs Romanen, obwohl er dieses Verfahren sehr häufig einsetzt. Tatsächlich benutzten schon die Autoren des ›realistischen‹ Romans im 19. Jahrhundert diese Technik. Nicht zuletzt deshalb beruft sich Houellebecq gerne auf die Tradition Balzacs: »Chez moi, le fait de voir revivre l’époque, même dans ses aspects les plus minimes, fait partie des plaisirs de lecture des romans de passé. Alors, je m’y autorise dans mes propres livres. Puis, à la base, tout le monde pense un peu à Chirac dans sa vie. On ne peut pas éviter d’y penser. Toute personne vivant en France connaît Chirac. C’est dans le même esprit que je cite des marques réelles. Les romans doivent être situés. C’est dans la logique du ro-

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ten aus dem öffentlichen Leben (z.B. Politiker, Journalisten, Fernsehmoderatoren oder Nachrichtensprecher), die vor allem dem französischen Publikum vertraut sein dürften, sondern auch Stars der globalen Unterhaltungsindustrie.283 All diese Namen, die verschiedentlich in den Diskurs der Erzählung eingestreut werden, erfüllen die Funktion von Wirklichkeitsreferenzen. Allerdings verweisen solche Eigennamen nicht auf die Personen selbst, sondern lediglich auf ihre mediale Präsenz. Es handelt sich also gerade nicht um ›Realitätseffekte‹ (im Sinne Roland Barthes), d.h. um Zeichen, die ein nicht weiter definiertes ›Reales‹ konnotieren. Es handelt sich vielmehr um Fragmente einer diskursiven Wirklichkeit, die ein gewisses Vorwissen des Publikums voraussetzen. Es sind Diskurssplitter, die ihr jeweiliges Korrelat nicht in der realen Welt, sondern in der Welt der Klatschblätter, TV-Shows und Magazine haben. Die Funktion solcher Wirklichkeitsreferenzen besteht darin, den Leser ständig an seine eigene Rolle als Konsument von Neuigkeiten und Informationen zu erinnern. ›Realismus‹ in diesem Sinne meint nicht mehr Mimesis der Wirklichkeit, sondern Mimesis der Diskurse. Angesichts der Vielzahl an Prominenten, die im Roman erwähnt werden, verwundert es eigentlich nicht, dass sich unter den Namen auch ein gewisser Michel Houellebecq befindet. Immerhin zählt der Schriftsteller, um den sich in Frankreich zahlreiche Skandale und zwei Gerichtsprozesse ranken, in der von Aufmerksamkeit getriebenen Medienökonomie durchaus zu einer Persönlichkeit von öffentlichem Interesse. Was also läge näher, als die eigene Person zum Zwecke der Illusionsbildung als »Material« für den Roman zu verwenden. Der Roman ist jedoch weder autobiografisch noch eine »autofiction«284 im strengen Sinne. Wenn überhaupt ließe sich das Auftauchen des Schriftstellers in seinem Roman als eine gelungene »Autor-Fiktion«285 bezeichnen, mit man. Il a besoin du présent.« Zit. nach: Michel Houellebecq, »Entretien avec Christian Authier«, in: ders., Interventions 2: traces, Paris, Flammarion, 2009, S. 191-205, hier S. 202. 283 Zu den realen Personen, die im Roman erwähnt werden, gehören einerseits Vertreter aus Politik und Wirtschaft (wie z.B. Barack Obama, François Holland, Warren Buffet, Roman Abramovitch, Bill Gates, Steve Jobs, François Pinault) und andererseits Persönlichkeiten aus Literatur, Kunst und Film (wie z.B. Angelina Jolie, Brad Pitt, Sean Penn, Kate Moss, Bono, George Clooney, Frédéric Beigbeder, Jeff Koons, Damien Hirst). Daneben enthält der Roman ein regelrechtes who is who der französischen Medienlandschaft (Michel Drucker, Jean-Pierre Pernaut, Julien Lepers, Pierre Bellemare, Patrick Le Lay, Claire Chazal). 284 Der Terminus »autofiction« wurde erstmals von Serge Doubrovsky im Vorwort seines 1977 erschienenen Roman Fils verwendet: »Autobiographie? Non, c’est le privilège réservé aux importants de ce monde, au soir de leur vie, et dans un beau style. Fiction, d’événements et de faits strictement réels, si l’on veut, autofiction […].« Serge Doubrovsky, Fils, Paris: Galilée, 1977, S. 10. 285 Douglas Morrey weist darauf hin, dass Houellebecq auch in Romanen anderer Autoren als Figur auftaucht. In Philippe Dijans Roman Vers les blancs (Paris: Gallimard, 2001) erscheint ein Schriftsteller namens Patrick Vandhoeren, der Züge des realen Michel Houellebecq trägt und eine »théorie sur la misère sexuelle« entwickelt. Eine Parodie des Schriftstellers zeichnet auch Pierre Mérot in seinem Roman Arkansas (Paris: Flammarion, 2008), wenn er biografische Elemente aus dem Leben des Schriftstellers auf seine Romanfigur Kurtz überträgt. Vgl. Douglas Morrey, Michel Houellebecq, a.a.O., S. 104ff. Houellebecq selbst lässt in seinen Romanen ebenfalls bekannte Schriftsteller auftreten und nennt diese sogar beim Namen. Zu denken wäre hier etwa an Philippe Sollers in Les particules élémentaires oder an Frédéric Beigbeder in La Carte et le territoire. Ein eindrückliches Beispiel dafür, dass Schriftsteller innerhalb eines fiktionalen Textes zur literarischen Figur gemacht werden, liefert der Fall Marcel Proust. Vgl. hierzu Ursula Hennigfeld, »Autor-Fiktionen. Marcel Proust

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der Houellebecq sein eigenes Image in den Medien parodistisch inszeniert. Man kann den Roman somit als ein ironisches »Selbstporträt«286 auffassen, zumal der Schriftsteller darin nicht nur als literarische Figur, sondern auch als Gegenstand eines fiktiven Gemäldes auftaucht, das Jed Martin für die Ausstellung seiner beiden Berufsserien anfertigt. Für die Ausstellung dieser Ölgemälde erfüllt das Porträt von Houellebecq eine nicht unerhebliche Funktion, wie der (gleichfalls fiktive) chinesische Kunstkritiker Wong Fu Xin in seiner Studie über den Maler betont: »désireux de donner une vision exhaustive du secteur productif de la société de son temps, Jed Martin devait nécessairement, à un moment ou à un autre de sa carrière, représenter un artiste« (CT, 120). Zwischen dem Schriftsteller und dem Maler entwickelt sich im Verlauf der Handlung eine intensive Zusammenarbeit. Zu einer ersten Begegnung kommt es, nachdem sein Galerist vorschlägt, dass Houellebecq ein Vorwort für den Ausstellungskatalog verfassen könnte. Obwohl Jed kein einziges Buch von ihm gelesen hat, ist ihm der Name des Autors dennoch geläufig. Sein Wissen bezieht er jedoch ausschließlich von Dritten. Gleich zu Beginn der Erzählung berichtet Jeds Vater, dass er Houellebecqs schriftstellerische Qualitäten schätze: »[…] j’ai lu deux de ses romans. C’est un bon auteur, il me semble. C’est agréable à lire, et il a une vision assez juste de la société« (CT, 22). Von Frédéric Beigbeder, einem Freund des Autors, erfährt Jed später, dass Houellebecq seit seiner Scheidung Geldsorgen plagen (CT, 127). Von Anfang an konstruiert der Roman ein ganz bestimmtes »Bild« des Autors, das sich problemlos in das von den Medien verbreitete Image einfügt. Noch bevor sich die beiden Künstler erstmals begegnen, hat Jed daher schon eine vorgefertigte Meinung über den Autor: »De notorité publique Houellebecq était un solitaire à fortes tendances misanthropiques, c’est à peine s’il adressait la parole à son chien« (CT, 124). Als Jed nach Irland fliegt, um die Bedingungen einer Kooperation auszuhandeln, empfängt ihn Houellebecq im Türrahmen seines Bungalows. Der Vorgarten ist in einem erbärmlichen Zustand und ein nicht weniger abschreckendes Bild präsentiert sich dem Besucher auch im Inneren des Hauses. Die Zimmer sind unmöbliert, Umzugskartons versperren den Flur und auf dem Fußboden hat sich eine dünne Staubschicht abgelagert. Zu seinem Erstaunen erfährt Jed, dass der Schriftsteller seit fast drei Jahren in Irland lebt. Im Verlauf des Gesprächs konsumiert Houellebecq reichlich Alkohol und vergisst zuletzt sogar die Anwesenheit seines Besuchers. Später erzählt er, dass er mehrere Monate im Jahr in Thailand lebe, weil es dort sehr gute Bordelle gebe. Spätestens an dieser Stelle müssen dem Leser dann doch Zweifel kommen, ob sich der Autor von Plateforme selbst noch ernst nimmt. Jed scheint der Erzählung seines Gastgebers ebenfalls zu misstrauen, wenn er anmerkt: »Là, j’ai l’impression que vous jouez un peu votre rôle…« (CT, 141). als literarische Figur«, in: Chihaia, Matei/Hennigfeld, Ursula (Hg.), Marcel Proust – Gattungsgrenzen und Epochenschwellen, München: Fink, 2014, S. 237-256. 286 Zur Funktion des Porträts im Roman siehe die Aufsätze von Gisela Schlüter, »Literarisches Selbstporträt mit Möbiusschleife: Houellebecq, La carte et le territoire«, in: Fabris, Angela/Jung, Willi (Hg.), Charakterbilder. Zur Poetik des literarischen Porträts. Festschrift für Helmut Meter, Bonn: V & R unipress, 2012, S. 727-740; und Andreas Gipper, »Die Kunst des Porträts und das Porträt des Künstlers in Michel Houellebecqs Roman La carte et le territoire«, in: Fabris, Angela/Jung, Willi (Hg.), Charakterbilder. Zur Poetik des literarischen Porträts. Festschrift für Helmut Meter, Bonn: V & R unipress, 2012, S. 711-726.

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Der Schriftsteller spielt die ihm angedichtete Rolle sehr überzeugend. Er macht sich die Gerüchte zu Nutze, die in der Öffentlichkeit um seine eigene Person kursieren, und konstruiert daraus ein höchst ironisches Bild seiner selbst. Als wollte er das von ihm zirkulierende Bild in den Medien noch überbieten, gewährt uns der Autor schließlich sogar Einblick in seine Privatsphäre. Als Jed einige Monate später erneut nach Irland reist, um über das Vorwort für den Ausstellungskatalog zu sprechen, empfängt ihn an der Tür ein vollkommen verwahrloster Michel Houellebecq im Schlafanzug: »L’auteur des Particules élémentaires était vêtu d’un pyjama rayé gris qui le faisait vaguement ressembler à un bagnard de feuilleton télévisé ; ses cheveux étaient ébouriffés et sales, son visage rouge, presque couperosé, et il puait un peu« (CT, 160). Jed erinnert sich gehört zu haben, dass die Vernachlässigung der eigenen Körperpflege ein Anzeichen für eine Depression ist. Auf Sauberkeit und Hygiene scheint der fiktive Houellebecq in der Tat keinen besonderen Wert zu legen. Als Jed das Wohnzimmer betritt, findet er dort einen Fernseher und ein Bett mitten im Raum platziert. Die Bettdecke ist übersät mit Weinflecken und auf dem Laken liegen Krümel von Zwieback und Stücke einer Wurst, bei denen es sich offenbar um die Überreste einer soeben beendeten Mahlzeit handelt: »›Oui, dit Houellebecq, après votre visite je me suis rendu compte que vous étiez le premier visiteur à entrer dans cette maison, et que vous seriez probablement le dernier. Alors, je me suis dit, à quoi bon maintenir la fiction d’une pièce de réception ? Pourquoi ne pas installer, carrément, ma chambre dans la pièce principale ? Après tout, je passe la plupart de mes journées couché ; je mange le plus souvent au lit, en regardant des dessins animés sur Fox TV ; ce n’est pas comme si j’organisais des dîners‹« (CT, 161). Es liegt nahe, in der ironischen Beschreibung eine Replik auf das öffentliche Bild des Schriftstellers zu lesen, das von den Medien sehr bereitwillig (und teilweise nicht ohne Spott) kolportiert wird.287 Der Autor präsentiert seinen Lesern genau das, was sie von ihm zu kennen glauben. Man kann den fiktiven Houellebecq durchaus beim Wort nehmen, wenn er fragt, wozu er eine »Fiktion« aufrechterhalten soll, die sowieso niemand glaube, denn schließlich (»après tout«) sei die »Wahrheit« längst hinlänglich bekannt. Anstatt die Gerüchte rund um seine Person in Abrede zu stellen, spitzt Houellebecq sie noch einmal zu. Wir erleben sozusagen den ›echten‹ Michel Houellebecq, wie er uns durch die Brille der medialen Berichterstattung vertraut ist. Stück für Stück wird das bekannte Bild des Autors aufgebaut: von seiner Nikotinsucht über sein schmuddeliges Erscheinungsbild bis hin zu seinem übertriebenen Alkoholkonsum. Kaum hat Jed den 287 Das Selbstporträt des Autors erinnert an eine Reportage der US-amerikanischen Journalistin Emily Eakins für das New York Time Magazine. Im Sommer 2000 hatte Eakins eine Woche mit dem Schriftsteller in dessen Haus in Irland verbracht und ihre Eindrücke schriftlich festgehalten. Sie zeichnet das Bild eines in höchstem Maße depressiven Menschen, der zu viel Alkohol trinkt und raucht, kaum soziale Beziehungen pflegt, ausschließlich über Sex reden möchte und beim Essen mit dem Kopf auf der Tischplatte einschläft. Am Ende ihres Artikels beschreibt Eakins sogar einen Bestechungsversuch des Autors, der ihr gegenüber insinuiert habe, dass er das Interview fortan nur noch in einem »intimeren Rahmen« fortsetzen werde. Vgl. Emily Eakins, »Le Provocateur«, in: New York Times Magazine, Nr. 149, 9.9.2010, S. 36.

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Wein geöffnet, den Houellebecq ihm anbietet, da stürzt dieser schon ein erstes Glas hinunter »sans même se livrer à un simulacre de dégustation« (CT, 162). Wer die Wortwahl eines Autors für zufällig hält, dem wird die Anspielung auf Baudrillard, den »Papst der Postmoderne«288 , womöglich entgehen. Wir haben es hier in der Tat mit einem Trugbild, einem »Simulakrum« zu tun, das nicht mehr auf die Realität selbst verweist, sondern lediglich auf andere Bilder und Zeichen.289 In der Romanfiktion wird diese ›Hyperrealität‹ der Bilder nun aber gleichfalls als Fiktion entlarvt. Am Ende des Kapitels ist Houellebecq vollkommen betrunken und kaum noch in der Lage, verständliche Sätze zu formulieren: »Allez, vous allez pas partir maintenant ! On commence à s’amuser… ›Aimer et chanter !…‹, entonna-t-il de nouveau avant d’avaler d’un trait un verre de vin chilien. ›Foucra bouldou ! Bistroye ! Bistroye !‹ ajouta-t-il avec conviction. Depuis quelques temps déjà, l’illustre écrivain avait contracté cette manie d’employer des mots bizarres, parfois désuets ou franchement impropres, quand ce n’étaient pas des néologismes enfantins à la manière du capitaine Haddock. Ses rares amis restants, comme ses éditeurs, lui passaient cette faiblesse, comme on passe à un vieux décadent fatigué« (CT, 168). Das eigene Selbst andauernd in einem Vexierspiegel sehen zu müssen, kann einen Menschen an den Rand des Wahnsinns treiben. Als wahnsinnig gilt, wer zwischen Wirklichkeit und Fiktion nicht unterscheiden kann und im Strudel der Bilder den Sinn für die Realität verliert. Beim Abendessen gesteht Jed, er habe sich den Romancier ganz anders vorgestellt. Die Antwort des fiktiven Houellebecq klingt wie eine Abrechnung mit der gesamten französischen Presse: »Vous savez, ce sont les journalistes qui m’ont fait la réputation d’un ivrogne ; ce qui est curieux, c’est qu’aucun d’entre eux n’ait jamais réalisé que si je buvais beaucoup en leur présence, c’était uniquement pour parvenir à les supporter. Comment est-ce que vous voudriez soutenir une conversation avec une fiotte comme Jean-Paul Marsouin sans être à peu près ivre mort ? Comment est-ce que vous voudriez rencontrer quelqu’un qui travaille pour Marianne ou Le Parisien libéré sans être pris d’une envie de dégueuler immédiate ? La presse est quand même d’une stupidité et d’un conformisme insupportables, vous ne trouvez pas ?« (CT, 142-143). 288 Falko Blask, Jean Baudrillard zur Einführung, 4., vollständig überarb. Aufl., Hamburg: Junius, 2013, S. 17. 289 In seinem philosophischen Hauptwerk L’échange symbolique et la mort beschreibt Baudrillard »drei Ordnungen der Simulakren«, die er als historische Entwicklungsstadien eines längeren Prozesses begreift, der mit dem Beginn der Neuzeit (Zeitalter der Imitation) einsetzt und über das 19. Jahrhundert (Zeitalter der Produktion) bis in die Gegenwart (Zeitalter der Simulation) führt. Im Verlauf dieses Prozesses, so seine These, haben sich die Zeichen aus der symbolischen Ordnung befreit und von dem Gegenstand ihrer Referenz gelöst. Im Zeitalter der Simulation verweist das Zeichen nicht mehr auf eine Realität; es ist sein eigenes Simulakrum (dritter Ordnung) geworden. Bedingt durch ihre massenmediale Verbreitung haben sich die Zeichen und Bilder von der Wirklichkeit abgekoppelt, ja gehen dieser nunmehr sogar voraus. Die referenzlosen Bilder werden zu leeren Zeichen »dont le sens n’est nulle part«. Jean Baudrillard, L’échange symbolique et la mort, Paris: Gallimard, 1976, S. 140.

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Nachdem der Autor sein eigenes Porträt gemäß dem Bild, das sich andere von ihm machen, konstruiert hat, geht er nunmehr zum Gegenangriff über und wendet die diffamierende Rede, den Klatsch und das Gerücht, gegen ihre Urheber selbst an – mit dem Unterschied, dass er darauf verzichtet, seine Kritiker namentlich zu nennen, denn wie Anne Chamayou herausgefunden hat, gibt es in der französischen Presse überhaupt keinen Jean-Paul Marsouin.290 Für den fiktiven Houellebecq ist dies indes nur ein geringer Trost, denn er leidet unter einem hartnäckigen Ekzem in Form eines Fußpilzes und muss sich ständig kratzen: »Me gratter, me gratter sans relâche, c’est ça qu’est devenu ma vie maintenant : une interminable séance de grattage…« (CT, 173). Versteht man diese Pilzerkrankung als Metapher für die nervenden Kritiker und Journalisten, die ihn auf Schritt und Tritt verfolgen, so ist das ironische Selbstporträt umgekehrt wohl die Medizin, mit der sich Houellebecq von seinem Image losschreibt. Als Jed den Schriftsteller nach dem Erfolg seiner Ausstellung ein letztes Mal besucht, um ihm das fertige Porträt zu übergeben, trifft er auf einen gänzlich veränderten Michel Houellebecq. Dieser hat Irland inzwischen verlassen und ist nach Frankreich zurückgekehrt. Am Telefon erfährt Jed, dass der Schriftsteller in das Haus seiner Großeltern im Loiret gezogen ist und nun auf seine alten Tage wieder im eigenen Kinderbett schläft. Er hat sich einen Hund zugelegt, liest Tocqueville und macht alles in allem einen zufriedenen, ja sogar glücklichen Eindruck: »Il y avait dans la voix de l’auteur des Particules élémentaires quelque chose que Jed ne lui avait jamais connu, qu’il ne s’attendait pas du tout à y trouver, et qu’il mit du temps à identifier, parce que au fond il ne l’avait plus rencontré chez personne, depuis pas mal d’années : il avait l’air heureux« (CT, 229). Bei seiner Ankunft empfängt ihn der Schriftsteller, der gerade von einem langen Spaziergang mit seinem Foxterrier zurückkehrt, in einer lammfellgefütterten Jacke und einer Lederhose. Von der verwahrlosten Kreatur im Pyjama, die Jed bei seinem ersten Besuch in Irland angetroffen hatte, ist kaum noch etwas zu erkennen. Der neue Michel Houellebecq achtet auf seine Gesundheit wie auf seine Hygiene, erfreut sich eines gesunden Appetits und genießt die körperliche Betätigung beim regelmäßigen Holzhacken: »Il avait changé, réalisa aussitôt Jed. Plus robuste, plus musclé probablement, il marchait avec énergie, un sourire de bienvenue aux lèvres. En même temps il avait maigri, son visage s’était creusé de fines rides d’expression, et ses cheveux, coupés très court, avaient blanchi. Il était, se dit Jed, comme un animal qui a revêtu son pelage d’hiver« (CT, 247). Der Umzug nach Frankreich hat ihm sichtlich gutgetan. Nicht nur körperlich ist er in besster Verfassung; auch sein Verhältnis zu den Journalisten scheint sich gebessert zu haben. Was seine Kritiker anbelangt, so hat er sich offenbar ein »dickes Fell« zugelegt. Hatte der Erzähler ihn vormals noch mit einer alten, kranken Schildkröte (CT, 162) verglichen, so erscheint der Schriftsteller nun wie verjüngt und erweist sich darüber hinaus als hervorragender Gastgeber. Er führt Jed durchs Haus und gewährt ihm sogar 290 Vgl. Anne Chamayou, »La Carte et le Territoire: du potin à l’autofiction«, in: Nouvelle Revue Synergies Canada 7, 2014, S. 1-11, hier S. 4.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

Einblick in sein Schlafzimmer. Auf dem Nachttisch liegen Bücher von Chateaubriand, Vigny und Balzac (CT, 248). In der Bibliothek befinden sich nur wenige Romane, dafür aber eine Vielzahl an sozialreformerischen Büchern aus dem 19. Jahrhundert, darunter Marx, Proudhon, Comte, Fourier, Saint-Simon und einige andere Autoren, deren Namen Jed aber nichts sagen (CT, 250). Am Ende bietet Houellebecq seinem Gast von einem Eintopf an, den er am Vorabend eigens für ihn zubereitet hat. Der Roman präsentiert zwei ganz unterschiedliche Gesichter des Schriftstellers: Auf der einen Seite ein desorientierter, verwahrloster Houellebecq, der sich am Rande des Wahnsinns bewegt; auf der anderen Seite ein zufriedener und selbstbewusster Autor, dem es gelungen ist, sich von dem eigenen Image zu befreien. Eine mögliche Erklärung für diese plötzliche Metamorphose liefern die Überlegungen von Gilles Deleuze und Félix Guattari zur schizophrenen Natur des Kapitalismus. Der Schriftsteller, den wir in Irland erleben, ist im buchstäblichen Sinne des Wortes »deterritorialisiert«: Er ist fortgerissen von den dekodierten Strömen des modernen Kulturkapitalismus, die seinen Erfolg überhaupt möglich gemacht haben. Der Schriftsteller, dem wir in Frankreich begegnen, hat ein natürliches Verhältnis zu sich selbst und seiner Arbeit gefunden. Er hat sich von dem gewaltigen Produktionsprozess der kapitalistischen Maschine entkoppelt und ist fest verwurzelt im Milieu seiner Kindheit. Er lebt nicht mehr nach der getakteten Frequenz der Zeitungsmeldungen, sondern nach dem Rhythmus der Jahreszeiten. Allerdings ist diese »Reterritorialisierung« nicht von Erfolg gekrönt, denn kaum hat sich der Schriftsteller sein ursprüngliches Territorium zurückerobert, verschwindet er mit Gewalt aus dem Roman.

4.4.6

Auf der Suche nach dem ›wahren‹ Michel Houellebecq

Der dritte Teil des Romans beginnt mit einer Kriminalgeschichte, in deren Mittelpunkt die Aufklärung eines Mordfalls steht. Das Opfer ist niemand anderes als der Schriftsteller Michel Houellebecq. Als der ermittelnde Kommissar den Tatort betritt, bietet sich ihm ein Bild des Grauens: Der Körper des Schriftstellers wurde regelrecht tranchiert und die Gliedmaßen fein säuberlich im ganzen Raum verteilt. Der Tatort ähnelt einem »puzzle« (CT, 278). Zwischen den verstreut herumliegenden Körperteilen führt ein schmaler Weg durch das Zimmer; auf einem Sessel vor dem Kamin thront der abgetrennte Kopf des Opfers und daneben derjenige seines Hundes. Der Leser steht angesichts dieser überraschenden Wende vor einem »Rätsel« und muss ich fragen, wie das gewaltsame Verschwinden des Autors aus dem Roman zu verstehen ist. Bruno Viard erinnert die Beschreibung des Tatorts an die in Formaldehyd eingelegten Tierkörper des britischen Gegenwartskünstlers Damien Hirst. In der Ermordung des Schriftstellers erkennt Viard darum eine späte »Rache« für die Zerstörung des Porträts von Hirst.291 Einleuchtender erscheint jedoch die These, wonach die Ermordung des Schriftstellers eine Umkehrung der Machtverhältnisse nach sich zieht, was es Houellebecq ermöglicht, die Deutungshoheit über seine Person zurückzugewinnen. Wie Jutta Weiser anmerkt, handelt es sich bei dem Ermordeten ja gar nicht »um den Autor als Privatperson, sondern vielmehr um 291

Vgl. Bruno Viard, »La Carte et le Territoire, roman de la représentation: entre trash et tradition«, in: Lendemains 36 (142/143), 2011, S. 87-95, hier S. 92.

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ein mediales Konstrukt, sein öffentliches Image, das hier zerstört und zu Grabe getragen wird.«292 Der metafiktionale Kunstgriff, mit dem Houellebecq seinen eigenen Tod inszeniert, weckt darüber hinaus Erinnerungen an die von Roland Barthes proklamierte These vom ›Tod des Autors‹.293 Barthes versteht das Schreiben als einen performativen Akt, der sich auf keinen anderen Ursprung als die Schrift selbst zurückführen lässt. Die Schrift ist der Ort »où vient se perdre toute identité, à commencer par celle-là même du corps qui écrit.«294 Im Raum der écriture löst sich der Ursprung des Textes auf und mit ihm auch die Identität des Autors. Der Roman führt diese Auflösung plastisch vor Augen, denn am Ende ist von Houellebecq nicht viel mehr übrig als ein paar Sehnen und Knochen. Der gewaltsame Tod des Autors liest sich wie eine ironische Umkehrung von Barthes’ These, denn ausgerechnet der Kopf als Sitz des Intellekts295 bleibt unversehrt und thront noch dazu mit etwas Abstand über den Resten des zerstückelten Körpers, gleichsam als wollte der Text uns auf diese Weise den eigentlichen Urheber (»Autor«) dieses grausamen Verbrechens anzeigen. Man könnte meinen, dass mit dem Ableben des Schriftstellers zugleich auch die Spekulationen rund um seine Person ein Ende finden. Doch das Gegenteil ist der Fall. Der Autor (bzw. sein posthum weiterlebendes Bild) ist präsenter denn je zuvor. Im Verlauf der Ermittlungen werden unentwegt neue Gerüchte über Houellebecq verbreitet. So erfahren wir, dass sich der Schriftsteller sechs Monate vor seinem Tod heimlich taufen ließ (CT, 308). Angeblich hatte er zuletzt kaum noch Kontakt zu anderen Menschen. Eine Auswertung seiner persönlichen E-Mails ergibt jedoch, dass er mit zahlreichen Frauen korrespondiert hat (CT, 324). Als Techniker den Computer untersuchen, stellen sie fest, dass dieser außerordentlich gut geschützt ist. Einer der Polizisten äußert den Verdacht, dass sich womöglich pädophiles Material darauf befinden könnte (CT, 298). Wie sich im Nachhinein herausstellt, ist der Verdacht unbegründet. (Das einzige kompromittierende Material, das die Ermittler auf dem Computer finden, sind Internetseiten für Damenunterwäsche.) Dennoch steht für einen kurzen Augenblick die Möglichkeit im Raum, der Schriftsteller könnte etwas zu verbergen haben. Wie Anne Chamayou überzeugend dargelegt hat, macht sich der Text den allgegenwärtigen Klatsch zu Eigen und instrumentalisiert ihn zum Zwecke der Fiktionsbildung: »Ce minage perpétuel du champ de l’information, cette collision entre fiction, autofiction et biographie finit par créer une instabilité généralisée. Car une fois ouverte la boîte des potins, il n’est plus possible de la refermer. Une contamination s’empare de toutes les informations dont la dualité inquiète le lecteur d’un délicieux affolement.«296

292 Jutta Weiser, »Der Autor im Kulturbetrieb: Literarisches Self-Fashioning zwischen Selbstvermarktung und Vermarktungsreflexion (Christine Angot, Frédéric Beigbeder, Michel Houellebecq)«, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 123/3, 2013, S. 225-250, hier S. 247. 293 Vgl. Roland Barthes, »La mort de l’auteur«, a.a.O., S. 61-67. 294 Ebd., S. 61. 295 Berenike Schröder, »Kopf«, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole, hg. von Günter Butzer und Joachim Jacob, 2. Aufl., Stuttgart/Weimar: Metzler, 2012, S. 222-223. 296 Anne Chamayou, »La Carte et le Territoire : du potin à l’autofiction«, a.a.O., S. 6.

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Das Gerücht befällt zunächst bloß die Figurenrede, breitet sich sodann auf der Erzählerebene aus und »kontaminiert« schließlich den Roman als Ganzen. Es wird nahezu unmöglich, zwischen Tatsachen und Behauptungen zu unterscheiden. Beispielsweise muss sich der Leser ständig fragen, ob es sich bei den erwähnten Personen um reale Menschen handelt. Dem bekannten Journalisten Patrick Kéchichian (CT, 80) wird die fiktive Kulturredakteurin Pépita Bourgignon zur Seite gestellt (CT, 81). Unter den Käufern von Jeds Ölgemälden befinden sich nicht nur reale Persönlichkeiten wie Roman Abramovitch und François Pinault, sondern auch der fiktive Mexikaner Carlos Slim Helu (CT, 194). Das Vorwort für den Ausstellungskatalog verfasst ein gewisser Michel Houellebecq. Autor der ersten eigenständigen Monografie über Jed Martin ist der fiktive Chinese Wong Fu Xin (CT, 117). Zu den Menschen, die Jed im Rahmen seiner Berufsserien porträtiert, gehören sowohl fiktive Personen (Ferdinand Desroches, Maya Dubois, Claude Vorilhon, Jean-Pierre Martin) als auch reale Persönlichkeiten (Jean-Pierre Pernaut, Ferdinand Piëch, Beate Uhse, Jeff Koons, Steve Jobs). Besonders kompliziert wird es, wenn den realen Personen etwas Fiktives angedichtet wird. Beispielsweise wird das vermeintliche »Outing« von Jean-Pierre Pernaut im Roman als »un des moments incontournables de la télévision des années 2010« (CT, 85) bezeichnet, obwohl es niemals stattgefunden hat. Je mehr die Grenze zwischen Fakt und Fiktion verschwimmt, desto stärker beginnt der Leser an der Aufrichtigkeit des Textes zu zweifeln. Eine epistemologische Unsicherheit breitet sich aus und entzieht dem ›Realismus‹ jegliches Fundament. Auch das Wissen wird von dieser Unsicherheit befallen. So besticht der Erzähler zwar mit profunden Kenntnissen in vielen Dingen: Er kann die Vorzüge von Speichermedien (CT, 39) und die Funktionsweise eines Foto-Scanners (CT, 60) erläutern; er kennt die Motorleistung eines Bugatti Veyron 16.4 (CT, 194) und lobt die technische Ausstattung von Audis (CT, 244); er zitiert ganze Lexikon-Artikel über die Fortpflanzung von Stubenfliegen (musca domestica) und die Herzwurmerkrankung (Dirofilariose) von Hunden (CT, 291). All diese Informationen bezeugen jedoch letzten Endes bloß, dass die vermeintlich objektiven Fakten selbst problematisch geworden sind. Die Glaubwürdigkeit des Wissens kann nicht mehr garantiert werden, weil hinter den Diskursen keine »Autorität« steht, die für die Zuverlässigkeit der Informationen bürgt.297 Dagegen steht hinter dem literarischen Text auch weiterhin die lenkende Hand seines »Autors«. Dieser verfügt zwar nicht mehr über die Deutungshoheit seines Textes, aber er kann Fährten auslegen und die Lektüre damit steuern. Nicht zufällig bringt ein Künstler die Polizei am Ende auf die richtige Spur. Als man ihm die Fotos vom Tatort zeigt, hält Jed Martin diese fälschlicherweise für die schlecht ausgeführte Imitation eines Gemäldes von Jackson Pollock (CT, 339). Wo andere bloß ein wildes Durcheinander von Körperteilen sehen, erkennt Jed Martin eine Struktur. Damit ist den Ermittlern 297 Es entbehrt nicht der Ironie, dass dem Autor nach der Veröffentlichung seines Romans vorgeworfen wurde, er habe mehrere Textstellen aus französischen Wikipedia-Einträgen plagiiert. Schließlich zeigt doch gerade das Beispiel Wikipedia, dass sich die Organisationsform des Wissens im digitalen Zeitalter gewandelt hat. Wissensplattformen wie Wikipedia sind dezentral in Netzwerken organisiert, d.h. sie haben kein Zentrum und keine formale Autorität mehr. Zu den Plagiatsvorwürfen gegen den Autor siehe Vincent Glad, »Houellebecq, la possibilité d’un plagiat«, Slate.fr, 2. September 2010, www.slate.fr/story/26745/wikipedia-plagiat-michel-houellebecq-carte-territoire (zuletzt eingesehen am 29.09.2020).

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klar, dass der Täter ein Kunstliebhaber sein muss. Am Ort des Verbrechens bemerkt Jed das fehlende Porträt des Schriftstellers und liefert damit das entscheidende Motiv, das in der Folge zur Aufklärung des Mordfalls beiträgt. Bezogen auf die ›Realismus‹-Problematik erfüllt dieses Porträt eine besondere Funktion. Zunächst einmal steht es in Beziehung zu den im Roman entworfenen Selbstporträts des Autors. Wie gezeigt wurde, übernimmt der Roman zunächst das aus den Medien bekannte Bild des Schriftstellers, um es anschließend zu dekonstruieren. Auf diese Weise entstehen zwei verschiedene Selbstporträts: auf der einen Seite der Provokateur (Houellebecq in Irland) und auf der anderen Seite der konservativen Schriftsteller (Houellebecq in Frankreich). Aber keines dieser Selbstporträts zeigt den wahren Michel Houellebecq. Die Wahrheit liegt bekanntlich im Auge des Betrachters und in diesem Fall liegt sie noch dazu im Auge des Betrachters des einzigen echten Porträts des Schriftstellers, nämlich dem fiktiven Ölgemälde, das Jed Martin für die Ausstellung seiner Porträtserie anfertigt. Zu Balzacs Zeiten musste sich die Fabel der Wahrheit (»vérité«) annähern, um nicht mehr bloß Fiktion (»roman«) zu sein. Heute dagegen muss sich die Fiktion überbieten, um als wahr angesehen zu werden. Das gilt auch für das fiktive Porträt des Schriftstellers. Es zeigt Houellebecq während der Arbeit an einem Manuskript in seinem Arbeitszimmer: »[…] l’auteur paraît en état de transe, possédé par une furie que certains n’ont pas hésité à qualifier de démoniaque ; sa main portant le stylo correcteur, traitée avec un léger flou de mouvement, se jette sur la feuille ›avec la rapidité d’un cobra qui se détend pour frapper sa proie‹, comme l’écrit de manière imagée Wong Fu Xin, qui procède probablement là à un détournement ironique des clichés d’exubérance métaphorique traditionnellement associés aux auteurs d’Extrême-Orient.« (CT, 180) Es ist bezeichnend, dass Jed Martin ausgerechnet bei diesem Porträt mit der »pratique des fonds réalistes« (CT, 179) seiner übrigen Gemälde bricht. Hatte er bislang den Menschen in seinem sozialen Umfeld dargestellt, so geht es ihm nunmehr darum, die Individualität des Porträtierten hervorzuheben. Der fiktive Kunstkritiker scheint sich in seiner Beschreibung des Gemäldes von Houellebecqs eigener Vorliebe für Tiervergleiche beeinflussen zu lassen. Die fleischlosen Hände des Autors gleiten über das Papier »comme les serres d’un rapace« (CT, 181). Obwohl der reale Autor gerne behauptet, dass ihm der Stil nicht wichtig sei, sehen wir ihn nun in einem »transähnlichen« Zustand, besessen vom »Dämon« des Stils und allzeit bereit, ein unliebsames Wort zu streichen. All dies wird jedoch überstrahlt von der »incroyable expressivité du personnage principal« (CT, 180). Hierzu gehört auch der sonderbare Blick des Autors, der sich keiner bekannten Bildtradition zuordnen lässt. Die Mythisierung des Blicks ist ein »romantischer Verklärungsgestus«298 , wie Andreas Gipper festhält, mit dem hier offenbar versucht wird, an einer Autonomieästhetik des künstlerischen Subjektes festzuhalten. Letzten Endes ist das Porträt das, was von dem Autor übrigbleibt, nachdem dieser längst verschwunden ist. In die Sphäre der Kunst entrückt, hat sich Houellebecq im Bild eines (fiktiven) Anderen selbst verewigt.

298 Andreas Gipper, »Die Kunst des Porträts und das Porträt des Künstlers«, a.a.O., S. 717.

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In gewisser Weise ist der Autor aber auch nach seinem Tod noch weiterhin präsent, denn er lebt fort in den von ihm erschaffenen Romanfiguren. Zwischen dem Autor und den Romanfiguren entwickelt sich ein kompliziertes Netz aus gegenseitigen Verweisen. Beispielsweise fällt auf, dass sich der Schriftsteller Michel Houellebecq und der Architekt Jean-Pierre Martin in vielerlei Hinsicht ähneln. Jeds Vater erläutert seinem Sohn die sozialreformerischen Utopien eines William Morris; Houellebecq macht Jed wenig später mit den frühsozialistischen Ideen von Charles Fourier vertraut. Die beiden Männer teilen nicht nur ihre Leidenschaft für Vögel, sie sind auch gleichermaßen desillusioniert vom Leben und haben ihr Vertrauen in die Menschheit verloren.299 Als Houellebecq beklagt, dass keine seine Hoffnungen erfüllt wurde, antwortet ihm Jed: »Vous parlez comme mon père…« (CT, 252), woraufhin dieser erschrocken aufspringt, als wollte er dem Leser damit signalisieren, genauer auf die Verbindung zwischen den Romanfiguren zu achten. Schließlich sterben beide Männer noch vor dem Ende der Erzählung eines unnatürlichen Todes: Houellebecq wird ermordet und Jeds Vater folgt ihm wenig später mit seinem Selbstmord. Kaum sind die beiden verschwunden, übernimmt eine andere Romanfigur ihren Platz. Mit dem Kommissar Jean-Pierre Jassin werden die intradiegetischen Bezüge zwischen den Figuren ein weiteres Mal verdoppelt. Der Kommissar hat nicht nur denselben Vornamen wie Jeds Vater, er besitzt darüber hinaus auch einen Hund genau wie Houellebecq. Dieser Hund, so erfahren wir, ist aus der Verbindung einer aristokratischen Hundedame mit dem vornehmen Namen Lizzy Lady de Heurtebise und eines Maltesers namens »Michel« hervorgegangen (CT, 291). Der Schriftsteller lebt also in Gestalt des Hundes weiter, während der Architekt in der Figur des Kommissars fortlebt. Letzterer vertritt zudem sehr ähnliche Ansichten über die Sexualität wie der Autor in seinen Romanen.300 Am Ende verschwindet Jasselin genau wie die zwei Männer vor ihm schweigend aus dem Roman, da er noch vor der eigentlichen Aufklärung des Mordfalls in Pension geht. Sein Kollege, der junge Leutnant Christian Ferber, übernimmt den Fall. Zwischen ihm und dem Künstler Jed Martin bestehen nun aber ebenfalls auffällige Parallelen. Bei seinem ersten Auftritt im Roman ist Ferber zweiunddreißig Jahre alt, er hat also in etwa genau dasselbe Alter wie der Protagonist zu Beginn der Handlung. Auch

299 Bei Jeds erstem Besuch in Irland gesteht Houellebecq am Ende ihres Gesprächs: »C’est vrai, je n’éprouve qu’un faible sentiment de solidarité à l’égard de l’espèce humaine…« (CT, 171). Jeds Vater äußert seine Abneigung sogar noch deutlicher, wenn er sagt: »Je peu plus supporter la gueule des êtres humains…« (CT, 204). Seinem Sohn erzählt er, dass er als junger Mann Schwalbennester gebaut habe. Nach seinem Umzug in das Haus seiner Großeltern stellt der Schriftsteller dort ebenfalls ein Vogelhaus auf. Er versucht sich sogar an einem Gedicht über Vögel, lässt das Projekt aber wieder fallen und schreibt stattdessen über seinen Hund (CT, 249). 300 »Malgré sans doute par les idées en vogue dans sa génération, il [Jasselin] avait jusque-là considéré la sexualité comme une puissance positive, une source d’union qui augmentait la concorde entre les humains par les voies innocentes du plaisir partagé. Il y voyait au contraire maintenant de plus en plus souvent la lutte, le combat brutal pour la domination, l’élimination du rival et la multiplication hasardeuse des coïts sans aucune raison d’être que d’assurer une propagation maximale aux gènes. Il y voyait la source de tout conflit, de tout massacre, de toute souffrance. La sexualité lui apparaissait de plus en plus comme la manifestation la plus directe et la plus évidente du mal« (CT, 293).

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Wirklichkeit im Wandel

sonst erinnert vieles an den jungen Jed Martin. Auffallend ist zunächst einmal sein äußeres Erscheinungsbild, das eher »ungewöhnlich« für einen Polizisten ist: »Avec son teint pâle, ses yeux d’un bleu très clair, ses cheveux mi-longs et noirs, Christian Ferber avait à trente-deux ans un physique romantique de beau gosse ténébreux, sensible, assez inhabituel dans la police« (CT, 263f.). Auch Jed Martin wird als äußerst »délicat et fluet« (CT, 47) beschrieben. Außerdem verfügen beide über eine gewisse literarische Vorbildung. Als Jugendlicher liest Jed Martin alle kanonischen Autoren: »Il avait lu Platon, Eschyle et Sophocle ; il avait lu Racine, Molière et Hugo ; il connaissait Balzac, Dickens, Flaubert, les romantiques allemands, les romanciers russes« (CT, 47). Als er mit Olga zusammenkommt, erinnert er sich an die Romane der französischen Realisten aus dem 19. Jahrhundert (CT, 75). Allerdings vergisst er die Bücher seiner Jugend in der Folge, weil er fast nur noch Kriminalromane liest. Sein Doppelgänger, der junge Lieutenant Ferber, ist ebenfalls ein passionierter Leser. Bei seinem ersten Auftritt im Roman finden wir ihn in die Lektüre von Gérard de Nervals Erzählung Aurélia vertieft (CT, 268).301 Sein Vorgesetzter bittet ihn später um eine Buchempfehlung, woraufhin er ihm die Romane von Thierry Jonquet (CT, 369) nennt.302 Ferber ist es auch, der Jasselin bei der Besichtigung des Tatorts über die Identität des Opfers aufklärt: »C’est un écrivain. Enfin, c’était un écrivain. Il était très connu« (CT, 266). Und weil der Kommissar mit dem Namen des Schriftstellers nichts anzufangen weiß, fügt er bei einer späteren Gelegenheit hinzu: »Ce n’était pas un mauvais écrivain, tu sais…« (CT, 309). Damit

301 Die Anspielung auf den romantischen Dichter Nerval, der sich noch vor der Veröffentlichung seiner Erzählung im Jahr 1855 das Leben nahm, liest sich wie eine ironische Replik auf die kurz zuvor erwähnte Nachricht vom Tod des Schriftstellers Houellebecq. Gleichzeitig wird durch die Erwähnung seiner Novelle auf das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion angespielt. Die Novelle erzählt die Geschichte eines Mannes, der nach dem Tod seiner Geliebten von Wahnvorstellungen und Halluzinationen heimgesucht wird. Das Bild der Geliebten verfolgt ihn bis in den Schlaf. Im Traum begegnet ihm ein Doppelgänger, der ihm das Bild der Verstorbenen ein zweites Mal entreißt. Am Ende erscheint ihm Aurélia schließlich selbst im Traum und offenbart ihm ihre wahre Gestalt. 302 Auch diese intertextuelle Anspielung enthält einen versteckten Hinweis auf den Roman selbst. Am Ende führt ein Zufall zur Aufklärung des Mordfalls. Dazu kommt es, als man bei einer RoutineKontrolle im Auto eines Kleinkriminellen einen Koffer voller Insekten findet, darunter auch eine seltene Vogelspinne. Wie sich herausstellt, war der Koffer für einen Schönheitschirurgen und Liebhaber ausgefallener Tiere bestimmt. Als die Polizei eine Hausdurchsuchung bei dem Chirurgen vornimmt, stößt sie im Keller auf ein regelrechtes Gruselkabinett. Hinter Glasvitrinen sind Sexualorgane, Föten in Reagenzgläsern und abgetrennte Körperteile ausgestellt. In einer Schublade entdecken die Ermittler eine Sammlung exotischer Insekten. Zuletzt finden die Polizisten im Keller des Docteur Pétissaud, so der Name des Chirurgen, auch eine Zeichnung von Francis Bacon, zwei Präparate von Günter von Hagen sowie das gestohlene Porträt »Michel Houellebecq, écrivain« (CT, 376). In der Folge wird schnell klar, dass der Chirurg den Schriftsteller ermordet hat, um an das Porträt zu gelangen. Die Spur der Vogelspinne führt somit Schritt für Schritt zur Aufklärung des Falles. Russel Williams hat gezeigt, dass es sich dabei um eine Anspielung auf Thierry Jonquet und dessen Kriminalroman La Mygale (1984) handelt. Die Hauptfigur dieses Romans ist ebenfalls ein Chirurg mit einer Neigung zu sadistischen Quälereien. Williams interpretiert den Ausgang des Romans daher als eine »Hommage« an den bekannten Krimi-Autor. Vgl. Russel Williams, »Michel Houellebecq and Crime Fiction: Between Polar and Poésie«, in: Revue Critique de Fixxion Française Contemporaine 10, 2015, S. 148-159, hier S. 152.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

wiederholt er nahezu im Wortlaut dasselbe Urteil über Houellebecqs schriftstellerische Qualitäten, wie schon Jeds Vater zu Beginn der Erzählung. Die wohl auffälligste Parallele ergibt sich jedoch aus dem Vergleich der beiden Künstlerfiguren des Romans. Jed Martin hat nicht nur denselben »regard passionné« (CT, 170) wie der Schriftsteller Michel Houellebecq auf dem Porträt, beide Künstler messen dem jeweils anderen Medium darüber hinaus eine große Bedeutung bei.303 Ähnlichkeiten bestehen auch hinsichtlich ihrer Entwicklung innerhalb des Romans. Sowohl Jed Martin als auch Houellebecq durchlaufen eine schwere Krise und ziehen sich infolgedessen auf das Land zurück: der Schriftsteller kehrt in das Haus seiner Kindheit im Loiret zurück, der Maler tut es ihm gleich und bezieht das Haus seiner Großeltern in der Creuse. Noch wichtiger ist aber, dass zwischen dem künstlerischen Projekt von Jed Martin und Houellebecqs eigenem Romanprojekt eine auffällige Analogie besteht. Beispielsweise räumen beide dem Sozialen eine besondere Bedeutung ein. So meint Jed Martin über sich selbst: »Ce que je fais, en tout cas, se situe entièremenet dans le social« (CT, 145). Beide Künstler versuchen in ihrem jeweiligen Werk historische Entwicklungstendenzen darzustellen und beide verstehen Literatur bzw. Malerei als mimetische Tätigkeiten, womit sie sich zugleich gegen den Formalismus in der Kunst wenden. Wie Jed bei ihrem ersten Treffen erklärt, langweilen ihn die Romane eines Robbe-Grillet. Houellebecq pflichtet ihm bei und fügt hinzu, dass sich die Literatur nicht bloß mit der Beschreibung von Gegenständen begnügen dürfe. Im Mittelpunkt eines Romans, so meint er, müsse ein »authentique drame humain« (CT, 138) stehen. Diese Bestimmung des Romans als einem Darstellungsmedium menschlicher »Dramen« erinnert an Balzac. In der Comédie humaine erscheint die soziale Wirklichkeit ja ebenfalls dramatisiert in Gestalt von Einzelschicksalen, Leidenschaften und persönlichen Machtkämpfen der Romanfiguren. Mit Balzac verbindet die beiden Künstler auch das Ziel, ein möglichst kohärentes Bild der Wirklichkeit zu entwerfen. Dieses Ziel bekräftigt Jed Martin in seinem letzten öffentlichen Interview noch einmal: »Je veux rendre compte du monde… Je veux simplement rendre compte du monde« (CT, 406).

4.4.7

Reise ins Reich der ›Hyperrealität‹

Genau wie Jed Martin versucht auch Houellebecq einer sich wandelnden Wirklichkeit gerecht zu werden, indem er die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Transformationsprozesse im Übergang von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft beschreibt. Der schleichende Niedergang der einstigen Industrienation Frankreich und ihre schwindende kulturelle Bedeutung wird begleitet vom Aufstieg neuer Schwellenländer. Nicht zufällig stammt die erste Studie über Jed Martin aus der Feder eines Chinesen und das Porträt »Michel Houellebecq, écrivain« wird nicht umsonst von einem

303 »Ironiquement, soulignent les historiens d’art, Jed Martin semble dans son travail accorder une énorme importance au texte, se polariser sur le texte détaché de toute référence réelle. Or, tous les historiens de la littérature le confirment, si Houellebecq aimait au cours de sa phase de travail punaiser les murs de sa chambre avec différents documents, il s’agissait le plus souvent de photos, représentant les endroits où il situait les scènes de ses romans […]« (CT, 179).

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Wirklichkeit im Wandel

indischen Mobilfunk-Unternehmer gekauft (CT, 394). Die Verdoppelung der Romanfiguren steht dabei stellvertretend für den Wandel der kulturellen Ordnung, denn sie bezeugt weniger den metafiktionalen Charakter des Erzählten, sondern verweist vielmehr auf die Verdoppelung des Realen als Kennzeichen der postmodernen Wirklichkeit. Die entscheidenden Veränderungen der Wirklichkeit spielen sich jedoch nicht in der Hauptstadt ab, sondern in der französischen Provinz, wo sich der neue ›Geist‹ des Kapitalismus erst mit Verspätung bemerkbar macht und Traditionen nach wie vor ein integraler Bestandteil des Alltags sind. Der Roman diagnostiziert eine regelrechte Sehnsucht nach Tradition. Sei es in den exklusiven Restaurants der Metropole, sei es in den Hotels, in denen Jed und Olga auf ihrer Reise durch die Provinz übernachten, überall wird ihnen ein Bild von Frankreich präsentiert, das seine lokalen Brauchtümer und seine kulturellen Traditionen wieder entdeckt hat. So auch in dem (real existierenden) Pariser Restaurant Chez Papa, in dem Jed und sein Vater am Weihnachtsabend traditionelle Gerichte (»à l’ancienne«) serviert bekommen: »Jed l’avait choisie dans le Pariscope sur la foi d’une annonce publicitaire promettant une qualité traditionnelle, à l’ancienne, et la promesse était, dans l’ensemble, tenue. […] Il y avait du sanglier, du cochon de lait, de la dinde ; en dessert, naturellement, une bûche pâtissière à l’ancienne était proposée par l’établissement.« (CT, 19-20) Später möchten Jed und Olga das authentische Frankreich kennenlernen und begeben sich auf eine Reise ins Zentralmassiv: »On va commencer par le Massif central, trancha-t-il finalement. Pour toi, c’est parfait. Ce n’est peut-être pas ce qu’il y a de mieux, mais je crois que c’est très français ; enfin, que ça ne ressemble à rien d’autre que la France« (CT, 93). Die Vorstellung, dass bestimmte Regionen »französischer« seien als andere, ist zugegebenermaßen recht naiv. Aber auch Olga, die es von Berufswegen eigentlich besser wissen müsste, wird von der Sehnsucht nach Authentizität angesteckt: »[…] moi je suis une touriste, je veux du franco-français« (CT, 94). Wie den beiden ergeht es auch dem Rest der Bevölkerung. Die gesamte Gesellschaft wird von einer Nostalgie für »la France profonde« (CT, 393) ergriffen. Als Künstler ist Jed Martin auch deswegen so erfolgreich, weil er mit seinen Michelin-Karten einen Trend antizipiert hat: »pour la première fois en réalité en France depuis Jean-Jacques Rousseau, la campagne était redevenue tendance« (CT, 87). Nach dem Erfolg seiner Karten-Ausstellung sprechen die Zeitungen von einer »magie du terroir« (CT, 88). Das neuerliche Interesse für die Provinz erklärt sich daraus, dass Unterschiede zwischen den Kulturen in der globalisierten Welt mehr und mehr verschwinden. Die Sehnsucht nach dem authentischen Frankreich verweist auf einen Mangel, auf das Gefühl der Heimatlosigkeit und Entwurzelung. Verantwortlich dafür ist einmal mehr der Kapitalismus, denn er zerstört die natürlichen Bindungen zwischen den Menschen und ihrem Territorium. Doch damit nicht genug: Nachdem der Kapitalismus die kulturellen Bräuche und Traditionen aufgelöst hat, macht er sich die Gefühle der Menschen zu Eigen und verwandelt die Nostalgie für das Vergangene, an dessen Zerstörung er selbst mitgewirkt hat, in ein Produkt, das sich verkaufen lässt. Das Land, das Jed und Olga auf ihrer Reise durch die Provinz kennenlernen, ist bloß noch eine folkloristische Imitation des traditionellen Frankreichs früherer Tage. Eine Schlüsselfigur dieser Folklorisierung ist der bekannte TV-Moderator und Journalist Jean-Pierre Pernaut. Er hat

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

erkannt »qu’après les années 1980 ›fric et frime‹, le public avait soif d’écologie, d’authenticité, de vraies valeurs« (CT, 226). Als Autor einer mehrbändigen Buchreihe über das traditionelle französische Kunsthandwerk weiß er, dass sich die Sehnsucht nach Authentizität kommerziell ausschlachten lässt: »Jean-Pierre Pernaut accomplissait chaque jour cette tâche messianique consistant à guider le téléspectateur, terrorisé et stressé, vers les régions idylliques d’une campagne préservée, où l’homme vivait en harmonie avec la nature, s’accordait au rythme des saisons.« (CT, 226) Der Roman zeichnet ein überaus ironisches Bild des Journalisten, wie seine Stilisierung zum Heilsbringer (»cette tâche messianique«) deutlich zeigt. Auch die Beschreibung einer Silvesterparty, die der fiktive Pernaut unter dem Motto »les provinces de France« (CT, 225) organisiert, ist in weiten Teilen bloß eine Satire der französischen Medienlandschaft. Die Party endet damit, dass Jed von Ekel übermannt wird und sich im Hof erbricht. Währenddessen verlassen drei ältere Männer im dunklen Anzug das Gebäude. Aus ihrem Auftreten schließt Jed, dass es sich um Mitglieder aus dem Vorstand von Michelin handeln muss. Das Unternehmen aus Clermont-Ferrand steht symptomatisch für den Wandel vom klassischen Industriekapitalismus zu einer postindustriellen Form der Wertschöpfung. Als Hersteller von Autoreifen war das französische Unternehmen ursprünglich im verarbeitenden Industriesektor angesiedelt, ehe es seine Produktion auf die Herstellung von Landkarten, Reiseführern und die Vergabe von firmeneigenen »Michelin-Sternen« ausweitete. Im Roman plant man bereits den nächsten Expansionsschritt: Um die Präsenz von Michelin auf dem russischen Markt zu stärken, soll Olga den Aufbau eines neuen Fernsehsenders koordinieren. Die drei Männer aus dem Direktorium hätten in der Tat ein gutes Bild abgegeben, wie Jed umgehend bemerkt, als sie wortlos an ihm vorbeiziehen »conscients de représenter le pouvoir et la réalité du monde« (CT, 238). Der Kapitalismus verändert nicht nur die räumliche Struktur der Welt, sondern auch die Machtverhältnisse. Im 21. Jahrhundert liegt die Macht nicht mehr allein bei den Eigentümern von Produktionsmitteln, sondern bei jenen, die über die Deutungshoheit der Wirklichkeit verfügen. Jeds Michelin-Karten bilden diese Transformationsprozesse metonymisch ab und machen auf diese Weise sichtbar, wie sich die materielle Wirklichkeit allmählich in eine künstliche Realität verwandelt. Nirgendwo zeigt sich diese Verwandlung besser als in Montargis, jenem Ort, an dem sich der fiktive Houellebecq wenige Wochen vor seiner Ermordung niedergelassen hat. Auf seinem Spaziergang durch das Dorf präsentiert sich dem mit der Untersuchung des Mordfalls beauftragten Kommissar ein sonderbarer Anblick: »Jasselin marchait lentement, le long d’une route qui conduisait à un bosquet d’un vert intense, anormal, où devaient probablement proliférer les serpents et les mouches – voire, dans le pire des cas, les scorpions et les taons, les scorpions n’étaient pas rares dans l’Yonne, et certaines s’aventuraient jusqu’aux limites du Loiret, il l’avait lu sur Info Gendarmeries avant de venir, un excellent site, qui ne mettait en ligne que des informations soigneusement vérifiées.« (CT, 269-270) Dem Kommissar erscheint die umgebende Natur relativ ungewöhnlich (»anormal«) für diese Gegend. Es ist als würde er durch einen Märchenwald spazieren, von dem eine

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sonderbare, bedrohliche Atmosphäre ausgeht. Nicht nur blutsaugende Insekten, sondern auch andere giftige Fabeltiere, Schlangen und Skorpione, tummeln sich darin. Obwohl die Anwesenheit dieser Tiere durch den Hinweis auf eine Internetseite beglaubigt wird, die Jasselin im Voraus konsultiert hat und deren Glaubwürdigkeit angeblich außer Frage steht, muss man die Zuverlässigkeit dieser Informationen doch in Zweifel ziehen. Denn je länger der Rundgang andauert, desto unwirklicher und fantastischer erscheint die Umgebung. Als Jasselin den Wald verlässt, hat sich die Welt um ihn herum komplett verändert. Auf einmal findet sich der Kommissar in einem künstlichen Ort wieder: »tout donnait l’impression d’un décor, d’un village faux, reconstitué pour les besoins d’une série télévisée« (CT, 270). Die Realität der Simulation hat die reale Welt verdrängt. Zwar ähnelt Montargis noch immer einem typischen Provinzdorf, nur scheint dort niemand mehr zu wohnen. Die Häuser wirken wie Attrappen einer Fernsehproduktion, die aufgebaut wurden, um das klischeehafte Abbild einer französischen Gemeinde darzustellen. Die irrealen Elemente nehmen im weiteren Verlauf der Handlung weiter zu. Auf seinem Rundgang durch Montargis passiert der Kommissar mehrere Straßen, die allesamt erfunden sind und Namen berühmter Philosophen tragen. Zunächst gelangt er in die »rue Martin-Heidegger« (CT, 271), anschließend legt er in dem »impasse Leibniz« (CT, 271) eine kurze Pause ein und überquert sodann die »place Parménide« (CT, 271), bevor er schließlich an den »rond-point Emmanuel-Kant« (CT, 272) gelangt. Ein Name taucht in der Aufzählung von Philosophen nicht auf, obwohl er für den Roman sehr wichtig ist: Jean Baudrillard. Wie bereits gezeigt wurde, übernimmt Houellebecq zentrale Konzepte (wie den Begriff des »Simulakrum« oder die Figur des »Möbius-Bandes«) von Baudrillard und überträgt sie auf den Roman. Auch die zentrale Metapher der Karte aus dem Romantitel verweist auf Baudrillard und seine Theorie der Simulation. In der Ordnung des Simulakrums geht die reale Erfahrungswelt (das Territorium) nicht mehr der Repräsentation (der Karte) voraus, wie Baudrillard (unter Berufung auf einen Text von Borges304 ) darlegt; vielmehr wird das Reale nunmehr von einer simulier-

304 Baudrillard bezieht sich auf eine Fabel von Borges mit dem Titel Del rigor en la ciencia (dt. Von der Strenge der Wissenschaft). Darin wird berichtet, dass die Kartografen eines anonymen Reiches so detaillierte Karten anfertigen konnten, dass die Karte einer einzigen Provinz den Raum einer ganzen Stadt einnahm und die Karte des Reiches den einer ganzen Provinz. Als diese Karten nicht mehr ausreichten, wurde eine Karte angefertigt, die exakt die Größe des Reiches hatte und sich mit diesem in jedem Punkt deckte. Allerdings empfanden spätere Generationen von Kartografen dies als nutzlos und kümmerten sich nicht länger um ihre Pflege, so dass sich die Karte unter der Einwirkung von Sonne und Wetter allmählich auflöste und verfiel, bis sie schließlich erneut in die Substanz der Erde einging und sich in den Wüsten des westlichen Reiches Tiere und Bettler in den Überresten der Karte niederließen. Vgl. Jorge Luis Borges, »Del rigor en la ciencia«, in: ders., Historia universal de la infamia, Buenos Aires: Emecé, 1958, S. 131-132. Es ist interessant zu beobachten, dass sogar das Zusammenspiel von Literatur und Theorie im Roman als ›postmodern‹ bezeichnet werden kann: Houellebecq bezieht sich mit der Metapher seines Romantitels auf Baudrillard, der sich auf einen Text von Borges bezieht, der als Verfasser dieser Fabel wiederum einen fiktiven Autor aus dem 17. Jahrhundert vorgibt. Das heißt die Kette an Verweisen lässt sich nicht mehr auf einen Ursprung zurückführen, sie mündet unmittelbar in die Fiktion. Mit anderen Worten: Es gibt keine Wirklichkeit hinter den Texten mehr, sondern nur mehr andere Texte.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

ten Wirklichkeit, einer ›Hyperrealität‹, überlagert.305 Auch im Roman verschwindet die reale Welt nahezu vollständig in einer ›hyperrealen‹ Wirklichkeit. Der Epilog endet im Jahr 2036 und gibt einen Ausblick darauf, wie sich das ursprüngliche Territorium verwandelt haben wird. Als Jed sein Grundstück nach mehr als zwanzig Jahren zum ersten Mal verlässt, hat sich die Welt um ihn herum so stark verändert, dass er sie kaum noch wiedererkennt. In den folgenden Wochen erkundet er nach und nach die Veränderungen in seinem Umland. Zunächst fällt ihm auf, dass sich die Zahl der Einwohner im Dorf mehr als verdoppelt hat. Auch die dort lebende Bevölkerung hat sich verändert: »[…] oui, le pays avait changé, changé en profondeur. Les habitants traditionnels des zones rurales avaient presque entièrement disparu. De nouveaux arrivants, venus des zones urbaines, les avaient remplacés, animés d’un vif appétit d’entreprise et parfois de convictions écologiques modérées, commerciables. Ils avaient entrepris de repeupler l’hinterland – et cette tentative, après bien d’autres essais infructueux, basée cette fois sur une connaissance précise des lois du marché, et sur leur acceptation lucide, avait pleinement réussi.« (CT, 400) Das französische »Hinterland« wurde inzwischen von Menschen aus der Großstadt kolonisiert. Die neue Bevölkerung denkt liberal und bringt einen frischen Unternehmergeist in die Provinz. Sie verfügt über präzise Kenntnisse des Marktes und hat die Ideologie von Angebot und Nachfrage verinnerlicht. In wirtschaftlicher Hinsicht erweist sich die Kolonialisierung als positiv. Zwar ist die Industrie beinahe vollständig verschwunden, aber dafür sind einige traditionelle Berufe – wie das Kunstschmiedehandwerk, das Korbflechten, das Messinggießen und selbst der Hufschmied – wieder auferstanden. Da Frankreich mittlerweile zu einem Agrarstaat geworden ist, konnten die Finanz- und Wirtschaftskrisen dem Land kaum etwas anhaben. Der Tourismus bildet neben der Landwirtschaft den größten Teil des Bruttoinlandsprodukts. Nachdem die letzten Industrieanlagen ins Ausland verlagert wurden, ist Frankreich zu einer Art »Disneyland«306 für die wohlhabende Mittelschicht der aufsteigenden Industriestaaten geworden. Als Urlaubsziel ist Frankreich bei Chinesen, Russen, Indern und Brasilianern beliebt. Ironischerweise hat sich vor allem der Sex-Tourismus zu einem wichtigen Produktivitätsfaktor entwickelt: »La France, pour la première fois depuis des années 1900 ou 1910, était redevenue une destination privilégiée du tourisme sexuel« (CT, 401). Um den Touristen ein möglichst authentisches Bild des echten Frankreich zu vermitteln, werden landestypische Traditionen neu belebt. Es kommt zu einer regelrechten Renaissance lokaler Bräuche, Tänze und Rezepte. (CT, 403). Die Kultur ist zu einer Ware geworden, die keine Relevanz mehr für das Leben hat, aber erfolgreich vermarktet 305 »Aujourd’hui l’abstraction n’est plus celle de la carte, du double, du miroir ou du concept. La simulation n’est plus celle d’un territoire, d’un être référentiel, d’une substance. Elle est la génération par des modèles d’un réel sans origine ni réalité : hyperréel. Le territoire ne précède plus la carte, ni ne lui survit. C’est désormais la carte qui précède le territoire – procéssion des simulacres –, c’est elle qui engendre le territoire […].« Jean Baudrillard, Simulacres et simulation, a.a.O., S. 10. 306 Baudrillard erkennt in Disneyland (und den zahlreichen anderen Vergnügungsparks) ein paradigmatisches Modell für die Ordnung des Simulakrums: »L’imaginaire de Disneyland n’est ni vrai ni faux, c’est une machine de dissuasion mise en scène pour régénérer en contre-champ la fiction du réel.« Ebd., S. 26.

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wird. Das Frankreich im Jahr 2036 hat sich in ein Simulakrum verwandelt. Auf seiner Erkundungsfahrt durch die französische Provinz erlebt Jed Martin, wie das Reale durch Zeichen des Realen substituiert wird.307 In der ›Hyperrealität‹ müssen die Dinge lediglich als ›echt‹ erscheinen, damit sie als ›echt‹ empfunden werden. Das Authentische ist ein künstliches Abbild, ein Simulakrum des Echten. Auf seiner Reise begegnet Jed sogar seinem eigenen ›hyperrealen‹ Doppelgänger. Eines Morgens spricht ihn ein fremder Mann an, der sich als Hobby-Maler vorstellt und Jed in seine Werkstatt führt. Die Bilder des Mannes sind größtenteils »autofictions« (CT, 404) im Stil der heroic fantasy, die an Kitsch kaum mehr zu überbieten sind. Auch die Kunst verschwindet in der künstlichen (›hyperrealen‹) Kultur der Postmoderne. Am Ende ist von der Kunst nicht vielmehr übrig als ein billiges Duplikat dessen, was es früher schon einmal gab. In seinem Spätwerk versucht Jed Martin den unaufhaltsamen Verfallsprozess der Kultur (angefangen bei den Erzeugnissen industrieller Produktion bis zu den kulturellen Hochleistungen der Kunst) zu dokumentieren. Dazu entwirft er »Videogramme« (CT, 406) und Montagen, in denen er Alltagsgegenstände mit Schwefelsäure übergießt, um ihren »processus de décomposition« (CT, 409) zu filmen. Später spannt er Fotografien von Personen auf eine Leinwand und filmt, wie sich die Bilder unter dem Einfluss von Sonne und Regen auflösen oder verfaulen. Dasselbe Szenario wiederholt er mit kleinen Spielzeugfiguren, wobei er den Verfallsprozess beschleunigt, indem er die Figuren zusätzlich mit Säure präpariert. Auf diese Weise will er die unaufhaltsame »dégradation naturelle« (CT, 411) der menschlichen Kultur und ihrer Erzeugnisse darstellen. Zukünftige Kunstkritiker interpretieren Jeds Spätwerk darum als eine »méditation nostalgique sur la fin de l’âge industriel en Europe« (CT, 414). Der Erzähler hingegen hält diese Interpretation für unvollständig. Die Spielzeugfiguren, die Jed für seine Video-Montage verwendet, sind ihm zufolge »le symbole de l’anéantissement généralisé de l’espèce humaine« (CT, 414). Houellebecqs Vorgängerroman Les particules élémentaires endete mit der Abschaffung des Menschen und seiner Ersetzung durch eine posthumane Spezies. In La carte et le territoire wird das Verschwinden der menschlichen Kultur nicht mehr als eine Folge technologischer Entwicklungen beschrieben, sondern als ein natürlicher Prozess. In Soumission, dem folgenden Roman, wird der kulturelle Niedergang jedoch nicht mehr allein auf den Kapitalismus zurückgeführt, sondern auf den Bedeutungsverlust des Christentums. Damit einher geht die Frage, ob es für Frankreich, Europa und den Westen eventuell noch eine Chance gibt, die eigene Kultur mit Hilfe einer anderen Religion zu erneuern.

307 Dieselbe Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen beschreibt Umberto Eco auf seiner Reise durch die US-amerikanische Provinz. Im Verlauf dieser Reise, die ihn von San Francisco nach Los Angelos bringt, besucht Eco einen originalgetreuen Nachbau des Oval Office (im Maßstab eins zu eins). Eco erkennt darin ein Symbol für die ›hyperreale‹ Kultur der Postmoderne. Denn in der ›Hyperrealität‹ hören die Zeichen auf, Zeichen zu sein, und geben stattdessen vor, die Sache selbst zu sein. Auf diese Weise wird das ›ganz Falsche‹ identisch mit dem ›ganz Wahren‹. Vgl. Umberto Eco, »Reise ins Reich der Hyperrealität«, in: ders., Über Gott und die Welt. Essays und Glossen, aus dem Italien. von Burkhart Kroeber, München/Wien, Hanser, 1985, S. 36-99, hier S. 40ff.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

4.5 4.5.1

Soumission (2015) oder die Suche nach einem Ausweg aus der Krise der westlichen Zivilisation Zwischen realistischer Gegenwartsbeschreibung und fiktiver Zukunftsvision

In Soumission verknüpft Houellebecq die gesellschaftskritische Zeitdiagnose seiner bisherigen Romane mit einem Ausblick auf die Zukunft der abendländisch-europäischen Kultur.308 Damit verschiebt sich der Schwerpunkt seiner bisherigen Romane von der Suche nach den Ursachen für den Verfallsprozess der westlichen Gesellschaften hin zu der Frage, ob es für die erschöpfte civilisation occidentale noch eine Möglichkeit der kulturellen und moralischen Erneuerung gibt. Der Roman hat die Form eines Tagebuchs, wobei sich in die Aussagen des Ich-Erzählers immer wieder Reflexionen mit stark auktorialem Charakter mischen, die in gewisser Weise an die Erzählerkommentare Balzacs erinnern. Dabei wird in generalisierender Art und Weise über den Zustand der Gesellschaft (»Tel est le cas, dans nos sociétés encore occidentales…«; SM, 11), über die Sinnlosigkeit eines Literaturstudiums (»Les études universitaires dans le domaine des lettres, ne conduisent comme on le sait à peu près à rien…«; SM, 17) oder über die Menschen im Allgemeinen (»…l’entrée dans la vie professionnelle plonge la plupart des êtres humains dans une solitude aussi stupéfiante que radicale«; SM, 19) sinniert. Auf der Handlungsebene laufen zwei Erzählstränge ineinander über: zum einen die persönliche Konversionsgeschichte des Protagonisten und zum anderen die politische Rahmenhandlung der fiktiven Präsidentschaftswahl. Der Roman spielt in der Zukunft des Jahres 2022. Dennoch ist Soumission kein Science-Fiction-Roman, sondern ein Roman von ungeheurer Aktualität. Das Frankreich des Jahres 2022 unterscheidet sich nämlich kaum von demjenigen des Jahres 2015. Das politische Personal ist nahezu identisch mit den realen Politikern, genauso wie die Vertreter aus Fernsehen, Zeitungen oder Medien. Wie schon in Houellebecqs früheren Romanen werden auch dieses Mal unzählige Namen von realen Persönlichkeiten erwähnt.309 Dasselbe gilt für die Erwähnung von Marken- und Produktnamen wie z.B. iTélé (SM, 107), L’Auto Journal (SM, 188), Secret Stories (SM, 91), Converse (SM, SM, 24), Géant Casino (SM, 120), Volkswagen Touareg (SM, 126), Mitsubishi Pajero Instyle (SM, 188) usw. All diese Namen haben die Funktion von Wirklichkeitsreferenzen. Sie erlauben es dem Leser, den fiktionalen Diskurs als Verlängerung seines eigenen Weltbezugs zu behandeln.310 Gleichzeitig erfüllen diese 308 Vgl. Michel Houellebecq, Soumission, Paris: Flammarion, 2015. Im Folgenden abgekürzt als SM. 309 Unter den Personen, die im Roman auftauchen, befinden sich sowohl Politiker wie Jean-François Copé, Lionel Jospin, Manuel Valls, Laurent Wauquiez, Florian Philippot, François Bayrou, Jean-Luc Mélenchon und Pierre Moscovici als auch Fernsehmoderatoren wie David Pujadas und Stéphane Bern, Journalisten wie Christophe Barbier, Renaud Dely oder Yves Thréard und Intellektuelle wie Pascal Bruckner, Michel Onfray oder Renaud Camus. 310 So die Erklärung, die John Searle für die Funktion der Referenz von nicht-fiktionalen Elementen in fiktionalen Texten gibt: »In the case of realistic or naturalistic fiction, the author will refer to real places and events intermingling these references with fictional references, thus making it possible to treat the fictional story as an extension of our existing knowledge.« John R. Searle, »The Logical Status of Fictional Discourse«, in: New Literary History 6, 1975, S. 319-332, hier S. 331.

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Referenzen auch eine satirische Funktion. Gerade die Erwähnung von realen Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben lässt den Roman in weiten Teilen wie eine Satire des französischen Politik- und Medienbetriebs erscheinen.311 Für die Entfaltung der erzählten Geschichte spielen die referentiellen Bezüge zwar keine wesentliche Rolle, wie Ulrike Schneider anmerkt, doch umgekehrt wirkt der Roman »erst in der Dekodierung eben dieser Bezüge, die freilich eine genaue Kenntnis der politischen Konstellation der jüngeren Vergangenheit voraussetzt, satirisch.«312 Laut Schneider erklärt dies im Übrigen auch, weshalb Houellebecqs Bücher im Ausland oftmals weniger provokant wahrgenommen werden als in Frankreich. Bei den nicht-fiktionalen Elementen, die einen Bezug zur zeitgenössischen Realität herstellen, handelt es sich jedoch streng genommen nicht um Realitätseffekte (im Sinne Barthes), sondern um Fragmente einer medialisierten ›Hyperrealität‹ (im Sinne Baudrillards). Für den Ich-Erzähler sind die Fernsehbilder wirklicher als die Realität selbst. Während der Debatte der beiden Präsidentschaftskandidaten kommentiert er die Kommentare der Fernsehmoderatoren. Aus dem Fernsehen erfährt er, dass Marine Le Pen ihre Anhänger nach dem ersten Wahlgang zu einer Großkundgebung in Paris aufruft. Den Ausbruch der Gewalt erlebt er live vor dem Fernseher. In Martel verfolgt er eine Sendung des BBC und erfährt auf diese Weise, dass mehrere Wahllokale in ganz Frankreich überfallen wurden. Die Reportage zeigt Bilder von den Orten, an denen es zu Überfällen kam, liefert aber keine nützlichen Informationen über die Hintergründe. Für die Zuschauer hat das Ereignis nur auf dem Fernsehbildschirm stattgefunden. Sie sehen die Bilder der zerstörten Wahllokale, doch das Ereignis selbst verschwindet hinter seiner medialen Inszenierung. Allerdings kehrt das ›Reale‹ schließlich mit Gewalt zurück. Auf dem Weg nach Martel gelangt der Erzähler an eine Tankstelle. Der Ort ist vollkommen verlassen, die Scheiben sind zerborsten und auf dem Boden hinter der Kasse findet der Ich-Erzähler eine Leiche (SM, 129). Die Konfrontation mit dem Tod zeigt, dass Gewalt immer real ist, dass sie stattfindet und Spuren hinterlässt.313 Das ›Reale‹ lässt sich nicht dauerhaft verdrängen, es kehrt zurück in Gestalt des verletzten, leblosen Körpers, in der unhintergehbaren Erfahrung von Tod und Schmerz, während die ›Realität‹ der Ereignisse hinter der ›Hyperrealität‹ der Zeichen und Bilder zu verschwinden droht. In der ›Hyperrealität‹ wird Baudrillard zufolge die Grenze zwischen Fakt und Fiktion, zwischen dem Realen und dem Imaginären in der Kategorie der Simulation aufgehoben, so dass unterschiedliche Hypothesen gleichzeitig wahr und falsch sein können.314 In einer solchen ›hyperrealen‹ Wirklichkeit bewegt sich auch der Ich-Erzähler. 311

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Dass der Roman zugleich auch eine Satire des Universitätsbetriebs darstellt, darauf deutet bereits der Umstand hin, dass nach der Machtübernahme des neuen muslimischen Präsidenten der Halbmond über der Sorbonne prangt. Es entbehrt nicht der Ironie, wenn die Pariser Traditionsuniversität im Roman von saudischen Petro-Dollars finanziert wird, hat die Sorbonne doch erst unlängst eine Zweigstelle in Abu-Dhabi, der Hauptstadt der Vereinigten Arabischen Emirate, eröffnet. Ulrike Schneider, »›Il n’y a pas de liberté sans une dose de provocation possible.‹ Michel Houellebecqs Soumission oder: Die Widerständigkeit der Fiktion«, in: Romanistisches Jahrbuch 67, 2016, S. 148-178, hier S. 161. Vgl. hierzu Hal Foster, The Return of the Real, a.a.O., insb. S. 127ff. Vgl. Jean Baudrillard, L’échange symbolique et la mort, a.a.O., S. 110ff.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

Ob im Fernsehen oder an der Universität, überall hört er Gerüchte, die sich nicht verifizieren lassen.315 Die Unterscheidung zwischen ›wahr‹ und ›falsch‹ löst sich auf. An die Stelle einer unumstößlichen Wahrheit treten Interpretationen oder Hypothesen, die durch die jeweiligen Sprecher perspektiviert sind. So trifft der Erzähler im Laufe des Romans eine Reihe von Personen, die ihn mit einer Deutung der politischen Ereignisse konfrontieren. Alain Tanneur, ein ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter, informiert ihn über die Ambitionen des muslimischen Präsidenten und den Stand der Verhandlungen zwischen den politischen Parteien. Seine Ehefrau Marie-Françoise, eine Balzac-Spezialistin, berichtet ihm von den Machtkämpfen innerhalb der Universität. Lempereur, ein jüngerer Kollege von der Universität, klärt ihn über die Ziele der Identitären Bewegung auf. Rediger, der neue Rektor der Sorbonne und spiritus rector des islamischen Regimes, erläutert ihm die Vorzüge einer Konversion. Jede der Romanfiguren repräsentiert eine bestimmte Sichtweise auf die Wirklichkeit, nicht aber die Wirklichkeit selbst. Das »Material«, aus dem sich die Wirklichkeit von Houellebecqs Romanen zusammensetzt, ist darum nicht das Reale selbst, sondern das, was über die Realität ausgesagt und geschrieben wird.316 Sein ›Realismus‹ betrifft nicht die Mimesis der Natur, sondern diejenige von Diskursen oder vielmehr von Diskursfragmenten. Denn häufig bestehen diese Diskurse selbst bloß aus einer Vielzahl von unzusammenhängenden Elementen. Auf diese Weise entsteht ein regelrechter Synkretismus von diskursiven Äußerungen, die nicht mehr überprüft werden können und sich häufig sogar widersprechen.317 Eine wichtige Funktion erfüllt in diesem Zusammenhang auch der Kursivdruck. Mit Hilfe des italique werden Begriffe hervorgehoben, die vor dem Hintergrund der im Roman präsentierten Zeitdiagnose als überholt oder antiquiert erscheinen: rendezvous (SM, 19), maîtresse (SM, 192), amis (SM, 192), ménages (SM, 206), draguer (SM, 294) etc. Häufig wird dabei eine implizite Wertung vorgenommen, insofern als der Verlust

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»Je ne sais pas à quoi je m’attendais au juste, il y avait eu des rumeurs d’agressions d’enseignants à Mulhouse, à Strasbourg, à Aix-Marseille et à Saint-Denis, mais je n’avais jamais rencontré de collègue agressé et au fond je n’y croyais pas vraiment, d’après Steve un accord avait d’ailleurs été conclu entre les mouvements de jeunes salafistes et les autorités universitaires, il en voyait pour preuve que les voyous et les dealers avaient complètement disparu, depuis deux ans déjà, des abords de la fac. L’accord comportait-il une clause interdisant l’accès de la fac aux organisations juives ? Là encore ce n’était qu’un bruit, difficilement vérifiable, mais le fait est que l’Union des étudiants juifs de France n’était plus représentée, depuis la dernière rentrée, sur aucun campus de la région parisienne […]« (SM, 33-34). Vgl. hierzu die Aussage des Autors: »Donc en fait, mon matériau, ce n’est pas vraiment le monde. On ne peut en parler. Le monde, c’est aussi l’ensemble de ce qui a été écrit sur le monde.« Zit. nach: Martin de Haan, »Entretien avec Michel Houellebecq«, a.a.O., S. 10. Ein eindrückliches Beispiel für den Synkretismus diskursiver Elemente liefert das kleine Büchlein Dix questions sur l’Islam, das Rediger dem Ich-Erzähler nach dessen Besuch überreicht. Das Buch enthält »eine krude Mischung von reaktionär-modischen Ingredienzen«, wie Karlheinz Ruhstorfer in seiner Analyse des Romans erklärt, denn es »verbindet Nietzsches Liebe zur Erde mit einem neuen Humanismus, einen Hedonismus mit Biologismus, islamische Speisevorschriften mit zeitgemäßer Ökologie, Aristokratismus mit einer Ökonomie des dritten Wegs, die dem Distributionismus des Katholiken Chesterton entspricht.« Karlheinz Ruhstorfer, Freiheit – Würde – Glauben. Christliche Religion und westliche Kultur, Paderborn: Schöningh, 2015, S. 70.

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dieser Phänomene aus der Sicht des Textes beklagenswert erscheint. Durch den Kursivdruck werden aber auch Redewendungen markiert, die durch ihren Zitatcharakter als Floskeln des politischen Diskurses ausgewiesen werden: l’homme de gauche (SM, 30), intellectuel de droit (SM, 60), rapport de force (SM, 37), barre symbolique (SM, 37), alternance démocratique (SM, 50). Den Kursivdruck als »Verfahren markierter Bezugnahme auf (vermeintlich) vorformulierte Diskurse«318 verwendeten schon die Autoren des ›realistischen‹ Romans im 19. Jahrhundert zur Demaskierung von Gemeinplätzen und stereotypen Redewendungen. Dadurch markiert der Text seine Bezugnahme auf außertextuelle Diskurse und grenzt sich gleichzeitig von ihnen ab. Ein weiteres Mittel der ironischen Sprachentlehnung, durch das der Text seine Verankerung in der Realität markiert, ist das Zitat. Mitunter werden einzelne Diskurse sogar wörtlich übernommen, etwa wenn sich der Erzähler die Sprache der Ökonomie oder der Meinungsforschung zu eigen macht.319 Der Roman entlehnt den Sprachgebrauch von Politik und Medien, macht die Entlehnung durch die typografische Hervorhebung jedoch zugleich als solche sichtbar. Ein anderes Verfahren, auf das bereits Balzac zurückgreift, ist dasjenige der Typisierung. Unter dem Typischen versteht Balzac eine Art Querschnitt aus dem Individuellen und dem Allgemeinen.320 Auf diese Weise versucht Balzac die Vielfalt der sozialen »Natur« in ein klassifikatorisches Tableau zu zwängen. Bei Houellebecq hat sich die Form dieser Klassifikation gewandelt und mit ihr auch die Funktion des Typischen. Die unterschiedlichen sozialen Typen entspringen nicht mehr der Natur selbst, sondern sie sind das Produkt künstlicher Stereotype: Marie-Françoise repräsentiert den Typus einer klatschsüchtigen Kollegin, ihr Ehemann Alain Tanneur verkörpert das Bild eines weltmännisch auftretenden Geheimdienstmitarbeiters. Steve, ein Kollege des IchErzählers, wird als prototypischer Vertreter des linken Wissenschaftsmilieus dargestellt. Mit seinem »look vaguement californien« erinnert er den Erzähler an den Schauspieler Thierry Lhermitte aus Les Bronzés, einem Film, der die Mode des Club-Urlaubs parodiert. Er ist also gewissermaßen eine Parodie der Parodie. Ihm gegenüber steht ein anderer Kollege namens Godefroy Lempereur, der als Vertreter der Neuen Rechten in Erscheinung tritt. Chantal Delouze, die frühere Rektorin der Sorbonne, ist »une lesbienne 100 % brut de béton« (SM, 29). Alice, eine befreundete Nerval-Expertin, ist »Frühromantik à l’extrême« (SM, 60). Bastien Lacoue, der Verlagsleiter von Gallimard, gibt sich als selbstzufriedener Pseudo-Intellektueller zu erkennen. Und Loiseleur, ein

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Ulrike Schneider, »Il n’y a pas de liberté sans une dose de provocation possible.‹«, a.a.O., S. 163. »Il est vrai que, dans ma jeunesse, les élections étaient aussi peu intéressants que possible ; la médiocrité de l‘ ›offre politique‹ avait même de quoi surprendre« (SM, 50) – »Contrairement à mon collègue Steve […], je ne me précipitais pas avec avidité, dès le premier jour de la rentrée, pour observer les ›nouveaux arrivages‹ des étudiantes de première année […]« (SM, 24) – »Je souffrais de la pauvreté, et si j’avais dû répondre à l’un de ces sondages qui tentent régulièrement de ›prendre le pouls de la jeunesse‹, j’aurais sans doute défini mes conditions de vie comme ›plutôt difficiles‹« (SM, 14). 320 Im Vorwort für die erste Auflage von Une ténébreuse affaire (1841) definiert Balzac den Typus wie folgt: »Un type, dans le sens qu’on doit attacher à ce mot, est un personnage qui résume en luimême les traits caractéristiques de tous ceux qui lui ressemblent plus ou moins, il est le modèle du genre.« Zit. nach: Honoré de Balzac, La comédie humaine, hg. von Marcel Bouteron, Bd. 8, Paris: Gallimard (Bibl. de la Pléiade), 1977, S. 492-493.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

Spezialist für die Lyrik des Parnasse-Dichters Leconte de Lisle, ist eine lebende Karikatur des »savant Cosinus« (SM, 286). All diese Stereotype werden durch die hyperbolische Zurschaustellung jedoch geradewegs ins Lächerliche gezogen.321 Bei der Gestaltung der Romanfiguren verzichtet Houellebecq auf jede Form von psychologischen ›Realismus‹. Die Figuren verfügen über keine wiedererkennbare Individualität, geschweige denn eine eigene Biografie, sondern werden zu Stellvertretern von Diskursen. Damit verschwindet zugleich auch die Vorstellung einer einheitlichen Realität hinter den Dingen. Die Realität zerfällt in unterschiedliche diskursive Wirklichkeiten, von denen jede für sich genommen zwar mehr oder weniger kohärent sein mag, alle zusammengenommen deshalb aber noch lange kein erschöpfendes Bild der Wirklichkeit ergeben. Letzten Endes erhebt der Roman auch gar nicht den Anspruch, die reale Welt als solche abzubilden, sondern lediglich deren diskursive Beschaffenheit. Entsprechend findet man bei Houellebecq kaum ausführliche Beschreibungen. Dies liegt zum einen daran, dass die Unterschiede zwischen den Menschen (ebenso wie den Orten) in der globalisierten Welt verschwimmen. Zum anderen lässt das Fehlen von deskriptiven Passagen darauf schließen, dass der ›Realismus‹ von Houellebecqs Romanen nicht im Detail steckt, sondern in der Abstraktion. Es geht ihm nicht um eine möglichst objektive (›naturalistische‹) Beschreibung von sozialen Gruppen oder Milieus, sondern darum, die Widersprüche und Probleme der modernen (westeuropäischen) Gesellschaft aufzuzeigen. In Soumission geht Houellebecq sogar noch einen Schritt weiter, indem er nach einer Antwort auf die Frage sucht, wie es mit der abendländischen Kultur in Zukunft weitergehen könnte. Der Roman ähnelt einem literarischen Gedankenexperiment, das eine mögliche, keinesfalls aber eine notwendige Entwicklung der westlichen Zivilisation beschreibt.

4.5.2

Das Unbehagen an der westlichen Zivilisation

Das verbindende Thema von Houellebecqs Romanen ist dasjenige einer umfassenden Krise der westlichen Zivilisation. In Soumission wird dieser sozialgeschichtliche Befund mit der Geschichte der französischen Literatur verknüpft. Protagonist des Romans ist der Ich-Erzähler François, ein 44-jähriger Literaturprofessor, der als Spezialist für Joris-Karl Huysmans an der Sorbonne lehrt. Der Schriftsteller Huysmans, der mehr als dreißig Jahre als mittlerer Angestellter im französischen Innenministerium

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Myriam, die Freundin des Ich-Erzählers, versucht diesen einem Typus zuzuordnen und beschreibt ihn als »un personnage de macho grounge« mit einer »sensibilité féminine« (SM, 41). Sie räumt jedoch ein, dass es nicht leicht sei, seine »personnalité paradoxale« einer eindeutigen Kategorie zuzuordnen. Der Erzähler kommentiert dies mit der Bemerkung, er passe ganz einfach nicht in die klassische Typologie von Konsumentengruppen: »Il n’y a aucun paradoxe là-dedans, c’est juste que tu emploies la psychologie des magazines féminins, qui n’est qu’une typologie de consommateurs : le bobo éco-responsable, la bourgeoise show-off, la clubbeuse gay-friendly, le satanic geek, la techno-zen, enfin ils en inventent de nouveaux chaque semaine. Je ne corresponds pas immédiatement à un profil de consommateur répertorié, c’est tout« (SM, 42).

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Wirklichkeit im Wandel

arbeitete322 , gehört zu den führenden Vertretern des Ästhetizismus im Frankreich der Jahrhundertwende. Sein Roman À Rebours (1884), der als »Brevier der dekadenten Literatur«323 schlechthin gilt, spiegelt die geistige Stimmungslage des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Held des Romans ist der neurotische Jean des Esseintes, ein extravaganter Dandy und hochsensibler Ästhet, der sich aus Abscheu vor der banalen Wirklichkeit in die künstliche Welt des Ästhetizismus zurückzieht. Der lebensphilosophische Ennui, der Huysmans Protagonisten zur Symbolfigur für die gesamte fin de siècle-Stimmung machte, scheint auf den Ich-Erzähler aus Houellebecqs Roman abgefärbt zu haben. Wie dieser ist auch François von einem tiefen Unbehagen an der modernen Welt befallen. Dieses Unbehagen kommt schon im einleitenden Huysmans-Zitat aus dem Roman En Route (1895) zum Ausdruck.324 Gegenstand dieses Romans ist die Schilderung einer religiösen Bekehrung: Durtal, der Protagonist von En Route, trägt einen inneren Kampf mit sich selbst aus, weil er beschlossen hat, sein bisheriges Leben aufzugeben, um Gott zu suchen. Der Roman schildert die wechselnden Krisen und die Zerrissenheit des Protagonisten. Seinen inneren Frieden findet Durtal erst durch den Aufenthalt in einem Trappistenkloster, wo er, beseelt vom Klang der gregorianischen Mönchsgesänge, zum Glauben seiner Jugend zurückfindet.325 Eine ähnliche Konversion wie seine Romanfigur durchlief auch der Schriftsteller Huysmans. Er begann seine Karriere im Umfeld der naturalistischen Bewegung um Émile Zola, wandte sich aber später vom Naturalismus ab und suchte Zuflucht im Ästhetizismus, ehe er schließlich zum Katholizismus übertrat.326 Im Roman wird die religiöse Bekehrung des Dekadenz-Schriftstellers Huysmans mit einer Konversionsgeschichte des Ich-Erzählers parallelisiert.327 Wie sein literarisches Vorbild steht auch 322 Der Schriftsteller Huysmans erscheint wie der Prototyp eines Protagonisten aus Houellebecqs Romanen. Diese arbeiten ja ebenfalls sehr häufig als leitende Angestellte oder mittlere Führungskräfte (cadre moyen) in Unternehmen, Ministerien und anderen öffentlichen Institutionen. 323 Elke Lindhorst, Die Dialektik von Geistesgeschichte und Theologie in der modernen Literatur Frankreichs. Dichtung in der Tradition des ›Renouveau Catholique‹ von 1890-1990, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1995, S. 18. 324 »Je suis bien dégôuté de ma vie, bien las de moi, mais de là à mener une autre existence il y a loin !« (SM, 9) 325 Vgl. Joris-Karl Huysmans, En Route, Paris: Plon, 1955, S. 313ff. 326 In der Huysmans-Forschung werden für gewöhnlich drei Phasen seines Werkes unterschieden: Huysmans frühe Texte, etwa der naturalistisch gefärbte Roman Croquis Parisiens (1880), stehen noch ganz unter dem Einfluss Zolas. Mitte der 1880er Jahre kommt es jedoch zur Entfremdung mit Zola und der naturalistischen Schule. À Rebours (1884) leitet den Übergang zum Ästhetizismus ein und spätestens mit Là-Bas (1891) verabschiedet sich Huysmans endgültig vom Naturalismus. Auf die Phase der beiden Dekadenz-Romane folgt eine Trilogie christlicher Romane bestehend aus En Route (1895), La Cathédrale (1898) und L’Oblat (1903). Mit Les foules de Lourdes (1906), Huysmans letztem Roman, ist seine Wandlung zum Katholiken abgeschlossen. Für eine kritische Diskussion dieser Einteilung des Romanwerkes in drei Phasen siehe Ruth B. Antosh, Reality and Illusion in the Novels of J.-K. Huysmans, Amsterdam: Rodopi, 1986, S. 7ff. 327 Wie Houellebecq in einem Interview erklärt, sollte der Roman ursprünglich sogar den Titel Conversion tragen: »In meinem ersten Entwurf bekehrte sich der Erzähler auch zum Katholizismus. Er folgte also dem gleichen Weg wie Huysmans, nur mit einem Jahrhundert Abstand: vom Naturalismus ausgehen, um Katholik zu werden. Aber das ist mir nicht gelungen.« Michel Houellebecq, »Eine islamische Partei ist eigentlich zwingend«, in: Die Welt, 3.1.2015, https://www.welt.de/kultur/

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

François am Ende vor der Frage, ob er imstande wäre, den Weg des Glaubens einzuschlagen. Allerdings ist es in seinem Fall nicht mehr das Christentum, das einen Ausweg aus der persönlichen Sinnkrise verspricht, sondern der Islam. Das Unbehagen an der westlichen Zivilisation, das sich wie ein roter Faden durch alle Romane Houellebecqs zieht, wird in Soumission somit durch den Blick auf den Islam als dem spezifisch Anderen der christlich-abendländischen Kultur thematisiert. Liest man den Roman von seinem Schluss her, so stellt sich unweigerlich die Frage, ob François den Weg der bedingungslosen Unterwerfung am Ende einschlagen wird oder nicht.328 Der Roman selbst lässt diese Frage offen, da das entsprechende Schlusskapitel im Conditionnel gehalten ist. Aus dem offenen Romanschluss ergeben sich verschiedene Interpretationen und vermutlich ist es dieser Ambiguität geschuldet, dass der Roman nach seiner Veröffentlichung ganz unterschiedliche Reaktionen provoziert hat.329 Um zu verstehen, welches Problem in Soumission verhandelt wird, erscheint es sinnvoll, das bereits früher angesprochene Verhältnis von Religion und Gesellschaft noch einmal aufzugreifen. Den für die vorliegende Interpretation zentralen Gedanken formuliert der Naturwissenschaftler Michel in Les particules élémentaires, wenn er erklärt, dass eine Gesellschaft ohne Religion nicht überlebensfähig sei (PE, 161). Für Michel ist die Religion keine Frage des persönlichen Glaubens, die jeder Einzelne für sich entscheiden muss, sondern eine »activité purement sociale« (PE, 257). Sein Halbbruder Bruno hält es jedoch für ausgeschlossen, dass Religionen heute noch eine Rolle spielen könnten, weil mit dem Siegeszug des Rationalismus die Vorstellung von einem Leben nach dem Tod verschwunden sei. Michels Vorgesetzter am nationalen Forschungsinstitut geht sogar noch weiter. Er hält diesen Prozess für eine spezifische Kulturleistung der abendländisch-europäischen Kultur: »On peut dire que l’Occident s’est intéressé au-delà de toute mesure à la philosophie et à la politique, qu’il s’est battu de manière parfaitement déraisonnable autour des questions philosophiques ou politiques ; on peut dire aussi que l’Occident a passionnément aimé la littérature et les arts ; mais rien en réalité n’aura eu autant de poids dans son

literarischewelt/article135972657/Eine-islamische-Partei-ist-eigentlich-zwingend.html (zuletzt eingesehen am 6.4.2019.) 328 Der Romantitel kann unterschiedlich interpretiert werden. Zunächst ist Soumission die französische Entsprechung für das arabische Wort »Islam«, was sich in etwa mit »Hingabe«, »Ergebung« oder »Unterwerfung« unter den Willen Allahs übersetzten lässt. Submission lautet aber auch der Titel eines Kurzfilms von Theo van Gogh und Ayaan Hirsi Ali aus dem Jahr 2004, der die Situation der Frauen in der islamischen Welt thematisiert. Der niederländische Regisseur Theo van Gogh wurde am 2. November 2004, wenige Monate nach der Veröffentlichung des Films, von einem radikalen Islamisten in Amsterdam ermordet. Im Roman selbst fällt das Titelwort im Zusammenhang mit der Histoire d’O (1954), einem Skandalroman von Dominique Aury (alias Pauline Réage), der lange Zeit auf dem Index jugendgefährdender Bücher stand, da er die Geschichte einer jungen Frau erzählt, die sich ihrem männlichen Geliebten aus freien Stücken unterwirft und alle seine sexuellen Fantasien bedingungslos erfüllt. Vgl. Pauline Réage, Histoire d’O, avec une préface de Jean Paulhan, Paris: Pauvert, 1954. 329 Eine Übersicht zu den Reaktionen auf die Veröffentlichung von Soumission liefert der Beitrag von Agnieszka Komorowska, »›Mais c’est d’une ambiguïté étrange‹: Die Rezeption von Michel Houellebecqs Roman Soumission in Frankreich und Deutschland«, in: Romanische Studien 3, 2016, S. 137-169.

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histoire que le besoin de certitude rationnelle. À ce besoin de certitude rationnelle, l’Occident aura finalement tout sacrifié : sa religion, son bonheur, ses espoirs, et en définitive sa vie. C’est une chose dont il faudra se souvenir, lorsqu’on voudra porter un jugement d’ensemble sur la civilisation occidentale« (PE, 270). Entscheidend ist, dass dieser Prozess bei Houellebecq als eine schmerzhafte Verlusterfahrung wahrgenommen wird.330 Die Moderne erscheint bei ihm als Zeitalter eines geistigen Vakuums »où les êtres se croisent dans un vide sidéral« (PE, 61). Wissenschaft und Rationalismus haben die Welt zwar vorhersehbar gemacht, doch sie haben auch ein gewaltiges Nichts hinterlassen, eine transzendentale Leere, die durch nichts mehr gefüllt werden kann. Für die Romanfiguren gibt es keinen Grund mehr, an etwas Größeres als sie selbst zu glauben.331 Sie suchen nach etwas, das ihrer eigenen Existenz einen »Sinn« gibt, doch sie mühen sich in der Regel vergeblich ab.332 Nach dem Vorbild von August Comte skizziert Michel später »les bases d’une religion compatible avec l’état de la science« (PE, 161), weil er zu der Einsicht gelangt ist, dass nur ein neues religiöses Zeitalter den Individualismus überwinden könne.333 330 Schon Max Weber hat die »Entzauberung der Welt« auf den Prozess der Rationalisierung und Intellektualisierung zurückgeführt. Rationalisierung meint ihm zufolge die Vorstellung, dass man die Welt durch Wissenschaft und Technik beherrschen könne: »Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, daß gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der einzelnen zueinander.« Max Weber, Wissenschaft als Beruf (1917/1919), hg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod, Tübingen: Mohr, 1994, S. 22. 331 Bruno berichtet in Les particules élémentaires, wie er versucht hat, sich dem christlichen Glauben anzunähern. Den Anlass dazu geben die Worte eines katholischen Priesters anlässlich der Taufe seines Sohnes. Durch die Taufe, so erfährt Bruno dabei, sind die Christen miteinander verbunden; die Taufe inkorporiert die Menschen unter dem Dach der Kirche und macht aus ihnen »des pierres vivantes pour l’édification d’un édifice spirituel« (PE, 175). Obwohl Bruno den Worten des Priesters durchaus einen tieferen Sinn abgewinnen kann, scheitern seine Versuche, zum Katholizismus überzutreten, weil sich der »Zweifel« (PE, 175) wie eine unüberwindbare Hürde zwischen ihn und den Wunsch stellt, Teil von etwas Größerem zu sein. 332 In der Beziehung mit Christiane meint Bruno kurzfristig einen solchen Sinn und Lebenszweck gefunden zu haben: »Sa vie avait maintenant un sens« (PE, 241). Genau wie der Glaube kann die Liebe der menschlichen Existenz einen Sinn verleihen, denn sie verbindet zwei Wesen miteinander und transzendiert damit ihre individuelle Existenz: »L’amour lie, et il lie à jamais. La pratique du bien est une liaison, la pratique du mal une déliaison« (PE, 302). Die Religion kann ebenfalls eine Verbindung (»liaison«) zwischen den Menschen herstellen, indem sie die Gläubigen unter dem Dach einer gemeinsamen Kirche verbindet. 333 In seinem vierbändigen Werk Système de politique positive (1851-1854) entwickelt Comte die Grundlagen einer universalistischen Menschheitsreligion, die im Einklang mit den Errungenschaften des positivistischen Zeitalters stehen soll. Entsprechend trägt seine Abhandlung den Untertitel Traité de sociologie instituant la religion de l’humanité. Die neue Menschheitsreligion, die Comte zufolge eines Tages das Christentum beerben würde, soll die Liebe zur Menschheit an die Stelle der Liebe zu Gott setzen. Comte spricht von der zukünftigen Menschheitsgesellschaft darum auch als dem »Grand Être«. Der Mensch des positiven Zeitalters benötigt ihm zufolge eine Religion, weil er etwas lieben muss, das größer ist als er selbst: »la religion sera toujours caractérisée par l’état de pleine harmonie propre à l’existence humaine, tant collective qu’individuelle, quand toutes ses parties

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

In Soumission ist das skizzierte Problem nach wie vor dasselbe, nur der Lösungsansatz hat sich verschoben. Nicht die Begründung einer wissenschaftlichen Menschheitsreligion soll die modernen Gesellschaften vor den Folgen des Liberalismus retten, sondern die Rückkehr zu einer monotheistischen Religion. Damit wirft Houellebecq die Frage auf, ob die erschöpfte westliche Zivilisation mit Hilfe einer Religion noch einmal wiederbelebt werden kann. Denn die säkularisierten Gesellschaften Westeuropas – so sein Befund – stecken in einem Dilemma und die Frage wird sein, ob eine Rückkehr zum Glauben für sie (genau wie für den Schriftsteller Huysmans) einen Ausweg aus dem »Tunnel« der Moderne bereithält. Nicht zufällig trägt die Dissertation des Ich-Erzählers den Titel »Joris-Karl Huysmans, ou la sortie du tunnel« (SM, 11). Will man den Aussagen des Autors Glauben schenken, so befördert das geistige Vakuum der Moderne ein neues Bedürfnis nach Religiosität.334 Das Christentum vermag dieses Bedürfnis jedoch nicht mehr zu stillen, weshalb im Roman nun eine andere Religion an seine Stelle treten muss. Dass die kulturelle Erneuerung Europas in Soumission nun ausgerechnet vom Islam ausgeht, ist sicherlich auch als bewusste Provokation zu verstehen. Nichtsdestotrotz ist der Islam nur ein Vorwand. Denn das eigentliche Skandalon des Romans liegt darin, dass Frankreich (Europa, der Westen) nicht an irgendwelchen äußeren Feinden zugrunde geht, sondern an innerer Auszehrung, an der Aushöhlung seiner eigenen Werte und Traditionen.

4.5.3

Der Ich-Erzähler als Personifikation des Niedergangs der westlichen Kultur

Eine Erklärung für den Niedergang der europäischen Kultur liefert im Roman kein Geringerer als der neue Rektor der – inzwischen von Saudi-Arabien finanzierten – Universität Sorbonne. Für Rediger, der als junger Mann mit den Zielen der Identitären Bewegung sympathisierte, ehe er zum Islam konvertierte, sind die modernen säkularisierten Gesellschaften Europas nur noch ein (»seelenloses«) technisches Gebäude ohne lebendige Kultur. Rediger hält die Krise der westlichen Zivilisation für hausgemacht und folgt in diesem Punkt der These Arnold J. Toynbees, wonach Kulturen nicht von alleine sterben, sondern »Suizid« begehen: »[…] sans la chrétienté, les nations européennes n’étaient plus que des corps sans âme – des zombies. Seulement, voilà : la chrétienté pouvait-elle revivre ? Je l’ai cru, je l’ai cru quelques années – avec des doutes croissants, j’étais de plus en plus marqué par la pensée de Toynbee, par son idée que les civilisations ne meurent pas assassinées, mais qu’elles se suicident« (SM, 255).

quelconques sont dignement coordonnées. Cette définition […] concerne également le cœur et l’esprit, dont le concours est indispensable à une telle unité.« Auguste Comte, Système de politique positive, Bd. 2, Paris, 1852, S. 8. 334 »Ich glaube, es gibt ein echtes Bedürfnis nach Gott, und dass die Rückkehr des Religiösen kein Slogan ist, sondern eine Realität, die uns nun gerade mit erhöhter Geschwindigkeit einholt.« Michel Houellebecq, »Eine islamische Partei ist eigentlich zwingend«, a.a.O.

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Die Erwähnung des britischen Geschichtsphilosophen und Kulturtheoretikers in einem Buch, das sich mit der Erneuerung der abendländisch-europäischen Kultur befasst, ist keineswegs unbedeutend. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass Houellebecq wesentliche Elemente von Toynbees Geschichtslehre übernommen hat. In A Study of History befasst sich Toynbee mit der Frage, wie Kulturen entstehen und warum sie untergehen.335 Am Anfang einer jeden Kultur steht ihm zufolge eine Herausforderung (challenge), auf die es eine Antwort (response) zu finden gilt. Entscheidend ist dabei, dass diese Antwort in keiner Weise vorherbestimmt ist. Es handelt sich immer um schöpferische Leistungen, um einen Ausdruck menschlicher Freiheit und Gestaltungskraft. Kulturen sind frei, auf die Herausforderungen ihrer Umwelt zu antworten oder nicht. Wo es gelingt, Lösungen für bestehende Probleme zu entwickeln, da wächst eine Kultur; wo eine Antwort ausbleibt, etwa weil die Herausforderung zu groß ist, tritt Stillstand ein. Je weiter sich eine Kultur entwickelt, desto mehr muss sie die Herausforderungen, die zu ihrem Wachstum erforderlich sind, aus sich selbst heraus hervorbringen. Echtes Wachstum zeigt sich laut Toynbee darum in einer stetigen Tendenz zur Verinnerlichung (internalisation) und Selbstbestimmung (self-determination) der Probleme.336 Zunächst ist es nur eine kleine Gruppe von »Pionieren«, die diesen Weg einschlägt und die übrigen Gesellschaftsmitglieder damit zur Nachahmung (mimesis) anregt.337 Die ersten drei Bände von A Study of History erschienen 1933, drei weitere folgten 1939. Zusammen bilden sie den ersten Teil von Toynbees Gesamtwerk. 1954 erschienen vier weitere Bände, die den zweiten Teil von A Study of History ausmachen. Sie enthalten wesentliche Ergänzungen seiner Geschichtslehre und enden mit einem Ausblick auf die Zukunft der abendländischen Kultur. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf ein einbändiges Kompendium der ersten sechs Bände von Toynbees Gesamtwerk, das D. C. Somervell 1946 im Einvernehmen mit dem Autor erstellt hat. Vgl. Arnold J. Toynbee, A Study of History. Abridgement of volumes I-VI by D. C. Somervell, London/New York/Toronto: Oxford University Press, 1946. 336 Toynbee illustriert dies an einem einfachen Beispiel. So ist das Problem des modernen Straßenverkehrs zunächst rein physischer Natur. Mit Hilfe des Autos lassen sich Lasten und Personen transportieren. Die technischen Verkehrsmittel ermöglichen es, große Distanzen in kürzerer Zeit zu überwinden. Doch mit jedem weiteren Auto auf der Straße wächst die Gefahr einer Kollision. Daher müssen Regeln für den Straßenverkehr eingeführt werden, um Unfälle zu vermeiden. Aus der technischen Lösung entsteht eine zweite ›geistige‹ Herausforderung, denn die Menschen müssen nunmehr auch zur Einhaltung der Verkehrsordnung erzogen werden (vgl. ebd., S. 205ff.). Den Fall einer gescheiterten Kultur, der es nicht gelungen ist, Antworten auf die an sie gestellten Herausforderungen zu finden, liefert das Beispiel der alten Ägypter. Nachdem die Ägypter den Flusslauf des Nils kultiviert hatten, entstand die Frage »how the lord and master of Egypt and the Egyptians would use the marvellous human organization ready to his hand and responsive to his will. It was a moral challenge. Would he employ the material power and the man-power at his command to improve the lot of his subjects? Would he lead them upward and onward to the level of well-being that had been attained already by the king himself and a handful of his peers? Would he play the generous part of Prometheus in Aeschylus’s drama or the tyrannous part of Zeus? We know the answer. He built the Pyramids; and the Pyramids have immortalized these autocrats, not as everliving gods but as grinders of the faces of the poor« (ebd., S. 207). 337 »Mimesis is a generic feature of all social life. Its operation can be observed both in primitive societies and in civilizations […]. In primitive societies, as we know them, mimesis is directed towards the older generation and towards dead ancestors who stand, unseen but not unfelt, at the back of the living elders, reinforcing their prestige. In a society where mimesis is thus directed backward towards the past, custom rules and society remain static. On the other hand, in societies in pro335

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Solange ein Großteil der Bevölkerung bereit ist, dieser kreativen Minderheit (creative minority) zu folgen, kann eine Kultur wachsen. Es gibt jedoch auch den Fall, wo sich Kulturen als Reaktion auf eine äußere Bedrohung zunächst übermäßig spezialisieren, anschließend aber nichts Neues mehr hervorbringen, sei es, weil sie sich auf den erreichten Leistungen ausruhen, sei es, weil sie ihre eigene Kultur zum Götzen erheben und dem Siegesrausch verfallen. Die verbreitetste Form dieser Selbstüberschätzung ist der Militarismus.338 Kulturen, die sich nicht fortentwickeln, müssen also nicht notwendigerweise untergehen. Sie können auch auf einer bestimmten Entwicklungsstufe ihres Wachstums stehenbleiben. Erst wenn es einer Kultur nicht mehr gelingt, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, droht ihr der endgültige Zerfall.339 Dazu kommt es, wenn sich die kreative Minderheit und die breite (unkreative) Masse entfremden und sich ein »inneres Proletariat« von Menschen bildet, die ihren Glauben an die Institutionen verloren haben, denen die kulturellen Leistungen der Vergangenheit suspekt geworden sind und nun nach etwas Neuem Ausschau halten.340 Um das Auseinanderbrechen der Gesellschaft zu verhindern, muss die kulturelle Elite verstärkt auf das Mittel des Zwangs zurückgreifen. Aus der kreativen Minderheit wird eine »herrschende Minderheit«, die durch eine »moralische Kluft« vom Rest der Bevölkerung getrennt ist. Neben das »innere Proletariat« tritt häufig noch ein »äußeres Proletariat«, bestehend aus den primitiven »Barbarenvölkern«, die bislang unter dem Einfluss der Hochkultur gestanden hatten.341 Toynbee zufolge gibt es zwei Möglichkeiten, wie eine zerfallende Kultur auf die Bedrohung von außen reagieren kann: Die erste Möglichkeit besteht im gewaltsamen Verteidigungskampf, die zweite in der Anpassung und der Übernahme des fremden Ideentums. Für gewöhnlich treten in einem solchen Augenblick neue Persönlichkeiten cess of civilization, mimesis is directed towards creative personalities who command a following because they are pioneers« (ebd., S. 49). 338 »Militarism […] has been by far the commonest cause of the breakdowns of civilizations during the last four of five millennia which have witnessed the score or so of breakdowns that are on record up the present date. Militarism breaks a civilization down by causing the local states into which the society is articulated to collide with one another in destructive fratricidal conflicts« (ebd., S. 190). 339 In der Regel besteht die Herausforderung, der gegenüber Kulturen scheitern, in der Integration der einzelnen Teilstaaten unter eine gemeinsame soziale und politische Ordnung. Wachstum und Zerfall der Kulturen verhalten sich laut Toynbee darum genau entgegengesetzt: Während sich die Kulturen im Wachstumsprozess in steigendem Maße differenzieren, ist das qualitative Merkmal des Zerfalls dasjenige der Homogenisierung, Standardisierung und Uniformierung (vgl. ebd., S. 550ff.). 340 Der Begriff des »inneren Proletariats« bezeichnet keine soziale Lage, sondern einen Gefühlszustand: »The true hall-mark of the proletarian is neither poverty nor humble birth but a consciousness – and the resentment that this consciousness inspires – of being desinherited from his ancestral place in society« (ebd., S. 377). 341 Das Verhältnis zwischen den Barbarenvölkern und der Hochkultur verändert sich im Zusammenhang mit den Auflösungstendenzen der Hochkultur grundlegend: Hatten die kulturellen Leistungen der Hochkultur einst eine starke Faszinationskraft auf die primitiven Gesellschaften ausgeübt, so wenden sich diese nunmehr von ihr ab: »The creative minorities which have won a voluntary allegiance by the charm which their creativity exerts are replaced by a dominant minority which, lacking charm, relies on force. The surrounding primitive peoples are no longer charmed but are repelled; these humble disciples of the growing civilization then renounce their discipleship and become what we have called an external proletariat« (ebd., S. 405).

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auf den Plan, die dazu aufgerufen sind, den Zerfall der Kultur zu verhindern. Solche »Erlöser«-Figuren können sowohl von innen als auch von außen stammen. Findet sich unter der herrschenden Minderheit niemand, der die »Tugenden eines Reichsgründers« aufweist, muss ein »fremder Reichebauer« in die Bresche springen, um jene Aufgabe zu vollbringen, die eigentlich »von einheimischen Händen« geleistet werden sollte.342 Toynbee vertritt die These, dass die Erneuerung einer Kultur in den meisten Fällen über den Umweg einer neuen Religion erfolgt, nämlich dann, wenn sich das »innere Proletariat« für den sanften Weg der Anpassung entscheidet und eine »höhere Religion« (eine »Universalkirche«) hervorbringt, aus der schließlich eine neue Gesellschaft entstehen kann.343 Toynbees Erklärungsmodell für den Zerfall von Kulturen dient Houellebecq als Vorlage für sein fiktives Romanszenario. Die Übereinstimmung zeigt sich nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auch in der Romanform. Toynbee beschreibt den Aufstieg und Zerfall von Kulturen mit genuin literarischen Begriffen: Geschichte ist für ihn »ein Drama, dessen Handlung von wenigen Hauptrollen getragen wird«344 . Der Roman ähnelt in Aufbau und Komposition ebenfalls dem idealtypischen Verlauf eines (geschlossenen) Dramas mit seinen fünf Handlungselementen Exposition, Steigerung, Höhepunkt, Umkehr (bzw. Fall) und Katastrophe.345 Er besteht aus fünf Teilen, die wiederum in mehrere kürzere Abschnitte (»Szenen«) unterteilt sind. Die einzelnen Teile sind nach dem Prinzip einer klassischen Dramenpyramide angeordnet: Der erste Teil führt in das Geschehen ein und präsentiert die handelnden Akteure. Mit dem zweiten Teil setzt die politische Rahmenhandlung ein, wobei das Geschehen durch Zeitangaben und eine leitmotivisch wiederkehrende Wettermetaphorik zusätzlich dramatisiert wird. Der dritte Teil beschreibt die Flucht des Ich-Erzählers aus Paris und seine Reise nach Rocamadour. Diese Reise bildet den eigentlichen Höhepunkt des Romans. Mit der vorzeitigen Abreise aus der Abtei von Ligugé kippt das Geschehen und die Erzählung steuert unweigerlich der Katastrophe zu: Zurück in Paris erreicht François die Nachricht vom Tod der beiden Eltern; anschließend teilt Myriam ihm mit, dass sie nicht mehr nach Frankreich zurückkehren wird; und schließlich findet François in seiner Post auch noch ein Schreiben der Universität mit seiner Entlassungsurkunde. Im fünften 342 »We have, however, also noted cases in which the moral débâcle of the dominant minority has been so rapid that, by the time when the disintegrating society has been ripe for entering a universal state, there has no longer been any remnant of the dominant minority still possessed of the empire-building virtues. In such cases the task of providing a universal state is not usually allowed to remain unperformed. Some alien empire-builder steps into the breach and performs for the ailing society the task that ought to have been performed by native hands« (ebd., S. 422). 343 Diesen Weg haben zum Beispiel die Anhänger des frühen Christentums im alten Rom gewählt, als sie sich zugunsten höherer ethischer Werte gegen den Einsatz von Gewalt entschieden: »But suicidal violence was not the only response by the Hellenic internal proletariat. There was another order of response altogether which found its highest expression in the Christian religion. The gentle, or non-violent, response is as genuine an expression of the will to secede as the violent response […]« (ebd., S. 379). 344 Karl D. Erdmann, »Toynbee – eine Zwischenbilanz«, in: Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 33, 1951, S. 174-250, hier S. 210. 345 Zur Unterscheidung von »offener« und »geschlossener« Form des Dramas siehe etwa Manfred Pfister, Das Drama, 11. Aufl., München: Fink, 2001, S. 320ff.

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und letzten Teil erhält François zuletzt jedoch die Möglichkeit zu einem neuen Leben – seine Konversion zum Islam vorausgesetzt. Der Ich-Erzähler ist die Personifikation dessen, was Toynbee als »inneres Proletariat« bezeichnet. Er steht stellvertretend für jene Menschen, die den Kontakt zur eigenen Kultur verloren haben.346 Es ist kein Zufall, dass die Biografie des Protagonisten von Anfang an mit dem Schicksal der europäisch-abendländischen Kultur verknüpft wird. Wie diese befindet sich François in einer schweren midlife-crisis. So lesen wir etwa im Anschluss an die einleitende Romanpassage, die vom Tag seiner Verteidigung berichtet, den folgenden Kommentar: »Tel est le cas, dans nos sociétés encore occidentales et social-démocrates, pour tous ceux qui terminent leurs études, mais la plupart n’en prennent pas, ou pas immédiatement conscience, hypnotisés qu’ils sont par le désir d’argent, ou peut-être de consommation chez les plus primitifs […], hypnotisés plus encore par le désir de faire leurs preuves, de se tailler une place sociale enviable dans un monde qu’ils imaginent et espèrent compétitif, galvanisés qu’ils sont par l’adoration d’icônes variables : sportifs, créateurs de mode ou de portails Internet, acteurs et modèles« (SM, 11-12). So wie das Leben des Ich-Erzählers durch die Zäsur seiner Doktorarbeit in zwei getrente Lebensabschnitte geteilt wird, genauso gibt es auch im »Leben« der Kulturen eine Phase der Adoleszenz und eine der Dekadenz. Auf die Zeit der Jugend und der intellektuellen Reife folgt mit dem Beginn des Erwachsenenalters eine Phase der geistigen Leere. Geblendet (»hypnotisés«) vom Streben nach materiellem Erfolg und sozialer Anerkennung verlieren die Menschen nach dem Eintritt in das Berufsleben allmählich das Interesse an allem, was ihre eigene Existenz übersteigt. Begeistern (»galvanisés«) können sie sich nur noch durch Konsum und im Spektakel. An die Stelle der schöpferischen Individuen, die eine Kultur voranbringen, sind die »Ikonen« des Sports, der Mode und der Unterhaltungsindustrie getreten. Der Roman setzt also zu einem Zeitpunkt ein, als die westlichen Gesellschaften – mit Toynbee gesprochen – bereits in die Phase ihres Niedergangs eingetreten sind. Allerdings erhält die erschöpfte westliche Kultur im Roman noch einmal die Gelegenheit, sich selbst zu erneuern. Dass eine solche Erneuerung unmittelbar bevorsteht, darauf verweist das unscheinbare Zeitadverb (»encore«) zu Beginn der zitierten Passage. Der vitale Erschöpfungsprozess der westlichen Zivilisation wird somit von Anfang an mit der Geschichte des Ich-Erzählers verknüpft. François ist – wie die Namensgebung nahelegt – ein typischer Franzose. Er selbst bezeichnet sich als »un homme d’une normalité absolue« (SM, 25). Seine Freundin Myriam hält ihn für einen »Macho« (SM, 40) mit einem ausgefallenen Literaturgeschmack, womit sie nicht ganz Unrecht hat, wie seine abfälligen Bemerkungen über Frauen und seine Meinung zum Patriarchat belegen. Gleichwohl verfügt François auch über eine empathische Seite, etwa wenn er sich anlässlich einer Grillparty »solidarisch« (SM, 94) mit der Ehefrau des Gastgebers

346 Dieser Kontaktverlust wird im Roman mehrfach betont. François erinnert sich daran, dass er zwar früher einmal Freunde hatte, mit den Jahren jedoch allmählich den Kontakt zu ihnen verloren hat: »j’avais perdu un peu le contact« (SM, 73). Beim Anblick der schwarzen Madonna von Rocamadour hat er kurzzeitig eine Vision »mais peu à peu je sentais que je perdais le contact« (SM, 170).

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verbunden fühlt, weil sie sich neben Beruf und Kindern auch um den Haushalt und die Küche kümmern muss, während ihr Mann nur daran denkt, sich mit den Gästen zu betrinken. Allerdings kostet ihn diese Geste der Solidarität nichts, wie er bemerkt, da sich dadurch an ihrer Situation rein gar nichts ändert. Beruflich und privat hat der Ich-Erzähler kaum noch Ambitionen. Seine universitären Verpflichtungen erfüllt er mit dem erforderlichen Maß an Routine, aber ohne besondere Leidenschaft. Für den Weg zur Arbeit nimmt er die Metro, um sich der »illusion fugitive« hinzugeben »d’appartenir à ›la France qui se lève tôt‹« (SM, 27). Da ihn das Unterrichten langweilt, absolviert er alle seine Lehrveranstaltungen am selben Tag. Überhaupt ist seine Einstellung zur Bildung recht zynisch, da er die Unterschiede in der menschlichen Intelligenz für unüberwindbar hält.347 Letztlich bereitet ihm sein Beruf daher auch keine Freude. Die einzige Befriedigung, die er aus seiner Position als Hochschullehrer bezieht, sind seine wechselnden Liebesbeziehungen mit den Studentinnen, die allesamt nach einem vorgegebenen »Schema« (SM, 19) ablaufen und in der Regel nach ein paar Monaten beendet werden. Alles in allem fristet François ein relativ trostloses Dasein. Abgesehen von Frauen, Alkohol und Essen scheint er sich für nichts und niemanden mehr zu begeistern. Das Interesse an Politik ist ihm vor langer Zeit abhandengekommen – er hält sich selbst für »aussi politisé qu’une serviette de toilette« (SM, 50) – und auch ansonsten erwartet er kaum etwas vom Leben. Den Höhepunkt seiner intellektuellen Tätigkeit markiert die Veröffentlichung seiner Doktorarbeit. Die Zeit danach empfindet er als Freiheitsverlust: »Pourtant, le matin qui suivit la soutenance de ma thèse (ou peut-être le soir même), ma première pensée fut que je venais de perdre quelque chose d’inappréciable, quelque chose que je ne retrouverais jamais : ma liberté« (SM, 15). Zwar veröffentlicht er in der Folge noch verschiedene Aufsätze, die ihm die Anerkennung der wissenschaftlichen Fachwelt einbringen; doch mit den Jahren muss François sich schließlich eingestehen, dass er an einem Punkt angelangt ist »où je bandais en quelque sorte dans le vide« (SM, 23).

4.5.4

Die Suche nach einem Ausweg aus dem »Tunnel« der Moderne

Dem Ich-Erzähler (und mit ihm auch der westlichen Kultur) bietet sich in der Folge nun aber eine Reihe von Möglichkeiten, auf seine midlife-crisis zu reagieren. Das Spektrum dieser Möglichkeiten reicht – wie von Toynbee beschrieben – vom gewaltsamen Verteidigungskampf über ein Wiedererstarken des Nationalismus bis zur Erneuerung der Kultur durch die Zwischenphase einer neuen Religion. Jede dieser drei Möglichkeiten bezeichnet einen Weg aus dem »Tunnel« der Moderne und jeder dieser Wege wird im Roman durch eine Figur verkörpert, mit der François im Laufe der Erzählung eine längere Unterhaltung führt. An der Universität macht François die Bekanntschaft eines jüngeren Kollegen, dem der Ruf vorauseilt, er pflege Beziehungen zu Anhängern

347 »Quelques cours particuliers donnés dans l’espoir d’améliorer mon niveau de vie m’avaient très tôt convaincu que la transmission du savoir était la plupart du temps impossible ; la diversité des intelligences, extrême ; et que rien ne pouvait supprimer ni même atténuer cette inégalité fondamentale« (SM, 18).

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

der Identitären Bewegung.348 Dabei handelt es sich um eine Sammelbewegung aus Katholiken, Monarchisten, Neo-Paganisten, radikalen Laizisten und Anhängern des sogenannten »Dritten Weges«, die sich als eigentliche »Ureinwohner Europas« ansehen und eine »muslimische Kolonisation« befürchten (SM, 68). Lempereur, so der Name des Kollegen, ist Spezialist für Léon Bloy und die Literatur der Jahrhundertwende. Bloy gilt ihm als die ultimative Waffe »contre le XXe siècle avec sa médiocrité, sa bêtise engagée, son humanitarisme poisseux ; contre Sartre, contre Camus, contre tous les guignols de l’engagement ; contre tous ces formalistes nauséeux aussi, le nouveau roman, toutes ces absurdités sans conséquences« (SM, 59).349 Der Name des Kollegen verweist nicht zufällig auf Napoleon und die Zeit des Empire. Denn Lempereur würde das Rad der Geschichte wohl am liebsten zurückdrehen in jene Zeit, als Frankreich noch eine Großmacht war, deren Grenzen sich von Afrika über ganz Europa bis nach Russland erstreckten. Lempereur sieht sich selbst als einen geistigen Erben des Maréchal Moncey, einen ergebenen »soldat de Napoléon« (SM, 63), über dessen Rolle bei der Verteidigung von Paris er den Ich-Erzähler im Verlauf ihrer Unterhaltung aufklärt. Genauso wie Moncey die russischen Truppen vor den Toren der Hauptstadt abgewehrt hat, möchte auch Lempereur, ein treuer Parteisoldat Marine Le Pens, sein Land vor ausländischen Einwanderern abschotten. Doch der Front National ist längst nicht mehr das, was er zu früheren Zeiten einmal war. Unter Marine Le Pen hat sich die Partei modisch verjüngt und gleichzeitig versucht die Tochter, sich von dem antisemitischen Erbe ihres Vaters, dem Parteigründer Jean-Marie Le Pen, zu distanzieren – freilich ohne den von ihm vorgegebenen nationalistischen Kurs aufzugeben.350 Ein recht modisches Bild gibt auch der Kollege von der 348 Zur Geschichte und zu den politischen Zielen der Identitären Bewegung siehe etwa den Sammelband von Andreas Speit (Hg.), Das Netzwerk der Identitären. Ideologie und Aktionen der Neuen Rechten, Berlin: Links, 2018. 349 Es ist unverkennbar, dass hier die persönlichen Ansichten des Autors in die Figurenrede miteinfließen. Auf Houellebecqs Kritik am Existentialismus und seine fast schon feindselige Haltung gegenüber dem Nouveau Roman wurde bereits in den vorherigen Kapiteln eingegangen. Trotzdem lässt sich die Figur von Lempereur nicht als Sprachrohr des Autors verstehen. Houellebecq vermeidet es ganz bewusst, seine persönlichen Ansichten einer einzelnen Romanfigur in den Mund zu legen. Tatsächlich trägt so gut wie jede Figur Standpunkte vor, die man so oder ähnlich auch schon von Houellebecq gehört hat. Dies macht es unmöglich, den Autor auf eine bestimmte Position festzulegen. Dass bei Houellebecq die Grenze zwischen Autorstimme und Figurenrede häufig verschwimmt, trägt maßgeblich zur Ambiguität seiner Romane bei. Aus der Überlagerung dieser beiden Stimmen ergibt sich ein in höchstem Maße »zweistimmiges« Wort, wie Michail Bachtin dies für den polyphonen Roman definiert hat: »Die Redevielfalt, die in den Roman eingeführt wird […] ist fremde Rede in fremder Sprache, die dem gebrochenen Ausdruck der Autorintention dient. Das Wort einer solchen Rede ist ein zweistimmiges Wort. Es dient gleichzeitig zwei Sprechern und drückt gleichzeitig zwei verschiedene Intentionen aus: die direkte Intention der sprechenden Person und die gebrochene des Autors. […] Zudem sind diese beiden Stimmen dialogisch aufeinander bezogen, sie wissen gleichsam voneinander (wie zwei Repliken eines Dialogs voneinander wissen und sich in diesem gegenseitigen Wissen entfalten), sie führen gleichsam ein Gespräch miteinander. Das zweistimmige Wort ist stets im Inneren dialogisiert.« Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, hg. von Rainer Grübel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1979, S. 213. 350 Vgl. hierzu Bernhard Schmid, »Wie Marine Le Pen den Front National modernisierte«, in: Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), 13.5.2014, https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechts

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Sorbonne mit der »verführerischen« Aura eines »Rechtsintellektuellen« (SM, 60) ab. Er begrüßt François mit einem herzlichen Lächeln und schmeichelt ihm sogar ein bisschen. Was François jedoch am meisten überrascht, ist der intensive Blick des jungen Mannes. Es kommt ihm so vor, als würde sich sein Gegenüber schminken, um genau diesen Effekt zu erzielen (SM, 58). Wenn Lempereur Mascara aufträgt, um Andere von sich zu überzeugen, so zeigt dies freilich nur, wie unecht und gekünstelt seine Erscheinung ist. Dasselbe gilt auch für den Front National, der sich inzwischen zwar ein hippes neues Image verpasst hat, programmatisch aber nach wie vor eine stramm rechts und im Extremfall sogar fremdenfeindliche Partei ist. Auf den ersten Blick würde man tatsächlich nicht erwarten, dass Lempereur ein Kollege von der Sorbonne ist. Äußerlich ähnelt er ganz und gar nicht einem Wissenschaftler. Er trägt Sneakers und ein Fußballtrikot, was seltsamerweise »assez élégant« (SM, 58) wirkt. Dass Lempereur ein »homme de goût« (SM, 85) ist, zeigt sich auch an der Einrichtung seiner Wohnung. In der Vorstellung des Ich-Erzählers lebt Lempereur »dans un décor minimaliste, épuré, avec beaucoup de blanc« (SM, 65). Die Farbsymbolik ist denunziatorisch, denn sie verweist sehr offensichtlich auf die von den Identitären angestrebte »Reinheit« des Volkes. Doch ganz so einfach geben sich die Anhänger der Neuen Rechten nicht zu erkennen. François ist denn auch einigermaßen überrascht, dass Lempereur in einem hôtel particulier aus der Zeit der Belle Époque wohnt. Auch die Einrichtung entspricht nicht dem Bild, das sich François von seinem jüngeren Kollegen gemacht hat. Die Wände sind mit einer Samttapete versehen, die Möbel mit kunstvollen Einlegearbeiten verziert; im Wohnzimmer steht eine Sitzbank (»une ottomane«) mit grünem Stoffbezug; über dem Kamin hängt ein Gemälde des französischen Malers William-Adolphe Bouguereau, einem Vertreter des »art pompier«351 im 19. Jahrhundert, der überwiegend religiöse und historische Gemälde im neo-klassizistischen Stil schuf und damit hauptsächlich den Geschmack des Bürgertums traf. Wie die Beschreibung des Mobiliars erkennen lässt, ist Lempereur in jeder Hinsicht ein widersprüchlicher Charakter. Wenn er ein orientalisches Sofa in der Farbe des Islam besitzt, dann zeigt dies ja gerade, dass sich die selbsternannten »Ureinwohner Europas« gar nicht bewusst sind, welche mannigfachen Wechselbeziehungen zwischen ihrer eigenen Kultur und den Kulturen anderer Religionen bestehen. Diese Wechselbeziehungen lassen sich bis in die Sprache und sogar bis in die Bezeichnung eines Möbelstückes (»ottomane«) zurückverfolgen. Offenbar ist Lempereur in kulturellen Fragen ebenso ein moderner Bourgeois wie in Fragen des Einrichtungsstils und des Kunstgeschmacks.352 populismus/184221/wie-marine-le-pen-den-front-national-modernisierte (zuletzt eingesehen am 28.7.2019). 351 Vgl. hierzu Aleksa Celebonovic, Peinture kitsch ou réalisme bourgeois : l’art pompier dans le monde, Paris: Seghers, 1974. 352 Damit scheint der Text anzudeuten, dass der rechtsextreme Front National keineswegs nur eine Partei der unteren sozialen Schichten ist, sondern auch Wählerinnen und Wähler in der bürgerlichen Mitte anspricht. Dies erklärt sich unter anderem daraus, dass die Partei ihre rassistische Gesinnung inzwischen nicht mehr offen propagiert. Der Roman lässt jedoch wenig Zweifel, dass die rassistischen Tendenzen innerhalb der Partei nach wie vor existieren. Nicht zufällig dominieren in der Ekphrasis des Bouguereau-Gemäldes die Farbe ›Weiß‹ und das Motiv der Nacktheit. Das Bild zeigt eine Gruppe von fünf weiblichen Gestalten in einem Garten. Einige der Frauen tragen

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Wenn Lempereur behauptet, er habe von den Identitären Abstand genommen, dann muss man die Aufrichtigkeit dieser Behauptung in Zweifel ziehen. Der Text selbst legt nämlich etwas anderes nahe. In Wirklichkeit ist Lempereur den Idolen seiner Jugend bis heute treu geblieben.353 Im Laufe ihres Gesprächs überreicht er François ein Pamphlet der Identitären Bewegung, das er im Internet gefunden haben will. Wahrscheinlicher ist aber, dass er es selbst verfasst hat. Aus dem militanten Aktivisten von einst ist eine Art »graue Eminenz« (SM, 89) und intellektueller Vordenker der Neuen Rechten geworden. Was von dem identitären Weg der Neuen Rechten zu erwarten ist, lässt sich aus der Beschreibung seines Hauses ablesen. Die Eingangstür ist mit einem Metallgitter versehen, Video-Kameras überwachen die Straße und an der Klingel befindet sich ein »dispositif d’identification biomètrique« (SM, 65). Die Identitären möchten das Land von allen äußeren Einflüssen abschotten. Nach Frankreich soll nur kommen dürfen, wer Français de souche ist. Doch ein solcher Weg ist keine Lösung, sondern führt unmittelbar in den Faschismus. Bezeichnenderweise endet die Straße, in der sich das Haus des jungen Wissenschaftlers befindet, in einer »Sackgasse« (SM, 64). Der identitäre Weg der Neuen Rechten führt zurück in die Vergangenheit, doch dieser Weg ist ein für alle Mal verschlossen. Um einen Ausweg aus dem Tunnel der Moderne zu finden, bleibt nur der Weg nach vorne. Letztlich muss François daher auch einsehen, dass eine Verständigung mit Lempereur nicht zu erwarten ist – und zwar schon allein deshalb, weil er für das literarische Vorbild seines Kollegen eine tiefe Abneigung empfindet. Der fanatische Katholik Bloy, der seine Mitmenschen zwingen wollte, ein Leben als Heilige zu führen, und dessen »Bekehrungswut«354 sich unaufhörlich in »eiferndem Zorn« entlud, gilt dem Literaturwissenschaftler François als »prototype du catholique mauvais« (SM, 32). Daher verabschiedet er sich von Lempereur und dem Weg der Neuen Rechten, nimmt sich jedoch noch dessen Ratschlag zu Herzen und verlässt Paris, ehe die Ausschreitungen beginnen. Nach dieser ersten Begegnung reist François – genau wie sein Vorbild Huysmans – ins Zentrum des französischen Katholizismus. Seine Reise ins Lot gestaltet sich als eine wahre Pilgerreise zum Ursprung seiner eigenen Kultur. In Martel erfährt der IchErzähler etwas über seine eigene christliche Geschichte. Dass es sich dabei um eine

eine weiße Tunika, andere sind vollkommen nackt und versuchen schamhaft, ihren entblößten Busen hinter einem Blumenstrauß zu verbergen. Das Motiv ist offenbar frei erfunden, zumindest lässt sich kein entsprechendes Gemälde von Bouguereau nachweisen. Die Ekphrasis dient wohl in erster Linie dazu, die Wahnvorstellung von der »Reinheit« des Volkes zu denunzieren. Darüber hinaus lässt sie sich aber auch als ironischer Kommentar auf die sexuellen Macho-Fantasien der männlichen Romanfiguren lesen, die ihren Traum von einem Liebesleben mit mehreren Frauen im Roman dank der Einführung der Polygamie nunmehr offen ausleben dürfen. 353 Dass sich seine politische Gesinnung nicht geändert hat, legt Lempereur selbst nahe, wenn er in Bezug auf die literarischen Vorbilder seiner Jugend sagt: »C’est curieux […] comme on reste proches des auteurs auxquels on s’est consacrés au début de sa vie. […] nous restons toujours fidèles au champion qui a été le nôtre, nous demeurons prêts pour lui à nous aimer, nous fâcher, nous battre par articles interposés« (SM, 59-60). 354 Karl-August Götz, »Léon Bloy«, in: Otto Mann (Hg.), Christliche Dichter im 20. Jahrhundert. Beiträge zur europäischen Literatur, 2. Aufl., Bern: Francke, 1968, S. 57-83, hier S. 57 und S. 71.

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überaus blutige Geschichte handelt, die von zahlreichen Konfessionskriegen geprägt ist, wird durch die Symbolik des Ortes mehr als deutlich zum Ausdruck gebracht.355 Obwohl das Zeitalter der Religionskriege vorerst an sein Ende gekommen ist, wie Alain Tanneur dem Ich-Erzähler sagt, sind die Spuren der Geschichte bis heute sichtbar. Zuvor muss François jedoch noch Einiges über sich und das Land, in dem er aufgewachsen ist und dessen Staatsbürger er »theoretisch« (SM, 126) nach wie vor ist, lernen. Denn im Grunde genommen kennt er sein Land überhaupt nicht: »Je connaissais peu la France, en général« (SM, 126). Sein Reisebegleiter hingegen ist nicht nur bestens vertraut mit der Geschichte Frankreichs, er ist dem Ort, an dem er aufgewachsen ist, darüber hinaus stets treu geblieben. Tanneur ist ein »enfant du pays« (SM, 140) und dieser Umstand berechtigt ihn dazu, dem Ich-Erzähler (wie dem Leser) zu enthüllen, wo seine eigenen Wurzeln liegen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die Symbolik des Namens: ›Tanneur‹ ist das französische Wort für ›Gerber‹, einen in Zünften organisierten Handwerksberuf, dessen Existenz seit dem frühen Mittelalter verbürgt ist. Damit wird auf die traditionsreiche französische Geschichte angespielt, genau wie mit dem Namen seiner Ehefrau Marie-Françoise. Die Kombination aus religiöser (Marie) und nationaler (Françoise) Identität verweist auf die enge Verflechtung der französischen Geschichte mit dem Katholizismus. Das Ehepaar Tanneur steht somit stellvertretend für den katholischen Teil Frankreichs, der überaus traditionsbewusst und stolz auf die Vergangenheit ist. Tanneur erinnert seinen Gast daran, dass diese Vergangenheit einst überaus lebendig war und empfiehlt François eine Pilgerreise nach Rocamadour, weil man dort abschätzen könne »à quel point la chrétienté médiévale était une grande civilisation« (SM, 161). Die Größe des christlichen Mittelalters, die Tanneur heraufbeschwört, kontrastiert mit dem Bild einer Republik ohne Werte, wie es der Roman in weiten Teilen zeichnet. Allerdings sind seine Aussagen mit Vorsicht zu genießen. Denn genau wie Lempereur ist auch Tanneur eine recht widersprüchliche Person. Als Traditionalist möchte er am liebsten alles beim Alten belassen, und zwar vor allem deshalb, weil es für ihn von Vorteil ist. In den eher konservativen Regionen der französischen Provinz, wo die Tanneurs leben, machen sich die Veränderungen der modernen Gesellschaft bislang noch nicht bemerkbar. Es ist ein ausschließlich von Männern dominiertes Milieu, bestehend aus »le maire, le médecin, le notaire, enfin tous les notables locaux, encore très présents dans ces gros bourgs de province, auprès desquels il [Tanneur] resterait auréolé d’une carrière dans les services sécrètes« (SM, 152). Ein solcher Traditionalismus hat jedoch keine Zukunft, da er die Emanzipationsgewinne der Frauen leugnet. Bei sich zu Hause ist Tanneur ein Patriarch, aber gleichzeitig hält er François eine Lobrede auf die Gottesmutter Maria. Während die beiden Männer bei Portwein und Zigarren über Politik sprechen, ist Marie-Françoise in der Küche mit der Zubereitung des Essens beschäftigt. Im Verlauf des Abends spricht sie kein einziges Wort. Dafür erscheint sie sechs Mal in Folge, um die verschiedenen Gänge eines – wie François anerkennend bemerkt 355

In der Schlacht von Poitiers 732 n. Chr. schuf der fränkische König Charles Martell mit seinem Sieg über die Araber die Grundlagen für die karolingische Dynastie. Vgl. hierzu Andreas Fischer, Karl Martell. Der Beginn karolingischer Herrschaft, Stuttgart: Kohlhammer, 2012, insb. S. 110ff.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

– überaus köstlichen Abendessens zu servieren.356 An der Sorbonne gibt sie Seminare zur Literatur des 19. Jahrhunderts, doch zu Hause legt sie sich eine Schürze mit der Aufschrift »N’engueulez pas la cuisinière, le patron s’en charge« (SM, 151) an. Ironischer lässt sich der Widerspruch zwischen Tradition und Moderne kaum darstellen. Alain Tanneur ist aber nicht nur ein Patriarch, sondern auch ein echter Patriot. Als Staatsbeamter leistet er seinen Dienst für das Vaterland. Seine Liebe zu Frankreich hat er von seinem Vater geerbt (»j’avais hérité du patriotisme de mon père«). Dies verbindet ihn mit dem Dichter Charles Péguy, neben Huysmans und Bloy der dritte Schriftsteller des renouveau catholique im Roman. Laut Tanneur hat niemand die »Seele« des christlichen Mittelalters besser nachempfunden als Péguy, denn nur er habe verstanden, dass das »Herz« der Anbetung im Christentum weder der Vater noch der Sohn, sondern die Jungfrau Maria sei. Für den Dichter der Mysterien und der Ève (1913) war die Nation gleichwohl nur Gleichnis für etwas Größeres, wie Tanneur erklärt: »À elle seule, l’idée de la patrie ne suffit pas, elle doit être reliée à quelque chose de plus fort, à une mystique d’un ordre supérieur« (SM, 162). Die Vertreter des renouveau catholique fanden im christlichen Glauben einen Weg, um der Liebe zur Nation eine spirituelle Grundlage zu geben.Gerade das Beispiel Péguy illustriert jedoch das Scheitern ihrer Bemühungen. Es mag zwar sein, dass der Patriotismus eines Péguy »nichts Verletzendes« hatte, weil ihm jene »bittere Schärfe« fehlte, von der etwa der »blutrünstige Preußenhasser Léon Bloy nicht ganz freizusprechen ist«357 . Doch das traurige Schicksal Péguys, der wenige Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges auf dem Kornfeld von Villeroy durch einen Schuss in die Stirn starb, schwebt wie ein Menetekel über seinem Traum, die Liebe zu Gott mit der Liebe zum Vaterland zu verbinden. Spätestens seit dem Zivilisationsbruch des Ersten Weltkriegs, als die europäischen Nationen im Glauben an ihre eigene Überlegenheit in den Krieg zogen, ist der Patriotismus zu einem leeren Konzept geworden.358 Für François ist die Liebe zum Vaterland darum keine wirkliche Option, um das geistige Vakuum der modernen Welt zu füllen. Wohl auch deshalb verfängt das Pathos des Péguy-Gedichtes, aus dem Tanneur einige Verse rezitiert, bei ihm nicht. Im Gegenteil: François schläft währenddessen beinahe ein und als er kurz darauf das Haus seiner Gastgeber verlässt, sieht er sich darin bestätigt, dass der Patriotismus nicht viel mehr bewirkt habe als »une succession ininterrompu de guerres stupides« (SM, 163).

356 Der Roman illustriert ihre Degradierung zur »femme ›pot au feu‹« (SM, 95) auf humorvoll-ironische Weise durch die hyperbolische Beschreibung des Essens. Nach einer kurzen Begrüßung verschwindet Marie-Françoise in der Küche und erscheint erst wieder, um ein kleines amuse-gueule (»des tartelettes au cou de canard et aux échalotes«) zu servieren. Die Vorspeise (»une salade de fèves accompagnée de pissenlits et de copeaux de parmesan«) ebenso wie das Hauptgericht (»des souris d’agneau confites accompagnées de pommes de terre sautées«) und das Dessert (»une croustade landaise aux pommes et aux noix«) sind dermaßen lecker, dass François sich kaum mehr auf das Gespräch mit dem Ehemann konzentrieren kann. Am Ende bedankt sich François für den gelungenen Abend und beglückwünscht seine Kollegin für ihre »talents culinaires« (SM, 163). 357 Oswalt von Nostlitz, »Charles Péguy«, in: Mann, Otto (Hg.), Christliche Dichter im 20. Jahrhundert. Beiträge zur europäischen Literatur, 2. Aufl., Bern/München: Francke, 1968, S. 116-128, hier S. 125 358 Tanneur hat dies durchaus richtig erkannt, wenn er François gegenüber erklärt: »Déjà, à son époque, le patriotisme français était une idée un peu dépréciée – on peut dire qu’il est né à Valmy en 1792, et qu’il a commencé de mourir dans les tranches de Verdun en 1917« (SM, 160).

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Dennoch war sein Besuch nicht umsonst. Wie sein Gastgeber ihm empfiehlt, macht sich François bereits am nächsten Morgen auf den Weg nach Rocamadour, um sich von der Jungfrau Maria leiten zu lassen. Vor der Schwarzen Madonna hat er – zum ersten Mal überhaupt – eine Art religiöse Erweckung. Die Statue scheint sich zu erheben und auf ihn zuzuschweben: »[…] la Vierge me paraissait monter, s’élever de son socle et grandir dans l’atmosphère, l’enfant Jésus paraissait prêt à se détacher d’elle et il me semblait qu’il lui suffisait maintenant de lever son bras droit, les païens et les idolâtres seraient détruits, et les clefs du monde lui seraient remises ›en tant que seigneur, en tant que possesseur et en tant que maître‹« (SM, 169). Doch dann verschwindet die Vision, die Gottesmutter scheint sich ihm zu entziehen: »[…] peu à peu je sentais que je perdais le contact« (SM, 170). Der Grund ist nur allzu profan: François hat vergessen zu frühstücken und bekommt auf einmal Hunger. Eine einfache Unterzuckerung (»une crise d’hypoglycémie«) verhindert, dass François von der Allmacht der Gottesmutter erfasst wird. Es ist bezeichnend, dass dieser Einbruch des Profanen ausgerechnet durch eine wissenschaftliche Erklärung eingeleitet wird. Der Rationalismus zerstört jede Religiosität im Kern. Auf das missglückte Erweckungserlebnis folgt kurz darauf ein weiterer Fehlschlag. Auf den Spuren seines Vorbildes Huysmans reist François in die Abtei von Ligugé. Doch auch dort findet er nicht die erhoffte Spiritualität. Seit seinem letzten Besuch hat das Klosterleben sichtlich an Charme verloren. Schon die moderne Klosterkirche erinnert eher an einen Supermarkt als an ein Gotteshaus. In der Abtei von Ligugé, wo Huysmans zum gläubigen Katholiken wurde, findet François daher nicht die erhoffte Seelenruhe. Außen rasen die Hochgeschwindigkeitszüge an seinem Fenster vorbei und im Inneren der Zelle starrt ihn der Rauchmelder mit seinem »feindseligen« (SM, 218) roten Auge von der Decke an. Es ist der Einfluss der modernen Welt, der eine Rückkehr zum Glauben unmöglich macht. Wissenschaft und Glauben bilden zwei unversöhnliche Gegensätze, denen der moderne Mensch nichts zu erwidern hat.

4.5.5

Erneuerung durch Unterwerfung?

Die Suche nach einem Ausweg aus dem Tunnel der Moderne bleibt somit vorerst ergebnislos. Keine der Möglichkeiten, die der Roman bis hierhin durchspielt, ist von Erfolg gekrönt: Der identitäre Weg ist eine Sackgasse, die in den Faschismus führt; der patriotische Weg läuft Gefahr, in einen übersteigerten Nationalismus zu verfallen; und der Weg des Glaubens wird durch den Einfluss der modernen Wissenschaften versperrt. Damit bleibt für François nur noch der Weg nach vorne und dieser Weg führt, wie von Toynbee beschrieben, durch die Zwischenphase einer neuen Religion. Im Roman erhält die erschöpfte civilisation occidentale noch einmal die »historische Chance«, sich mit Hilfe des Islams moralisch zu erneuern. Wie diese Erneuerung vonstattengehen könnte und was von ihr zu erwarten wäre, erläutert der neue Rektor der Sorbonne in einem längeren Gespräch mit dem Ich-Erzähler gegen Ende des Romans:

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

»[…] parvenu à un degré de décomposition répugnant, l’Europe occidentale n’était plus en état de se sauver elle-même – pas davantage que ne l’avait été la Rome antique au Ve siècle de notre ère. L’arrivée massive de populations immigrées empreintes d’une culture traditionnelle encore marquée par les hiérarchies naturelles, la soumission de la femme et le respect dû aux anciens constituait une chance historique pour le réarmement moral et familial de l’Europe, ouvrait la perspective d’un nouvel âge d’or pour le vieux continent. Ces populations étaient parfois chrétiennes ; mais elles étaient le plus souvent, il fallait le reconnaître, musulmanes« (SM, 276). Für Rediger steht außer Frage, dass die kulturelle Erneuerung Europas durch den Islam erfolgen müsse. Nur der Islam, so meint er, könne die dekadenten westlichen Gesellschaften wiederbeleben und den »alten Kontinent« damit in ein neues »goldenes Zeitalter« führen. Der Roman selbst dementiert diese Möglichkeit, wie an späterer Stelle noch zu zeigen sein wird. Dennoch hat Rediger in einem Punkt recht: Frankreich und Europa gehen nicht durch eine äußere Bedrohung, sondern durch innere Auszehrung zugrunde. Dies ist die zentrale Einsicht, die Houellebecq aus der Toynbee’schen Geschichtslehre übernimmt. Wenn eine Gesellschaft die an sie gestellten Herausforderungen nicht mehr aus eigener Kraft bewältigen kann, bleibt ihr nur die Anpassung an eine fremde Kultur. In der Fiktion des Romans entscheidet sich eine Mehrheit der Menschen dafür, die ihnen gebotene »Chance« zu ergreifen. Den Anlass dazu bietet ausgerechnet eine Wahl. Damit wird einer deterministischen Lesart der Geschichte von vornherein ein Riegel vorgeschoben. Die Zukunft Europas ist nicht vorherbestimmt, sondern sie hängt davon ab, welchen Gebrauch die Menschen von ihrer eigenen Freiheit machen. Natürlich ist es alles andere als wahrscheinlich, dass Frankreich in naher Zukunft zu einer islamischen Republik werden könnte. Durchaus realistisch sind aber die politischen Voraussetzungen für das fiktive Romanszenario, da sie die aktuelle politische Lage in Frankreich (und Europa359 ) einigermaßen zutreffend beschreiben. Wie in vielen anderen europäischen Ländern bestand das politische System in Frankreich seit dem Zweiten Weltkrieg im Wesentlichen aus einem bürgerlich-konservativen und einem sozialdemokratischen Lager, die sich abwechselnd die Regierungsgeschäfte teilten.360

359 Zwar gewinnt die politische Intrige im Roman ihre volle Bedeutung erst durch die Besonderheiten des französischen Wahlsystems, das eine Stichwahl der zwei aussichtsreichsten Kandidaten für die Präsidentschaft vorsieht. Doch die politische Entwicklung in Frankreich, allen voran das Erstarken nationalistischer Kräfte, ist keineswegs ein französisches Phänomen, sondern vollzieht sich aktuell auch in vielen anderen europäischen Ländern. Der Roman beschreibt die politische »Großwetterlage« in Europa mit Hilfe einer leitmotivisch wiederkehrenden Wettermetaphorik: Während sich die liberalen Gesellschaften Großbritanniens und Nordeuropas in einer »Depression« befinden, ziehen aus den rechtspopulistisch regierten Ländern Osteuropas dunkle Wolkenmassen in Richtung Süden und drohen den gesamten Kontinent einzunehmen: »Des masses d’air anticyclonique s’étaient durablement installés de la Hongrie à la Pologne, empêchant la dépression centrée sur les îles britanniques de progresser vers le Sud ; sur l’ensemble de l’Europa continentale se maintenait un temps inhabituellement froid et sec« (SM, 53). 360 »Il est vrai que, dans ma jeunesse, les élections étaient aussi peu intéressantes que possible […]. Un candidat de centre-gauche était élu, pour un ou deux mandats selon son charisme individuel, d’obscures raisons lui interdisant d’en accomplir un troisième ; puis la population se lassait de ce candidat et plus généralement du centre-gauche, on observait un phénomène d’alternance démocratique,

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Diese Situation hat sich grundlegend verändert, seitdem der rechtsextreme Front National bei Wahlen regelmäßig einen Großteil der Stimmen für sich gewinnen kann.361 Das Erstarken des Front National bildet daher die »Drohkulisse«362 für das fiktive Romangeschehen: Bei den Präsidentschaftswahlen 2017 unterliegt Marine Le Pen in der Stichwahl dem Kandidaten der Sozialistischen Partei. François Hollande wird abermals Präsident »dans un pays de plus en plus ouvertement à droite« (SM, 51). Fünf Jahre später hat sich die Lage weiter verschärft: Die PS ist auf 23 % der Stimmen abgerutscht und die konservative UMP ist mit 14 % nahezu in der Bedeutungslosigkeit versunken, während der FN mit 32 % zur stärksten politischen Kraft avanciert ist. Dieses durchaus realistische Szenario wird im Roman nun aber vor dem Hintergrund des Toynbee’schen Kulturmodells weitergedacht. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, was mit einem Land passiert, wenn sich ein Großteil seiner Bürgerinnen und Bürger nicht mehr repräsentiert fühlt, wenn sich Bevölkerung und politische Elite entfremden und das Vertrauen in die Institutionen schwindet. Im fiktiven Frankreich des Jahres 2022 ist die Entfremdung zwischen Politikern und Bürgern längst eingetreten: »Je me rendais bien compte […] que l’écart croissant, devenu abyssal, entre la population et ceux qui parlaient en son nom, politiciens et journalistes, devait nécessairement conduire à quelque chose de chaotique, de violent et d’imprévisible. La France, comme les autres pays d’Europe occidentale, se dirigeait depuis longtemps vers la guerre civile, c’était une évidence ; mais jusqu’à ces derniers jours j’étais encore persuadé que les Français dans leur immense majorité restaient résignés et apathiques – sans doute parce que j’étais moi-même passablement résigné et apathique. Je m’étais trompé« (SM, 116). Allerdings hat sich der Ich-Erzähler bis zu diesem Zeitpunkt keineswegs getäuscht. Die Mehrheit der Franzosen hat sich längst in eine Art inneres Exil zurückgezogen. Während die Mitte der Gesellschaft vollkommen »apathisch« ist und »resigniert«, haben sich die extremen Ränder radikalisiert. Im Roman droht diese Situation zu eskalieren, als nach dem ersten Wahlgang noch immer kein geeigneter Kandidat für das Präsidentenamt in Aussicht ist. Im Vorfeld der Stichwahlen kommt es zu Ausschreitungen und Krawallen.363 Anhänger der Identitären Bewegung liefern sich Straßenschlachten mit gewaltbereiten Djihadisten. In Paris herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände, et les électeurs portaient au pouvoir un candidat de centre-droit, lui aussi pour un ou deux mandats, suivant sa nature propre. Curieusement, les pays occidentaux étaient extrêmement fiers de ce système électif qui n’était pourtant guère plus que le partage du pouvoir entre deux gangs rivaux, ils allaient même parfois jusqu’à déclencher des guerres afin de l’imposer aux pays qui ne partageaient pas leur enthousiasme« (SM, 50-51). 361 Vgl. Ronja Kempin, »Der Front National – eine feste politische Größe in Frankreich« (30.3.2017), in: Bundeszentrale für politische Bildung (bpb): Dossier Rechtspopulismus, erstellt am 3.4.2019, https:// www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/245672/der-front-national-eine-feste-politisc he-groesse-in-frankreich (zuletzt eingesehen am 6.5.2019). 362 Ulrike Schneider, »›Il n’y a pas de liberté sans une dose de provocation possible.‹«, a.a.O., S. 150. 363 Dass eine Eskalation der Gewalt unmittelbar bevorsteht, wird durch die Wettermetaphorik mehr als deutlich markiert. Während auf der Place de la Concorde eine Kundgebung des Front National stattfindet, die von militanten Identitären unterwandert wird, braut sich am Himmel ein gefährliches Unwetter zusammen, das die bedrohliche Atmosphäre am Boden metonymisch zu verlän-

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

doch François ist mit seiner Mikrowelle beschäftigt.364 Mit seiner Passivität ist der IchErzähler indessen keineswegs allein. Während einer Cocktail-Party des Journal des dixneuvièmistes ereignen sich in der Hauptstadt mehrere Explosionen. Die Place de Clichy steht in Flammen, aber die Gäste verhalten sich »comme si de rien n’était« (SM, 64). Niemand scheint sich zu beunruhigen, obwohl die Gewalt nicht mehr nur auf die Banlieues beschränkt bleibt, sondern bis ins Innere der Stadt, d.h. »intra muros« (SM, 63), vorgedrungen ist. Eine kollektive Lethargie breitet sich unter den Menschen aus, angefangen bei den Politikern und Journalisten, die von der Gewalt in den Banlieues bislang nichts wissen wollten. Besonders hart geht der Roman mit Intellektuellen ins Gericht: »Les gens en général semblaient s’être lassés d’entendre aborder ce sujet ; et, dans le milieu que je fréquentais, la lassitude était intervenue plus tôt que partout ailleurs« (SM, 56). Zurück an der Sorbonne wundert sich François über die »Atonie« (SM, 79) seiner Kollegen. Er selbst verhält sich jedoch genauso passiv und verlässt Paris schließlich sogar aus Angst vor weiteren Unruhen. Seine Flucht aufs Land erinnert an die berühmte Episode der verpassten Revolution aus Flauberts Éducation sentimentale, als Frédéric Moreau und Rosanette im Juni 1848 mit der Kutsche durch den Wald von Fontainebleau fahren, während in Paris die Aufständischen auf den Barrikaden von der Nationalgarde niedergeschossen werden.365 Analog dazu fährt François mit dem Auto durch die Provinz, als es in der Hauptstadt zu blutigen Krawallen kommt. Allerdings – und hier endet die Parallele zwischen den beiden Romanen – ist das Motiv der Idylle bei Houellebecq vollständig verschwunden. Frédéric verpasst die Revolution, weil er mit Rosanette zusammen ist, doch als er erfährt, dass seine Freunde bei den Aufständen verletzt wurden, reist er umgehend zurück nach Paris. François hingegen ist ein »voyageur solitaire« (SM, 132). Auf ihn warten weder Freunde noch Familie. Diese Einsamkeit hat zur Folge, dass er emotional vollkommen abstumpft. An einer Tankstelle findet er eine Leiche, doch anstatt sich besorgt zu zeigen, steigt er – etwas widerwillig (»à contrecœur«) zwar, aber ansonsten weitestgehend ungerührt – über den leblosen Körper, um sich ein Thunfisch-Sandwich aus dem Regal zu nehmen. Die Teilnahmslosigkeit des Protagonisten spiegelt sich auch im emotionslosen Stil der Erzählung.366 Dieser ist jedoch nicht mit der impassibilité eines Flaubert

gern scheint: »L’orage menaçait toujours; l’énorme nuage était maintenant suspendu, immobile, au-dessus du cortège« (SM, 120). 364 Der Kontrast zwischen der politischen Brisanz der Ereignisse und der Teilnahmslosigkeit des Erzählers wird durch den emotionslosen Stil der Erzählung unterstrichen: »La pluie éclata, très violente, au moment où je sortais du centre commercial. De retour chez moi, je me fis réchauffer une langue de bœuf sauce madère, caoutchouteuse mais correcte, et je rallumai la télévision : les affrontements avaient commencé […]« (SM, 121). 365 Vgl. Gustave Flaubert, L’Éducation sentimentale, Paris: Gallimard (folio classique), 2005, S. 349ff. 366 Die Schilderung der Ereignisse erfolgt in parataktischen Kurzsätzen; an Stelle von Adjektiven, die Gefühle oder Affekte ausdrücken könnten, dominiert ein eher technisches Vokabular, was dem ganzen Vorgang einen mechanischen Charakter verleiht: »Je découvris la caissière gisant sur le sol dans une mare de sang, ses bras serrés sur sa poitrine dans un dérisoire geste de protection. Le silence était total. Je me dirigeai vers les pompes à essence, mais leur fonctionnement était bloqué. Elles devaient pouvoir être remises en marche à partir des caisses. Je revins vers la boutique, enjambai le cadavre à contrecœur, mais ne découvris aucun mécanisme paraissant commander

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zu verwechseln. Letztere bezeichnet einen Stil der »verweigerten Einfühlung«367 , der darauf abzielt, jegliche Emotionen beim Schreiben zu liquidieren, um sich gegen die bestehenden Klischees romantischer Literatur zu immunisieren. Bei Houellebecq dient die Emotionslosigkeit des Stils dagegen vorrangig als Medium der Wirklichkeitsmodellierung: Sie soll die Gefühlskälte der modernen Welt, d.h. den Verlust an Mitgefühl und Empathie, ästhetisch erfahrbar machen und gleichzeitig verhindern, dass sich der Leser mit den Romanfiguren identifiziert. Welche Konsequenzen eine zur kollektiven Apathie gesteigerte Teilnahmslosigkeit nach sich ziehen kann, zeigt sich im weiteren Verlauf der Handlung. Als bewaffnete Gruppen mehrere Wahllokale überfallen, um die bevorstehende Stichwahl zu sabotieren, steht Frankreich am Rande eines Bürgerkrieges. Erst mit der Wahl von Mohammed Ben Abbes zum neuen Präsidenten der Republik beruhigt sich die Situation allmählich wieder. Dazu kommt es, weil die Parteien des bürgerlichen Lagers und die Sozialisten eine gemeinsame Allianz gegen Marine Le Pen bilden und den Kandidaten der Fraternité Musulmane unterstützen.368 Dem muslimischen Präsidenten gelingt, was die etablierten Parteien zu leisten nicht imstande waren: Er bereitet der Gewalt ein Ende und versöhnt die verfeindeten politischen Lager miteinander. Ben Abbes ist eine »Erlöser«-Figur (im Sinne Toynbees) und besitzt darüber hinaus das Format eines echten »Reichsgründers«369 . Bezeichnenderweise sieht er sich selbst in der Nachfolge keines geringeren als dem römischen Kaiser Augustus. Wie dieser verfolgt er »un véritable projet de civilisation« (SM, 160). Er möchte ein neues romanisches Imperium mit dem Islam als Staatsreligion errichten, das neben den südeuropäischen Staaten auch die nordafrikanischen Mittelmeerländer umfasst. Gleichzeitig versteht sich Ben Abbes als Friedensstifter zwischen den drei abrahamitischen Religionen.370 Die Traditionalisten versucht er dadurch zu versöhnen, dass er das Erbe des früheren Staatspräsidenten

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la distribution de carburant. Après une brève hésitation, je pris dans les rayonnages un sandwich thon-crudités, une bière sans alcool et le guide Michelin« (SM, 129). Martin von Koppenfels, Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans, München: Fink, 2007, S. 11. Dass die Zustimmung zu diesem »front républicain élargie« (SM, 150) aus einer Position der Schwäche heraus erfolgt, ist eine weitere Provokation des Romans. Die Konservativen befürchten, durch den Aufstieg des Front National politisch vollends in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden; und die Sozialisten schließen sich der Allianz vor allem deshalb an, weil sie den Vorwurf des Rassismus fürchten. Es ist fast schon eine böswillige Unterstellung, wie Franziska Sick zu Recht anmerkt, wenn der Autor annimmt, dass die französische Linke ihre laizistischen Grundsätze aus Angst, sich den Rassismus-Vorwurf einzuhandeln, freiwillig aufgeben würde. Vgl. Franziska Sick, »Untergangsphantasien/diskurse: Goll, Céline, Cracq, Houellebecq«, in: Romanische Studien 4, 2016, 65-97, hier S. 90. »Rares sont les bâtisseurs d’empire… ajouta pensivement Rediger. C’est un art difficile que de faire tenir ensemble des nations séparées par la religion et par la langue, de les faire adhérer à un projet politique commun. À part l’Empire romain je ne vois guère que l’Empire ottoman, sur une échelle plus restreinte. Napoléon aurait sans doute eu les qualités nécessaires – sa gestion du dossier israélite est remarquable, et il a montré au cours de l’expédition d’Égypte qu’il était parfaitement capable, aussi, de traiter avec l’Islam. Ben Abbes, oui… Il se peut que Ben Abbes soit de la même trempe…« (SM, 289, meine Hervorhebung). Dies wird erneut durch die Namensgebung angedeutet. Sein Vorname (›Mohammed‹) verweist auf den Religionsstifter des Islam; sein Zweitname (›Ben‹) kommt aus dem Hebräischen und bedeu-

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Charles De Gaulle – »celle d’une grande politique arabe de la France« (SM, 158) – wieder auferstehen lässt. Die Analogie zwischen Ben Abbes und De Gaulle verweist auf die ironische Pointe des Romans. Denn gerade die von Kulturkonservativen und Traditionalisten befürchtete Islamisierung Frankreichs erweist sich im Roman als Chance für die nationale Selbsterneuerung.371 Tatsächlich scheint sich das Land nach der Machtübernahme des neuen muslimischen Präsidenten wieder zu erholen: »la France retrouvait un optimisme qu’elle n’avait pas connu depuis la fin des Trente Glorieuses« (SM, 198). Durch die staatliche Förderung der Familie kommt es binnen kurzer Zeit zu einem Anstieg der Geburtenrate. Gleichzeitig sinkt die hohe Zahl an Arbeitslosen, weil viele Frauen wieder ihre traditionelle Rolle in der Familie übernehmen. Beflügelt von den wirtschaftlichen Erfolgen beginnt die neue muslimische Regierung derweil ihr wichtigstes Reformvorhaben umzusetzen: die Abschaffung der Laizität. Den Schlüssel dazu liefert die Bildungspolitik, denn Ben Abbes ist sich bewusst, dass derjenige, der die Kinder kontrolliert, zugleich auch die Zukunft kontrolliert (SM, 82). In einem ersten Schritt führt die Regierung eine verkürzte Schulpflicht für Mädchen ein. Künftig sollen Mädchen nach der Grundschule auf speziellen Hauswirtschaftsschulen ausgebildet werden. Lediglich für die Begabteren unter ihnen besteht die Möglichkeit, vor der Ehe ein Kunst- oder Literaturstudium aufzunehmen. In einem zweiten Schritt beschließt die Regierung eine drastische Kürzung des nationalen Bildungsetats. Fortan erhalten staatliche Schulen keine besondere Förderung mehr, was zu einem Ansturm auf private Schulen führt, die von Geldgebern im Ausland finanziert werden und einen verpflichtenden islamischen Religionsunterricht vorschreiben. Die Leidtragenden dieser Entwicklung sind aber nicht nur die Frauen, sondern auch die Juden. Nach dem Regimewechsel beobachtet François zwei sichtbare Veränderungen in der Gesellschaft: Die erste betrifft das Verschwinden aller koscheren Lebensmittel aus den Supermarktregalen und die zweite das Verschwinden kurzer Röcke in der Öffentlichkeit (SM, 177). Die Veränderungen der Mode sind ein deutliches Zeichen dafür, dass das gesellschaftliche »Klima« fortan kälter wird, allen voran für die Frauen.372

tet ›Sohn‹; und sein Nachname (›Abbes‹) ist ein Homonym des französischen Wortes abbesse (dt. ›Äbtissin‹), was auf die Tradition der christlichen Ordensgemeinschaften im Mittelalter verweist. 371 Wie Jing Xuan gezeigt hat, erhält diese Selbsterneuerung ein dialektisches Moment (im Sinne der Hegelschen Geschichtsphilosophie), da die absolute Anerkennung des Anderen zugleich die Selbstaufgabe des Eigenen voraussetzt. Die ehemalige Kolonialmacht Frankreich übernimmt die Religion der ehemals kolonisierten Völker, um sich als multikulturelle Gesellschaft zu verwirklichen. Der Islam wiederum bekennt sich zu den Werten der Republik und arbeitet an ihrer Demokratisierung. Wenn das laizistische Erbe dafür geopfert werden muss, dann bedeutet dieses Opfer nach der Logik der Anerkennungsdialektik gleichwohl keinen Untergang, sondern den Beginn einer neuen Phase der französischen Geschichte, »deren eigentliches Telos in der Wiedergeburt der Grande Nation liegt«. Vgl. Jing Xuan, »Ergebung/Erneuerung. Zur Anerkennungsdialektik in Michel Houellebecqs Soumission«, in: Philologie im Netz (PhiN) 73, 2015, S. 119-131, hier S. 129. 372 »Peu après, un front froid descendit brutalement, de plusieurs milliers de kilomètres, sur l’Europe occidentale ; après avoir stagné quelques jours sur les îles britanniques et l’Allemagne du Nord, les masses d’air polaire descendirent en une nuit sur la France, occasionnant des températures exceptionnellement basses pour la saison« (SM, 205).

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Wirklichkeit im Wandel

4.5.6

Von der Unterwerfung zum Verlust der Freiheit

Die eigentliche Provokation des Romans besteht darin, dass sich der Umbau der Gesellschaft ohne größeren Widerstand vollzieht. Die Medien verfallen in eine allgemeine »Aphasie« (SM, 200) und die Intellektuellen schweigen, obwohl die Freiheit der Wissenschaft auf dem Spiel steht. Niemand scheint sich daran zu stören, dass die französischen Juden massenweise das Land verlassen. Ein »Hauch von Weimar«373 liegt über dem Roman und es überrascht nicht, wenn der Erzähler eigens eine Parallele zu der Situation in Deutschland vor der Machtergreifung Hitlers zieht.374 Die Romanfiguren haben ihren Glauben an die Werte der Republik verloren: sie wissen mit ihrer Freiheit nichts mehr anzufangen, die Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft ist erdrückend und die Bürgerinnen und Bürger fühlen sich einander in keiner Weise verbunden. Nach seiner gescheiterten Konversion in der Abtei von Ligugé verspürt François wenig Lust, zurückzukehren »dans cet appartement où personne ne s’aimait, et que personne n’aimait« (SM, 228). Das vorherrschende Gefühl ist das einer absoluten Leere. Inmitten dieser Krise erreicht den Erzähler ein verlockendes Angebot: Er soll die Pléiade-Ausgabe von Huysmans Gesamtwerk herausgeben. Wie sich herausstellt, ist das Angebot ein Vorwand, um François zurück an die Universität zu holen. Eingefädelt hat das Ganze der neue Rektor der Sorbonne, Robert Rediger, dessen Name auf fast schon böswillig-ironische Art und Weise auf den für seine Islam-Kritik bekannt gewordenen Philosophie-Professor Robert Rediker anspielt.375 Der neue Rektor der Sorbonne ist ein bekennender Nietzscheaner. Dem Credo seines philosophischen Meisters folgend sieht er seine eigentlichen Ambitionen nicht in der Wissenschaft, sondern in der Politik. Genau wie Lempereur hat auch er eine eigentümliche Wandlung durchgemacht. In seiner Jugend war er Mitglied der Identitären Bewegung, konvertierte aber später zum Islam. Seit der Machtübernahme von Ben Abbes versucht er seine Kollegen an der Universität davon zu überzeugen, sich den neuen islamischen Machthabern anzuschließen. So wenig der fiktive Rediger mit dem realen Rediker gemein hat, so »unwahrscheinlich« (SM, 242) mutet das Gebäude an, in dem er wohnt und in dem Dominique Aury (alias Pauline Réage) ihre Histoire d’O (1954) geschrieben haben soll. Für François wird die Begegnung mit Rediger zu einer echten Bewährungsprobe. Der neue Universitätsrektor lässt kein Mittel ungenutzt, um ihn für seine Sache zu gewinnen. Zunächst schmeichelt er ihm (er vergleicht François mit dem jungen Nietzsche), anschließend verführt er ihn mit köstlichem Gebäck und süßem Wein; zuletzt konfrontiert er seinen Gast mit der Versuchung der Macht. Dabei greift der Roman das biblische Motiv der Versuchung Jesu durch den Teufel (Mt 4,1-11) auf. Nachdem Jesus vierzig Tage und Nächte in der Wüste gehungert hat, tritt Satan an ihn heran, um 373 Karlheinz Ruhstorfer, Freiheit – Würde – Glauben. Christliche Religion und westliche Kultur, a.a.O., S. 73. 374 »Un tel aveuglement n’avait rien d’historiquement inédit : on aurait pu retrouver le même chez les intellectuels, politiciens et journalistes des années 1930, unanimement persuadés qu’Hitler ›finirait par revenir à la raison‹. Il est probablement impossible, pour des gens ayant vécu et prospéré dans un système social donné, d’imaginer le point de vue de ceux qui, n’ayant jamais rien eu à attendre de ce système, envisagent sa destruction sans frayeur particulière« (SM, 56). 375 Vgl. Quentin Girard, »De Rediger à Rediker: d’un Robert l’autre«, in: Libération, 2. Januar 2015, https: //next.liberation.fr/livres/2015/01/02/de-rediger-a-redeker-d-un-robert-l-autre_1173234, (23.4.2019)

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

ihn drei Mal in Folge zu prüfen. Analog dazu versucht auch Rediger, den Ich-Erzähler mit drei Argumenten von der Notwendigkeit einer Konversion zu überzeugen. Mit seinem ersten Argument versucht Rediger zu beweisen, dass der Mensch seit jeher nach Erklärungen suche, die seine Erkenntniskraft übersteige. Nicht zufällig seien die intelligentesten Köpfe der Geschichte (Newton, Voltaire, Einstein) allesamt von der Existenz Gottes überzeugt gewesen. Umgekehrt zeugten sowohl der atheistische Humanismus als auch die christliche Vorstellung der Inkarnation von Arroganz und Überheblichkeit, weil sie dem Menschen jenen Platz einräumen, der einzig und allein Gott zustehe. Mit seinem zweiten Argument versucht Rediger nachzuweisen, dass die europäische Kultur nach dem Höhepunkt der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts nichts Großes mehr hervorgebracht habe.376 Damit hat Rediger die Prämissen für sein finales Argument vorbereitet, dem zufolge der Schlüssel zum menschlichen Glück nur in der freiwilligen »Unterwerfung« liegen könne: »›C’est la soumission‹ dit doucement Rediger. ›L’idée renversante et simple, jamais exprimée auparavant avec cette force, que le sommet du bonheur humain réside dans la soumission la plus absolue. […] mais il y a pour moi un rapport entre l’absolue soumission de la femme à l’homme, telle que la décrit Histoire d’O, et la soumission de l’homme à Dieu, telle que l’envisage l’Islam‹ […]« (SM 260). Mit diesem Argument spricht Rediger den Ich-Erzähler dort an, wo dieser besonders anfällig für die Versuchung ist: in seinem Unbehagen gegenüber der modernen Welt. Dieses Unbehagen speist sich aus dem Bedürfnis nach religiöser Sinnstiftung und dem Gefühl, dass die Verabsolutierung der Freiheit den Menschen unglücklich und einsam mache. Denn letztlich ist der von Gott verlassene Mensch vollkommen auf sich allein gestellt. Er ist frei, über sein Schicksal zu entscheiden und nichts und niemand kann ihm diese Entscheidung abnehmen. Das Gefühl der Verlassenheit wird noch verstärkt durch die zunehmende Individualisierung der modernen Gesellschaft. Für den Einzelnen bedeutet diese Individualisierung zwar einen Zugewinn an persönlicher Freiheit, gleichzeitig aber auch einen Verlust an traditionellen Sicherheiten. Die steigenden Wahloptionen auf der einen und das Bedürfnis nach Orientierung auf der anderen Seite verursachen bei vielen Menschen ein Gefühl der Überforderung.377 Houellebecqs Romanfiguren wissen mit ihrer Freiheit in der Regel nichts anzufangen und verfallen deshalb in Apathie. Angesichts des Fehlens von etwas, das ihnen Orientierung für das eigene Handeln bieten könnte, entscheiden sie sich für das Nichts-Tun. Sie akzeptieren 376 Der Einsicht in den kulturellen Niedergang Europas geht im Falle Redigers jedoch kein religiöses, sondern ein ästhetisches Erweckungserlebnis voraus. Erstmals verstanden habe er, dass Europa dekadent geworden sei, als die Bar des Brüsseler Hotels Métropole, ein Juwel des Art Déco und Symbol des kulturellen Höhepunktes der Moderne, für geschlossen wurde. Wenn ein Ort wie dieser, wo Kunst und Leben miteinander verschmelzen, nach so langer Zeit schließen müsse, dann sei dies ein untrügbares Zeichen dafür, dass Europa seinen »Suizid« längst abgeschlossen habe. Zumindest in dieser Hinsicht pflichtet François ihm bei: »Il avait, de toute évidence, raison ; et, même du point de vue plus restreint de l‘ ›art de vivre‹, la dégradation était considérable« (SM, 256). 377 Zu den Ursachen dieser Überforderung siehe das Kapitel »Individualisierung und Unbehagen: Die Ambivalenz der Freiheit«, in: Wolfgang Aschauer, Das gesellschaftliche Unbehagen in der EU: Ursachen, Dimensionen, Folgen, Wiesbaden: Springer, 2017, S. 349-415, insb. S. 357f.

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die sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse, obwohl sie unter der zunehmenden Vereinsamung der Menschen, dem steigenden Leistungsdruck der Gesellschaft und dem Verlust an metaphysischer Sinnstiftung leiden. Vor dem Hintergrund dieser Problematik bietet Rediger nun aber eine überraschende Lösung: Wenn die Freiheitszugewinne der Moderne dazu führen, dass wir apathisch werden und uns mit den gegebenen Verhältnissen abfinden, dann liegt in dieser Unterwürfigkeit laut Rediger zugleich der Schlüssel zur Überwindung unseres Unglücks. Tatsächlich wäre das Leben sehr viel einfacher, wie Rediger andeutet, wenn jemand anderes für uns entscheiden könnte: »[…] je vais vous poser une question qui va peut-être vous paraître surprenante : avez-vous vraiment envie de choisir ?« (SM, 293). Die zögerliche Antwort (»Eh bien… oui. Il me semble que oui«) des Ich-Erzählers lässt erahnen, wie verführerisch diese Lösung ist: Wenn die Freiheit uns überfordert, warum sie dann nicht einfach aufgeben? Das Argument ist raffiniert, aber falsch. Denn auch die Entscheidung gegen die Freiheit gründet auf einer Wahl und damit auf einem Akt der Freiheit. Es gibt – mit Sartre gesprochen – keine Möglichkeit, der menschlichen Freiheit zu entkommen. Wer seine Freiheit leugnet, belügt sich selbst (im Sinne der mauvaise foi) und leugnet damit nur seine Verantwortung für das eigene Handeln.378 Der Weg der Unterwerfung kann somit nicht die Lösung sein. Die Selbstaufgabe der Freiheit liefert keinen Ausweg aus dem Tunnel der Moderne, sondern sie stellt – mit Kant gesprochen – vielmehr einen Schritt zurück in die voraufklärerische Unmündigkeit dar. Daher wird die Argumentation des Verführers auch dieses Mal (wie schon im Fall der früheren Begegnungen) durch den Text selbst dementiert. Im Verlauf des Gesprächs bricht draußen vor dem Fenster allmählich die Nacht herein. Zu Beginn der Szene beobachtet François die untergehende Sonne über den Arènes de Lutèce: »Par la baie vitrée, je voyais le soleil se coucher sur les arènes« (SM, 249). Als Rediger sein erstes Argument vorbringt, ist die Sonne bereits hinter den Zuschauerrängen des Amphitheaters verschwunden: »Le soleil disparut derrière les gradins, la nuit envahit les arènes« (SM, 250). Am Ende des zweiten Arguments wird das Amphitheater nur noch vom künstlichen Licht der Straßenlaternen erhellt: »La nuit était tombée sur le square des arènes de Lutèce […], de rares réverbères répandaient sur les gradins une faible clarté« (SM, 258). Und als Rediger sein finales Argument vorbringt, hat die Dunkelheit der Nacht über das Licht der Vernunft gesiegt: »Dehors la lune s’était levée, éclairait à plein les gradins des arènes, sa lumière était maintenant nettement plus forte que celle des réverbères« (SM, 259). Damit wird jede Hoffnung darauf, dass eine neue Religion die abendländische Kultur erneuern könnte, zunichte gemacht. Der Islam wird den alten Kontinent Europa nicht in ein neues glänzendes Zeitalter führen, wenn dafür zentrale Errungenschaften der Aufklärung (wie Freiheit, Vernunftdenken und die Gleichberechtigung der Geschlechter) rückgängig gemacht werden müssen.379 Genau darauf läuft die

378 Vgl. hierzu Ursula Hennigfeld, »La France sera islamiste? Dystopien der Freiheit bei Rufin, Houellebecq und Sansal«, in: Borvitz, Sieglinde/Temelli, Yasmin (Hg.), Liberté e(s)t choix. Verhandlungen von Freiheit in der französischen Literatur, Berlin: Erich Schmidt, 2019, S. 251-273. 379 Bezeichnenderweise ist François‘ erste Reaktion auf das Gespräch mit Rediger ganz einfach Angst, und zwar Angst vor einem strafenden Gott, der jeden unserer Schritte überwacht: »Pour la première fois de ma vie je m’étais mis à penser à Dieu, à envisager sérieusement l’idée d’une espèce

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

Versuchung jedoch hinaus, wie der Verführer mit seiner Anspielung auf die Histoire d’O deutlich macht. Mit dem Hinweis auf die Histoire d’O lässt Rediger seine Maske fallen und beweist, woran es ihm in Wirklichkeit gelegen ist. Indem er die Unterwerfung des Menschen unter Gott gleichsetzt mit der Unterwerfung der Frau unter den Mann, zeigt er, dass es ihm nicht um die Erneuerung des Glaubens geht. Die Religion ist für ihn lediglich ein Vorwand, um machtpolitische Interessen durchzusetzen.380 Wenn Ben Abbes ein neuer Augustus sein möchte, dann ist Rediger eine Art zweiter Richelieu (SM, 290). Im Verlauf des Romans steigt er vom Universitätsrektor zum Staatssekretär und schließlich zum Minister auf. Sein oberstes Ziel ist es, die Herrschaft des neuen islamischen Regimes abzusichern. Dafür braucht er nicht nur die Unterstützung der politischen Elite, sondern auch diejenige der Intellektuellen. Unter den Hochschullehrern ist die Skepsis gegenüber dem islamischen Regime zunächst sehr groß. Doch nach anfänglichem Zögern konvertieren immer mehr Professoren zum Islam, während ihre weiblichen Kolleginnen aus dem öffentliche Leben verschwinden, was die Männer freilich nicht zu stören scheint, da sie von einer Rückkehr zum Patriarchat und der Einführung der Polygamie mehr zu gewinnen als zu verlieren haben.381 So gesehen ist Soumission nicht de Créateur de l’Univers, qui surveillerait chacun de mes actes, et ma première réaction était très nette: c’était tout simplement la peur« (SM, 263). 380 Dies wird unter anderem auch durch das Khomeyni-Zitat angedeutet, das dem fünften Teil des Romans als Motto vorangestellt ist (»Si l’islam n’est pas politique, il n’est rien«). Man sollte dieses Zitat jedoch nicht als eine Warnung vor dem Islam verstehen. Houellebecq selbst hat den Vorwurf, er habe einen islamfeindlichen Roman geschrieben, in aller Deutlichkeit zurückgewiesen. Vgl. hierzu das öffentliche Statement des Autors auf der Lit Cologne am 19.1.2015, zwölf Tage nach dem Anschlag auf das Satire-Magazin Charlie Hebdo: »Le début de mes interviews pour Soumission était pénible parce que j’eu l’impression de répéter en boucle ›Soumission n’est pas un roman islamophobe‹. Maintenant ça risque de devenir plus pénible parce que je vais être obligé de répéter en boucle deux choses. 1, Soumission n’est pas un roman islamophobe, 2, on a parfaitement le droit d’écrire un livre islamophobe si on veut. Cela m’est arrivé d’avoir envie que Soumission soit un livre islamophobe parce que ça aurait simplifié le message. Mais non, non plus en fait, il ne faut pas se laisser influencer, ni dans un sens, ni dans l’autre.« Zit. nach: Agnieszka Komorowska, »›Mais c’est d’une ambiguïté étrange‹«, a.a.O., S. 162-163. Damit reagiert Houellebecq auf Vorwürfe, wie sie beispielsweise Laurent Joffrin, der Chefredakteur von Libération, in einer Besprechung des Romans geäußert hatte. Darin heißt es, Houellebecqs Buch sei ein offizieller Ritterschlag für Marine Le Pen. Es spiele auf subtile Weise mit den Ängsten der Franzosen und verleihe dem Gedankengut der Neuen Rechten eine offizielle Würde »dans le noble monde des lettre«. Vgl. Laurent Joffrin, »Soumission, Le Pen au Flore«, in: Libération, 2.1.2015, https://next.liberation.fr/livres/2015/01/02/le-p en-au-flore_1173182 (zuletzt eingesehen am 30.7.2019). Man kann dieser Einschätzung nur widersprechen: Soumission warnt nicht vor einer islamischen Bedrohung, wie allenthalben behauptet wurde, sondern vor den Gefahren einer politischen Instrumentalisierung der Religion. Nicht der Islam ist das Problem, sondern die Menschen, die ihn für ihre eigenen Interessen missbrauchen. Es ist darum auch einigermaßen bezeichnend, dass die gefährlichste Figur im ganzen Roman kein muslimischer Einwanderer ist, sondern ein Konvertit, der im Herzen Europas aufgewachsen ist. Im Gespräch mit François erklärt der Verführer Rediger: »Oui, je suis d’origine belge… Je suis toujours belge d’ailleurs, je ne me suis jamais fait naturaliser, bien que je sois en France depuis vingt ans maintenant« (SM, 247). 381 Dieser Umstand zeigt abermals, dass Houellebecq keinen islamfeindlichen Roman geschrieben hat. Die ironische Pointe von Soumission besteht ja gerade darin, dass Traditionalisten und Iden-

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nur ein Lehrstück dafür, wie kollektive Lethargie zum Verlust der Freiheit führen kann, sondern gleichzeitig auch eine Parabel auf die opportunistische Natur des Menschen. Michel Onfray hat Soumission mit gutem Recht als einen Roman der Kollaboration gelesen.382 Entscheidend ist aber, dass die Romanfiguren nicht aus Feigheit handeln, sondern aus purem Opportunismus. Steve gesteht dem Ich-Erzähler, dass er anfangs lange gezögert habe, doch das Gehalt, das ihm die Universität bezahle, sei wirklich »interessant« (SM, 180). Darüber hinaus stehe er kurz davor, sich eine zweite Ehefrau zu nehmen. Die Gründe für das opportunistische Verhalten sind banal: eine Konversion zum Islam verspricht neben Geld vor allem die Aussicht auf eine Vielehe. Der Roman spart nicht an Komik, um das Verhalten der männlichen Kollaborateure zu entlarven. Während François noch mit sich hadert, findet an der Sorbonne ein Empfang zur feierlichen Wiederaufnahme eines ehemaligen Kollegen statt.383 Dieser Kollege hat den sprechenden Namen Jean-François Loiseleur und ist ein Spezialist für die Lyrik des Parnasse-Dichters Leconte de Lisle.384 Äußerlich wirkt er wie eine Parodie des »savant Cosinus« (SM, 286), einer Comic-Figur des Zeichners Marie-Louis-Georges Colombe (genannt Christophe), die ab 1893 in verschiedenen Feuilletons veröffentlicht wurde. Nichts würde erwarten lassen, dass er sich überhaupt für das weibliche Geschlecht interessiert. Doch François gegenüber erzählt er völlig ungeniert, dass ihm die neue Universitätsverwaltung eine Ehefrau vermittelt habe: »Ils m’ont trouvé ça« (SM, 288). Die Verwendung des verkürzten Demonstrativpronomens (»ça«), durch das Loiseleur die Frauen zu Objekten degradiert, macht ihn ebenso lächerlich wie die versteckte Anspielung auf Papageno, den komischen »Vogelfänger« aus Mozarts Zauberflöte, in seinem titäre auf der einen und konservative Muslime auf der anderen Seite im Grunde genommen gar nicht viel voneinander unterscheidet. Im Gegenteil: Die beiden Lager sind sich in wesentlichen Punkten völlig einig, wie Rediger in einem seiner Artikel schreibt: »Il était tragique, plaidit-il avec ferveur, qu’une hostilité irraisonnée à l’islam les [ses anciens camarades traditionalistes et identitaires, GF] empêche de reconnâitre cette évidence : ils étaient, sur l’essentiel, en parfait accord avec les musulmans. Sur le rejet de l’athéisme et de l’humanisme, sur la nécessaire soumission de la femme, sur le retour au patriarcat : leur combat, à tous points de vue, était exactement le même« (SM, 275). 382 Vgl. Michel Onfray, Miroir du nihilisme. Houellebecq éducateur, Paris: Galilée, 2017, S. 43ff. 383 »L’assistance était composée de l’habituel mélange d’universitaires français et de dignitaires arabes ; mais il y avait cette fois beaucoup de Français, j’avais l’impression que tous les enseignants étaient venus. C’était assez compréhensible : se plier à la férule du nouveau régime saoudien était encore considéré par beaucoup comme un acte un peu honteux, un acte pour ainsi dire de collaboration ; en se réunissant entre eux ils faisaient nombre, se donnaient mutuellement du courage, et leur satisfaction était grande lorsque l’occasion leur était donnée d’accueillir un nouveau collègue« (SM, 287; Hervorhebung im Original). 384 Leconte de Lisle war lange Zeit Redakteur der fourieristischen Zeitschriften La Phalange und La Démocratie pacifique, bevor er völlig unpolitisch wurde und sich in die autonome Welt des l’art pour l’art zurückzog. Als überzeugter Republikaner war er zunächst ein scharfer Kritiker von Louis Napoléon Bonaparte, schloss jedoch später seinen Frieden mit dem Regime. Es wird berichtet, dass er eine ihm angebotene Pension des Kaisers abgelehnt haben soll, weil er mit dessen Politik nicht einverstanden war. Wie sich später herausstellte, hatte Leconte de Lisle die Pension seit 1864 aber dennoch erhalten. Vgl. Hans Ludwig Scheel, »Leconte de Lisle«, in: Lange, Wolf-Dieter (Hg.), Französische Literatur des 19. Jahrhunderts, Bd. 2: Realismus und l’art pour l’art, Heidelberg: Quelle & Meyer, 1980, S. 112-128, hier S. 127.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

Namen. Genauso wie Papageno am Ende seine Papagena findet, bekommt dank der Hilfe des islamischen Regimes am Ende sogar ein schrulliger alter Wissenschaftler noch eine Frau. Zu allem Überfluss trägt Loiseleur auch noch das Band der Ehrenlegion, was als deutliches Ironie-Signal des Textes zu verstehen ist.385 Unter den männlichen Kollegen an der Sorbonne breitet sich der Opportunismus wie eine Epidemie aus, was durch eine besondere Krankheitsmetaphorik ausgedrückt wird. So wird der Ich-Erzähler im weiteren Verlauf von einer sonderbaren PilzKrankheit befallen: »Un rendez-vous de dermatologue m’apprit que l’affection s’était compliquée d’une mycose due à des champignons opportunistes qui avaient colonisé la zone touchée« (SM, 206). Die Rückkehr zum Patriarchat kann nur gelingen, weil die Institutionen (»la zone touchée«) von Personen infiltriert (»colonisé«) werden, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Dass es sich dabei ausschließlich um Männer handelt, liegt auf der Hand, schließlich sind sie die eigentlichen Gewinner (»champignons opportunistes«) des gesellschaftlichen Umbaus. Auch der Ich-Erzähler ist nicht immun gegen die Krankheit. Rediger macht ihm noch einmal klar, was er durch seine Unterstützung des Regimes gewinnen könnte: »une épouse de cinquante ans pour la cuisine, une de quinze ans pour d’autre choses…« (SM, 262). Die Aussicht auf ein erfüllendes Leben mit mehreren Ehefrauen ist so verlockend, dass François seinen Versucher nicht sofort zurückweist, sondern dessen Buch Dix question sur l’Islam mit nach Hause nimmt, um sich das Angebot zu überlegen. Ob er am Ende auf den »Pakt« (SM, 232) mit dem Teufel eingeht oder nicht, bleibt jedoch offen. Der Romanschluss deutet eine solche Möglichkeit zwar an, doch die Schilderung seiner Konversion zum Islam erfolgt im Modus des conditionnel.

4.5.7

Der offene Romanschluss als Verfahren der Ambiguisierung

Eingeleitet wird der Romanschluss durch den Gebrauch eines Modaladverbs. Nach dem Gespräch mit Rediger erlebt der Ich-Erzähler erstmals seit Langem seine Freiheit als bereichernd: »[…] je commençais à prendre conscience – et ça, c’était une vrai nouveauté – qu’il y aurait, très probablement, autre chose« (SM, 295, meine Hervorhebung). Das Adverb erfüllt in diesem Zusammenhang eine nicht unerhebliche Funktion, denn es betont den Umstand, dass die finale Konversion des Ich-Erzählers zwar sehr wahrscheinlich, aber keineswegs sicher ist.386 Entsprechend lässt der im conditionnel gehaltene Roman385 Mit dieser Auszeichnung befindet sich Loiseleur in bester Gesellschaft. Schon bei Balzac dient das Kreuz der Ehrenlegion als Ausweis für den opportunistischen Charakter einer Romanfigur. In der Eingangsszene von La Cousine Bette (1846) trägt der bürgerliche Monsieur Crevel das Band der Ehrenlegion auf der Brust, kurz bevor er der tugendhaften Baronin Adeline Hulot sein unmoralisches Angebot unterbreitet (CB, 29). Ein weiteres Beispiel dafür, dass diese Auszeichnung oftmals als Ironie-Signal zu deuten ist, liefert der berühmte Schlusssatz von Madame Bovary (1857), der mit dem Hinweis auf Homais und dessen Aufnahme in die Ehrenlegion endet. 386 Der Roman selbst bereitet den Leser auf diese Unterscheidung vor. Während der Fahrt nach Ligugé erfährt François von einem Taxifahrer, dass ein berühmter Schauspieler kürzlich das Kloster besucht habe: »la semaine derrière, il avait chargé un acteur américain célèbre – il n’arrivait plus à se souvenir de son nom, mais il était certain de l’avoir déjà vu dans des films ; une brève enquête établit qu’il pouvait, probablement mais pas certainement, s’agir de Brad Pitt« (SM, 211). Ob es sich tatsächlich um den berühmten US-Schauspieler handelt, ist dabei unerheblich. Wichtig

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schluss von Soumission zwei ganz verschiedene Lesarten zu. Auf den ersten Blick scheint eine Konversion des Ich-Erzählers naheliegend. Tatsächlich hätte François nichts zu bereuen, wie es im Schlusssatz des Romans heißt: »Je n’aurais rien à regretter« (SM, 300). Eine Konversion verspräche Geld, Macht, Frauen und Prestige, ohne ihm etwas abzuverlangen. Man kann daher vermuten, dass François am Ende – genauso wie sein Vorbild Huysmans – aus reiner Bequemlichkeit konvertieren wird.387 Doch das Gegenteil ist ebenfalls möglich. Es gibt durchaus Indizien, die nahelegen, dass der Erzähler nicht mit den neuen Machthabern paktieren wird. Im Unterschied zu Huysmans ist François nämlich kein Ästhet, sondern er sucht nach etwas, das seinem Leben einen tieferen Sinn verleihen könnte. Aber genau dies kann Rediger ihm nicht bieten. Der Islam, wie Rediger ihn verkörpert, kann das Bedürfnis nach Religiosität nicht erfüllen, weil er in erster Linie ein politisches Herrschaftsinstrument ist. Eine Unterwerfung wäre darum auch keine echte Bekehrung, die eine innere Wandlung voraussetzt, und François nach seiner Konversion kein neuer Mensch (kein neuer Paulus, der seinen Saulus hinter sich gelassen hat), sondern er wäre nach wie vor derselbe. Obwohl François in seinem neuen Leben als Muslim nichts zu bereuen hätte, ist es doch sehr wahrscheinlich, dass die im Romanschluss von Soumission imaginierte Konversion letztlich ins Leere laufen wird. Seine materiellen Bedürfnisse würden dadurch befriedigt, aber das Gefühl einer existentiellen Leere bliebe bestehen.388 Aus dem offenen Romanschluss erwächst somit eine besondere Ambiguität. Einerseits ist denkbar, dass François die ihm angebotene Chance eines Neuanfangs ergreift und sich am Ende zum Islam bekennt. Ein solcher Neuanfang würde die Selbstaufgabe bzw. Selbstverleugnung der eigenen Identität voraussetzen, doch man kann annehmen, dass dem Erzähler der Abschied von der laizistischen Tradition Frankreichs nicht sonderlich schwerfallen würde. François hätte buchstäblich nichts (»rien«) zu bereuen, weil

ist allein, dass der Roman bereits an dieser Stelle eine Unterscheidung trifft zwischen dem, was wahrscheinlich ist, und dem, was als sicher gelten kann. 387 Während der Arbeit an der Préface für die Pléiade-Ausgabe muss François seine eigene These revidieren, wonach die Konversion des Schriftstellers Huysmans zum Katholizismus »unvermeidlich« war. In seiner Doktorarbeit hatte er noch angenommen, dass Huysmans nach dem Erfolg von A Rebours zwangsläufig zum Glauben seiner Kindheit zurückkehren musste. Nun aber erkennt François, dass er sich von den Aussagen des Autors (in dessen zwanzig Jahre später verfassten Vorwort zu A Rebours) manipulieren ließ. Sicherlich haben religiöse Motive für seine Konversion eine Rolle gespielt, doch der eigentliche Grund, der ihn zum Katholizismus brachte, war der Umstand, dass Huysmans sein bisheriges Leben – einschließlich gutem Essen und Tabak – auch im Kloster weiterführen konnte (SM, 264). 388 Die Intertextualität unterstützt diese Interpretation. Ulrike Schneider hat gezeigt, dass der Schlusssatz von Soumission ein Zitat aus dem Roman Les Choses (1965) von Georges Perec ist. Im Mittelpunkt dieses Romans steht ein junges Paar, das, der westlichen Konsumgesellschaft überdrüssig, nach Tunesien auswandert, um dort ein neues Leben zu beginnen. Als dieses Ziel misslingt, kehren die beiden zurück nach Frankreich und führen ihr altes Leben fort. Das Schlusskapitel von Perecs Roman stellt in Aussicht, dass die beiden in ihrer bürgerlichen Existenz nicht glücklich werden, obwohl es ihnen an nichts fehlen wird. Genau wie das Pärchen aus Perecs Roman erwartet auch François nach einer Konversion kein glücklicheres Leben, da sein Bedürfnis nach religiöser Sinnstiftung weiter bestehen bliebe. Vgl. Ulrike Schneider, »›Il n’y a pas de liberté sans une dose de provocation possible‹«, a.a.O., S. 170f.

4. Schreibweisen des ›Realismus‹ in der Postmoderne

ihn »nichts« mehr mit seiner eigenen Kultur verbindet. Andererseits deutet vieles darauf hin, dass die Erneuerung der Kultur mit Hilfe des Islam kein wirklicher Neuanfang wäre. Zwei Dinge würde François nämlich auf jeden Fall vermissen: seine jüdische ExFreundin Myriam und die Schwarze Madonna. Nicht zufällig gilt sein letzter Gedanke im Roman noch einmal Myriam: »J’aurais certainement avant de prononcer mon discours de réponse […] une ultime pensée pour Myriam« (SM, 299, meine Hervorhebung). Myriam steht stellvertretend für das Schicksal der französischen Juden und der Frauen im Roman. Dieses Schicksal teilt sie mit der biblischen Prophetin Mirjam, deren Beteiligung am Auszug aus Ägypten häufig vergessen und verdrängt wird.389 Im Alten Testament wird Mirjam als »Schwester« von Moses und Aaron bezeichnet. Zusammen mit diesen führt sie das Volk der Israeliten aus der Knechtschaft der Ägypter in das Gelobte Land. Als Prophetin wird Mirjam (Maryam) auch im Koran genannt, wo sie außerdem mit Maria, der Mutter Jesu, gleichgesetzt wird.390 Durch die Figur der weiblichen Prophetin sind somit alle drei abrahamitischen Religionen miteinander verbunden. Myriam verkörpert darüber hinaus etwas, das der Erzähler selbst nicht kennt, nämlich ein intaktes Familienmodell. François erinnert sich an einen Besuch bei der Familie seiner Freundin, der ihn zu Tränen gerührt hat: »C’était une tribu, une tribu familiale soudée ; et par rapport à tout ce que j’avais connu c’était tellement inouï que j’avais eu beaucoup de mal à m’empêcher d’éclater en sanglots« (SM, 111). Aber die Zukunft von Myriam liegt nicht in Frankreich, sondern in Israel. Obwohl sie aufs engste mit der französischen Geschichte verwachsen ist (»Mon pays, c’est la France«), gibt es für sie und ihre Familie dort nichts mehr, für das es sich zu kämpfen lohnt. Auf die Frage, was Frankreichs Identität ausmache, hat Myriam bezeichnenderweise keine wirkliche Antwort: »›J’aime la France !…‹ dit-elle d’une voix de plus en plus étranglée, ›j’aime, je sais pas… j’aime le fromage !‹« (SM, 104). Hinter der Komik dieser Antwort schwingt eine ernste Problematik mit, wie überhaupt bei Houellebecq Komik meist ein Indikator dafür ist, dass etwas Ernsthaftes verhandelt wird. In Soumission betrifft dies die Frage nach den verbindenden, identitätsstiftenden Elementen einer Kultur. Myriam findet in Israel etwas, das sie in Frankreich nie gefunden hat. Israel ist für sie ein Ort, wo man trotz der Gefahren, denen die Menschen ausgesetzt sind, glücklich leben kann. Für Myriam ist Israel ein Land, wo die Religion der eigenen Existenz einen »Sinn« geben kann: »C’est dur, mais on sait pourquoi on est là« (SM, 184). Für François gibt es einen solchen Ort nicht: »Il n’y a pas d’Israël pour moi« (SM, 112). Das Christentum hat seine identitätsstiftende Funktion eingebüßt und der Islam vermag diese Lücke im Roman vorerst nicht zu schließen. Zwar setzt die islamische Regierung ein Programm zur Stärkung der Familie auf; doch diese Aufwertung ist erkauft um den Preis einer 389 Trotz ihrer zentralen Rolle beim Auszug aus Ägypten wird die Beteiligung von Mirjam in der Bibel kaum ausgestaltet. Es wird lediglich erwähnt, dass Mirjam nach der Durchquerung des Roten Meeres ein Lied vorträgt (Ex 15, 21). Später wird berichtet, dass sie eine Auseinandersetzung mit Mose um die Frage der Mischehe hat (Num 12, 1-16), woraufhin Mirjam vorübergehend von Gott mit Aussatz bestraft wird, weil sie die Autorität Moses in Frage stellt. Vgl. Ursula Rapp, Mirjam. Eine feministisch-rhetorische Lektüre der Mirjamtexte in der hebräischen Bibel, Berlin/New York: de Gruyter, 2002. 390 Arent Jan Wensinck, »Maryam«, in: Wensinck, Arent Jan/Kramers J. H. (Hg.), Handwörterbuch des Islam, Leiden: Brill, 1976, S. 421-423.

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Rückkehr zum Patriarchat. Sie kann daher kaum die Lösung sein, um die erschöpfte abendländische Kultur Europas neu zu beleben. Gibt es für die säkularisierten Gesellschaften Westeuropas also keinen Ausweg aus dem Tunnel der Moderne? In der Welt von Houellebecqs Romanen ist das Unbehagen an der modernen Welt allgegenwärtig. Nichts vermag dieses Unbehagen zu beseitigen: Politische Reformen sind bloß temporäre Verbesserungen eines Zustandes, bringen aber keine dauerhafte Lösung. Glaube und Religion könnten helfen, werden aber durch die modernen Wissenschaften zunehmend in Frage gestellt. Gleichzeitig nimmt in den liberalen Gesellschaften Westeuropas die Vereinsamung des Einzelnen zu. Wo Menschen früher durch die Religion verbunden waren, da treibt der Liberalismus sie heute auseinander. Wo Individuen sich durch die Zugehörigkeit zu einer Kulturgemeinschaft definierten, da bringt der Kapitalismus alle kulturellen Unterschiede zum Verschwinden. Solange es keine Aussicht gibt, dass sich an diesem Zustand etwas ändert, solange bleibt für die Romanfiguren von Houellebecq nur »cet étrange pouvoir de la littérature« (SM, 67). Denn die Literatur besitzt die Macht, zwei Bewusstseine miteinander in Kontakt zu bringen: »seule la littérature peut vous donner cette sensation de contact avec un autre esprit humain« (SM, 14), heißt es gleich zu Beginn des Romans. Und weiter: »[…] un auteur c’est avant tout un être humain, présent dans ses livres, qu’il écrive très bien ou très mal en définitive importe peu, l’essentiel est qu’il écrive et qu’il soit, effectivement, présent dans ses livres« (SM, 13). Claude Pérez meint, dass die Lektüre bei Houellebecq einer feierlichen »Kommunion« zwischen dem Autor und dem Leser gleicht.391 Genauso wie nach christlichem Glauben die reale Präsenz Christi im Moment der Eucharistie gegeben ist, genauso ist der Autor (nicht als »individualité propre«, sondern als ein »être incertain«) in seinem Text präsent, so dass zwei menschliche Bewusstseine selbst nach dem Tod des Autors (»à quelques siècles de distance«) noch miteinander kommunizieren können. Die Literatur übernimmt bei Houellebecq gewissermaßen die Funktion einer Ersatzreligion. Sie macht das, was die Religion zu leisten nicht mehr imstande ist: Sie stellt eine Verbindung zwischen den Menschen her. Diese Verbindung ist jedoch weniger intellektueller, sondern vielmehr affektiver und emotionaler Natur: »De même, un livre qu’on aime, c’est avant tout un livre dont on aime l’auteur, qu’on a envie de retrouver, avec lequel on a envie de passer ses journées« (SM, 14).

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Vgl. Claude Pérez, »Houellebecq, le vingt-heures et l’art du roman. À propos de Soumission«, in: Revue critique de Fixxion Française Contemporaine 11, 2015: 112-120, hier S. 119.

5. Zusammenfassung

Gegenstand der vorliegenden Untersuchung waren Schreibweisen des ›Realismus‹ in Romanen von Balzac und Houellebecq. Bekanntermaßen ist die traditionelle Erzählweise Balzacs im Zuge der diversen Erneuerungsbemühungen des Romans im 20. Jahrhundert in Verruf geraten und wurde infolgedessen mehr und mehr durch das Konzept einer selbstbezüglichen écriture verdrängt. Seit etwa 1980 lässt sich in Frankreich jedoch eine Rückbesinnung auf ältere Erzählmodelle beobachten, weshalb in der Forschung neuerdings von einer ›Rückkehr‹ (W. Asholt) bzw. ›Wiederkehr des Realismus‹ (J. Link) zu hören ist. Die hier vorliegende Studie knüpft an diese These an. Sie versteht unter ›Realismus‹ keinen literarhistorischen Epochenbegriff, sondern eine historisch variable Schreibweise im Sinne Roland Barthes. In Le degré zéro de l’ecriture (1953) bestimmt Barthes die écriture als eine dritte »réalité formelle«1 neben der Sprache und dem Stil. Weder die Sprache noch der Stil treffen laut Barthes den »Kern der literarischen Problematik«, weil sie vom Schriftsteller nicht bewusst gewählt werden können und daher außerhalb seines Verantwortungsbereiches liegen.2 Die Schreibweise hingegen bindet den Schriftsteller an die Gesellschaft. Sie bedeutet eine Art und Weise, die Literatur zu konzipieren (»une façon de penser la Littérature«) und ist damit Ausdruck der Freiheit und Verantwortung des Schriftstellers, der sich auf diese Weise für oder gegen eine bestimmte Tradition entscheidet. Barthes bezeichnet sie deshalb auch als die »Moral der Form«3 . Im Fall von Houellebecq, so die zentrale These dieser Studie, liegt diese Freiheit in der Wahl einer Schreibweise, die mit den Mitteln der Moderne und der Postmoderne für den Erhalt der Tradition kämpft. Darin besteht das paradoxe Unternehmen seines Romanprojektes.

1 2

3

Roland Barthes, Le degré zéro de l’écriture, a.a.O., S. 15. Während die Sprache einen unhintergehbaren »Horizont« des Schreibens für alle Schriftsteller einer Epoche darstellt, ist der Stil gewissermaßen biologischer Natur, denn er ist unmittelbar mit der Person und der Geschichte des Schreibenden verknüpft: »Indifférent et transparent à la société, démarche close de la personne, il [le style] n’est nullement le produit d’un choix d’une réflexion sur la littérature. Il est la part privée du rituel, il s’élève à partir des profondeurs mythiques de l’écrivain, et s’éploie hors de sa responsabilité.« Ebd., S. 16. Ebd., S. 19.

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Wirklichkeit im Wandel

Wie anhand der komplizierten Theorie-Debatte im 20. Jahrhundert gezeigt werden konnte, unterscheiden sich die Bestimmungsversuche des ›Realismus‹ in ihren jeweiligen methodischen Prämissen deutlich voneinander. Eine einheitliche Definition des ›Realismus‹ sucht man daher vergeblich. Auffällig ist, dass sich die Frage nach dem Wirklichkeitsgehalt der Darstellung im Laufe des 20. Jahrhunderts von der nachzuahmenden Wirklichkeit (Auerbach, Lukács) über die formalen Techniken (Jakobson) und Konventionen der Darstellung (Genette, Todorov) hin zu der Frage nach dem spezifischen Wissen (Barthes) der Literatur verschoben hat. Damit einher ging eine normative Umbewertung des ›Realismus‹: während die frühen Apologeten (Lukács, Auerbach) die gesellschaftskritische Dimension des ›realistischen‹ Romans betonen, erkennen poststrukturalistische Kritiker (Barthes) darin eine ideologisch fragwürdige (›lesbare‹) Literatur. Als dominante Merkmale des ›Realismus‹ wurden herausgearbeitet: ein unmittelbarer Zeitbezug der Romane, eine gewisse Vordergründigkeit des Erzählens, der Einsatz spezieller narrativer Techniken der Illusionsbildung, eine starke Tendenz zur Essentialisierung und zur Verallgemeinerung, der Einbau von Wirklichkeitsreferenzen sowie die Bezugnahme auf epistemische Diskurse, die eng zusammenhängt mit dem Wahrheits- bzw. Aufrichtigkeitsanspruch ›realistischer‹ Literatur. Wie in der Analyse der Romane deutlich wurde, wird dieser Anspruch durch die Metaphorik in vielen Fällen unterminiert. ›Realistische‹ Texte operieren daher auf zwei verschiedenen Ebenen: auf einer ersten, nicht-figurativen Ebene wird mittels der beschriebenen Techniken und Verfahren ein fiktives Wirklichkeitsmodell entworfen; auf einer zweiten, symbolischen Ebene wird dieses Wirklichkeitsmodell mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladen und dadurch implizit bewertet. Für die Interpretation der Romane wurde in den einzelnen Kapiteln außerdem mit kulturwissenschaftlichen Theorien wie dem Konzept des mimetischen Begehrens und der Sündenbock-Theorie (des Kulturanthropologen René Girard), der Theorie des Parasiten (des Philosophen Michel Serres), der Gaben-Theorie (des Soziologen Marcel Mauss) sowie dem Kulturmodell (des englischen Historikers Arnold Toynbee) gearbeitet. Einen wichtigen Zugang für das Verständnis von Houellebecqs Romanen lieferten ferner die Philosophie Schopenhauers und das positivistische Wissenschaftsmodell von Auguste Comte. Den Ausgangspunkt des Vergleichs zwischen Balzac und Houellebecq bildete die Untersuchung einschlägiger programmatischer Schriften der beiden Autoren. In seinem »Avant-propos« zur Comédie humaine stellt Balzac den Schriftsteller auf eine Stufe mit dem Historiker und dem Naturforscher und begründet damit den Roman als Wissenschaft. Auch Houellebecq begreift den Roman in erster Linie als ein Erkenntnismedium, wie aus der Untersuchung seiner literaturtheoretischen Texte hervorging. Gemäß dem Vorbild Balzacs sieht er die vorrangige Aufgabe des Schriftstellers darin, ein möglichst zutreffendes Bild der eigenen Epoche zu entwerfen. Dementsprechend führt Houellebecq das gesellschaftskritische Projekt der Comédie humaine in seinen eigenen Romanen fort, ergänzt es aber gleichzeitig um eine allgemeine Kritik der westlichen Zivilisation. In seinem Vorwort formuliert Balzac das Ziel, eine Sittengeschichte (»histoire des mœurs«) der französischen Gesellschaft schreiben zu wollen. Seine Romane schildern die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verwerfungen im Frankreich der Restaurationszeit und Juli-Monarchie. Analog dazu entwirft Houellebecq in seinen

5. Zusammenfassung

Texten eine Sitten- und Mentalitätsgeschichte (»évolution des mœurs«) Frankreichs und Westeuropas von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart. Beide Autoren begreifen ihre Aufgabe als Schriftsteller somit in erster Linie als eine geschichtsphilosophische Tätigkeit. Die Zeitdiagnose der Romane erfolgt dabei jeweils vor dem Hintergrund eines besonderen Krisenmoments: im Fall von Balzac sind dies die tiefgreifenden Umwälzungen der französischen Gesellschaft im Zuge der sozialen Revolutionen von 1789 und 1830; im Fall von Houellebecq die soziale und wirtschaftliche Transformation Frankreichs (und des Westens) im Übergang von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft. Wie bei Balzac geht die Beschreibung der Gegenwart auch bei Houellebecq mit einer Suche nach den Ursachen dieser Transformationsprozesse einher. Allerdings wird der Blick zurück in die Vergangenheit bei ihm um einen Blick nach vorne ergänzt: Houellebecqs Romane sind sowohl Ursachensuche als auch Antizipation einer möglichen Zukunft. Sie beschreiben eine Gegenwart, die das Ergebnis zurückliegender Ereignisse ist, aus der aber auch neue Fluchtlinien hervorgehen, die mögliche Entwicklungstendenzen der Gesellschaft und der Kultur vorwegnehmen. Aus Sicht von Balzac war die Französische Revolution ein Ereignis vom Ausmaß einer Naturkatastrophe, denn sie hat Energien freigesetzt, die durch keine übergeordnete Instanz mehr eingedämmt und kontrolliert werden können. Die Monarchie und die Religion haben ihre Funktion als Korrektiv der Leidenschaften eingebüßt und mit der Abdankung Napoleons hat die französische Nation darüber hinaus ihre symbolische Vaterfigur verloren. Literarisch vermittelt wird diese Zeiterfahrung in den Romanen in Form von Geschichten über den Aufstieg und Niedergang zweier Familien, die als Synekdoche für die Gesellschaft im Ganzen dienen. Die Romanfiguren sind Allegorien für soziale Machtkämpfe zwischen den antagonistischen Klassen des Adels und des Bürgertums. Der zentrale Klassenkonflikt entwickelt sich jedoch aus der ›mimetischen‹ Natur des Begehrens. Die Figuren missgönnen einander ihren sozialen Status, ihre Privilegien und ihren Reichtum; sie begehren zumeist genau das, was die je Anderen besitzen. Daraus entsteht eine Spirale eskalierender Gewalt, die in den beiden untersuchten Romanen – La Cousine Bette (1846) und Le Cousin Pons (1847) – aus gegensätzlichen Perspektiven erzählt wird: Während Lisbeth aufgrund ihrer »wilden« Natur als Allegorie für das latent vorhandene Gewaltpotenzial der unteren Gesellschaftsklassen aufgefasst werden kann, verweist Pons in seiner Eigenschaft als Sündenbock der Familie auf Ausgrenzungsmechanismen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, die damit ihre eigene Gewalt verschleiert. Was für Balzac die sozialen Revolutionen von 1789 und 1830 waren, das ist für Houellebecq die sexuelle Revolution von 1968. Die Ereignisse vom »Mai 1968« markieren für ihn einen Wendepunkt in der jüngeren Geschichte der westlichen Kultur. Vor dem Hintergrund dieser Zeitdiagnose beschreiben seine Romane (genau wie diejenigen Balzacs) einen moralischen Werteverfall der Gesellschaft. Dieser Werteverfall wird in den untersuchten Texten – Extension du domaine de la lutte (1994), Les particules élémentaires (1998), La carte et le territoire (2010) und Soumission (2015) – als eine Folge der gesellschaftlichen Liberalisierung dargestellt. Houellebecqs Interesse gilt dabei nicht den Gewinnern, sondern den Verlierern dieser Entwicklung, denjenigen, die frustriert sind, weil ihnen der Zugang zum ›Markt der Körper‹ versagt bleibt. Seine Romane schildern die Pathogenese von Gewalt, Hass und Rassismus als Folge nicht einer sozialen, sondern einer sexuellen

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Ausgrenzung. Gleichzeitig zeigen sie die Auswirkungen einer enthemmten Sexualität, die keinerlei moralische Tabus mehr kennt. Seine Romanfiguren werden (genau wie diejenigen Balzacs) buchstäblich von ihrem eigenen Begehren zerfressen. Der sexbesessene Bruno aus Les particules élémentaires ist in dieser Hinsicht ein legitimer Nachfahre des erotomanischen Barons Hulot aus La Cousine Bette, während der einsame Tisserand aus Extension du domaine de la lutte ein Erbe des verstoßenen Titelhelden aus Le Cousin Pons ist. Beide Autoren setzen sich intensiv mit dem Wandel des jeweils gültigen Liebesmodells auseinander. Balzacs Romane ironisieren den vorherrschenden Liebesdiskurs ihrer Zeit und entlarven das romantische Sprechen über die Liebe als naiv. In der bürgerlichen Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts, wie sie Balzac beschreibt, herrscht ein auf ökonomischen und machtpolitischen Interessen gestütztes Allianz-Dispositiv der Ehe. Aus der »comédie du sentiment moderne« (CB, 122) des bürgerlichen Zeitalters ist im Übergang zum 21. Jahrhundert eine »comédie de l’amour physique« (PE, 144) geworden. Houellebecqs Romane explorieren die Möglichkeit von Liebe unter den Bedingungen einer narzisstischen Gegenwartskultur und stellen ernüchtert fest, dass die Menschen ihre Fähigkeit zur selbstlosen und uneigennützigen Gabe – denn als solche wird die Liebe bei ihm beschrieben – verloren haben. Bei Houellebecq ist die Liebe ein flüchtiges Glück, das am Ende an der Unzulänglichkeit der Figuren und den Gegebenheiten der modernen Welt scheitert. Dennoch glauben seine Erzähler fest an die Liebe, wenngleich sie wissen, dass sie nur unter speziellen Bedingungen gedeihen kann (»dans des conditions mentales spéciales, rarement réunies, en tous points opposées à la liberté de mœurs qui caractérise l’époque moderne«; EDL, 114). Die Kunst ist neben der Liebe ein weiteres verbindendes Thema der Autoren. Balzac beschreibt die Entstehung eines kapitalistischen Tauschwarensystems, das den ästhetischen Wert eines Kunstwerks an seinem ökonomischen Mehrwert bemisst. Gleichzeitig verabschiedet er sich von der romantisch gefärbten Vorstellung einer künstlerischen Subjektivität, die sich vor allem durch die Spontaneität ihrer Eingebung auszeichnet. An die Stelle der romantischen Inspiration tritt bei Balzac die Vorstellung von der Kunst als Arbeit. Houellebecq thematisiert die Exzesse eines Kunstmarktes, der künstlerische Artefakte nur mehr als Spekulationsobjekte auffasst. Auf diese Weise illustrieren seine Romane zugleich das Scheitern der historischen Avantgarden im frühen 20. Jahrhundert mit ihrem Versuch, die Kunst in Lebenspraxis zu überführen. Einer vormodernen Kunstauffassung bleibt Houellebecq auch dahingehend verpflichtet, dass er die Literatur als Ausdruck einer schöpferischen Persönlichkeit auffasst (»Ce n’est pas une forme d’art particulière, une manière qui m’intéresse, c’est une personnalité, un regard posé sur le geste artistique, sur sa situation dans la société«; CT, 110). Balzac und Houellebecq behandeln in ihren Romanen aber nicht nur ähnliche Themen, sie greifen dazu auch auf nahezu identische Darstellungstechniken (wie sprechende Namen, Tiervergleiche oder Farbsymboliken) zurück. Besonders auffällig ist, dass beide Autoren die Zerfallserscheinungen des Sozialen mit Hilfe einer Krankheitsmetaphorik umschreiben. Aus Sicht von Balzac krankt die bürgerliche Gesellschaft an einem Mangel an Religion und Moral. Ursache dieser Krankheit sind das Geld und die ausufernde Finanzspekulation. Das Geld, so die den Romanen inhärente These, wirkt wie ein Gift, das in den Blutkreislauf des Gesellschaftskörpers eindringt und ihn von

5. Zusammenfassung

innen heraus zerstört. Bei Houellebecq ist es der Kapitalismus mit seiner »idéologie du changement continuel« (PE, 169), der eine ungeheure schizophrene Ladung freisetzt und die Romanfiguren von der ihnen eigentümlichen Art zu leben entfremdet. Um die Steigerung der Produktivitätsraten aufrecht zu erhalten, muss der Kapitalismus unentwegt neue Sehnsüchte, Wünsche und Bedürfnisse produzieren. Auf diese Weise verwandelt er das Leben der Menschen in eine rastlose Suche nach materiellen Ersatzbefriedigungen. Auch die Figurenzeichnung in den Romanen ähnelt sich sehr deutlich. Sowohl Balzac als auch Houellebecq versuchen, ihre Charaktere als wiedererkennbare Typen zu konzipieren. Beide Autoren zeigen eine ausgesprochene Vorliebe für scharfe Kontraste und Oppositionen, sie neigen zur satirischen Überspitzung oder zu Karikatur und schrecken auch vor dem Einsatz problematischer Stereotype nicht zurück. Im Fall von Houellebecq sind die Figuren teilweise nur noch Klischees künstlicher Zuschreibungen, wie man sie unter anderem in Zeitschriften oder Werbekatalogen vorfindet. (Zu denken wäre hier etwa an den dynamischen Abteilungsleiter oder den sozialistischen Landwirt aus Extension du domaine de la lutte, an die zwei homosexuellen Restaurantbesitzer oder den senilen alten Schriftsteller Michel Houellebecq aus La carte et le territoire.) Im Vergleich zu Balzac erweisen sich die Protagonisten aus Houellebecqs Romanen jedoch als sehr viel stärker durch äußere (soziale und biologische) Faktoren determiniert. Dennoch handelt es sich dabei nicht um einen Determinismus im strengen Sinne, wie dies zum Beispiel auf die Figuren Zolas zutrifft. Zwar wirken die Kräfte der Geschichte (und teilweise auch der Biologie) fortwährend auf die Romanfiguren ein, trotzdem haben sie immer die Möglichkeit, selbstbestimmt über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden. Allerdings spielen psychologische Motive bei Houellebecq nur eine untergeordnete Rolle. Entsprechend findet man in seinen Erzählungen kaum Innenansichten der Charaktere. Oftmals verfügen seine Figuren nicht einmal mehr über eine eigene Persönlichkeit, geschweige denn einen Namen und eine Biografie, sondern werden zu bloßen Stellvertreterfiguren für Diskurse. (Der namenlose »Theoretiker« und sein Kollege Jean-Yves Fréhaut aus Extension du domaine de la lutte repräsentieren z.B. einen libertären Freiheitsbegriff, dem zufolge die größtmögliche Freiheit mit einem Maximum an Wahlmöglichkeiten einhergeht.) Dagegen veranschaulicht Balzac die Ursachen der historischen Staats- und Gesellschaftskrise anhand von psychologischen Motiven (z.B. Eifersucht), damit der Leser die Entstehung dieser Krise durch die Herleitung des Konfliktes zwischen den handelnden Figuren unmittelbar miterleben kann. Das moralische Chaos wird auf das Wirken von Leidenschaften zurückgeführt, die als ›Tiefenmächte der Geschichte und der Gesellschaft‹ (W. Matzat) über das Schicksal der Romanfiguren entscheiden. Ihren eigentlichen Ursprung haben die Leidenschaften aber in der menschlichen ›Natur‹ selbst. (Lisbeths Neigung zur Gewaltausbrüchen ist eine Folge ihres »wilden« Charakters; Pons und der Baron Hulot stellen ihre gesamte Lebensenergie in den Dienst einer Leidenschaft; und der Neid der Präsidentin Camusot ist so wesensmäßig mit ihr verschmolzen, dass er sich sogar physisch im Körperbild manifestiert.) Beide Schriftsteller modellieren die menschliche Gesellschaft in Analogie zum Tierreich. In seinem Vorwort zur Comédie humaine entwirft Balzac eine Theorie der Gesell-

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schaft, die auf der Gegenüberstellung von »Espèces zoologiques« und »Espèces sociales« beruht. Auch die Erzähler aus Houellebecqs Romanen berufen sich gerne auf Beispiele aus der Zoologie, um menschliche Verhaltensweisen zu erklären. Die Ähnlichkeit zeigt sich auch darin, dass beide Autoren bei der Figurencharakterisierung mit Vorliebe Tiervergleiche einsetzen. Während Balzac solche Tiervergleiche benutzt, um das Verhalten der Romanfiguren als moralisch oder unmoralisch zu qualifizieren, erfüllen die Vergleiche bei Houellebecq den Zweck, den Leser an seine eigene, grausame ›Natur‹ zu erinnern. Der Anspruch, die Natur des Menschen ›an sich‹ zu erklären, verbindet die Romane von Balzac und Houellebecq. Ihr Wissen über die menschliche Natur beziehen sie dabei aus unterschiedlichen Quellen: Beispielsweise stützen sich ihre Erzähler auf wissenschaftliche Erkenntnisse zeitgenössischer Naturforscher oder auf biologische, anthropologische und soziologische Theorien; neben dem wissenschaftlichen Diskurs existiert in den Romanen aber zumeist noch ein zweiter Diskurs, den man im weitesten Sinne als ›moralistisch‹ bezeichnen kann, da hier in generalisierender Form über das ›Wesen‹ des Menschen spekuliert wird. Allerdings handelt es sich dabei in der Regel nicht um wissenschaftliche Erkenntnisse im strengen Sinne, sondern um ein Wissen, das dem breiten Repertoire an Aphorismen, Sprichwörtern und allgemeinen Lebensweisheiten entstammt. Insbesondere Balzacs Erzähler berufen sich gerne auf ein solches Wissen, das, wie Roland Barthes kritisiert, einem großen Schulbuch, einem »Manuel Scolaire«, entnommen zu sein scheint. Bei Balzac geht die ›Manie des Erklärens‹ (R. Warning) bisweilen soweit, dass der Diskurs des Erzählers die erzählte Geschichte vollständig überlagert. Bei Houellebecq ergänzen sich der wissenschaftliche und der moralistische Diskurs wechselseitig, indem sie den Menschen einmal als Objekt und einmal als Subjekt behandeln. Auf diese Weise versuchen seine Texte eine allgemeine Wahrheit über den Menschen (über das Leben, über die Liebe, über die Unterschiede zwischen den Geschlechtern usw.) zu formulieren. Gemeinsam ist den beiden Autoren auch ihre Vorliebe für Generalisierung jeglicher Art. Oftmals bedienen sie sich dabei eines bestimmten sprachlichen Verfahrens, bei dem mittels typisierender Deiktika (»un de ces«) ein unanfechtbares, apodiktisches Wissen präsentiert wird, das zugleich die Existenz des dargestellten Sachverhalts in der realen Welt präsupponiert. Aus der Gegenüberstellung der beiden Autoren ergeben sich aber nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch bemerkenswerte Unterschiede. Sie betreffen (a) die Konzeption der Romanfiguren, (b) die Erzählweise und den Stil sowie (c) die formale Beschaffenheit der Romane. Balzac verfolgt für seine eigene Zeit bekanntlich kein geringeres Ziel, als die französische Gesellschaft in ihrer Totalität abzubilden. Entsprechend konzipiert er seine Romanfiguren einerseits als Individuen und andererseits als Typen, d.h. als repräsentative Vertreter einer bestimmten sozialen Klasse, einer Berufsgruppe oder eines Milieus. Mit Hilfe solcher Typen möchte Balzac alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens – die Pariser Gesellschaft ebenso wie die französische Provinz, den napoleonischen Verdienstadel genauso wie die Finanzaristokratie, den kleinbürgerlichen Parvenu ebenso wie die gefallene Kurtisane usw. – abbilden, wobei die einzelnen gesellschaftlichen Wirklichkeitsbereiche durch das Prinzip der wiederkehrenden Figuren miteinander verbunden werden. Im Unterschied zu Balzac verzichtet Houellebecq auf den Anspruch, die französische Gesellschaft in ihrer Totalität abbilden zu wollen. Sei-

5. Zusammenfassung

ne Romanfiguren stammen überwiegend aus jener »vaste classe moyenne aux contours peu tranchées« (PE, 64), die sich im Übergang von der Industriegesellschaft zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft herausgebildet hat. Sie gehören dem Heer an leitenden Angestellten, mittleren Führungskräften und Beamten an. Als solche verkörpern sie aber nicht nur einen sozialen Durchschnitt, ihre Durchschnittlichkeit wird vielmehr zu einer Chiffre für den Zustand der modernen Welt. Houellebecqs überwiegend männliche Protagonisten sind das Symbol eines umfassenden vitalen Erschöpfungsprozesses (»épuisement vital«), von dem die gesamte westliche Zivilisation (»civilisation occidentale«) betroffen ist. Houellebecqs Charaktere sind leidenschaftslose, manisch depressive, sexuell frustrierte und willenlose Individuen, die jeden Heroismus vermissen lassen und ihre eigene Existenz mit dem Gefühl einer tiefen Resignation betrauern. Dies unterscheidet sie von den »Helden« Balzacs mit ihrer unbändigen Willenskraft, ihrer verschwenderischen Lebensenergie und ihrem maßlosen Drang zu reüssieren. Bei Houellebecq sucht man solche Ausnahmegestalten vergeblich. Seine Romanfiguren lassen nichts mehr von der Kraft und Energie erkennen, die Balzacs große »Monomanen« auszeichnet.4 Eine lähmende Resignation hat sich ihrer bemächtigt und eine Gleichgültigkeit, die jedoch nichts Heroisches besitzt. Während die Helden aus Balzacs Romanen alles daransetzen, sich ihren Platz in der Gesellschaft zu erkämpfen, können die Protagonisten von Houellebecq ihrer eigenen Existenz keinen Sinn mehr abgewinnen. Sie sind befallen von Lebensüberdruss und einem tiefen Unbehagen an der modernen Welt, die sie nur noch mit Alkohol ertragen können. Dieses Unbehagen speist sich aus einer mehrfachen Verlusterfahrung: dem Verlust der eigenen kulturellen Identität, dem Verlust an Solidarität und Gemeinschaftsgefühl, dem Verlust der Liebesfähigkeit und dem Verlust an religiöser Sinnstiftung. Die Romanfiguren haben jeden Kontakt zu ihrer eigenen Kultur verloren; sie leben in einer permanenten Gegenwart ohne Bezug zur Vergangenheit. Die Geschichte ist allenfalls noch als ritualisierter Erinnerungsort im kollektiven Gedächtnis präsent, wirkt aber nicht mehr identitätsstiftend. Auch in stilistischer Hinsicht unterscheiden sich die Autoren sehr deutlich voneinander: Balzac pflegt in nahezu allen seinen Erzählungen einen einheitlichen Stil, der auf ein einheitliches Weltbild schließen lässt. Sein Stil ist vereinnahmend und totalisierend, denn er lässt keinen Gegenstand, kein Detail und keine Geste unerwähnt. Jede noch so unscheinbare Kleinigkeit wird registriert und gewissenhaft notiert. Balzacs Sprache ist

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Der Ich-Erzähler Daniel aus La possibilité d’une île (2005), ein erfolgreicher Komiker, der es mit frauenverachtenden Witzen zum Millionär gebracht hat, vergleicht sich mit einer Romanfigur von Balzac und weist bei dieser Gelegenheit selbst auf den Umstand seiner eigenen Kraftlosigkeit hin: »Lorsque je gagnai mon premier million d’euros […], je compris que je n’était pas un personnage balzacien. Un personnage balzacien venant de gagner son premier million d’euros songerait dans la plupart des cas aux moyens de s’approcher du second… Pour ma part je me demandai surtout si je pouvais arrêter ma carrière…« (PDL, 32). Daran ändert sich auch nichts, als er seine sechste Million verdient hat: »Un personnage balzacien, à ce stade, achète un appartement somptueux, qu’il emplit d’objets d’art, et se ruine pour une chanteuse. J’habitais un trois pièce banal, dans le XIVe arrondissement, et je n’avais jamais couché avec une top model – je n’en avais même jamais éprouver l’envie« (PDL, 33).

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überaus moralisierend und deutlich wertend, geht aber selten ins Vulgäre. Sie überrascht bisweilen mit komischen oder absurden Vergleichen, versucht aber ansonsten vor allem durch die Dichte der Beschreibung einen sinnlichen Eindruck zu evozieren, wobei das Sinnliche immer auch eine moralische Dimension konnotiert. Dies zeigt sich insbesondere dort, wo Balzac die Beschreibung eines Raumes solchermaßen mit metaphorischer Bedeutung auflädt, dass mit der sinnlichen Dimension des Beschriebenen zugleich der Eindruck von Lasterhaftigkeit, Unsittlichkeit und moralischer Korrumpiertheit entsteht. Die Metaphorik zeigt dabei zugleich die Grenzen des wissenschaftlichen Projektes auf, denn die suggestiven Bilder, auf die Balzac zurückgreift, sollen letzten Endes nicht erklären, sondern in erster Linie überzeugen. Eine Besonderheit von Houellebecqs Erzählweise betrifft die Ambivalenzen seines Stils. Dazu gehört beispielsweise der Wechsel zwischen unterschiedlichen Stilebenen, Tonlagen und Sprachregistern. Charakteristisch dafür sind die abrupten Stilbrüche innerhalb der Erzählung: Auf eine sachlich-nüchterne Beschreibung folgt eine lyrischpoetische Passage (und vice versa). Der Diskurs der Erzählung oszilliert zwischen höchstem Pathos und einer klinischen Analyse, zwischen naiver Komik und bitterem Ernst. Diese Stilbrüche, so meine These, sollen die Widersprüche und Paradoxien der Gegenwart zum Ausdruck bringen: auf der einen Seite das Streben nach rationaler Gewissheit und Erkenntnis; auf der anderen Seite das Bedürfnis nach echten Emotionen und affektiver Bindung. Houellebecqs Stil ist zumeist sehr nüchtern, sachlich und kühl, markiert gleichzeitig aber auch eine ironische Distanz. In der Forschung wurde die Emotionslosigkeit seines Stils mit der impassibilité von Flaubert verglichen. Diese Einschätzung ist jedoch nur zum Teil richtig, denn im Unterschied zu diesem lassen Houellebecqs Erzähler immer auch ein gewisses Maß an Empathie, Mitgefühl und Verständnis für die Romanfiguren erkennen. Letztlich soll die Teilnahmslosigkeit des Erzählens bei Houellebecq vor allem die Gefühlskälte und Rationalität der modernen Welt widerspiegeln, wie es der namenlose Ich-Erzähler aus Extension du domaine de la lutte im Übrigen auch andeutet, wenn er behauptet, dass die Romanform nicht dafür gemacht sei, die Indifferenz und das Nichts zu beschreiben, weshalb man eine Ausdrucksweise erfinden müsste, die noch eintöniger (»plus plate«), noch anschaulicher (»plus concise«) und noch trostloser (»plus morne«) sei. Die größten Unterschiede zwischen den zwei Autoren liegen indessen auf der Ebene der Form. Balzacs Romane sind für gewöhnlich nach einem einheitlichen Schema konzipiert: Auf die Eingangsszene, die den Leser mit dem zentralen Konflikt vertraut macht, folgt eine längere Analepse, die über die Vorgeschichte der handelnden Figuren informiert; anschließend springt die Erzählung zurück an jenen Punkt der Geschichte, an dem die Eingangsszene zuvor unterbrochen wurde. Die Expositionen seiner Romane nehmen darum beinahe ebenso viel Raum ein wie die eigentliche Erzählung. Dies setzt außerdem einen Erzähler voraus, der mit dem Schauplatz und dem Zeitpunkt der Handlung vertraut ist, der sich beliebig in die Romanfiguren hineinversetzen kann und ihre geheimsten Sehnsüchte, Leidenschaften und Wünsche kennt. Eine solche narrative Vermittlungsinstanz, die das Geschehen von einem Standpunkt außerhalb der erzählten Welt beglaubigen könnte, findet man bei Houellebecq nicht. Seine Romane brechen mit der Illusion eines allwissenden Erzählers und bedienen sich stattdessen anderer narrativer Beglaubigungsstrategien, um den Wahrheitsgehalt des Erzählten zu beto-

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nen. (Der Erzähler von La carte et le territoire erweist sich als ein zukünftiger Kunsthistoriker, der sich in einer Art Retrospektive mit dem Leben und Werk des Künstlers Jed Martin auseinandersetzt; die narrative Instanz in Les particules élémentaires ist selbst ein Angehöriger jener posthumanen Spezies, deren Existenz durch die Forschungen von Michel Djerzinski möglich gemacht wurde.) In welchem Maße Houellebecq mit dem ›Realismus‹ des 19. Jahrhunderts bricht, zeigt sich zuletzt auch daran, dass er die Darstellungstechniken des ›realistischen‹ Romans (etwa den Einsatz des passé simple und des Personalpronomens der dritten Person sowie die lineare Progression der Handlung) um spezifisch ›postmoderne‹ Verfahren ergänzt. Dazu gehören die zahlreichen Fiktionsbrüche, Leser-Apostrophen oder der Einbau paradoxaler Verdoppelungsschleifen (wie z.B. das Möbius-Band). Auffällig sind auch die vielen intertextuellen und intermedialen Referenzen sowie der hohe Grad an Selbstreflexivität. Die Romane enthalten eine Vielzahl an metapoetischen Kommentaren, Spiegelungen und anderen Techniken der (indirekten) Selbstkommentierung. Sie gehen zwar nicht soweit, dass sie die Kohärenz der Erzählung vollständig zerstören, doch die Handlung selbst ist mitunter stark fragmentiert. Teilweise besteht die Erzählung nur noch aus einzelnen Momentaufnahmen, die mit soziologischen Betrachtungen und metaphysischen Spekulationen abwechseln. ›Postmodern‹ sind Houellebecqs Romane auch insofern, als sie die herkömmliche Unterscheidung zwischen Unterhaltungs- und Höhenkammliteratur zugunsten eines ironischen Spiels mit verschiedenen Gattungstraditionen aufgeben. (Ein Roman wie La carte et le territoire ist Künstler-, Familien-, Gesellschafts- und Kriminalroman in einem und enthält zudem eine Reihe von versteckten Anspielungen auf kanonische Texte des 19. Jahrhunderts und zeitgenössische Krimi-Autoren.) Auch die erzählte Welt nimmt bei Houellebecq teilweise Züge einer ›hyperrealen‹ Wirklichkeit an. (Am Ende von La carte et le territoire hat sich die einstige Industrienation Frankreich in ihr eigenes Simulakrum verwandelt.) Die Romane sind gespickt mit Wirklichkeitsreferenzen, worunter etwa auch die Erwähnung von Markennamen oder realen Persönlichkeiten fällt, doch all diese Referenzen verweisen nicht mehr auf eine Realität hinter den Zeichen, sondern nur noch auf die Zeichen selbst. Die Realität, auf die sich die Texte beziehen, ist nicht die Wirklichkeit selbst, sondern das, was über sie ausgesagt und geschrieben wird. (Aus diesem Grund zitieren Houellebecqs Erzähler gerne die Prosa von Reiseführern oder kopieren ganze Wikipedia-Einträge.) Letztlich kann auf diese Weise alles zum »Material« für die Wirklichkeitsmodellierung werden, selbst das in den Medien kursierende Bild des Schriftstellers. Der ›Realismus‹ von Houellebecqs Romanen beruht darum weniger auf einer Nachahmung der Natur (Mimesis), sondern vielmehr auf einer Nachahmung (imitatio) von Diskursen. Eine wichtige Funktion übernimmt dabei auch der Kursivdruck, denn durch die typografische Hervorhebung markiert der Text seine Bezugnahme auf ›vorformulierte Diskurse‹ (U. Schneider) und distanziert sich gleichzeitig von ihnen. Ironisiert werden dadurch zum Beispiel Floskeln des politischen Diskurses, ökonomische Diskurse von Leistungsbereitschaft, Wettbewerb und Konkurrenz oder die Sprache der Meinungsforschung. All diese Diskurse werden jedoch durch keine »Autorität« zusammengehalten. Es gibt keine übergeordnete Instanz mehr, die für die Zuverlässigkeit des Erzählten bürgt. Dies

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führt mitunter dazu, dass die Grenze zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Wirklichkeit und Simulation verschwimmt. Angesichts dieses Befunds stellt sich die Frage, ob man in Bezug auf Houellebecqs Romane überhaupt noch von ›Realismus‹ sprechen kann. Tatsächlich hat die Gegenüberstellung gezeigt, inwiefern Houellebecq die traditionelle Erzählweise Balzacs im Sinne eines ›postmodernen‹ Erzählens modifiziert. Die Untersuchung hat jedoch ebenso gezeigt, dass Houellebecq in seinen Texten teilweise wieder zurückkehrt zu einem ›réalisme des types et des essences‹ (R. Barthes), von dem sich die künstlerischen Avantgarden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereits verabschiedet hatten. Inwiefern Houellebecqs ›post-realistische‹ Schreibweise hinter die Prämissen der poststrukturalistischen Theoriebildung zurückfällt, lässt sich am Beispiel seiner Geschlechterontologie belegen. Das ›System Venus‹ und das ›System Mars‹ (EDL, 147) werden bei ihm nicht – wie etwa bei Judith Butler – als performatives Konstrukt gedacht, sondern als Wesensmäßigkeit und Essenz. Eine solche Essentialisierung ist freilich höchst problematisch und manch eine(r) mag das Frauenbild von Houellebecqs Romanen darum für rückständig halten; herablassend oder misogyn ist es nicht. Denn das ›Weibliche‹ wird in den Romanen durchweg mit positiven Eigenschaften wie Einfühlungsvermögen, Selbstlosigkeit und Aufopferungsbereitschaft verbunden, während das ›Männliche‹ von Konkurrenzdenken, Machtstreben und Gewalt gekennzeichnet ist. Wenn einige Frauen (wie Annabelle oder Christiane in Les particules élémentaires) am Romanende sterben, dann ist dies keine Strafe für ihr vermeintlich sündhaftes Leben, wie oftmals behauptet wurde, sondern sie sterben, weil sie zu gut sind für die Welt, in der sie leben. Die Nähe zu Balzac und dem ›realistischen‹ Roman des 19. Jahrhunderts zeigt sich schließlich auch darin, dass Houellebecqs Texte fortwährend zwischen einer bloßen Oberflächenbeschreibung der sozialen Wirklichkeit und einer metaphysischen Erklärung oszillieren. Seine Romane begnügen sich nicht damit, die bloße Präsenz der Dinge zu registrieren, wie dies zum Beispiel Alain Robbe-Grillet und Roland Barthes von dem modernen Schriftsteller fordern, sondern sie versuchen, den Dingen wieder eine tiefere Bedeutung, einen Sinn, zu geben. Houellebecqs Erzähler betrachten die sie umgebende Welt zunächst rein phänomenologisch, d.h. sie nehmen die Dinge an der Oberfläche der sichtbaren Phänomene wahr, doch auf dieser Ebene bleiben sie nicht stehen; sie suchen nach einer Erklärung dafür, was die beobachteten Phänomene bedeuten. Dies verbindet sie mit Balzac, dessen Erzähler ebenfalls die Wirklichkeit hinter den Dingen zum Vorschein bringen möchten. Im Unterschied zu Balzac verzichtet Houellebecq jedoch darauf, den Dingen eine eindeutige Bedeutung aufzuzwingen. Darin liegt vielleicht der größte Unterschied zwischen den zwei Autoren. Hinzu kommt, dass sich seine Romane einer eindeutigenden Interpretationentziehen. Ein abschließender Text-Sinn kann nur entstehen, wenn die erzählte Geschichte an ein Ende kommt. Aber genau dies verweigern die Romane, denn oftmals ist das Ende bei Houellebecq kein Ende, sondern ein Neuanfang. Zudem bleibt meistens offen, ob das Erzählte tatsächlich ernst gemeint ist. In der Regel ergeben sich aus den Romanschlüssen ganz unterschiedliche Lesarten. Darin besteht die besondere Ambiguität von Houellebecqs Romanen. Sie versuchen die Wirklichkeit zu erklären, unterlaufen diesen Erklärungsanspruch aber permanent, indem sie dem Leser verschiedene Deutungsangebote offerieren.

5. Zusammenfassung

Man kann hierin ein Eingeständnis an die Postmoderne und ihr Misstrauen gegenüber allen legitimierenden ›Meta-Narrationen‹ sehen. Mit der Postmoderne verbindet Houellebecq die Einsicht, dass es unmöglich ist, die Realität an sich zu bestimmen; mit Balzac und dem 19. Jahrhundert verbindet ihn der Anspruch, es dennoch zu versuchen. In seinen Texten veranschaulicht er dies anhand von zwei poetologisch aufschlussreichen Metaphern: dem Nebel und der Karte. Der Nebel ist das, was uns die Sicht auf die Welt versperrt, was uns daran hindert, die Wahrheit selbst zu schauen. Wenn uns der Nebel von der Wahrheit trennt, dann besitzt die Literatur umgekehrt die Macht, den Nebelschleier zumindest teilweise zu lüften und die »Textur« der Wirklichkeit zu entschlüsseln. Die zentrale Metapher, mit der Houellebecq diese Funktion umschreibt, ist diejenige der Karte. Die Aufgabe der Karte besteht darin, einen gegebenen Raum »lesbar« zu machen. Damit die Karte funktioniert (und gelesen werden kann), darf das Verhältnis zwischen den realen Orten und ihren symbolischen Entsprechungen weder zu abstrakt noch zu genau sein. (Eine Karte im Maßstab 1:1 wäre Unsinn, wie schon Borges wusste.) Das Verhältnis von Karte und Territorium, von Literatur und Wirklichkeit, lässt sich darum nicht – wie etwa im Falle einer Fotografie – als bloße Abbildrelation auffassen. Die Karte ist der fotografischen Abbildung insofern überlegen, als sie das Wesentliche hervorhebt und Strukturen sichtbar macht. Zwar bleibt auch sie immer nur ein ästhetisches Modell, eine Repräsentation zweiter Ordnung, doch zumindest gibt sie dem Leser damit ein Werkzeug an die Hand, um sich in einer zunehmend unübersichtlicher werdenden Welt zu orientieren. In einer Gegenwart, in der das Reale fließt, muss der Roman den Wandel der Wirklichkeit fortwährend neu kartographieren. Entsprechend hat sich in dieser Studie auch der »Realismus« als ein höchst wandelbares Konzept erwiesen. Gerade dies macht es jedoch erforderlich, sich abermals mit dem Begriff der Wirklichkeit zu beschäftigen, selbst wenn die Frage, was die Realität ist, dabei jedes Mal wieder neu gestellt werden muss.

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Literaturwissenschaft Werner Sollors

Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen September 2020, 150 S., kart., 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1

Sascha Pöhlmann

Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3

Ulfried Reichardt, Regina Schober (eds.)

Laboring Bodies and the Quantified Self October 2020, 246 p., pb. 40,00 € (DE), 978-3-8376-4921-5 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4921-9

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Literaturwissenschaft Renata Cornejo, Gesine Lenore Schiewer, Manfred Weinberg (Hg.)

Konzepte der Interkulturalität in der Germanistik weltweit August 2020, 432 S., kart., 6 SW-Abbildungen 50,00 € (DE), 978-3-8376-5041-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5041-3

Claudia Öhlschläger (Hg.)

Urbane Kulturen und Räume intermedial Zur Lesbarkeit der Stadt in interdisziplinärer Perspektive Juli 2020, 258 S., kart., 10 SW-Abbildungen 40,00 € (DE), 978-3-8376-4884-3 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4884-7

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 11. Jahrgang, 2020, Heft 1 August 2020, 226 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-4944-4 E-Book: PDF: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4944-8

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