Willensstruktur und Handlungsorganisation in Kants Theorie der praktischen Freiheit 9789004271715, 9789004271722

Kant’s theory of practical freedom represents a masterpiece of the philosophical inquiry into self-constitution, self-go

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Willensstruktur und Handlungsorganisation in Kants Theorie der praktischen Freiheit
 9789004271715, 9789004271722

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Willensstruktur und Handlungsorganisation in Kants Theorie der praktischen Freiheit

Critical Studies in German Idealism Series Editor Paul G. Cobben Advisory Board Simon Critchley – Paul Cruysberghs – Rózsa Erzsébet – Garth Green – Vittorio Hösle – Francesca Menegoni – Martin Moors – Michael Quante – Ludwig Siep – Timo Slootweg – Klaus Vieweg

VOLUME 11

The titles published in this series are listed at brill.com/csgi

Willensstruktur und Handlungsorganisation in Kants Theorie der praktischen Freiheit von

Saša Josifović

LEIDEN | BOSTON

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Josifovic, Sasa.  Willensstruktur und Handlungsorganisation in Kants Theorie der praktischen Freiheit / von Sasa Josifovic.   pages cm. — (Critical studies in German idealism : ISSN 1878-9986 ; Volume 11)  Includes bibliographical references.  ISBN 978-90-04-27171-5 (hardback : alk. paper) — ISBN 978-90-04-27172-2 (e-book) 1. Kant, Immanuel, 1724-1804. I. Title.  B2798.J67 2014  128’.4092—dc23

2014004414

This publication has been typeset in the multilingual ‘Brill’ typeface. With over 5,100 characters covering Latin, ipa, Greek, and Cyrillic, this typeface is especially suitable for use in the humanities. For more information, please see brill.com/brill-typeface. issn 1878-9986 isbn 978 90 04 27171 5 (hardback) isbn 978 90 04 27172 2 (e-book) Copyright 2014 by Koninklijke Brill nv, Leiden, The Netherlands. Koninklijke Brill nv incorporates the imprints Brill, Brill Nijhoff, Global Oriental and Hotei Publishing. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, translated, stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording or otherwise, without prior written permission from the publisher. Authorization to photocopy items for internal or personal use is granted by Koninklijke Brill nv provided that the appropriate fees are paid directly to The Copyright Clearance Center, 222 Rosewood Drive, Suite 910, Danvers, ma 01923, usa. Fees are subject to change. Brill has made all reasonable efforts to trace all rights holders to any copyrighted material used in this work. In cases where these efforts have not been successful the publisher welcomes communications from copyright holders, so that the appropriate acknowledgements can be made in future editions, and to settle other permission matters. This book is printed on acid-free paper.

Inhaltsverzeichnis Vorwort  ix 1 Einleitung  1 1.1 Die Rationalitätsklausel  5 1.2 Gründe und Grundsätze, Spontaneität und Rezeptivität  24 1.2.1 Der Regress praktischer Gründe und die praktische Funktion von Grundsätzen  26 1.2.1.1 Der Regress praktischer Gründe  27 1.2.1.2 Raz‘ Beispiel und Kants Lösung  28 1.2.1.3 Korsgaards Lösungsansatz  33 1.2.1.4 Die entscheidungstragende Funktion praktischer Grundsätze im Deutschen Idealismus  34 1.2.1.5 Normative Ebenen in Kants Theorie der kontrollierten willentlichen Selbstbestimmung  37 1.2.1.6 Der Mythos von der Beliebigkeit subjektiver Grundsätze bzw. Maximen  39 1.2.1.7 Bedarf es spezieller Gründe, um Grundsätze zu beherzigen?  41 1.2.1.8 Respondenz auf Bittners Kritik an der handlungsleitenden Funktion von Grundsätzen in Kants Handlungstheorie  42 1.2.2 Spontaneität und Rezeptivität  48 1.3 Reflexivität, Identifikation, Rationalität  55 1.3.1 Im Umgang mit Stimuli  55 1.3.2 Im Umgang mit Motiven  62 1.4 Objektiver Rationalismus: Rationalität als Vermögen empirische Tatsachen in handlungsleitende Überzeugungen zu transformieren  64 1.5 Kritik der These von der Analytizität der Zweck-Mittel-Relation  74 1.6 Polloks Kohärenzthese als Modifikation des instrumentellen Prinzips  84 1.7 Raz‘ Kritik an der Theorie instrumenteller Gründe und die Profilierung seines eigenen „facilitative principle“  87 1.8 Respondenz in Berufung auf Broome und Kant  94 1.9 Rationalität als Vermögen der Normativität aus eigener Spontaneität  102 1.10 Wie kantisch ist all dies?  109

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2 Freiheitskonzepte in Kants Philosophie  110 2.1 Die Theorie der transzendentalen Freiheit im Dialektik-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft  110 2.2 Der gescheiterte Versuch der Deduktion des Sittengesetzes in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten  112 2.3 Die Theorie der Willensfreiheit in der Kritik der praktischen Vernunft  112 2.4 Referenzpunkte in den Reflexionen der siebziger Jahre und Metaphysikvorlesungen  114 2.5 Das arbitrium liberum als Vorlage für Kants eigene Theorie der praktischen Freiheit  115 2.6 Strukturbeschreibung, Spontaneität, Erfolgskontrolle  117 2.7 Die Theorie der Handlungsorganisation im Kontext des höchsten Guts  119 3 Kants Theorie der praktischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft  127 3.1 Die freie Willkür als Grundlage der praktischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft  132 3.1.1 Der Gesichtspunkt der Vermögenslehre  138 3.1.2 Arbitrium liberum als Vermögen, nach der Vorstellung empirischer Zwecke zu handeln  142 3.1.3 Arbitrium liberum als Vermögen nach Zwecken zu handeln, „welche nur von der Vernunft vorgestellt werden“ und mitunter „in Ansehung unseres ganzen Zustandes“ begehrenswert sind  147 3.1.4 Zwischenergebnis  154 3.1.5 Heranführung an das Problem der Erfahrbarkeit der praktischen Freiheit  157 3.1.6 Das „arbitrium liberum“ in den Metaphysikvorlesungen  162 3.2 Der „Erfahrungsbeweis“ der praktischen Freiheit (KrV, B 830)  166 3.2.1 Das von Schönecker beschriebene „Kanonproblem“  175 3.3 Pragmatische und moralische Normativität der Vernunft  186 3.3.1 Pragmatische Gesetze, pragmatische Praxis  188 3.3.1.1 Die instrumentelle und pragmatische Rationalität in der Kritik der reinen Vernunft  199 3.3.2 Moralische Gesetze, moralische Praxis  201 3.3.3 Der Grundsatz der Widerspruchsfreiheit  205 3.3.4 Das Hervorbringungsverhältnis zwischen der Glückswürdigkeit und Glückseligkeit  208

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3.4 Der Begriff der Glückseligkeit in der Kritik der reinen Vernunft  216 3.5 Das System der sich selbst lohnenden Moralität  220 3.6 Der Übergang vom System der sich selbst lohnenden Moralität zum Ideal des höchsten Guts  229 Die Theorie des höchsten Guts in der Kritik der reinen Vernunft: Vom letzten Zweck des Gebrauches unserer Vernunft  234 4.1 Das höchste ursprüngliche und das höchste abgeleitete Gut  239 4.2 Moraltheologie  244 Übergang zur praktischen Freiheit in der Kritik der praktischen Vernunft. Von der freien Willkür zum freien Willen  251 5.1 Die Entstehung der Kritik der praktischen Vernunft  253 5.2 Das Sittengesetz als Faktum der Vernunft  254 Die Antinomie der spekulativen und praktischen Vernunft  261 6.1 Was ist eine Antinomie?  266 6.2 Die Freiheits-Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft  271 6.2.1 Der Beweis der Thesis vor dem Hintergrund des Dogmatismus/ Rationalismus  281 6.2.2 Der Beweis der Antithesis vor dem Hintergrund des Empirismus/ Naturalismus  286 6.2.3 Die Auflösung der Antinomie vor dem Hintergrund des transzendentalen Idealismus  290 6.2.4 Fazit der Auflösung der Freiheitsantinomie  306 6.3 Die Antinomie und das höchste Gut der Kritik der praktischen Vernunft  307 6.3.1 Grundzüge der Handlungstheorie in der Kritik der praktischen Vernunft in Abgrenzung von Hegel  310 6.3.2 Das höchste Gut als „Bestimmungsgrund“ des moralischen Willens  323 6.3.3 Das höchste oberste und das höchste vollendete Gut  324 6.3.4 Das synthetische Verhältnis von Sittlichkeit und Glückseligkeit  329 6.3.5 Die Antinomie der praktischen Vernunft und die Aussicht auf ein „künftiges Leben“  335 6.3.6 Zusammenfassung der formalen Auffälligkeiten der Antinomie der praktischen Vernunft  349 Die Postulatenlehre  353 7.1 Das Postulat der Unsterblichkeit der Seele  355 7.2 Das Postulat vom Dasein Gottes  360

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7.3 Handlungstheoretische Reflexion der Postulatenlehre. Rückblick auf die Analytizitätsklausel  373 7.4 Respondenz auf drei von Willaschek vorgetragene „gravierende Einwände“ gegen die Grundannahmen der Postulatenlehre  376 7.4.1 Respondenz auf Willascheks Einwand gegen die Grundannahme des ersten Postulats  376 7.4.2 Respondenz auf Willascheks Einwand gegen die Grundannahme des zweiten Postulats  380 7.4.3 Respondenz auf Willascheks dritten Einwand gegen die Grundannahmen der Postulatenlehre  381 8 Schluss  384 9 Literaturverzeichnis  391 Namensregister  396 Stichwortverzeichnis  398

Vorwort Der Autor dieses Buchs, Sasa Josifovic, erörtert eine der zentralen Fragen der modernen Philosophie (die Frage der praktischen Freiheit) im Zusammenhang mit dem Projekt eines der wichtigsten modernen Philosophen (Immanuel Kant). Er hat seine Fragestellung auf eine äußerst originelle Weise formuliert, nämlich als die Frage nach der inneren Beziehung zwischen Glückswürdigkeit und Glückseligkeit: „Nach meiner Interpretation stellt die Glückseligkeit letztendlich eine Metapher für die vollkommene Erfolgskontrolle im Rahmen der willentlichen Selbstbestimmung dar, während die Glückswürdigkeit eine Metapher für die konkrete, kontrollierte Praxis der willentlichen Selbstbestimmung darstellt.” Diese Formulierung und die systematische Ausarbeitung dieses Grundverhältnisses ermöglicht es nicht nur, das Kantische Projekt mit heutigen handlungstheoretischen Ansätzen zu verbinden, sondern zeigt auch, wie sehr das Hegelsche Projekt Kant tributpflichtig ist. Bemerkenswert ist auch das Resultat dieser Studie: “Entgegen vielen Vorurteilen, die in den aktuellen Debatten in Bezug auf die Kantische Philosophie herrschen, betone ich hier, dass er kein Vertreter der unaufhörlichen Selbstgeißelung „aus Pflicht“ ist, sondern eine lebensfrohe Theorie der praktischen Freiheit mit Ausrichtung auf die Glückseligkeit aller Menschen vertritt.” In diesem Buch erscheint Kants Theorie der praktischen Freiheit als eine Philosophie, die restlos Teil der kontemporären Debatte sein kann. Zugleich situiert es diese Theorie im historischen Kontext. Es erörtert nicht nur die Positionen, die Kant zu überwinden versuchte, sondern bietet auch die Bausteine, um Hegels Rezeption der Kantischen Problematik zu erläutern. Das sind alles Qualitäten, welche der Zielsetzung dieser Reihe vorzüglich entsprechen. Paul Cobben (Universtät Tilburg), Series Editor

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Einleitung My life is mine to the extent that I am in charge of it. It is not mine if I lose control, if urges and emotions invade me which are out of my control.1 Der Mensch fühlt also ein Vermögen in sich, sich durch nichts in der Welt zu irgend Etwas zwingen zu lassen. Es fällt solches zwar öfters schwer aus andern Gründen; aber es ist doch möglich, er hat doch die Kraft dazu.2 (PM 182) Die Theorie der menschlichen Freiheit bzw. freien menschlichen Willkür, liberum arbitrium, stellt einen der faszinierendsten Gegenstandsbereiche philosophischer Literatur dar, denn sie erschließt Sinnzusammenhänge, die von substantieller Relevanz für die Beschreibung und das Verständnis der menschlichen Existenz sind. Es findet sich kaum ein bedeutender philosophischer Autor, der keinen Beitrag zur Begriffsgeschichte der Freiheit geleistet hätte, daher liest sich die Liste der Autoren, von denen die Theorie der menschlichen Freiheit geprägt wurde, wie das Who is Who der Philosophiegeschichte: Aristoteles, Augustinus, Cusanus, Anselm, Abelard, Thomas, Duns Scotus, Ockham, Descartes, Spinoza, Leibniz, Wolf, Kant, Fichte, Schelling, Hegel. In der europäischen Begriffsgeschichte der menschlichen Freiheit stehen grundsätzlich zwei Themenkomplexe im Vordergrund, nämlich zum einen die Frage, ob Freiheit überhaupt sinnvoll denkbar ist bzw. ob sie überhaupt zur Realität der Welt, in der wir leben, gehört, und zum anderen, was mit ihr anzufangen ist. In Kants Philosophie, die in diesem Buch thematisch ist, wird die Frage, ob die Vernunft bei ihrem Anliegen, die Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten aufzusuchen, zusätzlich zur Kausalität nach Naturgesetzen auch Kausalität aus Freiheit annehmen muss, als Gegenstand der Theorie der sogenannten „transzendentalen Freiheit“ angesehen, während der Fragenkomplex, der den vernünftigen Umgang mit Freiheit im Rahmen der kontrollierten willentlichen Selbstbestimmung betrifft, unter den Begriff „praktische Freiheit“ fällt.

1 Raz, J. 2002: Engaging Reason. 20. 2 Kant, I.: Vorlesungen über die Metaphysik. (Pölitz 1821), Akademie-Ausgabe Bd. XXVIII. 2, 1.2. Im Folgenden: PM.

© koninklijke brill nv, leiden, ���4 | doi ��.��63/9789004271722_002

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Des Weiteren wird in der Geschichte der Philosophie zwischen der „negativen“ und „positiven“ Freiheit unterschieden, wobei unter dem Ausdruck „negative Freiheit“ die Befreiung bzw. Unabhängigkeit von Zwängen verstanden wird, während unter dem Ausdruck „positive Freiheit“ die Fähigkeit von Akteuren verstanden wird, gegebene und gegebenenfalls erarbeitete oder gar erkämpfte Freiräume inhaltlich zu bestimmen. Insgesamt besteht die praktische Freiheit also darin, sich Freiräume zu erarbeiten und sie möglichst sinnvoll zu nutzen. Innerhalb der praktischen Freiheit können wiederum mehrere Gesichtspunkte unterschieden werden, die weitere Freiheitsbegriffe prägen, nämlich Bewegungsfreiheit, Wahlfreiheit, Entscheidungsfreiheit, Handlungsfreiheit, Willensfreiheit und noch spezifischer: künstlerische Freiheit, politische Freiheit etc. Ob es sich hierbei wieder um eigene Freiheitsformen, also letztendlich um sortale Begriffe handelt oder nicht, ist eine Frage für sich. In der philosophischen Begriffsgeschichte der menschlichen Freiheit, liberum arbitrium, wird davon Ausgegangen, dass menschliche Akteure typischerweise imstande sind, sich über Stimuli, Neigungen, Triebe und Instinkte hinweg zu setzen, da sie in der Lage sind, sich in reflexive Distanz zu solchen Antrieben der Sinnlichkeit zu versetzen und aus dieser Distanz heraus zu entscheiden, ob sie sie als Ausdrücke ihrer willentlichen Selbstbestimmung anerkennen wollen oder nicht. Diese Fähigkeit, die auch für Kants Theorie der Freiheit entscheidend ist, stellt die ursprüngliche Form der „negativen Freiheit“ dar: Also liegt die Fähigkeit, sich von den gegebenen Naturzwängen, die sich in Form von Stimuli, Neigungen, Trieben und Instinkten einstellen, hinwegzusetzen, der „positiven Freiheit“, die als praktische thematisch wird, zugrunde. Wesen, die dazu nicht imstande sind, können nach Kants Verständnis keine praktische Freiheit entfalten. Nun ist diese Erkenntnis überhaupt nicht neu, denn dies hat man auch vor Kant für wahr gehalten und es stellt sich die Frage, worin eigentlich der originär kantische Impuls besteht, und warum er so wertvoll ist, dass er eine richtungsweisende Kraft für die gesamte Klassische Deutsche Philosophie besitzt und die sogenannte „Kritische Wende“ verursacht. Diesem Impuls kommt man am besten auf die Spur, indem man sich fragt, wie eigentlich willentliche Selbstbestimmung möglich sein soll, wenn sie sich im Ausgangspunkt von sinnlicher Stimulation entfaltet. Wenn sich nämlich einem beliebigen Akteur zu einem beliebigen Zeitpunkt ein beliebiger Stimulus einstellt und auf ihn eine Neigung folgt, soll er imstande sein, zu entscheiden, ob er dieser Neigung nachgeht oder nicht. Sofern er dies „selbst“ entscheiden kann, gilt er als frei. Aber genau an dieser Stelle, nämlich bei der Frage, wann, ob und wie hier von „selbst“ gesprochen werden kann, liegt Kants Pointe. Er besitzt ein ausgeprägtes

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­ roblembewusstsein dafür, dass vielerlei Wahl zwischen Neigungen ihrerseits P auf Neigungen beruht und darum ebenso wenig „frei“ ist, wie die Neigungen selbst. Wenn ein Akteur zu einem beliebigen Zeitpunkt eine beliebige Neigung verspürt und ihr aus einer anderen Neigung nicht nachgeht, ist die Frage berechtigt, inwiefern dies einen höheren Ausdruck von Freiheit darstellen soll, als wenn er der ersten Neigung unreflektiert nachgegangen wäre. Wenn wir uns beispielsweise jemanden vorstellen, der im Bett liegt und faulenzt, dann Durst verspürt, aber der Neigung zu trinken nicht nachgeht, weil er zu träge ist, um aufzustehen und sich ein Glas Wasser zu holen, dann hat er sich letztendlich von der Trägheit und nicht vom Durst treiben lassen, aber inwiefern er dabei „selbst“ tätig war, inwiefern er also sein Tun und Lassen kontrolliert und sich dadurch als Handlungsträger konstituiert, steht infrage. Da Neigungen nach Kants Dafürhalten Ausdrücke von Fremdbestimmung darstellen, weil sie auf der Rezeptivität der Sinnlichkeit beruhen, kann weder in einem Fall, in dem ein Mensch einer gegebenen Neigung unreflektiert nachgeht, noch in dem Fall, dass die bloße Konkurrenz gegebener Neigungen sein Verhalten verursacht, in qualifiziertem Sinne von „Selbst-Bestimmung“ gesprochen werden. Vielmehr handelt es sich dabei lediglich um verschiedene Formen der Fremdbestimmung. Also stellt sich die Frage: Wie kann der Prozess der Anerkennung oder Ablehnung von Inhalten der Willkür aus reflexiver Distanz so vonstattengehen, dass dabei wirklich von freier, willentlicher Selbst-Bestimmung gesprochen werden kann? Wenn diese Anerkennung auf einer Neigung beruht, ist sie disqualifiziert. Wenn sie auf der Konkurrenz von Neigungen beruht, ist sie ebenfalls disqualifiziert. Wenn sie unreflektiert erfolgt, ist sie ebenfalls disqualifiziert. Also bleibt nur die Option eines reflektierten Umgangs mit gegebenen Stimuli, Neigungen und Trieben, der die Fähigkeit des Akteurs zum Ausdruck bringt, den Anerkennungs- bzw. Identifikationsprozess mithilfe eines Vermögens, das sich durch Spontaneität und nicht Rezeptivität auszeichnet, zu kontrollieren. Dieses Vermögen ist nach Kants Dafürhalten die Vernunft. Dies ist zwar ein wichtiger Gedanke, aber auch noch nicht so originell, dass er einen Paradigmenwechsel und eine „Kritische Wende“ zu bewirken vermag. Darum muss noch ein bestimmter Gedanke hinzukommen: Kant vertritt den Standpunkt, dass die Kontrolle des Identifikationsprozesses mit gegebenen Gegenständen der Willkür vermittelst der Vernunft nur auf eine ganz bestimmte Art und Weise vonstattengehen kann, nämlich durch praktische Grundsätze und Gesetze. Lediglich Akteure, die imstande sind, sich unabhängig von empirischen Situationen aus eigener Freiheit Grundsätze zu geben, die ihr Tun und Lassen strukturgebend bestimmen, also bestimmen, welche Art von Handlungen getan und welche unterlassen wird, entwickeln

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die geforderte Spontaneität also Selbst-Bestimmung und Kontrolle. Praktische Grundsätze bringen letztendlich die Fähigkeit des Akteurs zum Ausdruck, seine Handlungsweise zu bestimmen, also „Handlungsdesign“ zu betreiben, und damit nicht nur zu bestimmen, was er tun und lassen will, sondern auch wie er es tun und lassen will. Darum stellt die praktische Freiheit nach Kants Theorie das Vermögen bestimmter Akteure dar, ihr Handeln, insbesondere die zugrundeliegende Handlungsweise, nach Gesetzen, die sie sich selbst vermittelst ihrer eigenen Vernunft geben, zu gestalten. Der neue Impuls besteht also in der handlungsleitenden Funktion praktischer Grundsätze und Gesetze, die der Autonomie der Vernunft entspringen. Kants Theorie der praktischen Freiheit beinhaltet eine umfassende Theorie der Handlungsorganisation, die alle relevanten Handlungsaspekte systematisch integriert, und im Ausgangspunkt vom Begriff der Autonomie eine Strategie entwickelt, die zu erklären vermag, wie eigentlich Kontrolle und Spontaneität im Handeln wirklich werden können. Ähnlich wie bei Fichte, Schelling und Hegel, ist auch Kants Theorie der praktischen Freiheit, mithin auch seine Theorie der Handlungsorganisation, als kontrollierte, willentliche Selbstbestimmung konzipiert. Dabei stellen zwei Arten ursprünglicher, strukturgebender Gesetze, nämlich die moralischen und pragmatischen, sowohl die fundamentalen Bedingungen als auch die wirkungsmächtigsten Instrumente zur Ergreifung und Bewahrung der Handlungskontrolle, dar. Im Gesamtensemble handlungsrelevanter kognitiver und volitionaler Funktionen, die Kant erörtert, wird die Funktion der Glückswürdigkeit bzw. Sittlichkeit als Ausdruck für die auf der Autonomie der Vernunft beruhende Kontrolle der inhaltlichen Bestimmung unseres Willens, also als Ausdruck für die Fähigkeit, die Inhalte unseres Willens aus eigener Spontaneität zu bestimmen und nicht ausschließlich durch die Rezeptivität der Sinnlichkeit als Stimuli an uns herantragen zu lassen, interpretiert. Die zunehmende Kontrolle der Willensinhalte bedingt auch eine zunehmende Selbst- und abnehmende Fremd-­Bestimmung unseres Willens und Handelns. Die Glückseligkeit wird als Ausdruck für die Strukturbeschreibung einer Praxis, in der der Akteur die volle Kontrolle über seine gesamte Handlungsorganisation besitzt, interpretiert, denn die einschlägige Definition, die Kant verwendet, besagt, dass sich die Glückseligkeit dadurch auszeichnet, dass dem Akteur alles nach Wunsch und Willen geht. Das höchste Gut wird als Ideal der maximal möglichen Entfaltung praktischer Freiheit, also als optimale Praxis interpretiert, nämlich solche, in der der Akteur, sowohl auf individueller Ebene als auch im sozialen Kontext, sowohl die Inhalte seiner willentlichen Selbstbestimmung als auch deren Verwirklichung in der empirischen Welt vollkommen aus eigener Spontaneität determiniert und kontrolliert. Gerade bei der Kontrolle der ­intersubjektiven

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Interaktion, die jeweils im Ausgangspunkt von maximal freien Akteuren gedacht wird, ergeben sich dabei Herausforderungen und Anforderungen an die Praxis der willentlichen Selbstbestimmung jedes Einzelnen, die zum einen die Handlungskoordination auf sozialer Ebene und zum anderen die jeweils intrasubjektive Kontrolle der eigenen willentlichen Selbstbestimmung betreffen. Diese Anforderungen sind zwar nach dem Standpunkt der Vernunft, die ein Vermögen darstellt, Totalität zu denken, zur Beschreibung und zum Verständnis der optimalen Praxis berechtigt, aber sie übersteigen die L­ eistungsfähigkeit menschlicher Akteure. Die entsprechende Differenz stellt den Grund für Kants Verwendung des Ausdrucks „Hoffnung“ in dem entsprechenden Zusammenhang dar. Zugleich stellt sie die transzendentalphilosophische Grundlage für den Pflicht-Begriff dar. Auch die Postulate werden im Hinblick auf deren handlungstheoretische Bedeutung hin untersucht und es wird im ersten Postulat die intrasubjektive Dimension der Willens- und Handlungskontrolle und im zweiten Postulat die Kontrolle der Praxis in der empirischen Welt erörtert. 1.1

Die Rationalitätsklausel

Diese Arbeit ist ursprünglich von einem Text von Konstantin Pollok inspiriert, der in den Kant-Studien 97 von 2007 veröffentlicht wurde und den Titel: „‘Wenn Vernunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte‘ – Über die gemeinsame Wurzel der kantischen Imperative“, trägt. Darin setzt sich Pollok mit der Frage nach der Verbindlichkeit der kantischen Imperative auseinander und fragt sich insbesondere, worauf eigentlich das „Sollen“ der hypothetischen Imperative beruht. Da wir wissen, dass die Autonomie der Vernunft die Quelle der Normativität des kategorischen Imperativs darstellt, können wir leicht antizipieren, dass alle Imperative, sofern sie eine gemeinsame Wurzel besitzen – was der Titel suggeriert – letztendlich auf diese Autonomie zurückgeführt werden und so stellt auch Pollok letztendlich fest: „Die gemeinsame Wurzel aller Imperative, die Bedingung der Möglichkeit jeglichen Sollens, liegt hingegen in der praktischen Vernunft des Adressaten.“3 Interessant ist aber die Art und Weise, wie Pollok diesen Gedanken entwickelt und dementsprechend auch die Art und Weise, wie er ihn inhaltlich gestaltet.

3 Pollok, K. 2007 „Wenn Vernunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte“ – Über die gemeinsame Wurzel der kantischen Imperative. In: KS 97. S. 76.

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Wie auch Korsgaard,4 Ludwig,5 Staege6 und Andere in diesem Zusammenhang nimmt er zunächst auf eine Passage in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Bezug, worin Kant etwas behauptet, das von Pollok und im Folgenden als das „Analytizitätsprinzip der Zweck-Mittel-Relation“ bezeichnet wird und einen Grundgedanken der so genannten instrumentellen Rationalität darstellt, nämlich: Wer den Zweck will, will (so fern die Vernunft über seine Handlungen entscheidenden Einfluss hat) auch das dazu unentbehrlich nothwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist. Dieser Satz ist, was das Wollen betrifft, analytisch; denn in dem wollen eines Objects als einer Wirkung wird schon meine Causalität als handelnde Ursache, d.h. der Gebrauch der Mittel, gedacht, und der Imperativ zieht den Begriff nothwendiger Handlungen zu diesem Zwecke schon aus dem Begriff eines Wollens dieses Zwecks heraus [. . .]. (GMS, AA 04: 417) Pollok stellt fest, dass dies in erster Linie eine Aussage über die Analytizität der Zweck-Mittel-Relation innerhalb des menschlichen Wollens, mithin einen deskriptiven Satz über das menschliche Wollen darstellt, der noch keine unmittelbare Aussage über das menschliche Sollen beinhaltet. Es handelt sich hier also noch nicht um einen Imperativ. Nun weist Pollok auf den in Klammern enthaltenen Konditionalsatz hin, nämlich: „so fern die Vernunft über seine [des Akteurs] Handlungen entscheidenden Einfluss hat“, bezeichnet ihn als „Rationalitätsklausel“, und stellt fest, dass sich Kants Aussage über die Analytizität der Zweck-Mittel-Relation innerhalb des menschlichen Wollens unter Beachtung der Rationalitätsklausel in einen hypothetischen Imperativ umwandeln lässt. In dieser Rationalitätsklausel findet sich demnach die Quelle der Normativität hypothetischer Imperative. Ihr aufgehen im Imperativ lässt sich präskriptiv und allgemein so formulieren:

4 Korsgaard C. 1997: The Normativity of Instrumental Reason. In: Ethics and Practical Reason. Neu abgedruckt in: Korsgaard, C. 2008: The Constitution of Agency. 5 Ludwig, B. 1999: Warum es keine ‚hypothetischen Imperative‘ gibt, und warum Kants hypothetisch-gebietende Imperative keine analytischen Sätze sind. In: H. Klemme, B. Ludwig, M. Pauen, W. Stark: Aufklärung und Interpretation. Studien zu Kants Philosophie und ihrem Umkreis. 6 Staege, R. 2002: Hypothetische Imperative. KS 93.

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gestatte der Vernunft entscheidenden Einfluß auf deine Handlung!“7 Genau genommen vertritt Pollok die Ansicht, dass diese Aufforderung „eine Ebene unter den hypothetischen Imperativen“ (ebd.) anzusiedeln ist und dass erst ihre Verknüpfung mit der Zweck-Mittel-Relation den hypothetischen Imperativ ergibt. Aufgrund dieser Überlegungen empfiehlt er die folgende Reformulierung des hypothetischen Imperativs bzw. der Grundstruktur hypothetischer Imperative: Wer (i) im Stande ist, willensbezogene Zweck-Mittel-Relationen zu erkennen, (ii) (iii)

ein Gebot erlassen und dieses auch selbst befolgen kann,

gebietet sich, wenn sie oder er sich einen Zweck gesetzt hat, ipso facto den Einsatz der entsprechenden Mittel. In der kantischen Formulierung des Zweck-Mittel-Prinzips zielt die Rationalitätsklausel auf die Realisierung der Umsetzung von (i), (ii) und (iii).8 Polloks Berufung auf die oben zitierte Stelle aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und die Rationalitätsklausel erfolgt nicht unvermittelt, sondern stellt die Fortführung ihm bekannter Ausführungen von Christine Korsgaard über das so genannte instrumentelle Prinzip bzw. die instrumentelle Rationalität oder Vernunft9 sowie der wirkungsmächtigen Interpretation Patons,10 aber auch der entsprechenden Vorarbeit Staeges11 und Ludwigs12 in Auseinandersetzung mit Patzig,13 Seel,14 und natürlich auch Paton15 dar. An Korsgaards Arbeit würdigt Pollok die „Heranführung der hypothetischen Imperative h ­ insichtlich 7 8 9 10 11 12 13 14 15

Pollok 2007, 64. Pollok 2007, 64. Korsgaard 1997/2008, 46 f. (Alle Zitate aus den 2008 neu abgedruckten Texten werden hier entsprechend dieser Paginierung zitiert.) Paton, H.J. 1947: The Categorical Imperative. A Study in Kant’s Moral Philosophy. Staege 2002. Ludwig 1999. Patzig, G. 1966: Die logischen Formen praktischer Sätze in Kants Ethik. KS 56. Seel, G. 1989: Sind hypothetische Imperative analytische praktische Sätze? In: O. Höffe (Hg.): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar. Paton 1947. Ludwig bezieht sich an gegebener Stelle insbesondere auf die wirkungsmächtige Kapitel-Überschrift: „Imperative der Geschicklichkeit sind analytische Urteile“.

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ihrer normativen Kraft an den Begriff der Autonomie“, während er bei Paton die „Herausarbeitung der Sinnlichkeit als Bedingung derer Autorität, und zwar im Sinne der Ursache einer drohenden Niederlage der Vernunft“ wertschätzt.16 Diese Bedingung greift Pollok auf, indem er betont, dass die Notwendigkeit, praktische Gesetze überhaupt in Form von Imperativen zu formulieren, erst gegenüber Wesen besteht, die sich durch Willensschwäche auszeichnen und grundsätzlich imstande sind, auch gegen das Vernunftgesetz zu handeln.17 Die entscheidende Pointierung jedenfalls, die Pollok in seiner Interpretation vornimmt, besteht darin, dass er die Rationalitätsklausel und die Zweck-Mittel-Relation zu dem Gedanken verbindet, dass die Normativität hypothetischer imperative auf der Kohärenz der Zweck-Mittel-Relation insgesamt beruht,18 dass also die Ergreifung geeigneter Mittel zur Verwirklichung bestimmter Zwecke unter der Bedingung, dass die Vernunft entscheidenden Einfluss auf die Handlungen eines Akteurs besitzt, durchaus geboten ist. Zwar weisen auch Korsgaard, Staege und Ludwig auf den entsprechenden Konditionalsatz hin, aber erst Pollok integriert ihn in ein konkretes Argument, indem er feststellt, dass die Formulierung der Grundstruktur der hypothetischen Imperative: „wenn du den Zweck p willst und das dazu notwendige Mittel q ergreifen kannst, so ergreife q!“, weitgehend mit dem oben zitierten Satz, in dem Kant die Analytizität der Zweck-Mittel-Relation behauptet, übereinstimmt, und dass „der Klammerausdruck (. . .) dasjenige ist, was sich allein im Zweck-Mittel-Prinzip und nicht im hypothetischen Imperativ findet.“19 Daraus schließt Pollok, dass der appellative Rekurs auf die Rationalität in der so genannten Rationalitätsklausel „den Grund für den Übergang vom analytischen Zweck-Mittel-Prinzip zu der Nötigung des Willens, angesichts eines gegebenen Zwecks die für dessen Realisierung erforderlichen Mittel zu ergreifen“ darstellt.20 Ähnlich argumentiert er auch im Hinblick auf die Normativität des kategorischen Imperativs, indem er darauf hinweist, dass Kant in einer einschlägigen Formulierung eine ähnliche Parenthese integriert: 16 17

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Pollok 2007, 71. Der kantische Begriff der Willensschwäche kann, wenn man es forciert, auf Akrasie zugespitzt werden, muss aber nicht unbedingt eine akratische Handlungsstruktur implizieren, denn das Handeln gegen Vernunftgesetze kann auch aus der Dominanz der Neigungen entspringen und insofern als Ausdruck einer sinnlichen oder emotionalen Nötigung oder Unverfügbarkeit angesehen werden, oder auch aus Unachtsamkeit entspringen etc. Darum bleiben wir hier bei dem Begriff „Willensschwäche“. Pollok 2007, 65. Siehe Punkt 1.6 unten. Pollok 2007, 64. Pollok 2007, 64.

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War der Übergang vom analytischen Zweck-Mittel-Prinzip zum hypothetischen Imperativ in jenem Zusatz zu lokalisieren: so fern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat (GMS, AA 04: 417), so findet sich der Übergang vom Sittengesetz zum kategorischen Imperativ in diesem: wenn Vernunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte (GMS, AA 04: 400).21 Eben aufgrund der Zuspitzung auf die Autorität der Vernunft („Wenn die Vernunft alle Gewalt hätte . . .“) finde ich Polloks Aufsatz so inspirierend, denn wenn man Kants praktische Philosophie auf einen Einzeiler bringen wollte, wäre diese Formel sicherlich ein hervorragender Kandidat und Pollok rückt sie in den Mittelpunkt der Debatten um die Normativität der kantischen Imperative und bringt den gesamten Gedanken in die aktuellen handlungstheoretischen Debatten über praktische Gründe bzw. handlungsleitende Überzeugungen und die Handlungsorganisation im Allgemeinen ein. Wenn aber eine solche „Entdeckung“ einmal gemacht worden ist, man also einmal auf den entsprechenden Sachverhalt aufmerksam gemacht worden ist, so findet man, sobald man die Primärtexte durchforscht, leicht weitere ähnliche Formulierungen, und macht eine ganz simple, aber jedenfalls für den persönlichen Erkenntnisfortschritt beeindruckende Entdeckung, die die Willensstruktur betrifft, die Kant zufolge der maximal möglichen Entfaltung der praktischen Freiheit zugrunde liegen muss, also die Willensstruktur des „transzendentalen Subjekts“. Ich werde später auch auf einschlägige Stellen hinweisen, an denen Kant diese Formel in der Kritik der praktischen Vernunft verwendet und es wird sich zeigen, dass sie auch dort ganz entscheidend für die Argumentation im Kontext des höchsten Guts ist. Kant wird nämlich ähnliche Sätze in Bezug auf den Willen im Rahmen seiner freien Selbstbestimmung formulieren und betonen, dass bestimmte Gedanken nur unter der Voraussetzung, dass der Wille die entsprechende Gewalt besitzt, nachvollziehbar sind (Vgl.: KpV, A 75,100,101,149). Er wird dies schließlich in ein Argument zugunsten der Idee einer proportionierten Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit integrieren (KpV, A 199) und letztendlich als Grundproblem der Verfügungsgewalt eines Subjekts über seine praktischen Willensäußerungen in der Welt, also Handlungen, im Rahmen des Gottespostulats erörtern. Den u ­ mgreifenden 21

Pollok 2007, 75.

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Rahmen stellt dabei die Idee der Handlungsorganisation, und zwar im Hinblick auf Gründe, Grundsätze und Zwecke dar. Aber das wird man später sehen. Wenn die Vernunft alle Gewalt über den Willen besäße, oder, wie Pollok formuliert: wir der Vernunft den entscheidenden Einfluss über unsere Handlungen überließen . . . Ja, was dann? Die Antwort ist ebenso simpel wie innovativ für die Theorie des freien menschlichen Willens, liberum arbitrium, und der willentlichen Selbstbestimmung: Dann haben wir es mit der maximal möglichen Spontaneität im Rahmen der willentlichen Selbstbestimmung zu tun, mithin mit der maximalen Selbst-Bestimmung und minimalen FremdBestimmung. Somit besäßen wir auch die maximale Autorität in unserer Praxis, also der Totalität unseres Handelns. Wenn nun auch noch die volle Gewalt des Willens (über die Welt, in der er verwirklicht werden soll,) hinzukommt, dann haben wir es mit der maximalen Erfolgskontrolle eines Akteurs im ­Rahmen seiner willentlichen Selbstbestimmung im freien Handeln, also im Rahmen der praktischen Freiheit überhaupt zu tun. Einem solchen Akteur geht dann alles „nach Wunsch und Willen“, und den „Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem (. . .) alles nach Wunsch und Willen geht“, bezeichnet Kant als Glückseligkeit. (KpV, A 224) Kant erörtert hier also die Grundstruktur der Willens, der der maximal möglichen Entfaltung der praktischen Freiheit zugrunde liegt, oder, um es ins aktuelle handlungstheoretische Vokabular zu übersetzen, die optimale Handlungsorganisation bzw. Handlungsstruktur als Grundlage der maximal möglichen Erfolgskontrolle. An dieser Stelle führe ich ein erstes Argument dafür an, dass ich Kants Theorie der praktischen Freiheit vor dem Leitmotiv der Erfolgskontrolle interpretiere und rekonstruiere: 1.

Der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem alles nach Wunsch und Willen geht, zeichnet sich in struktureller Hinsicht durch die maximale Erfolgskontrolle im Rahmen der willentlichen Selbstbestimmung aus. 2. Dieser Zustand wird von Kant als Glückseligkeit bezeichnet. 3. Die Glückseligkeit stellt einen integralen Bestandteil der Theorie des höchsten Guts dar. 4. Die Theorie des höchsten Guts stellt einen integralen Bestandteil der Theorie der willentlichen Selbstbestimmung und praktischen Freiheit dar. 5. Darum stellt die Frage der Erfolgskontrolle einen integralen Bestandteil der Theorie der praktischen Freiheit und willentlichen Selbstbestimmung dar.

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Der Begriff „Erfolgskontrolle“ wird von Kant zwar nicht explizit verwendet, aber wenn man die idealtypische Vollzugsweise der praktischen Freiheit im höchsten vollendeten Gut mit der empirischen Vollzugsweise der menschlichen Willkür vergleicht, fällt in erster Linie der Unterschied des Subjekts im Hinblick auf die Erfolgskontrolle auf. Wir Menschen besitzen weder über die inhaltliche Bestimmung unseres Willens noch über dessen Verwirklichung in der Welt die volle Kontrolle, d.h.: vielerlei Zwecke und praktische Gründe, die unsere Willkür inhaltlich bestimmen, entspringen nicht unserer eigenen Spontaneität, sondern werden durch Rezeptivität an uns herangetragen. Das ist zwar kein Problem für die Gründe – wohl aber ein Problem für die Freiheit. Da aber Kant die Theorie der Handlung als Theorie der praktischen Freiheit, speziell als Theorie der freien willentlichen Selbstbestimmung konzipiert, spielt für ihn die Frage, ob die handlungsleitenden Überzeugungen aus der Spontaneität des Akteurs entspringen oder durch Rezeptivität an ihn herangetragen werden, eine wichtige Rolle. An dieser Stelle erkennt man aber auch den wichtigsten Unterscheid zwischen Polloks und meinem Interesse an der „Rationalitätsklausel“: Pollok interessiert sich für Imperative, während ich dem Gedanken der praktischen Freiheit nachgehe. Zwar teilen wir das Interesse an der Handlung, aber sein Interesse gilt in erster Linie der Normativität, meins der Kontrolle. Im Zusammenhang mit dem höchsten Gut erörtert Kant aber die Bedingungen, die erfüllt werden müssen, damit die praktische Freiheit als kontrollierte willentliche Selbstbestimmung zur vollen Entfaltung gelangen kann; und das ist der Gedanke, dem ich hier nachgehe. Selbstverständlich sehe auch ich die Bedeutung der Normativität in diesem Zusammenhang und erkenne sie auch selbstverständlich an: Aber mir geht es darum, die Bedeutung der Kontrolle für die Theorie des Handelns zu betonen und darauf aufmerksam zu machen, dass sie auch für Kants Theorie der auf Spontaneität beruhenden praktischen Freiheit einen Schlüsselbegriff darstellt. Von Pollok stammt allerdings die Inspiration dazu: „Wenn die Vernunft alle Gewalt hätte“. Im Ausgangspunkt von der von Pollok profilierten Formel führe ich den Gedanken über die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten hinaus, indem ich insbesondere die entsprechenden Überlegungen in Kants Hauptwerken berücksichtige und interpretiere ihn m. E. ganz im Sinne der kantischen Transzendentalphilosophie als Strukturbeschreibung des Willens, der der maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit zugrunde liegen muss. Die Differenz zwischen diesem idealtypischen Willen und der Realität der menschlichen Willkür hält auch Pollok in Anlehnung an Paton für den entscheidenden Grund pragmatisch praktischer bzw. hypothetisch praktischer Normativität

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und so lässt sich sein Aufsatz, gerade gegen Ende, zunehmend als Strukturbeschreibung des vernunftfähigen Willens lesen.22 Diese Strukturbeschreibung des freien Willens stellt den Ausgangspunkt für die systematische Entwicklung der ersten leistungsfähigen Handlungstheorie in der Geschichte der modernen Philosophie dar, nämlich der Handlungstheorie, die Hegel als Grundlage der moralischen Selbstbestimmung entwickelt, und die auch entscheidend für die hegelsche Kritik an der kantischen praktischen Freiheit ist, indem Hegel unterstellt, dass die Zuspitzung der kantischen Theorie der Freiheit auf bloß formale Aspekte der Autonomie einen entsprechenden Mangel im Hinblick auf die konkrete Verwirklichung gegebener Willensinhalte in der Welt besitzt; konsequenterweise vertritt Hegel den Standpunkt, dass die konkrete willentliche Selbstbestimmung nicht durch die Autonomie (also Selbst-Gesetzgebung) erschöpft ist, sondern, dass sie sich in der Handlung vollzieht. Die Handlung grenzt er von der bloßen Tat ab, indem er nur dasjenige an der Tat, was mit Vorsatz geschieht und eine bestimmte Absicht23 verfolgen kann, als Handlung und somit als Äußerung und Verwirklichung des Willens in der empirischen Welt anerkennt.24 Der Handlungstheorie, die Hegel im Moralitätskapitel der Grundlinien der Philosophie des Rechts25 und deren enzyklopädischer Kurzfassung entwickelt, geht in der E­ nzyklopädie26 eine konkrete Strukturbeschreibung des Willens im Hinblick auf das in seiner Selbstverwirklichung enthaltene Maß an Freiheit voraus, nämlich in den letzten Abschnitten der Psychologie. (Enz., §§ 475–478) Diese Strukturbeschreibung ist entscheidend für den Übergang vom subjektiven zum objektiven Geist und gilt als die eigentliche Begründung, oder, wie man im klassischen Jargon sagt, als „Deduktion“ des „objektiven Geistes“. Die Pointe der klassischen deutschen Philosophie besteht also darin, dass die Handlungstheorie mit der Strukturbeschreibung des Willens im Rahmen seiner freien Selbstbe22

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Vgl. Pollok 2007, 78: „Der Mensch ist Kant zufolge also (i) ein der Überlegung fähiges, also rationales Wesen, (ii) ein heteronomes und (iii) zugleich autonomes Wesen. Erst die Synthese der letzten beiden Aspekte – Heteronomie und Autonomie – ergibt den Begriff des Sollens.“ Dies ist der letzte Satz seines Texts. Das distinktive Merkmal ist hier, genau genommen, nur der Vorsatz, nicht die Absicht. Ich erkläre unten, was diese beiden Handlungsmomente von einander unterscheidet. Eigentlich reicht der bloße Vorsatz aus und die Absicht spielt eine andere Rolle, aber das ist hier nicht von Bedeutung. Hegel, G.W.F. 1821: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Im Folgenden: „RPH“. In: Hegel, G.W.F.: Gesammelte Werke. Hg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968 ff. Hegel, G.W.F. 1830: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Im Folgenden: „Enz.“.

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stimmung einhergeht, denn die Handlung wird als kontrollierte Willensäußerung in der Welt angesehen. Darum ist die Handlung in struktureller Hinsicht auch davon bestimmt, wie sich der Wille äußern und das Subjekt seine Ziele in der Welt verwirklichen kann; und das Maß der Dinge ist (bereits in Hegels Psychologie) der kontrollierte Erfolg im Rahmen des gesamten Prozesses dieser willentlichen Selbstbestimmung. Pollok ist der Überzeugung, Kant habe „eine Begrifflichkeit geschaffen, die es erlaubt, handlungsleitende Überzeugungen hinsichtlich ihres Geltungsanspruchs und ihrer Verbindlichkeit zu differenzieren“, indem er moralisch-­ praktische und nicht-moralisch-praktische Gründe voneinander unterscheidet und in Form des kategorischen Imperativs und der hypothetischen Imperative systematisch in die Theorie der praktischen Freiheit, mithin in die Theorie der willentlichen Selbstbestimmung integriert.27 Sein Interesse an der strukturellen Beschaffenheit und Normativität solcher Gründe ist offensichtlich handlungstheoretisch motiviert. Wir stellen aber fest, dass die Formel: „gestatte der Vernunft entscheidenden Einfluss auf deine Handlung!“28 eigentlich nicht ausreicht, um die Frage der praktischen Gründe in Kants Philosophie zureichend zu erhellen. Sie bringt zwar durchaus das ursprüngliche Anliegen, das in den Anfangspassagen der Kritik der praktischen Vernunft erörtert wird, zum Ausdruck, nämlich die Frage, ob die reine Vernunft auch praktisch sein kann, ob also nicht nur die empirisch praktische Vernunft, sondern auch die reine praktische Vernunft den Willen a priori zu bestimmen vermag, wunderbar zum Ausdruck und formuliert dieses Anliegen in Form eines für den gesunden Menschenverstand nachvollziehbaren Imperativs. Aber wir müssen bedenken, dass die volle Gewalt der Vernunft über den Willen mitnichten die volle Gewalt des Subjekts über den Prozess seiner willentlichen Selbstbestimmung darstellt, denn aus der Ebene der Willensäußerung in der konkreten Tat entspringt, wie Hegel an gegebener Stelle zurecht betont, eine irreduzible Äußerlichkeit und Kontingenz (Enz., § 504) gegenüber der ursprünglichen Bestimmung des Willens, also dem Willens-Inhalt, und diese Kontingenz kann entscheidend dafür sein, dass die Tätigkeit des Subjekts in der Welt Zustände hervorbringt, die überhaupt nicht mit dem ursprünglichen Willensinhalt übereinstimmen. In solchen Fällen können wir nicht von gelungener willentlicher Selbstbestimmung sprechen, und Hegel stellt fest, dass wir die entsprechenden Produkte unseres Tuns nur insofern als Ausdruck unserer willentlichen Selbstbestimmung, mithin als Handlung, anerkennen können und müssen, als wir sie absehen und kontrolliert hervorbringen konnten. Das, was für uns 27 28

Pollok 2007, 57. In beiden Kontexten, in denen Pollok die entsprechende Parenthese aktualisiert.

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unabsehbar ist und sich unserer Kontrolle entzieht, indem es entweder aus der Kontingenz der empirischen Welt, in der wir unsere Willensinhalte durch die Handlung verwirklichen wollen und die wir nicht zureichend zu kontrollieren vermögen, oder aus der Willkür anderer Subjekte entspringt, stellt auch nicht unsere eigene Willensäußerung, also auch nicht unsere Handlung dar. Darum stellt es auch keinen Gegenstand unserer eigenen (moralischen) Selbstbestimmung dar. Demzufolge tragen wir an einer entsprechenden Kontingenz keine (moralische) Schuld. (RPH, § 115–118, speziell § 116 f. und die entsprechenden Zusätze29)30 Hegel betont: „Der Wille hat schuld überhaupt daran, insofern in dem veränderten Dasein31 das abstrakte Prädikat des Meinigen liegt.“ (RPH, § 115) und: Obgleich alle Veränderung als solche, welche durch die Tätigkeit des Subjekts gesetzt wird, Tat desselben ist, so erkennt es dieselbe darum nicht als seine Handlung, sondern nur dasjenige Dasein in der Tat, was in seinem Wissen und Willen lag, was sein Vorsatz war, als dass Seinige, – als seine Schuld, an. (Enz., § 504) Die gesamte Kontingenz aber, von der Hegel betont, dass sie aus der Äußerlichkeit der Praxis gegenüber der ursprünglichen inhaltlichen Bestimmung des Willens entspringt, wirft nicht nur die Frage der Verantwortung, sondern vor allen Dingen die Frage der Kontrolle im Rahmen der willentlichen Selbstbestimmung auf und gibt uns die Formel an die Hand, dass wir umso mehr Verantwortung für unser Tun und Lassen tragen, als wir die Praxis unserer willentlichen Selbstbestimmung zu kontrollieren vermögen.

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Die im Suhrkamp-Verlag publizierte und von E. Moldenhauer und K.M. Michel edierte Ausgabe der RPH, auf die ich mich hier beziehe, enthält Hegels eigenhändige Notizen und mündliche Zusätze. Interessant ist in diesem Zusammenhang Hegels Interpretation des Ödipus-Dramas im Zusatz zu § 117. Hegel betont, dass das Subjekt das Recht auf die Selbstzuschreibung (Anerkennung) dessen, was an seiner Tat sein tatsächlicher Wille ist/war und dass Ödipus dementsprechend nicht als Vatermörder anzuklagen ist, da er nicht wissentlich, mithin nicht vorsätzlich seinen Vater erschlagen hat. Er hat durchaus jemanden vorsätzlich getötet, nicht aber vorsätzlich seinen Vater ermordet. Die Tötung eines ihm unbekannten Menschen ist darum durchaus seine Handlung, der Vatermord aber nur seine Tat und er trägt nicht an dem gesamten Umfang seiner Tat, sondern nur an seiner Handlung die moralische Schuld. Also an den Zuständen, die ich in der Welt durch meine Tätigkeit bewirke, nämlich an der „Tat“.

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Wenn die Vernunft alle Gewalt über den Willen besäße, so wären wir zumindest imstande, eine ganze Reihe intrasubjektiver Bedingungen der erfolgreichen willentlichen Selbstbestimmung zu erfüllen, aber es ist dadurch noch nicht gesagt, dass wir die zureichende Kontrolle über die Handlung besäßen: hierfür muss noch die Kontrolle des Willens über die Welt, in der er durch die Handlung verwirklicht werden soll, hinzukommen. Dieser zweite Gedanke ist wichtig, wenn es darum geht, Kants Theorie der praktischen Freiheit handlungstheoretisch zu aktualisieren, denn eine handlungstheoretische Aktualisierung dieser Theorie erschöpft sich nicht in der Frage der Gründe, sondern muss den gesamten Gedanken der Handlungsorganisation rekonstruieren. Zur Totalität der Handlungsbeschreibung, also zur Gesamtheit der handlungstheoretischen Rekonstruktion der kantischen Theorie der praktischen Freiheit, gehört jedenfalls auch die Untersuchung des Verhältnisses zwischen dem handelnden Akteur und der Welt, in der er seine praktische Freiheit verwirklichen will. Innerhalb dieser Begegnung ergibt sich eine gewisse Kontingenz, die aus der Eigendynamik der empirischen Welt entspringt, und die ebenfalls einen integralen Bestandteil der handlungstheoretischen Beschreibung der praktischen Freiheit darstellt. Aus der Perspektive des tätigen Subjekts zeichnet sich die ideale Performance dadurch aus, dass es die volle Verfügungsgewalt über die Welt besitzt und die Verwirklichung seine Willensinhalte vollkommen kontrollieren kann. Die Frage der Gründe und Zwecke betrifft nämlich überwiegend den intrasubjektiven Gesichtspunkt der Generierung von Willensinhalten, während die Frage der Gewalt des Willens über die Welt die Kontrollierbarkeit der Verwirklichung dieser Willensinhalte in der Welt betrifft. Der erste Gesichtspunkt wird von Kant im ersten, der zweite im zweiten Postulat erörtert. Die Formel „wenn der Wille alle Gewalt hätte“ wird von Kant wiederholt auf ähnliche Art und Weise wie die von Pollok genannte Formel verwendet, und wird, wie ich später insbesondere im Dialog mit Willascheks32 Überlegungen über das Primat des Praktischen und die darin enthaltenen Implikationen für die Postulatenlehre, nämlich speziell für das Gottespostulat, zeigen werde, als Grundproblem der Moraltheologie in der Kritik der reinen Vernunft und der speziell im Kontext des Gottespostulats formulierten Moraltheologie in der Kritik der praktischen Vernunft erörtert. Entscheidend ist also die Einheit beider „Gewalten“, denn ohne die Verfügungsgewalt des Willens über die Welt, in der gehandelt werden soll, lässt sich die Frage: „Wenn die Vernunft alle Gewalt über den Willen hätte, oder wir, 32

Willaschek, M. 2008: Rationale Postulate. Über Kants These vom Primat der reinen praktischen Vernunft. In: Klemme, H.: Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung.

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wie Pollok formuliert, der Vernunft den entscheidenden Einfluss über unsere Handlungen überließen . . . Ja, was dann?“, auch so formulieren: „Nichts“; denn zur Handlung muss noch die Kausalität des Willens in Bezug auf die empirische Welt hinzukommen, und wenn diese nicht oder nicht zureichend gegeben ist, bleibt die Handlung teilweise oder gänzlich aus und aus der Verfügungsgewalt der Vernunft über den Willen ist nichts als leere „Autonomie“ im pejorativen Sinne übrig geblieben. Genau diese leere Autonomie wurde also Kant von den Hegelianern oft vorgeworfen und sie lässt sich nur dann beseitigen, wenn gezeigt werden kann, dass die kantische Theorie der praktischen Freiheit (zumindest implizit) die nötige Kohärenz von der Autonomie bis hin zur Verwirklichung freier Zwecke durch Handlungen aufweist. Ich werde zeigen, dass dies weitgehend der Fall ist. Den Ausgangspunkt aller entsprechenden Erörterungen stellt aber der Begriff der Autonomie dar. Nach Kants Verständnis erschöpft sich die Autonomie durchaus nicht in der Wahl zwischen den Optionen dem Sittengesetz zu entsprechen oder ihm zu widersprechen, also der klassischen Bestimmung des arbitrium liberum als typisch menschliche Form der Wahlfreiheit; sie erschöpft sich auch nicht in der Wahl zwischen der Befriedigung unterschiedlicher, gegebener Neigungen oder zwischen der Wahl bestimmter Gründe oder Ziele. Vielmehr stellt sie eine Form der Gesetzgebung der Vernunft dar. Die bloße Wahl zwischen der Anerkennung oder Missachtung moralischer Standards beinhaltet aber keinerlei gesetzgebende Dimension. Es ist sehr wohl möglich, sich aus bloßer Neigung für oder gegen die moralische Praxis in einer gegebenen Situation zu entscheiden. Wenn Kant aber in dem berühmten „Beschluß“ der Kritik der praktischen Vernunft feststellt, dass das Bewusstsein des moralischen Gesetzes in mir meinen Wert als einer Intelligenz unendlich durch meine Persönlichkeit [erhebt], in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart, wenigstens so viel sich aus der zweckmäßigen Bestimmung meines Daseins durch dieses Gesetz, welche nicht auf Bedingungen und Grenzen dieses Lebens eingeschränkt ist, sondern ins Unendliche geht, abnehmen läßt (KpV, A 289 f.), so sehen wir, dass die Autonomie keineswegs durch die bloße Wahl für oder wider die moralische Praxis erschöpft wird, sondern gerade darin besteht, moralische Gesetze zu erlassen. Autonom ist das vernünftige Wesen in dem Akt, in dem es sich das Gesetz gibt, nicht in der empirischen Situation, in der es – eventuell vom empirischen Begehrungsvermögen herausgefordert –

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­ berlegt, ob seine Selbstverpflichtung auch stark genug ist. Aus der Autonomie ü der praktischen Vernunft entspringt, Kant zufolge, nichts Geringeres als das „Grundgesetz einer übersinnlichen Natur und einer reinen Verstandeswelt“ (KpV, A 74 f.), also das Grundgesetz, das in Analogie zu den Naturgesetzen unser intelligibles Dasein bestimmt und wonach rein intelligible Wesen ihre ganze Existenz führen würden, wenn sie denn existent wären. Entscheidend ist aber ein Gedanke, der eigentlich das Hauptanliegen meiner gesamten Ausführungen in diesem Buch und auch den Schlüssel für die Erfolgskontrolle darstellt: Diese intelligiblen Gesetze sind konstitutiv für Freiheit, weil sie die Kausalität bestimmen, nach der sich der Wille vollzieht, und willentliche Selbstbestimmung möglich machen. Sie konstituieren den Akteur, weil sie die Kausalität, nach der sich ein Akteur, Handlungsträger, von Tieren (die sich nur verhalten) unterscheidet, darstellen. Handeln beruht nach Kants Ansicht auf intelligiblen Gesetzen, während Verhalten auf Naturgesetzen beruht – und intelligible Gesetze entspringen aus der Autonomie der Vernunft. Man muss, wenn man mit Kant argumentieren will, sogar so weit gehen zu sagen, dass die Entscheidung gegen die moralische Praxis in einer konkreten Situation zwar durchaus einen Ausdruck der menschlichen Willkür im Sinne des arbitrium liberum darstellt,33 dass aber durch diese Entscheidung keineswegs Autonomie zum Ausdruck gebracht wird, sondern vielmehr ein Defizit an Kontrolle im Rahmen der willentlichen Selbstbestimmung eines vernunftfähigen Subjekts – ein Defizit, das unter dem Begriff der Willensschwäche thematisch wird. Wir werden im Folgenden sehen, dass diese Spannung, also der Versuch die instrumentelle Rationalität mit der ursprünglichen Spontaneität des transzendentalen Subjekts zu vereinen, auch bei Korsgaard erkennbar wird; und wenn ich das Typische an ihren Arbeiten von 2008 und 2009, also der neu verfassten Einleitung zur Neuausgabe ihrer älteren Texte in „The Constitution of Agency“ und mehr noch den Grundgedanken von „Self-Constitution“34 richtig interpretiere, so versucht sie genau dieser Spannung gerecht zu werden und noch stärker als in den älteren Arbeiten deutlich zu machen, dass Kants Theorie der praktischen Freiheit nicht auf bloße Zweckrationalität reduzierbar ist und dass sie auch durchaus nicht den Anspruch besitzt, ihre Normativität aus der Analyse empirischer Zweck-Mittel-Relationen zu generieren, sondern letztendlich 33

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Viele Kant-Forscher leugnen auch dies. Beispielsweise habe ich oft vernommen, dass Düsing diesbezüglich Bedenken hat und solches Tun bloß als mechanisches Verhalten im Sinne der „Freiheit eines Bratenwenders“ interpretiert. Vgl. insbesondere Korsgaards Ausführungen im Abschnitt 4.3.2, also 68ff.

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in einem Akt der reinen, spontanen, praktischen Synthesis des transzendentalen Subjekts begründet ist. Autonomie ist ein Akt der aus reiner Spontaneität erfolgenden positiven Bestimmung der Gesetze35 der praktischen Vernunft, die es dem einzelnen Subjekt möglich machen, in empirischen Situationen reflektierte und kontrollierte Entscheidungen für und wider bestimmte praktische Gründe zu treffen und somit zumindest auf intrasubjektiver Ebene die willentliche Selbstbestimmung zu kontrollieren. Im Hinblick auf die Rangordnung der drei typischen Bedeutungen des Begriffs „reason“ (a. substantive considerations, b. rational principles, c. the faculty of Reason) führt Korsgaard aus: In the Kantian conception of rationality that I favor, the order of the three aspects of reason goes the other way. Reason – the faculty of reason – is identified first, as the active dimension of the mind, and rational principles are identified as those that describe or constitute rational activity. When those principles are applied to facts and cases, they pick out the substantive considerations that we then regard as reasons.36 Wir sehen also, dass die Vernunft als Ursprung konstitutiver Prinzipien anerkannt wird und dass die gedankliche Richtung, ganz in Kants Sinne, von der Vernunft ausgeht und einen Kontrollanspruch gegenüber der einzelnen handlungsleitenden Überzeugung beinhaltet. Die Autonomie ist also die letzte Quelle aller Normativität in der kantischen Philosophie, denn in der Kantforschung bietet es sich an, nicht alle Gründe, die der Willkür „impellieren“, als normative Gründe anzuerkennen, sondern nur diejenigen, die auf der Spontaneität des Subjekts beruhen und eine auf der Gesetzgebung der Vernunft gegründete Normativität besitzen. Normativ sind für Kant darum nur solche Gründe, die zugleich als vernünftig anerkannt werden können. Bloße „Stimuli“ mögen zwar dem empirischen Begehrungsvermögen im Einzelfall „impellieren“ und zu bestimmtem Verhalten drängen. Auch können sie im Rahmen der Beschreibung des empirischen Verhaltens als explanatorische Gründe anerkannt werden, aber ihre Normativität kann in Kants Theorie der praktischen Freiheit nicht anerkannt werden, weil sie keine intelligible

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Im Hinblick auf meine Diskussion praktischer Gründe, unten, ist es wichtig, hier den Gesetzescharakter zu betonen. Die kantische Autonomie gibt keine Gründe, sondern Gesetze. Gesetze sind nicht auf Gründe reduzierbar und stellen auch nicht eine besondere Art von Gründen dar, sondern stellen einen ganz eigenen Ausdruck der Normativität aus Spontaneität dar. Korsgaard 2008, 3.

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­Gesetzmäßigkeit beinhalten.37 Die Quelle intelligibler Kausalität ist jedenfalls, wie Korsgaard betont, eindeutig: „In Kant’s theory normativity araises from autonomy – we give laws to ourselves.“38 Die Autorität der Vernunft durch Autonomie ist also ein Ausdruck von Spontaneität und nicht Rezeptivität. Das wird aus folgendem Grund so gedacht: Mit Kant sprechen wir von der Vernunft als einem Vermögen, das sich durch Spontaneität auszeichnet und im Kontrast zu den rezeptiven Vermögen steht, die unter dem Begriff der Sinnlichkeit, oder im praktischen Kontext spezieller unter dem Begriff des sinnlichen bzw. empirischen Begehrungsvermögens zusammengefasst werden.39 Darum empfehle ich, genau wie Korsgaard, die kantische Vernunft in erster Linie als das ursprüngliche Vermögen der Spontaneität zu verstehen. Gewiss zeichnet sich auch der Verstand durch Spontaneität aus, aber die Spontaneität des Verstandes ist in einer anderen Hinsicht normativ und auch in anderer Hinsicht von Bedeutung, nämlich im Hinblick auf die Weltorientierung,40 während die Spontaneität der Vernunft im Hinblick auf die Bestimmung der Werte, mithin auf die Werteorientierung und praktische Selbstbestimmung entscheidend ist. Eben weil die Vernunft als Vermögen der Spontaneität verstanden wird, liegt sie der freien Selbstbestimmung zugrunde. Freiheit kann nämlich niemals auf Rezeptivität beruhen, weil Rezeptivität Fremdbestimmtheit impliziert und Fremdbestimmtheit als Zwang empfunden wird. Vor allen Dingen kann Freiheit aber nicht auf Rezeptivität beruhen, weil die Gesetze, nach denen sich die Rezeptivität vollzieht, Naturgesetze und nicht intelligible Gesetze darstellen. Kant vertritt den Standpunkt, dass sich die menschliche Willkür41 gegenüber der tierischen Willkür dadurch auszeichnet, dass wir Menschen die Fähigkeit 37

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Für die kantische Theorie der Freiheit, speziell im Rückgriff auf die Theorie der transzendentalen Freiheit, stellt dies ein sehr wichtiges Argument dar. Kausalität nach Naturgesetzen und Kausalität aus Freiheit stellen genuin verschiedene Arten von Kausalität dar und Stimuli impellieren uns entsprechend der Kausalität nach Naturgesetzen, nicht entsprechend der intelligiblen Kausalität. Darum fallen sie überhaupt nicht in den Bereich der transzendentalen Freiheit, die wiederum die Grundlage der praktischen Freiheit darstellt. Korsgaard 2009, 13. Korsgaard 2008, 2. Die pragmatische Bedeutung dieses Vermögens fällt in etwa in den Bereich, den Raz (siehe unten) als Rationalität versteht, also Kenntnis der normativen Signifikanz empirischer Tatsachen und Konformität mit dieser Normativität. Der Ausdruck „Willkür“ wird von ihm nicht pejorativ verwendet, sondern steht für die typisch menschliche Willensstruktur im Spannungsfeld von Autonomie und Heteronomie, wie sie auch Pollok im letzten Satz seines Aufsatzes von 2007 beschreibt.

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besitzen, zu entscheiden, ob wir gegebenen Antrieben der Sinnlichkeit folgen wollen oder nicht. Wir gehen also zunächst davon aus, dass die menschliche Willkür, die Kant in den Vorlesungen über die Metaphysik und in der Kritik der reinen Vernunft (B 562 und B 830) klassisch als „arbitrium liberum“ bezeichnet, ebenso wie die animalische Willkür, „arbitrium brutum“, sinnlich affiziert ist, dass sie aber im Unterschied zum arbitrium brutum nicht „sinnlich necessitirt“ ist, dass also unser Handeln nicht durch den gegebenen Eindruck oder die gegebenen Eindrücke der Sinnlichkeit erzwungen wird. Wir sind durchaus imstande, uns in ein reflektiertes Verhältnis42 zu einem gegebenen Antrieb der Sinnlichkeit zu versetzen, eventuelle Konsequenzen zu bedenken, deren Attraktivität abzuwägen und zu entscheiden, ob wir dem gegebenen Antrieb der Sinnlichkeit folgen wollen oder nicht. Der Sinneseindruck selbst, also die inhaltliche Bestimmung unseres Willens, wird in solchen Fällen durch die Rezeptivität der Sinnlichkeit an uns herangetragen und wir sehen, dass wir im Hinblick auf solche inhaltliche Bestimmung unseres Willens zunächst einmal nicht den Anspruch erheben können, dass sie aus eigener Spontaneität generiert wird. In dieser Hinsicht sind wir zunächst fremdbestimmt. Ein Minimum an Spontaneität entfalten wir dann, wenn wir imstande sind, wenigstens unsere Entscheidung für oder wider einen gegebenen Antrieb der Sinnlichkeit spontan, also aus Selbsttätigkeit zu treffen. An dieser Stelle beginnt die Sache aus kantischer Perspektive interessant zu werden, denn es stellt sich die Frage, wie dies möglich sein soll. Bereits in der Geschichte des arbitrium liberum, beispielsweise bei Abelard, Duns Scotus oder Bonaventura wurde anerkannt, dass dies ein typisch menschliches Vermögen der Selbstbestimmung sei und dass der Mensch die Wahl habe, wie er handelt; aber das Besondere an der kantischen Theorie des arbitrium liberum und der mit ihm zusammenhängenden Theorie der praktischen Freiheit besteht in der Idee, dass diese Wahl ihrerseits im Hinblick auf die Spontaneität hinterfragt werden muss und dass nicht jede Art der Wahl gleichermaßen als Selbstbestimmung anerkannt werden muss. Kant gibt uns also eine Idee an die Hand, durch die wir zunächst fragen, wie diese Selbst-Bestimmung eigentlich erfolgt, also: wie die Wahl eigentlich spontan sein kann. Und die unmittelbarste kantische Antwort lautet: Wir haben es nur dann wirklich mit freier Selbstbestimmung zu tun, wenn die Wahl aufgrund eines spontanen Vermögens erfolgt. Also darf sie nicht auf Eindrücken der Sinnlichkeit, mithin auf Neigungen, sondern muss auf Gründen und Grundsätzen beruhen. Und da Kant 42

Korsgaard bezeichnet dies als „reflective Distance“ und profiliert es, ähnlich wie Hegel (reflektierender Wille), als ein typisch Menschliches Vermögen. Vgl.: Korsgaard 2008, 5 und Hegel, Enzyklopädie §§ 476 ff.

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zufolge die Vernunft das einzige Vermögen darstellt, das imstande ist, in Absehung aller empirischen Umstände, die sich eventuell nötigend auf den Willen auswirken könnten, aus reiner, eigener Spontaneität Grundsätze und Gründe zu geben, die a priori bestimmen, wie ein Akteur in bestimmten Situationen handeln soll, so beruht die gesamte Spontaneität der willentlichen Selbstbestimmung und praktischen Freiheit letztendlich auf der Vernunft. Wir sehen zugleich, was an solchen Grundsätzen und Gründen typisch normativ sein wird und warum wir in der Tradition der kantischen Philosophie überhaupt nicht den Ehrgeiz besitzen, alle Gründe als explanatorische Gründe darzustellen. Es geht uns eben in erster Linie um freie Selbstbestimmung und von mir aus um die Selbstzuschreibung von Handlungen, indem wir sie als Ausdruck unserer willentlichen Selbstbestimmung anerkennen; die Fremdzuschreibung von Handlungen, also die Zuschreibung von Handlungen gegenüber Dritten, spielt eine untergeordnete Rolle, wenn der Akzent auf der Entwicklung einer leistungsfähigen Theorie der praktischen Freiheit als Ausdruck der kontrollierten willentlichen Selbstbestimmung liegt. Das ist bei Kant allerdings der Fall. Vor dem Leitmotiv der instrumentellen Rationalität wird tendenziell der Standpunkt vertreten, dass Kants Philosophie auf eine gewisse Weise als rationalistisch interpretiert werden kann, aber sein Rationalismus ist, wie Korsgaard innerhalb der entsprechenden Kreise nachdrücklich betont, von besonderer Art: Kant is usually thought of as a rationalist, but the Kantian conception of practical rationality represents a third and distinct alternative. According to the Kantian conception, to be rational just is to be autonomous. That is: to be governed by reason, and to govern yourself, are one and the same thing. The principles of practical reason are constitutive of autonomous action: they do not represent external restrictions on our actions, whose power to motivate us is therefore inexplicable, but instead describe the procedures involved in autonomous willing. But they also function as normative or guiding principles, because in following these procedures we are guiding ourselves.43 Der kantische „Rationalismus“ ist also kein Zweckrationalismus, sondern beruht in erster Linie auf der Idee der Spontaneität der Vernunft, und impliziert, dass diese imstande ist, sich Gesetze aus eigener Selbsttätigkeit zu geben, wodurch ihre Spontaneität als Autonomie, also Selbstgesetzgebung spezifiziert wird. Wenn aber die Autonomie als Gesetzgebung verstanden wird, was bei 43

Korsgaard 1997/2008, 31.

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Kant zweifellos der Fall ist, so sehen wir, wie Spontaneität und Normativität Hand in Hand gehen: „Rationality is a power of self-determination“,44 und nicht das Vermögen, sich Restriktionen zu fügen und Kompromisse zu machen. Es wird insbesondere in den Anfangspassagen der Kritik der praktischen Vernunft gezeigt, dass die Vernunft mithilfe praktischer Gesetze den Willen a priori zu bestimmen vermag, und zwar sowohl in ihrer Gestalt als reine praktische Vernunft als auch in Gestalt als empirisch praktische Vernunft. Hierauf gehe ich in dem entsprechenden Kapitel im Detail ein. Hier nur so viel: Die Autonomie der Vernunft ist ein Ausdruck der Selbstbestimmung, und darum, wie Korsgaard betont, nicht als Restriktion, sondern als Konstitution praktischer Freiheit und Handlungsträgerschaft zu verstehen. Nur mit diesem Verständnis der Vernunft können wir die Entscheidung für und wider einen empirischen Willensinhalt als Ausdruck unserer Spontaneität anerkennen. Andernfalls müssen wir davon ausgehen, dass wir keine Erfolgskontrolle bei der Wahl und Entscheidung besitzen, weil wir nicht a priori determinieren können, wie wir in gegebenen Situationen eventuell handeln werden. Darum ist Kants Position nur mit größter Zurückhaltung und Vorsicht als rationalistisch zu bezeichnen, denn sie grenzt sich dezidiert vom klassischen Rationalismus Leibniz’scher Prägung ab. Darüber hinaus betrachtet sie den instrumentellen Rationalismus im Sinne der Rational-Choice-Theory durchaus als minderwertig und unterscheidet sich auch von dem beispielsweise von Raz vertretenen objektiven Rationalismus (siehe unten) signifikant. Sie ist nur insofern „rationalistisch“, als die Vernunft die höchste Autorität im Rahmen der praktischen Selbstbestimmung besitzt. Aber die Art und Weise, wie dies von Kant gedacht wird, ist idealistisch: Die Vernunft entwirft die zugrundeliegende ‚Infrastruktur‘ (an Gesetzen für die Ausübung der intelligiblen Kausalität) für die kontrollierte willentliche Selbstbestimmung. Das Primat liegt bei der willentlichen Selbstbestimmung und praktischen Freiheit. Um aber überhaupt willentliche Selbstbestimmung praktizieren zu können, ist es notwendig, dass wir imstande sind, uns in eine reflexive Distanz zu unseren Motiven zu versetzen und die Wahl und Entscheidung bewusst und kontrolliert zu treffen. Die Bedeutung der Kontrolle also, die ich in Polloks Berufung auf die Rationalitätsklausel zu erkennen glaube, benennt Korsgaard explizit: This means that the space of reflective distance presents us with both the possibility and the necessity of exerting a kind of control over our beliefs and actions that the other animals probably do not have.45 (Hervorhebung S.J.) 44 45

Korsgaard 2009, 69. Korsgaard 2008, 4.

einleitung

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Andere Geschöpfe besitzen darum keine entsprechende Kontrolle, weil ihre Entscheidungen nicht auf reflektierten und schon gar nicht auf spontanen Gründen beruhen und sie darum in der Wahl, sofern sie sie überhaupt treffen können, fremdbestimmt sind. Nur Spontaneität macht wirkliche SelbstBestimmung möglich und diese Spontaneität kann nur in Verbindung mit einem klaren Bewusstsein dafür, was aus welchen Gründen und Grundsätzen getan und gelassen, und in Verbindung mit der entsprechenden Kontrolle ausgeübt ­werden – weil es andernfalls keine Spontaneität, mithin keine Selbst-­ Bestimmung mehr wäre.46 Aus diesem Grund wird in der Kantforschung weitgehend der Standpunkt vertreten, dass die willentliche Selbstbestimmung unter der Leitung der Vernunft das Höchstmaß an praktischer Freiheit d­ arstellt, und in diesem Sinne interpretieren wir Korsgaards obige Feststellung: „According to the Kantian conception, to be rational just is to be autonomous. That is: to be governed by reason, and to govern yourself, are one and the same thing.”47 Wenn wir also der Vernunft den entscheidenden Einfluss über die Handlung überlassen, so tun wir dies nicht zugunsten eines restriktiven Vernunftdeterminismus, sondern zugunsten einer positiven Bestimmung unserer Freiheit. Gerade in Abgrenzung vom Vernunftdeterminismus, der die Präsenz und Wirksamkeit der Vernunft im Rahmen der willentlichen Selbstbestimmung als Ausdruck der Einschränkung unserer Freiheit versteht, profiliere ich in dieser Rekonstruktion der kantischen Theorie der praktischen Freiheit die auf der Vernunft beruhende Spontaneität der willentlichen Selbstbestimmung. Korsgaard bringt den entsprechenden Grundgedanken folgendermaßen auf den Punkt: According to Kant, then, to think thoughts about what you ought to do is at the same time to think thoughts about what you would do were you a fully self‐determining being. And if it is possible for us to act as we would act if we were fully self‐determining beings, then we are, for practical purposes, fully self‐determining beings (G 4:446–448). This is why the content of the thoughts that move us can make a difference to the degree of self‐determination we exhibit when our movements are caused by our thoughts. The categorical imperative, on this view, is not just the principle of morality. It is also the constitutive principle of action.48 (Typographische Hervorhebung S.J.)

46 47 48

Es geht hierbei nicht um Autonomie und Heteronomie, sondern primär um Spontaneität und Rezeptivität. Korsgaard 1997/2008, 31. Korsgaard 2008, 15.

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kapitel 1

In diesem Buch gehe ich dem Gedanken der freien willentlichen Selbstbestimmung in Kants Theorie der praktischen Freiheit nach und verfolge darum in erster Linie die Frage, wie die Spontaneität des Subjekts als konstitutives Prinzip der Praxis verstanden werden kann. Die Moralität, für sich genommen, interessiert mich überhaupt nicht: wäre es möglich, spontane willentliche Selbstbestimmung unabhängig von der moralischen Autonomie zu denken, hätte ich jedenfalls nichts dagegen einzuwenden, aber es wird sich zeigen, dass die auf der Autonomie der Vernunft beruhenden, so genannten „moralischen Gesetze“49 von konstitutiver Bedeutung für die spontane willentliche Selbstbestimmung, also die intelligible Kausalität des Willens, sind. Den Maßstab stellt also nicht die Moralität, sondern die praktische Freiheit dar. 1.2

Gründe und Grundsätze, Spontaneität und Rezeptivität

Bereits in den Vorlesungen über die Metaphysik unterscheidet Kant zwischen möglichen Beweggründen unseres Handelns, nämlich zwischen so genannten „Stimuli“, die durch die Rezeptivität der Sinnlichkeit an uns herangetragen werden, und Beweggründen des Verstandes, die zwar ebenfalls causae impulsive darstellen, allerdings von einer anderen Art, da sie davon abhängen, „wie wir die Gegenstände durch Begriffe, durch den Verstand erkennen“ (PM 181), und die als „Motive“ bezeichnet werden. Unsere Entscheidung für und wider eine bestimmte Handlung kann also entweder auf Stimuli oder auf Motiven beruhen. Nur sofern Sie auf Motiven, also Verstandesgründen beruht, sprechen wir von Spontaneität. Unten, in dem Abschnitt über den objektiven Rationalismus, werde ich mich auch mit der Frage auseinandersetzen, wie sich über Rationalität verfügende Subjekte reflektiert zu Stimuli verhalten können. Hier lasse ich dies zunächst auf sich beruhen, denn Subjekte, deren Handeln durch Stimuli determiniert ist, stehen nach Kants Dafürhalten stets unter Verdacht, sich bloß zu verhalten, also stets in der Nähe zum arbitrium brutum. Zwar können wir durch die reflexive Distanz eine gewisse Kontrolle gegenüber Stimuli entwickeln, aber wir sehen leicht ein, dass das Handeln nach Gründen, die uns nicht (durch Rezeptivität) von außen gegeben werden, sondern aus unserer eigenen Spontaneität entspringen, eine höhere Form der Freiheit darstellt und wollen zunächst diesem Gedanken nachgehen. Die Rede von Spontaneität und spontanen Gründen bringt die Assoziation mit sich, dass es sich hierbei um die Frage der Aktivität und Passivität 49

Solche Gesetze werden von Kant als moralisch bezeichnet.

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­ andelt, wie sie beispielsweise von Raz 2002 kritisch diskutiert wird, und es h ist ein Gemeinplatz, dass erfolgreiche willentliche Selbstbestimmung zugleich aktive willentliche Selbstbestimmung darstellt. Aber die Frage der Spontaneität und Rezeptivität ist darum nicht ohne Verlust in das Vokabular „Aktivität-­ Passivität“ übertragbar, weil (a) sowohl Rezeptivität als auch Spontaneität Aktivitäten des Subjekts darstellen und (b) Spontaneität und Rezeptivität eine ganz bestimmte „Vermögenslehre“ als Rahmentheorie implizieren. Die Rezeptivität stellt die Art und Weise, wie sich die Wahrnehmung und mit ihr die Erfahrung vollzieht, dar, und sie zeichnet sich zwar durch Empfänglichkeit aus, stellt aber dennoch eine gewisse Tätigkeit, also Aktivität des Subjekts dar, nämlich eine Tätigkeit, zu der beispielsweise leblose Dinge und eventuell Pflanzen überhaupt nicht imstande sind. Auch macht Raz darauf aufmerksam, dass beispielsweise jemand, der von einem Hochstand aus Vögel beobachtet, in einem gewissen Sinne als passiv, in einem anderen durchaus als aktiv angesehen werden kann, ebenso wie ein von Kleptomanie getriebener Dieb in einem gewissen Sinne aktiv ist, da er durchaus Diebstähle begeht, in einem anderen Sinne aber als passiv angesehen werden muss, da er dazu pathologisch gezwungen wird.50 Auch würden wir, wenn wir die oben erwähnte Unterscheidung von Tat und Handlung (vgl.: Hegel) vor dem Gesichtspunkt der willentlichen Selbstbestimmung erwägen, durchaus dafür argumentieren können, dass jede Tat eine Form von Aktivität darstellt – aber ob sie von Spontaneität oder Rezeptivität dominiert ist, bleibt zu untersuchen. Aktiv ist das Subjekt in allen Taten, aber mancherlei Aspekte dieses Tuns sind ihm nicht verfügbar, sondern werden auf eine Art und Weise an das Subjekt herangetragen, die gewissermaßen unbemerkt an der Reflexion vorbei geht. Raz macht darauf aufmerksam: Our life as we lead it is just our life, except that some elements in it seem like intruders, interpolators. Some thoughts we have, emotions we feel, some of our beliefs, desires, and actions are experienced as not really ours. It is as if we lost control, as if we were taken over, possessed, by a force which is not us. Such cases are the exception, but they are real enough. The difficulty in explaining their nature is not in explaining the exception, but in explaining the normal case: in what sense are our normal feelings and emotions, desires and beliefs, etc., ‘ours’ or ‘under our control’?51

50 51

Vgl.: Raz 2002, 6f. Raz 2002, 21.

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kapitel 1

Mir geht es also nicht um die Frage, ob ein Handlungsträger in einer Handlung aktiv ist oder nicht: die Frage, auf die ich hinaus will, betrifft die Freiheit bzw. die kontrollierte willentliche Selbstbestimmung innerhalb dieser Handlung und ich bezeichne diesen Gegenstandsbereich mit dem kantischen Begriff der Spontaneität. Spontan ist ein Handlungsträger nur dort, wo er die Inhalte seines Willens aus eigener Selbsttätigkeit bestimmt und sie ihm nicht durch ein rezeptives Vermögen vorgegeben werden, und dort, wo er seine Willensinhalte in der Welt durch die Aktualisierung solcher Handlungsschemata realisiert, die er zugleich als berechtigt anerkennt und als solche will. Ich greife darum die Unterscheidung von Stimuli und Motiven, die Kant unverändert von Baumgarten übernimmt, auf, um den Kontrast von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung innerhalb der Theorie der praktischen Freiheit und Handlung durch das Begriffspaar „Spontaneität-Rezeptivität“ zu reflektieren. Der Regress praktischer Gründe und die praktische Funktion von Grundsätzen Verstandesgründe im kantischen Sinne, also „Motive“, werden in den aktuellen Debatten im weitesten Sinne als praktische Gründe bezeichnet, also als rationale Gründe für und wider die Aktualisierung bestimmter Handlungsschemata. Wir gehen also davon aus, dass ein rationaler Grund eine handlungsleitende Funktion besitzen kann. Allerdings sind Kants „Motive“ und „praktische Gründe“ im heutigen Sinne mitnichten Identisch, denn „Motive“ stellen eine besondere Art praktischer Gründe dar: Erstens darum, weil auch Stimuli praktische Gründe im heutigen Sinne darstellen und zweitens, weil Motive nach Kants Verständnis einen Ausdruck von Spontaneität darstellen. Auch sind „Motive“ und „Gründe“ nicht identisch mit Humes Begriffspaar „desire“ und „belief“. Als Gründe kommen heutzutage vielerlei Kandidaten infrage. Deskriptive Gründe können sowohl emotional als auch rational sein; entscheidend ist nur, dass sie kommunizierbar und aus dritter Perspektive nachvollziehbar sind. Wenn beispielsweise jemand aus Leidenschaft eine bestimmte Handlung begeht, wird die Leidenschaft nicht als „Motiv“ also als „Verstandesgrund“ im kantischen Sinne anerkannt werden können, aber a posteriori, also im Rahmen der Beschreibung dessen, was vorgefallen ist – juristisch würde man hier vom Sachverhalt sprechen – erkennen wir die Leidenschaft als „Triebfeder“, also als Grund an. Normativ können eigentlich alle Gründe sein, sofern sie tatsächlich eine handlungsleitende Funktion besitzen. Rational können ebenfalls 1.2.1

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27

alle bewusst verfügbaren Gründe sein, sofern sie vom Akteur reflektiert und als Ausdruck der eigenen willentlichen Selbstbestimmung anerkannt werden. Primär, in Davidsons Sinne, können ebenfalls sowohl Stimuli als auch Motive sein. Lediglich wenn es um die Frage der Handlungsleitung bzw. Handlungskontrolle geht, die im Deutschen Idealismus von substantieller Bedeutung ist und in den aktuellen Debatten mit Einschränkung Frankfurts Idee der „guidance“ ähnelt, zeichnet sich ein bedeutender Unterschied zwischen der Funktion von Stimuli und Motiven ab. Die Pointe der kantischen Theorie der Praktischen Freiheit in Abgrenzung von der baumgarten‘schen Theorie des Triebaufschubs und der gesamten Tradition des arbitrium liberum besteht eben darin, dass nur Handlungen, die auf „Motiven“, also rationalen Gründen und eben nicht auf Stimuli beruhen, als frei bezeichnet werden können, weil alle Determination der Handlung durch Stimuli eine rezeptive Dimension beinhaltet, die subversiv gegenüber dem Kontroll- bzw. Leitungsanspruch des Akteurs auftritt. Kurz: Bei Handlungen, die Stimuli folgen, kann mit Kant nur viel zurückhaltender als bei Frankfurt von „guidance“ gesprochen werden, denn obgleich sich aus der reflexiven Distanz des Akteurs zum Stimulus ein gewisses Kontrollpotential ergibt, erschöpft sich die Spontaneität letztendlich darin, den Stimulus als handlungsleitendes Motiv anzuerkennen oder nicht. Dagegen hat die Freiheit, zu entscheiden, ob man diesen Stimulus überhaupt haben will oder nicht, niemals bestanden, mithin hat das Subjekt niemals die Kontrolle darüber besessen, ob sich ihm ein vernunft- bzw. moralitätsfremdes Handlungsmotiv einstellen wird oder nicht. Das Subjekt hat also keine Kontrolle über einen substantiellen Bereich der willentlichen Selbstbestimmung, nämlich das Auftreten von Handlungsmotiven. Dies sieht bei „Verstandesgründen“, also „Motiven“ im kantischen Sinne ganz anders aus. Somit beinhaltet Kants Theorie der praktischen Freiheit eine ganz spezifische Kritik an der Tradition des liberum arbitrium, indem sie nur Handeln aus Gründen und nicht auch Verhalten aus Stimuli als frei anerkennt. 1.2.1.1 Der Regress praktischer Gründe Wenn wir dem Gedanken der willentlichen Selbstbestimmung nachgehen, so drängt sich die Frage auf, nach welchen Gesichtspunkten wir uns für bestimmte praktische Gründe entscheiden. Wenn wir davon ausgehen, dass in einer gegebenen Situation ein bestimmtes Spektrum an Handlungsoptionen verfügbar ist und eine ganze Reihe miteinander konkurrierender Gründe für die jeweiligen Handlungsmuster spricht, ist die Aktualisierung eines bestimmten Handlungsschemas in Berufung auf einen bestimmten Grund zugleich eine mehr oder weniger freie Entscheidung des Akteurs zugunsten dieses Grundes und

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kapitel 1

muss ihrerseits, sofern sie sich durch Spontaneität auszeichnen soll, auf weiteren Gründen beruhen. So lässt sich durchaus ein Regress oder Progress, je nach Perspektive, von Gründen und Meta-Gründen denken.52 Für sich genommen wäre ein solcher Regress keine Tragödie, aber da er die Unabsehbarkeit von Gründen impliziert, ist er mit der Idee der auf Transparenz beruhenden freien, willentlichen Selbstbestimmung unverträglich, denn unter solchen Bedingungen müsste das Subjekt an irgendeinem Punkt eine Wahl treffen, ohne sich der hierfür entscheidenden Gründe bewusst zu sein und an diesem Punkt würde dann die kontrollierte freie Selbstbestimmung aufgehoben. Ich spreche hier bewusst von der bloßen „Wahl“ und nicht von der „Entscheidung“, denn die gesamte Theorie der Freiheit in der klassischen deutschen Philosophie läuft eben darauf hinaus, dass dies keine qualifizierte „Entscheidung“ sein kann – es ist bloß eine beliebige, mit mancherlei Kontingenz behaftete „Wahl“. Für die „Willkür“ und den „Prozess der Zerstreuung“ (vgl.: Hegel, Enz. §§ 477 f.) reicht dies aus, aber für höhere Formen der Ausübung praktischer Freiheit nicht. 1.2.1.2 Raz‘ Beispiel und Kants Lösung Ich will dies anhand eines von Raz53 angeführten Beispiels verdeutlichen: Imagine that I have to choose which of three films, A, B, or C, to go to. I can see any, but no other option is available. Imagine further that all three are worth seeing. So I have reason to see each of them, but cannot see more than one today. Finally, let it be assumed that for some reason I should see A or B rather than C, but there is no better case for seeing A rather than B, nor the other way round. 52

53

Vgl.: Korsgaard 2008, 5: “But as the philosophical tradition shows us, there are many contenders to serve as our rational principles. And this would seem to set us off on a regress. For it appears that we need a reason to conform to one proposed principle rather than another, and, if that is so, there must be a further principle behind every principle, to give us a reason for conforming to it. However – to anticipate my conclusion – there need be no such regress if there are principles that are constitutive of the very rational activities that we are trying to perform when we take control of our beliefs and of our actions, in the way that rationality requires of us.” Ich beziehe mich nicht zufällig auf Raz, sondern weil ich unten seiner Kritik an Korsgaards Theorie der instrumentellen Rationalität nachgehen will und er zudem im Zusammenhang mit dem, was er als „facilitative principle“ bezeichnet, einige Gedanken anführt, die meine Kritik an der Art und Weise, wie die „Analytizitätsklausel“ innerhalb der Zweck-Mittel-Relation vor dem Hintergrund des instrumentellen Prinzips oft interpretiert wird, unterstützen.

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In this situation I have reason to facilitate seeing A as well as reason to facilitate seeing B, but no reason to facilitate seeing C. For example, I have reason to buy a ticket for A, and reason to buy a ticket for B, but no reason to buy a ticket for C. Because it is a good film I still have reason to C. But because in today’s circumstances that reason is defeated I have no reason to facilitate action conforming to it. This is nothing to do with seeing C not being my end. I have no end, no decision what to do.54 (Absatz von mir eingefügt) Dieses Beispiel verwendet Raz – und darum nehme ich es auf – um sein „facilitative principle“ in einer bestimmten Hinsicht (Kontext-Abhängigkeit) vom instrumentellen Prinzip abzugrenzen und ich greife es hier schon auf, um bei demselben Beispiel bleiben zu können. Um aber den Regress zu verdeutlichen, beachte ich zunächst nur den ersten Absatz. Wir haben es also mit einer Situation zu tun, in der zunächst einmal Gründe für drei Handlungsoptionen zur Verfügung stehen, indem wir gute Gründe besitzen, um die Filme A, B oder C zu sehen. Wir stellen fest, dass diese Gründe nicht notwendigerweise mit einander konkurrieren. Beispielsweise könnte der Grund a dafür, A zu sehen, darin bestehen, dass es ein hervorragendes Drama ist, der Grund b für B darin, dass es eine hervorragende Komödie ist, und der Grund c für C darin, dass es ein hervorragender Krimi ist. Angesichts dessen wäre nichts dagegen einzuwenden, alle drei Filme nacheinander zu sehen. Das Problem ergibt sich aber erst durch die zeitliche Verdichtung bzw. zeitliche Überschneidung: wir konstruieren den Fall so, dass wir zu einem bestimmten Zeitpunkt die Wahl haben, einen der drei Filme zu sehen. Aus dieser zeitlichen Zuspitzung, die gegenüber den jeweiligen Gründen für die einzelnen Filme ganz äußerlich und zufällig ist, ergibt sich die Konkurrenz dieser drei Gründe. Raz nimmt nun an, dass ein weiterer Grund d dafür spricht, den Gründen a und b den Vorzug vor c zu geben. Dieser Grund ist eventuell von einer anderen Art als die Gründe a, b und c, denn hierbei handelt es sich eventuell nicht um einen Grund dafür, den Film A oder B zu sehen, sondern dafür, den Grund a oder b gegenüber c zu präferieren. Um den Regress ein wenig stärker zu profilieren, ließe sich das Beispiel an dieser Stelle abwandeln und ebenso annehmen, dass ein weiterer Grund e für die Aktualisierung von c und infolgedessen die Ergreifung von C spricht. Dann hätte sich die Konkurrenz der Gründe a, b und c auf die Ebene von d und e verlagert und wir wären auf der Suche nach Gründen, die jeweils d oder e unterstützen etc. Es ließe sich also leicht ein 54

Raz 2011, 147.

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kapitel 1

Grund f für die Aktualisierung von d und g für die Aktualisierung von e denken und selbstverständlich auch ein Grund h für f und i für g etc. Man sieht, dass wir auf diese Weise ein (zugegebenermaßen abstraktes55) Beispiel konstruieren, das bewusst darauf ausgerichtet ist, den Regress jeweils miteinander konkurrierender Gründe von einer Ebene auf die nächste zu übertragen und die Konkurrenz dabei aufrecht zu erhalten. So konstruiert, lässt sich dieses Problem nicht auflösen, denn wir verzichten darauf anzunehmen, dass sich auf irgendeiner Ebene durch kontingente Umstände ein entscheidendes Kriterium einschleicht. Kants Lösung ist einfach und dadurch zwar in ihrer Leistungsfähigkeit begrenzt, aber immerhin nachvollziehbar: Entweder wir besitzen einen Grundsatz, wonach wir die Entscheidung treffen können, oder wir besitzen keinen solchen Grundsatz. Wenn wir einen entsprechenden Grundsatz besitzen, müssen wir vermittels der bestimmenden Urteilskraft56 den gegebenen Fall unter diesen Grundsatz subsumieren, und werden, sofern wir richtig urteilen, auch eine Entscheidung treffen können. Ein solches Urteil ist eventuell nicht leicht, denn dafür ist, wie Kant im Schematismus-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft betont, gesunder Menschenverstand, Erfahrung, Sachverstand und Anderes nötig, und man kann sich durchaus irren: Ein Arzt daher, ein Richter oder ein Staatskundiger, kann viel schöne pathologische, juristische oder politische Regeln im Kopf haben, in dem Grade, daß er selbst darin gründlicher Lehrer werden kann, und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstoßen, entweder weil es ihm an natürlicher Urteilskraft (obgleich nicht am Verstande) mangelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto einsehen, aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kann, oder auch darum, weil er nicht genug durch Beispiele und wirkliche Geschäfte zu diesem Urteile abgerichtet worden. (KrV, B 173) Und in der berühmten Fußnote zu dieser Feststellung fügt Kant hinzu: „Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.“ (KrV, B 173) Wir können uns also zwar durchaus irren, aber sofern wir über einen Grundsatz verfügen, besitzen wir zumindest eine realistische Chance, dass wir 55 56

In der Realität unserer Entscheidungspraxis gibt es niemals „gleich gute Gründe“. Bittner äußert sich kritisch in Bezug auf Kants Theorie der Urteilskraft in diesem Zusammenhang, und ich gehe unten auf seine Bedenken ein, aber selbstverständlich wird seine Kritik der Sache nicht gerecht.

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den einzelnen Fall unter das entsprechende allgemeine Gesetz subsumieren können, dass wir also überhaupt ein qualifiziertes Urteil treffen können. Ein solches Urteil könnte unserer Entscheidung zugrunde liegen und die nötige Kontrolle des Akteurs über den Prozess seiner willentlichen Selbstbestimmung gewährleisten. Wenn wir keinen entsprechenden Grundsatz besitzen, dann kann uns nicht geholfen werden, und wir müssen aufs Glück oder den Zufall vertrauen. In Bezug auf die Leistungsfähigkeit des kantischen Ansatzes drängt sich allerdings eine Frage auf, nämlich: Wie viele Grundsätze hat ein vernunftfähiger menschlicher Akteur sinnvollerweise? Und selbst, wenn er über ein dermaßen ausgeprägtes Spektrum an empirischen Grundsätzen verfügt, dass er seine Lebenswelt weitgehend abdeckt, so stellt sich die Frage, wie er mit originär neuen Erfahrungen umgeht. Klar ist jedenfalls, dass zur menschlichen Praxis der Umgang mit neuen Erfahrungen und Situationen, in denen eine Entscheidung getroffen werden muss, obgleich man keinen empirischen Grundsatz dafür besitzt, gehört und „Klugheit“, im natürlichen Sinne des Wortgebrauchs, besteht sicherlich darin, auch mit solchen Situationen souverän umgehen zu können. Wir müssen uns damit abfinden und die Tatsache anerkennen, dass es für die menschliche Praxis niemals möglich, und meines Erachtens auch überhaupt nicht wünschenswert ist, dass sie bis in jedes empirische Detail auf Grundsätzen beruht. Darum müssen wir stets davon ausgehen, dass es zu Fällen kommen kann, in denen wir Entscheidungen treffen müssen, ohne auf empirische Grundsätze zurückgreifen zu können. Zwar besitzen wir für solche Fälle, sofern sie moralisch relevant sind, apriorische, moralische Gesetze, die uns bei der Generierung handlungsleitender Überzeugungen die Richtung weisen können, aber zur Realität unserer Praxis gehören auch Fälle wie die oben von Raz beispielhaft angeführte Entscheidung für den einen oder anderen Kinofilm. Nichtsdestoweniger werden wir sehen, dass die kantische Grundidee, dass nämlich eine kontrollierte und auf der Rationalität, in seinem Falle auf der Vernunft und Urteilskraft beruhende Entscheidung, nur unter der Bedingung, dass ein Grundsatz vorliegt, möglich ist. Ich werde unten, am Ende des Abschnitts über Raz‘ „facilitative reasons“ nochmal darauf hinweisen, dass seine Lösung, zwar a posteriori einsichtig, also nachvollziehbar, ist, sie aber nicht zu erklären vermag, inwiefern die Entscheidung für den Film A kontrolliert erfolgt. Es bleibt eine bloße „choice“. Wir müssen jedenfalls anerkennen, dass unsere Praxis in der empirischen Welt mit einer gewissen Kontingenz behaftet ist, und dass diese Kontingenz ein irreduzibles Moment der praktischen Freiheit bzw. Handlung darstellt, jedenfalls der praktischen Freiheit bzw. Handlung menschlicher Akteure in dieser aktuellen Welt. In anderen, möglichen Welten sieht die Sache vielleicht

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kapitel 1

anders aus, aber das kümmert uns nicht. In Bezug auf andere Akteure, insbesondere solche, die die volle Verfügungsgewalt über die empirische Welt besitzen und in einer entsprechend gestalteten möglichen Welt leben, trifft dies eventuell auch nicht zu. Aber auf uns trifft es durchaus zu und damit müssen wir leben. Interessant ist aber die Frage, ob Kant diese Kontingenz bewusst ist, und ob sie in die Theorie der praktischen Freiheit integriert wird; und ich vertrete in dieser Arbeit den Standpunkt, dass sie ihm erstens durchaus bewusst ist, und sie zweitens systematisch in die Theorie der praktischen Freiheit integriert wird, nämlich in die Sphäre der so genannten pragmatischen und auf Glückseligkeit57 ausgerichtete Praxis, die ein irreduzibles Moment der Theorie des höchsten Guts darstellt. Das wird man noch sehen. Bringen wir den obigen Gedanken auf eine höhere/tiefere (je nach Perspektive) Ebene: Wir haben in Raz‘ Beispiel zunächst drei miteinander konkurrierende Gründe, a, b und c und darüber hinaus einen weiteren Grund d, der dafür spricht, a und b gegenüber c zu präferieren. Aufgrund von d scheidet c und mit ihm auch die Option, C zu sehen, aus. Raz betont, dass dies mitnichten bedeutet, dass c keinen guten Grund dafür darstellt, C zu sehen. Vielmehr haben wir schlicht einen weiteren Grund, d, der gegen die Aktualisierung von c spricht. Die Wahl spitzt sich in seinem Beispiel also nur noch auf die Filme bzw. Handlungsoptionen A und B aufgrund von a und b zu. Zugleich hat sich aber auch die Begründungsproblematik auf eine neue Ebene verlagert, denn nun bedarf es eines guten Grundes für die Entscheidung zwischen a und b. Wenn wir an dieser Stelle mit Raz annehmen, dass a und b „gleich gute“ Gründe darstellen – was auch immer das bedeuten soll, denn eine Quantifizierung von Gründen, die dem Gedanken ihrer Gewichtung zu Grunde liegt und entscheidend dafür ist, dass ein Grund den anderen schlagen („to defeat“) kann, oder gleichwertig ist, ist trotz aller Bemühungen in den Debatten seit Davidson nicht möglich – ist es nicht ohne Weiteres möglich, einen weiteren Grund e zu identifizieren, der für die Aktualisierung von a oder b sprechen würde. Eine „rationale“ Entscheidung für die Handlungsoptionen A oder B wäre dann scheinbar nicht möglich. Raz will darauf hinaus, dass das instrumentelle Prinzip hier nicht weiter hilft, während das von ihm profilierte „facilitative principle“ durchaus Perspektiven bietet. Ich diskutiere diese Lösung unten. Hier will ich erst einmal schauen, welche Lösung Korsgaard anbieten würde und glaube, dass die folgende Passage aufschlussreich ist:

57

Die Glückseligkeit ist in meiner handlungstheoretischen Rekonstruktion der praktischen Freiheit, und zwar speziell vor dem Hintergrund der Handlungsorganisation, ein Ausdruck, der nur auf die vollkommene Erfolgskontrolle hinausläuft.

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1.2.1.3

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Korsgaards Lösungsansatz

Where are we to find these reasons? How are we to determine whether our perceptions and desires are adequate grounds for the beliefs and actions to which they incline us? To identify reasons we need principles, principles that we can apply to facts and cases in order to decide whether our impulses to believe and to act count as reasons or not. But as the philosophical tradition shows us, there are many contenders to serve as our rational principles. And this would seem to set us off on a regress. For it appears that we need a reason to conform to one proposed principle rather than another, and, if that is so, there must be a further principle behind every principle, to give us a reason for conforming to it. However – to anticipate my conclusion – there need be no such regress if there are principles that are constitutive of the very rational activities that we are trying to perform when we take control of our beliefs and of our actions, in the way that rationality requires of us.58 Korsgaards Herangehensweise ist insofern komplexer, als sie, ganz in kantischer Tradition, zwischen Gründen und Grundsätzen („principles“) unterscheidet und betont, dass uns Grundsätze dazu befähigen, uns in bestimmten Fällen für und wider bestimmte Gründe zu entscheiden. In einem weiteren Schritt spricht sie die Gefahr eines Regresses von Grundsätzen an und bietet, ebenfalls in kantischer Tradition, eine Lösung an, die die konstitutive Funktion von Grundsätzen, die auf der Gesetzgebung der Vernunft beruhen, betont. Der Verdacht vom Regress praktischer Grundsätze lässt sich aus Kants Perspektive leicht zurückweisen, denn seine Theorie ist ganz entscheidend davon geprägt, dass zwei ganz bestimmte Arten von Grundsätzen angenommen werden: kategorische und hypothetische. Jene gelten ausnahmslos, diese nur unter bestimmten Bedingungen. Letztere sind, wie ich in Punkt 3.3.3 ausführlich zeigen werde, nur unter der Bedingung, dass sie im Einklang mit jenen stehen, gültig. Daher kann ohnehin kein unendlicher Regress von Grundsätzen denkbar sein, denn irgendwann kommt man immer auf die Ebene der eigentlich relevanten, moralischen Grundsätze, die der Autonomie der Vernunft entspringen und insofern konstitutiv sind, als sie erstens keiner weiteren Gründe bedürfen59 und zweitens die normative Grundstruktur der praktischen Freiheit überhaupt ausmachen.

58 59

Korsgaard 2008, 5. Das ist ein zentraler Gedanke der Theorie vom Sittengesetz als Faktum der Vernunft.

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kapitel 1

Ich werde nun im nächsten Abschnitt auf die konstitutive Funktion von Grundsätzen im Deutschen Idealismus eingehen und in Anschluss daran das Problem des mutmaßlichen Regresses von Grundsätzen und die Frage, ob es weiterer Gründe bedarf, Grundsätze zu beherzigen, erörtern. 1.2.1.4

Die entscheidungstragende Funktion praktischer Grundsätze im Deutschen Idealismus Um dem Problem des Regresses praktischer Gründe zu begegnen, wird von Kant und den deutschen Idealisten in der Tat angenommen, dass wir als vernunftfähige Wesen in der Lage sind, uns a priori Grundsätze zu geben, nach denen wir bestimmen, für welche praktischen Gründe wir uns in bestimmten Situationen entscheiden wollen. Dieser Akt der Selbstgesetzgebung wird im weitesten Sinne als Autonomie bezeichnet. Wenn diese Grundsätze wiederum auf der Spontaneität der Vernunft (Autonomie) beruhen, also aus ihrer eigenen Selbstgesetzgebung entspringen, und zudem ein oberstes Prinzip besitzen, das von Kant in der Kritik der praktischen Vernunft als „Faktum der Vernunft“ in die Theorie eingebracht wird, dann ergibt sich die folgende Willensstruktur, die sehr typisch für die gedankliche Richtung der kantischen Philosophie im Unterschied zum Zweck-Rationalismus ist: Das Subjekt gibt sich durch sein ursprünglich spontanes Vermögen, nämlich die Vernunft, gewisse Gesetze zur positiven Bestimmung seines Willens, also seiner intelligiblen Kausalität, vor, die entweder kategorisch (ausnahmslos) oder hypothetisch (unter bestimmten Bedingungen) den Willen determinieren, indem sie es dem Subjekt ermöglichen auf kontrollierte Art und Weise zu bestimmen, für und wider welche praktischen Gründe es sich in entsprechenden Situationen entscheiden soll. Wenn es einem Akteur gelingt, die aus seiner eigenen Spontaneität entspringenden Gesetze in der empirischen Welt in Form praktischer Gründe und konkreter Handlungen zu aktualisieren, liegt ein erfolgreicher Prozess der willentlichen Selbstbestimmung auf allen Ebenen vor, nämlich auf der Ebene der Autonomie, auf der Ebene der praktischen Gründe, auf der Ebene der Handlung. Die gedankliche Richtung ist hierbei aber ganz entscheidend: beginnt man (empiristisch) bei dem gegebenen Sachverhalt, also bei dem, was in den heutigen Debatten schlicht als „Tatsache“ bezeichnet wird, und sucht von dort aus nach Gründen und Grundsätzen, so gelangt man bestenfalls zu einem Verständnis von Normativität, das auf Sanktionierung beruht60 und auf 60

Raz‘ so genanntes „facilitative principle“ stellt hier eine interessante Ausnahme dar, die ich aber erst unten diskutiere.

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dessen Grundlage man das System moralischer und juristischer Rechte und Pflichten als ein System von Zwängen und Kompromissen verstehen müsste, also zu einer Geisteshaltung, die nur dem Stand der „Atomistik“ nach Hegels Verständnis der bürgerlichen Gesellschaft entspricht und die sich dadurch auszeichnet, dass das Individuum in einem äußerlichen Verhältnis zum Recht steht und es in Form des Gesetzes nur als äußere Gewalt anerkennt – also als ein notwendiges Übel. Hegel erkennt diesen Zustand darum bloß als einen Not- und Verstandesstaat an und bezeichnet ihn als die in ihre Extreme zerfallene Sittlichkeit.61 Von einem empiristischen Ausgangspunkt kann jedenfalls keine leistungsfähige Theorie der Freiheit entwickelt werden.62 Kants entscheidende gedankliche Wendung, gerade in Abhebung von Hume, besteht darin, dass die praktische Freiheit als willentliche Selbstbestimmung gänzlich auf der Autonomie und Spontaneität des Subjekts beruht und die Gedankenführung in der ursprünglichen Spontaneität des Subjekts ihren Ausgangspunkt nimmt; im Ausgangspunkt davon wird erörtert, wie weit die praktische Selbstbestimmung gelangen kann. Dem Empirismus steht hier jedenfalls nicht (wie in der Antinomie) der dogmatische Rationalismus, sondern eine Theorie der Spontaneität gegenüber; und die philosophische Rahmentheorie, die die Spontaneität zum Prinzip erhebt, ist der Idealismus. In diesem Sinne stellen die Grundsätze/Gesetze der Vernunft nach Kant, wie Korsgaard oben treffend betont, keine Restriktionen der Freiheit, sondern vielmehr ihr Fundament, sozusagen ihre zugrunde liegende normative Infrastruktur, dar. Wenn wir also vor diesem Hintergrund annehmen, dass der Akteur in Raz‘ oben zitiertem Beispiel einen Grundsatz beherzigt, der in der entsprechenden Situation aktualisiert werden kann und dafür geeignet ist, die Wahl zwischen a und b zu treffen und somit die Handlungsoption A oder B im Rahmen einer kontrollierten und rational fundierten willentlichen Selbstbestimmung zu aktualisieren, erkennen wir sofort, welchen Nutzen die Unterscheidung von Gründen und Grundsätzen bringt. Zwar müssen alle Grundsätze, die auf das obige Beispiel anwendbar sind, empirisch, beliebig und bestenfalls subjektiv verbindlich sein, aber wenn die Wahl beispielsweise zwischen den Handlungsoptionen P, nämlich jemandem in der Not helfen, und Q, nämlich pünktlich zur Arbeit erscheinen, getroffen werden müsste, so böte es sich an, dass jemand nicht erst angesichts der gegebenen Dringlichkeit, in der er sich 61 62

Die entsprechenden Ausführungen findet man in Hegels Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft in der Rechtsphilosophie und Enzyklopädie. Dass das so ist und warum es so ist, sehen wir im Kontext der Antithesis der so genannten Freiheitsantinomie.

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aktuell befindet, beginnt zu überlegen, ob er eventuellen pro-P-Gründen oder pro-Q-Gründen den Vorzug geben will, sondern ganz unabhängig von dieser Dringlichkeit den apriorischen Grundsatz beherzigt, Menschen in Not zu helfen, sofern es in seinem Vermögen steht. Dieser Grundsatz macht die Entscheidung für die Aktualisierung von P und allen pro-P-Gründen leicht.63 Vor allen Dingen macht er diese Entscheidung frei von der Nötigung durch die Dringlichkeit der aktuellen Umstände. Der Grundsatz wurde gegeben, als keinerlei Not herrschte. Dieser Gedanke ist typisch für die idealistische Ausgangsposition und unterscheidet sie deutlich von den meisten Ausgangsüberlegungen heutiger Debatten über Dilemmata, Gründe und Handlungen: Während man es heute für geboten hält, den konkreten Weltbezug dadurch unter Beweis zu stellen, dass man gegebene Nöte erkennt und – meistens kasuistische – Lösungen dafür anbietet, wurde in der klassischen deutschen Philosophie anders vorgegangen: Man fand es besser, vorausschauend zu denken und nahm an, dass wir, solange wir frei von Nöten sind, imstande sind, zu überlegen, nach welchen Grundsätzen wir unsere Entscheidungen treffen wollen, wenn wir in die entsprechende Situation geraten. Es wurde also nicht nur der Anspruch erhoben, rational zu handeln, sondern auch der Anspruch, die Handlungsweise frei gestalten zu können, also frei zu entscheiden, welche Handlungsmuster bzw. Handlungstypen ein Akteur in einer empirischen Situation, wenn sie denn eintrifft, ergreifen und welche er unterlassen will. Darum beginnt der Gedanke bei der Autonomie und nicht beim Krisenmanagement. Das meint Korsgaard, wenn sie formelhaft betont, dass uns die hypothetischen Imperative (in dem von mir verwendeten Vokabular aus der Kritik der reinen Vernunft entspricht dies der pragmatischen Vernunft) dazu befähigen, dass wir die Ursache des Handelns sind und uns der kategorische Imperativ (im Vokabular der KrV: die moralische Vernunft) dazu befähigt, dass wir die Ursache sind.64 Am Ende steht der idealistische Gedanke der freien, kontrollierten, willentlichen Selbstbestimmung, den ich hier profilieren möchte, und der beide Akzente ver63

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Spannend wird die Sache, wenn er auch den Grundsatz beherzigt, jederzeit pünktlich zu sein, aber ich habe dieses Beispiel so konstruiert, dass eine Lösung ganz unproblematisch ist: Die Pünktlichkeit ist nur ein pragmatischer Grundsatz, die Nothilfe ein moralisches Gesetz. Pragmatische Grundsätze besitzen, sofern sie im Konflikt mit moralischen Gesetzen stehen – wie ich an gegebener Stelle im Haupttext zeigen werde – keine Gültigkeit. Korsgaard 2009, 72: “To act is to constitute yourself as the cause of an end. The hypothetical imperative picks out the cause part of that formulation: by following the hypothetical imperative, you make yourself the cause. As we are about to see, the categorical imperative picks out another part of that formulation – that the cause is yourself. By following the categorical imperative, you make yourself the cause.”

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eint: wir sind die Ursache unserer willentlichen Selbstbestimmung, und zwar indem wir imstande sind, unseren Willen a priori positiv zu bestimmen und nicht erst aus der Not heraus zu reagieren. Nur vermittelst dieser normativen ­Infrastruktur der Freiheit sind wir in der Lage, qualifizierte, freie Entscheidungen zu treffen und nicht bloß zwischen Vorgaben zu wählen. In einem Vokabular, dessen man mittlerweile weitgehend verlustig gegangen ist, würden wir in diesem Zusammenhang auf Begriffe, wie: Spontaneität, Prinzip, intellektuelle Anschauung, „Thathandlung“ etc. verweisen. Diese ursprüngliche positive Bestimmung des Willens erfolgt nach Kants Ansicht durch allgemeine Gesetze (Grundsätze) und nicht durch einzelne Gründe. Kant vertritt den Standpunkt, dass die Kontrolle, die für die Handlungsträgerschaft konstitutiv ist, nur durch die Aktualisierung einer bestimmten Art von Kausalität, nämlich der intelligiblen Kausalität, möglich ist und dies bedeutet, dass ein Akteur nach intelligiblen Gesetzen handelt. Gesetze können aber keine Einzelfälle oder einzelne Tatsachen der Welt sein, sondern sind immer allgemein und lassen die Subsumption einer Vielzahl möglicher empirischer Einzelfälle, also einzelner Phänomene, unter sich zu. Gründe sind letztendlich solche empirischen Einzelfälle, in denen Grundsätze aktualisiert werden. 1.2.1.5

Normative Ebenen in Kants Theorie der kontrollierten willentlichen Selbstbestimmung Es ist allerdings wichtig, hier einen bestimmten Begriff von „Grundsätzen“ zugrunde zu legen, denn nicht jedes Ziel, auf das eine Handlung oder eine Handlungsreihe ausgerichtet ist, jeder Zweck oder jede Absicht, stellt zugleich einen Grundsatz dar. Beispielsweise stellt die Absicht abzunehmen keinen Grundsatz dar. Den Ausdruck „Grundsatz“ verwende ich hier genauso, wie von Kant in der Kritik der praktischen Vernunft gewollt, nämlich als Bezeichnung von Regeln, deren Verbindlichkeit nur subjektiv ist. Zur Erinnerung: Kant unterscheidet gleich im ersten Paragraphen (KpV, A 35) zwischen zwei Arten praktischer Grundsätze, nämlich im Hinblick auf deren Gültigkeit bzw. Verbindlichkeit: Als praktische Gesetze erkennt er nur solche praktischen Grundsätze an, die objektiv verbindlich sind, während er praktische Grundsätze, die nur subjektive Verbindlichkeit besitzen, als Maximen bezeichnet. Demnach stellen praktische Grundsätze allgemeine Regeln dar, worunter einzelne Fälle subsumiert werden können. Insofern ist die Absicht abzunehmen kein praktischer Grundsatz, weil sie nämlich überhaupt kein Gesetz und auch keine Maxime darstellt. Letzteres ist wichtig, denn beim Begriff der Maxime herrschen einige Unstimmigkeiten. Einen Grundsatz generieren wir, wenn wir zur

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Verwirklichung unserer Absicht abzunehmen, beschließen, täglich nur eine bestimmte Anzahl an Kalorien zu uns zu nehmen. Wenn ich also zwischen Gründen und Grundsätzen unterscheide und betone, dass es für Kants Theorie der praktischen Freiheit und willentlichen Selbstbestimmung ­entscheidend ist, dass sie auf Grundsätzen beruht, so meine ich das, was in der naiven Sprache als Gesetz bezeichnet wird: Ich kann aber nicht zwischen Gründen und Gesetzen unterscheiden, weil Kant in der KpV nur eine bestimmte Art praktischer Grundsätze als Gesetze anerkennt, nämlich objektive Grundsätze. Da ich aber sowohl die subjektiv verbindlichen als auch die objektiv verbindlichen meine, bezeichne ich sie so, wie es in kantischer Terminologie richtig ist, nämlich als praktische Grundsätze bzw. kurz als Grundsätze. In meiner Rekonstruktion der praktischen Freiheit wird es sich dabei in Bezugnahme auf KrV, B 828 um pragmatische und moralische Grundsätze bzw. Gesetze handeln. Dort wiederum spricht Kant einfach von „Gesetzen“, die er aber ebenfalls im Hinblick auf deren Gültigkeit unterscheidet. Aber hiermit setze ich mich an gegebener Stelle detailliert auseinander, also lasse ich es jetzt auf sich beruhen. Demnach müsste unter Verwendung des ausgereiften Vokabulars in der KpV auch die Grundstruktur der kontrollierten willentlichen Selbstbestimmung, mithin der Handlungsorganisation, letztendlich von der Autonomie der Vernunft ausgehen, die die Grundstruktur eigentlicher praktischer Gesetze, also solcher Gesetze, die ausnahmslos, nämlich für jeden vernunftfähigen Akteur in jeder beliebigen Situation gelten müssen, generiert. Darauf baut eine zweite normative Ebene auf, die empirisch praktische Gesetze umfasst, also solche, die in der KrV als „pragmatisch“ bezeichnet werden und in der Rezeptionsgeschichte der GMS und KpV weitgehend mit den hypothetischen Imperativen oder instrumentellen Maximen zusammenfallen. Diese Ebene ist zwar besonders interessant für die Theorie der instrumentellen Rationalität, aber man muss sich davor hüten, dieses beliebige Interesse mit Kants Systematik zu verwechseln und die pragmatischen Gesetze aus dem Gesamtkontext der Normativität der Vernunft zu isolieren. Ich werde darum an gegebener Stelle, nämlich unter Punkt 3.3 eigens das Verhältnis von pragmatischen und moralischen Gesetzen erörtern. Jedenfalls stellen die empirisch praktischen, subjektiv verbindlichen Grundsätze die Grundlage für eine dritte normative Ebene dar, die einzelne Gründe enthält, nämlich einzelne, empirische Situationen, in denen die Aktualisierung moralischer Gesetze und pragmatischer Grundsätze möglich ist. Da, wie ich in dem angekündigten Abschnitt zeigen werde, pragmatische Gesetze nur unter der Bedingung, dass sie den moralischen nicht widersprechen, gültig sein können, kann sich kein Konflikt zwischen moralischen und pragmatischen Gesetzen im Hinblick auf konkrete empirische Gründe ergeben.

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Insgesamt haben wir es bei Kant also mit drei normativen Ebenen zu tun, nämlich: 1. 2. 3.

Objektive Gesetze der Freiheit (moralische Gesetze) Subjektive Grundsätze der Freiheit (Maximen) Rationale Gründe (Verstandesgründe laut Metaphysikvorlesungen)

Nach dem Gesichtspunkt der Handlungsorganisation durch ein einheitliches Vermögen, nämlich die Vernunft, müssen diese drei normativen Ebenen auf einander abgestimmt werden, denn andernfalls disqualifiziert sich der Akteur hinsichtlich seines Anspruchs auf Rationalität, mehr nicht. Er kann dann noch immer irrrational handeln oder sich einfach von gegebenen Stimuli treiben lassen und dabei sogar großes Glück empfinden, aber: rational ist das nicht mehr und er verliert natürlich die Handlungskontrolle, wodurch er sich sogar verdächtig macht, die Handlungsträgerschaft überhaupt einzubüßen und sich auch als Akteur im eigentlichen Sinne zu disqualifizieren. 1.2.1.6

Der Mythos von der Beliebigkeit subjektiver Grundsätze bzw. Maximen Von einem naiven Standpunkt aus stellt die Behauptung, dass kein Konflikt rein praktischer und empirisch praktischer, also moralischer und pragmatischer Gesetze im Hinblick auf praktische Gründe möglich ist, eine merkwürdige These dar. Wir haben die Intuition, dass es selbstverständlich möglich ist, dass sich ein beliebiger Akteur einen beliebigen subjektiven Grundsatz geben kann, beispielsweise den Grundsatz, sich ungeachtet aller Konventionen und Normen und unter Verwendung aller sich wie auch immer anbietenden Mittel zu bereichern; und wir haben die Intuition, dass dies beispielsweise zu einer Situation führen kann, in der dieser Akteur die Gelegenheit hat, sich durch unmoralische Mittel zu bereichern. Nach pragmatischen Gesichtspunkten würde diese Gelegenheit also einen Handlungsgrund darstellen, während sie nach moralischen Gesichtspunkten keinen Handlungsgrund darstellen würde. Man sieht leicht, dass sich erstens eine unendliche Menge solcher Konfliktfälle denken lässt und dass zweitens kein Ausweg aus der Misere möglich ist, solange wir unhinterfragt anerkennen, dass sich jedermann jede beliebige Maxime geben darf und sich dabei trotzdem nicht als rationaler Akteur disqualifiziert. Solche Willkür kann aber nicht anerkannt werden, und zwar darum, weil moralische Gesetze im kantischen Sinne „objektive Gesetze der Freiheit“ (KpV, A 19) darstellen und ausnahmelos gelten (KrV, B 828). Da sie aber ausnahmslos, also für jedes beliebige Subjekt in jeder beliebigen Situation gelten,

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besteht überhaupt kein Spielraum für die Vernunft, zugleich pragmatische Gesetze zu geben, die den moralischen widersprechen. Da aber sowohl die moralischen als auch die pragmatischen Gesetze ein und derselben Vernunft entspringen, führt dies dazu, dass etwaige Maximen, die den moralischen Gesetzen widersprechen, grundsätzlich ungültig sind. Um dies plausibel zu machen: Wenn sich ein beliebiger Akteur einen Grundsatz gibt, der jederzeit und überall gültig sein soll, kann er niemals widerspruchsfrei einen weiteren Grundsatz beherzigen wollen, der Ausnahmen zulässt; denn dann will er den ersten Grundsatz offensichtlich nicht in der gegebenen Strenge. Entweder will er, dass ein Gesetz ausnahmslos gilt, oder dass es Ausnahmen zulässt. Aber wenn er will, dass ein Gesetz ausnahmslos gilt, kann er nicht zugleich Ausnahmen von dieser Ausnahmslosigkeit wollen. Darum ist Kant ganz vorsichtig, wenn es darum geht, überhaupt „moralische Gesetze“, also ausnahmslos gültige praktische Gesetze zu formulieren, denn nicht alles, was dem gemeinen Verstand als Kandidat für ein moralisches Gesetz einfällt, erfüllt die Kriterien, dass es jedermann, jederzeit und überall zu einem bestimmten Handlungstyp verpflichten kann. Im Hinblick auf empirisch praktische Grundsätze bestehen zwar weitere Spielräume, aber auch hier bestehen Grenzen; und diese Grenzen sind durch die Gesetze, die ausnahmslos gelten sollen, bestimmt. Daher kann vom kantischen Standpunkt aus keine zügellose Willkür hinsichtlich der Gestaltung von Maximen als rational gerechtfertigt anerkannt werden und zwar nicht nur nach Gesichtspunkten, die die Binnenstruktur der entsprechenden Maximen betreffen, sondern hinsichtlich ihres Verhältnisses zu den eigentlichen Gesetzen der Freiheit, also den objektiven, moralischen Gesetzen. Alle Maximen, also alle persönlichen Grundsätze von Akteuren, die den Anspruch auf Rationalität erheben, müssen die Bedingung erfüllen, dass sie nicht im Widerspruch zu den Gesetzen stehen, die derselbe Akteur als ausnahmslos gültig für sich und jeden anderen rationalen Akteur ansieht. Letztere, also die moralischen, stehen aber, wie Kant meint, a priori fest, so dass hier keine Spielräume bestehen. Das Subjekt kann also nicht einfach darauf verzichten, moralische Gesetze als verbindlich für sich anzusehen und den Anspruch erheben, dass aufgrund der Tatsache, dass es keine ausnahmslos gültigen praktischen Gesetze anerkennt, kein Widerspruch zwischen beliebigen Maximen und moralischen Gesetzen möglich ist. Wenn es den Anspruch auf Vernunftfähigkeit, also Rationalität aufrecht erhalten will, muss ein Subjekt stets die Gültigkeit der wenigen ausnahmslos gültigen, also moralischen, Gesetze anerkennen und seine persönlichen Grundsätze, also Maximen, innerhalb der Spielräume gestalten, die die objektiven Gesetze der Freiheit zulassen.

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1.2.1.7 Bedarf es spezifischer Gründe, um Grundsätze zu beherzigen? Die normative Grundstruktur der kantischen Theorie der praktischen Freiheit und Handlungsorganisation legt die Anerkennung der Gültigkeit moralischer und pragmatischer Gesetze bzw. des kategorischen und der hypothetischen bzw. instrumentellen Imperative nahe. Dies gilt für die Beschreibung des rationalen Handelns und für das Selbstverständnis jedes Akteurs, der den Anspruch auf Anerkennung als rationaler Handlungsträger erhebt. Rationalität zeichnet sich bei Kant also im ersten Schritt durch die normative Tätigkeit der Vernunft aus, die aus eigener Spontaneität normative und regulative Grundsätze erlässt, nämlich moralische und pragmatische. Im zweiten Schritt zeichnet sich Rationalität dadurch aus, dass einzelne Akteure die ausnahmslose Gültigkeit moralischer und die hypothetische Gültigkeit pragmatischer Gesetze anerkennen. Jeder Akteur, der entweder die Gültigkeit der moralischen oder die Gültigkeit der pragmatischen, instrumentellen Gesetze missachtet, disqualifiziert sich im Hinblick auf Rationalität und rationales Handeln. Daher liegen bei der Gestaltung aller denkbaren subjektiven Grundsätze stets moralische und gegebenenfalls auch pragmatische Voraussetzungen vor. Es bedarf keiner weiteren Gründe für die Anerkennung der moralischen und pragmatischen Gesetze der Vernunft. Sie gelten aufgrund der, wie Korsgaard sagt, „konstitutiven“ Funktion der Vernunft innerhalb des Gesamtspektrums der Handlungsorganisation. Daher besteht überhaupt keine Notwendigkeit, die Frage zu diskutieren, ob ein Akteur in einer einschlägigen Situation, in der moralische Gesetze gültig sind und sich nach instrumentellen, pragmatischen Gesichtspunkten bestimmte Handlungsoptionen anbieten, die entsprechenden moralischen und pragmatischen Gesetze auch als Maximen verinnerlichen will. Sofern er den Anspruch auf Rationalität nicht preisgeben will, besitzt er überhaupt nicht die Option, dies nicht zu tun. Die Vernunft verpflichtet ihn dazu seine Handlungsorganisation, also sein Handlungsdesign, nach diesen Gesetzen zu gestalten. Diese Verpflichtung durch die Vernunft besitzt, wie Kant in der KrV (B 828) sagt, normativen Charakter bei moralischen und regulativen Charakter bei pragmatischen Gesetzen. Also stellt sich die Frage, aus welchem Grund ein rationaler Akteur nach pragmatischen und moralischen Gesetzen handelt, überhaupt nicht, weil hier nicht von Gründen im Sinne der modernen Handlungstheorie die Rede sein kann. Es wäre gar absurd zu meinen, dass Tatsachen und Sachverhalte in der Welt Gründe für die Gültigkeit der moralischen Gesetze (in Kants Sinne) darstellen können. Lediglich bei beliebigen Maximen, aber solchen, die weder den moralischen noch den pragmatischen Gesetzen widersprechen, stellt sich die Frage, welche

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handlungsrelevante Eigenschaft sie eigentlich besitzen bzw. „warum“ oder „aus welchem Grund“ sie von einem beliebigen Akteur beherzigt werden. 1.2.1.8

Respondenz auf Bittners Kritik an der handlungsleitenden Funktion von Grundsätzen in Kants Handlungstheorie Ähnlich wie Korsgaard in ihrem obigen Zitat65 macht auch Bittner66 darauf aufmerksam, dass die Theorie des Handelns nach Grundsätzen, die unter anderem von Kant vertreten wird, einige Schwierigkeiten mit sich bringt, die sich zunächst aus der möglichen Konkurrenz praktischer Grundsätze oder dem Regress derselben ergeben. Er greift Kants Formulierung, dass die Maxime das „subjektive Prinzip zu handeln“67 sei auf und diskutiert die drei Charakteristika des Handelns nach Maximen, nämlich was es heißt, dass die Maxime allgemein, also ein allgemeines Prinzip sei, was es heißt, dass sie subjektiv sei und was es heißt, dass sie ein subjektives Prinzip zum Handeln darstelle. Er stellt ganz richtig fest, dass eine Maxime „ein selbst-auferlegtes Prinzip eines Menschen [sei], das anweist, unter einer Art von Umständen eine Art von Dingen zu tun, und das zu einem entsprechenden Handeln führt“68 und geht der Frage nach, was es bedeutet, (a) eine Maxime zu haben und (b) nach einer Maxime zu handeln. Den Ausdruck „selbst-auferlegtes Prinzip“ verwendet er aber nicht mit kantischer Strenge, sondern mit der ganzen Kontingenz der empirischen Willkür. Daher stellt sich selbstverständlich die Frage, aus welchem Grund jemand eine Maxime hat. Als Kernpunkt dessen, was es heißt, eine Maxime zu haben, sieht er im Grunde genommen die Fähigkeit an, sich selbst zu einer bestimmten Handlungsweise zu verpflichten, sich also eine Regel zu geben, und zwar „noch bevor entsprechende Gelegenheiten für das Handeln auftreten“ und sich zur Einhaltung dieser Regel im gegebenen Fall zu verpflichten. Bittner verwendet hier die Metapher der selbst auferlegten „Schuld“ gegenüber sich selbst, aber es läuft im Grunde genommen auf die klassische Fähigkeit der Selbstverpflichtung hinaus. Insofern beschreibt er den Sachverhalt auch ganz richtig, aber er meint, dass wir nicht nachvollziehen können, wie das im konkreten Fall möglich sein soll: Wir kennen es, daß Leute etwas tun; daß sie sagen oder denken, daß sie etwas tun werden; oder daß andere von ihnen fordern oder erwarten, daß 65 66 67 68

Korsgaard 2008, 5. Bittner, R. 2001: Doing Things for Reasons. Deutsche Übersetzung 2005: Aus Gründen handeln. Alle Zitate entsprechend der deutschen Übersetzung. GMS, BA 52, Fußnote. Bittner 2005, 56.

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sie etwas tun. Aber wir wissen nicht, was das ist, daß einer durch das, was er jetzt ist, gebunden ist, künftig das und das zu tun – wenn es denn keins von den eben genannten Dingen sein soll. (. . .) Der Punkt ist, daß wir bei näherer Betrachtung sagen müssen, daß wir einen solchen Vogel noch nie gesehen haben. Am Ende sagt das Argument wohl nicht mehr, als daß die erbetene Erklärung (§ 90) nicht geliefert wurde. „Jemand hat eine Maxime“ – wir wissen immer noch nicht, was dieser Satz bedeutet.69 Im Anschluss an diese Feststellung geht er zur Frage über, was es bedeutet, nach Maximen zu handeln und erwägt zwei Erklärungsmodelle, nämlich (a) im Rückgriff auf den praktischen Syllogismus70 und (b) in Berufung auf die Urteilskraft.71 Beide weist er zurück, nämlich den praktischen Syllogismus letztendlich, weil er (der Syllogismus) die spezifische Art der Nötigung nicht zufriedenstellend beschreiben kann und die praktische Urteilskraft, weil er (Bittner) die Urteilskraft als Vermögen überhaupt infrage stellt. Zusammenfassend vertritt er also den Standpunkt, dass Kants Theorie des Handelns nach Grundsätzen unbefriedigend ist, weil sie weder erklären kann, was es heißt, Grundsätze zu haben, noch was es heißt, nach ihnen zu handeln. Letztendlich nimmt er an, dass es beliebig sei, ob ein Akteur einen Grundsatz beherzigt oder nicht und dass die Erklärung seines Handelns nicht möglich ist ohne die Angabe von Gründen, aus denen er zumindest meint, dass er nach einem bestimmten Grundsatz handelt. Ganz unabhängig davon, dass es Kant nach Bittners Dafürhalten nicht gelingt zu erklären, was es heißt, nach Grundsätzen zu handeln, meint Bittner, dass Akteure, wenn sie Grundsätze beherzigen, dies aus erkennbaren Gründen tun und dass also der Erklärungsversuch der Handlung in Berufung auf Grundsätze letztendlich wieder auf die Frage der Gründe zurückgeht, da die Angabe des Grundes für die Beherzigung eines vermeintlich handlungsleitenden Grundsatzes zugleich als Angabe des Grundes für die Handlung angesehen werden könne. Bittners Kritik ist allerdings nicht hieb- und stichfest. Zunächst einmal ist es überhaupt nicht unmöglich, auf Erfahrungsgehalte zu verweisen, die das Handeln nach subjektiven praktischen Grundsätzen, von dem die Rede ist, plausibel machen: Ein berühmtes Beispiel für konsequentes, strukturiertes Handeln nach bestimmten, empirischen Grundsätzen stellt die von Richard Dennis und William Eckhard 1983 entwickelte Strategie für den Börsenhandel dar, die unter dem Schlagwort „Turtle-Experiment“ bekannt wurde. Dennis und 69 70 71

Bittner 2005, 68. Bittner 2005, 70ff. Bittner 2005, 73ff.

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Eckhard gaben einer 1983 gegründeten Gruppe von Laien, den sogenannten „Turtles“, ganz bestimmte Regeln an die Hand, nach denen sie ganz bestimme Volumina an der Börse investieren sollten. Dabei stand beispielsweise fest, dass bei Aktien, die ein Vier-Wochen-Hoch verzeichnen, ein ganz bestimmtes Volumen gekauft und gehalten wird, bis ein Zwei-Wochen-Tief auftritt. Bei einem Vier-Wochen-Tief wird verkauft und gehalten, bis ein Zwei-WochenHoch auftritt. Zugleich wurde festgelegt, wo der Stopp gesetzt werden muss, für den Fall, dass sich der Markt anders als erwartet bewegt, wo nachgekauft bzw. nachverkauft wird, wie oft und mit welchem Volumen nachgekauft bzw. nachverkauft werden darf etc. Die sogenannten Turtles, also die Versuchspersonen, mussten lediglich die entsprechenden Regeln beherzigen und auf entsprechende Fälle anwenden. Demnach kann mit Leichtigkeit nachvollzogen werden, was es heißt, wenn jemand beispielsweise sagt, dass es seine Maxime sei, jedes Wertpapier, das beispielsweise ein Vier-Wochen-Hoch aufweist, zu kaufen, den Stopp bei zweifacher Average True Range zu setzen und zu halten, bis er entweder ausgestoppt wird oder der Markt Schwäche zeigt, indem er nach einer kontinuierlichen Aufwärtsbewegung wieder ein Zwei-Wochen-Tief erreicht. Auch könnte man diese Strategie als Ensemble einzelner subjektiver Grundsätze ansehen, beispielsweise indem ein Akteur sagt, er besitze folgende Maximen: 1. 2. 3.

Bei einem Vier-Wochen-Hoch kaufen. Den Stopp immer bei doppelter Average True Range setzen. Halten, bis ein Zwei-Wochen-Tief auftritt.

Nach Ablauf einer beliebigen Zeitspanne kann empirisch überprüft werden, ob und inwieweit sich der entsprechende Akteur an seine Maximen, also seine persönlichen Grundsätze gehalten hat. Man kann auch die Maxime haben, jeden Freitag alle offenen Positionen zu schließen um etwaige Kursschwankungen übers Wochenende abzusichern. Man kann auch den Grundsatz haben, alle offenen Positionen übers Wochenende durch Gegenpositionen in CFDs abzusichern. Das sind allgemeine, obgleich subjektive Grundsätze, die beispielsweise jeden Freitag aktualisiert werden. Der Grundsatz, den Stopp bei doppelter Average True Range zu setzen, wird von einem orthodoxen Anhänger der auf Dennis zurückgehenden Turtle-Strategie sogar bei jeder Eröffnung einer Position aktualisiert. Es ist also durchaus möglich nachzuvollziehen, was es heißt, dass jemand nach Grundsätzen handelt, nämlich insbesondere wenn sich durch die entsprechenden Grundsätze ein regelmäßiges Handlungsmuster ergibt. Zwar hat Bittner insofern Recht, also die Frage, warum man beispielsweise bei einem

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Vier-Wochen-Hoch einsteigen soll, berechtigt ist, aber wir haben oben gesehen, dass diese Frage bei moralischen Grundsätzen weniger sinnvoll ist und bei pragmatischen, wie hier, empirisch beantwortet werden kann. Die Frage ist nur, ob Bittner diese Antwort gelten lässt, denn er interpretiert die kantische Theorie der Selbstverpflichtung mit einer Strenge, die durchaus angemessen ist, aber auch unter Einbindung eines Vergleichs, der vielleicht irreführend ist: Denn diese Verpflichtung geht weiter als Bratmans durch Absichten gesetzte Verpflichtung (§ 96), weiter als Nancy Schaubers „aktive Verpflichtung“, die in der Übernahme spezieller Obliegenheiten gegenüber anderen besteht, weiter als das Verhältnis, das wir zu Dingen oder Menschen haben, die uns am Herzen liegen, in Harry Frankfurts Sinne. Dieser Vergleich ist irritierend, weil die Frage, ob und inwiefern die einzelnen Thesen zutreffen, erstens müßig ist und sich zweitens durch die Anhäufung der Vergleiche der Eindruck ergibt, dass Kants Theorie der praktischen Selbstverpflichtung über jedes nachvollziehbare Maß hinaus geht und unplausibel wird. Das ist aber nicht der Fall und warum das nicht der Fall ist, lässt sich besser nachvollziehen, wenn man nicht erklären muss, ob und inwiefern Kants Theorie der praktischen Selbstverpflichtung über die genannten Theoreme hinausgeht. Weil aber insbesondere bei strukturierter Praxis nachvollziehbar ist, wie sich persönliche Grundsätze strukturgebend auswirken können, nehme ich weiterhin an, dass es durchaus möglich ist, dass einzelne Akteure bestimmte Dinge tun, weil sie sie als Einzelfälle ansehen, die unter ihre persönlichen Grundsätze fallen und somit Gelegenheiten darstellen, ihre Grundsätze zu aktualisieren. Solche Gelegenheiten stellen im eigentlichen Sinne Gründe dar: Wenn beispielsweise der Goldpreis ein Vier-Wochen-Hoch erreicht, stellt dies für einen Turtle, der ja den Grundsatz besitzt, immer, wenn ein Markt ein VierWochen-Hoch erreicht, zu kaufen, einen Grund dar, einzusteigen. Dagegen stellt beispielsweise ein 8-Tage-Hoch keinen Grund für den Einstieg dar, denn derselbe Akteur hat keinen Grundsatz, bei einem 8-Tage-Hoch einzusteigen. Insofern stellen rationale Gründe empirische Gelegenheiten für die Aktualisierung praktischer Grundsätze dar. Auch Bittners radikale Kritik an Kants Theorie der Urteilskraft ist nicht unstrittig, zumal sie sehr knapp vorgetragen wird. Er bringt seine Unzufriedenheit mit Kants Erklärung, was überhaupt die Urteilskraft sei, zum Ausdruck, wobei er zwar tatsächlich das Grundproblem der bestimmenden Urteilskraft in den Fokus rückt, nämlich das Problem, das darin besteht, dass sie einzelne Fälle unter allgemeine Gesetze subsumiert, wobei dieser Prozess der

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S­ ubsumption allerdings nicht strikt gesetzlich geregelt ist, sondern es, wie ich oben bereits geschildert habe, auch zusätzlicher Kompetenzen des Subjekts bedarf, die Kant in der KrV (B 172 f.) anführt. Man muss allerdings beachten, dass der gesamte Schematismus (KrV, B 176 ff.) eine systematische Antwort auf diese Frage darstellt und diese Antwort lässt sich nicht beiläufig in der Handlungstheorie als unbefriedigend aburteilen. Der Schematismus ist problematisch, aber er besitzt gegenüber der strengen Gesetzgläubigkeit hinsichtlich des praktischen Syllogismus den Vorteil, dass er beispielsweise Fehlurteile weit besser beschreiben kann. Man muss darum zumindest auf einer ernsthaften Diskussion des Schematismus bestehen, wenn man Bittners Verdacht, dass „schon die Idee einer solchen Fähigkeit“, wie Kants Urteilskraft, „nicht kohärent“ sei,72 nachgehen will. Er stellt an derselben Stelle fest: „Ohne eine weitere Erklärung haben wir bloß ein Wort, nicht eine Theorie, geboten bekommen“, aber die Theorie, die er nicht berücksichtigt, ist eben der Schematismus und in Bezugnahme auf ihn lässt sich zumindest der Vorwurf, dass Kant überhaupt keine Theorie liefere, nicht aufrechterhalten. Man mag zwar den Vorwurf erheben, dass diese Theorie nicht leistungsfähig sei, aber diesen Vorwurf muss man dann in Auseinandersetzung mit dem Schematismus und natürlich auch mit der Kritik der Urteilskraft erhärten. Da reicht die Berufung auf zwei Quellen aus der Sekundärliteratur, nämlich in Bittners fall Ralf Meerbote und Hud Hudson, nicht aus. Ich glaube aber erstens, dass der Schematismus und die Theorie der Synthesis durchaus leistungsfähiger sind, als oft unterstellt wird, und dass sie sich durchaus gegen die erhobenen Vorwürfe verteidigen lassen, zweitens aber, und darauf kommt es an, fehlt die entsprechende Auseinandersetzung bei Bittner und darum ist sein Urteil vorläufig zurückzustellen. Bittner führt folgendes konkrete Argument an: . . . wenn der besondere Aussagesatz oder Imperativ nur erreichbar ist unter Einsatz einer zusätzlichen und unabhängigen Fähigkeit, der Urteilskraft, dann ist nicht mehr zu sehen, welche Bedeutung die Regel in dem ganzen Vorgang noch hat.73 Darauf lässt sich durchaus eine nachvollziehbare Antwort geben: Das Verhältnis zwischen dem allgemeinen Gesetz, also der Maxime, dem hypothetisch-praktischen Imperativ oder dem kategorischen Imperativ, und dem Einzelfall, in dem es zur Anwendung gelangt, ist nach der intelligiblen Kausalität des Sollens bestimmt. Sie entfaltet also nicht dieselbe Nötigung wie ein 72 73

Bittner 2005, 76. Bittner 2005, 76.

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Naturgesetz, sondern stellt nur eine Gesetzmäßigkeit im Denken dar. Diese Gesetzmäßigkeit hat zwar in der Tat die Form eines praktischen Syllogismus, aber sie ist eben nicht nur logisch, sondern auch materiell bestimmt, nämlich durch die Gegebene, zu subsumierende Tatsache. Erst in der Erfahrung ergibt sich das zu synthetisierende und unter das Gesetz zu bringende Material. Das Problem der Urteilskraft besteht nun nicht darin, dass sie aus dem Obersatz und dem Untersatz den nach Regeln feststehenden Schluss zieht, sondern darin, zu beurteilen, ob der gegebene Einzelfall überhaupt unter die Regel fällt, ob es sich also um einen Fall handelt, auf den die Regel überhaupt anwendbar ist. Was ist also, wie Bittner fragt, die Bedeutung der Regel? Nun, sie gilt zwar für alle Fälle, die unter sie subsumiert werden können, aber nicht für Fälle, die außerhalb ihrer Sphäre fallen. Beispielsweise kommen Personen im juristischen Sinne bestimmte Rechte und Pflichten zu. Wenn wir uns aber, beispielsweise im Rahmen der Tierethik, fragen, ob bestimmte Rechte auch bestimmten Tieren zukommen, stellt die Überlegung, ob es sich dabei überhaupt um Personen handelt, einen wichtigen Gesichtspunkt dar. Diese Überlegung betrifft nicht die Gültigkeit der Gesetze, sondern die Frage, ob sie auf einen konkreten Fall anwendbar sind. Und an dieser Stelle kommt nach Kant die Urteilskraft ins Spiel: Sie stellt das, durchaus fallibele, Vermögen dar, einzelne Fälle unter bestehende Gesetze zu subsumieren. Das Gesetz, insbesondere das moralische, bleibt selbst dann gültig, wenn es von niemandem richtig angewendet wird – aber ob es in gegebenen Fällen richtig angewendet wird, hängt von der Urteilskraft ab. Vor diesem Hintergrund stellen wir die Rückfrage an Bittner, ob er noch immer behaupten kann: „Es ist nicht mehr zu sehen, was es heißen soll, daß eben diese Regel angewandt wird.“74 Dies ist durchaus zu sehen, denn die Regel ist bekannt,75 aber da die Regel intelligibel, der Einzelfall jedoch empirisch ist, stellt die Subsumption des Einzelfalls unter die Regel eine ernsthafte Herausforderung für das urteilende Subjekt dar. Sofern sie positiv ausfällt, gilt die Regel für diesen Fall, sofern nicht, gilt sie nicht für diesen Fall. Die Regel bleibt immer gültig, aber die Frage ist, ob sie auf den gegebenen Fall anwendbar ist. Diese Herausforderung stellt sogar die Grundlage für Kants Theorie des Gewissens dar, das, seinen Ausführungen in der Religionsschrift zufolge, den Akteur dazu ermahnt, die entsprechende Prüfung „mit aller Behutsamkeit“76 vorzunehmen. Bittners Behauptung, dass die Bedeutung der Regel hier nicht 74 75

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Bittner 2005, 76. „Ein Arzt daher, ein Richter oder ein Staatskundiger, kann viele schöne (. . .) Regeln im Kopfe haben, in dem Grade, daß er selbst darin gründlicher Lehrer werden kann, . . .“ (KrV, B 172 f.) Kant, I. 1793/1794: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. A 271f, B 288.

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mehr nachvollziehbar sei, ist zwar nahe an der Substanz des Schematismus und der Urteilkraft, denn es geht Kant wirklich darum zu zeigen, wie eigentlich Regeln auf Einzelfälle angewandt werden können, ohne wiederum Regeln für die Anwendung von Regeln und Metaregeln für diese Regeln etc. formulieren zu müssen. Wenn aber Bittner mit der Funktion der Urteilskraft hierbei unzufrieden ist, stellt sich die Frage, wie er eigentlich den Regel-Regress auflösen möchte? Darum argumentiere ich durchaus dafür, dass Kants Theorie der Urteilskraft zumindest imstande ist, Antworten auf Bittners kritische Fragen zu geben und finde diese Antworten sogar überzeugend. Abschließend kann man also sagen, dass Bittners Kritik an der Urteilskraft schwach ist und dass es erstens durchaus nachvollziehbar ist, was es heißt, dass jemand nach Grundsätzen handelt, insbesondere wenn es um regelmäßige Handlungsstrukturen geht, und dass es zweitens, zumindest hinsichtlich moralischer und pragmatischer Grundsätze, keiner weiteren Gründe für deren Gültigkeit und subjektive Verbindlichkeit bedarf. Jene sollen immer, diese unter den entsprechenden empirischen Bedingungen gültig sein. Ob die gegebene Situation die Erfüllung dieser Bedingungen darstellt, beurteilt die Urteilskraft. Ob diese Beurteilung „mit aller Behutsamkeit“ vorgenommen wurde, stellt einen Gegenstand des Gewissens dar. 1.2.2

Spontaneität und Rezeptivität A free will – a fully self-determining will – would be one that is not moved by any alien cause.77

Wir gehen weiter dem Unterschied von Spontaneität und Rezeptivität im Hinblick auf die Entscheidung zwischen konkurrierenden Gründen nach und verorten die Fragestellung in Raz‘ Beispiel auf der Ebene von d. Wir haben angenommen, dass d für die Präferenz der Gründe a bzw. b vor c, mithin für die Aktualisierung der Handlung A oder B und die Unterlassung von C spricht. Wir erinnern uns aber daran, dass für Kant die Theorie der praktischen Freiheit im Vordergrund aller handlungstheoretischen Überlegungen steht und alle Normativität nur als untergeordnetes Moment der praktischen Freiheit, also der willentlichen Selbstbestimmung vernunftfähiger Akteure, thematisch ist. Darum kommt man als Kantianer niemals umhin, zu fragen, ob d auf Spontaneität oder Rezeptivität beruht.78 Im oben angedeuteten Jargon der 77 78

Korsgaard 2002, 12. Auf diese Art und Weise greifen wir zugleich einen Gegenstandsbereich, den Raz 2002 in Auseinandersetzung mit Frankfurt thematisiert auf und der für die Diskussion mit Kant

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­ orlesungen über die Metaphysik würden wir fragen, ob d ein Stimulus oder V ein Motiv darstellt.79 Da es uns mit Kant nämlich nicht um die Frage geht, wie es kommt, dass wir am Ende des Tages den Film A oder B gesehen haben,80 sondern wie wir (kontrolliert) willentlich selbst bestimmen, welchen Film wir sehen möchten, steht die Frage, ob die Gründe, die unsere Wahl und Entscheidung bedingen, ihrerseits als Ausdruck unserer eigenen Spontaneität gelten oder nicht, im Vordergrund. Wenn nämlich der Grund d beispielsweise darin besteht, dass der Eintrittspreis für A und B jeweils sechs Euro beträgt, wogegen der Eintrittspreis für C beispielsweise acht Euro beträgt (von mir aus wegen Überlänge), wir aber nur sechs Euro haben, spricht d eindeutig für die Aktualisierung von A oder B – aber frei ist diese Wahl überhaupt nicht, denn C bleibt, wie Raz betont, ein guter Film. Wir werden in einem solchen Fall durch Geldmangel dazu genötigt, unsere Wahl auf A oder B einzuschränken. Ein Grund ist d dennoch – aber kein spontaner Grund, sondern einer, der von außen an uns heran getragen wird, und unsere Handlungsspielräume eingrenzt.81 Aufgrund von d zu handeln, stellt zwar durchaus eine Form von Freiheit dar,82 aber eben darum nicht die höchste Entfaltung denkbarer praktischer Freiheit, weil wir intuitiv darin übereinstimmen, dass das Handeln aufgrund eines aus eigener Spontaneität gegebenen Grundes d in dieser Hinsicht eine höhere Form der Freiheit darstellt und dass der Maßstab darin besteht, dass die Entscheidung mehr auf Selbsttätigkeit bzw. Selbst-Bestimmung und weniger auf Nötigung beruht. Weniger offensichtlich, aber keineswegs weniger bedeutsam ist die Option, dass es sich bei d um einen, wie man heute sagen würde, emotionalen Grund handelt, der durch das empirische Begehrungsvermögen als ein, wie Kant in

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und Korsgaard von großer Bedeutung ist, nämlich die Unterscheidung von Aktivität und Passivität und die Rolle der Rationalität innerhalb dieses Unterschieds. Wir können aber Spontaneität und Rezeptivität nicht einfach in Aktivität und Passivität übersetzen, weil wir dadurch theorietypische Aspekte verlieren würden. Und mit Raz 2002 würden wir fragen, ob der Akteur hier aktiv oder passiv ist. Deskriptive philosophische Ansätze würden eher diese Herangehensweise präferieren und auch die spezielle Theorie der „facilitating reasons“ steht m. E. in größerer Nähe zu diesem Ansatz als zum kantischen. Unten werde ich Raz‘ Auflösung dieses Problems diesbezüglich kritisch hinterfragen. Ich weise vorsorglich darauf hin, dass auch die „Nötigung“, von der hier die Rede ist, keineswegs die positive Konnotation besitzt, die sie von Korsgaard in den Anfangspassagen von 2009 erhält, denn es handelt sich hier nicht um Selbstverpflichtung, sondern um äußeren Zwang. Dies ist darum als Freiheit zu bezeichnen, weil ich am Ende des Tages durchaus einen Film gesehen habe, den ich sehen wollte.

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kapitel 1

baumgartenscher Tradition sagt, „Eindruck der Sinnlichkeit“, also Stimulus, an uns herangetragen wird. Indem es sich hierbei um einen Eindruck der Sinnlichkeit handelt, ist es offensichtlich, dass er durch Rezeptivität an uns herangetragen wird. Wenn es sich dabei also um Hunger, Appetit, Zorn, Wut, Lust, Eifersucht, Neid oder ähnliche uns nicht unmittelbar verfügbare Bewegungen oder Stimmungen unseres Gemüts handelt, so erfahren wir d zwar durchaus als einen Kandidaten für die Bestimmung unserer Handlungsweise, aber aufgrund seiner Unverfügbarkeit erscheint uns dieser Grund zunächst83 nicht als Ausdruck unserer eigenen willentlichen Selbstbestimmung. Wir würden dann zwar beschreibend sagen dürfen, jemand habe eine bestimmte Tat84 ϕ aus dem Grund: Neid, Eifersucht, Appetit etc. begangen, aber wir müssen eigens erörtern, in welchem Verhältnis solche Gründe zur Handlungsträgerschaft stehen können – inwiefern sie verfügbar und kontrollierbar sind. Wenn die besagte Nötigung aber pathologische Züge annimmt, sind wir sogar geneigt, den „Akteur“, sofern man ihn noch als solchen bezeichnen kann – vielleicht wäre es besser, von dem „Betroffenen“ zu sprechen – zwar zu bedauern, aber letztendlich von der Verantwortung freizusprechen. Auch wird beispielsweise ein Verbrechen aus Leidenschaft anders beurteilt als derselbe Tatbestand, sofern er durch Berechnung und Habgier motiviert ist. Die Nötigung (ich würde hier sogar von „Entmündigung“ sprechen) durch Emotionen (insbesondere positive: Appetit, Lust, Leidenschaft etc.) ist eventuell subtiler, weil wir uns leicht mit ihnen identifizieren und sie a posteriori oft unreflektiert als Ausdruck unserer eigenen Selbsttätigkeit anerkennen. Aber die Pointe der kantischen Theorie der praktischen Freiheit besteht eben darin, diese Nötigung als solche zunächst einmal zu erkennen und dann, wenn dies gewollt wird, auch zu kontrollieren: Nicht um moralisch zu sein!, sondern um ein höheres Maß an kontrollierter willentlicher Selbstbestimmung zu gewährleisten. Dieser Gegenstandsbereich ist nach psychologischen Gesichtspunkten wesentlich spannender als die offensichtliche Nötigung durch eventuell gegebene Umstände in der empirischen Welt, aber Kants Interesse an diesem Gegenstandsbereich ist durch seine Vorstellung von der Philosophie als apriorischer Vernunftwissenschaft und Vermögenslehre geprägt, so dass sich die Antwort auf die Notwendigkeit und Bedeutung von Gründen und Grundsätzen beschränkt und die psychologischen Details unbeachtet lässt. Dagegen stellt die grundsätzliche Abhebung der Freiheit von Naturzwängen ein Hauptanliegen der kantischen Transzendentalphilosophie und der 83 84

Die Rolle der Anerkennung, Rationalität und Identifikation diskutiere ich unten. Ich lasse hier ausnahmsweise Mal den Unterschied zwischen Tat und Handlung auf sich beruhen, um nicht eigens diskutieren zu müssen, ob ϕ eine Tat oder Handlung sei.

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­ raktischen Philosophie im Deutschen Idealismus überhaupt dar, denn dort p wird der Versuch unternommen, etwas typisch Menschliches, eine typisch menschliche Form von Freiheit zu profilieren und zunächst einmal deutlich zu machen, dass überhaupt eine Kausalität aus Freiheit denkbar und möglich ist. Die Emotionen werden aber als Bestandteil unseres natürlichen Wesens angesehen und gelten auch als Ausdruck der Naturkausalität. Wir finden dies insbesondere in Schillers Ausführungen über den Naturtrieb, nämlich zu Beginn des Kapitels über die Würde in Über Anmuth und Würde, wo Schiller erklärt, dass mit der Erhaltung unseres Organismus gewisse Notwendigkeiten verbunden sind, die von Natur aus tendenziell durch automatische Prozesse geregelt werden, uns aber teilweise in der Reflexion verfügbar sind, so dass wir zwar die entsprechenden Notwendigkeiten nicht beseitigen oder aufheben, aber eventuell ihre Befriedigung aufschieben und bis zu einem gewissen Maße manipulieren können. Hierbei handelt es sich, ähnlich wie bei dem von Kant in der KrV und in den Metaphysikvorlesungen genannten arbitrium liberum im Grunde genommen und eine Variante von Baumgartens Triebaufschub. Wir können die Befriedigung unserer Triebe zumindest aufschieben und diese Fähigkeit ist für den Unterschied zwischen dem tierischen Verhalten und dem menschliehen Handeln ganz entscheidend. Diese Fähigkeit, jedenfalls bis zu einem bestimmten Maße willkürlich mit den Notwendigkeiten, die der Erhaltung der Lebendigkeit unseres Organismus zu Grunde liegen, umzugehen, macht es nach Schillers Dafürhalten nötig, dass die entsprechenden Bedürfnisse uns Menschen durch die „Empfindung“ bewusst werden. Also „empfinden“ wir Hunger als Ausdruck der Notwendigkeit, den Stoffwechsel aufrechtzuerhalten etc. All dies wird aber unter dem Begriff „Naturtrieb“ zusammengefasst und gilt somit als Natur-Notwendigkeit. Schiller stellt fest, dass Tiere überhaupt nicht imstande sind, über den Naturtrieb zu reflektieren und ihn zu überwinden: „Das Tier strebt, den Schmerz los zu sein“, während wir Menschen über den freien Willen verfügen und diesen selbst in kleinen Dingen durch die „Brechung des Naturtriebs“ üben müssen, denn wir können uns entschließen „den Schmerz zu behalten“. Im Allgemeinen stellt er fest, dass uns schon der bloße Wille von der Tierheit unterscheidet, und der moralische Wille sogar zur Gottheit85 erhebt. Das typisch Menschliche, also dasjenige, was uns von der

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Schiller, F. 1793: Über Anmut und Würde. In: Schiller, Friedrich: Werke. Nationalausgabe. Hrsg. im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) und des Schiller-­Nationalmuseums in Marbach von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese. Bd. 20: Philosophische Schriften. Erster Teil. 1962.

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kapitel 1

Tierheit abhebt und sogar zur Gottheit erhebt, ist der freie Wille als etwas vom Naturtrieb genuin Verschiedenes. Auch bei Kant finden wir an allen drei Stellen, an denen das arbitrium liberum, die menschliche Willkür, definiert wird, den Kontrast zwischen einer Willensstruktur, die durch Stimuli determiniert wird – wobei Gefühle zu den Stimuli zählen – und einer Willensstruktur, die sich eben dadurch auszeichnet, dass sie diese Determination zu überwinden vermag. Letztere ist typisch menschlich und die kantische Theorie der praktischen Freiheit verfolgt die Absicht, sie in ihrer Besonderheit zu profilieren. Die entsprechenden Überlegungen werden in meiner Rekonstruktion der kantischen Theorie der praktischen Freiheit eine bedeutende Rolle spielen, wenngleich sie im Textkorpus selbst vielleicht ein wenig untergehen. Sie finden sich aber im Rahmen meiner Erörterungen der kantischen Theorie vom „System der sich selbst lohnenden Moralität“ in der Kritik der reinen Vernunft und insbesondere im Zusammenhang mit den Anforderungen an die innere, psychologische Gestaltung der Inhalte des eigenen Willens, sofern dieser Wille den Anspruch erhebt, imstande zu sein, das höchste Gut zu bewirken. Ich betone in diesen Ausführungen immer wieder, dass Kant die Einheit von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit als das höchste Gut profiliert, dass dieses höchste Gut aber als Produkt der praktischen Freiheit konzipiert wird und ihm darum eine Willensstruktur zugrunde liegt, die sich durch zweierlei Fähigkeiten auszeichnet, die von der Realität der menschlichen Willkür abweichen, nämlich durch die vollständige Kontrolle ihrer eigenen inhaltlichen Gestaltung und die vollständige Verfügungsgewalt über die Welt. Die erste, intrasubjektive Dimension betrifft den Gegenstandsbereich, den ich hier andeute: wenn die Glückseligkeit, die Kant als den Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem alles nach Wunsch und Willen geht, definiert, als Produkt der eigenen Praxis denkbar sein soll, so muss das Subjekt auch kontrollieren können, was es wünschen und was es wollen will. Dies aber, was sich ihm als ein Stimulus einstellt, wird von ihm nicht kontrolliert. Das ist das Problem. Daher stellen Stimuli eine Quelle der Kontingenz und ein gewisses Problem für die Theorie der praktischen Freiheit dar, die als kontrollierte willentliche Selbstbestimmung konzipiert ist. Aufgrund dieser dezidierten Abgrenzung und Profilierung einer Willensstruktur, die typisch menschlich sein soll und sich von der animalischen Willensstruktur durch Spontaneität und die auf der Spontaneität beruhende Kontrolle ihrer eigenen inhaltlichen Bestimmung auszeichnet, konzentrieren sich Kants Ausführungen nicht auf die psychologischen Details der subtilen Identifikation empirischer Akteure mit aktuellen Gefühlen, sondern in der Profilierung einer Willensstruktur, die durch andere Gründe inhaltlich

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bestimmt werden kann, nämlich durch „Motive“ bzw. „Verstandesgründe“.86 Gewiss können menschliche Akteure in beiden Fällen eine Pro-Einstellung in Davidsons Sinne entwickeln, aber für Kant ist nicht nur die Frage wichtig, wie diese Pro-Einstellung hervorgeht, sondern ob sie ein Resultat der Selbst- oder Fremdbestimmung darstellt. Man könnte, mit der gebotenen Vorsicht, behaupten, dass auch der von Frankfurt profilierte Gesichtspunkt der Handlungslenkung, also „guidance“, für Kant eine Rolle spielt und dieser Punkt wird auch von Korsgaard und Raz insofern als relevant erachtet, als er für die Konstituierung der Handlungsträgerschaft, „agency“, von Bedeutung ist. Aber auch hier besitzt Kants Handlungstheorie eine besondere Pointe; denn für Kant stellt nicht jede Form der Identifikation mit Gründen und jede Form dessen, was von Frankfurt als Handlungslenkung anerkannt wird, tatsächlich „guidance“ dar. Vielmehr besteht Kants Pointe in Abhebung von Baumgartens Theorie des Triebaufschubs letztendlich darin, dass er Handlungen, die auf Gründen beruhen, die durch Rezeptivität an den Handelnden herangetragen werden, nur bedingt als gelenkt anerkennen würde. Indem er den Gesichtspunkt der Spontaneität als Ausdruck der Selbst-Bestimmung betont, müsste Kant, wenn ihm Davidsons und Frankfurts Vokabular vertraut wäre, argumentieren, dass „guidance“, also das, was ich hier als Handlungskontrolle bezeichne, nur dort besteht, wo die Handlung durch Spontaneität bestimmt ist und dass dort, wo der primäre Grund auf einem oder mehreren Stimuli beruht, nur der Schein der Handlungskontrolle besteht, weil zwar die Identifikation des Akteurs mit dem primären Grund erfolgt, diese Identifikation aber den Mangel besitzt, dass ihr Inhalt durch Rezeptivität gegeben und nicht durch Selbsttätigkeit, Spontaneität hervorgebracht ist. In solchen Fällen besitzt der Akteur zwar die Fähigkeit, seine Handlung kontrolliert auszuführen, aber er besaß keine Kontrolle über den Prozess, durch den der Handlungsgegenstand generiert wurde. Genau an diesem Punkt ist seine Handlungskontrolle defizitär und sein Handeln erstens fremdbestimmt und zweitens kontingent. Die Frage, ob d in unserem obigen Beispiel einen Grund darstellt, der auf Spontaneität beruht, oder durch die Rezeptivität des empirischen Begehrungsvermögens an uns herangetragen wird, ist jedenfalls nicht bloß ein Ausdruck der Beliebigkeit des Interesses einer vom Deutschen Idealismus motivierten Herangehensweise an die Theorie der Freiheit, also nicht bloß der Ausdruck des freien Entschlusses, die Theorie der Handlung im Ausgangspunkt von der willentlichen Selbstbestimmung zu thematisieren, sondern vielmehr 86

Es handelt sich dabei um Vorlesungsnachschriften und darin ist von „Verstandesgründen“ die Rede. Man müsste hier aber, um der kantischen Terminologie und Vermögenslehre zu entsprechen, eigentlich die Vernunft heranziehen.

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k­onstitutiv für die Handlungsträgerschaft, also konstitutiv dafür, dass das Subjekt überhaupt als Akteur (Handlungsträger) auftritt. Sofern nämlich der entscheidende Grund für die Ergreifung oder Unterlassung einer bestimmten Tätigkeit von außen an das Subjekt herangetragen wird, beruht auch die (vermeintliche)87 Entscheidung im Wesentlichen auf äußeren Zusammenhängen und bloßen Tatsachen,88 nicht aber auf der Spontaneität des Subjekts. In diesem Fall geschehen Dinge und das Subjekt ist an diesem Geschehen beteiligt, aber eben nicht als freier Akteur. Wenn wir beispielsweise annehmen, dass die Gründe a, b und c miteinander konkurrierende Neigungen, also Stimuli, darstellen, so können wir auf dieser Ebene (der inhaltlichen Bestimmung des Willens) nicht von wirklicher willentlicher Selbstbestimmung sprechen. Wenn auch die Entscheidung für a, b oder c nur auf dem Wettstreit der Stimuli beruht, dann hätten wir es mit einem Fall zu tun, den Korsgaard, m. E. treffend, so beschreibt: The desire to pursue the end and the desires that draw me away from it each hold sway in their turn, but my will is never active. The distinction between my will and the operation of the desires and impulses in me does not exist, and that means that I, considered as an agent, do not exist.89 Das reflektierte Verhältnis bzw. die reflexive Distanz zu den sinnlichen Gründen für und wider ein bestimmtes Tun und Lassen ist also entscheidend dafür, dass sich ein an einem Geschehen beteiligtes Subjekt tatsächlich als Handlungsträger konstituiert. Man ist nicht einfach ein Handlungsträger – mach konstituiert sich als solcher, indem man sich in ein reflektiertes Verhältnis zu gegebenen Tatsachen versetzt, sie als praktische Gründe in Betracht zieht und die Kontrolle über sein Tun und Lassen ergreift. Ein solcher Prozess der Konstituierung der eigenen Handlungsträgerschaft kann Kant (auch Fichte, Schelling, Hegel, Schiller, Hölderlin etc.) zufolge nur auf Spontaneität beruhen und stellt seinerseits einen Ausdruck subjektiver Spontaneität dar. 87

88

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Sofern man überhaupt von einer „Entscheidung“ sprechen kann. Ich werde unten, in dem Abschnitt über Broome und Raz, darauf hinweisen, dass Raz m.E. nicht zu erklären vermag, was die Entscheidung ausmacht. Nicht jede beliebige „choice“ ist eine Entscheidung. Hierzu muss die Transparenz und Kontrolle des Entscheidungsprozesses hinzukommen und ich sehe nicht, wo dies bei Raz der Fall ist. Unter solchen Umständen gelten die entsprechenden Tatsachen zwar überhaupt nicht als Gründe, aber selbst wenn dies geschenkt würde, bleibt es dabei, dass die wirkenden Ursachen nicht im Subjekt, sondern in der Welt liegen. Korsgaard 2009, 70 f.

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1.3

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Reflexivität, Identifikation, Rationalität

1.3.1 Im Umgang mit Stimuli Ein Fall, wie von Korsgaard oben beschrieben, ist aber untypisch für die menschliche Willkür, denn selbst wenn a, b und c sinnliche Neigungen darstellen, bleibt dem Menschen die Fähigkeit, sie als Ausdruck seiner willentlichen Selbstbestimmung anzuerkennen, sich also, wie beispielsweise Frankfurt und Raz sagen, mit ihnen zu identifizieren, oder ihnen die entsprechende Anerkennung zu verweigern. Diese reflexive Distanz und die aus ihr entspringende Fähigkeit zum reflektierten Umgang mit gegebenen Stimuli stellt die grundlegendste Qualifikation von Wesen als Akteure dar und macht in der gesamten philosophischen Tradition der Freiheitstheorie den fundamentalen Unterschied zwischen dem arbitrium brutum und arbitrium liberum aus. Demnach besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Tätigkeiten, – ungeachtet dessen, ob es sich überhaupt um Taten oder nur Prozesse, auch ungeachtet dessen, ob es sich um Taten oder Handlungen handelt – in denen ein Wesen unmittelbar und ohne die Fähigkeit, sich in reflexive Distanz zu einem gegebenen Stimulus zu versetzen, diesem Impuls nachgeht, und solchen, in denen ein Wesen aus reflexiver Distanz entscheidet, einem Stimulus nachzugehen. Jenes beschreibt Korsgaard oben und es entspricht weitgehend dem arbitrium brutum, Letzteres ist dagegen bereits eine Form des arbitrium liberum, worin zwar die Fähigkeit zum Triebaufschub besteht, aber nicht aktualisiert wird. Arbitrium liberum liegt aber nicht allein dort vor, wo der Triebaufschub geleistet wird, also ein Trieb überwunden wird. Der entsprechende Irrtum ist allzu oft für wahr gehalten worden. Es liegt auch dort vor, wo sich ein Akteur aus reflexiver Distanz entscheidet, einem Stimulus nachzugehen. Die gesamte Theorie vom Naturtrieb, die beispielsweise Schiller in „Über Anmuth und Würde“, zu Beginn des Abschnitts über die Würde, entwickelt, beruht auf der Idee, dass gewisse Prozesse auf natürliche Art und Weise mit der Erhaltung unserer Lebendigkeit zusammenhängen – beispielsweise der Stoffwechsel. Diese Prozesse, so Schiller, müssen sich aber auch dem freien Wesen in der Empfindung artikulieren. So empfindet ein Wesen, dessen Lebendigkeit vom Stoffwechsel abhängig ist, die entsprechende Notwendigkeit als Hunger und Durst. Es stellt zwar eine geringe Form der Freiheit dar, der entsprechenden Empfindung, also dem sich artikulierenden Naturtrieb zur Erhaltung der Lebendigkeit nachzugehen, aber gleichwohl handelt es sich um arbitrium liberum, wenn sich ein Wesen entschließt, zu essen. Es kann sich zwar nicht dauerhaft entschließen, nicht zu essen, ohne seine Gesundheit und Lebendigkeit zu gefährden – aber es kann durch Triebaufschub sowohl gesundheitsfördernde als auch gesundheitsgefährdende Praktiken entwickeln. Daher stellen

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zumindest gewisse Formen der Anerkennung bzw. Identifikation mit gegebenen Stimuli durchaus Ausdrücke der freien, menschlichen Willkür dar. Die Frage ist nur: Wie weit lässt sich dieser Prozess der Anerkennung bzw. Identifikation mit gegebenen Neigungen oder Gefühlen bzw. Emotionen kontrollieren? Handelt es sich hierbei eigens um einen Akt der Freiheit, oder „geschieht“ diese Identifikation auf subtile Art und Weise und ist dem (mutmaßlichen) Akteur unverfügbar. Kant stellt in den Metaphysikvorlesungen (PM 182) schlicht fest, dass der Triebaufschub, also der reflektierte Umgang mit Stimuli, ‚zwar öfters schwer falle‘, aber durchaus möglich sei. Wahrscheinlich findet er, dass diesbezügliche Detailüberlegungen in die Psychologie gehören, was für ihn (weitgehend) gleichbedeutend damit ist, dass sie außerhalb seines Interesses fallen. Nichts desto weniger finden wir in den aktuellen Debatten weiterführende Überlegungen zu dieser Frage und nehmen sie auch zum Anlass, (um) das entsprechende Verhältnis anzusprechen. Mit der klassischen Theorie der Freiheit und dem Vokabular, das Kant in den Vorlesungen über die Metaphysik und der Kritik der reinen Vernunft verwendet, halten wir fest: a) Arbitrium brutum zeichnet sich dadurch aus, dass sich das betroffene Wesen unmittelbar mit gegebenen Neigungen identifiziert und keinen Einfluss auf deren Effekte besitzt. In solchen Fällen steht das Subjekt in keinerlei reflexiver Distanz zu dem gegebenen Willensinhalt und wir interpretieren sein Verhalten als unmittelbare Folge bzw. unmittelbaren Effekt der Stimuli, durch die es initiiert wird. Solche Fälle interessieren uns nicht. Ähnlich, aber zugleich genuin anders, verhält es sich mit „schwachen“ Formen des arbitrium liberum, sofern der Effekt sinnlicher Neigungen stark ist und die Identifikation mit ihnen leicht fällt. b) Dies ist beispielsweise dort der Fall, wo aktuelle Antriebe der Sinnlichkeit, also Stimuli, Lust versprechen. Da ein menschlicher Akteur typischerweise dazu neigt, Lustgewinnung als Ausdruck seiner willentlichen Selbstbestimmung anzuerkennen, besteht durchaus die Gefahr, dass er von seiner Fähigkeit, sich in reflexive Distanz zu den gegebenen Antrieben der Sinnlichkeit zu versetzen, nicht Gebrauch macht, sondern sich unmittelbar mit den aktuellen Stimuli identifiziert, sie als inhaltliche Bestimmungen seines Willens anerkennt und sich von ihnen treiben lässt. Anders als im Falle des arbitrium brutum, besteht hier aber durchaus die Fähigkeit, zu reflektieren und den Triebaufschub zu leisten. Wir gehen lediglich davon aus, dass diese Fähigkeit eventuell nicht aktualisiert wird.

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c)

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Aber dies ist auch dort der Fall, wo beispielsweise Leidenschaften unverhofft von uns Besitz ergreifen und wir dessen überhaupt nicht gewahr werden, sondern eventuell unter ihrem Einfluss die Handlungskontrolle verlieren und Dinge tun, die wir „bei klarem Verstande“ überhaupt nicht gutheißen können. Frankfurt führt hierfür folgendes Beispiel an: In the course of an animated but amiable enough conversation, a man’s temper suddenly rushes up in him out of control. Although nothing has happened that makes his behaviour readily intelligible, he begins to fling dishes, books, and crudely abusive language at his companion. Then his tantrum subsides, and he says: ‘I have no idea what triggered that bizarre spasm of emotion. The feelings just came over me from out of nowhere, and I couldn’t help it. I wasn’t myself. Please don’t hold it against me.’90 Wir kennen solche Fälle sehr gut, aber als Kantianer – und m. E. auch als moralisch urteilsfähige Menschen überhaupt – nehmen wir nicht an, dass wir für solches Verhalten aus Gründen, die sich uns gewissermaßen aufdrängen, nicht verantwortlich sind. Vielmehr gehen wir mit Kant konsequent davon aus, dass wir auch für Handlungen, die auf Leidenschaften oder Gelüsten beruhen, und selbst unter der Bedingung, dass diese Leidenschaften sehr stark sein mögen, dennoch verantwortlich sind: Denn, es mag uns zwar, wie Kant betont, ‚öfters schwer fallen‘, solche Leidenschaften zu zügeln, aber, da wir dazu grundsätzlich imstande sind, wird die entsprechende Anstrengung von uns auch erwartet – sofern wir den Anspruch erheben wollen, frei, also selbstbestimmt zu handeln. Wir können also, jedenfalls in einem gewissen Maße, durchaus Einfluss darauf nehmen, ob wir uns mit Emotionen, Gefühlen, Leidenschaften etc. identifizieren wollen oder nicht. Gerade aufgrund der Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Bedeutung der Handlungskontrolle, „guidance“, ist es wichtig, in Abgrenzung zu Frankfurts Leitidee – dass wir nur für unser bewusst geführtes Leben verantwortlich seien, aber keine Verantwortung für Begierden, Wünsche, Gelüste etc., die sich uns gewissermaßen ‚aufdrängen‘, übernehmen müssten – in aller Deutlichkeit zu betonen, dass die nötigende Kraft der Inhalte, die das empirische Begehrungsvermögen an uns heranträgt, Kant zufolge auch in dem oben von Frankfurt genannten Beispiel nicht so stark ist, dass wir nicht imstande wären, sie zu überwinden. In den Vorlesungen über die Metaphysik stellt Kant diesbezüglich fest:

90

Frankfurt, H. 1982: The Importance of What we Care About, 63.

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Der Mensch fühlt also ein Vermögen in sich, sich durch nichts in der Welt zu irgend Etwas zwingen zu lassen. Es fällt solches zwar öfters schwer aus andern Gründen; aber es ist doch möglich, er hat doch die Kraft dazu. (PM 182) Wir nehmen also an, dass sich die nötigende Wirkung gegebener Antriebe der Sinnlichkeit in verschiedener Stärke auf unser Begehrungsvermögen auswirken kann und dass es in manchen Fällen leichter, in anderen Fällen schwerer ist, uns über diese Nötigung hinwegzusetzen. Aber in Berufung auf die obige Stelle (PM 182) halten wir fest, dass Kant der Überzeugung ist, dass wir grundsätzlich durchaus in der Lage sind, uns in reflexive Distanz zu begeben und die Handlungskontrolle zu übernehmen. Dementsprechend gehen wir davon aus, dass wir auch in der Lage sind, unsere Leidenschaften zu zügeln, wenn dies geboten ist bzw. wenn wir dies wollen. Ich will diesen Gedanken illustrieren, indem ich das von Frankfurt genannte Beispiel ein wenig abwandle, und zwar so, dass es zur Sache nichts tut, aber unserer moralischen Intuition ein wenig entgegenkommt. Der von ihm beschriebene Fall, in dem ein Akteur von seinen Leidenschaften, hier speziell von seinem Temperament, übermannt wird, und sich zu einem Verhalten hinreißen lässt, das eventuell unpassend sein könnte, führt unsere moralische Intuition darum in die Irre, weil wir das, was eigentlich geschieht, eventuell überhaupt nicht verwerflich finden und darum intuitiv dazu neigen, dem Akteur solches Verhalten „nicht übel zu nehmen“. Aber Frankfurt und uns geht es nicht um die Frage, ob das weibische Verhalten seines mit Geschirr und Büchern um sich werfenden Akteurs zu tadeln ist, sondern um die Frage, wie es zu beurteilen ist, dass er sich von seinem Temperament übermannen lässt und die Handlungskontrolle verliert. So schleicht sich durch die Hintertür die Zustimmung zu der Verantwortungs-Frage ein, nur weil in Wahrheit das unpassende Verhalten nicht als tadelhaft angesehen wird. Ich wandle aber nun das Beispiel so ab, dass unsere moralische Intuition die Verantwortung unbedingt an uns heranträgt: In the course of an animated but amiable enough conversation, a man’s temper suddenly rushes up in him out of control. Although nothing has happened that makes his behaviour readily intelligible, he begins to fling dishes, books, and crudely abusive language at his child. Then his tantrum subsides, and he says: ‘I have no idea what triggered that bizarre spasm of emotion. The feelings just came over me from out of nowhere, and I couldn’t help it. I wasn’t myself. Please don’t hold it against me.’

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Man sieht, dass ich innerhalb dieses Beispiels nur ein Wort abwandeln musste, um unsere moralische Intuition eine ganz klare Sprache sprechen zu lassen. Innerhalb des intrasubjektiven Verhältnisses des Akteurs zu seinen Emotionen hat sich nichts geändert und selbst an dem, was er tut, hat sich nichts geändert, aber wir sind der „Hintertreppe“ beraubt, die Verantwortungsfrage mit der Frage zu verwechseln, ob sein Tun zu tadeln ist. Letzteres ist nun eindeutig und ebenso eindeutig fällt auch unser moralisches Urteil aus: Der Akteur trägt die moralische Verantwortung für sein Tun und hat die Kontrolle über sein Temperament zu bewahren, nämlich sowohl um als moralisches Subjekt anerkannt zu werden, als auch um Freiheit zu demonstrieren. Er soll, denn er kann! Wenn er demonstrieren will, dass er über „menschliche Willkür“, arbitrium liberum, verfügt und nicht nur imstande ist, sich nach animalischer Willkür, arbitrium brutum, zu verhalten, wenn er also als Mensch und freier Akteur, also als Handlungsträger, anerkannt werden will, dann hat er Kontrolle zu bewahren. Auch Frankfurt würde darin zustimmen, dass die Handlungskontrolle entscheidend für die Handlungsträgerschaft (agency) ist, aber die Frage ist, ob der von ihm geschilderte Fall in kantischem Sinne zu „pathologisch“ ist. Im Übrigen spricht hier nicht bloß eine unbestimmte moralische Intuition für diese Interpretation, sondern auch die gesamte praktische Philosophie im deutschen Idealismus und selbstverständlich speziell Kants praktische Philosophie. Kants Antwort mag zwar lehrmeisterlich klingen, aber sie ist jedenfalls eindeutig und nachvollziehbar: Es ist durchaus möglich und darum auch eine moralische Pflicht jedes vernunftfähigen Wesens, die Freiheit und Würde anderer vernunftfähiger Wesen zu achten. Wer andere Menschen beleidigt oder sogar körperlich gefährdet, indem er beispielsweise unkontrolliert mit Beleidigungen und Gegenständen um sich wirft, hat, sofern er seine Mündigkeit nicht preisgeben will, die Verantwortung zu übernehmen, denn er ist grundsätzlich imstande, die entsprechende Handlung zu unterlassen. Frankfurt entmündigt den Akteur in seinem Beispiel, indem er suggeriert, er sei von seinen Impulsen, also Stimuli, dermaßen determiniert, dass er seine menschliche Willkür, arbitrium liberum, vollkommen verloren habe, und sich nur noch würdelos in Form von arbitrium brutum verhalte. Sofern es sich hierbei aber nicht um einen krankhaften, pathologischen Fall handelt, würden wir diese Interpretation höchstens als bewusst eingesetzte Finte in einem Gerichtsprozess anerkennen, ansonsten aber – und das ist für die kantische Wertung von Bedeutung – unbedingt auf die Mündigkeit des Akteurs verweisen und ihm die Verwerflichkeit seiner Handlung zuschreiben, statt ihn interpretativ zu animalischem Verhalten zu degradieren. In diesem Sinne bin ich der Überzeugung, dass die Freiheit eines bei gesundem Menschenverstand befindlichen Akteurs

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auch in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Temperament und aktuell gegebenen Emotionen nicht auf bloßes arbitrium brutum reduziert wird und das Frankfurts Argumentation und Interpretation des oberen Beispiels zu weit geht und selbstverständlich nicht haltbar ist.91 Das Beispiel ist, wenn man sich Sophia Loren in der entsprechenden Rolle vorstellt, zwar nicht ohne Charme und die italienische Leidenschaft mag zwar entzückend sein, aber eben nur als Ausdruck von Freiheit und reflexiver Distanz. Auch Sophia Loren könnte anders, wenn sie es wollte. Eine (auch von Kant anerkannte) Ausnahme stellen jedenfalls pathologische Fälle dar, aber diese Ausnahmen lassen sich in Kants Vokabular durchaus beschreiben, solange wir annehmen, dass Menschen beispielsweise aufgrund bestimmter Erkrankungen zumindest punktuell die Fähigkeit der typisch menschlichen freien Willkür, also das arbitrium liberum, verlieren können. In solchen Fällen wirken sich die Stimuli unmittelbar auf das Begehrungsvermögen aus und der Mensch ist nicht imstande, frei und kontrolliert zu handeln. Da wir in solchen Fällen überhaupt nicht imstande sind, zu handeln, stellt sich auch die Frage der moralischen Verantwortung in solchen Fällen überhaupt nicht. Dies ist allerdings nur dann der Fall, wenn ein Mensch oder ein anderes Wesen überhaupt nicht über freie Willkür verfügt, wenn also der gegebene Antrieb der Sinnlichkeit unmittelbar zu einem bestimmten Verhalten führt und das Wesen gänzlich außer Stande ist, sich in die oben erwähnte reflexive Distanz zu seinem Willensinhalt zu versetzen und eine freie Entscheidung zu treffen. Aufgrund der Radikalität, mit der die nötigende Kraft eines gegebenen Antriebs der Sinnlichkeit die Willkür eines Akteurs determinieren muss, um seine Handlungsfähigkeit auf bloßes animalisches Verhalten zu reduzieren, halten wir mit Leichtigkeit fest, dass es für die menschliche Willkür zwar nicht ausnahmslos gültig, aber durchaus weitgehend typisch ist, dass wir unsere willentliche Selbstbestimmung in Auseinandersetzung mit gegebenen Antrieben der Sinnlichkeit, auch mit Leidenschaften, Gelüsten, Trieben usw. vollziehen, aber durchaus darauf Einfluss nehmen können, ob wir uns mit Ihnen identifizieren oder nicht. Wir könnten dann, um Kants Vokabular zu verwenden, in solchen Fällen von starken Stimuli sprechen, aber wenn wir grundsätzlich zwischen dem arbitrium brutum und arbitrium liberum unterscheiden, müssen wir jederzeit davon ausgehen, dass diese Stärke im Rahmen des arbitrium liberum niemals soweit ausgeprägt sein kann, dass dem Akteur keine Handlungsspielräume bleiben. Wir müssen also davon ausgehen, dass wir den Prozess der Identifikation mit gegebenen Gefühlen bzw. Emotionen, schlicht Stimuli, innerhalb eines 91

Raz lehnt Frankfurts Standpunkt übrigens ebenfalls ab. Vgl.: Raz 2002, 5f.

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g­ewissen (nicht eindeutig eingrenzbaren) Rahmens durchaus mitgestalten können. Die Realität dieser Performance zeigt, dass es sich hierbei um einen sehr vielschichtigen Gegenstandsbereich handelt, wobei die Stimuli über unterschiedliche Intensitäten verfügen können, darüber hinaus verschiedene Grade des Bewusstseins ihrer Präsenz herrschen können, dass die reflexive Distanz zum gegebenen Stimulus unterschiedlich ausgeprägt sein kann und dass die Komposition der Stimuli, die zu einem beliebigen Zeitpunkt an einen beliebigen Akteur herangetragen wird, unterschiedlich ausfallen kann, so dass die genaue Beschreibung der Art und Weise, wie die Identifikation mit Ihnen erfolgt, bzw. wie sie als berechtigte Ausdrücke der eigenen willentlichen Selbstbestimmung anerkannt werden oder auch eben nicht, einen eigenen Gegenstandsbereich darstellt. Für unser Anliegen reicht es aus, uns darüber zu verständigen, dass es typisch für das Verhältnis menschlicher Akteure zu den ihnen gegebenen Stimuli ist, dass sie sich in reflexive Distanz zu ihnen versetzen können, kontrolliert mit ihnen umgehen können und die Frage, ob sie sie als Ausdruck ihrer eigenen willentlichen Selbstbestimmung anerkennen oder nicht, weitgehend selbst gestalten können. Als Ausnahmen erkennen wir pathologische Fälle an.92 Die Tatsache, dass wir den Prozess unserer Identifikation mit gegebenen Stimuli zumindest innerhalb eines gewissen Rahmens kontrollieren können, bedeutet aber, dass wir nicht nur imstande sind, uns über gegebene Stimuli hinwegzusetzen, sondern auch uns aus reflexiver Distanz wieder affirmativ zu ihnen zu verhalten, sie also als Inhalte und Gegenstände unserer willentlichen Selbstbestimmung anzuerkennen. Diese Dimension geht in der klassischen deutschen Philosophie ein wenig unter, weil sich die Autoren überwiegend darauf konzentrieren, die typisch menschliche Fähigkeit, sich über Triebe hinwegzusetzen, ins rechte Licht zu rücken, aber gerade bei Schiller sehen wir, dass das Ideal der auf Freiheit beruhenden Selbstbildung, nämlich die schöne Seele, eine Persönlichkeit darstellt, die mit sich gänzlich im Reinen ist, da ihre Sinnlichkeit und Sittlichkeit im Einklang miteinander stehen. Schiller meint zwar, dass er die Sinnlichkeit gegenüber der Stellung, die sie in der kantischen Philosophie besitzt, aufwerten muss, aber ich werde in der Rekonstruktion der kantischen Theorie des höchsten Guts zeigen, dass die Glückseligkeit als sinnliche Glückseligkeit konzipiert wird, und als solche einen integralen 92

Wir sind uns dessen bewusst, dass mit dieser Unterscheidung zugleich die Frage nach der Grenze zwischen „typischem“ und „pathologischem“ Verhalten aufgeworfen werden kann, aber auch dies lassen wir auf sich beruhen, weil es erstens einen eigenen Gegenstandsbereich darstellt und zweitens sehr intensiv diskutiert wird, so dass es meines Kommentars hierzu nicht bedarf.

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Bestandteil der praktischen Freiheit darstellt. Entgegen vielen Vorurteilen, die in den aktuellen Debatten in Bezug auf die kantische Philosophie herrschen, betone ich hier, dass er kein Vertreter der unaufhörlichen Selbstgeißelung „aus Pflicht“ ist, sondern eine lebensfrohe Theorie der praktischen Freiheit mit Ausrichtung auf die Glückseligkeit aller Menschen vertritt. Ich werde auch zeigen, dass er in Bezug auf den Begriff der Glückseligkeit keinerlei Kompromisse eingeht, und sogar den Epikureischen, hedonistischen Glückseligkeitsbegriff verwirft, weil er die Ansicht vertritt, dass er nicht leistungsfähig genug sei, sondern nur auf Mäßigung beruhe, während Kant einen Begriff der Glückseligkeit als Befriedigung aller unserer Neigungen in jeder Hinsicht vertritt. Wir sind durchaus imstande uns in ein reflektiertes Verhältnis zu gegebenen Antrieben der Sinnlichkeit, also zu gegebenen Stimuli, zu versetzen und können aus dieser reflektierten Distanz entscheiden, ob wir uns mit Ihnen identifizieren wollen oder nicht. Dieser Prozess fällt uns manchmal leicht und manchmal schwer, ist uns manchmal bewusst und manchmal unbewusst, aber solange wir an keinen pathologischen Zwängen leiden, können wir ihn jedenfalls soweit steuern, dass wir unser Verhalten kontrollieren können. Das Verhältnis des Akteurs zu den Stimuli, das sich innerhalb der reflexiven Distanz entfaltet, beruht auf Freiheit. Es bestehen keine höheren Gesetze und Zwänge, sich mit Stimuli zu identifizieren und der Akteur kann typischerweise frei entscheiden, was er tun und lassen will. 1.3.2

Im Umgang mit Motiven I cannot choose to have coffee because I love Sophocles.93

Wirklich interessant wird die Sache eigentlich erst jetzt, da wir auf die Rolle der Rationalität zu sprechen kommen, und die Frage diskutieren möchten, wie viel Spontanität eigentlich im Verhältnis eines vernunftfähigen Akteurs zu praktischen Gründen, also handlungsleitenden Überzeugungen enthalten ist, sofern das Verhältnis auf Rationalität beruhen soll. Wie wir an dem einleitenden Zitat sehen, kann nicht jede Tatsache als Grund geltend gemacht werden und es stellt sich die Frage, was eigentlich rationale Gründe ausmacht und wie wir uns in der rationalen Reflexion zu solchen Gründen verhalten. Wir gestehen ein, dass Irrationalität zwar nicht untypisch für menschliches Verhalten ist, aber wir haben bereits darauf aufmerksam gemacht, dass Korsgaard die Rationalität als konstitutives Moment der Handlungsträgerschaft ansieht und Raz die Ansicht vertritt, dass sie konstitutiv für unser 93

Raz 2002, 8.

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­ erson-Sein ist. Wir haben auch gesehen, warum Korsgaard ihr diese BedeuP tung zuspricht, nämlich weil sie Rationalität als Vermögen versteht, die Kontrolle über sein Tun und Lassen zu übernehmen. Ähnlich sieht dies auch Raz. Die Einschätzung gegebener Sachverhalte, darin enthaltener Zweck-MittelRelationen, die Abwägung von Chancen, Zwecken und Gründen etc.: all dies fällt in den Bereich der rationalen Kontrolle unserer Praxis. Wir wollen also nicht der Frage nachgehen, warum überhaupt Rationalität gegenüber der Irrationalität profiliert werden soll, denn die Antwort ist vor dem Hintergrund unseres Leitmotivs, nämlich der Erfolgskontrolle im Rahmen der willentlichen Selbstbestimmung, also der Handlungskontrolle, selbstverständlich: weil wir durch rationales Verhalten ein höheres Maß an Erfolgskontrolle besitzen und die Wahrscheinlichkeit, dass uns zwar nicht alles, aber möglichst viel nach Wunsch und Willen geht, größer ist.94 Wir wollen vielmehr diskutieren, was eigentlich unter Rationalität zu verstehen ist und welche Rolle die Rationalität bei der Transformation empirischer Tatsachen und Sachverhalte in handlungsleitende Überzeugungen spielt. Ich unterscheide im Folgenden zwischen zwei Formen des Rationalismus, dem objektiven und subjektiven Rationalismus. Der objektive Rationalismus ist im Grunde genommen das, was von Korsgaard als „dogmatischer Rationalismus“ bezeichnet wird, aber der Ausdruck „dogmatisch“ hat in der Philosophie stets einen negativen Beiklang, da man mit ihm Rückständigkeit und mangelndes kritisches Bewusstsein assoziiert. Nun wird aber ein solcher Rationalismus, also derjenige, den ich als objektiv bezeichne, explizit von Raz vertreten, und ich finde, dass sich sein Ansatz durchaus nicht dadurch auszeichnet, dass er dogmatisch sei. Vielmehr ist er in einer bestimmten Hinsicht, nämlich speziell nach deskriptiven Gesichtspunkten, in bestem Sinne kritisch. Um also die implizite Wertung zu vermeiden, spreche ich von subjektivem und objektivem Rationalismus, nämlich je nachdem, ob die ursprüngliche Quelle der Normativität subjektiv oder objektiv ist. Unter objektivem Rationalismus verstehe ich einen Rationalismus, der davon ausgeht, dass (a) der Wert von Tatsachen und Sachverhalten unabhängig von dem Fürwahrhalten und Wollens einzelner Akteure ist, dass (b) Tatsachen und Sachverhalte der empirischen Welt eine normative Signifikanz für unser Tun und Lassen besitzen und dass sich (c) Rationalität durch das Vermögen auszeichnet, dieser normativen Signifikanz praktisch zu entsprechen;

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Raz vertritt 2011 übrigens den Standpunkt, dass es keine guten Gründe für die Präferenz der Rationalität vor der Irrationalität gibt, aber ich finde, dass die Erfolgskontrolle durchaus einen guten Grund darstellt.

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sie also in das Gesamtensemble seiner handlungsleitenden Überzeugungen zu integrieren. Davon unterscheide ich den subjektiven Rationalismus, der in kantischer Tradition typischerweise von Korsgaard vertreten wird, und davon ausgeht, dass praktische Normativität auf der Performance der Vernunft beruht, also letztendlich durch Spontanität und Autonomie im Rahmen der willentlichen Selbstbestimmung generiert wird. Da mein Hauptanliegen darin besteht, die kantische Theorie der praktischen Freiheit vor dem Hintergrund der Spontanität und Kontrolle der willentlichen Selbstbestimmung zu rekonstruieren, sieht man, dass meine Präferenz zunächst einmal beim subjektiven Rationalismus liegt: aber der eigentliche Beitrag zur Kantforschung, soll in der Aufwertung des in der Theorie der praktischen Freiheit enthaltenen Pragmatismus bestehen, da ich die Ansicht vertrete, dass Kants Theorie der praktischen Freiheit sowohl Aspekte des subjektiven als auch Aspekte des objektiven Rationalismus beinhaltet und dass die jeweilige Einseitigkeit zugunsten des einen oder anderen die Theorie verzerrt. 1.4

Objektiver Rationalismus: Rationalität als Vermögen empirische Tatsachen in handlungsleitende Überzeugungen zu transformieren

Gründe können einzelne Handlungsaspekte erklären. Gründe können überzeugen. Gründe können in handlungsleitende Überzeugungen transformiert werden. Die Tatsache, dass Gründe überzeugen können, bedeutet aber mitnichten, dass diese Überzeugungskraft unmittelbar eine handlungsleitende Funktion besitzt: Gründe können durchaus in epistemischer Hinsicht überzeugend sein und dennoch nicht in handlungsleitende Überzeugungen transformiert werden. Hierbei bedarf es weder der so genannten Willensschwäche, noch muss der Akteur in den Verdacht geraten, irrational oder gar akratisch zu handeln. 1.4.1 Gründe generieren keine Willensinhalte Ich erkläre dies wieder anhand eines Beispiels, das Raz (diesmal 2011) anführt: „Die Schönheit seiner Museen ist ein Grund, Venedig zu besuchen.“ Ich nenne diesen Grund: ω. Wir stimmen, von mir aus, darin überein, dass sich Venedig durch ausgesprochen schöne Museen auszeichnet. In epistemischer Hinsicht können wir auch dem Urteil, dass unter der Voraussetzung, dass sich Venedig tatsächlich durch schöne Architektur auszeichnet, dies einen Grund für einen Besuch darstellt, zustimmen. Allein: eine ­handlungsleitende Überzeugung

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ist ω noch immer nicht, denn es ist absurd, zu meinen, es sei irrational für einen beliebigen Akteur A zu einem beliebigen Zeitpunkt t, nicht nach Venedig zu reisen, und zwar selbst wenn er ω kennt und für richtig befindet. Das bedeutet mitnichten, dass ω zum Zeitpunkt t nicht gültig ist. Wenn t ein beliebiger Zeitpunkt, von mir aus im Jahr 2013 ist, dann trifft ω auf t zu. Wir müssen auch nicht annehmen, dass ω nicht auf den Akteur A zutrifft (beispielsweise, indem sich A nicht für schöne Museen interessiert, oder von mir aus nur hässliche Museen liebt, also beispielweise indem er keine Pro-­Einstellung gegenüber dem entsprechenden Handlungstyp besitzt). Es kann ω durchaus zum Zeitpunkt t auf A zutreffen und es ist dennoch nicht im Geringsten irrational, wenn A nicht nach Venedig reist. Selbst wenn wir annehmen, dass keine weiteren Gründe aktuell mit ω konkurrieren, ist es nicht im Geringsten irrational, nicht nach Venedig zu reisen. Es ist also nicht nötig, anzunehmen, dass ω mit den Gründen: „Die Schönheit seiner Museen ist ein Grund, Paris zu besuchen“, oder „Die Schönheit seiner Museen ist ein Grund, London zu besuchen“, oder „Die Schönheit seiner Museen ist ein Grund, Mumbai zu besuchen“ konkurriert. Wir müssen auch nicht annehmen, dass es zusätzliche, von mir hier nicht genannte Gründe für die Unterlassung der Reise nach Venedig gibt, um den Verzicht auf eine solche Reise, selbst unter Anerkennung des Urteils, dass Venedig schön sei und dass diese Schönheit theoretisch einen Grund für eine Venedig-Reise darstelle, vom Verdacht der Irrationalität freizusprechen. Millionen Menschen weltweit teilen die Überzeugung, dass Venedig eine wunderschöne Stadt ist95 und sind niemals auf die Idee gekommen, nach Venedig zu reisen: nicht weil sie etwas Besseres zu tun haben, oder weil sie kein Geld haben, oder weil sie keinen Urlaub bekommen, oder weil sie lieber London oder Mumbai sehen wollen, sondern einfach: weil sie niemals den Willensinhalt besaßen, Venedig zu besuchen. Gründe generieren keine Willensinhalte. Vielleicht haben sich wiederum andere Menschen ω niemals bewusst gemacht. Vielleicht wissen (oder glauben) sie überhaupt nicht, dass Venedig schön ist, oder was Venedig überhaupt ist – vielleicht kennen sie nicht einmal das Wort „Venedig“. All dies tangiert ω überhaupt nicht: Die Schönheit seiner Architektur bleibt im Sinne des objektiven Rationalismus ein Grund, Venedig zu besuchen. Selbstverständlich ist dies nach meinem Verständnis von Gründen als empirische Einzelfälle, in denen Grundsätze aktualisiert werden können, nicht der Fall, aber objektive Rationalisten würden meiner Definition niemals zustimmen, weil sie der ­Überzeugung sind, dass subjektive Gesichtspunkte 95

Dies kann ein begründetes Fürwahrhalten sein, wenn sie beispielsweise Fotographien oder Dokumentationen über Venedig gesehen haben und aufgrund dessen ein ästhetisches Urteil fällen können.

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überhaupt keine Rolle hinsichtlich der Gültigkeit von Gründen spielen. Bittners gesamte Argumentation läuft auf diesen Punkt hinaus. Aber sie ist eben einseitig. Der Grund ω generiert jedenfalls nicht zwingendermaßen den Willensinhalt, Venedig zu besuchen. Ich muss dazu übrigens auch nicht den negativen Willensinhalt besitzen, Venedig nicht besuchen zu wollen: es reicht, wenn es mir an der positiven inhaltlichen Bestimmung meines Willens, Venedig zu besuchen, mangelt. Was sagt uns das? Der Grund ω nötigt keine Willensinhalte herbei. Er generiert sie also nicht mit Notwendigkeit, denn es besteht kein unmittelbarer kausaler Zusammenhang zwischen dem objektiven Grund und subjektiven Willensinhalt. Ich kann ω als richtig anerkennen, ohne den Willensinhalt besitzen zu müssen, Venedig zu besuchen.96 Anhand dieser Überlegungen sehen wir, dass zwischen einem TatsachenUrteil über die empirische Welt und einer handlungsleitenden Überzeugung ein gewisser Unterschied besteht und nehmen an, dass es möglich ist, Tatsachen und Sachverhalte der empirischen Welt in handlungsleitende Überzeugungen zu transformieren, dass aber die Trefflichkeit einer Tatsache oder eines Sachverhalts nicht unmittelbar eine handlungsleitende Überzeugung darstellt. Wir müssen also untersuchen, wie eigentlich Rationalität funktioniert, wenn epistemisch anerkannte Tatsachen und Sachverhalte in handlungsleitende Überzeugungen transformiert werden. Meine Pointe lautet: Kants gesamte Theorie der praktischen Freiheit und speziell die Theorie der Handlungsorganisation, die er im Rahmen der Lehre vom höchsten Gut und den damit zusammenhängenden Postulaten entwickelt, läuft auf die Beantwortung dieser Frage hinaus. Diese Antwort lässt sich m.E. zwar besser (Hegel), aber nicht kürzer geben. 1.4.2 Die „Glaubensfrage“ Im angelsächsischen Sprachraum ist es üblich, in diesem Zusammenhang die „Glaubensfrage“ zu stellen, sich also in der Tradition von Hume zu fragen, ob und inwiefern wir uns frei entscheiden (to choose) können, ob wir etwas Bestimmtes glauben (to believe) wollen oder nicht, also in unserem Kontext speziell, ob wir einem bestimmten Grund ω glauben wollen. Im Deutschen sprechen wir besser von handlungsleitenden Überzeugungen als vom Glauben, denn im Deutschen „glauben“ wir keine Gründe. Ich werde gleich eine kantische Antwort auf die „Glaubensfrage“ vorschlagen. Was ich oben anhand des genannten Beispiels vorab verdeutlichen wollte, ist dies: Ich kann 96

Hier muss man zurückhaltend mit der Metapher „Rationalität“ umgehen, denn man darf die Erklärungslücke nicht durch diese Metapher verdecken. Korsgaard macht in ihrer Kritik, auf die ich unten eingehe, auf den entsprechenden Punkt aufmerksam.

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d­ urchaus von der Richtigkeit eines bestimmten Sachverhalts überzeugt sein, also den Grund in epistemischer Hinsicht anerkennen, ohne zur entsprechenden Handlung motiviert zu werden – und zwar ohne konkurrierende Gründe und ohne den Verdacht der Irrationalität zu erregen. Raz diskutiert 2002 in Auseinandersetzung mit Frankfurt und Williams die Frage, ob und inwieweit wir selbst entscheiden können, ob wir etwas Bestimmtes glauben oder nicht, speziell ob wir entscheiden können, etwas wider besseres Wissen zu glauben oder nicht zu glauben. Die Antwort auf diese Frage ist eigentlich simpel: Nein, das können wir nicht. Im Rückgriff auf Kants Philosophie ist allerdings auch eine elaboriertere Antwort möglich: In Bezugnahme auf seine Ausführungen in der KrV, B 848 ff., also in dem Abschnitt mit der Überschrift: „Vom Meinen, Wissen und Glauben“ unterscheiden wir zwischen drei Formen des Fürwahrhaltens, nämlich (a) einem Fürwahrhalten, das sowohl subjektiv als auch objektiv zureichend begründet (heutzutage würde man sagen: gerechtfertigt) ist und das wir als Wissen bezeichnen, (b) einem Fürwahrhalten, das subjektiv zureichend, objektiv aber unzureichend gerechtfertigt ist, und das wir als Glauben bezeichnen, und (c) einem Fürwahrhalten, das sowohl subjektiv als auch objektiv unzureichend gerechtfertigt ist, und das wir als Meinen bezeichnen. In allen drei Fällen unterscheiden wir zwischen „subjektiven Ursachen“ und „objektiven Gründen“ dieses Fürwahrhaltens (Vgl.: KrV, B 849). In Bezug auf Wissen bestehen keinerlei Spielräume im Hinblick auf die Frage, ob wir es glauben wollen oder nicht. Hier sprechen die objektiven Gründe eine klare Sprache und es gibt überhaupt nichts „to believe“, denn es können keine subjektiven Ursachen den berechtigten Anspruch erheben, gegen eindeutige objektive Gründe zu konkurrieren. Daher steht einem vernunftfähigen Akteur keinerlei Option zur Verfügung, hier den Standpunkt: „Das will ich aber nicht wahrhaben“ oder „glauben“, zu vertreten. Dies bedeutet nicht nur, (a) dass er unter solchen Umständen keinen Anspruch auf Rationalität erheben dürfte, sondern auch, (b) dass er dazu psychologisch überhaupt nicht in der Lage ist. Da kann man sich ausdenken, was man will: wenn jemand etwas als richtig anerkennt, also die objektiven Gründe kennt und anerkennt (und nur in solchen Fällen sprechen wir von „Wissen“), kann er dies nicht „nicht glauben wollen“, sondern bestenfalls ignorieren, oder behaupten oder hoffen, dass die Beweisführung nicht abgeschlossen sei und noch eine Information auftauchen könnte, die den ganzen Sachverhalt in neuem Licht dastehen lässt. Solche Hoffnungen können übrigens bisweilen durchaus irrational sein, aber es bleibt dabei: wenn die Beweisführung als abgeschlossen anerkannt wird, wenn also „zureichende objektive Gründe“ anerkannt sind, dann kann man nicht nicht-glauben wollen, was man weiß. Das ist übrigens kein

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typisch ­deutsches Sprachphänomen: das kann man auch in England nicht. Um dies wirklich nachvollziehen zu können, ist es wichtig, sich darüber zu verständigen, was man eigentlich unter objektiven Gründen versteht. Objektive Gründe dürfen nicht bloße Indizien sein, sondern müssen konkrete Beweise darstellen. Wenn also von Wissen die Rede ist, und in diesem Zusammenhang der Begriff der objektiven Gründe auftaucht, ist damit eine Form des Fürwahrhaltens gemeint, in der der Sachverhalt eindeutig bewiesen werden kann. Es muss sich dabei um einen Sachverhalt handeln, der grundsätzlich durchaus falsifizierbar wäre, dessen Falsifikation aber aufgrund gegebener Beweislage unmöglich ist. Nur dann sprechen wir vom Wissen. Und hier stellt sich nun die Frage, ob ein Akteur psychologisch dazu in der Lage ist, einen solchen Sachverhalt nicht zu glauben. Ich behaupte, dass dies nicht möglich ist, und dass die Fälle, die in solchen Zusammenhängen genannt werden, meistens implizieren, dass die Beweisführung nicht abgeschlossen ist, dass sie nur auf Indizien beruht, dass der Akteur nicht zureichend informiert ist, entweder weil er nicht in den Besitz der nötigen Informationen gelangen kann, oder weil er sie nicht erhalten will, dass aber all dies den Prozess der Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung betrifft und dass die Willkür, einen entsprechenden Sachverhalt nicht glauben zu wollen, dort aufhört, wo ein vernunftfähiges Subjekt die Beweislage eindeutig anerkennt. Ich bin übrigens außerordentlich skeptisch gegenüber philosophischen Ansprüchen auf die Abgeschlossenheit der Beweislage: Vielerlei Dinge, die in der Philosophie als bewiesen gelten, sind nur innerhalb bestimmter sprachlicher Kontexte, nur vor bestimmten theoretischen Hintergründen, auf der Grundlage bestimmter Voraussetzungen und Werte, persönlicher Vorlieben, etc. gültig. Bereits die Veränderung des sprachlichen Kontexts oder die Preisgabe des narrativen Rahmens, innerhalb dessen das Fürwahrhalten entwickelt wird, führt dazu, dass man die Inhalte und Gegenstände „nicht glaubt“. Dies ist aber nicht darum der Fall, weil man „wider besseres Wissen“ glaubt, sondern, weil man – in bester philosophischer Tradition – skeptisch gegenüber der vorgetragenen Rahmengeschichte und der in ihr enthaltenen Argumentation, oder wiederum gegenüber der Begriffsverwendung, der Wertung etc. ist. Am Ende des Tages muss aber auch im Hinblick auf philosophisches Fürwahrhalten eine Grundvoraussetzung angenommen werden, damit die Philosophie auch nur den geringsten Anspruch auf argumentative Verbindlichkeit und wissenschaftliche Minimalstandards erheben kann, nämlich die Grundvoraussetzung, dass bei Anerkennung gegebener Beweislage die Affirmation des darin thematischen Gegenstandes oder Sachverhalts ebenfalls anerkannt werden muss. Da liegt also der Hase begraben: in der Beweisführung, also in dem, was Kant unter dem Ausdruck der objektiven Gründe fixiert. Sofern die objektiven Gründe zureichend sind, und nur in

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s­ olchen Fällen handelt es sich um Wissen, wird das Urteil durch diese Gründe nezessitirt. Das bedeutet zwar noch lange nicht, dass man nicht wider besseres Wissen handeln kann – man kann nur nicht wider besseres Wissen glauben. Im Hinblick auf die Meinung gibt es überhaupt nichts zu rechtfertigen, also weder „subjektive Ursachen“ noch „objektiven Gründe“. Somit hat man zwar die völlige Freiheit, für wahr zu halten, was man will, aber überhaupt keinen Anspruch auf Wahrheit, mithin keinen Konflikt im obigen Sinne, denn man kann nicht „wider besseres Wissen“ eine Meinung vertreten. Sobald man mit Wissen konfrontiert ist, spielt die Meinung keine Rolle mehr, denn das Fürwahrhalten verwandelt sich entweder in Glauben, wenn zureichende subjektive Ursachen anerkannt werden, oder Wissen, wenn sowohl subjektive Ursachen als auch objektive Gründe anerkannt werden. Es ist zwar nach psychologischen Gesichtspunkten durchaus möglich, eine „Meinung“ im schlechten Sinne des Wortgebrauchs zu profilieren, bloß um sich im Gespräch zu erhalten, spektakulär zu erscheinen etc. Aber eine solche Meinung ist mitnichten der Ausdruck eines Konflikts zwischen dem persönlichen Fürwahrhalten und „besserem Wissen“, sondern lediglich bewusst oder unbewusst eingesetzte Manipulation. Es gehört zu unserer Gesprächspraxis, dass wir bisweilen indifferent gegenüber der Frage der Wahrheit in unseren Aussagen sind. Uns begegnen in den Medien regelmäßig Sprecher, deren Aussagen „funktional“ sind, von denen wir also wissen, dass sie das sagen, was nach bestimmten Gesichtspunkten gerade „nötig“ oder „richtig“ erscheint, dass sie aber indifferent gegenüber der Frage sind, ob das, was sie sagen, wahr ist oder nicht. Aber es wäre falsch, zu meinen, dass die Tatsache, dass es zur Jobbeschreibung eines Pressesprechers der US-Regierung gehört, dass er völlig indifferent gegenüber der Frage sein muss, ob das, was er sagt, wahr ist oder nicht, bedeutet, dass er imstande sei, die Lüge für wahr zu halten, oder eine „Meinung wider besseres Wissen“ beizubehalten. Er lügt bewusst, weil seine Äußerung eine Funktion erfüllen soll. Vielleicht wird er auch soweit manipuliert, dass er glaubt, zumindest subjektive Ursachen zu besitzen, um das, was er sagt, für wahr zu halten. In solchen Fällen würde Kant nicht mehr vom Meinen, sondern vom Glauben sprechen. Die Meinung stellt jedenfalls eine Form des Fürwahrhaltens dar, die weder durch subjektive Ursachen noch durch objektive Gründe zureichend gerechtfertigt ist. Darum kann sie per definitionem niemals in einem Konflikt mit dem Wissen stehen. Geringere Spielräume eröffnen sich auch im Hinblick auf Glaubensinhalte, nämlich im Hinblick auf ein Fürwahrhalten, das zwar subjektiv (also durch „subjektive Ursachen“) für gerechtfertigt gehalten wird, objektiv („­objektive Gründe“) aber nicht gerechtfertigt werden kann. Aufgrund dessen, dass es objektiv nicht gerechtfertigt werden kann, ergibt sich die Freiheit, das zu

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glauben, was man für gerechtfertigt hält. Aber auch hier kann man nicht einfach glauben, was man will (im volkstümlichen Sinne). Die Antwort auf die Frage, wie weit man auf das, was man glaubt, Einfluss nehmen kann, fällt also hier eindeutig aus: Man glaubt das, was man subjektiv für gerechtfertigt hält, also das, wofür man ausreichende „subjektive Ursachen“ des Urteils besitzt, oder jedenfalls zu besitzen denkt. Es ist dagegen unmöglich, etwas zu glauben, wenn man die objektiven Gründe, die eventuell dagegen sprechen, kennt. Es ist ebenso unmöglich, etwas zu glauben, wenn man subjektive Ursachen besitzt, die dagegen sprechen. Wenn man also objektive Gründe, die gegen etwas, das man glaubt oder geglaubt hat, zur Kenntnis nimmt und gedanklich nachvollzieht, diese also in subjektive Ursachen des Fürwahrhaltens übergehen, dann kann man überhaupt nicht mehr nicht glauben wollen. Am Ende gibt es also auch in Bezug auf Glauben nicht viel „to believe“. Der Glaube beruht auf subjektiven Ursachen und es ist ein Irrtum zu denken, man könnte mit subjektiven Ursachen machen, was man will, ohne den entsprechenden Glauben zu verlieren. Mein Argument läuft übrigens nicht darauf hinaus, dass man dann „irrational“ wird, sondern darauf, dass man, wenn man etwas gegen seine subjektiven Gründe fürwahrhalten will, den „Glauben“ an den entsprechenden gedanklichen Inhalt verliert. Ich sage also nicht: man kann p nicht glauben, weil man dann irrational ist, sondern, man kann p überhaupt nicht glauben. Auch in England nicht. Die Rationalität wird aber als ein Vermögen verstanden, objektive Gründe auch als subjektive Ursachen des Fürwahrhaltens anzuerkennen. Darum müssen wir davon ausgehen, dass es nicht möglich ist, wider besseres Wissen zu glauben, weil es nicht möglich ist, subjektive Ursachen entgegen bestehender objektiver Gründe für wahr zu halten. Einen Sonderfall, aber keine Ausnahme, stellen Gegenstände des von Kant so genannten doktrinalen Glaubens dar, also eines unerschütterlichen Fürwahrhaltens in Bezug auf Inhalte, die keine Gegenstände „unserer“ Erfahrung darstellen können und darum nicht falsifizierbar sind. Es handelt sich hierbei um Gegenstände, die grundsätzlich durchaus die phänomenale Welt betreffen, also eine mögliche Erfahrung betreffen, aber unsere Erkenntnismittel sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene übersteigen. Kant nennt als Beispiel hierfür seinen eigenen doktrinalen Glauben daran, dass es irgendwo im Universum intelligentes Leben gibt. (KrV, B 853) Das wäre nämlich durchaus verifizierbar oder falsifizierbar, denn man müsste lediglich das gesamte Universum darauf hin überprüfen, allein: Wir Menschen können es nicht tun, also können wir diese subjektive Überzeugung Kants, selbst wenn sie aufgrund subjektiver Ursachen unerschütterlich ist, nicht in Wissen transformieren, also durch objektive Gründe belegen.

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1.4.3 Die normative Signifikanz empirischer Tatsachen und Sachverhalte Wenden wir diese Überlegungen auf unsere Diskussion über handlungsleitende Überzeugungen an, so werden die Spielräume für den kreativen Umgang mit rationalen Gründen signifikant eingeengt: Wir nehmen an, dass bestimmte Tatsachen und Sachverhalte in der Welt als objektive Gründe im kantischen Sinne interpretiert werden können und dass diese objektiven Gründe eine normative Signifikanz beinhalten (in dem Sinne, wie es Raz unten formuliert). Wir haben bereits zu Beginn unserer Überlegungen auf die ZweckMittel-Relation hingewiesen und betont, dass die Beachtung der ZweckMittel-Relation einen integralen Bestandteil der kontrollierten Praxis darstellt. Somit haben wir in Betracht gezogen, dass bestimmte Zusammenhänge in der Welt, in der wir unseren Willen verwirklichen, unsere Praxis determinieren. Selbst unter der Bedingung, dass wir die Inhalte unseres Willens ganz spontan bestimmen können, ist es ein Gebot der pragmatischen Vernunft, zu bedenken, dass die Verwirklichung unserer Willensinhalte in der Welt unter Beachtung bestimmter empirischer Tatsachen und Sachverhalte erfolgen muss.97 Diese Tatsachen und Sachverhalte entziehen sich aber unserer Spontaneität und stellen weitgehend invariante Gegebenheiten dar. Sie sind uns unverfügbar. Wir wollen diesem Gedanken nachgehen, indem wir uns genauer anschauen, was Raz unter Normativität und Rationalität versteht: Aspects of the world are normative in as much as they or their existence constitute reasons for persons, that is, grounds which make certain beliefs, moods, emotions, intentions, or actions appropriate or inappropriate.98 An account of rationality is an account of the capacity to perceive reasons and to conform to them, . . .99 Das Vermögen, das er als Rationalität versteht, definiert Raz als: capacity to see the normative significance of the way things are, to comprehend what reasons they constitute, and the significance of that fact for oneself.100

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Genau genommen übernimmt die Vernunft in diesem Zusammenhang eine, wie Kant sagt, „regulative“, nicht normative, Funktion ein, die ich im Abschnitt 3.2, speziell 3.2.1 im Detail erörtern werde. 98 Raz 2002, 67. 99 Raz 2002, 68. 100 Raz 2002, 69.

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Tatsachen besitzen demnach eine „normative Signifikanz“ und Rationalität (als Vermögen) besteht darin, die entsprechende Normativität zu erkennen, sie in handlungsleitende Überzeugungen zu transformieren und ihr (der Normativität) in seinem Handeln zu entsprechen. Demnach zeichnet sich auch jede Praxis, die auf rationalen Gründen beruhen soll, dadurch aus, dass der Akteur die Normativität, die durch empirische Tatsachen und Sachverhalte an ihn herangetragen wird, in seine Praxis integriert. Der Akteur ist in solchen Fällen nach Kants Verständnis zwar heteronom, aber er kontrolliert seine Praxis in einem gewissen Maße. „Heteronom“ bedeutet, dass die Gesetze, nach denen die Ursachen und Wirkungen in der Praxis geordnet sind, nicht aus der Spontaneität des Akteurs entspringen, dass also ihre erste Ursache nicht die mentalen Zustände des Akteurs, sondern Tatsachen und Sachverhalte der empirischen Welt darstellen. Kant: Hier (1.4.3) ist die Vernunft bestenfalls „regulativ“ und nicht „normativ“ tätig Im Ausgangspunkt von diesem exemplarisch von Raz vertretenen Verständnis von Rationalität, bin ich der Ansicht, dass die Heteronomie (jedenfalls ein gewisses Maß an Heteronomie) ein irreduzibles Moment der praktischen Freiheit auch in Kants Sinne darstellt, denn die Integration gegebener empirischer Tatsachen und Sachverhalte in das Gesamtgefüge ihrer handlungsleitenden Überzeugungen ist entscheidend für jede Form der willentlichen Selbstbestimmung vernunftfähiger Akteure, die die tatsächliche Verwirklichung aktueller Willensinhalte in der Welt, nämlich durch kontrollierte Praxis, anstreben. Selbst unter der Voraussetzung, dass man die Inhalte seines Willens ganz spontan bestimmen kann, dass also die inhaltliche Gestaltung unserer willentlichen Selbstbestimmung nur auf der Spontanität der eigenen Phantasie beruht, werden dieser phantastischen Form der Selbstbestimmung spätestens beim Versuch der Verwirklichung aktueller Willensinhalte gewisse Grenzen gesetzt, indem, um es mit Hegel zu sagen, das „Innere des Willens“ in die „Äußerlichkeit“ der Welt übergehen muss und dieser „Übergang“ unseren Willen mit den beharrlichen Gesetzen und der Eigendynamik der empirischen, äußeren Welt konfrontiert. Ohne diese Widerstände wäre, wie ich später zeigen werde, weder die Moraltheologie in der KrV noch das Gottespostulat (und die Moraltheologie) in der KpV nötig. „Wenn die Vernunft alle Gewalt hätte“, vermöchte sie diese Kontingenz zu überwinden, aber da sie sie nicht besitzt, kompensiert sie das entsprechende Defizit so gut wie möglich, indem sie „pragmatische Gesetze des freien Verhaltens, zu Erreichung der 1.4.4

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uns von den Sinnen ­empfohlenen Zwecke“ (KrV, B 828)101 gibt. Diese pragmatischen Gesetze entsprechen keiner a priori normativen Performance der Vernunft, sondern gelten lediglich als Ausdruck ihres ‚regulativen Gebrauchs‘ (ebd.). Dort nämlich, wo, wie Kant sagt, „die Bedingungen der Ausübung unserer freien Willkür (. . .) empirisch sind“, also im Ausgangspunkt von gegebenen Situationen in der realen Welt, besitzt die Vernunft nicht die Fähigkeit, die Gesetze unseres freien Verhaltens gänzlich a priori zu bestimmen, sondern erschöpft sich im regulativen Gebrauch. Dieser regulative Gebrauch entspricht dem Bereich der hypothetischen Imperative in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Gesetzgebung der empirisch praktischen Vernunft in der Kritik der praktischen Vernunft. Aus der Perspektive der kantischen Philosophie ist es in der Tat wichtig, sich bewusst zu machen, dass die pragmatische Vernunft lediglich eine regulative Funktion besitzt und nicht auf apriorischer Gesetzgebung beruht. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass die Gesetze, nach denen die Ursachen und Wirkungen geordnet sind, in der Sphäre des Pragmatischen nicht aus der Vernunft entspringen, sondern durch die Eigendynamik der empirischen Welt an sie herangetragen werden. Diese Eigendynamik ist wiederum nach beharrlichen, empirischen Gesetzen, nämlich nach Naturgesetzen determiniert. Der regulative Gebrauch, von dem hier die Rede ist, kann also keinen unmittelbaren Einfluss auf die zugrunde liegenden Gesetze nehmen. Das Subjekt kann diese Gesetze nicht manipulieren. Die Vernunft ist also nicht normativ (sondern eben nur regulativ). Somit erschöpft sich die regulative Funktion der pragmatischen Vernunft lediglich im Umgang mit beharrlichen Naturgesetzen, d.h. die regulative Funktion besteht darin, den vernunftfähigen Akteur zu einer bestimmten Umgangsweise mit Tatsachen und nach Naturgesetzen geordneten Sachverhalten anzuhalten. Sie hält uns dazu an, empirische Tatsachen und Sachverhalte, sowie die Naturgesetze als deren Ordnungsprinzip in das Gesamtensemble handlungsleitender Prinzipien und Überzeugungen, die unsere willentliche Selbstbestimmung steuern, zu integrieren. Zugleich ist die Vernunft auf einer anderen Ebene durchaus normativ, nämlich dort, wo sie „reine praktische Gesetze“ gibt, nämlich „Produkte der reinen Vernunft“, „die nicht empirisch bedingt, sondern schlechthin gebieten“ (KrV, B 828) und so muss die regulative Funktion mit der normativen in ­Einklang gebracht werden. Ich werde das entsprechende Verhältnis im R ­ ahmen meiner 101 Diesem Gegenstandsbereich widme ich einen ganzen Abschnitt im Haupttext und erlaube mir hier, darauf zu verweisen.

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Diskussion der pragmatischen und moralischen Gesetzgebung der Vernunft in der KrV erörtern. Hier aber nur zur Begriffsklärung: Das, was Raz unter der normativen Signifikanz von Dingen der Welt versteht, kann in Kants Vokabular nicht als Normativität anerkannt werden. Dieses Unterschieds müssen wir uns bewusst sein. Kants Argument hierfür: Die Kausalität der Dinge in Bezug auf unseren Willen kann sich ausschließlich nach Naturgesetzen vollziehen. Sie ist also genuin verschieden von der (intelligiblen) Kausalität aus Freiheit. Normativität ist aber ein Begriff, der in dem gegebenen Kontext exklusiv für die intelligible Kausalität verwendet wird. Ich belasse es aber dabei und verwende im Folgenden den Ausdruck „normativ“ und „Normativität“ so, wie es in den heutigen Debatten üblich ist und wonach auch die Verbindlichkeit empirisch-praktischer Grundsätze Normativität besitzt. 1.5

Kritik der These von der Analytizität der Zweck-Mittel-Relation

Es ist typisch für die Idee der instrumentellen Rationalität bzw. das instrumentelle Prinzip,102 dass sich der Gedankengang im Ausgangspunkt von dem so genannten „Analytizitätsprinzip“ bzw. der, wie auch immer verstandenen, Analytizität der Zweck-Mittel-Relation entwickelt. Am Anfang steht also der Gedanke, dass im Wollen bestimmter Zwecke analytisch das Wollen der dafür geeigneten Mittel enthalten sei. Sofern das instrumentelle Prinzip in Berufung auf Kant diskutiert wird, wie bei Korsgaard und Pollok, wird als Referenz eine

102 Die prominentesten Vertreter des instrumentellen Prinzips sind neben Korsgaard wahrscheinlich John Broome und R. Jay Wallace. Das, was ich im Folgenden diskutiere, trifft auf Korsgaard im Grunde genommen nur bedingt zu, denn sie vertritt zwar die Idee der Analytizität der Zweck-Mittel-Relation, aber die Quelle der Normativität ist bei ihr eindeutig die Autonomie des sich konstituierenden Akteurs. Auch auf Broome trifft die Kritik nicht zu, denn er vertritt, wie man unten sehen wird, keineswegs die Ansicht, dass eine Handlungsabsicht Gründe für die Ergreifung der Mittel darstellt. Raz formuliert eine ähnliche Kritik in Bezug auf Wallace (Raz 2011, 150 ff.) und man fragt sich, ob Wallace das instrumentelle Prinzip so versteht, wie es hier kritisiert wird. Ich glaube nicht. Im Grunde genommen ist es hier so, wie immer, wenn ein –ismus kritisiert wird: In der Einseitigkeit, in der er kritisiert wird, vertritt ihn sowieso kein vernünftiger Mensch. Kritik an –ismen ist immer eine Kritik von Strohpuppen. Aber mir geht es um das richtige Verständnis der Analytizitätsthese bei Kant und darum schließe ich hier zuerst das, was ich für defizitär halte, aus. Ob es wirklich von jemandem, der sich zum instrumentellen Prinzip bekennt, vertreten wird, ist nebensächlich.

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zwar berühmte, aber höchst missverständliche Passage aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten herangezogen: Wer den Zweck will, will (so fern die Vernunft über seine Handlungen entscheidenden Einfluss hat) auch das dazu unentbehrlich nothwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist. Dieser Satz ist, was das Wollen betrifft, analytisch; denn in dem wollen eines Objects als einer Wirkung wird schon meine Causalität als handelnde Ursache, d.h. der Gebrauch der Mittel, gedacht, und der Imperativ zieht den Begriff nothwendiger Handlungen zu diesem Zwecke schon aus dem Begriff eines Wollens dieses Zwecks heraus [. . .]. (GMS, AA 04: 417) Sofern diese Referenz für das instrumentelle Prinzip zugrunde gelegt wird, besteht sogar die Tendenz, sie bedarfsorientiert zu verkürzen und somit auf die Formel zuzuspitzen: Wer den Zweck will, will auch die dafür geeigneten Mittel. Bei Korsgaard finden wir an prominenter Stelle die Formulierung: „Whoever wills the end wills the means.“103 Die Vertreter des instrumentellen Prinzips stimmen darin überein, dass erstens Kant ein analytisches Verhältnis innerhalb der Zweck-Mittel-Relation annimmt und zweitens, dass dieses analytische Verhältnis unter der Bedingung, dass die Vernunft den entscheidenden Einfluss über die Handlung besitzt, in einen hypothetischen Imperativ transformiert werden kann, dass also auf diese Art und Weise die Analytizität eines deskriptiven Satzes über die Willensstruktur freier Akteure in die Normativität hypothetischer Imperative verwandelt wird.104 Das ist (zwar nur in einer bestimmten Hinsicht,105 aber immerhin irgendwie) richtig, stellt überdies in Berufung auf die obige Stelle aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eine weitgehend anerkannte Interpretation des kantischen Standpunkts dar und liegt – das ist hier von Bedeutung – der Theorie vom instrumentellen Prinzip zugrunde. Wenn das 103 Korsgaard 1997/2008, 50. Pollok nimmt übrigens explizit Bezug auf diese Stelle und diese Formulierung. Vgl.: Pollok 2007, 70. 104 Vgl.: Pollok 2007, 62 f. 105 Meine gesamte Argumentation in diesem Buch läuft darauf hinaus, zu zeigen, dass dies hinsichtlich der Beschreibung der idealtypischen Vollzugsstruktur der praktischen Freiheit, einschließlich der vollen Erfolgskontrolle, durchaus der Fall ist – dass es aber in der empirischen Welt nicht gerechtfertigt werden kann.

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instrumentelle Prinzip, wie bei Korsgaard 2009, auf subjektivem Rationalismus beruht, wird diese Analytizität auch ganz richtig und sinnvoll interpretiert: Wenn es dagegen auf objektivem Rationalismus beruht, ist es nicht nur irreführend, sondern einfach falsch. In dieser aktuellen Welt, die Kant als empirische Welt bezeichnet, sind die Mittel zur Verwirklichung aktueller Zwecke nicht in den Begriffen dieser Zwecke analytisch enthalten, darum ist das Verhältnis von Zwecken und Mitteln nicht analytisch, sondern synthetisch. Ich meine damit nicht, dass sie nicht immer darin enthalten sind, also manchmal enthalten sind und manchmal nicht, sondern dass sie niemals analytisch im Begriff des Zwecks enthalten sind, weil sie ansonsten keine Mittel zu seiner Hervorbringung sein könnten – weil sonst keine Praxis nötig wäre.106 Beispielsweise ist der Begriff „Latinum“ nicht in dem Begriff „Erstes Staatsexamen“ enthalten, und es wäre vollkommen verkehrt, zu behaupten: „Wer das erste Staatsexamen will, will auch das Latinum.“ (Wer den Zweck will, will auch die dazu geeigneten Mittel. Der Zweck ist das Examen. Das Latinum stellt eine Bedingung, mithin ein Mittel zu seiner Verwirklichung dar, fällt also in den Bereich notwendiger Mittel, und muss der Analytizitätsthese zufolge im Wollen des Examens enthalten sein.) Eine solche Fehlinterpretation wäre ein Ausdruck eines gravierenden Missverständnisses der Art und Weise, wie sich Zwänge auf unser Verhalten auswirken. Wer ein erstes Staatsexamen will, muss das Latinum machen; wollen muss er es überhaupt nicht – und meistens will er es auch nicht, sonst würde er vielleicht Latein studieren. Das nennt sich „Zwang“ und ist ein integraler Bestandteil unserer Kultur. Hier hilft auch nicht die in der Kantforschung typische Unterscheidung von „Wunsch“ und „Wille“ und die Unterstellung, dass jemand, der das erste Staatsexamen will, auch das Latinum wollen muss, und dass er im Falle, dass er Letzteres nicht will, in Wahrheit bloß den Wunsch besitzt, das Erste Staatsexamen zu erwerben und dass dieser Wunsch nicht wirklich als Wille quantifizierbar sei. Das ist Unsinn. In dieser, empirischen Welt, kann ein vernünftiger Mensch durchaus den Willen besitzen beispielsweise Englisch- oder Philosophielehrer zu werden, ohne sich für Latein zu interessieren oder das Latinum erwerben zu wollen. Das Wollen des Latinums ist also nicht analytisch im Wollen des Ersten Staatsexamens 106 Die synthetische Bedeutung der Praxis liegt meiner Interpretation der „Glückswürdigkeit“ zugrunde und prägt meine gesamte Interpretation der kantischen Theorie der praktischen Freiheit. Diese gesamte synthetische Bedeutung der Praxis hängt mit der Idee der Hervorbringung von gewollten Zuständen zusammen und darum muss hier in aller Konsequenz zwischen dem synthetischen und analytischen Moment des Wollens und Sollens unterschieden werden.

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enthalten, obwohl das Latinum in der empirischen Welt eine Bedingung des Ersten Staatsexamens darstellt. Raz stellt im Hinblick auf das instrumentelle Prinzip zurecht fest, dass das Wollen bestimmter Zwecke, selbst unter der Bedingung, dass diese Zwecke rational begründet sind, keine Gründe für ihre Mittel darstellt,107 dass also beispielsweise der Willensinhalt, das Erste Staatsexamen zu erwerben, keinen Grund dafür darstellt, dass Latinum machen zu wollen. Gewiss ist das Große Latinum in Nordrhein-Westfalen eine notwendige Bedingung für das Erste Staatsexamen, aber das ist der Fall, weil irgendjemand meint, dass es so richtig ist, und weil er seine Meinung durchgesetzt hat, also bloße Konvention. Meines Erachtens kann man zwar durchaus sagen, dass die Konvention einen Grund dafür darstellt, bestimmte Dinge zu tun, sich also bestimmten Zwängen zu fügen, aber man muss hier zwischen der Behauptung, (a) die Konvention stelle einen Grund dar, das Große Latinum zu machen und der Behauptung, (b) der Wille, das Erste Staatsexamen zu erwerben, stelle einen Grund dafür dar, das Große Latinum zu wollen, unterscheiden. Die Behauptung b ist nach Raz‘ Dafürhalten falsch, und ich finde, dass er diesbezüglich ganz richtig liegt. Das Wollen eines Zwecks/Ziels generiert nicht notwendigerweise Gründe für seine (empirisch notwendigen) Mittel: Das Wollen des Ersten Staatsexamens ist kein Grund, das Latinum zu wollen. Man darf aber Kants Behauptung, dass innerhalb der Zweck-Mittel-Relation im menschlichen Wollen Analytizität enthalten sei, indem ein Akteur, der den Zweck will, auch die Ergreifung gewisser Mittel unter bestimmten Bedingungen wollen müsse, nicht mit der Behauptung verwechseln, dass das Verhältnis von Zwecken und Mitteln analytisch sei, oder gar, dass die darauf beruhenden (hypothetischen) Imperative analytische Urteile seien. Es ist beispielsweise von Bernd Ludwig darauf hingewiesen worden, dass der hier thematische Satz: „Wer den Zweck will, will auch das notwendige Mittel“, zwar als ein analytisch-praktischer Satz, mitnichten aber als ein analytischer praktischer Satz verstanden werden darf,108 da der Satz selbst mitnichten analytisch ist, sondern nur behauptet, dass im Hinblick auf das Wollen ein analytisches Verhältnis zwischen dem Zweck und der Ergreifung der zu seiner Verwirklichung geeigneten Mittel besteht – und ich füge hinzu: Selbst das gilt nur unter bestimmten Bedingungen109 und nicht ausnahmslos. Behauptet wird also, wie auch Pollok

107 Raz 2011, 142 und in Auseinandersetzung mit Broome: 151 ff. 108 Ludwig 1999, 112. 109 Es gilt nämlich nur insofern die empirischen Mittel im Einklang mit gültigen moralischen und pragmatischen Gesetzen stehen und als solche überhaupt gewollt werden können.

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betont,110 zunächst die Analytizität der Willensstruktur111 und nicht die Analytizität des Satzes. Auch betont Ludwig, dass der Ausdruck „analytisch“ hier keinesfalls im Sinne eines analytischen Schlusses der Art: „Das Urteil ‚Q‘ sei (folge oder gelte) analytisch, weil es Schlußsatz eines Syllogismus112 ist, oder weil es aus ‚P‘ und ‚Wenn P, dann Q‘ folgt“, verstanden werden darf; und hält an derselbe Stelle fest: ‚Analytisch‘ ist bei Kant daher sowohl definitionsgemäß als auch im tatsächlichen Gebrauch ein Prädikat, das einem Urteil in Subjekt-PrädikatForm als solchem ausschließlich aufgrund der Bedeutung der darin vorkommenden Wörter entweder zu- oder abgesprochen werden kann. 113 Die hypothetischen Imperative würden wohl nur in einer möglichen Welt, in der eine eindeutige Zuordnung bestimmter Mittel zur Hervorbringung bestimmter Zwecke besteht, weil die Mittel analytisch im Begriff der Zwecke enthalten sind, analytische Sätze darstellen. Diese Einfachheit bildet aber mitnichten die empirische Welt ab, denn es ist ein Zeichen von Klugheit im kantischen (Vgl.: KrV, B 828) und „praktischer Bildung“ im hegelschen Sinne,114 110 Vgl.: Pollok 2007, 62. 111 Und auch dies kann nur im Hinblick auf eine idealtypische Willensstruktur, also das, was Kant eigentlich unter „Wille“ versteht, nämlich die praktische Vernunft, die alle Gewalt über das Begehrungsvermögen und zugleich über die Welt besitzt, behauptet werden. 112 Vgl. hierzu Korsgaard 1997/2008, 50 und Pollok 2007, 70: „Whoever wills the end wills the means. I will the end. – Therefore I will the means.” Vgl. auch Staege 2002, 47ff., die den Zusammenhang zwischen der logischen Form hypothetischer Urteile und den hypothetischen Imperativen affirmativ vertritt. Man hüte sich aber davor, die Argumentation allzu unkritisch zu rezipieren, denn sie beruht auf einigen dramatischen Missverständnissen und Schieflagen. Im Unterschied zu Ludwig argumentiert Roswitha Staege im Ausgangspunkt von der Annahme, „dass – wie von der kantischen Terminologie impliziert – eine systematische Entsprechung zwischen hypothetischen Imperativen und hypothetischen Urteilen besteht“. (Staege 2002, 45) Die Implikation, die sie vermutet, ist allerdings nur assoziativ und m.E. irreführend, denn sie übersieht den Unterschied zwischen Gesetzen und Urteilen und die Tatsache, dass ein hypothetischer Imperativ ein Gesetz, wohingegen ein hypothetisches Urteil die Subsumption eines Einzelfalls unter ein Gesetz darstellt. Urteile und Gesetze sind nicht einerlei und man darf keine Stelle im Primärtext als Implikation eines solchen Verhältnisses interpretieren. Staege beruft sich hierbei scheinbar auf Cramer 1972: Vgl.: Cramer K. 1972: Hypothetische Imperative? In: Rehabilitierung der praktischen Philosophie. M. Riedel (Hg.). 113 Ludwig 1999, 110. 114 RPH, § 197.

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zu wissen, welche Mittel unter den gegebenen Umständen zur Befriedigung bestimmter Bedürfnisse und Zwecke geeignet sind, zudem zwischen ihnen wählen zu können, und letztendlich beurteilen zu können, welche Wahl (die als Ausdruck der, wie Hegel sagt: „Meinung“,115 gilt) die größte Anerkennung für die eigene praktische Bildung in der Gemeinschaft erhalten wird. Zudem, und das finde ich wesentlich wichtiger, besteht in der aktuellen Welt insofern keine eindeutige Zuordnung zwischen Zwecken und Mitteln, als zur Hervorbringung ein und desselben Zwecks durchaus konkurrierende Handlungsoptionen bestehen können und weil sich das arbitrium liberum gerade dadurch auszeichnet, dass wir zwischen diesen konkurrierenden Handlungsoptionen nach bestimmten Gründen und Grundsätzen wählen können.116 Daher stellt Raz zurecht fest, dass es in der empirischen Welt möglich, und, wie ich hinzufügen darf, sogar überhaupt nicht unüblich ist, dass so genannte „generating reasons“ eine Mehrzahl so genannter „facilitative reasons“ bedingen können, ohne eine bestimmte Hierarchie zwischen ihnen herstellen zu müssen. Infolgedessen wäre die Aktualisierung jedes beliebigen „facilitative reason“ gleichermaßen rational begründet, und zwar durch ein und denselben „generating Reason“.117 Also können in der empirischen Welt mehrere, mit einander konkurrierende Handlungsoptionen zur Verwirklichung eines rational begründeten Willensinhalts bestehen, die gleichermaßen rational begründet sind. Ein solcher Gedanke, der nach empirischen Gesichtspunkten nahe liegt, ist aber unverträglich mit der Idee, dass die Mittel analytisch im Begriff des Zwecks enthalten sind, denn dann wäre der Letztere in sich widersprüchlich. Die von Kant vertretene Analytizität der Zweck-Mittel-Relation kann also unmöglich behaupten, dass der Begriff der Mittel im Begriff des Zwecks enthalten sei, sondern stellt insofern einen analytisch-praktischen Satz dar, als der Akteur, der bestimmte Mittel als geeignet für die Verwirklichung eines von ihm tatsächlich gewollten Zwecks ansieht, durch die Vernunft dazu gehalten ist, überhaupt irgendwelche Mittel zu ergreifen, also überhaupt tätig zu werden; jedenfalls sofern er den Zweck als Produkt seiner eigenen Freiheit verwirklichen will. Die Analytizität betrifft also nicht das Verhältnis zwischen der begrifflichen Bestimmung eines Zwecks und der begrifflichen Bestimmung eines Mittels, sondern das Verhältnis zwischen dem Wollen eines Zwecks und 115 RPH, § 194. Besser: §§ 190–195. 116 Vgl. Staege 2002, 46: „Ganz abwegig und eine Konfusion von Aussagen und Wahrheitsbedingungen wäre es, die logische Struktur des hypothetischen Urteils statt als Bedingungsverhältnis zwischen Sätzen als Bedingungsverhältnis zwischen dem Sachverhalt, dessen Bestehen den Vordersatz wahr macht, und dem Nachsatz auffassen zu wollen.“ 117 Ich gehe hierauf unten, im Abschnitt 1.7, detailliert ein.

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dem Wollen seiner Verwirklichung; und dieses Verhältnis ist in der Theorie der praktischen Freiheit verwurzelt und es wird aufgedeckt, sobald man einen handlungstheoretischen Blick auf sie wirft. Genau genommen müsste die Formel also nicht lauten: „Wer den Zweck will, will auch die dazu notwendigen Mittel“, sondern zunächst zurückhaltender: „Wer den Zweck will, will auch seine Verwirklichung“ und konsequenterweise: „Wer einen Zweck verwirklichen will, will auch die zur Verwirklichung notwendigen Mittel ergreifen“. Ob aber unter den zufälligen Bedingungen der empirischen Welt die Mittel, die sich gerade anbieten, auch mit den allgemeinen, insbesondere moralischen Grundsätzen, nach denen ein empirischer Akteur handelt, übereinstimmen, ist damit nicht gesagt. Es kann also sein, dass die Mittel, die zufälligerweise jetzt für die Verwirklichung des Willensinhalts Q in der Situation S nötig sind, vom Akteur A nicht anerkannt werden, weil sie beispielsweise unmoralisch sind und er moralisch handeln will. Die Analytizität, von der hier die Rede ist, beruht auf einigen Bedingungen, nämlich erstens, dass weder die Zwecke noch die Mittel den allgemeinen Gesetzen der praktischen Vernunft (letztendlich den moralischen Gesetzen) widersprechen, weil jeder solche Widerspruch sie als rationale Willensinhalte disqualifizieren würde. Sie beruht zweitens auf der Bedingung, dass der Akteur, der aus Freiheit (ich spreche in diesem Zusammenhang immer von „Spontaneität“) einen bestimmten Zweck will, auch bestimmen kann, durch welche Mittel er ihn verwirklichen will. Sofern er dies bestimmen kann, also die nötige Kontrolle besitzt, gehen wir davon aus, dass er mit dem Wollen des Zwecks auch die Mittel will. Sofern aber die Mittel auf kontingente Art und Weise an ihn herangetragen werden, wie es in der empirischen Welt der Fall ist, muss er sie überhaupt nicht wollen! Darum führt uns die Analytizitätsklausel über kurz oder lang auf die Frage der Spontaneität und Erfolgskontrolle hinaus, denn für einen Akteur, der die Bedingungen erfüllt, die ich später in meiner Analyse der Willensstruktur des höchsten Guts benennen werde, und der der maximal möglichen Entfaltung der praktischen Freiheit in der Welt zugrunde liegen muss – also für den Willen des transzendentalen Subjekts – gilt die Analytizitätsklausel durchaus, denn dieser Akteur bestimmt sowohl die Inhalte seiner Freiheit (seiner Handlung/Praxis) als auch die Kausalität, nach der sie verwirklicht werden, also die Zweck-Mittel-Relationen; denn er besitzt die volle Verfügungsgewalt über die inhaltliche Bestimmung seines Willens und auch über die Welt, in der er handelt. Für empirische Subjekte, nämlich Menschen in dieser empirischen Welt, gilt die Analytizitätsklausel nicht uneingeschränkt. Die einzige Analytizität, die auch für Menschen gilt, betrifft das Verhältnis zwischen dem Wollen der Verwirklichung eines Zwecks und der Ergreifung der

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Tat: Wer einen Zweck verwirklichen will und nichts gegen die konkreten Mittel hat, die gerade zufälligerweise dafür geeignet sind, will auch tätig werden. Insofern stellt er, wie Pollok zurecht betont, in erster Linie eine Aussage über das menschliche Wollen und nicht unmittelbar eine Aussage über das Sollen dar.118 Nur das und nicht mehr behauptet Kant. Sobald sich irgendwelche Irritationen aus der Kontingenz der empirischen Welt ergeben und Gründe auftauchen, die Rechtmäßigkeit der Mittel infrage zu stellen, ist die Analytizität aufgehoben. Sofern überhaupt der geringste Zweifel daran besteht, dass eine Handlungsoption Gesetzeskonform ist, ist sie nach Kants Dafürhalten, nicht nur mit Vorsicht auszuführen, sondern explizit zu unterlassen: Es ist ein moralischer Grundsatz, der keines Beweises bedarf: Man soll nichts auf die Gefahr wagen, daß es unrecht sei (. . .). Das Bewußtsein also, daß eine Handlung, die ich unternehmen will, recht sei, ist unbedingte Pflicht. (MDS, B 288). Nun will ich darauf hinweisen, welche Konsequenzen die obigen Überlegungen für meine Interpretation und Rekonstruktion der kantischen Theorie der praktischen Freiheit und der darin enthaltenen Theorie des höchsten Guts besitzen: Diese Überlegungen sind entscheidend für die Art und Weise, wie ich den kantischen Begriff der „Glückswürdigkeit“ als Bestandteil der Theorie vom höchsten Gut interpretiere, und dafür, dass ich die leicht pointierte Formulierung wähle, die Glückswürdigkeit stelle eine bestimmte Form der Praxis und nicht nur eine Disposition oder ein Verdienst dar. Nach meinem Dafürhalten ist die Glückseligkeit innerhalb dieser Theorie, aus Gründen, die ich an gegebener Stelle nennen werde, lediglich als Produkt der eigenen Praxis thematisch und diese Praxis wird mit dem Begriff der Glückswürdigkeit bezeichnet: Die gesamte Theorie des höchsten Guts bezeichnet also eine bestimmte, idealtypische Handlungsstruktur, die auf einer bestimmten Willensstruktur beruht und sich dadurch auszeichnet, dass der Totalität aller beteiligten, vernunftfähigen Akteure aufgrund vollkommener Erfolgskontrolle im Rahmen ihrer willentlichen Selbstbestimmung alles nach Wunsch und Willen geht. Letzteres, also die Idee, dass ihnen alles nach Wunsch und Willen geht, versteht Kant als Glückseligkeit und es ist oft diskutiert worden, ob er diese Glückseligkeit überhaupt als ein realisierbares Ziel betrachtet. Dazu äußere ich mich an gegebener Stelle. Hier will ich folgendes betonen: Die Glückseligkeit kann entweder als Produkt der Praxis aller beteiligten Akteure oder als Geschenk Gottes 118 Vgl.: Pollok 2007, 64.

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thematisch werden, und wenn sie als Produkt der Praxis verstanden wird, kann die gesamte Theorie des höchsten Guts vor dem Gesichtspunkt der Effizienz der Handlungsorganisation und Erfolgskontrolle betrachtet und interpretiert werden. Genau das ist die Art und Weise, wie ich diese Theorie verstehe und interpretiere. Wenn man aber die Glückseligkeit als Geschenk Gottes versteht, und meint, dass Kant sie auf diese Art und Weise thematisiere, so verzichtet man meines Erachtens auf die Erklärungspotenziale, die sich aus der Beziehung des höchst vollkommenen Willens zu dem empirischen, menschlichen Willen ergeben, indem sich diese beiden nach dem Gesichtspunkt der Erfolgskontrolle voneinander unterscheiden und aufeinander beziehen. Sie zeigen dem menschlichen Willen bestehende Mängel auf und eröffnen Perspektiven zur Optimierung seiner Performance. Also hier nochmal in aller Kürze das, was ich in den Text-analytischen Abschnitten dieses Buches ausführe: Unter moralischen Gesetzen versteht Kant solche Gesetze, die von der Vernunft a priori gegeben werden und ausnahmslos für jeden Akteur in jeder einzelnen Situation verbindlich sind. Mehr nicht.119 Die willentliche, praktische Selbstbestimmung nach solchen Gesetzen bezeichnet Kant als moralische Praxis, also als „Glückswürdigkeit“.120 Wenn diese Praxis im Einklang mit den pragmatischen Gesetzen der Vernunft erfolgt, besitzt der Akteur eine gewisse Erfolgskontrolle im Rahmen seiner willentlichen Selbstbestimmung in der empirischen Welt. Je mehr Erfolgskontrolle er besitzt, umso mehr gehen ihm die Dinge nach Wunsch und Willen. Die maximal mögliche Entfaltung der praktischen Freiheit, also der willentlichen Selbstbestimmung in der Welt, wäre dann gegeben, wenn dem Akteur (und besser noch: allen beteiligten Akteuren121) alles nach Wunsch und Willen ginge. Den Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht, bezeichnet Kant als Glückselig119 Was der natürliche Menschenverstand hier zu dem Begriff „moralisch“ assoziiert, spielt keine Rolle – denn das Meiste davon ist ohnehin bloße Konvention und besitzt überhaupt keine moralische Signifikanz. Die einzige inhaltliche Bestimmung dieses Begriff, die wir bei Kant finden, ist die kategorische Gültigkeit dieser Gesetze. Dagegen ist es völlig gleichgültig, wie sich jemand dabei fühlt, wenn er moralisch handelt oder ob dies und jenes in seinem Dorf heutzutage moralisch en vogue ist. Assoziationen haben in diesem Kontext niemals zur Aufklärung, sondern immer nur zu Missverständnissen und sinnlosen Streitereien beigetragen. 120 Dies ist sowohl in der KrV als auch in der KpV der Fall. In der KpV verwendet er den Begriff „Sittlichkeit“ stellenweise synonym mit „Glückswürdigkeit“. 121 Warum es sogar nötig ist, dass hier der kollektive Gesichtspunkt integriert wird, zeige ich im Zusammenhang mit der Theorie vom System der sich selbst lohnenden Moralität in der KrV.

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keit. (KpV, A 224) Demnach stellt der Begriff „Glückseligkeit“ einen Ausdruck für den Zustand der vollkommen aus eigener Spontanität kontrollierten willentlichen Selbstbestimmung dar, mithin: die maximal denkbare Entfaltung der kontrollierten praktischen Freiheit, also optimale Praxis. Die gesamte Theorie des höchsten Guts interpretiere ich darum vor dem Hintergrund der Handlungsorganisation. Ich verwende die Begriffe Glückswürdigkeit und Glückseligkeit deflationär, also Glückswürdigkeit bzw. moralische Praxis nur im Hinblick auf praktische Gesetze, die ausnahmslos gelten (ich empfehle sogar, dass man hier auf den Begriff „moralisch“ verzichtet und zwischen ausnahmslos gültigen und bedingt gültigen Gesetzen unterscheidet, jene als rein praktisch und diese als empirisch praktisch bezeichnet), und Glückseligkeit verstehe ich als Ausdruck für die vollkommene Erfolgskontrolle.122 Den Gesamtansatz verstehe ich als handlungstheoretische Reformulierung und Aktualisierung der kantischen Theorie der praktischen Freiheit unter Verwendung des modernen handlungstheoretischen Vokabulars. Ich nehme im Hinblick auf die Aufwertung der pragmatischen Dimension innerhalb der Theorie der praktischen Freiheit nun nochmal Bezug auf eine Formulierung von Pollok: Auf Seite 67 äußert er folgende Bedenken: . . ., ja man kann gegenüber einer systematischen Auswertung hypothetischer Imperative sogar geltend machen, daß Kant sich nur in der Grundlegung ausführlich mit ihnen beschäftigt hat. In der entsprechenden Fußnote fügt er noch einige Bemerkungen hinzu, die ich hier nicht wiederhole. Pollok verspürt offenbar eine gewisse Notwendigkeit, zu rechtfertigen, dass er überhaupt eine systematische Aufwertung der hypothetischen Imperative vertritt. Dieselbe Notwendigkeit sehe ich auch, nämlich im Zusammenhang mit meinem Anliegen, die pragmatische Dimension der praktischen Vernunft aufzuwerten. Ich löse diese Bedenken aber dadurch, dass ich mich nicht mit dem Begriff „hypothetische Imperative“ auseinandersetze,123 sondern zeige, dass das Anliegen, das ich mit Pollok teile, auch im Rückgriff auf Kants Theorie der praktischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft, wie gesagt, speziell im Zusammenhang mit der pragmatischen Normativität 122 Wer mehr aus diesen Begriffen herausholen will, muss assoziativ arbeiten und büßt an gedanklicher Strenge und argumentativer Verbindlichkeit ein. 123 Hierdurch umgehe ich das von Pollok genannte Problem, dass die hypothetischen Imperative typisch für die Grundlegung sind und in den anderen Werken nicht von Bedeutung sind. Die empirisch praktische bzw. pragmatische Vernunft ist nämlich sowohl in der KrV als auch in der KpV von Bedeutung.

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der praktischen Vernunft und der entsprechenden pragmatischen Sphäre des arbitrium liberum, aber auch im Zusammenhang mit der Theorie der praktischen Freiheit in der Kritik der praktischen Vernunft, nämlich im Zusammenhang mit der empirisch praktischen, pragmatischen Dimension, die in die Sphäre der Beförderung der Glückseligkeit gehört, erörtert werden kann. Um dies zu zeigen, rekonstruiere ich diese Theorienelemente im Detail, denn ich vertrete ebenfalls den Standpunkt, dass die geringste Ungenauigkeit bei der Rekonstruktion zugleich Missverständnisse und Irrtümer nach sich zieht. Ich empfehle also, die Rede von der Normativität der hypothetischen Imperative auf die Frage des in Kants Theorie der praktischen Freiheit enthaltenen Pragmatismus zu übertragen und will zeigen, dass dies mit einiger Berechtigung und mit eindeutiger Referenz auf die Primärtexte möglich und sogar nötig ist. 1.6

Polloks Kohärenzthese als Modifikation des instrumentellen Prinzips

Im Folgenden will ich der Frage nachgehen, ob die oben vorgetragene Kritik am Analytizitätsprinzip auch gegen Polloks These von der Kohärenz der Zweck-Mittel-Relation verwendet werden kann. Ich argumentiere, dass bei Pollok m.E. eine Nuance erkennbar ist, die die Bedeutung der Kohärenz der Zweck-Mittel-Relation124 in den Mittelpunkt stellt und gegenüber der Frage, ob diese Zweck-Mittel-Relation analytisch oder synthetisch ist, im Grunde genommen indifferent ist, oder jedenfalls indifferent sein kann. Dieser Ansatz hat gegenüber der klassischen Berufung auf die Analytizitätsklausel den Vorzug, dass er auf konkreter Faktizität beruht, also auf konkret bestehende Verhältnisse zwischen Tatsachen, mithin auf Sachverhalte verweist. Die Kohärenz der Zweck-Mittel-Relation bleibt auch dann bestehen, wenn man die Analytizitätsklausel infrage stellt, wenn man also annimmt, dass das Verhältnis von Zwecken und Mitteln synthetisch ist. Auch dann ist es nicht hinweg zu leugnen, dass die Invarianz natürlich geordneter Sachverhalte erstens real ist und zweitens unabhängig von unserem Fürwahrhalten und Wollen besteht. Wenn die Kohärenz der Zweck-Mittel-Relation gewährleistet werden soll, entspringt aus der Invarianz dieser Relation eine Form objektiver Normativität, die für die kontrollierte Praxis fundamental ist. Die Kohärenztheorie ist zudem immun gegenüber der von Raz an das instrumentelle Prinzip herangetragenen Kritik, denn für die Aufrechterhaltung der Kohärenz der Zweck-Mittel-Relation muss nicht angenommen werden, 124 Pollok 2007, 65.

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dass die Verfolgung bestimmter Zwecke Gründe für deren Mittel generiert. Es reicht aus, zu behaupten, dass zwischen bestimmten Mitteln und bestimmten Zwecken invariante Bedingungsverhältnisse bestehen, eventuell solche, die nach Naturgesetzen geordnet sind, und man muss zugestehen, dass aus dieser Relation eine gewisse Normativität entspringt. Es wird also nicht der Grund für die Mittel aus der Verfolgung des Zwecks generiert, sondern es wird angenommen, dass die Kohärenz der Zweck-Mittel-Relation einen Grund für die Ergreifung der geeigneten Mittel darstellt. Was geeignet ist, wird eventuell durch die empirische Welt und deren Sachverhalte bestimmt. Der Grund für die Normativität der Kohärenz der Zweck-Mittel-Relation ist nicht die Tatsache, sondern der Sachverhalt, also nicht das Bestehen eines Dinges und eventuell auch seine Wirklichkeit, sondern das Bestehen einer Relation. Der Vorzug dieses Ansatzes ist für jeden Kantianer ganz offensichtlich, denn eine Relation kann mit einer Relationskategorie beschrieben werden, hier mit der Kategorie der Kausalität und wir sehen sofort, wie objektive Normativität entspringen kann; nämlich aus den objektiven Kausalverhältnissen, also den kausale Bedingungsverhältnissen zwischen einzelnen Handlungssegmenten, die in der Tradition des instrumentellen Prinzips abstrakt als Mittel und Zwecke unterschieden werden. Wenn wir also Polloks Theorie der auf der Kohärenz der Zweck-Mittel-Relation beruhenden Normativität mit Raz‘ Kritik konfrontieren, bestehende Ziele/Zwecke seien nicht imstande, Gründe für die Mittel zu generieren, so bleiben wir von dieser Kritik unbeeindruckt, denn dies wird überhaupt nicht behauptet. Wenn wir die Kritik spezifizieren und die Frage zulassen, wie genau hier Normativität erklärt werden soll, dann erhalten wir eine Erklärung, die m.E. wesentlich überzeugender ist, als die vermeintliche Entdeckung oder schlichte Erfindung einer neuen Art von Gründen; nämlich der Erklärung, dass (objektive) Normativität aus den kausalen Bedingungsverhältnissen empirischer Sachverhalte generiert wird. Ein weiterer Vorzug der Kohärenztheorie besteht darin, dass sie auch gegen die Kritik, die Korsgaard gegen den objektiven Rationalismus vorträgt,125 verteidigt werden kann, nämlich die Kritik, dass der objektive Rationalismus erstens objektive Werte voraussetzen muss, und zweitens nicht imstande ist, die Normativität zu erklären. Ganz unabhängig davon, wie man zum Werterealismus steht, ist man imstande, die Kohärenz der Zweck-Mittel-Relation als solche anzuerkennen. Im Unterschied zu Raz muss Pollok überhaupt nicht den Werterealismus vertreten. Er kann es tun, wenn er es will (ich weiß nicht, ob er es tut), aber für die Gültigkeit einer Theorie, die die Normativität praktischer Gründe, also handlungsleitender Überzeugungen, auf der Invarianz 125 Siehe unten.

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e­mpirischer Bedingungsverhältnisse gründet, ist dies unerheblich. Für die Verteidigung dieser Theorie ist es lediglich wichtig, zwischen der Behauptung, dass die Normativität auf der Kohärenz der Zweck-Mittel-Relation beruht und der Behauptung, dass sie auf der Analytizitätklausel beruht, zu unterscheiden, denn wir haben gesehen, dass die Analytizitätsthese nicht unstrittig ist, während ich glaube, zurecht darauf hingewiesen zu haben, dass die Normativität, die unmittelbar aus der natürlichen Ordnung der Dinge und der empirischen Kausalität empirischer Sachverhalte entspringt, eine irreduzible Bedingung der kontrollierten Praxis darstellt. Pollok thematisiert diesen Gegenstandsbereich im Zusammenhang mit der Frage nach handlungsleitenden Überzeugungen, speziell im Zusammenhang mit den hypothetischen Imperativen und stellt fest, dass zwischen der Formulierung der Analytizitätklausel und der allgemeinen Form hypothetischer Imperative ein wesentlicher Unterschied besteht, nämlich der für hypothetische Imperative typische Verzicht auf den appelativen Rekurs auf die Rationalität des Menschen, der in dem Konditionalsatz „wenn die Vernunft alle Gewalt hätte“, zum Ausdruck gelangt. Dementsprechend profiliert er, wie zu Beginn referiert wurde, gerade diese Formel als Quelle der praktischen Normativität. Die Selbstverpflichtung zur rationalen Praxis, die er unter dem Ausdruck „Rationalitätsklausel“ thematisiert, hält er für die entscheidende Quelle hypothetisch praktischer Normativität. In Bezug auf die Generierung handlungsleitender Überzeugungen mit rationalem Anspruch ist dies auch ganz richtig und es fällt auch durchaus unter sein Leitmotiv „wenn die Vernunft alle Gewalt hätte . . .“. Aber ich habe oben betont, dass es für die kantische Theorie der praktischen Freiheit ebenso wichtig ist, die Formel: „Wenn der Wille alle Gewalt über die Welt besäße . . .“, hinzu zu nehmen. An der hiesigen Stelle will ich hervorheben, dass die von Pollok vertretene Bedeutung der Kohärenz der Zweck-Mittel-Relation entscheidend für den pragmatischen Bereich ist. Die Kohärenz der Zweck-Mittel-Relation ist entscheidend für die Gewährleistung der Erfolgskontrolle im Umgang mit der empirischen Welt, in der unser Wille verwirklicht werden muss. Wenn also die erste Formel die entscheidende Ursache für die Verwandlung der Analytizitätklausel in hypothetische Imperative, also empirisch praktische Gesetze, darstellt, damit Akteure, die mit Willensschwäche belastet sind, der Rationalität die Souveränität über die inhaltliche Gestaltung ihres Willens überlassen, so stellt die zweite Formel im Grunde genommen einen Appell für die Beachtung der Kohärenz bestehender Zweck-Mittel-Relationen im Rahmen der praktischen Verwirklichung seiner Willensinhalte, also pragmatische Rationalität, dar. Die Kohärenz der Zweck-Mittel-Relation stellt durchaus einen interessanten und leistungsfähigen Ansatz zur Erklärung objektiver Normativität dar, also der Normativität, die als normative Signifikanz empirischer Tatsachen

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und Sachverhalte interpretiert werden kann, aber es gibt zumindest für Kant eine andere Form von Normativität, die gänzlich auf der Spontanität der Autonomie und der Selbstverpflichtung zur Konformität mit Gesetzen, die das Subjekt aus eigener Spontanität generiert, beruht. Diese Form von Normativität bezeichnet Kant als intelligibel und sie unterscheidet sich von der objektiven Normativität dadurch, dass sie nicht auf Heteronomie, sondern eben auf Autonomie, also auf spontaner Selbstgesetzgebung beruht. Im Bereich der empirisch praktischen Gesetzgebung unserer Vernunft ist es sicherlich möglich, dass Autonomie und Heteronomie miteinander interagieren und ein möglichst hohes Maß an Erfolgskontrolle in der pragmatischen Sphäre unserer willentlichen Selbstbestimmung gewährleisten. In Bezug auf die Normativität, die ausschließlich auf der Spontanität der Vernunft beruht, verhält es sich anders, denn wie Kant an mehreren Stellen, die ich im Haupttext nenne und ausführlich diskutiere, betont, ist es hierfür nötig, zunächst einmal von eventuellen Irritationen, die aus der empirischen Welt mitsamt ihrer Tatsachen und Sachverhalte entspringen, abzusehen und sich eine Frage zu stellen, die man sehr gut mit der von Pollok aufgegriffenen Formel zum Ausdruck bringen kann: „Wenn die Vernunft alle Gewalt hätte, und den willen Ganz a priori zu bestimmen vermöchte, und zwar sowohl der Form nach als auch dem Inhalt nach: was würden wir dann überhaupt wollen?“ In Auseinandersetzung mit dem Ideal des höchsten Guts werden wir (im Haupttext) diese Frage diskutieren. Doch zunächst wollen wir die von Raz 2011 vorgetragene Kritik am instrumentellen Prinzip und seine Profilierung des „facilitative principle“ diskutieren. 1.7

Raz‘ Kritik an der Theorie instrumenteller Gründe und die Profilierung seines eigenen „facilitative principle“

Raz geht davon aus, dass die Frage, ob ein Akteur einen bestimmten Zweck verfolgt oder nicht, belanglos im Hinblick auf eventuell bestehende Gründe für die Ergreifung bestimmter Mittel ist, oder kurz: Die Tatsache, dass jemand einen bestimmten Zweck verfolgt, generiert keine Gründe für die Ergreifung irgendwelcher Mittel. Vielmehr nimmt er an, dass die Gründe für bestimmte Handlungsschemata zugleich Gründe für Handlungen, die deren Verwirklichung befördern (facilitate), darstellen: „I allow that there are ‘instrumental reasons’, facilitative reasons as I call them, but deny that they have anything to do with our ends.“126 126 Raz 2011, 142.

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Nehmen wir zur Verdeutlichung an, dass ein bestimmter Grund g für die Aktualisierung eines bestimmten Handlungsschemas G spricht. Wir können dann sagen, dass G den Grund g verwirklicht. Wenn es beispielsweise in unserem Raum dunkel geworden ist und wir nichts mehr sehen können, stellt dies beispielsweise einen Grund g dafür dar, das Licht einzuschalten, also G zu vollziehen. Hierfür müssen wir uns eventuell vom Schreibtisch erheben und den Lichtschalter betätigen. Nennen wir die Betätigung des Lichtschalters L. Es stellt sich nun die Frage, ob es einen Grund l für L gibt und wenn ja, ob dieser Grund abhängig davon ist, dass das Einschalten des Lichts unser Zweck ist. Raz unterstellt, dass man in der Tradition der instrumentellen Rationalität meinen würde, dass das Ziel, das Licht einzuschalten, einen Grund l dafür generiert, L zu tun. Raz bezweifelt dies. Nach seinem Dafürhalten ist es ganz unerheblich, ob jemand das Licht einschalten will oder nicht, wenn es um die Normativität von l geht.127 Diese Normativität wird nach seinem Dafürhalten durch den Grund g generiert, nicht dadurch, dass jemand G als Ziel aktualisiert. Er nimmt also an, dass ein bestimmtes Verhältnis zwischen g und l besteht, da die Handlung L nötig ist, um die Verwirklichung des Grundes g, nämlich durch die Handlung G, zu ermöglichen (to facilitate the realization of the generating reason). Das bedeutet mitnichten, dass Ziele bzw. Zwecke unerheblich für die Beurteilung von Handlungen sind,128 sondern lediglich, dass es für die Frage der Normativität praktischer Gründe unerheblich ist, ob sie von einem bestimmten Akteur als Ziele bzw. Zwecke verinnerlicht werden oder nicht. Das klingt durchaus plausibel, denn demnach könnte man sehr wohl behaupten, dass beispielsweise objektive Gründe ω für die Bewahrung der Wasserqualität von Flüssen, Ozeanen und Grundwasserreservoiren sprechen, und dass diese Gründe unabhängig davon sind, ob die Bewahrung der Wasserqualität von Flüssen, Ozeanen und Grundwasserreservoiren ein Ziel menschlicher Praxis auf individueller oder kollektiver Ebene darstellt. Raz unterstellt, dass man in der Tradition der instrumentellen Rationalität den Standpunkt vertreten müsste, dass die entsprechende Normativität solcher Gründe davon 127 Hier werden von Raz auch gewisse Grundsatzüberlegungen, die in der Rezeption und Diskussion der Handlungstheoretischen Arbeiten von Anscombe und Davidson reproduziert wurden, integriert, so dass ich seine Position als ein mögliches und m.E. sehr kompetentes Resultat solcher Debatten ansehe. Glücklicherweise erspart mir dies die Not, Anscombe und Davidson entweder zu referieren und das Buch aufzublähen, oder seichtes name-dropping zu betreiben. Man könnte aber, wenn man nicht, wie ich, ein Buch über Kant schreibt, durchaus auch die Frage diskutieren, inwieweit das facilitative Prinzip die Handlungstheorie über Anscombe und Davidson hinaus führt. 128 Vgl.: Raz 2011, 149 ff.

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abhängig sei, ob dies ein Ziel unserer Praxis darstellt. Hierbei handelt es sich also um einen emphatisch vertretenen objektiven Rationalismus,129 der ebenso emphatisch einen Werte-Objektivismus beinhaltet. Führen wir den Gedanken fort, und nehmen an, dass es für die Bewahrung der Wasserqualität von Flüssen, Ozeanen und Grundwasserreservoiren nötig ist, die ungefilterte Entsorgung industrieller Abwässer in Flüssen zu unterlassen, so vertreten wir im Rückgriff auf Raz‘ facilitatives Prinzip den Standpunkt, dass ω zugleich Gründe für diese Unterlassung generiert, und zwar unabhängig davon, ob irgendjemand die Wasserqualität bewahren will oder nicht. Darin liegt die Stärke seiner Theorie. Würden wir dagegen behaupten, dass die Gültigkeit von ω davon abhängt, ob die Bewahrung der Wasserqualität überhaupt unser Ziel darstellt, so könnten wir zynischerweise behaupten, dass es keine Gründe für die Unterlassung ungefilterter Abwasserentsorgung gibt, sofern wir kein sauberes Wasser wollen. Das ist aber offensichtlich schief. Also verweist Raz durchaus zu Recht auf eine bestimmte Sphäre unserer Praxis, deren Normativität tatsächlich objektiven Ursprungs ist und durch das instrumentelle Prinzip nicht optimal erklärt werden kann. Eine weitere Stärke dieser Theorie ergibt sich daraus, dass kein analytisches Verhältnis zwischen Zwecken und Mitteln angenommen wird, wodurch es möglich ist, dass miteinander konkurrierende Handlungsoptionen widerspruchsfrei gedacht werden können. Nach Raz‘ Dafürhalten ist es durchaus möglich, dass in der empirischen Welt beispielsweise ein Grund ω mehrere facilitative Gründe generiert, ohne eine bestimmte Rangordnung zwischen diesen Gründen etablieren zu müssen. Demnach ist es einem rationalen Akteur möglich, zwischen alternativen Handlungsschemata zu wählen, ohne ein konkretes Kriterium für die Wahl zugrunde legen zu müssen: Sofern das Handlungsschema dazu geeignet ist, den Grund ω zu verwirklichen, kann man behaupten, dass durch ω generierte Gründe für dieses Handlungsschemas sprechen. Meine, auf Kant zurückgehende, Kritik erkennt die Gültigkeit dieser Überlegung an und betrifft lediglich die Frage, ob die Entscheidung in solchen Fällen kontrolliert werden kann. Dies ist, wie ich meine, nötig, um Rationalität unter Beweis zu stellen. Raz kann aber dagegen argumentieren, dass sich Rationalität dadurch auszeichnet, dass ein Akteur der normativen Signifikanz der Dinge der Welt entspricht und die entsprechende Normativität in das Spektrum seiner handlungsleitenden Überzeugungen integriert. Demnach kann ein 129 Ebenso emphatisch vertritt beispielsweise Bittner einen ähnlichen, objektiven Standpunkt.

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Akteur, der den Grund ω verwirklichen will und dafür eine beliebige Handlungsoption, die diese Verwirklichung befördert, ergreift, durchaus als rational bezeichnet werden. Auch muss er die entsprechende Entscheidung für eine der konkurrierenden Optionen nicht als intransparent ansehen, denn er kann behaupten, dass alle Handlungsoptionen durch jeweilige „facilitative reasons“ wohl begründet sind und sich die Entscheidung für eine Handlung aus einem bestimmten, objektiven Grund durchaus als rational und kontrolliert ansehen lässt. Hier konkurrieren also nicht wirklich zwei Argumente, sondern zwei Beschreibungsmuster ein und derselben Situation miteinander. Für Raz liegt folgende Struktur vor: Ein „generating reason“ ω generiert ein bestimmtes Spektrum optionaler „facilitative reasons“ f1, f2, . . ., fx. Für jedes f gilt, dass es einen guten, objektiven Grund für die Ergreifung einer Handlung, die den Grund ω verwirklicht, darstellt. Demnach ist, insbesondere unter der Bedingung, dass keine Hierarchie zwischen den einzelnen „facilitative reasons“ besteht, jede Entscheidung für die Aktualisierung eines f rational und transparent. Die konkurrierende Beschreibung, die ich im Rückgriff auf Kant profiliere, konzentriert sich auf das Spektrum miteinander konkurrierender „facilitative reasons“ und betont, dass nicht nur die jeweilige rationale Berechtigung der einzelnen f in Frage steht, sondern dass auch die Entscheidung für die Präferenz eines beliebigen instrumentellen Grundes aus dem Spektrum gleichwertiger f(x) eines Grundes bedarf. Der Unterschied betrifft die Funktion von ω: Im ersten Beschreibungskontext rechtfertigt er jede entsprechende Handlungsoption, während er im zweiten kein Kriterium für die Entscheidung zwischen den konkurrierenden Handlungsoptionen darstellt. Darin besteht der wesentliche Unterschied und dieser ist für eine Theorie der Handlung, die als Bestandteil der kontrollierten willentlichen Selbstbestimmung konzipiert ist, durchaus von Bedeutung. Bei Kant ist dies der Fall, bei Raz nicht: Daher ist meine Kritik letztendlich nur im Kontext der kontrollierten willentlichen Selbstbestimmung, nicht aber im Kontext einer objektivistischen Handlungstheorie, die unabhängig vom Willen argumentiert, relevant. Ich will den Sachverhalt anhand des von mir anfänglich aufgenommenen Beispiels mit den Filmen A, B und C illustrieren. Wir erinnern uns: Imagine that I have to choose which of three films, A, B, or C, to go to. I can see any, but no other option is available. Imagine further that all three are worth seeing. So I have reason to see each of them, but cannot see more than one today. Finally, let it be assumed that for some reason I should see A or B rather than C, but there is no better case for seeing A rather than B, nor the other way round. In this situation I have reason to facilitate seeing A as well as reason to facilitate seeing B, but no ­reason to

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facilitate seeing C. For example, I have reason to buy a ticket for A, and reason to buy a ticket for B, but no reason to buy a ticket for C. Because it is a good film I still have reason to C. But because in today’s circumstances that reason is defeated I have no reason to facilitate action conforming to it. This is nothing to do with seeing C not being my end. I have no end, no decision what to do.130 Wir haben hier also drei Gründe, a, b und c, die jeweils für die Handlungsoptionen A, B oder C sprechen und einen weiteren Grund d, der für die Favorisierung der Gründe a und b vor c, mithin für die Favorisierung der Handlungsoptionen A oder B vor C spricht. Am Ende haben wir eine Wahl zwischen der Aktualisierung von a oder b zu treffen. Das ist ein heikler Punkt. Ich habe oben darauf hingewiesen, dass es nicht leicht ist, eine solche Entscheidung bewusst und aus eigener Spontaneität zu treffen, und zwar kontrolliert zu treffen, sofern keine Grundsätze angenommen werden, die für die Präferenz von a oder b sprechen. Ohne weitere Gründe, die auf dieser Ebene ähnlich funktionieren wie der Grund d auf der vorausgehenden Ebene, ist eine begründete rationale Entscheidung scheinbar nicht möglich. Raz sieht die Sache anders: Für ihn ist die Frage entscheidend, ob die Handlungsoptionen A und B begründet sind. Das sind sie, da a und b gute Gründe darstellen. Demnach wäre sowohl eine Maßnahme, die a aktualisiert, als auch eine Maßnahme, die b aktualisiert, zureichend begründet. Sowohl der Kauf einer Eintrittskarte für A als auch der Kauf einer Eintrittskarte für B ist demnach rational gerechtfertigt. Er erkennt an, dass solche Gründe von den empirischen Umständen abhängig sind, in denen die Handlung erfolgen soll,131 aber sie behalten ihre Gültigkeit so lange, bis sie entweder „deeply impossible“ also gänzlich unmöglich sind, oder von anderen Gründen „defeated“ werden. Letzteres ist wirklich nicht leicht vorzustellen, denn ich habe oben bereits meine Skepsis im Hinblick auf die Frage geäußert, ob Gründe ausreichend quantifizierbar sind, um eine gegenseitige Abwägung und ein gegenseitiges Überbieten sinnvoll denken zu können. Eine Möglichkeit besteht allerdings durchaus, nämlich a posteriori: Raz meint, dass wir in dem obigen Beispiel zwar durchaus gute Gründe haben, eine Eintrittskarte für A, B oder C zu kaufen, nämlich die Gründe a, b und c, dass aber c durch d überboten wird und darum aktuell nicht wirksam ist. Die Wahl spitzt sich also auf die Optionen A und B zu. Wenn wir nun annehmen, dass keine Präferenz hinzukommt, haben wir gute Gründe, ein Ticket für A und ein Ticket für B zu kaufen. Wenn wir aber ein Ticket für A 130 Raz 2011, 147. 131 Raz 2011, 146.

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erworben haben, wofür wir einen guten Grund haben, haben wir a posteriori auch einen guten Grund, den Kauf des Tickets für B zu unterlassen. Allein: bei der rationalen Entscheidung hilft uns dies überhaupt nicht. Zwar mag der Kauf des Tickets für A im Nachhinein als Rechtfertigung der Handlungsoption A nachvollziehbar sein, aber das Problem, das ich oben im Zusammenhang mit dem Regress praktischer Gründe genannt habe, bleibt hier bestehen. Wir haben allerdings einen neuen Gesichtspunkt gewonnen, nämlich die Einsicht, dass die Konkurrenz praktischer Gründe nicht notwendigerweise Irrationalität bedingt, denn sofern der Kauf des Tickets – egal ob es für A oder für B ist – durch anerkannte und gültige Gründe bedingt ist, bleibt die Wahl rational. Nach pragmatischen Gesichtspunkten, also aus der Perspektive des gesunden Menschenverstandes, stellt dies durchaus eine wichtige Erkenntnis dar, denn die von mir ursprünglich vorgetragene Zuspitzung der Situation auf den Konflikt und Regress praktischer Gründe erweckt mitunter den Verdacht, dass die unlösbare Konkurrenz gleichwertiger praktischer Gründe letztendlich jede Entscheidung irrational macht. Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr ist im Fall gleichwertiger konkurrierender Gründe unter der Bedingung, dass diese Gründe jeweils rational nachvollziehbar sind, jede bestehende Handlungsoption rational qualifiziert. Eine Frage bleibt aber bestehen, und zwar diejenige, die ich bereits oben im Kontext spontaner Gründe gestellt habe: Wie genau kontrolliert Raz eigentlich diese Entscheidung, also seinen Besuch von Film A? Dass Kontrolle ein konstitutives Element der Handlungsträgerschaft darstellt, erkennt er nämlich an. Aber man mag zwar a posteriori den Erwerb der Eintrittskarte für den Film A als einen Grund, der b für B schlägt, anerkennen, doch wenn die Entscheidung auf kontrollierte und rationale Art und Weise gefällt werden soll, bedarf es konkreter Gründe für diese Entscheidung und mehr noch – die Entscheidung muss, auch wenn sie die Wahl zwischen guten Gründen darstellt, wieder durch gute Gründe gerechtfertigt werden. Darum löst Raz das Problem des Regresses praktischer Gründe nicht, indem er einfach ein Ticket für A kauft. Er hat dann keine qualifizierte, rationale „Entscheidung“ für A getroffen, sondern hat sich auf kontingente Art und Weise für den Kauf einer Eintrittskarte für A und nicht für B entschlossen. Er würde zwar argumentieren, dass er sich durchaus aus einem rational gültigen Grund für A entschieden hat, nämlich a, aber obgleich a einen guten Grund für A darstellt, stellt es mitnichten einen Grund für die Präferenz von a gegenüber b dar; und darauf kommt es an, wenn wir die Frage erörtern, ob eine qualifizierte, rationale Entscheidung und nicht bloß eine beliebige Wahl getroffen werden kann. Also nochmal die Frage und diesmal in Berufung auf mein allererstes einleitendes Zitat ganz oben: Raz behauptet: „My life is mine to the extent that I

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am in charge of it. It is not mine if I lose control [. . .].“132 Wodurch beweist er die Kontrolle bei der Entscheidung für den Erwerb des Tickets für A? Er wird behaupten: durch die Aktualisierung von a. Ich dagegen: durch gar nichts. Und das ist ein Problem, aus dem er nicht einfach heraus kommt, indem er darauf verweist, dass es durchaus einen Typ von Handlungen gibt, der so vollzogen wird. Das ist nämlich zwar wahr, aber sie genügen nicht dem Anspruch, den er selbst an die Handlungsträgerschaft stellt, nämlich dem Anspruch, dass der Handlungsträger seine Entscheidung und mit ihr seine Handlung kontrolliert. Die Stärke seiner Theorie liegt jedenfalls im Bereich der Gründe und nicht im Bereich der Entscheidungstheorie, denn wie wir oben gesehen haben, besitzt die Frage, wie die kontrollierte Entscheidung zugunsten von A erfolgt ist, für ihn einen untergeordneten Stellenwert gegenüber der Frage, ob und wie unser Tun und Lassen wohl begründet ist. Mit Kant und Korsgaard müssen wir aber feststellen, dass wir dort, wo keine praktischen Grundsätze und keine praktischen Gründe eine eindeutige Entscheidung möglich machen, keine Kontrolle besitzen und uns als Handlungsträger disqualifizieren. Dort „geschehen“ Dinge mit uns, aber wir „handeln“ nicht – jedenfalls nicht kontrolliert. Es stellt sich also die Frage, ob die Theorie der instrumentellen Rationalität auch zu diesem Problem etwas beizutragen hat und ob das, was Raz, der im Grunde genommen ebenfalls eine Theorie instrumentaler Gründe, aber eben eine Theorie einer speziellen Art instrumenteller Gründe vertritt, kritisch hinterfragt, auch vor den Vertretern der instrumentellen Rationalität bereits berücksichtigt und eventuell sogar in die Theorie integriert wurde. Wir werden im nächsten Abschnitt sehen, dass dies durchaus der Fall ist, und dass beispielsweise Broome133 ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür besitzt, dass weder „intentions“ noch „beliefs“, noch aber „intention reasoning“ oder „belief reasoning“, ja nicht einmal „reasoning“ im Allgemeinen Gründe für die Ergreifung von Mitteln generiert. Ähnlich wie Michael Bratman134 versucht er das „bootstrapping“135 zu vermeiden. Darüber hinaus erkennen wir in Polloks Kohärenzthese eine Strukturbeschreibung der Art und Weise, wie sich objektive Sachverhalte, die die Verhältnisse von Zwecken und Mitteln determinieren, auf die rationale Handlungsweise auswirken und finden darin eine Theorie, 132 Raz, J. 2002: Engaging Reason. 20. 133 Broome, J. 2002: Practical Reasoning. In: José Bermùdez und Alan Millar (Hgg.), Reason and Nature: Essays in the Theory of Rationality. Zitiert entspr. d. im Internet zugänglichen Publikation auf: http://users.ox.ac.uk/~sfop0060/pdf/practical%20reasoning.pdf. 134 Bratman, M. 1987: Intentions, Plans, and Practical Reason. 135 Mit diesem Begriff bezeichnet Bratman in etwa das, was Raz diskutiert.

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die nicht nur argumentiert, dass „generating reasons“ „facilitative reasons“ generieren, sondern dass generating reasons nur unter der Beachtung der, wie Raz sagen würde, normativen Signifikanz der Dinge, also der Tatsachen und Sachverhalte in der Welt, verwirklicht werden können und dass diese objektiven Sachverhalte die Verhältnisse zwischen „generating“ und „facilitative reasons“ determinieren. Die Kohärenz der Zweck-Mittel-Relation betrifft die objektiven Verhältnisse zwischen „generating“ und „facilitative reasons“. 1.8

Respondenz in Berufung auf Broome und Kant

In seinem Text: „Practical Reasoning“136 von 2002 betont Broome explizit, dass weder „intentions“ noch „beliefs“ oder auch „intention reasoning“, „belief reasoning“ oder „reasoning“ im Allgemeinen Gründe für den Vollzug instrumenteller Handlungen darstellen. Nach seinem Dafürhalten muss man zwischen dem, was er als „normative requirement“ bezeichnet, und der Vorstellung, dass Handlungsabsichten (Ziele/Zwecke) konkrete Gründe für die Ergreifung der zu ihrer Verwirklichung nötigen Mittel generieren, unterscheiden: „it is easy to mistake a normative requirement for a reason“.137 Broome illustriert dies anhand des folgenden Beispiels:138 1. 2. 3.

Chris will ein Boot kaufen. Um ein Boot kaufen zu können, muss sich Chris Geld leihen. Chris will sich Geld leihen.

Dieses Beispiel wandelt er mehrfach ab, um deutlich zu machen, was er unter „intention reasoning“ und „belief reasoning“ versteht, aber das spielt im Augenblick keine Rolle. Es ist klar, dass Chris, wenn er die Absicht besitzt, ein Boot zu kaufen (intention), und der Überzeugung ist, dass er sich dafür Geld leihen muss (belief), eventuell die Absicht generiert, sich das nötige Geld zu leihen (intention). Die Frage, um die es hier geht, lautet: Stellt die Absicht, sich ein Boot zu kaufen, einen Grund dafür dar, sich Geld zu leihen? Genau dieses

136 Broome, J. 2002: Practical Reasoning. In: José Bermùdez und Alan Millar (Hgg.), Reason and Nature: Essays in the Theory of Rationality. Zitiert entspr. d. im Internet zugänglichen Publikation auf: http://users.ox.ac.uk/~sfop0060/pdf/practical%20reasoning.pdf. 137 Broome 2002, 8. 138 Er verwendet dieses Beispiel mehrmals in abgewandelten Formen und Kontexten. Ich wähle darum eine allgemeine Formulierung.

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Fürwahrhalten unterstellt Raz dem instrumentellen Prinzip. Wir könnten also folgendermaßen argumentieren: 1. Ich will ein Boot erwerben. 2. Dieses Boot kostet 100 €. 3. Ich habe nur 30 € zur Verfügung. 4. Um meinen Zweck zu verwirklichen, muss ich mir 70 € leihen. 5. „Whoever wills the end wills the means“. 6. Ich will mir 70 € leihen. In der Tradition der instrumentellen Rationalität, speziell in Berufung auf Korsgaard (1997), würde man normalerweise anerkennen, dass der Satz 4 das notwendige Mittel zur Verwirklichung der in Satz 1 ausgedrückten Absicht, also des erklärten Zwecks bzw. Ziels, darstellt. Der Analytizität der ZweckMittel-Relation zufolge (Satz 5) generiert die Absicht, die in Satz 1 zum Ausdruck gebracht wird, analytisch die rationale Verpflichtung zu 6. Demnach würde sich rationales Überlegen und rationales Handeln dadurch auszeichnen, dass sich der Akteur die 70 € leiht und das Boot kauft. Broome sieht dies anders. Nach seinem Dafürhalten ist es durchaus der Fall, dass eine gedankliche Verbindlichkeit (normative requirement) zwischen der Absicht, die in Satz 1 zum Ausdruck gebracht wird, und der Absicht, die in Satz 6 zum Ausdruck gebracht wird, besteht, aber die Handlungsabsicht in 1 bedeutet nicht, dass die Handlung in 6 erfolgen soll („intention-reasoning“ und auch „belief-reasoning“ ist, wie er betont, nicht „ought-giving“),139 oder gar, dass es Gründe dafür gibt („intention-reasoning“ und auch „belief-reasoning“ ist, wie er ebenfalls betont, nicht „reason-giving“). Es ist beispielsweise möglich, das objektive Gründe dafür sprechen, sich überhaupt kein Boot zu kaufen. Sowohl in Berufung auf Broome als auch in Berufung auf Raz könnte man beispielsweise folgendermaßen argumentieren: 1. 2. 3. 4.

Chris hat die Absicht, ein Boot zu kaufen. Er hat nicht genug Geld dafür. Die Tatsache, dass er nicht genug Geld dafür hat, stellt einen guten Grund dafür dar, seine Absicht nochmal zu überdenken. Chris überdenkt seine Absicht nochmal und erwägt eventuell bessere Strategien, beispielsweise Geld verdienen, Geld ansparen etc.

139 Broome 2002, 5.

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Entscheidend ist bereits die Frage, ob für Chris‘ Absicht, ein Boot zu kaufen, gute, objektive Gründe sprechen. Dies würde sowohl Raz als auch Broome und selbstverständlich auch Korsgaard und vor allen Dingen Kant betonen. Sofern dies der Fall ist, generieren solche Gründe nach Raz‘ Ansicht zugleich instrumentelle Gründe, also Gründe für die Ergreifung der Mittel. Es ist also nicht Chris‘ Absicht, die die Gründe für die Ergreifung der zur ihrer Verwirklichung notwendigen Mittel generiert. Stellen wir uns die folgende Situation vor: Chris ist beispielsweise ein Fischer und das Fischerboot stellt seine Existenzgrundlage dar. Sein altes Boot ist kaputt. Er braucht ein neues Boot. Das ist ein guter Grund, sich ein Boot zu kaufen. Chris muss überdies eine ganze Reihe zusätzlicher Überlegungen anstellen, um zu sehen, ob er sich das Boot leisten kann, ob die Finanzierung rentabel ist etc. Wenn all dies der Fall ist, wenn also keine guten Gründe gegen den Kauf sprechen, ist es durchaus rational, dass er sich ein neues Boot kauft und teilweise oder ganz finanziert. Der Grund aber, der die Finanzierung rechtfertigt, wird durch den Grund generiert, der für die Kaufabsicht spricht, also die Sicherung der Existenzgrundlage; er wird nicht durch die Kaufabsicht generiert. Die Kaufabsicht generiert also nicht nur schlechte oder schwache Gründe für die Mittel, sondern überhaupt keine Gründe. Hier kommt aber ein eventueller Unterschied zwischen Broome und Raz zutage: Man kann Broome zufolge auch unter diesen Umständen nicht sagen, dass sich Chris das Geld leihen soll. Er kann dies wollen. Er kann es aber auch lassen. Es ist beispielsweise möglich, dass es zu Chris‘ Selbstverständnis gehört, sich nicht in Schulden und die entsprechende Abhängigkeit zu begeben. Wenn dies der Fall ist, könnte er die folgende Überlegung anstellen: 1. Ich will ein Boot erwerben. 2. Dieses Boot kostet 100 €. 3. Ich habe nur 30 € zur Verfügung. 4. Um meinen Zweck zu verwirklichen, muss ich mir 70 € leihen. 5. Ich will aber niemandem Geld schulden. 6. Also leihe ich mir kein Geld und kaufe mir kein Boot. Also konkurrieren 5 und 1 miteinander und Chris kann sich für 5 entscheiden. Das wäre übrigens umso leichter, wenn Chris ein Kantianer wäre und einen empirischen Grundsatz in dem thematischen Kontext aktualisieren könnte, beispielsweise, wenn er den Grundsatz besäße, niemandem Geld zu schulden. Raz würde wahrscheinlich weiterhin daran festhalten, dass die Sicherung der Existenzgrundlage einen guten Grund für den Kauf darstellt. Es ist demnach

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zwar nicht irrational, wenn er sich gegen den Kauf entscheidet, aber auch eine Entscheidung zugunsten des Kaufes wäre rational begründet. Wie dem auch sei: Wir sehen, dass beispielsweise Broome, der sich explizit zum instrumentellen Prinzip bekennt, bereits 2002 von dem Gedanken Abstand nimmt, den Raz als typisch für die instrumentelle Rationalität hält, nämlich die Idee, dass Gründe für Zwecke zugleich Gründe für die Mittel darstellen. Aber wir sehen zugleich, dass die gedankliche Kohärenz, die Broome für das praktische Überlegen (practical reasoning) entwickelt um die Theorie der facilitative reasons bereichert werden kann und das ursprünglich von Bratman erwähnte „bootstrapping“-Problem gänzlich aufgelöst werden kann. Broome stellt fest: There is no bootstrapping. One intention gives rise to another by means of reasoning, but no reasons are involved. There is only the relation of normative requirement, which is given us by the correctness of the reasoning.140 Raz könnte diesen Gedanken um die Überlegung bereichern, dass eventuelle Gründe zugunsten der ursprünglichen Handlungsabsicht sogar Gründe für die instrumentelle Handlungsabsicht generieren und wir hätten insgesamt eine leistungsfähige Erklärung, wie sich instrumentelle Vernunft und auf ihr beruhende Praxis vollziehen kann, ohne in die Bootstrapping-Falle zu tappen. Was würde Kant dazu sagen? Erstens: Es sind hierbei mehrere Dinge zu beachten, nämlich zunächst die Frage, ob die Entscheidung überhaupt frei erfolgt oder nicht. Wenn dies nämlich nicht der Fall ist, sie also nach Naturgesetzen determiniert wird, brauchen wir uns überhaupt nicht um Normativität zu kümmern. Broome und Raz thematisieren zwar die Freiheit nicht, aber wahrscheinlich würden sie an dieser Stelle das entsprechende Zugeständnis machen. Nehmen wir also an, dass Freiheit vorliegt. Nun würde Kant fragen, wodurch sich denn die freie Entscheidung, die Chris trifft, auszeichnet. Bei Raz würde er, wie ich oben angedeutet habe, beanstanden, dass ihm der Prozess des Entscheidens letztendlich intransparent ist und es unter diesen Bedingungen für den Akteur, Chris, unmöglich ist, tatsächlich eine freie, kontrollierte Entscheidung zu treffen. Er müsste nicht behaupten, dass es besser oder schlechter ist, eine freie Entscheidung zu treffen,141 sondern nur, dass ausschließlich eine 140 Broome 2002, 8. 141 In den aktuellen Debatten stellt man bisweilen noch die naive, noch in antiker Tradition stehende Frage: „What makes an action good“. Aber darum geht es hier nicht.

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Entscheidung, die auf einem transparenten, dem Subjekt verfügbaren und von ihm kontrollierbaren Entscheidungsprozess beruht, als frei bezeichnet werden kann. Vielleicht sind unfreie Entscheidungen (ein verführerischer Oxymoron) und auf ihnen beruhende Handlungen auch „good“, in dem Sinne, wie man es heute oft sagt, aber frei sind sie nicht. Darum könnte sie Kant bestenfalls als Ausdruck des Verhaltens, nicht aber als Ausdruck des Handelns anerkennen, denn Handeln ist immer freies Handeln. Er würde Raz in dem obigen Kontext (Filme: A, B, C) vorwerfen, dass er überhaupt keine Entscheidung trifft, nicht nur dass er keine freie Entscheidung trifft, wenn er aus undurchsichtigen Gründen oder gar ohne weitere Gründe eine Karte für A kauft. Auch würde er folgendes betonen: Diese (im schlechten Sinne) „spontane“ Aktion (nämlich keine Handlung), die Eintrittskarte zu kaufen, steht zwar im Einklang mit dem Grund a, ist aber scheinbar nicht einmal durch ihn motiviert. Raz meint nämlich nicht, dass er das Ticket für den Film A aus dem Grund a kauft, sondern kauft einfach das Ticket und sagt, dass man anschließend einen guten Grund hat, B und C zu unterlassen.142 Das ist das Problem: Wir sehen hier nicht, wie die Entscheidung getroffen wird und erkennen darum überhaupt keine eigentliche Entscheidung. So auch mit dem Boot: Wenn Chris eine Entscheidung treffen soll, dann muss der Entscheidungsprozess zumindest aus seiner Perspektive transparent sein. Sofern er also in dem von mir modifizierten Fall auf den Kauf verzichtet, weil er einen Grundsatz aktualisiert, nämlich niemandem Geld zu schulden, ist die entsprechende Transparenz gegeben.143 Wenn er auf den Kauf verzichtet, weil er plötzlich meint (believes), dass er niemandem Geld schulden will, nicht aber, weil er einen entsprechenden Grundsatz besitzt, ist die Entscheidung zumindest intransparent. Möglicherweise ist es aber überhaupt keine Entscheidung. Zweitens würde Kant die Gründe für die ursprüngliche Kaufabsicht berücksichtigen und zunächst die regulative Funktion der pragmatischen Vernunft144 aktualisieren, die „die Zusammenstimmung der Mittel“, die für die 142 Eigentlich ist auch das nicht wirklich der Fall, denn durch den Besitz einer Eintrittskarte für den Film A hat man zwar einen guten Grund, A zu besuchen, aber nicht notwendigerweise einen guten Grund, B und C zu unterlassen. Aber darauf kommt es an dieser Stelle nicht an. 143 Es stellt sich dann zwar die Frage, wie er zur Beherzigung dieses Grundsatzes gekommen ist, ob aus Spontaneität oder Rezeptivität, aber das ist für die aktuelle Entscheidung unerheblich. Er kann sie auch dann kontrollieren, wenn der Grundsatz, den er aktualisiert, nicht aus Spontaneität generiert wurde. Schlechter ist die Entscheidung dadurch nicht. Wir sagen nur, dass in einer Entscheidung, die in höherem Maße auf Spontaneität beruht, ein höheres Maß an Freiheit enthalten ist. 144 Ich berufe mich hier auf: KrV, B 828.

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­ erwirklichung des Ziels geeignet sind, empfiehlt. Dies ist zwar knapp, aber es V lässt den Raum für alle Detailüberlegungen, die wir bei Broome finden: Chris muss überlegen, ob er gute Gründe für den Kauf hat, ob er sich den Kauf leisten kann, ob er überhaupt eine Finanzierung bekommt, die Finanzierung rentabel ist etc. All dies müsste er tatsächlich in den Prozess, den Broome als „practical reasoning“ bezeichnet, einbringen und mit der darin enthaltenen Verbindlichkeit und Konsequenz durchdenken. Am Ende dieses Prozesses stünde eine Handlungsentscheidung; denn wie Broome zu Beginn seiner Überlegungen (in Berufung auf Aristoteles) betont, zeichnet sich praktisches Überlegen dadurch aus, dass es in einer Handlung resultiert. Wenn es vernünftig ist, würde sich Chris eventuell das Boot kaufen und Kant würde wohl diesen Kauf befürworten, denn letztendlich muss die pragmatische Vernunft, deren regulative Funktion zur Geltung gelangt, wenn „die Bedingungen der Ausübung unserer freien Willkür (. . .) empirisch sind“ (KrV, B 828), die empirische Ausgangsposition beachten. In dem obigen Fall handelt Chris aus der Not der Existenzsicherung heraus und dann kann ihn die pragmatische Vernunft im Handeln führen. Ich würde also meinen, dass die pragmatische Vernunft, die ich im Haupttext erörtere, Aspekte des „practical reasoning“ in Broomes Sinne beinhaltet und methodisch ganz mit ihm übereinstimmen kann, dass sie aber darüber hinaus auch die von Raz profilierte Bedeutung der ursprünglichen Gründe (generating reasons), also der Gründe, die überhaupt für die ursprüngliche Handlungsabsicht sprechen, berücksichtigt. Aber auch auf dieser Ebene würde Kant betonen, dass es einen Unterschied im Hinblick auf die Freiheit, also den Prozess der kontrollierten willentlichen Selbstbestimmung, ausmacht, ob diese generating reasons auf der Spontaneität des Akteurs oder seiner Rezeptivität beruhen. „Besser“, also mehr „good“,145 ist keines von beiden, aber mit Spontaneität zeichnet sich der gesamte Entscheidungsprozess durch ein höheres Maß an Erfolgskontrolle aus (denn auch die Gründe wurden aus eigener Spontaneität, auf kontrollierte Art und Weise generiert), also haben wir es mit einem höheren Maß an kontrollierter willentlicher Selbstbestimmung zu tun. Man kommt also über kurz oder lang nicht um Grundsätze herum. Zwar erfolgen vielerlei „choices“ ohne Grundsätze, aber mit Kant stellen wir die Frage, ob diese „choices“ tatsächlich als Entscheidungen qualifiziert sind. Sie wären es bereits, wenn sie auf praktischem Überlegen in Broomes Sinne

145 Ich hoffe, dass mich hier niemand auf die Grammatik hinweisen will. Das ist ein Wortspiel, das die ironische Distanz zu dem naiven Glauben, dass Handlungen „good“ seien, ausdrücken soll.

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beruhten, aber auch dafür bedarf es empirisch praktischer und, wie noch zu zeigen ist,146 auch reiner praktischer Grundsätze. Nun ergeben sich aber aus der Perspektive, die Broome entwirft, auch Konsequenzen für die von Pollok vertretene Interpretation der kantischen Theorie der Normativität der hypothetischen Imperative. Die Tatsache, dass Kant im Zusammenhang mit der pragmatischen Vernunft und empirisch praktischen Grundsätzen in der KrV eher von einer regulativen Funktion der Vernunft als von Normativität spricht, lassen wir einfach auf sich beruhen, denn im Sprachgebrauch der heutigen Debatten, kann unkontrovers behauptet werden, dass empirisch praktische Grundsätze Normativität beanspruchen. Der kritische Punkt betrifft genau genommen Polloks zentrale Interpretationsthese: Er geht davon aus, dass die Analytizitätsklausel eine deskriptive Aussage in Bezug auf das Wollen und keine normativen Ansprüche in Bezug auf das menschliche Sollen beinhaltet und dass sie erst unter Hinzunahme der Rationalitätsklausel in einen hypothetischen Imperativ verwandelt wird. So weit, so gut, aber wir wollen nun sehen, ob die Rationalitätsklausel überhaupt einen Unterschied ausmacht. Ich greife darum nochmal Chris‘ Anliegen, ein Boot zu kaufen, auf: 1. Ich will ein Boot erwerben. 2. Dieses Boot kostet 100 €. 3. Ich habe nur 30 € zur Verfügung. 4. Um meinen Zweck zu verwirklichen, muss ich mir 70 € leihen. 5. „Whoever wills the end wills the means“. 6. Ich will mir 70 € leihen. Wir haben festgestellt, dass Chris‘ Handlungsabsicht in Satz 1 nach Broomes Dafürhalten mitnichten einen Grund für die Aktualisierung von 6 darstellt, da zwischen diesen Sätzen zwar ein „normative requirement“ im Hinblick aufs „practical reasoning“ besteht, mitnichten aber die primäre Handlungsabsicht Gründe für instrumentelle Handlungen generiert. Pollok dagegen behauptet oben in Berufung auf Kant durchaus eine Art Analytizität der ZweckMittel-Relation, gesteht auch zu, dass diese bloße Alanytizität mitnichten Normativität generiert, bringt aber an dieser Stelle die Rationalitätsklausel ins Spiel. Die Frage ist nun: Ändert sich an unserem Sachverhalt etwas, wenn wir die Rationalitätsklausel hinzuziehen? Schauen wir mal:

146 Vgl.: Haupttext, Abschnitt über die moralische Normativität der praktischen Vernunft und ihr Verhältnis zur pragmatischen Normativität in der KrV.

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1. Ich will ein Boot erwerben. 2. Dieses Boot kostet 100 €. 3. Ich habe nur 30 € zur Verfügung. 4. Um meinen Zweck zu verwirklichen, muss ich mir 70 € leihen. 5. „Whoever wills the end wills the means“. 6. Die Vernunft hat in diesem Fall die volle Gewalt über mein Begehrungsvermögen. 7. Ich will mir 70 € leihen. Was ändert sich durch den Satz 6? Meines Erachtens nichts. Chris kann immer noch beispielsweise sagen: „Es ist mein Grundsatz niemandem Geld zu schulden“, und von seiner Kaufabsicht zurücktreten. Meines Erachtens hat der Satz 6 unter den empirischen Bedingungen, die hier vorliegen, überhaupt nichts mit Satz 1 zu tun. Die Rationalitätsklausel könnte bestenfalls das beschreiben, was Broome als „normative requirement“ oder „practical reasoning“ im Allgemeinen bezeichnet, also die Verbindlichkeit unseres Räsonierens, aber sie gewinnt aus der Kaufabsicht keine Normativität. Es ist nämlich sehr gut möglich, dass Chris in der Tat den obigen Gedankengang anstellt und sich das Boot kauft, aber – ich greife hier auf Raz‘ Überlegungen zurück – es ist denkbar, dass für die ursprüngliche Kaufabsicht überhaupt keine guten Gründe sprechen. Dann würde Raz – und, wie ich finde, auch Kant – dahingehend argumentieren, dass Chris, „wenn die Vernunft alle Gewalt über sein Begehrungsvermögen hätte“, lieber von der Kaufabsicht zurücktreten sollte. Die Kaufabsicht stellt nicht einmal einen Grund für den Kauf, geschweige denn einen Grund für einen Kredit dar. Und daran ändert sich auch unter Hinzunahme der Rationalitätsklausel nichts. Aus der Analytizität des „Wollens“ wird also auch unter dieser Bedingung kein „Sollen“. Man beachte wohl, dass sich das Problem hier aus der Kontingenz des empirisch-Mannigfaltigen ergibt und aufgehoben wird, sobald man die von Kant beanspruchte Analytizität des Wollens so interpretiert, wie ich es später tue, nämlich als Aussage in Bezug auf eine idealtypische Handlungsstruktur – aber das ist eine Sache für sich und wird im Zusammenhang mit der Theorie der Handlungsorganisation in der Theorie des höchsten Guts diskutiert. Hier, auf dem Boden der Erfahrung, bleibt das Problem auch unter Hinzunahme der Rationalitätsklausel bestehen, denn das Subjekt hat eben keine Gewalt über die Welt, in der es handelt. Ich habe oben darauf hingewiesen, dass Polloks Überlegungen um diesen handlungstheoretischen Aspekt bereichert werden müssen und dass ich dies tun will. Darum ist zwar nichts Falsches an der Rationalitätsklausel, die Pollok geltend macht: Das Problem besteht darin, dass die

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Analytizitätsklausel, unter den kontingenten Bedingungen der empirischen Welt nicht uneingeschränkt gilt. Und genau in diese Richtung interpretiere ich die von Raz vorgetragene Kritik. Wie die Dinge in einer idealen Welt und einer idealtypischen Handlungsstruktur stehen, darüber sagt Raz nichts: Er stellt lediglich fest, dass in der aktuellen Welt die Handlungsabsicht keine Rolle in Bezug auf etwaige Gründe für instrumentelle Handlungen spielt, weil das entsprechende analytische Verhältnis nicht besteht. Man muss aber gar wohl berücksichtigen, dass dies keine nachteiligen Auswirklungen auf Polloks Überlegungen im Zusammenhang mit der Kohärenz der Zweck-Mittel-Relation hat, denn die pragmatische Signifikanz empirischer Sachverhalte steht hier außer Frage. 1.9

Rationalität als Vermögen der Normativität aus eigener Spontaneität

Unsere Rationalität kann nach Kants Dafürhalten mehr leisten als der objektive Rationalismus zu beschreiben vermag. Vor allen Dingen beinhaltet sie in den Bereichen, die in der klassischen deutschen Philosophie als Vernunft (Kant und Fichte) und Geist (Hegel) beschrieben wurden, Potentiale, die sich nicht in der Zurkenntnisnahme der normativen Signifikanz empirischer Tatsachen und Sachverhalte und der entsprechenden Konformität mit ihr erschöpfen, sondern verfügt eigens über Kreativität, indem sie aus eigener Spontaneität Gründe und Grundsätze und sogar mindestens einen Zweck, also eine inhaltliche Bestimmung147 der praktischen Freiheit, zu generieren vermag. Dies tut sie, wie ich in Abgrenzung vom instrumentellen Prinzip behaupten möchte, nicht durch derartige instrumentelle Rationalität, wie sie Raz versteht und kritisch diskutiert, sondern durch Autonomie. Die Frage, die Korsgaard in dieser Tradition in Auseinandersetzung mit dem objektiven Rationalismus stellt, lautet: Was erklärt eigentlich die „dogmatische”, beispielsweise von Raz vertretene Theorie der Rationalität? Vor allen Dingen: Vermag sie es, den Begriff der Normativität, von dem sie durchgehend Gebrauch macht, selbst zu erklären, also irgendwie transparent zu machen, worin eigentlich die Normativität dieser Rationalität besteht? Sie stellt fest:

147 Es handelt sich hierbei in der Tat nur um einen einzigen Zweck, nämlich das so genannte höchste Gut. Warum nur dieser Zweck auf der Vernunft beruhen kann, warum er unbedingt auf der Vernunft beruhen muss und sie ihn der praktischen Freiheit zugrunde legen muss etc. wird man im Haupttext sehen.

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Dogmatic rationalists believe that norms exist outside of human reason – they arise from Objective Values or Moral Facts or some sort of rational structure that exists “out there” in the universe. But if reflection on that fact prompts us to ask why human reason finds it necessary to conform to these standards, there is no real answer. The dogmatic rationalist can only reply: “well, that’s just what it means to be rational, to have a mind (or a will) that conforms to the standards that we call ‘rational’.” In fact in theories of this kind “human reason” is really nothing more than the name of that faculty within us, whatever it might be, that conforms to rational standards. It is not identified in any other way. [Fussnote gestrichen von S.J.] Reason as envisaged by these theories is like a normative module that has been inserted into you, for the purpose of making the laws of reason, which are essentially outside of you, also be a force within you. Human reason is Objective Reason’s little representative within. And if we ask what gives rise to the psychological necessity of conforming to the laws of reason, the answer is in effect just to point at the module: human beings have a representative of reason within them and that makes it necessary. But, really, why should we conform to the demands of this little representative within us, or for that matter, why does it conform so readily to the demands of Objective Reason outside?148 Wir sehen, dass das Verständnis der Rationalität als normatives Modul, das außerhalb unserer selbst herrschende Werte, Normen und Gesetze in Form einer psychologischen Kraft in uns abbildet, erstens nicht untypisch für den von Raz vertretenen Standpunkt ist, und zweitens sehen wir, was Korsgaard daran für problematisch hält: „And if we ask what gives rise to the psychological necessity of conforming to the laws of reason, the answer is in effect just to point at the module: human beings have a representative of reason within them and that makes it necessary“, oder noch enttäuschender: „that’s just what it means to be rational, to have a mind (or a will) that conforms to the standards that we call ‘rational’”. Dem setzt Korsgaard eine Theorie der auf der Spontaneität der eigenen Selbstkonstituierung beruhenden Normativität entgegen, nämlich insbesondere in der Hervorbringung konstitutiver Prinzipien des kontrollierten Handelns. Eine solche Normativität ist nach kantischen Gesichtspunkten intelligibel und ihre Gesetze sind Gesetze der Freiheit und nicht Gesetze der Natur. Demzufolge ist auch die „Nötigung“, die sie auf den Willen ausüben, anders als bei Naturgesetzen. Die Entsprechung zur intelligiblen Kausalität ist 148 Korsgaard 2009, 6.

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nämlich, anders als bei Naturgesetzen, ebenfalls ein Ausdruck der Freiheit. Solche Normativität zeichnet sich also auf zweierlei Ebenen durch Freiheit aus, nämlich a) auf der Ebene der Autonomie und b) auf der Ebene der Selbstverpflichtung zur Konformität mit den aus eigener Freiheit erlassenen Gesetzen. Die Gesetze, die b betreffen, können wiederum rein praktisch oder empirisch praktisch sein. Korsgaard verwendet diesbezüglich das Vokabular der Grundlegung und spricht von dem kategorischen Imperativ und den hypothetischen Imperativen. Jener gilt ausnahmslos, diese bedingt. Jener entspricht der reinen praktischen Normativität unserer Vernunft, diese der empirisch bzw. hypothetisch praktischen. Wir beobachten, dass Korsgaard zu Beginn ihrer Ausführungen von 2009 den Bedarf sieht, sich zunächst zu dem Begriff der „Nötigung“149 („necessitation“) zu äußern und ihm eine positive Konnotation zu geben. Die Nötigung versteht sie als Ausdruck einer psychologischen Manifestation der normativen Standards, die unsere Handlungsweise bestimmen. Wir haben oben gesehen, dass sie die Art und Weise, wie sich der objektive Rationalismus die Vorstellung der psychologischen Manifestation normativer Standards vorstellt, zurückweist. Ihr eigener Ansatz unterscheidet sich dadurch, dass sie diese psychologischen Manifestation a) in erster Linie als Selbstverpflichtung und nicht als Konformität mit heteronom generierten Standards versteht, und darüber hinaus b) betont, dass es sich hierbei um eine Form der Tätigkeit (work), nämlich speziell um die Tätigkeit der Selbstkonstituierung (als Akteur) handelt. Der Akteur konstituiert sich selbst, indem er durch die Generierung konstitutiver Prinzipien des kontrollierten Handelns überhaupt die Handlungskontrolle erlangt. Die Konformität mit der auf Spontanität beruhenden Normativität ist also ein Ausdruck der freien Selbstverpflichtung des Akteurs zur bewusst (letztendlich vernünftig/rational) kontrollierten Praxis. Durch diese freie Selbstverpflichtung ergreift der Akteur nach Korsgaards Dafürhalten die Kontrolle über sein Tun und Lassen und konstituiert sich selbst, d.h. er konstituiert die Art von Akteur-Sein, als die er aufgrund seiner Praxis berechtigterweise gilt. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das von Korsgaard angenommene Verhältnis zwischen der Praxis und dem Handlungsträger. Sie nimmt nicht nur an, dass eine beliebige Handlung einen beliebigen Zweck verfolgt, sondern betont darüber hinaus, dass die Handlungsweise zugleich die Art des Akteurs konstituiert, dass also der Akteur sich selbst in seiner konkreten Praxis konstituiert. Es besteht hier kein abstraktes Verhältnis zwischen einem für 149 Sie verwendet hier den Ausdruck „necessitation“, weist aber darauf hin, dass sie ihn in Referenz auf Kants Begriff „Nötigung“ verwendet.

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sich seienden Akteur und einer Praxis, über die er willkürlich v­ erfügen kann: ­Vielmehr wird die Art der Praxis als konstitutives Moment des hier tätigen Persönlichkeitsbildes angesehen. In diesem Sinne besteht zwischen dem Akteur und der Praxis ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis,150 da der Akteur durch Autonomie und Selbstverpflichtung im Stande ist, seine Praxis zu kontrollieren, seine Praxis aber zugleich seine konkrete Seinsweise manifestiert, oder, um Korsgaard Vokabular zu verwenden: konstituiert. Will man es auf eine simple Formel bringen, könnte man sagen: Ein Akteur ist auf konstitutive Weise durch die Totalität seiner Praxis bestimmt. Es ist aber wichtig, hier das Missverständnis zu vermeiden, es läge ein einseitiges Bestimmungsverhältnis, nämlich die Determinierung des Akteurs durch die Praxis vor. Die Verfügungsgewalt des Akteurs über seine Praxis steht am Ausgangspunkt dieser Überlegungen. Die Nötigung, von der Korsgaard spricht, ist demzufolge eine Art der Selbstverpflichtung nach Gesetzen, die im kantischen Jargon als intelligibel bezeichnet werden, also nach Gesetzen der Freiheit und darum genuin anders als die Nötigung durch Naturgesetze. Daran erkennen wir auch die Verschiebung ihrer Normativitätstheorie gegenüber dem objektiven Rationalismus: Im Unterschied zu beispielsweise Raz, geht die Normativität bei Korsgaard, ganz kantisch, nicht von Naturgesetzen, sondern von der Spontaneität der Vernunft und den darauf beruhenden intelligiblen Gesetzen aus. Wie wird diese Normativität generiert? Die Normativität, von der Korsgaard hier spricht, also die Nötigung in dem speziellen Sinne als Selbstverpflichtung, ist ein Ausdruck einer Fähigkeit, die nach Korsgaards Dafürhalten typisch für die menschliche Handlungsweise ist, nämlich der Fähigkeit, in seiner Praxis nicht nur einzelne Zwecke oder Zweckreihen zu verfolgen, sondern zugleich ein eigenes Persönlichkeitsbild zu entwerfen. Gewiss: wir können tätig werden, ohne überhaupt irgendwelche Zwecke zu verfolgen. Korsgaard bezeichnet diese Form der Praxis mit dem Ausdruck „acts“. Wir können auch nach der Vorstellung konkreter Zwecke handeln. Diese Form der Praxis bezeichnet sie als „actions“.151 Wir können diese Zwecke entweder durch unser empirisches 150 Dieses Bedingungsverhältnis, das unmittelbar an Hegels Dialektik der normativen Grundhaltungen – Selbstbestimmung und Selbstverpflichtung – erinnert, wird allerdings von ihr synthetisch und nicht dialektisch gedacht. Die wechselseitige Bedingung kann demnach am ehesten als Gleichursprünglichkeit der Konstituierung beider Momente angesehen werden. 151 „An action, then, involves both, an act and an end, an act done for the sake of an end.” Korsgaard, 2009, 11.

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Begehrungsvermögen an uns herantragen lassen, oder unter Berücksichtigung pragmatischer und moralischer Gesetze generieren.152 Aber entscheidend ist dies: Wir können zu alldem noch nach der Vorstellung davon handeln, als was für eine Persönlichkeit wir gelten wollen, also als was für ein Handlungsträger wir uns manifestieren wollen. Der Handlungsträger bzw. seine konkrete Beschaffenheit geht also mitnichten der Praxis voraus, sondern wird strukturell durch die Praxis bedingt. Wir sind das, was wir aus uns machen. Zugleich wirkt der Handlungsträger aktiv auf die strukturelle Beschaffenheit dieser Praxis, also das Handlungsdesign ein. So entspringt aus der gleichursprünglichen Spontanität der Selbstbestimmung und Selbstverpflichtung153 die Normativität, die die Praxis unserer eigenen Selbstkonstituierung determiniert. Der Sinn von Handlungen bzw. der Sinn unserer Praxis ist demnach unsere eigene Selbstkonstituierung. Das, was Korsgaard hier vertritt, ist, wenn man sich mit Kants Philosophie auskennt, wesentlich tiefsinniger, als es auf den ersten Blick anmutet. Die Art vor Spontanietät, auf die sie sich bezieht, ist die Spontanietät aus Freiheit, also letztendlich das, was Kant in der Auflösung der Freiheitsantinomie als Idee der transzendentalen Freiheit, also als Idee der transzendentalen Spontanursächlichkeit bezeichnet. Diese Art der Spontanursächlichkeit besitzt aber, wie er in der Kritik der praktischen Vernunft ausführt154 ein eigenes Gesetz, das Kant als Grundgesetz der intelligiblen Welt bezeichnet, nämlich das Sittengesetz. Was bedeutet das für uns? Korsgaard stellt fest, dass der Wille von Kant als eine Form von Kausalität verstanden wird, nämlich letztendlich als diejenige Form der Kausalität, die den Vorstellungen zu ihren Objekten verhilft, und betont, im Rückgriff auf die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, dass sich diese Kausalität nach Gesetzen vollziehen kann. Für Kant ist dies selbstverständlich: Wenn Kausalität möglich sein soll, muss ein gesetzmäßiges Verhältnis zwischen Ursachen und Wirkungen bestehen, weil ansonsten nicht kontrolliert werden könnte, was durch eine bestimmte Tätigkeit bewirkt wird. (GMS, BA 97f.) Die 152 All dies werde ich im Haupttext im Rahmen meiner Analyse des arbitrium liberum in der KrV im Detail ausführen. 153 Das entsprechende Verhältnis wird von Hegel in dem berühmten Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft zur Vollendung gedacht. Vgl.: Josifovic, S. 2013: The Dialectic of Normative Attitudes in Hegel’s Lordship and Bondage. In: C. Krijnen / P. Cobben (Hg.): Recognition – German Idealism as an Ongoing Challenge. 154 Ich werde im Haupttext darauf hinweisen, dass er in der Kritik der reinen Vernunft noch nicht die Ansicht vertritt, ein Gesetz der intelligiblen Welt aufzeigen zu können, dies aber in der Kritik der praktischen Vernunft durchaus beansprucht.

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Tätigkeit ist nämlich die Ursache irgendwelcher antizipierten Wirkung, und die Prognose dessen, was herauskommt, sowie die Erfolgskontrolle der Praxis insgesamt muss auf der Vorstellung beruhen, dass zwischen Ursache und Wirkung ein gesetzmäßiges Verhältnis besteht. Dieses Verhältnis ist immer auch nach Naturgesetzen bestimmt. Aber die Besonderheit der kantischen Philosophie besteht darin, dass sie behauptet, dass die Naturgesetze nicht die Totalität aller gesetzmäßigen Verhältnisse zwischen Ursachen und Wirkungen in der menschlichen Praxis darstellen. Denn zu unserer Praxis gehören auch gesetzmäßige Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen unseres Tuns und Lassens, die lediglich uns denkenden Wesen zugänglich sind und auf dem Denken beruhen. Das sind insbesondere solche Verknüpfungen, die unsere moralische Selbstbestimmung ausmachen. Die Pointe besteht nun darin, dass Kant die Totalität der Gesetze der intelligiblen Welt, also die Totalität der auf unserem Denken beruhenden Gesetze der Praxis, – zwar erst in der Kritik der Praktischen Vernunft, aber immerhin – auf ein Grundgesetz zurückführt, nämlich das von ihm so genannte Sittengesetz. Demnach ist die Totalität unserer Praxis durch zweierlei Gesetze determiniert, nämlich durch Naturgesetze und das Sittengesetz, und zwar darum, weil der Wille eine Art von Kausalität darstellt und eben diese Kausalität nach beiden Gesetzen determiniert werden kann. Für die Auflösung der Antinomie, mit der ich mich später auseinandersetzte, ist diese Unterscheidung von großer Bedeutung. Korsgaard referiert diesen Gegenstandsbereich hier zwar nicht, aber mit den entsprechenden Überlegungen im Rücken sieht man, was sie eigentlich am objektiven Rationalismus beanstandet: Er kennt keine intelligible Kausalität und auch keine intelligiblen Gesetze. Und jetzt kommt das Problem: Für jemanden, der sich mit der klassischen deutschen Philosophie auskennt, stellt der Versuch, Normativität, also die Verbindlichkeit und Gesetzmäßigkeit in der Performance unseres Willens aus Naturgesetzen zu generieren, ein ernsthaftes Problem dar. Wenn Korsgaard also am objektiven Rationalismus beanstandet: „They don’t tell us how we are necessitated”,155 so beinhaltet dies den Verdacht einer grundsätzlichen Unmöglichkeit: Wie wir hier genötigt werden, ist darum nicht erklärbar, weil die einzige Nötigung, die infrage käme, die Nötigung nach Naturgesetzen wäre, und das kann ja wohl nicht der Fall sein – und wird auch nicht beansprucht. Die gedankliche Figur eines „kleinen Repräsentanten“, einer „objektiven Vernunft“ in uns, die die objektive Gesetze psychologisch in uns abbildet, reflektiert dieses Problem, nämlich das Verhältnis von Naturgesetzen und 155 Korsgaard 2009, 8.

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psychologisch wirksamen Prozessen. Letztere werden von Kant als intelligibel bezeichnet und er betont, dass sie eine Eigendynamik besitzen, der zufolge sie mit Vorstellungen kreativ umgehen können. Das Problem betrifft nun die Frage nach einer eventuellen Gesetzmäßigkeit dieser Kreativität. Wie verhalten sich Naturgesetze und die Gesetze unseres kreativen Umgangs mit handlungsleitenden Vorstellungen zueinander? Und hier kommt das obige Bild des „kleinen Repräsentanten“ ins Spiel. Es suggeriert eine Erklärung, wo keine vorliegt und nach Kant auch nicht vorliegen kann, weil Naturgesetze und intelligible Gesetze genuin verschieden sind und die intelligiblen Gesetze nur ein „Grundgesetz“ kennen, nämlich das Sittengesetz. Wie Kant in der Auseinandersetzung mit der Antithesis der Freiheitsantinomie ausführt, ist unter der Bedingung, dass die Naturgesetze unsere gesamte Realität determinieren, Freiheit überhaupt nicht denkbar, (KrV, B 562) mithin ist auch Handeln überhaupt nicht denkbar, sondern nur animalisches Verhalten. Solches animalische Verhalten ist aber, wie er meint, vollständig nach Naturgesetzen, speziell durch Instinkte, determiniert, und es ist den Betroffenen überhaupt nicht möglich, darüber zu reflektieren, was sie tun und lassen wollen. Darum bedarf es dort überhaupt keiner Theorie der Normativität, denn die Nötigung ergibt sich unmittelbar durch Naturgesetze. Normativität, also auch die Idee der rationalen Entsprechung zur normativen Signifikanz empirischer Tatsachen und Sachverhalte, ist nur für Wesen nötig, die auch über arbitrium liberum verfügen, also imstande sind, sich über die Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit zu erheben, indem sie sich in reflexive Distanz zum gegebenen Impuls versetzen und sich aus eigener Freiheit entscheiden, ob sie ihm nachgehen wollen oder nicht. Kant vertritt den Standpunkt, dass diese Erhebung über die Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit nicht erfolgen kann, indem man sich von der Kausalität freispricht, denn ohne Kausalität ist kein Wille wirklich; sondern muss dadurch erfolgen, dass zusätzlich zur Kausalität nach Naturgesetzen auch eine ganz andere Art von Kausalität, nämlich die intelligible Kausalität, die Kausalität aus Freiheit, unseren Willen bestimmt. Da aber, wie Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, A 97f, ausführt, jede Vorstellung von Kausalität den gesetzmäßigen Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen impliziert, ist auch die Kausalität aus Freiheit nach spezifizierbaren Gesetzen bestimmt, nämlich letztendlich nach dem Sittengesetz. Die Nötigung, die sie ausübt, ist aber keine Nötigung durch Heteronomie, sondern eine Nötigung aus Freiheit, und läuft letztendlich auf genau das, was Korsgaard betont, hinaus, nämlich Selbstverpflichtung. Kausalität aus Freiheit ist Selbstverpflichtung.

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Wie kantisch ist all dies?

Die bisherigen Überlegungen haben, so hoffe ich, gezeigt, worin eigentlich mein Anliegen besteht, und was ich mit dem Anspruch verbinde, eine Theorie der praktischen Freiheit, die in erster Linie als kontrollierte willentliche Selbstbestimmung konzipiert ist, und deren Normativität ursprünglich auf der Spontanietät der Vernunft beruht, vor dem Hintergrund der Spontaneität, Normativität und Erfolgskontrolle handlungstheoretisch zu rekonstruieren und zu aktualisieren. Ich muss allerdings zeigen, dass dies überhaupt eine adäquate Rekonstruktion der kantischen Theorie der praktischen Philosophie darstellt. Zu diesem Zweck erfolgt nun zunächst ein knapper Überblick über die Entwicklung der kantischen Theorie der Freiheit und Normativität innerhalb des für mich relevanten Zeitraums, nämlich zwischen den Reflexionen der siebziger Jahre und der Kritik der praktischen Vernunft. Im Anschluss erfolgt eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Primärtexten, nämlich überwiegend KrV und KpV mit einem kleinen Exkurs zu den Metaphysikvorlesungen.

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Freiheitskonzepte in Kants Philosophie Wenn in den akademischen Debatten von Kants Theorie der Freiheit die Rede ist, kristallisieren sich überwiegend drei Referenzpunkte heraus, nämlich erstens Kants Erörterungen im Zusammenhang mit der Freiheitsantinomie im Dialektik-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft, seine Ausführungen in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und selbstverständlich die Kritik der praktischen Vernunft. 2.1

Die Theorie der transzendentalen Freiheit im Dialektik-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft

In der so genannten Freiheitsantinomie, also der dritten Antinomie der spekulativen Vernunft, erörtert Kant die Frage, ob die Vernunft bei ihrem Anliegen, die Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten aufzusuchen, zusätzlich zur Kausalität nach Naturgesetzen auch Kausalität aus Freiheit annehmen muss. Wie man insbesondere aus der zusammenfassenden Darstellung dieses Anliegens, die zu Beginn der Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft präsentiert wird, erkennt, beurteilt Kant die gesamte Antinomie in allen vier Formen ihres Widerstreits letztendlich als die „wohltätigste Verirrung, in die die menschliche Vernunft hat je geraten können“ (KpV, A 193), und zwar deswegen, weil ohne sie die spekulative Vernunft niemals Anlass gehabt hätte, über die „zwar gemeine, aber betrügliche Voraussetzung der absoluten Realität der Erscheinungen„ (KrV, B 564) hinauszugehen und eine „höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge“ (KpV, A 193) anzunehmen, also den Begriff der Realität über die Sphäre des Raumzeitmannigfaltigen und bloß Erscheinenden auf den Bereich des Intelligiblen zu erweitern. Als intelligibel wird der Definition in der Kritik der reinen Vernunft entsprechend „dasjenige an einem Gegenstande der Sinne, was selbst nicht Erscheinung ist“ (KrV, B 566) verstanden, also beispielsweise Eigentum, Freundschaft, Liebe, Ehrlichkeit, Recht, Pflicht und andere Dinge, die insbesondere in praktischer Hinsicht von größter Bedeutung sind, aber ihrerseits nicht als Gegenstände der Sinne erscheinen und somit keine raumzeitlichen und in transzendentalphilosophischer Hinsicht erfahrbaren Gegenstände darstellen. So lässt es sich im Nachhinein sagen, dass im Rahmen der Erörterung der Freiheitsantinomie im Grunde genommen die Frage, ob die Sphäre der Erscheinungen die ganze Realität

© koninklijke brill nv, leiden, ���4 | doi ��.��63/9789004271722_003

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a­ usmacht, von größerer Bedeutung ist, als die Frage, ob die Vernunft bei ihrem Anliegen, die Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten zu finden, zusätzlich zur Kausalität nach Naturgesetzen auch Kausalität aus Freiheit annehmen muss – zumal unter der Bedingung, dass die Erscheinungen die ganze Realität ausmachen, also unter der Voraussetzung des so genannten transzendentalen Realismus, die Freiheit nicht zu retten ist. (Vgl.: KrV, B 564) Da die Thematik der Freiheitsantinomie allerdings Anhaltspunkte für die Verwendung von Begriffen, die in den heutigen Debatten den Rahmen der Theorienbildung der Willensfreiheit darstellen, gibt, also insbesondere Determinismus, Indeterminismus, Kompatibilismus und Inkompatibilismus, wird sie insbesondere vor dem Hintergrund der Frage der Willensfreiheit und weniger vor dem Hintergrund der zugrunde liegenden Fragestellung erörtert, die eigentlich den „Skandal“ verursacht, der Kant aus dem so genannten „dogmatischen Schlummer“ erweckt hat,156 wie er in einem Brief an Garve vom 21.09.1798 schreibt; indem er ihm deutlich gemacht hat, dass die Vernunft, sofern sie an der Voraussetzung des transzendentalen Realismus festhält, in unauflösliche Widersprüche gerät. Dieser „Skandal“ stellt sich im Nachhinein darum als die „wohltätigste Verirrung“ der menschlichen Vernunft dar, weil er, wie schon Allison in seiner wirkungsmächtigen Arbeit von 1990157 darlegt, den Gedankengang der Kritik der reinen Vernunft über den Standpunkt des transzendentalen Realismus zu dem eigentlichen Standpunkt des transzendentalen Idealismus vorantreibt.158 Es ist also nicht der Fall, dass sich Kant aus Belieben dazu entschließt einen transzendentalen Idealismus zu vertreten. Vielmehr wird er erst in Auseinandersetzung durch den vierfachen Widerstreit der spekulativen (kosmologischen) Vernunft mit sich selbst, nämlich in der Antinomie, aus dem „dogmatischen Schlummer“, in dem er offensichtlich steckte, bevor er dieser Problematik gewahr wurde, geweckt. Er ist auch nicht einfach, wie man gemeinhin sagt, von Hume aus dem dogmatischen Schlummer geweckt worden, sondern durch die Antinomie. Man bedenke wohl, dass dies nicht impliziert, dass er in den Passagen, die in der Kritik der reinen Vernunft der Antinomie vorausgehen, noch dogmatisch sein müsse: er kann durchaus bereits bei der Niederschrift des Werkes auf der Höhe des B ­ ewusstseins 156 Vgl. Hierzu: Engelhard, K. 2005: Das Einfache und die Materie. Untersuchungen zu Kants Antinomie der Teilung. KSEH 148. 7, 11. 157 Allison, H.E. 1990: Kant’s Theory of Freedom. 158 Vgl. hierzu auch: Allison, H.E. 1976: Kant’s Refutation of Idealism. In: Dialectica 30. Schmauke, S. 2002: “Wohltätigste Verirrung”. Kants kosmologische Antinomien. Würzburg. Krielemdahl, L. 1998: Die Antinomie der reinen Vernunft. 1. und 2. Abschnitt. In: G. Mohr, M. Willaschek (Hg.): Klassiker auslegen: Kritik der reinen Vernunft. Berlin.

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g­ ewesen sein und darum zwar die Antinomie dorthin verortet haben, wo wir sie finden, aber dennoch bei der Konzeption des gesamten Werks kritische Philosophie vertreten haben – und das ist natürlich auch der Fall. Darum erfolgt die Begründung des transzendentalen Idealismus selbstverständlich bereits in der Raum-Zeit-Theorie, aber das ist eine Frage der Komposition des Buches und nicht der persönlichen Bildungs- und Forschungsgeschichte der Person Kant. 2.2

Der gescheiterte Versuch der Deduktion des Sittengesetzes in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, der wohl populärste Referenzpunkt für die kantische Freiheit und Ethik, stellt in systematischer Hinsicht einen gescheiterten159 Versuch der Deduktion des Sittengesetzes aus Freiheit dar, nämlich einen Versuch, der in der Kritik der praktischen Vernunft revidiert und durch die Theorie vom Sittengesetz als Faktum der Vernunft ersetzt wird. Gerade in Abgrenzung von dem Standpunkt, den er in der Kritik der praktischen Vernunft vertreten wird, fällt es auf, dass Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nicht beansprucht, dass das Sittengesetz als Grundgesetz der intelligiblen Welt gilt, sondern die Deduktion des Sittengesetzes „allein unter der Voraussetzung der Freiheit des Willens, auch des menschlich-­endlichen Willens“160 versucht, dabei in einen Zirkel161 gerät und scheitert. 2.3

Die Theorie der Willensfreiheit in der Kritik der praktischen Vernunft

Die Kritik der praktischen Vernunft stellt, wie Karl Vorländer berichtet,162 das Produkt einer erneuten Auseinandersetzung mit gewissen Gegenstandsbereichen der Kritik der reinen Vernunft, nämlich insbesondere mit der Theorie der praktischen Freiheit, die dort im Abschnitt über den Kanon und letzten 159 Vgl.: Düsing 2002, 215. 160 Düsing 2002, 221. 161 Vgl.: Brandt, R. 1988: Der Zirkel im dritten Abschnitt von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: H. Oberer, G. Seel (Hg.): Kant: Analysen – Probleme – Kritik. 162 Vorländer, K. 1929: Einleitung zur neunten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Auswahl unter dem Titel „Zur Entstehung der Schrift“ in der hier verwendeten zehnten Auflage von 1990 abgedruckt.

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Zweck des Gebrauches unserer Vernunft erörtert wird, dar.163 In der Kritik der praktischen Vernunft erörtert Kant zunächst die Frage, ob die reine Vernunft überhaupt praktisch sein kann, ob sie also die empirisch praktische Vernunft von der „Anmaßung“ abzuhalten fähig ist „den alleinigen Bestimmungsgrund des Willens abzugeben“ (Vgl.: KpV, A 31). Anschließend wird das Sittengesetz als Faktum der Vernunft profiliert und es wird dargelegt, dass es als alleiniger Bestimmungsgrund des Willens in moralischer Hinsicht zu gelten hat. Die Bestimmung des moralischen Willens durch das moralische Gesetz, speziell in Form des kategorischen Imperativs, ist, wie Kant dort erörtert, bloß formal. Von dem formalen Bestimmungsgrund des Willens wird allerdings die Totalität des Gegenstandes der moralischen Selbstbestimmung unterschieden, die unter dem Begriff des höchsten Guts zusammengefasst wird. Der moralische Wille ist also der Kritik der praktischen Vernunft entsprechend formal durch den kategorischen Imperativ als Ausdruck des Sittengesetzes, inhaltlich aber durch das höchste Gut bestimmt.164 Düsing (2002) zufolge unterscheidet sich der Ansatz, den Kant in der Kritik der praktischen Vernunft vertritt, von seinen Überlegungen in der GMS dadurch, dass Kant von dem Versuch, das Sittengesetz, also das moralische Prinzip, zu deduzieren, nun Abstand nimmt, und die gedankliche Richtung umkehrt, indem er das Sittengesetz als Faktum der Vernunft annimmt und auf der Grundlage desselben die Freiheit postuliert. Entscheidend ist hierbei der veränderte Ausgangspunkt, denn, wie Düsing betont, beginnt Kant hier bereits mit einem Begriff der sittlich bestimmten Spontaneität des Ich, nämlich einem durch eben dieses unerklärliche Faktum der Vernunft jederzeit moralisch bestimmten Subjekt.165 Indem das Sittengesetz in der Kritik der praktischen Vernunft aber als Grundgesetz der intelligiblen Welt, also als Gesetz der Kausalität aus Freiheit anerkannt wird, und indem zwischen der intelligiblen und empirischen Sphäre unterschieden wird, kann auch zwischen dem Sittengesetz als „ratio essendi“ der Freiheit und der Freiheit als „ratio cognoscendi“ des Sittengesetzes unterschieden und der Begründungszirkel, der in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten vorgelegen hat, vermieden werden.166 In dieser Arbeit wird an gegebener Stelle Wert darauf gelegt, die Bedeutung des Sittengesetzes als Grundgesetz der intelligiblen Welt in Berufung auf Kants Ausführungen im Primärtext, speziell in dem Abschnitt über 163 Vgl. hierzu Abschnitt 5.1 unten. 164 Kroner, R. 1921: Von Kant bis Hegel. Vgl. auch: Zwingenberg, H.W. 1969: Kants Ethik und das Problem der Einheit von Freiheit und Gesetz. 165 Düsing 2002, 229. 166 Düsing 2002, 231.

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die Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft, zu betonen und deutlich zu machen, dass ihm diese neue Einsicht, also nicht die Einsicht, dass es ein Sittengesetz gebe, sondern dass das Sittengesetz das Grundgesetz der intelligiblen Welt darstelle, dazu befähigt, in der Kritik der praktischen Vernunft auf eine Art und Weise zu argumentieren, die in der Kritik der reinen Vernunft noch nicht möglich war, da die Gedankenführung nun auf einer neu entdeckten Gesetzmäßigkeit beruhen kann. Dies wird insbesondere im Rahmen der beiden Postulate deutlich. Beide sind als Schlussfiguren konzipiert und beide Schlussfiguren beruhen ganz entscheidend auf der Voraussetzung, dass das Sittengesetz ein Grundgesetz der intelligiblen Welt darstellt. 2.4

Referenzpunkte in den Reflexionen der siebziger Jahre und Metaphysikvorlesungen

Diese genannten drei Referenzpunkten decken selbstverständlich nicht Kants gesamte Theorie der Freiheit ab, denn, wie Düsing167 betont, enthalten bereits Kants Reflexionen der siebziger Jahre und die Vorlesungen über die Metaphysik eine Theorie der Freiheit, die sich allerdings im Hinblick auf das Verhältnis von Sittlichkeit und Freiheit von der Theorie, die in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten vertreten wird, und derjenigen, die in der Kritik der praktischen Vernunft vertreten wird, signifikant unterscheidet. Über die Theorie der praktischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft sagt Düsing an dieser Stelle nichts. Entscheidend ist in den Reflexionen und Metaphysik-Vorlesungen nach Düsings Ansicht der Gedanke, dass die reine Selbsttätigkeit und Spontaneität des Ich bereits als absolute Freiheit gilt. Düsing verweist speziell auf die Reflexion 4220, nämlich: „Freiheit ist eigentlich nur die Selbsttätigkeit, deren man sich bewusst ist“ (XVII, S. 462), sowie die folgende Aussage in den Metaphysikvorlesungen: „Das Ich beweiset aber, daß ich selbst handle; ich bin ein Princip und kein Principiatum [. . .]. Dadurch, daß das Subjekt libertatem absolutam hat, weil es sich bewußt ist, beweiset es, daß es nicht subjectum patiens, sondern agens sei [. . .]. Wenn ich sage: ich denke, ich handele, etc.; dann ist entweder das Wort Ich falsch gebraucht, oder ich bin frei.“168 Düsing vertritt die Ansicht, dass diese Theorie der Freiheit als einer absoluten, reinen und intellektuellen Spontaneität die Grundlage der speziell sinnlichen, menschlichen Freiheit darstellt und empfiehlt in diesem Rahmen zwischen 167 Düsing 2002. 168 Düsing 2002, 223. In Bezug auf: Kant, I.: Vorlesungen über die Metaphysik. Hrsg. Von C.H.L. Poelitz 1821.

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dem sinnlichen Begehrungsvermögen, das durch sinnliche Gründe determiniert ist, dem göttlichen Willen, der durch intellektuelle Gründe determiniert ist und dem menschlichen Willen, der weder in der einen noch in der anderen Hinsicht determiniert ist, zu unterscheiden. Diese Theorie der Freiheit interpretiert er als Präfiguration der idealistischen Freiheitskonzeption, die insbesondere von Fichte vertreten wird, der ihm zufolge mit Kants entsprechenden Erörterungen allerdings nicht vertraut war,169 aber selbstständig das reine Ich, das absolute Spontaneität und Selbsttätigkeit oder Tathandlung profiliert und der intellektuellen Anschauung und Selbsttätigkeit schon Freiheit zuschreibt. Interessant ist in diesem Zusammenhang Kants Berufung auf die „intellektuelle Anschauung“ (Refl. 4228, XVII, S. 467), von der er später Abstand nimmt, die aber für Fichte von zentraler Bedeutung ist. In beiden Theorien, das ist nach Düsings Ansicht entscheidend, wird ein spezielles Verhältnis von Freiheit und Sittlichkeit profiliert, nämlich indem die Sittlichkeit auf der absoluten Spontaneität des Subjekts beruht, die sich wiederum auf der intellektuellen Anschauung gründet. 2.5

Das arbitrium liberum als Vorlage für Kants eigene Theorie der praktischen Freiheit

Ein Schwerpunkt meiner Arbeit besteht in der ausführlichen Erörterung einer Theorie der praktischen Freiheit, die von Kant in der Kritik der reinen Vernunft vertreten wird. Sie wird von ihm dort offensichtlich als Stand der Dinge aus der philosophischen Tradition übernommen170 und steht sowohl in einer gewissen begrifflichen als auch inhaltlichen Kontinuität mit der Theorie der freien menschlichen Willkür in der Tradition der christlichen Metaphysik. Kant gibt dieser Theorie einen eigenen, transzendentalphilosophischen Impuls, indem er die Autonomie als Quelle der willentlichen Selbst-Bestimmung durch Grundsätze und Gesetze profiliert. Diese Theorie der Freiheit beruht ganz entscheidend auf dem so genannten arbitrium liberum, einer sinnlich affizierten, aber durch die Eindrücke der Sinnlichkeit nicht determinierten Willkür, die zwar in der Tradition der christlichen Metaphysik mit größter Selbstverständlichkeit als Ausdruck der menschlichen Freiheit gilt, die aber in der Rezeption der kantischen Philosophie durchaus wenig Beachtung erhalten hat. In

169 Düsing, 2001, 227. 170 Vgl.: Bojanowski 2006: Kants Theorie der Freiheit. Rekonstruktion und Rehabilitierung. KSEH 151.

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jüngster Vergangenheit allerdings, speziell in den Arbeiten von Baum,171 Bojanowski und Geismann172 wird auf dieses Vermögen ausdrücklich hingewiesen. Das arbitrium liberum, von dem Kant in der Kritik der reinen Vernunft spricht, stellt ein Vermögen der freien willentlichen Selbstbestimmung menschlicher Akteure dar, die sich im Ausgangspunkt von einem sinnlichen Eindruck und der entsprechenden Neigung einstellt, aber die Fähigkeit beinhaltet, reflektiert mit den gegebenen Stimuli umzugehen und die Handlungen nach der Vorstellung von Zwecken und Grundsätzen zu gestalten. Bemerkenswert ist dabei zunächst die gedankliche Richtung: ganz offensichtlich beginnt Kant hier mit einem Minimalbegriff der zunächst einmal bloß negativen Freiheit, nämlich der Fähigkeit, sich über gegebene Eindrücke der Sinnlichkeit hinwegzusetzen, und unterscheidet dieses Vermögen von dem so genannten arbitrium brutum, der animalischen Willkür, von der er sagt, dass sie sich eben nicht durch diese Fähigkeit auszeichnet. Der Ausgangspunkt der Theorie der praktischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft ist also nicht das Faktum des Sittengesetzes oder der reine, moralische Wille, sondern die bloße Fähigkeit, einen gegebenen Eindruck der Sinnlichkeit zu überwinden. Von dieser Fähigkeit sagt Kant in KrV, B 830, dass sie in der Erfahrung bewiesen und auf B 831, dass sie in der Erfahrung erkannt werden könne. Auf diese Erfahrbarkeit und den Erfahrungsbeweis werde ich im Detail eingehen, denn sie sind sehr kontrovers. An hiesiger Stelle will ich lediglich betonen, dass dieser Ausgangspunkt sehr bemerkenswert ist, denn im Grunde genommen handelt es sich hier um eine Form von Freiheit, deren Leistungsfähigkeit zwar in den philosophischen Debatten niemals hinterfragt wird, die aber nicht Kant zugesprochen wird, und zwar darum, weil die Kantforschung im Allgemeinen die bloße Überwindung sinnliche Antriebe nach der Vorstellung empirischer Zwecke bestenfalls als „die Freiheit eines Bratenwenders“ aber niemals als Freiheit im kantischen Sinne anerkannt hat. Dies ändert sich glücklicherweise in den Arbeiten von Baum, Bojanowski und Geismann, wodurch sich uns selbstverständlich die Frage eröffnet, ob wir durch die Beachtung des arbitrium liberum, das Kant in der Kritik der reinen Vernunft als integralen Bestandteil der Theorie der praktischen Freiheit aufgreift und vertritt, eine Rekonstruktion der Theorie der praktischen Freiheit zumindest in der Kritik der reinen Vernunft vornehmen können, die die gesamte Sphäre der pragmatischen willentlichen Selbstbestimmung menschlicher Akteure affirmativ als einen Ausdruck und Bestandteil der Theorie der praktischen Freiheit anerkennt. Wie und warum diese Theorie dann zugunsten der Willensfreiheit, 171 Baum 2005. 172 Geismann, G. 2007: Kant über Freiheit in spekulativer und praktischer Hinsicht. In: KS 98.

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die Kant in der Kritik der praktischen Vernunft vertritt, verändert wird, wird ebenfalls erörtert. Die Theorie der praktischen Freiheit, die in der Kritik der reinen Vernunft konzipiert wird, beruht also ganz entscheidend auf dem arbitrium liberum, das wiederum an zwei Stellen in der Kritik der reinen Vernunft genannt wird, nämlich B 562 und B 830 und das darüber hinaus noch in den Vorlesungen über die Metaphysik erwähnt wird. Im Ausgangspunkt von dem empirisch nachvollziehbaren Minimalbegriff der negativen praktischen Freiheit, also der bloßen Fähigkeit sich über die gegebenen Antriebe der Sinnlichkeit hinwegzusetzen und sich selbst Handlungen zuzuschreiben, wird in dieser Arbeit eine Strukturbetrachtung des Willens, der dem arbitrium liberum zugrunde liegt, vorgenommen, und es werden die verschiedenen Stufen der Ausprägung der Leistungsfähigkeit dieses Willens und der auf ihm beruhenden praktischen Freiheit aufzeigt. So wird das arbitrium liberum als Vermögen nach der Vorstellung empirischer Zwecke zu handeln, nach der Vorstellung apriorischer Zwecke zu handeln, nach der Vorstellung empirischer Grundsätze zu handeln, nach der Vorstellung apriorischer Grundsätze zu handeln, und letztendlich das arbitrium liberum als Vermögen nach der Vorstellung von dem, „was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert ist“, was nämlich sowohl gut als auch nützlich ist – also im Hinblick auf das höchste Gut – zu handeln, erörtert. 2.6

Strukturbeschreibung, Spontaneität, Erfolgskontrolle

Diese Strukturbetrachtung des Willens, speziell im Hinblick auf seine Leistungsfähigkeit, bringt zum Ausdruck, dass sich im Durchgang durch die entsprechende Stufenabfolge ein immer höheres Maß an eigentlicher Selbstbestimmung, also an Spontaneität ergibt, und dass mit ihr ein zunehmendes Maß an Erfolgskontrolle einhergeht. Unterscheidet man nun die beiden Pole dieser Strukturbetrachtung, nämlich den Ausgangspunkt in der Überwindung eines gegebenen Antriebs der Sinnlichkeit durch die Vorstellung eventueller negativer Konsequenzen, und den höchst vollkommenen, göttlichen Willen, der als das höchste ursprüngliche Gut bezeichnet wird, so fällt gerade im Hinblick auf die Spontaneität in der Selbstgestaltung, mithin im Hinblick auf die Erfolgskontrolle bei der willentlichen Selbstbestimmung ein eklatanter Unterschied auf: während das arbitrium liberum in seiner minimalen Ausprägung inhaltlich durch Stimuli bestimmt wird, und die Inhalte seines Willens nicht aus eigener Spontaneität, sondern durch die Rezeptivität der Sinnlichkeit gestaltet, besitzt der höchst vollkommene Wille, das höchste ursprüngliche

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Gut, die maximale Fähigkeit, die Inhalte seiner willentlichen Selbstbestimmung aus eigener Spontaneität zu gestalten. Darüber hinaus besitzt der höchst vollkommene Wille die Fähigkeit, seine Willensinhalte jederzeit durch die Ergreifung geeigneter Mittel in der Welt zu verwirklichen: ein Zustand, den der menschliche Wille niemals erreichen kann, der aber als idealtypische Willensstruktur zur maximalen Ausprägung der praktischen Freiheit inklusive maximaler Erfolgskontrolle notwendigerweise angenommen werden muss, wenn das Ideal des höchsten Guts und ein System der sich selbst lohnenden Moralität denkbar sein soll. Warum das sinnvoll sein soll, werde ich unten zeigen. Hier will ich nur verdeutlichen, dass die Abfolge der einzelnen Stufen bei der Betrachtung der Willensstruktur, die der praktischen Freiheit im Ausgangspunkt vom arbitrium liberum zugrunde liegen muss, eine zunehmende Erfolgskontrolle bei der Ausübung der praktischen Freiheit zum Leitmotiv macht und dass wir durch diese Betrachtung, die zugegebenermaßen ein wenig in der Tradition der idealistischen Geschichte des Selbstbewusstseins steht und durch die Passage§§ 476ff. in Hegels Psychologie inspiriert ist, einen besonderen Blick auf das höchste ursprüngliche Gut gewinnen: Wir interpretieren das höchste ursprüngliche Gut als Ausdruck der Willensstruktur, die der maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit zugrunde liegen muss. Das Ideal des höchsten Guts in seiner Totalität betrachten wir dementsprechend als Ausdruck der maximal möglichen Entfaltung der praktischen Freiheit bei maximaler Erfolgskontrolle. Nach diesen Gesichtspunkten unterscheidet sich die Willensstruktur, die der maximalen Ausprägung der praktischen Freiheit zugrunde liegt, in zweierlei Hinsicht radikal von dem Ausgangspunkt der Überlegungen, nämlich dem Minimalbegriff der negativen praktischen Freiheit, und zwar sowohl im Hinblick auf die Spontaneität bei der Bestimmung der eigenen Willensinhalte als auch im Hinblick auf die Erfolgskontrolle bei ihrer Verwirklichung in der empirischen Welt. Darum liegt dieser Arbeit das Grundmotiv der Erfolgskontrolle bei der Rekonstruktion der Willensstruktur in der praktischen Freiheit zugrunde. Die beiden soeben genannten Mängel, werden in der Kritik der praktischen Vernunft der Postulatenlehre zugrunde gelegt, wobei das erste Postulat den ersten Mangel, nämlich den Mangel an Verfügungsgewalt über die eigenen Willensinhalte und die damit einhergehende Unfähigkeit, dem Ideal der moralischen Vollkommenheit zu entsprechen, das zweite Postulat den Mangel an Verfügungsgewalt über die Welt, in der die Willensinhalte verwirklicht werden sollen, behandelt und aufzulösen versucht. Der kantisch geschulte Leser erkennt sofort, warum diese Gedankenführung selbstverständlich auf die Autonomie hinführt, aber gegenüber bisherigen Rekonstruktionen der kantischen Theorie der Freiheit zeichnet sich diese Arbeit zunächst einmal

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durch den bescheidenen Ansatz der detaillierten Rekonstruktion einer bislang wenig beachteten Theorie der praktischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft aus. Dass unter Beachtung dieser Theorie die Kontinuität mit der Begriffsgeschichte des arbitrium liberum aufgezeigt wird und zugleich eine stärkere Aktualität der kantischen Theorie der praktischen Freiheit aufgrund der Integration der pragmatischen Dimension profiliert wird, ist m. E. nicht von Nachteil. 2.7

Die Theorie der Handlungsorganisation im Kontext des höchsten Guts

Das höchste Gut stellt im Grunde genommen die proportionierte Einheit von Glückswürdigkeit bzw. Sittlichkeit und Glückseligkeit dar, also das, was, wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft, B 830, sagt, „in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert, d.i. gut und nützlich“ ist und darum die Totalität der Entfaltung unserer praktischen Freiheit sowohl im Hinblick auf unsere Natur als Sinnenwesen als auch im Hinblick auf unsere Natur als Vernunftwesen darstellt. Wenn die freie menschliche Willkür die Fähigkeit bezeichnet, sich nach der Vorstellung von Zwecken und Grundsätzen willentlich selbst zu bestimmen, wenn es in ihrer Entfaltung, wie ich später im Detail zeigen werde, verschiedene Abstufungen der Leistungsfähigkeit der beteiligten Vermögen, speziell der Selbstverpflichtung zur vernünftigen Praxis, gibt, und wenn die Fähigkeit, nach der Vorstellung von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert ist, zu handeln, tatsächlich die maximal mögliche Spontaneität des arbitrium liberum, mithin das, was eventuell in den Vorlesungen über die Metaphysik als „liberum arbitrium intellectuale“ bezeichnet wird, darstellt, dann gelangt in der Theorie des höchsten Guts in erster Linie die idealtypische Willensstruktur, die der maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit zugrunde liegen muss, zum Ausdruck. Dies ist nämlich in Gestalt des so genannten höchsten ursprünglichen Guts der Fall, eines als göttlich bezeichneten Willens, der sich durch einige Fähigkeiten auszeichnet, die ihn speziell von gewissen Schwächen des menschlichen Willens abheben, nämlich indem er sowohl im Hinblick auf die inhaltliche Gestaltung seiner Willensbestimmungen, als auch im Hinblick auf die Verwirklichung seiner Willensinhalte in der Welt die maximale Transparenz und Erfolgskontrolle besitzt. Als Produkt der vollkommenen, auf seiner eigenen Spontaneität gegründeten Praxis eines solchen Willens geht nach vernünftigen Gesichtspunkten und unter der Bedingung der maximalen Erfolgskontrolle, die (ebenfalls nach vernünftigen Gesichtspunkten) beste Welt hervor, und zwar aus einem bestimmten

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Grund: die freiwillige Selbstverpflichtung eines solchen Willens zur vernünftigen Praxis beinhaltet zunächst einmal die Fähigkeit, aus der Spontaneität der Vernunft Gesetze zu erlassen, die die Art und Weise seines Handelns und Wollens bestimmen und zudem die Fähigkeit, sich zu der entsprechenden Praxis selbst zu verpflichten. Da die Sache mit der Verpflichtung in der Rezeption immer wieder zu Missverständnissen führt, empfehle ich, diesen Gedanken als Fähigkeit zur Gestaltung seiner Handlungsweise aus eigener Spontaneität zu verstehen und zu beschreiben, also als eine Art des „Designs“ seiner Handlungsweise.173 Es ist sehr gut möglich, dass irgendein beliebiger Wille zwar jederzeit die Verwirklichung seiner Inhalte anstrebt, sich aber nie Gedanken darüber gemacht hat, ob er auch bestimmte Ansprüche in Bezug auf die Art und Weise, wie (durch welche Art von Praxis) diese Willensinhalte verwirklicht werden sollen, besitzt. Der höchst vollkommene, göttliche, Wille ist in Bezug auf Letzteres mitnichten indifferent; ihm kommt es nicht nur darauf an, dass er das, was er will, erreicht. Vielmehr gehört zu seiner praktischen Freiheit auch der Wille, dies, was er will, auf eine bestimmte Art und Weise zu erreichen. Die Bestimmung der Art und Weise, also der möglichen und als Ausdruck der eigenen praktischen Freiheit anerkannten Handlungsschemata, erfolgt durch die Autonomie des einzigen Vermögens, das einem solchen Willen a priori zur Verfügung steht und sich über die nötige Spontaneität auszeichnet, nämlich die Autonomie der Vernunft. Der maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit liegt also ein idealtypischer Wille zugrunde, der sich dadurch auszeichnet, dass er in jeder Hinsicht über Spontaneität, Gestaltungsfreiheit und Erfolgskontrolle verfügt, nämlich sowohl bei der Bestimmung der Willensinhalte, denen er nachgeht, als auch bei der Bestimmung der Handlungsweisen, nach denen sie verwirklicht werden sollen, auch im Hinblick auf die Bestimmung der Grundsätze, nach denen er entscheidet, welchen Willensinhalt er aus eigener Spontaneität setzt und welchen nicht, und welches Handlungsschema er aktualisiert und welches nicht, und selbstverständlich im Umgang mit der Welt, in der die Willensinhalte verwirklicht werden sollen. Dass dies weit über die Leistungsfähigkeit der menschlichen praktischen Freiheit hinausgeht, ist selbstverständlich und ich werde darauf unten, in dem Abschnitt über das Verhältnis zwischen dem höchsten ursprünglichen und dem ­höchsten 173 Auch Korsgaard spricht sich (2009, Anfangspassagen) dafür aus, den hier thematischen Begriff der „Nötigung“ im Sinne der Selbstverpflichtung von der negativen Konnotation zu befreien. Man ist wahrscheinlich besser dran, wenn man statt „Nötigung“ einen positiven Begriff wählt, beispielsweise die intrinsische Selbstverpflichtung. Aber klar ist: Für Kant ist die Fähigkeit zur Selbstverpflichtung ein Ausdruck der Selbst-Beherrschung und kontrollierten Selbst-Bestimmung.

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a­ bgeleiteten Gut, speziell im Hinblick auf die Frage, ob die Glückseligkeit als Produkt der moralischen Praxis einerseits grundsätzlich, andererseits für den Menschen, und dann wiederum entweder grundsätzlich oder in der empirischen Welt, realisierbar ist, im Detail eingehen. Hier liegt die Frage zugrunde, was vernünftigerweise gewollt werden kann, wenn von allen Hindernissen der Sittlichkeit, die sich in der Sphäre der empirischen Welt in Bezug auf die Schwächen des menschlichen Willens und seine Verfügungsgewalt über die Natur ergeben, abgesehen wird. Dies stellt dann den Maßstab für die moralische Praxis dar und macht zudem verständlich, aus welchen Defiziten die Diskrepanz zwischen den Missständen in der empirischen Welt und den idealtypischen Zuständen in der moralischen Welt entspringt. Davon unabhängig: der maximalen Ausprägung der praktischen Freiheit muss ein Wille zugrunde liegen, der über die maximale Erfolgskontrolle in den oben genannten Hinsichten verfügt und von dem darum a priori ausgesagt werden kann, dass ihm alles nach Wunsch und Willen geht. Ihm geht darum alles nach Wunsch und Willen, weil er die Inhalte seines Willens aus eigener Spontaneität bestimmt, aus eigener Spontaneität bestimmt, auf welche Weise sie verwirklicht werden sollen, und weil er die Mittel zu ihrer Verwirklichung ebenfalls will, denn er setzt sie aus eigener Spontaneität. Wenn wir nun eine Information hinzunehmen, nämlich die Definition der Glückseligkeit, die Kant in der Kritik der praktischen Vernunft zugrunde legt, sehen wir sehr bald, worauf der Gedanke hinausläuft und warum der Gedanke der Erfolgskontrolle eine Schlüsselfunktion besitzt; ein Gedanke, den Kant selbst nicht mit dem Ausdruck „Erfolgskontrolle“ bezeichnet, sondern immer wieder mit dem Konditionalsatz „wenn die Vernunft alle Gewalt hätte“, oder „wenn der Wille alle Gewalt hätte“ ausdrückt. In der Kritik der praktischen Vernunft definiert Kant die Glückseligkeit folgendermaßen: „Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht“. (KpV, A 223) Dem Subjekt, das ich oben skizziert habe, geht alles nach Wunsch und Willen, und zwar darum, weil es sowohl bei der inhaltlichen Bestimmung seiner Willensinhalte als auch bei der Gestaltung seiner Praxis über die maximale und auf der Vernunft beruhende Spontaneität verfügt. Der Schlüssel zur Erfolgskontrolle in seiner gesamten willentlichen Selbstbestimmung (sowohl innerlich als auch äußerlich, also sowohl im Hinblick auf die Willensinhalte als auch im Hinblick auf die Handlungen) liegt in der Vernunft, bzw. in der Selbstverpflichtung zur vernünftigen Praxis. Die Theorie des höchsten Guts gibt also letztendlich Auskunft über die Frage, was vernünftigerweise gewollt werden kann, wenn von allen Ausreden, die sich aus der Kontingenz der empirischen Welt und der Ohnmacht der menschlichen willentlichen Selbstbestimmung ergeben, abgesehen und gefragt wird: „Wenn du alles, was

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du willst, auch e­ rreichen könntest: was könntest Du vernünftigerweise wollen?“ Derjenige, der diesem Anspruch genügt, kann sich nach Kants Formulierung als „Gesetzgeber der menschlichen Vernunft“ (KrV, B 867), also als „Philosoph“ bezeichnen. Er muss allerdings in der Tat die Mühe auf sich nehmen, von den Hindernissen, die sich aus der empirischen Welt ergeben, abzusehen und die maximal mögliche Entfaltung der praktischen Freiheit mitsamt der Bedingungen, die ihr zugrunde liegen müssen, erstens zu durchdenken und zweitens jedem einzelnen empirischen Gesetze zugrunde zu legen, denn: Eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, daß jedes Freiheit mit der anderen ihrer zusammen bestehen kann (. . .) ist doch wenigstens eine notwendige Idee, die man nicht bloß dem ersten Entwurfe einer Staatsverfassung, sondern auch bei allen Gesetzen zum Grunde legen muss, und wobei man anfänglich von den gegenwärtigen Hindernissen abstrahieren muss, die vielleicht nicht sowohl aus der menschlichen Natur unvermeidlich entspringen mögen, als vielmehr aus der Vernachlässigung der echten Ideen bei der Gesetzgebung. Denn nichts kann Schädlicheres und eines Philosophen Unwürdigeres gefunden werden, als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung, die doch gar nicht existieren würde, wenn ihre Anstalten zu rechter Zeit nach den Ideen getroffen würden, und an deren statt nicht rohe Begriffe, eben darum, weil sie aus Erfahrung geschöpft worden, alle gute Absicht vereitelt hätten. (KrV, B 373) Der Philosoph hat sich nach Kants Ansicht der entsprechenden Herausforderung zu stellen und er tut dies zunächst einmal im Zusammenhang mit dem Ideal des höchsten Guts, indem er sich fragt, was vernünftigerweise gewollt werden könnte und was als Produkt der vollkommenen Selbstverpflichtung zur moralischen Praxis unter der Bedingung der maximalen Erfolgskontrolle, hervorgehen würde. Die Antwort ist klar: Es würde die proportionierte Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit hervorgehen, die bei maximaler Erfolgskontrolle selbstverständlich auch die maximale Ausprägung der Sittlichkeit und Glückseligkeit erhoffen lässt. Nun besitzt aber die menschliche Willkür einige offensichtliche Defizite gegenüber dem oben skizzierten idealtypischen Willen, der der maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit zugrunde liegen muss, indem sie weder im Hinblick auf die Gestaltung ihrer Inhalte, noch im Hinblick auf deren Verwirklichung in der Welt, ja nicht einmal im Hinblick auf die Selbstverpflichtung zur Ergreifung eventuell geeigneter Mittel, besitzt. Die Inhalte der menschlichen Willkür entspringen weitgehend dem empirischen Begehrungsvermögen und

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werden somit durch die Rezeptivität desselben an den Akteur herangetragen. Der Akteur besitzt zwar die Fähigkeit, sie als Ausdruck seiner eigenen willentlichen Selbstbestimmung anzuerkennen oder nicht anzuerkennen, aber das ändert nichts daran, dass sie durch Rezeptivität an ihn herangetragen wurden. Wenn die Bedingungen der Ausübung der menschlichen Freiheit also dementsprechend empirisch sind, kann die Vernunft nach Kants Ansicht bestenfalls pragmatische Gesetze geben, die darauf abzielen, dass erstens die Einheit der durch die Neigungen aufgegebenen Zwecke bewirkt wird und dass sie zudem unter dem Gesamtziel der Glückseligkeit vereinigt werden, und kann darüber hinaus die entsprechenden Mittel zur Verwirklichung solcher Zwecke und deren Ergreifung empfehlen. (KrV, B 828) Ob aber der Akteur, der menschliche speziell, hierbei der Vernunft alle Gewalt über sein Tun und Lassen gewährt, oder sich der Neigung oder Trägheit hingibt, bleibt ihm überlassen. Darüber hinaus besitzt die menschliche Willkür offensichtliche Defizite in Bezug auf die Verwirklichung ihrer Inhalte in der empirischen Welt, denn aus der Eigendynamik der Welt entspringen bisweilen unüberwindbare Hindernisse. In diesen zwei Hinsichten ist der menschliche Wille also defizitär gegenüber der idealtypischen Willensstruktur, die zur maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit zugrunde liegen muss. Infolge dieser Defizite ist es auch nicht möglich, dass der einzelne menschliche Akteur oder die Totalität aller menschlichen Akteure, weder zu einem beliebigen Zeitpunkt, noch in der Totalität ihrer Geschichte, das höchste Gut als Produkt ihrer eigenen Praxis hervorbringen. Da aber die Ausrichtung der praktischen Freiheit auf das, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert ist, die Totalität der gegenständlichen Bestimmung der pragmatischen mitsamt der Totalität der gegenständlichen Bestimmung der moralischen Praxis beinhaltet, nämlich die Glückseligkeit und Glückswürdigkeit, ist die Frage, ob wir bei freiwilliger Selbstverpflichtung zur moralischen Praxis hoffen dürfen, der Glückseligkeit teilhaftig zu werden, durchaus vernünftig und stellt die Kernfrage des Kanonkapitels in der Kritik der reinen Vernunft dar: Was darf ich hoffen, wenn ich tue was ich soll? (Vgl.: B 832 ff.) Aber „alles Hoffen geht auf Glückseligkeit“ (KrV, B 833), also lässt sich die Frage auch so formulieren: Wenn ich tue, was ich soll: bin ich dann vernünftigerweise berechtigt, die Glückseligkeit zu erhoffen? Die Antwort lautet: Ja, vernünftig ist das schon, aber dafür müssen einige Bedingungen erfüllt werden, die wir nicht selbst gewährleisten können, weswegen unsere Hoffnung davon abhängt, ob eine Gewalt, die über unsere Leistungsfähigkeit hinaus geht, dafür Sorge trägt, dass wir bei vollkommener Moralität der Glückseligkeit teilhaftig werden. Die Theorie des höchsten Guts beruht selbstverständlich sowohl in der Kritik der reinen Vernunft als auch in der Kritik der praktischen Vernunft auf einer

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ganz bestimmten Theorie der Glückseligkeit und es ist entscheidend für die Theorie des höchsten Guts, dass der darin enthaltene Glückseligkeitsbegriff die nötige Leistungsfähigkeit besitzt. Vorab sei bereits darauf hingewiesen, dass Kant die Glückseligkeit in der Kritik der reinen Vernunft als „Befriedigung aller unserer Neigungen, (sowohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade, und auch protensive, der Dauer nach)“ (KrV, B 834) und in der Kritik der praktischen Vernunft als „Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht“ (KpV, A 223) definiert. Es fällt auf, dass in der ersten Definition die Einschränkung „eines vernünftigen Wesens“ nicht enthalten ist, aber ich werde an gegebener Stelle versuchen deutlich zu machen, dass dies aus dem Kontext hervorgeht und dass meines Erachtens hier in beiden Werken ein einheitlicher Begriff der empirischen und zwar sinnlichen Glückseligkeit zugrunde liegt. Kant wird in der Kritik der praktischen Vernunft betonen, dass das Verhältnis zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit „synthetisch“ ist, dass also das bloße Bestreben um Sittlichkeit mitnichten die Glückseligkeit in sich enthält oder umgekehrt, sondern dass zusätzlich zur Bemühung um die moralische Vollkommenheit auch noch die entsprechende Praxis in der Welt zur Hervorbringung der Glückseligkeit nötig ist. Er wird darüber hinaus darauf hinweisen, dass die Erreichung der Glückseligkeit in dieser Welt nicht möglich ist, sondern lediglich eine auf der Vernunft beruhende und in christlicher Tradition stehende Hoffnung auf Seligkeit im Reich Gottes besteht.174 (Vgl.: KpV, A 232) Aber die Frage, ob letztendlich die Seligkeit oder Glückseligkeit erhofft werden darf, betrifft die Frage des Daseins in dieser empirischen oder einer zukünftigen vollkommenen Welt, und da das Verhältnis zwischen ihnen wie das Verhältnis zwischen dem Urbild der vollkommenen und dem Abbild der nach ihrem Vorbild zu gestaltenden empirischen Welt bestimmt ist, wird man sagen dürfen, dass aus der Perspektive des einzelnen Menschen die Hoffnung auf Glückseligkeit besteht, und zwar in dieser Welt, denn darauf ist seine pragmatische Praxis ausgerichtet, dass diese Hoffnung aber auf Voraussetzungen beruht, die nicht erfüllt werden können. Hierzu werde ich mich in dem Abschnitt über das höchste ursprüngliche und das höchste abgeleitete, bzw.

174 Dies ist ein Gegenstandsbereich, mit dem sich insbesondere Marina (2000) intensiv auseinandersetzt und versucht zu zeigen, dass Kant hierbei nicht konsequent genug verfährt, sondern einen Fehler begeht, indem er eine Theorie der Glückseligkeit als Bestandteil des höchsten Guts profiliert, wo eigentlich die Seligkeit am Platze wäre. Ich denke, dass sie sich da irrt, da sie die transzendentalphilosophische Dimension dieser Theorie missversteht. Nach Handlungstheoretischen Gesichtspunkten würde nämlich die Seligkeit überhaupt keinen Sinn machen.

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vollkommene Gut und speziell über die Frage der Erreichbarkeit der Glückseligkeit und des höchsten Guts im Detail äußern. An dieser Stelle soll lediglich ein knapper Überblick über die zugrunde liegenden Begriffe der Glückseligkeit erfolgen: Zunächst einmal soll betont werden, dass in dieser Arbeit der Ausdruck „nach Wunsch und Willen“ als Idiom verstanden wird und nicht als eine Zusammensetzung der Ausdrücke „nach Wunsch“ und „nach Willen“, denn Letzteres wäre meines Erachtens eine Spitzfindigkeit, die nur gedankliche Präzision suggeriert, in Wahrheit aber schlicht missversteht, was ein Idiom ist. Indem ich aber diesen Ausdruck als Idiom lese, vertrete ich den Standpunkt, dass in der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft weitestgehend derselbe Begriff der Glückseligkeit zugrunde liegt. Wie aber Keller im Detail ausführt, werden in den ersten beiden Kritiken mehrere Begriffe der Glückseligkeit thematisch (teils affirmativ, teils kritisch), nämlich die Glückseligkeit als Wohlergehen und Zufriedenheit, Glückseligkeit als Befriedigung der Neigungen, Glückseligkeit als Selbstzufriedenheit, als Seligkeit und als „Wunsch-und-Wille-Konzeption“.175 Entscheidend sind aber lediglich zwei Glückseligkeitsbegriffe, die von dem kantischen abgegrenzt werden, nämlich der Glückseligkeitsbegriff des Epikureismus und des Stoizismus. Vom Epikureismus grenzt sich Kant in mehreren Hinsichten ab: Erstens vertritt der Epikureismus nach seinem Dafürhalten ein analytisches Verhältnis zwischen der Sittlichkeit und der Glückseligkeit, indem ihm der Gedanke zugrunde liegt, dass das Bestreben um die Erlangung der Glückseligkeit bereits eine moralische Qualität besitzt, was nach Kants Dafürhalten selbstverständlich nicht der Fall ist. Zweitens kritisiert Kant am Epikureismus nicht nur das analytische Verhältnis zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit, sondern darüber hinaus den Begriff der Glückseligkeit selbst, den er überraschenderweise als nicht leistungsfähig genug ansieht: Die Epikuräer hatten nun zwar ein ganz falsches Prinzip der Sitten zum obersten angenommen, nämlich das der Glückseligkeit, und eine Maxime der beliebigen Wahl nach jedes seiner Neigung für ein Gesetz untergeschoben; aber darin verfuhren sie doch konsequent genug, daß sie ihr höchstes Gut ebenso, nämlich der Niedrigkeit ihres Grundsatzes proportionierlich, abwürdigten und keine größere Glückseligkeit erwarteten, als die sich durch menschliche Klugheit (wozu auch Enthaltsamkeit und Mäßigung der Neigungen gehört) erwerben läßt, die, wie man weiß, kümmerlich genug und nach Umständen sehr verschiedentlich ausfallen muß; . . . (KpV, A 228) 175 Vgl.: Keller 2008: 38 ff.

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Wir sehen also, dass der Epikureismus nach Kants Dafürhalten einen „kümmerlichen“ und „abgewürdigten“ Begriff der Glückseligkeit vertritt – und man könnte nicht gerade behaupten, dass in der Philosophie ein klares Bewusstsein dafür herrscht, dass Kant eine Glückseligkeitstheorie vertritt, aus deren Perspektive der Glückseligkeitsbegriff des Hedonismus kümmerlich ist. Vom Stoizismus grenzt sich Kant ebenfalls in zweierlei Hinsicht ab, nämlich indem er auch darin ein analytisches Verhältnis von Sittlichkeit und Glückseligkeit erkennt, da den Stoikern zufolge die sittliche Vollkommenheit bereits Glückseligkeit impliziert; allerdings handelt es sich hier lediglich um einen Begriff der intellektuellen Glückseligkeit, der nach Kants Dafürhalten den Menschen überfordert. Er kritisiert, dass die Stoiker das, was zum höchsten vollendeten Gut über die moralische Vollkommenheit hinaus notwendigerweise hinzukommen muss, nämlich die Glückseligkeit, gar nicht für einen besonderen Gegenstand des menschlichen Begehrungsvermögens wollen gelten lassen, sondern ihren Weisen gleich einer Gottheit im Bewusstsein der Vortrefflichkeit seiner Person von der Natur (in Absicht auf seine Zufriedenheit) ganz unabhängig gemacht, indem sie ihn zwar Übeln des Lebens aussetzten, aber nicht unterwarfen (. . .), und so wirklich das zweite Element des höchsten Guts, eigene Glückseligkeit, wegließen, . . . (KpV, A 228 f.) Im Unterschied dazu würdigt Kant die Lehre des Christentums und die darin enthaltenen Begriff der Seligkeit. (Vgl.: KpV, A 229 ff.) Der Hauptgedanke betrifft die Frage, wie der Wille beschaffen sein muss, damit die maximale Entfaltung der praktischen Freiheit möglich ist, in welcher Hinsicht sich die menschliche Willkür davon unterscheidet und welche Konsequenzen sich daraus für die auf der Vernunft beruhende willentliche Selbstbestimmung ergeben. Eine Schlüsselfunktion besitzt dabei die Erfolgskontrolle, weil sie beinahe als Synonym für Spontaneität und Selbstbestimmung interpretiert werden kann – und weil im Hinblick auf die Erfolgskontrolle die größte Diskrepanz zwischen dem idealtypischen und dem menschlichen Willen besteht.

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Kants Theorie der praktischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft Überblick In diesem Abschnitt rekonstruiere ich Kants Theorie der praktischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft. Einen besonderen Wert lege ich darauf, auf das so genannte arbitrium liberum hinzuweisen, und zu betonen, dass die gedankliche Richtung, mit der Kant diese Theorie entwickelt und darstellt, im Ausgangspunkt von einem Minimalbegriff der praktischen Freiheit erfolgt, nämlich der bloßen Erfahrung, dass wir imstande sind, uns nach der Vorstellung eventueller Konsequenzen für und gegen eine bestimmte Handlung zu entscheiden. Dementsprechend sind wir auch imstande, uns bestimmte Handlungen selbst zuzuschreiben und auch imstande die Erfahrung zu machen, dass wir uns bestimmte Handlungen selbst zuschreiben können. Konsequenterweise behauptet Kant, dass die praktische Freiheit, von der er hier spricht, in der Erfahrung bewiesen werden kann. Die empirische Erweisbarkeit der praktischen Freiheit, die er auch als psychologisch bezeichnet, wird in der Kantforschung kontrovers diskutiert und ich vertrete hier dezidiert den Standpunkt, dass Kant auf B 830 und B 831 explizit behauptet, dass das, was er unter praktischer Freiheit versteht, durch das, was er unter Erfahrung versteht, bewiesen werden kann. In einem dritten Abschnitt diskutiere ich die pragmatische und moralische Normativität der Vernunft, also die regulative Funktion, die sie im Pragmatischen und die normative, die sie im Moralischen besitzt, und erörtere ebenfalls das Verhältnis der pragmatischen und moralischen Normativität zueinander. Ich entwickle ein Argument, dass eine Rangordnung zwischen der moralischen und pragmatischen Normativität aus der bloßen Gültigkeit der entsprechenden Gesetze und dem Prinzip der Widerspruchsfreiheit rechtfertigt.

Unter „praktischer Freiheit“ versteht Kant im Grunde genommen „die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“ (KrV, B 562), also das Vermögen des Menschen, sein Handeln nach der Vorstellung von Zwecken und Grundsätzen auszurichten, und nicht bloß Neigungen nachzugehen, die sich infolge gegebener Sinnesreize einstellen. Die Zwecke und Grundsätze wiederum, nach denen ein freier Akteur seine Handlungen bestimmen und ausrichten kann, können ihrerseits in

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empirische und apriorische unterschieden werden, so dass die Theorie der praktischen Freiheit sowohl die Fähigkeit umfasst, nach der Vorstellung empirischer Zwecke und Grundsätze zu handeln, als auch das Vermögen, nach der Vorstellung von Ideen und moralischen Gesetzen tätig zu werden, also seine Handlungen im Einzelnen, sowie seine Praxis im Allgemeinen darauf auszurichten, dass die Verhältnisse des Lebens und der Welt zunehmend einer idealtypischen Struktur der Freiheit angeglichen werden, die ihrerseits Grundsätzen entspricht, die der reinen praktischen Vernunft entspringen. Das Handeln nach Ideen, mithin nach praktischen Gesetzen, die aus der reinen Vernunft entspringen, gilt für Kant als die eigentliche moralische Praxis, während das Vermögen, seine Handlungen auf endliche, empirische, aber aus eigener Freiheit gesetzte Zwecke auszurichten und auf entsprechende Grundsätze zu gründen, in die Sphäre des Pragmatischen fällt. Somit umfasst die Theorie der praktischen Freiheit eine Theorie der moralischen und eine Theorie der pragmatischen Freiheit entsprechend der moralischen und pragmatischen Gesetzgebung der Vernunft. Die Begriffsbestimmung dessen, was Kant unter praktischer Freiheit überhaupt versteht, findet sich an mehreren Stellen innerhalb der Kritik der reinen Vernunft. Bereits in der Auseinandersetzung mit der Frage, wie er den Begriff „Idee“ verwenden will, nämlich in Referenz auf Platon, bemerkt Kant in einem Nebensatz, dass das, was auf Freiheit beruht, „praktisch“ sei. (KrV, B 370) Die gleiche Formulierung greift er im Rahmen seiner Erörterungen „Von dem letzten Zwecke des reinen Gebrauchs unserer Vernunft“ auf: „Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist.“ (KrV, B 828) Diese Definition wird bald, nachdem er spezifiziert hat, was er in diesem Zusammenhang genau unter Freiheit versteht, nämlich die freie Willkür, arbitrium liberum, an diese Bestimmung angepasst: „. . . und alles, was mit dieser [der freien Willkür], es sei als Grund oder Folge, zusammenhängt, wird Praktisch genannt.“ (KrV, B 830) Somit erhält die Formulierung, dass die praktische Freiheit die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit sei, eine deutlichere Kontur, nachdem man einen klaren Begriff davon gewonnen hat, wie genau die freie Willkür beschaffen ist, die der Formulierung aus B 830 entsprechend die Grundlage der praktischen Freiheit darstellt. Denn der Ausdruck „Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“ kann, insbesondere wenn er aus dem Kontext, nämlich speziell aus der Verbindung mit der freien Willkür, isoliert wird, mitunter die Frage aufwerfen, was genau unter „Unabhängigkeit“ zu verstehen sei. Es ist leicht, an dieser Stelle einzuwenden, dass auch die Ausübung der menschlichen Willkür, ungeachtet dessen, ob sie nun frei oder nicht frei, beziehungsweise wie frei sie sei, jederzeit an sinnliche Antriebe gebunden ist und insofern nicht in

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radikaler Hinsicht „unabhängig“ von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit sei. Wenn man nämlich die Ansicht vertritt, dass jede Art von Zusammenhang zugleich eine gewisse „Abhängigkeit“ mit sich bringt, und man infolgedessen zwischen dem sinnlichen Antrieb, der als Motiv für eine Handlung dienen kann, und der Handlung selbst ein Verhältnis der Abhängigkeit zu erkennen meint, so wird man ebenfalls meinen, die Willkür könne, insbesondere sofern sie sinnlich affiziert sein soll, niemals „unabhängig“ von den Antrieben der Sinnlichkeit sein. Es ist andererseits durchaus möglich, das Verhältnis zwischen einem sinnlichen Antrieb und der Handlung, die zeitlich nachfolgt, so aufzufassen, dass der sinnliche Antrieb zwar ein Motiv darstellt, die Handlung aber nicht vollständig determiniert, sie also nicht erzwingt. Dies ist insbesondere dann möglich, wenn zusätzlich zu dem gegebenen sinnlichen Reiz noch andere, speziell gedankliche (in Kants Jargon: „intelligible“) Motive176 involviert sind. In einem solchen Fall bestünde zwar durchaus ein gewisses Verhältnis zwischen dem sinnlichen Motiv und der Handlung, aber dieses Verhältnis müsste nicht als „Abhängigkeit“ bezeichnet werden, denn man kann schlicht davon ausgehen, dass der Handlung eine Entscheidung des Akteurs zugrunde liegt, der dabei möglicherweise eine ganze Reihe von Motiven berücksichtigt. Eines dieser Motive kann auch der gegebene sinnliche Antrieb sein. Die „Unabhängigkeit“ also, von der Kant hier spricht, muss eigens beleuchtet werden und es muss sich zeigen, auf welche Art und Weise er diesen Ausdruck genau verwendet. Im Unterschied zur transzendentalen Freiheit, die als Grundlage der praktischen Freiheit dient, ist es bemerkenswert, dass Kant in B 830 explizit darauf aufmerksam macht, dass die praktische Freiheit durch Erfahrung bewiesen werden könne.177 Im Kontrast zu einer der zentralen Thesen in Bezug auf die Theorie der transzendentalen Freiheit, dass sie nämlich niemals einen Gegenstand der Erscheinung, mithin der Erfahrung darstellen könne, ist es zunächst befremdlich, dass die praktische Freiheit erstens durchaus ein Gegenstand der Erfahrung sein kann (KrV, B 831) und zweitens sogar durch 176 In der entsprechenden Passage in den Vorlesungen über die Metaphysik unterscheidet er sogar explizit zwischen Antrieben der Sinnlichkeit als „Stimuli“ und „Motiven“ des Verstandes als möglichen Beweggründen der freien Willkür. Vgl. entspr. Ausführungen unten. 177 Das hat einiges Unverständnis und auch Anstoß erregt, aber all dies ergibt sich bloß daraus, dass in der Interpretation nicht konsequent zwischen der transzendentalen und praktischen Freiheit unterschieden wird. Ich werde unten in der Diskussion entsprechender Thesen von Dieter Schönecker dieses Interpretationsproblem erörtern und eine Lösung vorschlagen. Entscheidend ist hier die Frage, welcher Erfahrungsbegriff zugrunde liegt.

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Erfahrung bewiesen werden kann (KrV, B 830). Sofern dies der Fall ist, ist es offenbar nicht nötig, sie aus einem zugrunde liegenden Prinzip zu deduzieren, also womöglich eine Deduktion der praktischen Freiheit auf der Grundlage der Theorie der transzendentalen Freiheit zu vollziehen. Vielmehr reicht es aus, auf Erfahrungen zu verweisen, worin der entsprechende Beweis enthalten sein muss, und zwar Erfahrungen folgender Art: Denn, nicht bloß das, was reizt, d.i. die Sinne unmittelbar affiziert, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden; . . . (KrV, B 830) Dass dies nicht immer leicht ist und mitunter sogar großer Anstrengung bedarf, entspricht durchaus Kants Ansicht und wird auch von ihm in den Vorlesungen über die Metaphysik betont: aber möglich ist es durchaus, und darauf kommt es an. Wenngleich der oben zitierte Satz, der unmittelbar nach der Feststellung, dass die praktische Freiheit durch Erfahrung bewiesen werden könne, genannt wird, mit dem Ausdruck „denn“ beginnt und dadurch möglicherweise suggeriert, dass nun ein Argument für die vorangehende Behauptung angeführt wird stellt die Aussage, die darin gemacht wird, vielmehr den Versuch einer Erklärung beziehungsweise Plausibilisierung der Behauptung dar. Dies bestärkt den Eindruck, dass Kant in Bezug auf die Theorie der praktischen Freiheit die Auffassung vertritt, dass es nicht nötig sei, sie aus einem zugrunde liegenden Prinzip oder durch zusätzliche Argumente zu deduzieren oder zu begründen, da sie in der Erfahrung bewiesen werden könne. Also beinhaltet die gegebene Stelle kein explizites Argument für die These, sondern vielmehr eine Beschreibung der Erfahrung, die als Beweis für die praktische Freiheit dienen soll. Es handelt sich hierbei um den Verweis auf die Erfahrung, dass wir als Menschen imstande sind, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden, indem wir Vorstellungen von dem, was sich über kurz oder lang als nützlich oder schädlich, also als attraktiv oder unattraktiv für uns herausstellen könnte, in Betracht ziehen. In Verbindung mit dem Satzanfang und der darin enthaltenen Einschränkung „nicht bloß das, was reizt“, ist es naheliegend, dass Kant hier auf die Möglichkeit anspielt, dass eine komplexe Motivlage zum Ausgangspunkt einer Entscheidung über den Vollzug oder das Ausbleiben einer Handlung, sowie über die Frage, welches Handlungsschema aktualisiert werden soll, dienen kann. Innerhalb eines solchen Gesamtkomplexes von Motiven spielen die sinnlichen Antriebe

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zwar durchaus eine Rolle und diese Rolle kann mehr oder weniger stark ausgeprägt sein, aber sie sind eben nicht ohne Einschränkung ausschlaggebend, denn die Entscheidung wird dadurch gefällt, dass solche sinnlichen Antriebe in Verbindung mit der Vorstellung möglicher Konsequenzen und der Beurteilung ihrer Attraktivität abgewogen werden. Die Aussage: „Denn, nicht bloß das, was reizt, (. . .), bestimmt die menschliche Willkür“, enthält erstens die Aussage, dass das, was reizt, also die Sinne unmittelbar affiziert, zwar durchaus die menschliche Willkür bestimmt, aber zugleich auch eine Einschränkung der Gültigkeit dieser Aussage, indem hervorgehoben wird, dass es nicht die vollständige Motivlage ausmachen muss, sondern es durchaus möglich ist, dass auch über das, was reizt, hinaus, weitere Motive wirksam werden können, um die menschliche Willkür zu bestimmen. Das, was über die Antriebe der Sinnlichkeit hinaus die menschliche Willkür bestimmt, wird eigens als ein spezifisches Vermögen profiliert, nämlich als Vermögen zur Überwindung der Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen durch Vorstellungen von dem, was auf naheliegende oder entferntere Art und Weise nützlich oder schädlich sein kann – nämlich das Vermögen der freien menschlichen Willkür: arbitrium liberum. Zur praktischen Freiheit ist also die gemeinsame Wirksamkeit mindestens zweier Vermögen notwendig, nämlich des empirischen Begehrungsvermögens, das entsprechende Eindrücke und die mit ihnen einhergehenden sinnlichen Antriebe an den Akteur heranträgt, mit dem Vermögen, nach der Vorstellung von Zwecken zu handeln und die sinnlichen Antriebe, wenn nötig, zu überwinden. Letzteres entspricht der freien Willkür, die als sinnlich affizierte Willkür definiert wird, die aber in höchster Ausprägung auch „unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden“, bestimmt werden kann. (KrV, B 830)178 Somit gehört zur praktischen Freiheit der Vollzug des empirischen Begehrungsvermögens in Verbindung mit einem erfolgreichen Vollzug der freien Willkür und zur vollen Entfaltung der praktischen Freiheit auch die volle Erfüllung des Potenzials der freien Willkür als Vermögen, nach der Vorstellung komplexer Zwecke und sogar nach der Vorstellung von Vernunftzwecken, bzw. -grundsätzen tätig zu werden. Mit zunehmender Leistungsfähigkeit der involvierten Vermögen wächst auch die „Unabhängigkeit“ von den gegebenen Antrieben der Sinnlichkeit.

178 Diese spezielle Form des arbitrium liberum, das sich auf Grundlage intellektueller Motive vollzieht, bezeichnet Kant in den Vorlesungen über die Metaphysik als „liberum arbitrium intellectuale“ (PM 182). Vgl. Ausführungen unten.

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Die freie Willkür als Grundlage der praktischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft A person acts rationally, then, only when her action is the expression of her own mental activity, and not merely the result of the operation of beliefs and desires in her.179

Die Theorie der Freiheit, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft vertritt, unterscheidet sich in einer spezifischen Hinsicht von der Theorie, die er in der Kritik der praktischen Vernunft konzipiert,180 denn sie wird im Ausgangspunkt von der sinnlichen Willkür, einem arbitrium sensitivum, entwickelt. Dieser Unterschied wird an anderer Stelle, nämlich im Rahmen der Ausführungen, die beim Übergang von der Theorie der praktischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft zur Konzeption der Kritik der praktischen Vernunft erfolgen, eigens erörtert. Zu diesem Zweck werden auch einige historische Dokumente berücksichtigt, die zeigen, dass Kant zunächst die Absicht hatte, möglicherweise eine Umarbeitung der Kritik der reinen Vernunft vorzunehmen, worin speziell die Erörterungen im Zusammenhang mit der Theorie der Freiheit und dem höchsten Gut behandelt werden sollten. Es wird sich zeigen, dass er bald, nachdem er von diesem Vorhaben Abstand nimmt, die Kritik der praktischen Vernunft als selbstständiges Werk veröffentlicht, worin er eine neue Theorie der Freiheit vertritt, die in einem speziellen Verhältnis zum Sittengesetz steht, nämlich so, dass das Sittengesetz nicht eigens deduziert werden kann oder gar muss, sondern als Faktum der Vernunft angenommen wird; während die Theorie der Freiheit unter Voraussetzung des Faktums des Sittengesetzes durchaus deduziert werden kann. Gemeint ist in diesem Zusammenhang selbstverständlich ebenfalls die praktische Freiheit und selbstverständlich beinhaltet die entsprechende Theorie auch eine Theorie der Willkür, wobei unter diesem Ausdruck in der Kritik der praktischen Vernunft höchstwahrscheinlich der menschliche Wille generell gemeint ist. Aber letztendlich wird es sich zeigen, dass die Theorie der praktischen Freiheit, die in der Kritik der praktischen Vernunft vertreten wird, nicht auf der freien Willkür, wie in der Kritik der reinen Vernunft, sondern auf dem freien Willen beruht, der sich eben nicht im Ausgangspunkt von Antrieben der Sinnlichkeit, sondern von der Autonomie der Vernunft entfaltet. Der Unterschied wird an entsprechender Stelle eigens erörtert. Hier wird zunächst in Absehung dessen, was in der Kritik der reinen Vernunft thematisch 179 Korsgaard 1997/2008, 33. 180 Vgl. hierzu: Bojanowski 2006, 193.

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ist, Kants Theorie der praktischen Freiheit auf der Grundlage der so genannten freien Willkür, arbitrium liberum, nachgezeichnet. In der Kritik der reinen Vernunft ist es bemerkenswert, dass Kants Gedankenführung im Rahmen der Erörterungen der praktischen Freiheit von einer Theorie der Willkür ausgeht, die explizit als „sinnlich“ bzw. „pathologisch“ affiziert bezeichnet wird. (KrV, B 562, B 830)181 Damit ist gemeint, dass es sich hierbei um ein Vermögen handelt, das in der Begegnung mit einem gegebenen Sinnesreiz und der sich infolge dieses Sinnesreizes einstellenden Neigung die Möglichkeit beinhaltet, seine Handlungen durch den freien Entschluss selbst zu bestimmen. Dafür ist es wiederum entscheidend, dass das Verhältnis zwischen dem Sinnesreiz, beziehungsweise der sich infolge dieses Sinnesreizes einstellenden Neigung und der tatsächlich erfolgenden Handlung nicht als zwingend, nötigend182 aufgefasst wird; denn wäre dies der Fall, bestünde also zwischen der Neigung und der Handlung ein zwingendes Verhältnis derart, dass eine Neigung stets eine entsprechende Handlung herbeinötigt, so könnte nach Kants Ansicht zwar von Willkür gesprochen werden, aber keinesfalls von Freiheit. Um Willkür (wenngleich nur animalisch) würde es sich insofern handeln, als der Akteur imstande wäre, seinen Neigungen nachzugehen, mithin entsprechende empirische Zwecke zu verwirklichen und mitunter punktuelle Glückszustände zu erzeugen. Frei wäre diese Willkür allerdings nicht, denn die Handlung würde sich notwendigerweise als Konsequenz eines gegebenen Sinnesreizes einstellen, somit vollkommen ohne Mitwirkung irgendeiner Spontaneität des Akteurs erfolgen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang speziell die Richtung des Gedankens, denn im Unterschied zu der Art und Weise, wie Kant jederzeit die apriorische Gesetzgebung der Vernunft und auf ihrer Grundlage auch die Theorie der Freiheit in der Kritik der praktischen Vernunft konzipiert und darstellt, nämlich so, dass die Vernunft unabhängig von aller Erfahrung gewisse Gesetze erlässt, die jederzeit und überall, also in jeder einzelnen Situation und für jeden vernunftfähigen Akteur gültig sein sollen, und dass im Bewusstsein dieser Gültigkeit, speziell der moralischen Normativität, in jedem Einzelfall erwogen wird, was zu tun sei; im Unterschied zu dieser gedanklichen Richtung, die mit Kants Vorstellung von Apriorizität und Autonomie untrennbar 181 Genauso auch in den Vorlesungen über die Metaphysik, PM 181 ff. 182 Es darf sich dabei also nicht um eine nötigende Kraft handeln. Vgl. entspr. Passage aus den Metaphysikvorlesungen: „Die Stimuli haben also entweder vim necessitantem oder vim impellentem. Bei allen unvernünftigen Thieren haben die Stimuli vim necessitantem; aber bei den Menschen haben die Stimuli nicht vim necessitantem, sondern nur impellentem. Demnach ist das arbitrium humanum nicht brutum, sondern liberum.“ (PM 182)

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zusammenhängt, beginnt der Gedanke hier auf der Ebene des Empirischen, nämlich beim gegebenen Sinnesreiz und profiliert zunehmend das Vermögen des Akteurs, speziell des Menschen, sich über die „Nötigung“, die sich infolge dieses Sinnesreizes als Neigung einstellt, hinwegzusetzen, indem er mögliche Konsequenzen seiner Handlung erwägt, ihre Attraktivität beurteilt und diejenige Handlung ergreift, deren Konsequenzen er am attraktivsten findet. (Vgl. Zitat unten: B 830) Bemerkenswert ist diese Struktur deswegen, weil sie auf den ersten Blick beinahe un-kantisch anmutet. Man hat den Eindruck, dass es beinahe eine Herabwürdigung der Vernunft darstellt, eine Theorie der Freiheit zu entwickeln, die lediglich auf der Beurteilung der antizipierten Attraktivität möglicher Konsequenzen einer Handlung beruht und dass eine derartige Theorie bestenfalls die pragmatische Freiheit zu beschreiben vermag, sich aber niemals bis zur Ebene der moralischen Freiheit entfalten kann; und in der Tat ist mit diesem Gedanken Kants Theorie der Freiheit im Allgemeinen keineswegs erschöpft. Es ist damit nicht einmal die Theorie der Freiheit, die speziell in der Kritik der reinen Vernunft vertreten wird, erschöpft. Aber es ist nun mal die Art und Weise, wie die Gedankenführung beginnt, und dies wird im Folgenden in der Auseinandersetzung mit dem Primärtext im Detail nachgezeichnet. Es wird sich im Rahmen dieser Erörterungen zeigen, wie Kant im Ausgangspunkt von diesem minimalen Begriff der Freiheit, von dem er sagt, er könne „durch Erfahrung bewiesen“ werden (KrV, B 830), eine Theorie der pragmatischen und ansatzweise sogar der moralischen Freiheit entwickelt. Später wird auch gezeigt, warum und wie er von dieser Konzeption Abstand nimmt und sie zugunsten der Theorie der eigentlichen Willensfreiheit aufgibt, die er in der Kritik der praktischen Vernunft konzipiert. Die oben genannte Richtung des Gedankens wird in den Erörterungen in der Kritik der Praktischen Vernunft umgekehrt, ähnlich wie die Gedankenführung beim Übergang von der A-Deduktion der Kategorien zur B-Deduktion umgekehrt wird, nämlich indem Kant zunächst im Ausgangspunkt von einer empirisch nachvollziehbaren Situation auf zugrunde liegende Strukturen der Vollzugsweise unserer kognitiven Vermögen zugeht und ihre Wirksamkeit zunehmend erhellt, während er in der überarbeiteten Version des Texts die gedankliche Richtung umkehrt und im Ausgangspunkt von dem gesetzgebenden Vermögen selbst die Struktur seiner Wirksamkeit darstellt, und aufzeigt, wie es seine normative Kraft bis ins Detail, also bis zur Ebene des einzelnen, empirischen Urteils entfaltet. Aber die entsprechende Veränderung des Gedankens wird erst im Rahmen der Erörterungen beim Übergang von der Kritik der reinen Vernunft zur Kritik der Praktischen Vernunft nachvollziehbar. Hier soll lediglich zum Ausdruck gebracht werden, dass sich die Theorie der praktischen Freiheit, die Kant in seiner ersten Kritik vertritt, in einer speziellen Hinsicht, nämlich der Richtung der Gedankenführung, von der

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späteren Theorie, die er in der zweiten Kritik vertritt, signifikant unterscheidet und zwar auf eine ähnliche Art und Weise, wie sich die Gedankenführung beziehungsweise die gedankliche Richtung der A-Deduktion von der B-Deduktion unterscheidet. Die entsprechenden Überlegungen erfolgen zunächst im Rahmen der Auflösung der Antinomie (KrV, B 562) und werden später im Kontext der Frage „Von dem letzten Zwecke des reinen Gebrauchs unserer Vernunft“ aufgegriffen und weiter ausgeführt. Sie führen bereits in der Kritik der reinen Vernunft letztendlich zur Theorie des höchsten Guts, worin sie einen wesentlichen Bestandteil darstellen. In der Tradition der empirischen Psychologie und Schulphilosophie183 unterscheidet Kant zwei Formen der sinnlichen Willkür (arbitrium sensitivum), nämlich die animalische Willkür, arbitrium brutum, und die eigentümlich menschliche, freie Willkür, arbitrium liberum (KrV, B 830). Unter Berücksichtigung seiner diesbezüglichen Ausführungen auf B 562 und den entsprechenden Passagen in den Metaphysikvorlesungen (PM 181 ff.) ist es eindeutig, dass es sich in beiden Fällen um sinnlich affizierte184 Willkür, also um arbitrium sensitivum handelt, wobei arbitrium brutum zudem sinnlich necessitiert, also sinnlich genötigt ist, während arbitrium liberum zwar sinnlich affiziert, nicht aber sinnlich necessitiert ist. Arbitrium brutum ist eine, wie Kant sagt, pathologisch bzw. sinnlich affizierte Willkür, deren Aktionen unmittelbar durch Antriebe der Sinnlichkeit bestimmt sind. Sie wird als animalische Willkür bezeichnet. (KrV, B 830) Ein Tier ist demnach nicht imstande, sich über sinnlich gegebene Reize hinwegzusetzen und sein Handeln nach der Vorstellung mehr oder weniger abstrakter Zwecke auszurichten. Vielmehr ist es in der Begegnung mit einem gegebenen Sinnesreiz dazu genötigt, unausweichlich eine entsprechende Aktion auszuführen, sich also auf bestimmte Art und Weise zu verhalten. Die entsprechende Formulierung ist knapp und führt die Rolle, die die Neigung in diesem Zusammenhang besitzt, nicht eigens aus, aber es ist naheliegend anzunehmen, dass Kant in diesem Zusammenhang davon ausgeht, das sich dem Tier in der Begegnung mit einem gegebenen Sinnesreiz eine Neigung, bzw. ein Trieb einstellt, der es dazu nötigt, sich auf entsprechende Art und Weise zu verhalten, und dass ein Tier nicht über das Vermögen verfügt, sich über diese Neigung, bzw. diesen Trieb hinwegzusetzen – selbst wenn die Folgen seines 183 Vgl.: Bojanowski, J. 2006: Kants Theorie der Freiheit. Rekonstruktion und Rehabilitierung. KSEH 151. 196. 184 Kant verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff „pathologisch“ und zwar für die sinnliche Affektion im Allgemeinen, nicht nur für arbitrium brutum. Beide Formen der Willkür sind nach Kant „pathologisch“, indem sie sinnlich affiziert sind.

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Verhaltens auf lange Sicht verheerend sein mögen. Somit bestünde zwischen dem gegebenen Sinnesreiz und der Aktion, die das Tier letztendlich ausführt, ein Verhältnis des Zwanges: Die Aktion wäre dann pathologisch (also sinnlich) affiziert und zugleich pathologisch (also sinnlich) necessitirt. Sofern man also den gegebenen Sinnesreiz und die sich in seiner Folge einstellenden Neigung zu dem Ausdruck „sinnlicher Antrieb“ zusammenfasst, kann behauptet werden, dass sich die animalische Willkür, arbitrium brutum, derart vollzieht, dass zwischen dem Antrieb der Sinnlichkeit und der erfolgenden Aktion ein Verhältnis der Notwendigkeit oder des Zwanges besteht. Der sinnliche Antrieb wäre dann der Grund und die Aktion die notwendige Folge eben dieses Grundes. Der Mensch aber, der über freie Willkür, arbitrium liberum, verfügt, ist nach Kants Ansicht durchaus imstande, „durch Vorstellung von dem, was selbst auf entfernte(-re) Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden“ (KrV, B 830): Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht nothwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich unabhängig von der Nöthigung durch sinnliche Antriebe von selbst zu bestimmen. (KrV, B562) Denn nicht bloß das, was reizt, d.i. die Sinne unmittelbar afficirt, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden; (KrV, B 830) Der Mensch also, und selbstverständlich jedes andere Wesen, das über freie Willkür, arbitrium liberum, verfügt, besitzt das Vermögen zur Durchführung von Handlungen, die sich nicht als notwendige Konsequenz eines sinnlichen Antriebs einstellen. Vielmehr wird die menschliche Willkür auch durch Vorstellungen von dem bestimmt, was sich in der Konsequenz als nützlich oder schädlich erweisen könnte. Demzufolge verfügen wir über die Fähigkeit, nach der Vorstellung von Zwecken zu handeln, die in Ansehung eines bestimmten Zustandes bzw. eines bestimmten angestrebten Ziels begehrenswert sind. Darüber hinaus befähigt uns nach Kants Ansicht unsere Vernunft dazu, Zwecke zu erwägen, die „in Ansehung unseres ganzen Zustandes“ erstrebenswert sind: . . . diese Überlegungen aber, von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswert, d. i. gut oder nützlich ist, beruhen auf der Vernunft. (KrV, B 830)

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Es besteht allerdings ein signifikanter Unterschied zwischen der Art und Weise, wie sich die freie Willkür als Vermögen nach der Vorstellung empirischer Zwecke zu handeln und als Vermögen, nach der Vorstellung solcher Zwecke zu handeln, die „in Ansehung unseres ganzen Zustandes“ begehrenswert sind, vollzieht. Dieser Unterschied betrifft einerseits die Art der Zwecke und andererseits, und das ist wesentlich wichtiger, die Struktur der Freiheit selbst und wird im Folgenden ausführlich erörtert. Vorab ist es wichtig, ein bestimmtes Missverständnis zu vermeiden, das sich möglicherweise einstellen könnte: Man könnte meinen, dass Kants Unterscheidung zwischen arbitrium brutum und arbitrium liberum nur die Art der Zwecke betrifft, und dass arbitrium brutum die Verfolgung von Zwecken, die sich aus der Neigung ergeben, umfasst, während arbitrium liberum die Verfolgung von Vernunftszwecken beinhaltet. Das ist nicht richtig. Die Struktur muss vielmehr auf folgende Art und Weise verstanden werden: Die sinnliche Willkür, arbitrium sensitivum, wird in zwei Vermögen eingeteilt, nämlich die animalische und die menschliche, also arbitrium brutum und arbitrium liberum. Die animalische Willkür, arbitrium brutum, ist pathologisch affiziert und zugleich pathologisch necessitirt, also sinnlich genötigt. Somit macht es überhaupt keinen Sinn, im Zusammenhang mit der animalischen Willkür, arbitrium brutum, empirische Zwecke von apriorischen Zwecken zu unterscheiden, denn arbitrium brutum stellt überhaupt kein Vermögen dar, nach der Vorstellung irgendwelcher Zwecke zu handeln. Arbitrium liberum zeichnet sich dagegen eben dadurch aus, dass es eine Form der sinnlich affizierten Willkür darstellt, die allerdings nicht sinnlich necessitirt ist. Die Handlungen, die aus dieser freien Willkür hervorgehen, sind somit pathologisch bzw. sinnlich motiviert, aber nicht pathologisch erzwungen; denn der Akteur, der über dieses Vermögen verfügt, ist imstande sein Handeln nach der Vorstellung möglicher Konsequenzen selbst zu bestimmen, also zusätzlich zu dem gegebenen sinnlichen Antrieb weitere Motive zu berücksichtigen und sich auf dieser Grundlage für eine bestimmte Handlung zu entscheiden. Diese zweite Form der sinnlichen Willkür, die freie sinnliche Willkür, arbitrium liberum, kann sich wiederum entweder nach der Vorstellung empirischer Zwecke oder nach der Vorstellung apriorischer Zwecke (und Grundsätze) vollziehen. Dieser Unterschied, der ausschließlich das arbitrium liberum betrifft, macht die Grundlage für die Unterscheidung von pragmatischer und moralischer Freiheit aus, wobei jene auf empirische und persönliche Zwecke ausgerichtet ist, diese aber auf apriorischen Zwecken und Grundsätzen, die aus der reinen praktischen Vernunft entspringen, beruht. Kants Theorie der sinnlichen Willkür umfasst somit zwei Vermögen, nämlich die animalische und freie Willkür, wobei sich die freie Willkür wiederum

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in Ausrichtung auf empirische oder apriorische Zwecke und Grundsätze entfalten kann. 3.1.1 Der Gesichtspunkt der Vermögenslehre Kant entwickelt die Theorie der sinnlichen Willkür als Bestandteil einer entsprechenden Vermögenslehre und will zum Ausdruck zu bringen, dass eine bestimmte Art von Akteuren, nämlich letztendlich solche, die über das Vermögen der Vernunft verfügen, und dieses Vermögen in Verbindung mit dem Vermögen der sinnlich motivierten aber freien Willkür vollziehen, imstande sind, gegebene Sinnesreize zum Ausgangspunkt von Entscheidungen zu machen, die letztendlich ihre Handlungen bestimmen. Der entsprechende Abschnitt aus der Kritik der reinen Vernunft profiliert also ein bestimmtes Vermögen, nämlich eine bestimmte Art der freien sinnlichen Willkür, die als Grundlage der so genannten praktischen Freiheit dient, wobei die Theorie der praktischen Freiheit, sofern sie zu ihrer vollen Entfaltung gelangen soll, zudem aufzeigen muss, wie sich das Vermögen zur willentlichen Selbstbestimmung in Verbindung mit der Vernunft vollzieht. Dass das arbitrium liberum, also die menschliche Willkür als Vermögen in einem spezifischen Verhältnis zur Vernunft steht, ist nichts Neues, denn bereits Thomas von Aquin betont, dass die freie Entscheidung (arbitrium liberum) eine gemeinsame Fähigkeit des Willens und der Vernunft, also eine facultas voluntatis et rationis ist,185 und auch für Bonaventura ist dies eine ausgemachte Sache.186 Es stellt sich lediglich die Frage ob Kant dieser Theorie einen eigenen, neuen Impuls gibt und, wenn ja, worin dieser Impuls besteht. Darüber hinaus muss diese Theorie aufzeigen, welche Funktion die Vernunft in diesem Gesamtgefüge übernimmt und wie sie darin wirksam wird. Voraus blickend kann bereits angekündigt werden, dass die Vernunft an dieser Stelle als Vermögen zur Hervorbringung praktischer Grundsätze, speziell praktischer Gesetze, wirksam ist, wodurch sie als Quelle der pragmatischen und moralischen Normativität auftritt. Die Theorie der praktischen Freiheit wird somit in ihrer vollen Entfaltung aufzeigen müssen, dass die Vernunft imstande ist, aus eigener Spontaneität praktische Grundsätze zu erlassen, die von hypothetischer oder kategorischer Verbindlichkeit sein können und eine entsprechende normative und motivierende Kraft in Verbindung mit gegebenen Antrieben der Sinnlichkeit entfalten können. Es wird sich zudem zeigen, dass 185 Vgl. hierzu: Speer, A. 2005: Das Glück des Menschen. In: Ders. (Hg.): Thomas von Aquin: Die Summa Theologiae. Werkinterpretationen. 146. 186 Vgl.: Speer, A. 1987: Triplex veritas. Wahrheitsverständnis und philosophische Denkform Bonaventuras. 66, 145.

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diejenigen praktischen Grundsätze, die von der Vernunft mit dem Anspruch erlassen werden, dass sie jederzeit, überall und für jeden einzelnen Akteur, nämlich in jeder einzelnen Situation, gültig sein sollen, also solche praktischen Grundsätze, deren Verbindlichkeit ausnahmslos ist und die in der Sprache der Kritik der praktischen Vernunft als „praktische Gesetze“ und nicht bloß praktische Grundsätze bezeichnet werden, eine normative Kraft beinhalten, die den einzelnen Akteur dazu (moralisch) verpflichten, sie in Verbindung mit gegebenen Antrieben der Sinnlichkeit jederzeit zu beachten. Das bedeutet nicht, dass er nicht anders kann, sondern dass er nicht anders soll. Also müssen die entsprechenden Erörterungen aus der Kritik der reinen Vernunft als Strukturbeschreibung und Rechtfertigung einer bestimmten Vermögenslehre gelesen und interpretiert werden, die in ihrer vollen Entfaltung eine Theorie der praktischen Freiheit trägt, die ganz wesentlich auf der Zusammenwirkung zweier Vermögen beruht, nämlich der sinnlichen aber freien Willkür, arbitrium liberum, und der praktischen Vernunft, die Gesetze erlässt, die entweder in Einzelfällen oder sogar ausnahmslos gebieten, wie sich die freie Willkür vollziehen soll. Dieses Vermögen der freien Willkür „gründet sich“ der kantischen Konzeption entsprechend auf der Idee der transzendentalen Freiheit. Somit wird die Frage, ob die Vernunft bei ihrem Anliegen, die Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten aufzusuchen, zusätzlich zur Kausalität nach Naturgesetzen auch Kausalität aus Freiheit annehmen muss, in den Themenbereich der transzendentalen Freiheit verortet, während im Rahmen der praktischen Freiheit das Vermögen thematisch ist, die eigenen Handlungen nach der Vorstellung von Zwecken und Grundsätzen zu gestalten. Grundsätzlich wäre es durchaus möglich, dass zwar die transzendentale Freiheit denkbar ist, dass es also möglich und sogar sinnvoll ist, anzunehmen, dass zusätzlich zur Kausalität nach Naturgesetzen auch Kausalität aus Freiheit bestehen kann, dass aber auf der ganzen Welt nur Lebewesen existieren, die nicht über das Vermögen verfügen, von dieser transzendentalen Freiheit in praktischer Hinsicht Gebrauch zu machen. Dies wäre nach kantischer Ansicht gar nicht einmal allzu abwegig, denn bis auf Menschen verfügen, auf diesem Planeten jedenfalls, keine weiteren Lebewesen über das besagte Vermögen, und gäbe es keine Menschen, was im Universum meistens der Fall war und sein wird, dann wäre die Idee der transzendentalen Freiheit zwar durchaus denkbar (ich weiß zwar nicht von wem, aber das spielt auch keine Rolle), aber niemand besäße das Vermögen, davon Gebrauch zu machen. Somit fallen die Erörterungen zum Problem der transzendentalen Freiheit der kantischen Terminologie entsprechend in den Bereich der spekulativen Philosophie, also generell in den Bereich dessen, was gewusst werden kann und wie die Welt und das Wissen beschaffen sind,

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während die Erörterungen im Zusammenhang mit der praktischen Freiheit und der dazugehörigen freien Willkür das Vermögen betreffen, das ein einzelner Akteur besitzen muss, sofern er von der Möglichkeit der transzendentalen Freiheit Gebrauch machen will.187 Die transzendentale Freiheit ist eine Idee, die praktische Freiheit ein Vermögen. Innerhalb des umgreifenden Rahmens der kantischen Vermögenslehre betrifft die Theorie der sogenannten transzendentalen Freiheit einen spekulativen Gegenstandsbereich. Sie zielt also auf die Erörterung der Beschaffenheit der Welt und beinhaltet in diesem Zusammenhang die zentrale Aussage, dass zwischen der Kausalität nach Naturgesetzen und Kausalität aus Freiheit kein disjunktives Verhältnis besteht (Vgl.: B 564), dass diese beiden Formen der Kausalität also keineswegs inkompatibel sind. Es geht also nicht primär darum, ein bestimmtes Vermögen bestimmter Akteure zu profilieren. Man muss zwar an dieser Stelle zurückhaltend mit entsprechenden Formulierungen sein, denn es könnte missverständlich anmuten, wenn behauptet wird, dass die transzendentale Freiheit „kein Vermögen“ darstellt: Aber sofern man den umgreifenden Rahmen berücksichtigt, worin die entsprechenden Erörterungen angestellt werden, und man in diesem Zusammenhang die transzendentale Freiheit und die praktische Freiheit voneinander unterscheidet, wird durchaus deutlich, dass diejenigen Erörterungen, die die praktische Freiheit und die dazugehörige freie Willkür behandeln, explizit als Elemente einer Vermögenslehre konzipiert sind, während die Erörterungen zur transzendentalen Freiheit in den Gegenstandsbereich der spekulativen Philosophie gehören, worin Kant mitnichten die Absicht verfolgt die transzendentale Freiheit als ein spezifisches Vermögen gewisser Akteure zu profilieren, sondern vielmehr einen speziellen Problembereich der kosmologischen Vernunft erörtert. Das hier thematische Vermögen ist also die Vernunft und es wird die Frage erörtert, ob dieses Vermögen bei einem seiner essenziellen Anliegen, nämlich der oben genannten Suche nach der Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten, mit derjenigen Kausalität, die es aus der Sphäre der Erscheinungen kennt, nämlich der Kausalität nach Naturgesetzen, auskommt oder eine originär andere Form der Kausalität hinzuziehen muss. Die Vernunft ist selbstverständlich das Erkenntnisvermögen, dessen Wirkungsmacht und Vorgehensweise hier thematisch ist; die Kausalität ist aber eine Kategorie, wonach speziell der Verstand Weltorientierung betreibt, niemals aber ein Vermögen. Es ist 187 Die in den aktuellen Debatten so häufig thematischen Probleme des Kompatibilismus und Inkompatibilismus gehören somit, sofern sie in Bezug auf die kantische Philosophie überhaupt sinnvoll diskutiert werden können, stets in den Bereich der Erörterungen zur transzendentalen Freiheit und niemals in den Bereich der praktischen Freiheit.

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zwar möglich und sinnvoll zu sagen, dass manche Akteure über Vernunft und Verstand verfügen, somit in der Lage sind die Abfolge der Zustände in der Welt auf Kausalität hin zu befragen, aber es ist weniger sinnvoll zu behaupten, dass manche Akteure über Kausalität verfügen und andere nicht.188 Da die hier thematische Antinomie aber die Frage der Kausalität behandelt, zielt ihre Hauptaussage darauf ab, das Verhältnis der Kausalität nach Naturgesetzen zur Kausalität aus Freiheit innerhalb des transzendentalen Idealismus zu erörtern, nicht aber darauf, die Kausalität aus Freiheit als ein besonderes Vermögen zu profilieren. Die Betonung der Tatsache, dass die Theorie der freien Willkür als Bestandteil einer Vermögenslehre konzipiert ist, betrifft allerdings nicht nur die Abgrenzung von der Theorie der transzendentalen Freiheit, sondern verspricht zudem im Detail aufzuzeigen, wie sich dieses Vermögen von anderen Vermögen unterscheidet, wie es mit ihnen interagiert und wie sie gemeinsam komplexe Formen der praktischen Freiheit bilden. Es wird sich im Laufe dieser Erörterungen zeigen, dass das Vermögen der freien Willkür gewisse Potenziale enthält, die zwar zur Geltung gelangen können, es aber nicht müssen. Sofern es allerdings zur vollen Entfaltung des gesamten Potenzials, das die freie Willkür beinhaltet, kommen soll, muss die Ausübung dieses Vermögens in Verbindung mit den normativen Vermögen, hier speziell mit der Vernunft, erfolgen. Dass die Ausübung der freien Willkür mit dem empirischen Begehrungsvermögen zusammenhängt, ist selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich ist es, dass dem empirischen Begehrungsvermögen Zwecke entspringen, die unmittelbar an die freie Willkür herangetragen werden und somit eine motivierende Kraft beziehungsweise eine sinngebende und wertstiftende Funktion in der Praxis besitzen. Die Rolle des empirischen Begehrungsvermögens soll in diesem Zusammenhang keineswegs herabgewürdigt werden, denn es stellt die wesentliche Triebfeder des menschlichen Tuns und Wollens dar. Doch ist mit der Interaktion zwischen der freien Willkür und dem empirischen Begehrungsvermögen mitnichten das ganze Potenzial der praktischen Freiheit erschöpft, denn die freie Willkür beinhaltet die Möglichkeit zu Handlungen, deren Zwecke nicht allein dem empirischen Begehrungsvermögen entspringen, sondern komplex, reflektiert und abstrakt sein können. Sie beinhaltet sogar die Möglichkeit zu Handlungen, die nach Zwecken und Grundsätzen ausgerichtet sind, die unmittelbar der Vernunft entspringen. Somit ist auch eine gelingende Interaktion zwischen dem empirischen Begehrungsvermögen, 188 Ich empfehle, hier die Assoziation zur Formulierung, dass der Wille eine spezifische Art der Kausalität darstelle, zu unterlassen, weil sie nichts zur Sache beiträgt, sondern nur unnötig ablenkt.

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der freien Willkür und der praktischen Vernunft möglich und zwar derart, dass innerhalb dieser Interaktion sogar unterschiedliche Grade der Wirksamkeit jedes einzelnen Vermögens denkbar sind. Zur vollen Entfaltung gerät die praktische Freiheit nur dann, wenn alle beteiligten Vermögen in höchstem Grade wirksam sind, wenn also sowohl das Begehrungsvermögen als auch die Vernunft in voller Kraft wirksam sind und zur Entfaltung der freien Willkür beitragen. 3.1.2 Arbitrium liberum als Vermögen, nach der Vorstellung empirischer Zwecke zu handeln Kants Theorie der praktischen Freiheit steht also in einem engen Zusammenhang mit dem Vermögen der freien Willkür, das seinerseits das Potenzial beinhaltet, sich sowohl in Ausrichtung auf empirische als auch in Ausrichtung auf apriorische Zwecke zu vollziehen. Kants oben genannte Definition der freien sinnlichen Willkür, arbitrium liberum, enthält keine genaue Spezifikation der Art der Vorstellungen von dem, was sich als nützlich oder schädlich für das Begehrungsvermögen des Akteurs herausstellen könnte, mithin keine genaue Bestimmung der Art möglicher Zwecke. Dadurch lässt sie den entsprechenden Freiraum für die Interpretation zu: . . .wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden; (KrV, B 830) Speziell die Formulierung „was selbst auf entferntere Art“189 nützlich oder schädlich ist, deutet an, dass in diesem Zusammenhang möglicherweise eine Unterscheidung verschiedener Arten von Zwecken, im Hinblick auf welche der Triebaufschub erfolgt, denkbar ist. Aufgrund der Tatsache, dass der Komparativ „entferntere“ nicht in allen Ausgaben der Kritik der reinen Vernunft verwendet wird, ist Vorsicht geboten, wenn eben dieser Komparativ zur Grundlage von Überlegungen gemacht wird, die eine mögliche Unterscheidung, Abstufung oder Struktur der Zwecke, die angestrebt werden können, betreffen. Aber ganz unabhängig davon, ob an dieser Stelle der Komparativ verwendet wird oder nicht, ob es also heißt: „selbst auf entferntere Art“, oder „selbst auf entfernte 189 Der an dieser Stelle verwendete Komparativ „entferntere“ wird nicht in allen Ausgaben der Kritik der reinen Vernunft verwendet: In der Erstauflage wird vielmehr der Ausdruck „entfernete“, beziehungsweise „entfernetern“ verwendet. Bei Valentiner steht ein gegebener Stelle: „entfernter“. In der von Raymund Schmid herausgegebenen Fassung steht der Komparativ: „entferntere“.

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Art“, so bleibt der Eindruck bestehen, dass die freie Willkür ein Vermögen darstellt, nach der Vorstellung von Zwecken zu handeln, die in gewisser Hinsicht naheligend sein können, aber auch nach der Vorstellung von Zwecken, die nicht unmittelbar naheligend sind, sondern nur mit einer gewissen gedanklichen Anstrengungen erwogen und berücksichtigt werden können. Daher kann sich die sinnliche Willkür auch nach der Vorstellung von Zwecken vollziehen, die in einer gewissen zeitlichen oder inhaltlichen Distanz zum gegebenen Antrieb der Sinnlichkeit stehen. Der gesamte Satz wäre nämlich auch ohne den Einschub „selbst auf entferntere Art“ durchaus nachvollziehbar, nämlich: „. . .wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was [. . .] nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden.“ Dieses Vermögen ist nämlich bereits arbitrium liberum, der klassische Triebaufschub, und bereits in dieser zurückhaltenden Formulierung ist ein signifikanter Unterschied zum arbitrium brutum erkennbar, der darin besteht, dass die sinnliche Affektion die Handlung nicht necessitirt, sondern der Akteur sein Verhalten nach der Vorstellung von Zwecken gestalten kann. Der Zusatz aber, der die Frage betrifft, wie naheliegend oder „entfernt“ die relevanten Zwecke sind, bringt zum Ausdruck, dass dieses Vermögen eine Leistungsfähigkeit besitzt, die über die einzelne Situation hinausreicht, indem es die Handlungsweise in einer einzelnen, empirischen Situation nach der Vorstellung von Zwecken, die aus der Perspektive ebendieser Situation durchaus „entfernt“ sind, zu bestimmen vermag, also vorausschauend, abstrakt und langfristig zu planen vermag. Eben dieser Zusatz macht es möglich, die Zwecke, auf die die freie Willkür ausgerichtet ist, voneinander zu unterscheiden und auf diese Art und Weise eine gewisse strukturelle Beschreibung der Vollzugsweise der freien Willkür vorzunehmen. Demnach kann unter Berücksichtigung des Einschubs „selbst auf entferntere Art“, angenommen werden, dass sich die freie Willkür in Ausrichtung auf Zwecke vollziehen kann, die durchaus naheligend sind, also nicht „auf entferntere Art“ nützlich oder schädlich sind. Dafür spricht die Formulierung „selbst“. Denn ohne sie müsste der Zusatz „auf entfernte(re) Art“ als verbindlich interpretiert werden und man müsste davon ausgehen, dass sich die sinnliche Willkür ausschließlich nach der Vorstellung von Zwecken vollziehen kann, die eine entsprechende gedankliche Anstrengung beinhalten. Da dies nicht der Fall ist, kann mit Leichtigkeit davon ausgegangen werden, dass auch Vollzugsweisen der freien Willkür denkbar sind, die sozusagen in unmittelbarer Nähe zum arbitrium brutum stehen, indem sie zwar eine Entscheidung des Akteurs beinhalten, die zusätzlich zu den gegebenen sinnlichen Antrieben auch die möglichen Konsequenzen einer entsprechenden Handlung berücksichtigt, und abwägt, ob sie als attraktiv oder nicht attraktiv gelten können,

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wobei allerdings die vorgestellten Konsequenzen in unmittelbarer zeitlicher und inhaltlicher Nähe zum gegebenen Antrieb der Sinnlichkeit stehen. Wenn beispielsweise ein beliebiger Akteur nach dem Abendessen die Neigung verspürt, ein Glas Rotwein zu trinken, dies aber unterlässt, weil er Sodbrennen befürchtet, handelt er nach dem oben beschriebenen Muster.190 Dies ist nicht dasselbe wie die Konkurrenz von Stimuli, über die sich Korsgaard in einem anderen Zusammenhang, den ich anfangs diskutiert habe, kritisch äußert: The desire to pursue the end and the desires that draw me away from it each hold sway in their turn, but my will is never active. The distinction between my will and the operation of the desires and impulses in me does not exist, and that means that I, considered as an agent, do not exist.191 Korsgaard kritisiert hier die unmittelbare Konkurrenz sinnlicher Stimuli und auf ihnen beruhender Neigungen und betont, im übertragenen Sinne, dass es keinen Ausdruck von arbitrium liberum darstellt, sich statt von der Neigung A, nun von der Neigung B treiben zu lassen. Dagegen stellt die Berücksichtigung einer möglichen Konsequenz, die sich aus der Verwirklichung der Neigung A ergibt, durchaus eine Art des arbitrium liberum dar, selbst wenn die entsprechende Assoziation naheliegend ist, da Rotwein oft genug Sodbrennen verursacht. Dennoch besteht auch in diesem Fall kein Verhältnis der Notwendigkeit und des Zwanges zwischen dem Antrieb der Sinnlichkeit und der entsprechenden Handlung. Vielmehr steht die freie Entscheidung des Akteurs dazwischen. Lediglich im Hinblick auf die Frage, welches Maß an gedanklicher Anstrengung hierin enthalten ist, in letzter Konsequenz in Bezug auf die Frage, in welchem Maße die Vernunft wirksam ist, besteht ein signifikanter Unterschied zwischen der Vollzugsweise der freien Willkür unter Beachtung 190 Diese Überlegung ist meines Erachtens trivial und selbstverständlich, aber in der Kantforschung würde eine ganze Reihe höchst prominenter Interpreten mit allem Nachdruck bestreiten, dass dies hier überhaupt Freiheit sei, weil sie einen höchst restriktiven Freiheitsbegriff zugrunde legen. Eines meiner Hauptanliegen in dieser Arbeit besteht darin, zu zeigen, dass ein Freiheitsbegriff mit größerer Extension zur Aktualität der kantischen Theorie zuträglich ist und dass er in der KrV tatsächlich vertreten wird. Die ist nicht nur die „Freiheit eines Bratenwenders“, sondern zumindest die Freiheit von Spongebob Schwammkopf, der den Braten wendet, weil es ihm Freude macht und weil es seine berufliche Pflicht ist. 191 Korsgaard 2009, 70 f.

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zeitlich und inhaltlich naheligender Zwecke und einer Vollzugsweise, die die apriorische Gesetzgebung der praktischen Vernunft, speziell in moralischer Hinsicht, beinhaltet. Um diesem Gedanken weiter nachzugehen, kann ohne Widerspruch zu der obigen Definition der freien Willkür angenommen werden, dass sich diese auch in Ausrichtung auf Zwecke vollziehen kann, die möglicherweise inhaltlich in unmittelbarer Nähe zu dem gegebenen Antrieb der Sinnlichkeit stehen, aber ein größeres, beziehungsweise sehr großes zeitliches Intervall umfassen. Als Beispiel könnte die von Bojanowski in diesem Zusammenhang genannte Lust auf Karamelbonbons angeführt werden, die aufgrund der Kariesgefahr überwunden wird.192 Karies stellt sich nämlich erst nach langer Zeit ein, aber inhaltlich ist der Zusammenhang zwischen dem Konsum von Zucker und dem gesundheitlichen Schaden, den er anrichtet, ebenso eng wie zwischen dem Wein und Sodbrennen oben. Auch kann angenommen werden, dass sich die freie Willkür nach der Vorstellung von Zwecken vollziehen kann, die zwar in zeitlicher Nähe zum gegebenen Antrieb der Sinnlichkeit stehen, sich aber inhaltlich in großer Distanz befinden, indem sie einem gänzlich anderen thematischen Komplex entspringen oder gar abstrakt sind. Die „Entfernung“ würde in diesem Fall keine Zeitliche, sondern eine semantische Dimension betreffen. Darüber hinaus ist eine Vollzugsweise der freien Willkür denkbar, die nach der Vorstellung von Zwecken erfolgt, die sowohl inhaltlich als auch zeitlich „weit entfernt“ bzw. abstrakt sind. Wenn jemand beispielsweise an einem beliebigen Morgen, um 6:45 Uhr den Wecker hört und die zu dieser Tageszeit übliche und natürliche Neigung verspürt, noch ein Weilchen im Bett zu bleiben, diese Neigung aber darum überwindet, weil er einen Lateinkurs besuchen will, um in vier oder fünf Jahren seinen Philosophieabschluss zu machen, wird man sagen, dass der Abschluss, auf den es ihm ankommt, weder inhaltlich noch Zeitlich in einem engen Zusammenhang zu der aktuellen Neigung, liegen zu bleiben, steht, aber durchaus zum Anlass genommen werden kann, diese zu überwinden. Hierbei sind selbstverständlich auch graduelle Unterschiede denkbar, also Vorstellungen von Zwecken, die in größerer oder kleinerer zeitlicher und inhaltlicher Distanz zum gegebenen Antrieb der Sinnlichkeit stehen. In all diesen Fällen kann es sich um die Vorstellung von Zwecken handeln, die durchaus empirisch sind. Dennoch ist es augenfällig, dass ein gewisser Unterschied zwischen der Vollzugsweise der freien Willkür nach der Vorstellung 192 Bojanowski, J. 2006: Kants Theorie der Freiheit. Rekonstruktion und Rehabilitierung. KSEH 1151. 196.

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von zeitlich und inhaltlich naheligenden Zwecken und nach der Vorstellung von Zwecken, die in zeitlicher oder inhaltlicher Distanz zum gegebenen sinnlichen Antrieb stehen, besteht, und es kann angenommen werden, dass dieser Unterschied ebenfalls ein bestimmtes Vermögen des Akteurs betrifft, nämlich die Fähigkeit, unter einer gewissen gedanklichen Anstrengung Ziele und Zwecke zu erwägen, die seine Handlungsweise auf längere Zeit bestimmen und inhaltlich in einen breiteren Kontext einzubetten vermögen. Die entsprechenden Überlegungen sind ganz entscheidend, wenn von dem Vermögen eines einzelnen Akteurs die Rede ist, seine Handlungen so zu gestalten, dass sie in den umgreifenden Rahmen eines entsprechenden Lebensplans eingebettet werden können, der zur Grundlage der Verwirklichung eines bestimmten Persönlichkeitsbildes innerhalb einer gegebenen Gesellschaft dienen und sogar zur Gestaltung dieser Gesellschaft beitragen soll. Selbst wenn in diesem Zusammenhang noch nicht die Rede von einer moralischen Selbstbestimmung im kantischen Sinne ist, ist es unmittelbar erkennbar, dass die persönliche Selbstverwirklichung des Akteurs, selbst wenn sie noch unter bloß empirischen Gesichtspunkten erfolgt, das kreative Potenzial des Entwurfs beinhaltet und dass die Qualität des angestrebten Persönlichkeitsbildes und des konzipierten Lebensplans ganz entscheidend von der Leistungsfähigkeit eben dieses Entwurfs abhängig ist. Alle Theorien der persönlichen Selbstverwirklichung beruhen ganz entscheidend auf diesem Vermögen und entsprechen der Frage: Was will ich sein? Als was will ich gelten? Somit beinhaltet die Theorie der freien Willkür, selbst mit der Einschränkung, dass sie sich in Ausrichtung auf empirische Zwecke vollzieht, einerseits die Möglichkeit von Handlungsweisen, die beinahe ohne das reflexive menschliche Potenzial erfolgen und erweitert das Handlungsspektrum bis hin zu einer Form der willentlichen Selbstbestimmung von Akteuren, die das Potenzial zum Entwurf des eigenen Persönlichkeitsbildes, das in naher oder ferner Zukunft verwirklicht werden soll, einschließt, und einen Lebensplan konzipiert, der für den entsprechenden Zeitrahmen verbindlich sein soll und ausschlaggebend für die Überwindung zufälliger Neigungen sein kann. Indem dieser Entwurf eines Persönlichkeitsbildes und des entsprechenden Lebensplans nicht nur ein entsprechendes zeitliches Intervall zwischen dem gegebenen Sinnesreiz, der entsprechenden Handlung und dem angestrebten Ziel eröffnet, sondern in seiner Konzeption auch zahlreiche inhaltliche Bestimmungen enthält, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang zu der gegebenen sinnlichen Affektion stehen, umfasst diese Theorie auch die Möglichkeit, dass ein Akteur nach der Vorstellung höchst komplexer Zwecke, Grundsätze und Strategien handelt und somit die einzelnen Handlungen in einen entsprechend komplexen Sinnzusammenhang einbettet, wodurch die Motivlage, die der Entscheidung

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für den Vollzug einer bestimmten Handlung zugrunde liegt, in jeder Hinsicht weit über den bloßen sinnlichen Antrieb hinausgeht. Dieses Vermögen geht weit über die in der Kritik der praktischen Vernunft genannte mechanische „Freiheit eines Bratenwenders“, der „wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet“ (KpV, A 174), hinaus. Dies stellt eigentlich den Bereich dar, in den die Überlegungen bezüglich der instrumentellen Rationalität gehören und die ich anfangs in Auseinandersetzung mit Pollok, Korsgaard, Bittner, Raz und Broome diskutiert habe. Sie setzen die Fähigkeit zum Triebaufschub voraus und betreffen das Verhältnis von Zwecken und Mitteln, sowie die Frage ihrer Werte, ihrer normativen und motivierenden Kräfte. Zwar trägt Kants knappe Definition des arbitrium liberum nichts zu dieser Debatte bei, doch trägt die entsprechende Debatte viel zum Verständnis dieser spezifischen Vollzugsweise des arbitrium liberum, nämlich in Ausrichtung auf empirische Zwecke und Grundsätze, bei. Dies ist insbesondere hinsichtlich der Rolle und Funktionsweise der „Rationalität“ der Fall, wenngleich man bedenken muss, dass Raz und Broome natürlich ein technisches Verständnis von Rationalität besitzen, das sich von Kants „Vernunft“ substantiell unterscheidet. Aber auch dies wurde oben erörtert. 3.1.3 Arbitrium liberum als Vermögen nach Zwecken zu handeln, „welche nur von der Vernunft vorgestellt werden“ und mitunter „in Ansehung unseres ganzen Zustandes“ begehrenswert sind Wenn also ein Akteur das Vermögen besitzt, nach der Vorstellung von dem, was selbst auf entfernte oder auf entferntere Art und Weise nützlich oder schädlich sein kann, die Antriebe der Sinnlichkeit zu überwinden (Vgl.: B 562, B 830), und wenn er imstande ist, Zwecke zu erwägen, die sowohl inhaltlich als auch zeitlich in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dem gegebenen Antrieb der Sinnlichkeit stehen, beinhaltet die entsprechende Form der freien Willkür den Freiraum, der zur vollen Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit nötig ist. Soll es allerdings in der Tat zur vollen Entfaltung der Persönlichkeit gelangen, so muss der Freiraum, den dieses Vermögen eröffnet, entsprechend genutzt werden. Eine ganz entscheidende Rolle nimmt in diesem Zusammenhang die Vernunft ein, indem sie eine dauerhafte Planungssicherheit und die entsprechende Erfolgskontrolle möglich macht; denn die Freiheit, als Vermögen nach der Vorstellung von Zwecken und Grundsätzen zu handeln, gelangt nur dann zu ihrer vollen Entfaltung, wenn die Zwecke und Grundsätze ebenfalls aus Freiheit gesetzt sind, das heißt, wenn der einzelne Akteur die Inhalte seines Willens ebenfalls frei bestimmt. Dieser Prozess aber, nämlich die Freiheit, die Inhalte seines Willens selbst zu bestimmen, kann entweder zufällig erfolgen

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oder ebenfalls nach vernünftigen Grundsätzen geschehen. Sofern dies zufällig erfolgt, stellt sich in Bezug auf die Planungssicherheit und Erfolgskontrolle bei der Ausübung der eigenen Freiheit ein gewisses Defizit ein. Soll aber ein Maximum an Planungssicherheit und Erfolgskontrolle denkbar sein, so beinhaltet der entsprechende Gedanke auch die Vorstellung, dass die Zwecke, beziehungsweise Willensinhalte, die angestrebt werden, nicht zufällig, sondern vielmehr bewusst aus eigener Freiheit, also nicht kontingent, sondern kontrolliert gesetzt werden. Sofern dies aber geschehen soll, ist es nötig, sich darüber zu vergewissern, nach welchen Grundsätzen bestimmte Zwecke gesetzt und andere unterlassen werden sollen. Daher führt der Gedanke einer dauerhaft erfolgreichen Ausübung und Entfaltung der Freiheit, sofern er mit der entsprechenden Planungssicherheit und Erfolgskontrolle verbunden sein soll, den begleitenden Gedanken mit sich, dass der einzelne Akteur das Vermögen besitzen muss, nicht nur dem einen oder anderen sich zufällig ergebenden Antrieb der Sinnlichkeit zu folgen, sondern vielmehr sein Handeln nach der Vorstellung von Zwecken auszurichten, beziehungsweise sich Willensinhalte zu setzen, die er nach gewissen Grundsätzen selbst bestimmt. An diesem Punkt sind wir wieder bei dem Gegenstandsbereich, der anfangs diskutiert wurde, angelangt, nämlich bei der Bedeutung der auf der Spontaneität der Vernunft beruhenden Normativität. Es ist selbstverständlich, dass dieses Konzept der Freiheit nur dann sinnvoll gedacht werden kann, wenn auch die Grundsätze, die für den einzelnen Akteur richtungsweisend sind, während er sich einzelne Zwecke beziehungsweise Willensinhalte vorgibt, ebenfalls ein Produkt seiner eigenen Freiheit darstellen und nicht zufällig an ihn herangetragen werden. Sollen sie aber ein Produkt seiner Freiheit darstellen und zudem nicht zufällig sein, so müssen sie als Produkt eines bestimmten gesetzgebenden Vermögens dieses Akteurs gedacht werden, so dass er die Grundsätze, die diesem Vermögen entspringen, als für sich verbindlich einsieht und zugleich als Ausdruck seiner eigenen Freiheit anerkennt. Dies ist bei allen Grundsätzen der Fall, von denen der einzelne Akteur sagt: „Das halte ich für vernünftig und geboten.“ Also können alle Grundsätze, die vom entsprechenden Akteur als vernünftig angesehen werden, zur Grundlage von Plänen dienen und eine entsprechende Erfolgskontrolle bei der dauerhaften Gestaltung von Willensinhalten gewährleisten. Sie ermöglichen die bewusste und kontrollierte Wahl zwischen konkurrierenden empirischen Gründen als Fürsprecher empirischer Handlungsoptionen. Ein Konzept der Freiheit als Vermögen nach der Vorstellung von Zwecken zu handeln, beruht also, sofern die entsprechende Planungssicherheit und Erfolgskontrolle denkbar sein soll, auf der Voraussetzung eines Vermögens, das gewisse Grundsätze erlässt, die entweder kategorisch oder hypothetisch

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gebieten, wie im Einzelnen gehandelt werden soll, beziehungsweise Gesetze und Richtlinien zur Verfügung stellt, auf deren Grundlage der einzelne Akteur die Inhalte seines Willens und Handelns auf kontrollierte Art und Weise zu bestimmen vermag. Darüber hinaus beinhaltet dieses Konzept der Freiheit unausweichlich den Gedanken, dass die entsprechenden Gesetze und Richtlinien, die eben diesem Vermögen, nämlich der Vernunft, entspringen, selbst als Ausdruck der eigenen Freiheit aufgefasst werden, beziehungsweise selbst Gegenstände des eigenen Willens darstellen, also vom Akteur selbst gewollt werden. Ist dies nicht der Fall, hat man es mit einem vernunftdeterministischen Konzept zu tun, das signifikant von Kants Theorie der Freiheit und Normativität abweicht. Nicht zuletzt stellt die Vernunft das Vermögen dar, das erwägt, welche Zwecke „in Ansehung unseres ganzen Zustandes“ (KrV, B 830) begehrenswert sind. Sofern also eine entsprechende Unterscheidung der Zwecke, nach denen die freie Willkür zur Ausübung gelangen kann, erfolgt, kann angenommen werden, dass Zwecke denkbar sind, die in unmittelbarer inhaltlicher und zeitlicher Nähe zum gegebenen Antrieb der Sinnlichkeit stehen, Zwecke die inhaltlich oder zeitlich, beziehungsweise sowohl inhaltlich als auch zeitlich in größerer Distanz zum gegebenen Antrieb der Sinnlichkeit stehen und letztendlich die Vorstellung von dem, was „in Ansehung unseres ganzen Zustandes“ begehrenswert ist. Daher ergibt sich sogleich die Frage, was denn „in Ansehung unseres ganzen Zustandes“ begehrenswert sein kann. Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden. Denn nicht bloß das was reizt, d.i. die Sinne unmittelbar afficirt, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden; diese Überlegungen aber von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswert, d.i. gut und nützlich ist, beruhen auf der Vernunft. (KrV, B 830) Der entsprechende Satzabschnitt beinhaltet zwei in diesem Kontext interessante Aussagen, nämlich erstens die Aussage, dass die Überlegungen von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert ist, auf der Vernunft beruhen, und zweitens eine Erläuterung dessen, was der Ausdruck „in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswert“ bedeutet, nämlich „gut und nützlich“. Es ist naheliegend anzunehmen, dass der Ausdruck „gut und nützlich“ alternativ auch mit einer sowohl-als-auch-Konstruktion umschrieben werden könnte, also: „sowohl gut als auch nützlich“ meint. Sofern

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dies der Fall ist, und das wird hier durchaus angenommen, kann im Folgenden gezeigt werden, dass Kant an dieser Stelle bereits auf das Ideal des höchsten Guts abzielt, indem er die Totalität dessen, was gut, mit der Totalität dessen, was nützlich ist, verbindet und das summum bonum als ultimatives Ziel des vernünftigen Strebens profiliert. Wenn nämlich die Totalität dessen, was gut ist, die Sphäre des Moralischen und die Totalität dessen, was nützlich ist, die Sphäre des Pragmatischen bezeichnet, wäre das, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert ist, letztendlich die Totalität unseres moralischen und pragmatischen Strebens193 somit eine Form der aus eigener Freiheit hervorgebrachten Glückseligkeit und zwar nach Grundsätzen, die ebenfalls aus der eigenen Freiheit gesetzt sind. Wie dies im Einzelnen zu verstehen ist, wird später im Detail erörtert. An dieser Stelle wird die These vertreten, dass der entsprechende Ausdruck, nämlich: „was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert ist“, mitsamt der Spezifikation, dass dies „gut und nützlich“ sei, auf das höchste Gut abzielt. Demnach, würde der entsprechende Satz auch die Aussage enthalten, dass die Überlegungen vom höchsten Gut, das als letzter Bestimmungsgrund der Freiheit dient, auf der Vernunft beruhen. Das wäre wiederum eine Aussage, die in keinerlei Art und Weise kontrovers oder spektakulär wäre. Sofern man die entsprechenden Überlegungen unabhängig von Kants Theorie der Freiheit und unabhängig von der Begriffsgeschichte des arbitrium liberum diskutiert, könnte man zwar möglicherweise überlegen, ob es sinnvoll beziehungsweise notwendig ist, dass eine Theorie der praktischen Freiheit ein Konzept des höchsten Guts beinhaltet, aber man würde sicherlich zustimmen, dass dieses Konzept, sofern es ein integraler Bestandteil der Theorie der Freiheit, also der kontrollierten willentlichen Selbstbestimmung sein soll, auf alle Fälle auf der Vernunft beruht und keineswegs aus der Sinnlichkeit entspringen kann. Ob diese Vernunft menschlich oder göttlich ist und was eigentlich „menschlich“ und „göttlich“ heißen soll, steht auf einem anderen Blatt. Im Hinblick auf die gesamte Theorie des Ideals vom höchsten Gut in der Kritik der reinen Vernunft ist diese Interpretation naheliegend. Ein genauerer Blick auf die Möglichkeiten, die im Zusatz „gut und nützlich“ enthalten sind, bestärkt sie und macht sie auch aus der Perspektive, die sich ohne Bezug auf die gesamte Struktur dieser Theorie einstellt, nachvollziehbar. Denn grundsätzlich ist es denkbar, dass eine Ausübung der freien Willkür nach Zwecken und Grundsätzen erfolgt, die zwar gut, aber nicht nützlich sind. Ebenfalls ist es möglich, dass sie nach der Vorstellung von Zwecken und Grundsätzen erfolgt, die zwar nützlich, aber nicht gut sind. Dies wäre dann der Fall, wenn jemand beispielsweise durch unlautere Geschäftspraktiken einen wirtschaftli193 Vgl. hierzu: Bojanowski 2006, 197.

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chen Gewinn erzielt, jenes Erstere aber, wenn jemand seinen moralischen Grundsätzen treu bleibt, selbst wenn er dafür einen geschäftlichen Gewinneinbruch oder gar Verlust in Kauf nehmen muss. Der kantischen Terminologie entsprechend würde die Ausübung der freien Willkür in Ausrichtung auf Zwecke, die gut sind, der moralischen Praxis entsprechen, während die Verfolgung von Zwecken, die nützlich sind, in die Sphäre des Pragmatischen fiele. Somit ist es durchaus denkbar, dass sich die freie Willkür im Einzelnen ausschließlich nach moralischen oder ausschließlich nach pragmatischen Zwecken richtet. Ersteres wäre dann der Fall, wenn ein moralisch gerechtfertigter Willensinhalt unter Missachtung dessen, was die pragmatische Vernunft gebietet, verfolgt wird. Soll in diesem Zusammenhang überhaupt die Hoffnung bestehen, dass er erreicht werden kann, so ist dies nur durch ein Wunder möglich, denn das Wunder, insbesondere im religiösen Kontext, stellt eben diese Willensstruktur dar: 1. Es wird ein moralisch gerechtfertigter Willensinhalt gesetzt. 2. Es wird eine Situation konstruiert, in der dieser Willensinhalt nach Naturgesetzen und sozialen Gesetzten unmöglich erreicht werden kann. 3. Es wird einem Akteur das Vermögen zugesprochen, durch Überwindung von Naturgesetzen und sozialen Gesetzten den moralisch gerechtfertigten Willensinhalt zu verwirklichen. Letzteres wäre dagegen der Fall, wann immer ein einzelner Akteur seine persönlichen Interessen verfolgt und währenddessen indifferent gegenüber der Frage ist, ob seine Handlungen moralisch sind oder nicht. Es ist unstrittig, dass beide Einseitigkeiten nicht in Kants Sinne sind und dass er für eine erfolgreiche Vereinigung dieser beiden Sphären einsteht. Unter diesen Umständen würde die Theorie der freien Willkür dann zur vollen Entfaltung gelangen wenn die einzelnen Akteure Willensinhalte verfolgen, die moralisch gerechtfertigt sind, zudem erkennen, welche Mittel geeignet sind, um diese Willensinhalte zu verwirklichen, sich dazu entschließen die entsprechenden Mittel zu ergreifen und letztendlich durch Ergreifung der geeigneten Mittel diese Willensinhalte verwirklichen. Dennoch sind in der Geschichte der Philosophie auch Positionen vertreten worden, die aus der hiesigen Perspektive als einseitig gelten können: Der Utilitarismus vertritt beispielsweise den Standpunkt, dass die Verfolgung von Zwecken, die nützlich sind, bereits eine moralische Qualität besitzt. Ähnlich argumentiert bereits Epikur in der Antike, wobei anstelle des Begriffs der Nützlichkeit für ihn der Begriff der Lust auftritt. Dem steht die stoische Theorie der intellektuellen Glückseligkeit gegenüber, die auf dem Bewusstsein der eigenen Tugendhaftigkeit beruht. Demnach ist ein Akteur, der das Bewusstsein seiner eigenen Tugendhaftigkeit besitzt, aufgrund dessen auch als glücklich anzusehen. Kants Auseinandersetzung mit der Stoa und Epikur wird an anderer Stelle nachgezeichnet und diskutiert. Es wird sich dort

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zeigen, dass Kant diese Positionen gerade aufgrund ihrer vermeintlichen Einseitigkeit berücksichtigt und in Auseinandersetzung mit ihnen seinen eigenen Standpunkt profiliert, dass die vollständige Entfaltung der Theorie der Freiheit auf einer erfolgreichen Vereinigung dessen, was gut, mit dem, was nützlich ist, beruht. Im Kontext seiner diesbezüglichen Ausführungen in der Kritik der praktischen Vernunft wird er explizit ein analytisches Verhältnis zwischen der Sittlichkeit und der Glückseligkeit von einem synthetischen Verhältnis dieser beiden Momente des höchsten Guts unterscheiden und dem Stoizismus sowie Epikureismus darum Einseitigkeit vorwerfen, weil sie mit der jeweiligen Präferenz der Sittlichkeit oder Glückseligkeit ein analytisches Verhältnis annehmen. Kant vertritt dagegen die Ansicht, dass zwischen der Sittlichkeit und der Glückseligkeit ein synthetisches Verhältnis besteht. Dies hat zur Folge, dass die Sittlichkeit für sich noch keine Glückseligkeit ausmacht und die Frage berechtigt ist, ob das Streben nach Sittlichkeit mit der Hoffnung auf Glückseligkeit überhaupt verbunden werden darf. Indem dieses synthetische Verhältnis für Kant in den umgreifenden Rahmen einer Theorie der Freiheit eingebettet wird, besteht zwischen den beiden Momenten ein praktisches Verhältnis der Hervorbringung. Thematisch ist somit die Hoffnung auf eine Glückseligkeit, die aus eigener Freiheit und unter Beachtung von Grundsätzen, die aus eigener Freiheit gegeben sind, eigens hervorgebracht wird. Dies wird im Zusammenhang mit der Kritik der praktischen Vernunft noch eigens erörtert. An dieser Stelle soll es lediglich dafür sensibilisieren, dass die Ausübung der menschlichen Freiheit nach vernünftigen Gesichtspunkten für Kant sowohl eine moralische als auch eine pragmatische Dimension beinhaltet und dass er an diesem Standpunkt auch über die Kritik der reinen Vernunft hinaus noch festhält.194 Es kann angenommen werden, dass die Formulierung, die freie Willkür könne in Ausrichtung auf Zwecke ausgeübt werden, die „in Ansehung unseres ganzen Zustandes“ begehrenswert sind, unter Beachtung des Zusatzes, dass dasjenige in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert ist, was zugleich „gut und nützlich“ ist, insgesamt auf den Gedanken führt, dass die volle Entfaltung der Freiheit nach der Ausrichtung von Zwecken erfolgt, die sowohl gut als auch nützlich sind, somit sowohl einen Ausdruck der moralischen als auch der pragmatischen Freiheit darstellen. Insofern wäre dasjenige, was bloß als gut, ebenso wie dasjenige, was bloß als nützlich gilt, nicht in 194 Vgl.: Pollok, K. 2007. Pollok erarbeitet diesen Gedanken im Ausgangspunkt von Kants Erörterungen in der Grundlegung, weswegen ich nur bedingt auf seine Arbeit verweisen kann, aber betone, dass sie höchst inspirierend für meinen eigenen Zugang zu dem hier thematischen Gegenstandsbereich war.

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Ansehung unseres „ganzen Zustandes“ begehrenswert, denn das erstere würde nur unserem vernünftigen beziehungsweise moralischen Wesen entsprechen, das letztere nur unserem sinnlichen, empirischen Wesen. In Ansehung unseres ganzen Zustandes wären dagegen nur solche Inhalte erstrebenswert, die auch unserem gesamten Wesen entsprechen, indem sie sowohl in intelligibler, beziehungsweise moralischer, als auch in sinnlicher, beziehungsweise pragmatischer, Hinsicht begehrenswert sind. Obwohl diese Überlegungen im Zusammenhang mit der Frage, was als gut und nützlich gelten könne, an gegebener Stelle durchaus aufschlussreich sind, erschöpfen sie mitnichten die Interpretation des entsprechenden Gedankens. Denn zusätzlich zu der Einsicht, dass das, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert ist, sowohl gut als auch nützlich ist, beinhaltet der Ausdruck „in Ansehung unseres ganzen Zustandes“ die Möglichkeit, auf die oben skizzierte Struktur möglicher Zwecke als Horizonte der Ausübung der freien Willkür zurückzugreifen und in diesem Sinne zwischen den oben genannten Zwecken und solchen Zwecken, die in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert sind, zu unterscheiden. Die oben genannten Zwecken würden dann als partikulare, endliche Zwecke gelten und zwar entweder in zeitlicher oder in inhaltlicher oder aber sowohl in zeitlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht. Dagegen wäre das, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert ist, nur als ein Willensinhalt denkbar, der weder zeitlich noch inhaltlich begrenzt ist, sondern jederzeit, überall und von jedem einzelnen vernünftigen Akteur als ultimative Zielrichtung der praktischen Freiheit gewollt werden kann. Im Vorausblick auf das, was noch erörtert werden muss, kann hier bereits angedeutet werden, dass der entsprechende Inhalt von Kant als Ideal des höchsten Guts, somit als Ideal der proportionierten Einheit von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit konzipiert wird und somit in inhaltlicher Kontinuität mit dem summum bonum als letztem Bestimmungsgrund des arbitrium liberum in der Tradition der christlichen Metaphysik steht. Somit stellt eine Erörterung der Frage, was genau unter dem Ideal des höchsten Guts zu verstehen ist, zugleich eine Erörterung der Frage, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes als begehrenswert gelten kann, und umgekehrt, dar. Sofern das, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert ist, von partikularen Zwecken unterschieden wird, müssen die Begrenzungen, die die Bestimmtheit einzelner empirischer Zwecke ausmachen, überwunden werden, und zwar in dreierlei Hinsicht: a)

Da empirische Zwecke für einen bestimmten Zeitraum gelten, also ein Zeitinterwall umfassen, das mehr oder weniger lang sein kann, muss das,

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was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert ist, jedes zeitliche Intervall überschreiten und somit in zeitlicher Hinsicht unbegrenzt gültig sein – es muss also jederzeit gelten. b) Da empirische Zwecke in inhaltlicher Hinsicht begrenzt sind, indem sie der Verwirklichung eines bestimmten, empirischen Willensinhalts entsprechen, muss das, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert ist, die Totalität dessen, was gewollt werden kann, darstellen, nämlich die (mit der Sittlichkeit proportionierte) Glückseligkeit.195 c) Da empirische Zwecke auf den Willensinhalten bestimmter einzelner Akteure beruhen, muss das, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert ist, auch diese Beschränkung überwinden und somit für jedes vernünftige Wesen gelten. Wenn nun ein weiterer Gedanke hinzugefügt wird, nämlich die Vorstellung, dass das, was erreicht werden soll, in der Tat ein Produkt der eigenen Freiheit darstellen soll, also aus eigener Freiheit hervorgebracht werden soll, so ist bereits die strukturelle Grundlage für die Theorie vom Ideal des höchsten Guts gegeben und es bleibt die Aufgabe bestehen, im Einzelnen nachzuzeichnen, wie sie von Kant zu einem Konzept der auf der Freiheit aller vernünftigen Wesen beruhenden proportionierten Einheit von Vernünftigkeit und Glückseligkeit verdichtet wird. 3.1.4 Zwischenergebnis Die Ausübung der freien Willkür anhand der Vorstellung empirischer, zufälliger Zwecke, ist zwar möglich und verheißt mitunter große Freude, setzt aber nicht viel Vernunft voraus und beinhaltet überdies ein geringes Maß an Erfolgskontrolle, weil sich die Willensinhalte zufällig einstellen. Sofern die Vernunft auf diesem Gebiet überhaupt tätig wird, erschöpft sie sich in zwei Leistungen: Erstens bewirkt sie, der Lehre der Klugheit entsprechend, die Vereinigung solcher empirischen Zwecke zu dem Gesamtziel der Glückseligkeit und empfiehlt zweitens die Wahl und Ergreifung geeigneter Mittel zu ihrer Erreichung. Die Grundsätze, die sie in dieser Sphäre der praktischen Freiheit erlässt, sind pragmatisch. (KrV, B 828) Pragmatische Grundsätze sind empirisch praktisch, niemals rein praktisch, mithin bloß komparativ gültig bzw. hypothetisch. Dementsprechend könnten sie in der Terminologie der Kritik der praktischen Vernunft eigentlich nicht als „praktische Gesetze“ bezeichnet 195 Die Glückseligkeit stellt in dieser Hinsicht darum die Totalität dar, weil sie von Kant an entsprechender Stelle als Befriedigung aller Neigungen extensive, intensive und protensive definiert wird.

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werden, sondern bloß als „praktische Grundsätze“ (Vgl.: KpV, A 35) mit subjektiver Verbindlichkeit. In der Kritik der reinen Vernunft zögert Kant zwar, sie als „reine Gesetze“ zu bezeichnen, spricht aber durchaus von Gesetzen. Dieser sprachliche Unterschied ist im Grunde genommen nicht von Bedeutung, denn die Unterscheidung von pragmatischen und moralischen Gesetzen wird, wie das folgende Zitat zeigt, von Kant speziell im Hinblick darauf getroffen, ob die Bedingungen der Ausübung der Freiheit, auf die die Vernunft durch solche Gesetze regulierend einwirkt, empirisch oder apriorisch sind. Dementsprechend wird auch der Geltungsbereich, also die Verbindlichkeit solcher Gesetze, bestimmt: moralische Gesetze gelten ausnahmslos, während die Verbindlichkeit pragmatischer Gesetze von inhaltlichen Bestimmungen des Willens abhängig, somit empirisch bedingt ist und nur unter bestimmten Bedingungen besteht: Wenn die Bedingungen der Ausübung unserer freien Willkür aber empirisch sind, so kann die Vernunft dabei keinen anderen als regulativen Gebrauch haben, und nur die Einheit empirischer Gesetze zu bewirken dienen, wie z. B. in der Lehre der Klugheit die Vereinigung aller Zwecke, die uns von unseren Neigungen aufgegeben sind, in den einigen, die Glückseligkeit, und die Zusammenstimmung der Mittel, um dazu zu gelangen, das ganze Geschäft der Vernunft ausmacht, die um deswillen keine anderen als pragmatische Gesetze des freien Verhaltens, zu Erreichung der uns von den Sinnen empfohlenen Zwecke, und also keine reinen Gesetze, völlig a priori bestimmt, liefern kann. Dagegen würden reine praktische Gesetze, deren Zweck durch die Vernunft völlig a priori gegeben ist, und die nicht empirisch bedingt, sondern schlechthin gebieten, Produkte der reinen Vernunft sein. Dergleichen aber sind die moralischen Gesetze. (KrV, B 828) Als vorläufiges Fazit kann festgehalten werden, dass der Gedanke an dieser Stelle der Kritik der reinen Vernunft seinen Ausgangspunkt nicht in der reinen praktischen Vernunft als einer absoluten Spontaneität transzendentaler Subjektivität nimmt und sich nicht unmittelbar mit der apriorischen Gestaltung der durch die Autonomie der Vernunft bestimmten Willensfreiheit dieses transzendentalen Subjekts befasst, sondern vielmehr von einem Minimalbegriff der typisch menschlichen Freiheit, nämlich einer sinnlich affizierten Willkür (arbitrium sensitivum) ausgeht und von dort aus zunächst das, auf diesem Planeten nur für uns Menschen typische, Vermögen bezeichnet, sich überhaupt über die Nötigung durch sinnliche Antriebe hinwegzusetzen und nach der Vorstellung von Zwecken und Grundsätzen zu handeln. Genau genommen besteht die

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Fähigkeit, die in der Definition der freien Willkür, arbitrium liberum, profiliert wird, zunächst darin, eventuelle Konsequenzen möglicher Handlungen zu berücksichtigen und die Attraktivität dieser Konsequenzen zu erwägen. Den Ausgangspunkt bildet hierbei stets die sinnliche Affektion als Gegenstand des empirischen Begehrungsvermögens. Daraufhin stellt sich die Neigung ein, auf diese oder jene Art zu reagieren. Kant spricht dem Menschen das Vermögen zu, in einer solchen Situation zu überlegen, welche Konsequenzen sich einstellen würden, sofern er diese oder jene Handlung vollzieht oder unterlässt, und zu beurteilen, ob er diese möglichen Konsequenzen für attraktiv oder unattraktiv hält. Im Anschluss an diese Beurteilung spricht er ihm das Vermögen zu, entweder die attraktivsten Konsequenzen anzustreben, indem er die dazu geeigneten Mittel, also die entsprechenden Handlungen, ergreift, oder sich der Neigung bzw. Trägheit hinzugeben und eine andere Handlung auszuführen bzw. gänzlich untätig zu bleiben. All dies ist dem Menschen möglich. In Ansehung der bewussten, willentlichen Lebensplanung und der bewussten Gestaltung der eigenen Freiheit – speziell im Hinblick auf die entsprechende Erfolgskontrolle bei der Ausübung seiner praktischen Freiheit – ist die erste Alternative vorzuziehen. Diese beruht, wie Kant feststellt, auf der Vernunft, ist also vernünftig. Man erkennt aber unschwer, dass in der Binnenstruktur der praktischen Freiheit, die sich von dem Vermögen, gegebene Stimuli zugunsten naheliegender Zwecke zu überwinden, bis hin zur Fähigkeit sein Leben nach der Vorstellung von Gesetzen, die der Autonomie der Vernunft entspringen, mithin nach moralischen Gesetzen, zu gestalten – dem in den Metaphysikvorlesungen so genannten „liberum arbitrium intellectuale“196 – erstreckt, eine gewisse Wertung enthalten ist, der zufolge die moralische Freiheit höher steht als der bloße „Prozess der Zerstreuung“.197 Diese Wertung entspringt aber nicht aus einem von außen herangetragenen moralisierenden Anliegen, sondern stellt eine Wertigkeit im Hinblick auf die Freiheit selbst, nämlich speziell im Hinblick auf die Verfügungsgewalt über die Inhalte der eigenen Selbstbestimmung und die Erfolgskontrolle bei der Entfaltung der Freiheit, dar. Der Prozess der Zerstreuung zeichnet sich gegenüber dem liberum arbitrium intellectuale dadurch aus, dass er im Hinblick auf die eigene inhaltliche Bestimmung, also 196 Siehe nächstes Kapitel. 197 Dies ist eigentlich ein Ausdruck Hegels, nämlich in der Psychologie, § 478, wo er die Willkür in ihrer Zufälligkeit beschreibt und von dem „Prozeß der Zerstreuung und des Aufhebens einer Neigung oder Genusses durch eine andere und der Befriedigung, die dies ebensosehr nicht ist, durch eine andere ins Unendliche“ spricht. Hegel, Enzyklopädie, § 478.

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die Setzung der Zwecke, nach denen er sich vollzieht, weitestgehend heteronom ist; die Zwecke stellen sich ihm ganz zufällig durch Neigungen ein und er besitzt überhaupt keine Verfügungsgewalt darüber, mithin überhaupt keine Erfolgskontrolle in diesem Bereich der praktischen Freiheit. Zudem ist die Wahl und Ergreifung der Mittel zur Verwirklichung seiner Zwecke hier ebenfalls von Neigungen abhängig, mithin zufällig und ihm selbst unverfügbar. Dagegen muss ein Subjekt, das den Anspruch erhebt, auch die Inhalte seiner willentlichen Selbstbestimmung aus eigener Freiheit zu gestalten, dies durch ein Vermögen, das sich nicht durch Rezeptivität auszeichnet, sondern über Spontaneität verfügt, tun. Ein solches Vermögen ist die Vernunft. Und wenn der Anspruch erhoben wird, dass bei solcher Gestaltung der eigenen Zwecke nicht der Zufall herrschen soll, sondern das Subjekt hier tatsächlich tut, was es will, also auf kontrollierte Art und Weise den Prozess seiner willentlichen Selbstbestimmung vollzieht, muss es solche Praxis auf beharrliche Gesetze gründen, die wiederum selbst der Autonomie der Vernunft entspringen. Der Grund dafür, dass das arbitrium liberum intellectuale einen leistungsfähigeren Begriff der praktischen Freiheit als der bloße Prozess der Zerstreuung darstellt, besteht darin, dass es sich durch ein höheres Maß an Erfolgskontrolle, mithin durch ein höheres Maß an wirklicher Selbstbestimmung auszeichnet. Dies ist auch der Grund, warum ich hier den Gedankengang anhand des Motivs der Erfolgskontrolle rekonstruiere; es wird sich zeigen, dass derselbe Gedanke auch den strukturellen Unterschied zwischen der empirischen Willkür und dem transzendentalen Willen, der in idealtypischer Form der maximal möglichen Entfaltung der praktischen Freiheit zugrunde liegen muss, und in der Kritik der reinen Vernunft als höchstes ursprüngliches Gut bezeichnet wird, beschreibt. Es wird sich auch zeigen, dass dieser Unterschied im Hinblick auf die Analytizität der Zweck-Mittel-Relation von entscheidender Bedeutung ist, da diese nur in Bezug auf den transzendentalen Willen, nicht aber in Bezug auf die kontingenten Umstände der Ausübung unserer freien Willkür in der empirischen Welt gilt. 3.1.5 Heranführung an das Problem der Erfahrbarkeit der praktischen Freiheit Wir haben also gesehen, dass die Theorie der freien Willkür, wie sie in der Kritik der reinen Vernunft präsentiert wird, einige Unterschiede zur Theorie der Willensfreiheit, die in der Kritik der praktischen Vernunft vorliegt, aufweist, und dass der wesentliche Unterschied die gedankliche Richtung betrifft: während die Theorie der Willensfreiheit in der Kritik der praktischen Vernunft im Ausgangspunkt von der Autonomie der Vernunft und dem Faktum des Sittengesetzes die freie, willentliche Selbstbestimmung des Subjekts

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beschreibt, beginnt die Theorie der freien Willkür beim gegebenen Antrieb der Sinnlichkeit und erschöpft sich weitgehend in der Fähigkeit, sich nach der Vorstellung von Zwecken, Grundsätzen und Werten über die Nötigung durch die gegebenen Antriebe der Sinnlichkeit hinwegzusetzen. Von substantieller Bedeutung für die gesamte Theorie der praktischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft, speziell für die Theorie vom arbitrium liberum, ist der Begriff der Nötigung. Dieser Begriff ist in zweierlei Hinsicht von Interesse: Erstens müsste angenommen werden, dass unsere Willkür jederzeit durch die Kausalität nach Gesetzen der Natur „genötigt“ wäre, wenn die Möglichkeit der transzendentalen Freiheit, also die Idee der Spontanursächlichkeit nicht bestünde. Zweitens aber, geht es in der Theorie der praktischen Freiheit nicht darum, die Nötigung überhaupt zu eliminieren, sondern die willentliche Selbst-Bestimmung zugleich als Selbst-Verpflichtung, also eine Form der Nötigung durch die Spontaneität der Vernunft, zu profilieren. Jene Form der Nötigung wird als Ausdruck der Fremdbestimmung, diese als Ausdruck der Selbst-Bestimmung angesehen. Ob nun der Leser die Auflösung der Freiheitsantinomie als überzeugend erachtet und die Ansicht vertritt, dass der Beweis der entsprechenden Denkmöglichkeit in der Tat vorliegt, ist seine eigene Sache, aber Kant ist mit den entsprechenden Erörterungen zufrieden198 und geht bei der Konzeption der praktischen Freiheit davon aus, dass die Möglichkeit der transzendentalen Freiheit in spekulativer Hinsicht erwiesen ist. Darum setzte auch ich diese Denkmöglichkeit voraus und nehme das Risiko in Kauf, dass meine weiteren Überlegungen nutzlos werden, sobald die kantische Theorie der transzendentalen Freiheit scheitert. Zweitens müsste gezeigt werden, was genau unter der Fähigkeit, sich über die Nötigung durch gegebene Antriebe der Sinnlichkeit hinwegzusetzen, gemeint ist. Auf der Idee der transzendentalen Freiheit „gründet sich“, wie Kant in der Auflösung der Antinomie (KrV, B 561) bemerkt, der praktische Begriff derselben, also der Begriff der praktischen Freiheit. In der Kritik der reinen Vernunft liegt meines Erachtens keine elaborierte Theorie vor, was es genau bedeuten soll, dass sich die praktische Freiheit auf der transzendentalen gründet. Aber dies scheint mir ein Ausdruck dessen zu sein, dass Kant die Frage als trivial 198 „Die Frage wegen der transzendentalen Freiheit betrifft bloß das spekulative Wissen, welche [oder welches, je nachdem, ob das Wissen oder die transzendentale Freiheit die Referenz darstellt] wir als ganz gleichgültig beiseite setzen können, wenn es um das Praktische zu tun ist, und worüber in der Antinomie der reinen Vernunft schon hinreichende Erörterung zu finden ist.“ (KrV, B 831 f., kursive Hervorhebung von mir.) Vgl. auch: Bojanowski 2006, 203; Vgl. auch meine Ausführungen zur Antinomie unten.

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erachtet, da er mit der entsprechenden Aussage wahrscheinlich nichts anderes meint, als dass die praktische Freiheit die transzendentale voraussetzt und dass die praktische Freiheit unmöglich wäre, wenn die transzendentale Freiheit unmöglich wäre. Denn ohne transzendentale Freiheit wäre der Triebaufschub überhaupt nicht möglich, ohne Triebaufschub ist das arbitrium liberum unmöglich und ohne arbitrium liberum wäre die praktische Freiheit nicht möglich. Das ist wahrscheinlich der ganze Bedeutungsgehalt der Aussage, dass sich das Vermögen der praktischen Freiheit auf der Idee der transzendentalen „gründet“. Nichtsdestoweniger ist diese Frage in der Kantforschung durchaus auf Interesse gestoßen und mitunter kontrovers diskutiert worden. Jedoch muss man sich bei der Erörterung dieser Frage davor hüten, dass man nicht wieder auf die Fragestellung, die ursprünglich in die Theorie der transzendentalen Freiheit gehört, zurückfällt, also die Frage, ob die Vernunft bei ihrem Anliegen, die Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten zu finden, zusätzlich zur Kausalität nach Naturgesetzen auch Kausalität aus Freiheit annehmen muss, oder, wie man das in den heutigen Debatten lapidar formuliert: ob der Wille überhaupt frei ist. Denn der Wille hat damit nichts zu tun. Der Wille stellt nämlich ein Vermögen bestimmter Akteure dar, von der transzendentalen Freiheit Gebrauch zu machen, falls dieselbe überhaupt gegeben ist. Es wäre nämlich sehr gut möglich, dass die transzendentale Freiheit durchaus gegeben ist, es aber auf dem ganzen Planeten und von mir aus im gesamten Universum überhaupt kein einziges Wesen gibt, das imstande ist, von dieser transzendentalen Freiheit Gebrauch zu machen; entweder weil es keine Lebewesen gibt, die über die Fähigkeit der willentlichen Selbstbestimmung verfügen oder weil es überhaupt keine Lebewesen gibt. Zu den meisten Zeitpunkten und an den meisten Orten im Universum ist dies sogar der Fall. Wenn also auf der ganzen Welt nur unbelebte Dinge existierten, könnte, selbst unter der Bedingung, dass transzendentale Freiheit durchaus möglich ist, niemand von dieser Freiheit Gebrauch machen. Es wäre ebenfalls möglich, dass die transzendentale Freiheit vorliegt und auf irgendeinem anderen Planeten Wesen existieren, die durch ein anderes Vermögen als den Willen davon Gebrauch machen können. Wer kann das schon wissen? Darum betrifft die Theorie des freien Willens einen ganz anderen Gegenstandsbereich, entwickelt also ein ganz anderes Narrativ. Kant widmet sich dieser Frage in der Kritik der praktischen Vernunft und der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und einige von uns wissen, was darin vorkommt. Ich werde mich diesem Gegenstandsbereich an gegebener Stelle ebenfalls widmen. Die Theorie der transzendentalen Freiheit sagt jedenfalls nichts über den Willen selbst aus und man muss, unter der Voraussetzung, dass transzendentale Freiheit denkbar

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ist, erst eigens eine Theorie der freien Willkür, also der auf der Vernunft beruhenden voluntativen Selbstbestimmung, oder des freien Willens entwickeln. Das entsprechende Narrativ ist nicht auf das Narrativ der transzendentalen Freiheit reduzierbar. Anders verhält es sich dagegen, falls es möglich ist, die Willensfreiheit ihrerseits zu beweisen – beispielsweise durch Erfahrung. Wäre dies möglich, hätte es weitreichende Konsequenzen für die Theorie der transzendentalen Freiheit, denn dann müsste man nicht großartig über die Frage spekulieren, ob Freiheit möglich ist, sondern müsste sich lediglich fragen, wie dieses Phänomen in der Naturphilosophie oder Naturwissenschaft adäquat beschrieben werden soll. Nun sagt aber Kant in der Kritik der reinen Vernunft an einer Stelle explizit, dass die praktische Freiheit durch Erfahrung „bewiesen“ werden kann (KrV, B 830) und an einer anderen, dass sie in der Erfahrung „erkannt“ werden kann (KrV, B 831). Falls dieser Beweis denselben Gegenstandsbereich betrifft, wie die Theorie der transzendentalen Freiheit, könnte man rückwirkend sagen, dass der Erfahrungsbeweis der praktischen Freiheit rückwirkend nicht nur die Denkmöglichkeit, sondern sogar die Wirklichkeit der transzendentalen Freiheit unter Beweis stellt. Daher ist beispielsweise Geismann199 der Ansicht, dass der entsprechende Beweis in der Kritik der reinen Vernunft, zwar erst vorläufig, aber immerhin, versucht wird, dass es aber erst in der Theorie der Willensfreiheit in der Kritik der praktischen Vernunft endgültig gelingt, die bloße Denkmöglichkeit der transzendentalen Freiheit im Rückgriff auf die Theorie vom Faktum des Sittengesetzes in der Tat zu bestätigen. In direkter Berufung auf A 82 in der Kritik der praktischen Vernunft, wo Kant explizit sagt, dass das moralische Gesetz „nicht bloß die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit“ (KpV, A 82) der Freiheit beweist, kann man Geismann selbstverständlich nur zustimmen. Seine Erörterungen beruhen auf einer konsequenten Unterscheidung zwischen der transzendentalen und praktischen Freiheit und ihren Gegenstandsbereichen und zeichnen sich dadurch aus, dass sie erstens die Theorie der praktischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft in der gebotenen Ernsthaftigkeit berücksichtigen und zweitens das Verhältnis zur transzendentalen Freiheit in Betracht ziehen; denn Geismann unterscheidet konsequent zwischen der Denkmöglichkeit der transzendentalen Freiheit und der Wirklichkeit der praktischen Freiheit, und erkennt überdies, dass die Wirklichkeit der praktischen Freiheit nur unter der Bedingung, dass das Sittengesetz in der Tat ein Grundgesetz der intelligiblen Welt darstellt, den nötigen Geltungsanspruch im Hinblick auf die Erweisbarkeit der transzendentalen Freiheit entfalten kann. Im Unterschied zu Geismann warnt 199 Geismann, G. 2007: Kant über Freiheit in spekulativer und praktischer Hinsicht. In: KS 98.

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Bojanowski davor, von dem Erfahrungsbeweis der praktischen Freiheit im Kanonkapitel der Kritik der reinen Vernunft auf die Wirklichkeit der transzendentalen Freiheit zu schließen.200 Dies ist in Bezug auf die praktische Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft sicherlich nicht falsch, denn hier liegt die Theorie, dass das Sittengesetz das Grundgesetz der intelligiblen Welt darstellt, noch nicht vor. Doch spricht der direkte Verweis auf A 82 in der Kritik der praktischen Vernunft auf lange Sicht eindeutig für Geismanns These, so dass wir im Allgemeinen durchaus behaupten können, dass Kant letztendlich den Standpunkt vertritt, dass die Erfahrbarkeit der praktischen Freiheit, deren ratio cognoscendi das Faktum der Vernunft darstellt, auch die Wirklichkeit der transzendentalen Freiheit beweist. Auf die Frage also, ob Kant die Denkbarkeit, Möglichkeit oder Wirklichkeit der transzendentalen Freiheit behauptet, können wir die zurückhaltende Antwort, die wir in Bezugnahme auf die Auflösung der Freiheitsantinomie geben, mit größerem Nachdruck formulieren und sagen, dass Kant durchaus die Wirklichkeit derselben behauptet: und zwar in der Kritik der Praktischen Vernunft, A 82, nämlich unter der Voraussetzung der Theorie vom Faktum der Vernunft und Sittengesetz als Grundgesetz der intelligiblen Welt. Da diese Voraussetzungen in der Kritik der reinen Vernunft noch nicht erfüllt sind, hat aber auch Bojanowski nicht Unrecht. Man darf jedenfalls bei der Erörterung des Verhältnisses von transzendentaler und praktischer Freiheit nicht wieder auf die Fragestellung der transzendentalen Freiheit zurückfallen, sondern muss in der Tat das Verhältnis zwischen der transzendentalen Freiheit, unter der Bedingung, dass sie überhaupt denkmöglich ist, und der praktischen Freiheit, die sich auf ihr gründet, untersuchen. Im Rahmen dieser Untersuchung spielt die Frage, ob die Willkür in transzendentaler Hinsicht frei ist, keine Rolle, denn dass sie frei ist, wird durch die Theorie der transzendentalen Freiheit vorausgesetzt. Dass wir Menschen das Vermögen der freien Willkür besitzen, stellt wiederum unseren eigenen Erfahrungsgehalt dar. Um dieses Verhältnis aber genau untersuchen zu können, war es nötig, die freie Willkür in ihrem ganzen Spektrum so detailliert darzustellen, wie ich es oben getan habe, und dadurch deutlich zu machen, dass das entsprechende Narrativ nicht auf die bloße Frage der dritten Antinomie reduzierbar ist, aber auch deutlich zu machen, dass das arbitrium liberum wesentlich mehr als die mechanische „Freiheit eines Bratenwenders“ darstellt.

200 Vgl.: Bojanowski 2006, 201f.

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3.1.6 Das „arbitrium liberum“ in den Metaphysikvorlesungen Da ich nun im nächsten Kapitel auf Kants umstrittene Behauptung, dass die praktische Freiheit „durch Erfahrung bewiesen“ werden könne, eingehen werde, dieser Erfahrungsbeweis aber ganz offensichtlich das arbitrium liberum betrifft, da darüber hinaus im gesamten Textkorpus der kantischen Philosophie der Ausdruck „arbitrium liberum“ nur an drei Stellen explizit vorkommt und ich zwei davon bereits genannt habe, will ich nun auch die dritte Stelle, nämlich diejenige aus den Vorlesungen über die Metaphysik, die von Pölitz 1821 herausgegeben wurden,201 berücksichtigen und schauen, ob sie erstens meine obige Interpretation unterstützt und zweitens, ob sie Hinweise enthält, die zuträglich für unser Verständnis davon sind, auf welche Art von „Erfahrung“ sich Kant hierbei beruft. In den Vorlesungen über die Metaphysik sagt Kant, soweit man dies der Nachschrift entnehmen darf, Folgendes: PM180 Das Vermögen, nach Wohlgefallen oder Mißfallen zu handeln, ist das praktische-thätige Begehrungsvermögen. Das Begehrungsvermögen soll also thätig seyn, und im Handeln bestehen. Allein unser Begehrungsvermögen geht noch weiter; wir begehren, | PM181 auch ohne thätig zu seyn, ohne zu handeln; das ist eine unthätige Begierde oder Sehnsucht, wo man etwas begehret, ohne es erlangen zu können. Die thätige Begierde aber, oder das Vermögen, zu thun und zu lassen, nach dem Wohlgefallen oder Mißfallen am Object, so fern es eine Ursache der thätigen Kraft ist, es hervorzubringen, ist die freie Willkühr (arbitrium liberum). Diese Begierde ist thätig und mächtig, und hat die Gewalt, das Begehrte zu leisten. Bei jedem arbitrio sind causae impulsivae. — Causae impulsivae sind Vorstellungen des Gegenstandes nach dem Wohlgefallen und Mißfallen, so fern sie die Ursache sind von der Bestimmung unserer Kraft. Jeder actus arbitrii hat causam impulsivam. — Die Causae impulsivae sind entweder sensitiv, oder intellectuell. Die sensitiven sind stimuli oder Bewegursachen, Antriebe. Die intellectuellen sind Motive oder Bewegungsgründe. Die erstern sind für die Sinne, die andern für den Verstand. Wenn die Causae impulsivae Vorstellungen des Wohlgefallens oder Mißfallens sind, die von der Art abhängen, wie wir von den Gegenständen afficirt werden; so sind das stimuli. Wenn aber die Causae impulsivae Vorstellungen des Wohl- und Mißfallens 201 Kant, I.: Vorlesungen über die Metaphysik. (Pölitz 1821), Akademie-Ausgabe Bd.XXVIII. 2, 1.2.

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sind, die da abhängen von der Art, wie wir die Gegenstände durch Begriffe, durch den Verstand erkennen; so sind das Motive. Stimuli sind Ursachen, || welche die Willkühr impelliren, so fern der Gegenstand unsere Sinne afficirt. Diese treibende Kraft der Willkühr kann entweder necessitiren, oder sie kann auch nur | PM182 allein impelliren. Die Stimuli haben also entweder vim necessitantem oder vim impellentem. Bei allen unvernünftigen Thieren haben die stimuli vim necessitantem; aber bei den Menschen haben die Stimuli nicht vim necessitantem, sondern nur impellentem. Demnach ist das arbitrium humanum nicht brutum, sondern liberum. Dieses ist das arbitrium liberum, so fern es psychologisch oder praktisch definirt wird. Allein dasjenige arbitrium, was durch gar keine stimulos necessitirt oder impellirt wird, sondern durch Motiven, durch Bewegungs­ gründe des Verstandes determinirt wird, ist das liberum arbitrium intellectuale oder transscendentale. Das arbitrium sensitivum kann wohl liberum seyn, aber nicht das brutum. Das arbitrium sensitivum wird nur von den stimulis afficirt oder impellirt; aber das brutum wird necessitirt. Der Mensch hat also eine freie Willkühr; und alles, was aus seiner Willkühr entspringt, entspringt aus einer freien Willkühr. Alle Arten von Marter können nicht seine freie Willkühr zwingen; er kann sie alle ausstehen und doch auf seinem Willen beruhen. Nur in einigen Fällen hat er keine freie Willkühr; z.E. in der zartesten Kindheit, oder wenn er wahnsinnig ist, und in der hohen Traurigkeit, welches aber auch eine Art von Wahnsinn ist. Der Mensch fühlt also ein Vermögen in sich, sich durch nichts in der Welt zu irgend Etwas zwingen zu lassen. Es fällt solches zwar öfters schwer aus andern Gründen; aber es ist doch möglich, er hat doch die Kraft dazu. Die causae impulsivae sind aber | PM183  vel subjectivae vel objectivae; nach den Gesetzen der Sinnlichkeit und nach den Gesetzen des Verstandes. Die Causae impulsivae subjectivae sind stimuli, und die objectivae sind Motive. — Die Necessitatio per motivas ist der Freiheit nicht entgegen, aber die Necessitatio per stimulos ist derselben gänzlich zuwider. Die freie Willkühr, so fern sie nach Motiven des Verstandes handelt, ist die Freiheit, die in aller Absicht gut ist. Dieses ist die libertas absoluta, welches die moralische Freiheit ist. Demnach stellt das arbitrium liberum ein Vermögen dar, auf eine bestimmte Art und Weise tätig zu werden, also zu „tun und zu lassen“, nämlich im Hinblick auf die Attraktivität des angestrebten Zwecks, oder, wie Kant oben

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sagt, nach dem „Wohlgefallen oder Missfallen am Objekt“. Die Vorstellung von der Attraktivität des angestrebten Zwecks stellt nach Kants Darstellung eine causa impulsiva dar, die durchaus imstande ist, das Subjekt zu der entsprechenden Tätigkeit zu bewegen. Nach Kants Dafürhalten können aber zweierlei causae impulsivae unterschieden werden, nämlich sensitive und intellektuelle, wobei die sensitiven als „stimuli“, bzw. „Bewegursachen, Antriebe“ bezeichnet werden. Diese Begriffsbestimmung hat für unser Verständnis der Theorie der praktischen Freiheit, die in der Kritik der reinen Vernunft vertreten wird, einige Bedeutung, denn die praktische Freiheit ist das Vermögen, sich über die Nötigung durch gegebene Antriebe der Sinnlichkeit hinwegzusetzen und wir sehen nun im Rückgriff auf die Vorlesungen über die Metaphysik, worüber wir uns eigentlich hinwegsetzen müssen, nämlich über die stimuli. Dagegen stellen die intellektuellen causae impulsivae „Motive“, bzw. „Beweggründe“ dar und fallen somit nicht in den Gegenstandsbereich dessen, worüber wir uns hinwegsetzen müssen. Ohnehin sind Letztere nur für den Verstand gegeben und stellen damit überhaupt keine Antriebe der Sinnlichkeit dar. Für die Definition des arbitrium liberum wird die Sache ab jetzt interessant: zusätzlich zu dem Vokabular, dass Kant in der Kritik der reinen Vernunft verwendet, speziell auf B 562, wird hier der funktionale Terminus „impelliren“ verwendet: demnach „impelliren“ alle Stimuli die Willkür, sofern der Gegenstand unsere Sinne überhaupt affiziert. Es ist aber ebenso wohl möglich, dass gewisse Stimuli nicht nur die Kraft besitzen, unserer Willkür zu impellieren, sondern sie auch zu bestimmten Handlungen zu nötigen: manche Stimuli besitzen also nicht nur eine bloß impellierende Kraft, „vim impellentem“, sondern auch eine nötigende Kraft, „vim necessitantem“, wie er sagt. Unsere menschliche Willkür stellt aber ein Vermögen dar, das durch gegebene Stimuli durchaus affiziert wird, worauf die Stimuli also eine impellierende Kraft besitzen, das aber durch dieselben nicht genötigt, also nicht necessitiert wird. Diese Definition unterscheidet sich überhaupt nicht von der, die wir aus KrV, B 562 und B 830 kennen. Nun kommt aber eine neue Aussage hinzu, die von Interesse ist: „Demnach ist das arbitrium humanum nicht brutum, sondern liberum. Dieses ist das arbitrium liberum, so fern es psychologisch oder praktisch definirt wird.“ Demnach stellt die Definition des arbitrium liberum, die wir oben erörtert haben, zunächst den bloß psychologischen Begriff der praktischen Freiheit dar. Diese Spezifikation ist ganz entscheidend, denn nur hiervon wird in B 830 ein ebenso psychologischer Erfahrungsbeweis behauptet. Davon unterscheidet Kant in den Vorlesungen über die Metaphysik das „liberum arbitrium intellectuale“, das nicht durch sinnliche Motive, also Stimuli, „sondern durch Motiven, durch Bewegungsgründe des Verstandes

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determinirt202 wird“. Dieses arbitrium liberum intellectuale entspricht nach meinem Dafürhalten der Vollzugsweise der freien Willkür dar, die sich nach der Vorstellung von Zwecken, die in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert sind und mitunter auf der Vernunft beruhen, vollzieht. Das arbitrium humanum umfasst also ein gewisses Spektrum, das sich von der Fähigkeit, sich nach der Vorstellung eines möglichen Wohlgefallens oder Missfallens über einen gegebenen Antrieb der Sinnlichkeit hinwegzusetzen, bis zur Fähigkeit, sich durch Beweggründe des Verstandes selbst zu bestimmen, erstreckt. Um diesem Spektrum gerecht zu werden, habe ich oben die Unterscheidung anhand der zugrunde liegenden Zwecke empfohlen. Auch in den Metaphysikvorlesungen vertritt Kant also die Theorie der freien Willkür, nämlich speziell der menschlichen Willkür, und führt darüber hinaus aus, dass dieses Vermögen allen Menschen, bis auf gewisse Ausnahmen, nämlich, wie er sagt: Kinder, Geisteskranke und Depressive, zukommt, und das sich durch dieselbe Struktur auszeichnet, die er auch auf B 562 dargestellt hat, nämlich indem es zwar sinnlich affiziert, aber nicht sinnlich necessitiert ist. Und nun nennt Kant etwas, das für das Verständnis des Erfahrungsbeweises, der in der Kritik der reinen Vernunft auf B 830 behauptet wird, sehr hilfreich ist, nämlich: Der Mensch fühlt also ein Vermögen in sich, sich durch nichts in der Welt zu irgend Etwas zwingen zu lassen. Es fällt solches zwar öfters schwer aus andern Gründen; aber es ist doch möglich, er hat doch die Kraft dazu. (PM 182) Auf diese Art und Weise ist nämlich erstens die Aussage zu verstehen, dass die praktische Freiheit durch Erfahrung bewiesen werden kann, und zweitens die Aussage auf B 831, dass sie nämlich in der Erfahrung erkannt werden kann. Wir erkennen praktische Freiheit, indem wir unseres Vermögens gewahr werden, uns durch nichts in der Welt zwingen zu lassen, sondern in der Begegnung mit gegebenen Stimuli selbst zu entscheiden, ob wir ihnen nachgehen möchten oder nicht. Der zweite Satz des obigen Zitats illustriert das entsprechende Phänomen sehr deutlich, indem er betont, dass hierin kein Automatismus vorliegt, sondern das mitunter einige Anstrengung nötig ist, um die gegebenen Antriebe, also gewisse Versuchungen, zu überwinden: aber

202 „Determiniert“ heißt hier nicht „genötigt“, sondern „bestimmt“. Es handelt sich also nicht um Determnismus, sondern um Selbstbestimmung.

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in letzter Konsequenz spricht er den Menschen durchaus „die Kraft dazu“ zu. „Der Mensch fühlt“ dies. Es handelt sich hierbei nicht um die sinnlich-gegenständliche Erfahrung, die typischerweise in der transzendentalen Elementarlehre thematisch ist, und die die Realität eines Gegenstandes, also sein Gegebensein in der Empfindung,203 bezeichnet und somit die objektive Realität gegenständlichen Seins betrifft. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine erstpersonale, introspektive Erfahrung eines eigenen Vermögens, die unabhängig vom Subjekt keinerlei für sich seiende Realität besitzt oder beansprucht. Deswegen kann der entsprechende Erfahrungsbeweis auch nicht ohne weiteres rückwirkend die transzendentale Freiheit beweisen, denn der hier zugrundeliegende Erfahrungsbegriff ist in objektiver Hinsicht unzureichend um das „spekulative Interesse der Vernunft“, das im Zusammenhang mit der transzendentalen Freiheit besteht, zu befriedigen. Vor diesem Hintergrund gehen wir im nächsten Kapitel auf eine in der Kantforschung sehr umstrittene Aussage aus dem Kanonkapitel ein, die aber vor dem Hintergrund unserer hiesigen Erörterungen und vor dem Hintergrund der Begriffsgeschichte des arbitrium liberum im Grunde genommen intuitiv zugänglich ist: „Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden“ (KrV, B 830). 3.2

Der „Erfahrungsbeweis“ der praktischen Freiheit (KrV, B 830)

In der Kantforschung herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Freiheit nach Kants Ansicht niemals bloße Erscheinung sein kann und dass sie infolgedessen auch niemals zum bloßen Gegenstand der, speziell sinnlichen, Erfahrung werden kann. Die Ansicht, dass in Kants Theorie der Freiheit konsequent zwischen der intelligiblen Sphäre und der Sphäre der Erscheinung unterschieden werden muss und dass die Freiheit in den Bereich des Inteligiblen fällt, gilt als Gemeinplatz. Im Zusammenhang mit Kants Theorie der transzendentalen Freiheit, worin die Frage erörtert wird, ob zusätzlich zur Kausalität nach Naturgesetzen auch Kausalität aus Freiheit angenommen werden muss, um die Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten zu denken, ist dies auch durchaus zutreffend.

203 Das transzendentale Schema der (Kategorie der) Realität ist, wie Kant im SchematismusKapitel ausführt, das Gegebensein in der Empfindung.

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Es ist allerdings keine Frage der Interpretation, sondern eine schlichte Tatsache, dass Kant in der Kritik der reinen Vernunft neben der Theorie der transzendentalen Freiheit, die speziell im Kontext der Freiheitsantinomie thematisch ist, eine Theorie der praktischen Freiheit entwickelt, von der er im Rahmen der Auflösung der Freiheitsantinomie (KrV, B 561) behauptet, ihr Begriff „gründe“ sich auf der transzendentalen Idee der Freiheit, und die er an der gleichen Stelle als „Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“ (KrV, B 562) definiert. Dieselbe Theorie der praktischen Freiheit entfaltet er im zweiten Hauptstück der transzendentalen Methodenlehre (KrV, B 823 ff.) und stellt in diesem Zusammenhang expressis verbis fest: „Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden.“ (KrV, B 830) Diese Aussage wiederholt er in leichter Modifikation auf der nachfolgenden Seite: „Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung,. . .“. (KrV, B 831) Daher muss im Zusammenhang mit der Frage, ob nach Kants Ansicht die Freiheit zum Gegenstand der Erfahrung werden kann oder nicht, konsequent zwischen der Idee der transzendentalen Freiheit und dem Vermögen der praktischen Freiheit unterschieden werden und es muss, speziell unter Berufung auf B 830 und B 831, zugestanden werden, dass die praktische Freiheit nach Kants Ansicht erstens durchaus zum Gegenstand der Erfahrung werden kann (KrV, B 831) und dass sie zweitens durchaus durch Erfahrung bewiesen werden kann. (KrV, B 830).204 Es steht also außer Zweifel, dass Kant die These vertritt, dass die praktische Freiheit in der Erfahrung bewiesen werden kann, aber es drängt sich die Frage auf, was genau unter dem Begriff der praktischen Freiheit, gerade in Abgrenzung zu der sich aller Erfahrung entziehenden transzendentalen Freiheit, zu verstehen ist und vor allen Dingen, welcher Erfahrungsbegriff hier zugrunde gelegt werden soll. Diesen Fragen wird im Folgenden nachgegangen. Selbst unter der Bedingung, dass man zwischen der Problemstellung in der Theorie der transzendentalen Freiheit und der praktischen Freiheit unterscheidet, wirkt sich der Begriff der „psychologischen Freiheit“ (KrV, B 476), von der Kant im Kontext der Auflösung der Antinomie spricht, mitunter irritierend aus. Geismann spricht darum im Zusammenhang mit der Theorie der praktischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft bloß von einem „komparativen

204 Vgl. hierzu: Geismann, G. 2007: Kant über Freiheit in spekulativer und praktischer Hinsicht. KS 98.

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Freiheitsbegriff“,205 der zwar auf der Theorie der transzendentalen Freiheit beruht, aber seinerseits nichts zur Festigung dieser Theorie beizutragen hat. Aber erst das moralische Bewusstsein des Unterworfenseins unter das Gesetz der Vernunft sichert auch der transzendentalen Idee der Freiheit (negativ) als der Unabhängigkeit der Vernunft von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt und (positiv) als des Vermögens der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein, also des Vermögens ihrer Selbsttätigkeit (Selbstursächlichkeit) oder Urheberschaft, objektive Realität in praktischer Beziehung.206 Nichtsdestoweniger erkennt Geismann Kants Standpunkt an, dass im Hinblick auf das praktische Interesse der Vernunft der spekulative Beweis der transzendentalen Freiheit nebensächlich ist.207 An derselben Stelle bringt er auch ein bestimmtes Grundproblem der gesamten Kant-Debatte zum Ausdruck, das darin besteht, dass man die größten Schwierigkeiten hat, Kants Standpunkt zu folgen, dass man im Hinblick auf die praktische Freiheit das spekulative Problem der transzendentalen ersten Ursache und Selbstursächlichkeit tatsächlich auf sich beruhen lassen könne,208 was übrigens die zentrale Aussage des Textabschnitts B 831 im Kanonkapitel darstellt und worin die Aussage enthalten ist, dass die praktische Freiheit in der Erfahrung erkannt werden könne. Bedenkt man, dass die aktuellen Debatten zum Thema Freiheit weitgehend innerhalb des begrifflichen Rahmens von Determinismus und Indeterminismus, Kompatibilismus und Inkompatibilismus geführt werden, sieht man, dass die Verdichtung des Interesses und der Debatte auf das Verhältnis zwischen der lückenlosen Gültigkeit der Naturgesetze und der ihr entsprechenden Lückenlosigkeit der kausalen Verknüpfung von Ereignissen 205 Dagegen vertritt Bojanowski, m.E. ebenfalls mit großer Berechtigung, den Standunkt, dass Kant im Kanonkapitel „keinen relativen, sondern einen absoluten Freiheitsbegriff ansetzt“ und dass „Dialektik und Kanon konsistent sind“. (Bojanowski 2006, 19; vgl. auch: Bojanowski 2006, 20) Entscheidend ist die Frage, wie man den Ausdruck „komparativ“ verwendet. Sofern er so verwendet wird, wie von Kant in der KpV, A 174, nämlich als mechanische „Freiheit eines Bratenwenders“, denke ich, dass das arbitrium liberum speziell als arbitrium liberum intellectuale selbstverständlich weit darüber hinausgeht und man durchaus von mehr als einem komparativen Begriff der praktischen Freiheit in der KrV sprechen muss. 206 Geismann 2007, 291. 207 Geismann 2007, 284. 208 Vgl. hierzu als Gegenposition: Schönecker 2005, auf dessen Arbeit ich im folgenden Abschnitt detailliert eingehe.

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einerseits und Handlungs- oder Willensfreiheit andererseits erfolgt. Falsch ist das nicht, aber man muss bedenken, dass dies für Kant in den Bereich der Erörterungen der Theorie der transzendentalen Freiheit im Kontext der dritten Antinomie gehört und nicht in den Kanon der reinen Vernunft. Im Kanon wird nämlich unter der Voraussetzung der Möglichkeit der transzendentalen Freiheit der Standpunkt vertreten, dass für den praktischen Gebrauch, also im Hinblick auf die Frage, was ich, unter der Bedingung, dass ich frei handeln kann, vernünftigerweise tun soll, und was ich dann hoffen darf, das Verhältnis zwischen der Kausalität aus Freiheit und Kausalität nach Naturgesetzen keine Rolle mehr spielt. Bojanowski betont zu Recht, dass die Moralphilosophie „auf das Handeln des Menschen und damit auf sein Begehrungs- und nicht etwa Erkenntnisvermögen gerichtet ist“.209 Dies ist darum von entscheidender Bedeutung, weil es müßig ist, jede Debatte über die praktische Freiheit und insbesondere über die mit ihr einhergehende moralische Verantwortung immer wieder auf die Frage herunter zu brechen, was denn nun mit den Naturgesetzen sei. Darum ist auch Kants Formulierung auf KrV, B 831, dass uns dies für den praktischen Gebrauch gar nichts angehe, durchaus passend. Hier stellt sich lediglich die Frage, was ich tun soll, wenn ich frei bin, (KrV, B 828) und darüber hinaus speziell die Frage, die im Kanon zentral ist und auf die Theorie des höchsten Guts hinführt, nämlich: was ich hoffen darf, wenn ich tue, was ich soll. Ich gebe auch gerne zu, dass unter der Bedingung, dass alles, was in der Welt geschieht, ausschließlich nach Gesetzen der Natur geschieht und dass die menschliche willentliche Selbstbestimmung nicht zu den Gesetzen der Natur gehört und nicht als Naturphänomen anerkannt werden kann und bloße Illusion ist, die Frage, was ich tun soll, überflüssig ist, denn ich soll dann überhaupt nichts tun, sondern werde sehen, was mit mir geschieht. Aber es ist ein Zeugnis vor philosophischer Kultur, dass man imstande ist, einen Gegenstand ganz klar zu definieren und den ganz klar definierten Gegenstandsbereich präzise zu erörtern; und darum ist Kant durchaus berechtigt, festzuhalten, dass uns die Frage nach der Naturkausalität auf B 831 nichts angeht. Er hat dazu Einiges zu sagen, aber er tut dies nicht auf B 831, denn hierbei geht es uns um die „Vorschrift des Verhaltens“, und dafür reicht uns die Fähigkeit uns Handlungen selbst zuzuschreiben; und letztendlich kann, wie Geismann betont, die Tatsache, dass: „Menschen unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe aufgrund der Zwecke, die sie sich setzen, handeln können, (. . .) als empirischer Befund auch vom Fatalisten nicht bestritten werden“.210

209 Bojanowski 2006, 194. 210 Geismann 2007, 293.

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Die Denkmöglichkeit der transzendentalen Freiheit stellt nämlich zwar die Bedingung der praktischen Freiheit dar und diese beruht auf jener; aber es ist gut und richtig und ein Zeugnis von philosophischer Bildung und Disziplin, eine gedankliche Figur, die einen Gegenstandsbereich unter einer bestimmten Voraussetzung erörtert, auch so zu thematisieren, nämlich indem man die Voraussetzung eigens fixiert, und anschließend erörtert, was unter dieser Voraussetzung denkbar ist. Die Denkmöglichkeit der Spontanursächlichkeit, also die Idee der transzendentalen Freiheit, gilt hier als Voraussetzung, auf der sich alle Erörterungen der praktischen Freiheit „gründen“ und mit der sie stehen und fallen; aber sie stellen, unter dieser Bedingung, einen eigenen Gegenstandsbereich dar und entwerfen ein eigenes Narrativ, das nicht auf die transzendentale Freiheit reduzierbar ist. Also hat Kant m. E. durchaus das Recht, auf B 831 zu sagen, dass uns die transzendentale Idee der Freiheit in diesem Kontext nichts mehr angeht: sie wurde an gegebener Stelle erörtert und wird nun als solche vorausgesetzt. Darum ist Geismanns Plädoyer für eine konsequente Trennung zwischen dem Gegenstandsbereich der transzendentalen Freiheit und dem Gegenstandsbereich der praktischen Freiheit in jeder Hinsicht zu begrüßen. Im Anschluss an die obigen Erörterungen im Zusammenhang mit der freien Willkür und in Berufung auf Kants Aussage, dass alles, was mit dieser als Grund oder Folge zusammenhängt, praktisch genannt werden kann (KrV, B 830), ist es naheliegend, dass die Erfahrung, auf die sich Kant als Beweis für die praktische Freiheit beruft, darin besteht, dass sich ein vernunftfähiger Akteur während der Ausübung seiner freien Willkür die Tatsache bewusst machen kann, dass er nicht bloß infolge eines gegebenen Antriebes der Sinnlichkeit, sondern unter Berücksichtigung der Attraktivität möglicher Konsequenzen handelt. Somit kann er sich speziell die Tatsache bewusst machen, dass er imstande ist, die Antriebe der Sinnlichkeit zu überwinden und nach eigenen Präferenzen zu handeln. Es handelt sich also um eine auf Introspektion beruhende, intrasubjektive Erfahrung, die mitnichten auf die intersubjektive Ebene der Erfahrung mentaler Zustände Dritter und der entsprechenden Zuschreibung von Freiheit übertragbar ist. Vielmehr erschöpft sich diese Erfahrung in der Selbstzuschreibung von Handlungen und der Übernahme der Verantwortung für das eigene Tun und Lassen. In Abgrenzung von dem strengen oder engen Erfahrungsbegriff, den Kant in spekulativer Hinsicht vertritt und der lediglich die Erfahrbarkeit raumzeitlicher Phänomene umfasst, handelt es sich hier um einen weiten Erfahrungsbegriff, der die introspektive, psychologische Dimension umfasst, die nicht auf raumzeitliche Phänomene, sondern auf die Sphäre der psychologischen Freiheit referiert, von der Kant sagt, dass ihr Begriff „großenteils empirisch“ sei. (KrV, B 476) Empirisch ist er zunächst

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nicht im Sinne des raumzeitlichen Mannigfaltigen, sondern im empirischpsychologischen Sinne. In diesem Sinne stellt auch Geismann fest, dass die Tatsache, dass „Menschen unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe auf Grund der Zwecke, die sie sich setzen, handeln können, (. . .) als empirischer Befund auch vom Fatalisten nicht bestritten werden“ kann.211 Auch nach Baums Ansicht ist diese praktische Freiheit „nichts Anderes als das aus der Erfahrung bekannte Vermögen des Menschen, sein Wollen und Belieben, das seinem Tun und Lassen zugrunde liegt, durch seine Vernunft selbst zu bestimmen“,212 und er hält an derselben Stelle fest, dass diese praktische Freiheit durch die ‚innere Erfahrung gesichert‘ ist. Er bezeichnet sie als „psychologische Freiheit unserer Willkür“ und wiederholt, dass sie für uns „durch Selbsterfahrung feststeht“.213 Auch Bojanowski vertritt den Standpunkt, dass wir „durch Selbstbeobachtung an uns feststellen [können], daß wir in der Lage sind, unsere unmittelbaren Handlungsimpulse durch Vorstellungen zu überwinden“,214 oder allgemeiner: „Wir können unsere unmittelbaren Handlungsimpulse propositionalisieren und sie mit unseren Grundsätzen vergleichen, um sie anschließend entweder aufzuhalten oder gewähren zu lassen.“215 Daher fährt er fort: „Diese ‚praktische‘ oder ‚psychologische‘ Freiheit können wir uns durch Erfahrung beweisen.“ Auch Recki ist der Ansicht, dass die praktische Freiheit, von der Kant an gegebener Stelle spricht, „den erfahrungsgesättigten Aspekt“ der transzendentalen Freiheit darstellt und dass „die Erfahrung des vernünftigen Handelns ihre Möglichkeit bezeugt“.216 Sie fügt hinzu, dass sich nach Kants Aussage auf B 826 der freie Wille in Handlungen äußert, dass also „Handlungen Phänomene desselben“ (KrV, B 826) darstellen und dass diese phänomenale Dimension der Freiheit erfahrbar sei.217 Schon 1992 hält Willaschek in seiner vielbeachteten handlungstheoretischen Rekonstruktion der kantischen Theorie der Freiheit fest, dass die praktische Freiheit – im Gegensatz zur transzendentalen, wie er ebenfalls betont – durch Erfahrung bewiesen werden kann und interpretiert diese Erfahrung folgendermaßen: „Sie besteht, wie Kant ausführt, in der Fähigkeit, unmittelbare 211 212 213 214 215 216

Geismann 2007, 293. Baum 2005, 34. Baum 2005, 37. Bojanowski 2006, 196. Bojanowski 2006, 197. Recki, B. 1998: Der Kanon der reinen Vernunft. „. . . nichts mehr als zwei Glaubensartikel?“. In: G. Mohr / M. Willaschek (Hgg.): Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. (Klassiker Auslegen, Band 17/18). 602. 217 Recki 1998, 602.

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Handlungsanreize, wie zum Beispiel gerade gegenwärtigen Hunger, mit Blick auf das, ‚was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich sein kann‘, also etwa die Gesundheit, zurückzustellen oder ganz zu unterdrücken.“218 Dagegen vertritt Schönecker, mit dessen Arbeit ich mich im nächsten Abschnitt auseinandersetze, den Standpunkt, dass der Erfahrungsbeweis der praktischen Freiheit fragwürdig ist und das von ihm so genannte „Kanonproblem“ sogar einen „eklatanten Widerspruch“219 in Kants Theorie der Freiheit offenbart. Auch Düsing ist sehr kritisch im Hinblick auf den Erfahrungsbeweis und die Erkennbarkeit der Kausalität aus Freiheit: „Da sie zur Welt der Dinge an sich gehört, ist uns die reale Möglichkeit solcher intelligiblen Kausalität nach Kants Erkenntnisrestriktion unerkennbar“.220 Jedenfalls muss in Bezug auf die Erfahrbarkeit unserer Freiheit konsequent zwischen dem Vermögen der praktischen Freiheit und der Idee der transzendentalen Freiheit unterschieden werden, denn das, was hier in praktischer Hinsicht in Bezug auf die Freiheit gilt, besitzt mitnichten dieselbe Gültigkeit auch in theoretischer, oder, wie Kant sagt, spekulativer Hinsicht. Es ist nämlich nicht gesagt, dass es in Berufung auf B 830 und B 831 richtig ist, zu behaupten, die transzendentale Freiheit könne durch Erfahrung bewiesen werden.221 Diese Behauptung stünde in einem starken Widerspruch zu dem, was im Rahmen der Theorie der transzendentalen Freiheit überhaupt erörtert wird; d.h., dass man bei der Beantwortung der Frage, ob die Vernunft bei der Suche nach der Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten zusätzlich zur Kausalität nach Naturgesetzen auch Kausalität aus Freiheit annehmen muss, jedenfalls nach dem Stand der Dinge in der KrV, nicht auf einen introspektiven Erfahrungsbeweis zurückgreifen kann. Aber Kants Argument beruht hier auf einer strengen Unterscheidung zwischen einem spekulativen und einem praktischen Interesse der Vernunft, wobei er die Ansicht vertritt, dass die erkenntnistheoretisch motivierte Frage innerhalb der spekulativen Beweisführung, die die Theorie der transzendentalen Freiheit betrifft, außer Acht gelassen werden kann, sofern es speziell um das Interesse der praktischen Vernunft, also ums Tun und Lassen sowie Hoffen, mithin um die Bestimmung des Begehrungsvermögens geht. Dies ist selbstverständlich nur dann möglich, wenn die transzendentale Freiheit durchaus angenommen werden kann und 218 Willaschek M. 1992: Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant. 48. 219 Schönecker 2005, 5. 220 Düsing, K. 2002: Subjektivität und Freiheit. Untersuchungen zum Idealismus von Kant bis Hegel. 214. 221 Genau genommen steht auf B 831 explizit, dass die Idee der transzendentalen Freiheit aller Erfahrung zuwider zu sein scheint.

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wenn es möglich ist, dass die praktische Freiheit auf dieser Annahme beruht; denn wenn es in spekulativer Hinsicht undenkbar wäre, dass zusätzlich zur Kausalität nach Naturgesetzen auch Kausalität aus Freiheit möglich ist, so wäre auch die praktische Freiheit unmöglich. Sofern aber die transzendentale Freiheit wenigstens denkbar ist, reicht dies aus, um sich in praktischer Hinsicht auf einen Erfahrungsbeweis zu berufen. Die Erfahrung, von der hier die Rede ist, besteht m. E. in der Selbstzuschreibung von Handlungen, die oben der Struktur des arbitrium liberum entsprechend beschrieben wurde und die somit eine bestimmte (empirische) Fähigkeit bestimmter (empirischer) Akteure, nämlich letztendlich handlungsfähiger menschlicher Subjekte, darstellt. Diese Selbstzuschreibung von Handlungen reicht für unser „praktisches“ Interesse, also die Frage, was wir tun und lassen sollen, aus, und es macht für uns in dieser Hinsicht überhaupt keinen Unterschied, ob in – wie Kant sagt – „spekulativer Hinsicht“ ein starker Naturalismus vertreten wird: es wird lediglich gefordert, dass ein eventueller starker Naturalismus den, wie Geismann sagt, „empirischen Befund“,222 dass gewisse Subjekte die Erfahrung machen, dass sie imstande sind, sich Handlungen selbst zuzuschreiben, als solchen, also als ein empirisches, psychologisches Phänomen und somit als Tatbestand der empirischen Naturforschung anerkennt. Also schreibt Kant: Ob aber die Vernunft selbst bei diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum durch anderweitige Einflüsse bestimmt sei, und das, was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernterer223 wirkender Ursachen nicht wiederum Natur sein möge, das geht uns im Praktischen, da wir nur die Vernunft um die Vorschrift des Verhaltens zunächst befragen, nichts an, sondern ist eine bloß spekulative Frage, die wir, solange als unsere Absicht aufs tun oder lassen gerichtet ist, beiseite setzen können. Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung,. . . (KrV, B 831) Die Frage wegen der transzendentalen Freiheit betrifft bloß das spekulative Wissen, welche224 wir als ganz gleichgültig beiseite setzen können, wenn es um das Praktische zu tun ist, und worüber in der Antinomie der reinen Vernunft schon hinreichende Erörterung zu finden ist. (KrV, B 831 f.) Die spekulative Beweisführung, die die Theorie der transzendentalen Freiheit betrifft, ist für Kant daher im Kontext der Erörterungen vom letzten Zweck 222 Geismann 2007, 293. 223 A: „entfernetern“; Valentiner: „entfernter“. 224 Kirchmann: „welches“.

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des reinen Gebrauchs der Vernunft und der darin zu Entfaltung gelangenden Theorie der praktischen Freiheit unwesentlich, denn sie ist nach seiner Ansicht ohne Bedeutung fürs „tun oder lassen“. Gerade in dieser Hinsicht aber, also im Hinblick aufs tun oder lassen, ist es jedem einzelnen vernünftigen Akteur möglich, die Erfahrung zu machen, dass er sowohl imstande ist, den Antrieben der Sinnlichkeit zu folgen, als auch diese Antriebe aus eigener Freiheit zu überwinden. Kant macht darauf aufmerksam, dass durchaus die Möglichkeit besteht, dass das, „was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernterer wirkender Ursachen [. . .] Natur sein möge“ (KrV, B 831). Somit schließt er mitnichten die Möglichkeit aus, dass eine entsprechende spekulativ-philosophische oder naturwissenschaftliche Position eingenommen werden könnte, die das, was dem einzelnen Akteur im Rahmen der Erfahrung, dass er sich über die Antriebe der Sinnlichkeit hinwegzusetzen vermag, als Freiheit erscheint, in anderer Hinsicht durchaus als Naturphänomen interpretieren könnte. Dass er diese Position nicht ausschließt, bedeutet allerdings mitnichten, dass er sie explizit vertritt. Der Standpunkt ist vielmehr dieser: Es ist unleugbar, dass der einzelne Akteur die Erfahrung machen kann, dass er imstande ist, sich über die Antriebe der Sinnlichkeit hinwegzusetzen und sich eine Handlung selbst zuzuschreiben, aber es ist ungewiss und bleibt offen, ob diese Erfahrung ihrerseits als Naturphänomen interpretiert werden kann. Unter einem bestimmten Gesichtspunkt allerdings, nämlich in Bezug aufs tun und lassen, also die Selbstzuschreibung von Handlungen und die Übernahme der Verantwortung, ist die spekulative Gedankenführung unwesentlich und die Berufung auf die eigene Erfahrung vollkommen ausreichend; denn gleichgültig, ob sich das, was dem Akteur als freie Willkür erscheint, in spekulativer Hinsicht in einen umgreifenden Begriff der Natur integrieren lässt oder nicht, bleibt dem Akteur die Erfahrung, dass er seine Handlungen nach der Vorstellung von Zwecken und Grundsätzen bestimmen kann; und diese Erfahrung ist vollkommen ausreichend für die entsprechende Selbstzuschreibung von Handlungen und somit auch für die inhaltliche Bestimmung der praktischen Freiheit, die auf der Erwägung beruht, welche Zwecke man über kurz oder lang überhaupt für attraktiv hält. Es ist darum müßig, darüber zu diskutieren, ob im Falle der Einsicht, dass das, was dem einzelnen Akteur als Ausdruck der eigenen Freiheit erscheint, in anderer Hinsicht als Natur interpretiert werden kann, die Frage: „Was soll ich tun?“, überflüssig wäre; aber es ist unleugbar, dass unter der Bedingung, dass die Frage: „Was soll ich tun?“, oder: „Was darf ich hoffen, wenn ich tue, was ich soll?“, thematisch ist, die Erfahrung, dass ich imstande bin, die Inhalte meines Willens selbst zu bestimmen, auf diesem Wege Triebaufschub zu leisten und

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mir die Handlungen selbst zuzuschreiben, ausreichend dafür ist, dass ich mich erstens Frage, welche Ziele und Grundsätze ich langfristig oder dauerhaft verfolgen will und dass ich zweitens die entsprechende Verantwortung für meine eigenen Handlungen, also die Handlungen, die ich mir selbst zuschreibe, indem ich die Erfahrung mache, dass sie meiner eigenen Spontaneität entspringen, übernehme. Gerade dies fällt aber in den Gegenstandsbereich des praktischen Interesses der Vernunft, also in den Bereich, der die „Vorschrift des Verhaltens“ (KrV, B 831) betrifft, und stellt somit eine eigene Herausforderung für die Philosophie dar. 3.2.1 Das von Schönecker beschriebene „Kanonproblem“ Dieter Schönecker macht in seiner Arbeit von 2005225 nachdrücklich auf ein bestimmtes Problem im Zusammenhang mit dem Erfahrungsbeweis der praktischen Freiheit aufmerksam und stellt die Frage, ob nicht zwischen einer bestimmten Formulierung auf B 831 und Kants Erörterungen im Kontext der Auflösung der Antinomie sogar ein Widerspruch besteht. Genau genommen formuliert Schönecker diesen Verdacht mit größerer Bestimmtheit, und spricht tatsächlich von einem „eklatanten Widerspruch“.226 Im Allgemeinen besteht das von ihm so genannte Kanon-Problem darin, dass gewisse Unregelmäßigkeiten zwischen der Theorie der praktischen Freiheit, die Kant im Kontext der Auflösung der Antinomie konzipiert, und Aussagen, die er in Bezug auf die praktische Freiheit im Kanon-Kapitel, speziell B 831, macht, erkennbar sind. Nach Schöneckers Dafürhalten konzipiert Kant im Kontext der Auflösung der Freiheitsantinomie einen transzendental-praktischen Begriff der Freiheit (Schönecker bezeichnet ihn in seiner Arbeit mit dem Kürzel „TPF“), während er im Kanon eine Naturalisierte-PraktischeFreiheit (NPF) konzipiert und vertritt. Es handelt sich hierbei nicht um den Unterschied zwischen der transzendentalen Freiheit und praktischen Freiheit, sondern um einen vermeintlichen Widerspruch innerhalb der Theorie der praktischen Freiheit selbst, die nach Schöneckers Urteil im Dialektik-Kapitel im Wesentlichen als Spontanursächlichkeit konzipiert wird und die darum im Kern transzendental ist, während sie im Kanon als erfahrbar und sogar als eine „Naturursache“ bezeichnet wird. Ebenso wie Baum und Bojanowski (wahrscheinlich auch Geismann), bin ich der Überzeugung, dass die Theorie der praktischen Freiheit, die in der Kritik der reinen Vernunft vertreten wird, durchaus widerspruchsfrei ist. Auch denke ich, dass die Zuspitzung auf die transzendentale Spontanursächlichkeit, 225 Schönecker, D. 2005: Kants Begriff transzendentaler und praktischer Freiheit. KSEH 149. 226 Schönecker 2005, 5.

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die Schönecker aufgrund der Formulierung, dass die praktische Freiheit ein Vermögen darstellt, sich unabhängig von Antrieben der Sinnlichkeit selbst zu bestimmen, vornimmt, infrage steht; denn ich interpretiere, wie man oben sieht, sowohl die Unabhängigkeit als auch die Fähigkeit sich selbst zu bestimmen handlungstheoretisch, also im Wesentlichen als Erfahrung der Fähigkeit, sich Handlungen selbst zuzuschreiben und auf diese Art und Weise die Kontrolle über sein Tun und Lassen zu übernehmen, und bin darüber hinaus der Überzeugung, dass das arbitrium liberum, wie oben gezeigt, ein wesentlich größeres Spektrum umfasst, als die bloße Idee der transzendentalen Spontanursächlichkeit. Die Unabhängigkeit, von der Kant spricht, bedeutet wahrscheinlich, um es in Baums Worten zu sagen, die Fähigkeit, unser Tun und Lassen durch die Vernunft selbst zu bestimmen und diese praktische Vernunft macht sich von den sinnlichen Begierden unabhängig227 indem sie die gegebenen Stimuli „überwindet“, indem sich also der Akteur in reflexive Distanz zum gegebenen Antrieb der Sinnlichkeit versetzt, die Kontrolle übernimmt und selbst bestimmt, was er tun und lassen will. Zudem sehe ich keinen Grund, infrage zu stellen, dass das arbitrium liberum an allen drei Stellen, an denen es genannt wird, identisch bleibt. Zwischen dem arbitrium liberum, das auf B 562 definiert wird, und dem arbitrium liberum, das auf B 830 definiert wird, besteht nach meinem Dafürhalten überhaupt kein Unterschied, geschweige denn ein eklatanter Widerspruch. Wenn aber die praktische Freiheit ganz wesentlich auf dem arbitrium liberum beruht, wie ich meine, da sie die Ausübung der freien Willkür unter maximal möglicher Anleitung der praktischen Vernunft darstellt, kann man mit einiger Berechtigung davon ausgehen, dass die Theorie der praktischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft, wie auch Bojanowski behauptet,228 konsistent ist. Die Frage ist allerdings, ob und inwiefern die Theorie der praktischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft identisch mit dem arbitrium liberum ist. Es ist nämlich empfehlenswert, zu fragen, worin eigentlich der genuin kantische Impuls besteht, der die Theorie des klassischen arbitrium liberum als praktische Freiheit im kantischen Sinne qualifiziert. Michael Wolf aus Bielefeld verdanke ich die Anregung, zwischen dem arbitrium liberum, das Baumgarten als Triebaufschub konzipiert, und der genuin kantischen Theorie der praktischen Freiheit zu unterscheiden und mich zu fragen, worin das innovative Moment der kantischen Theorie besteht; und ich sehe dieses Moment in der kritischen Reflexion der Selbst-Bestimmung, die für Kant ganz wesentlich auf der Spontaneität – in Abgrenzung von der Rezeptivität – beruhen muss, und sich, wie ich anfänglich gezeigt habe, als Fähigkeit artikuliert, nach der Vorstellung 227 Vgl.: Baum 2005, 34. 228 Bojanowski 2006, 193.

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von Grundsätzen und Gesetzen, die aus der reinen praktischen und empirisch praktischen Selbstgesetzgebung der Vernunft entspringen, zu handeln. Wenn dies aber so ist, was ja auch meine These ist, dann liegt Schönecker gar nicht so falsch, wenn er das Typische an Kants Theorie der praktischen Freiheit als transzendental-praktisch profiliert, also argumentiert, dass die praktische Freiheit, die auf der Idee der transzendentalen Freiheit beruht, im Grunde genommen als Transzendental-Praktische-Freiheit (TPF) bezeichnet werden kann; und sich fragt, wie denn diese TPF „erfahrbar“ sein soll. Wenn wir nämlich Schönecker zugestehen, dass es sich im Dialektik-Kapitel um TPF handelt, können wir leicht nachvollziehen, warum er die Formulierung auf B 830 und B 831, wo von der Erfahrbarkeit der praktischen Freiheit und zwar als „eine von den Naturursachen“ die Rede ist, für unplausibel hält. Die PatchworkOption, also die These, dass Kant im Kanon-Kapitel Versatzstücke aus der vorkritischen Theorie verwendet, und hinter den Stand der Dinge im DialektikKapitel zurück fällt, lehne ich ab. Also bleibt, nach allen Ausführungen über das arbitrium liberum, die ich oben präsentiere, nichts anderes übrig, als entweder Schöneckers Kritik anzuerkennen, oder anzunehmen, dass sich Kants Theorie der praktischen Freiheit in der KrV noch in der Entwicklung befindet, wobei das, was sich eigentlich entwickelt, die Theorie der TPF ist. Demnach stellt, wie Schönecker behauptet, die TPF durchaus den genuin kantischen Beitrag zur Theorie des arbitrium liberum dar, aber ich behaupte dennoch, dass in der KrV kein Widerspruch vorliegt, weil diese TPF, die Schönecker nur im Rückgriff auf Passagen aus der GMS und KpV belegt, vielleicht weder im Dialektik-Kapitel noch im Kanon-Kapitel endgültig entwickelt ist, sondern erst in der weiteren Überarbeitung der entsprechenden Passagen, die letztendlich als KpV in Erscheinung treten, wirklich entwickelt wird. Genau genommen zielt mein Argument auf das Begründungsverhältnis zwischen der transzendentalen und praktischen Freiheit: Anders als die Vertreter der PatchworkTheorie, gehe ich davon aus, dass Kants Theorie der praktischen Freiheit und arbitrium liberum nicht aus der vorkritischen Zeit übernommen ist, sondern Kant durchaus versucht, eine Theorie der praktischen Freiheit zu konzipieren, die sich substantiell vom bloßen Triebaufschub unterscheidet und zwar indem sie das eigentlich transzendentale, spontanursächliche Moment der willentlichen Selbst-Bestimmung profilieren will; dass aber Kant an der gegebenen Stelle (KrV sowohl B 562 als auch B 830) die entscheidende Idee noch nicht besitzt. Diese Idee wird erst das Faktum der Vernunft, also das Sittengesetz als Grundgesetz der intelligiblen Welt darstellen und zwar indem es ihn dazu befähigt, eine Theorie zu entwickeln, die sich nicht im Ausgangspunkt von einem gegebenen Stimulus, also nicht ursprünglich als ein arbitrium sensitivum, sondern im Ausgangspunkt von der Autonomie der Vernunft entwickelt. Diese Umkehrung der gedanklichen Richtung versetzt der kantischen Theorie

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der praktischen Freiheit den entscheidenden Impuls in Abhebung vom klassischen arbitrium liberum, aber eben erst in der Kritik der praktischen Vernunft. Erst dort hat Kant also, jedenfalls nach meinem Dafürhalten, ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, wie genau die praktische Freiheit auf der transzendentalen beruht bzw., um Schöneckers Vokabular aufzugreifen: was eigentlich die TPF ausmacht. Daher bin ich nicht sicher, ob Schönecker an der gegebenen Stelle, also B 562, nicht zu früh Theorieelemente aus der GMS und KpV hinzu zieht und von Willensfreiheit als Transzendental-Praktische-Freiheit spricht, wo diese Theorie von Kant erst erahnt, aber noch nicht entwickelt ist. Daher besteht zumindest die Option, dass die Theorie der praktischen Freiheit, von der Kant in B 562 spricht, viel näher am klassischen arbitrium liberum ist, als Schönecker annimmt, und Kant zwar die Idee entwickeln will, dass sie auf der transzendentalen Spontanursächlichkeit beruht, aber noch keine elaborierte Vorstellung davon hat, wie das möglich sein soll. Was berechtigt mich dazu, dies anzunehmen? Ich werde in meiner Analyse der Handlungsorganisation im höchsten Gut zeigen, dass Kants Theorie in der KpV seine eigene Theorie in der KrV insofern verbessert, als sich die ältere von beiden weitgehend in Reaktionen auf gegebene Sinneseindrücke erschöpft und darum auch verändert werden muss. Erst die Entwicklung der praktischen Freiheit im Ausgangspunkt von einem ursprünglichen Akt der Autonomie und bis hin zur einzelnen Handlung, stellt die TPF dar, die Schönecker bereits in der KrV, B 562 vermutet. Die entscheidenden Gedanken, die ich nach handlungstheoretischen Gesichtspunkten unter 1.2, insbesondere 1.2.3 erörtert habe, und die Kants Idee der auf wirklicher Spontanursächlichkeit beruhenden willentlichen Selbstbestimmung betreffen, werden von Kant in der KrV bereits angedacht, aber erst in der KpV ausgeführt und erst dort wird der erhobene Anspruch in Abhebung vom klassischen arbitrium liberum geltend gemacht. Daher komme ich nochmals auf die Anregung von Michael Wolf zurück und stelle fest, dass der Impuls, den Kant der Theorie der freien, menschlichen Willkür versetzt, tatsächlich Anlass gibt, zwischen dem klassischen arbitrium liberum und der praktischen Freiheit zu unterscheiden. Ich habe unter 1.2.3 angedeutet, und werde im Anschluss weiterhin zeigen, dass dieser Impuls als Spontaneität und auf der Autonomie der Vernunft beruhende Fähigkeit konzipiert ist, sich nach der Vorstellung von Gesetzen selbst zu bestimmen und nicht durch Stimuli fremd-bestimmen zu lassen. Daher handelt es sich, ganz in Schönckers Sinne, um TPF. Aber die Frage bleibt bestehen: Kann dieses innovative Moment bereits im Dialektik-Kapitel nachgewiesen werden, oder muss man dafür, wie Schönecker, Theorienelemente aus Kants späteren Werken hinzu ziehen. Oder anders gefragt: Wenn Schönecker darauf verzichtet, Theorieelemente aus der GMS und KpV an B 562 heran zu

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tragen – kann er dann zeigen, warum es sich hierbei um TPF handeln soll und worin der Unterschied zum klassischen liberum arbitrium besteht? Ich vertrete den Standpunkt, dass die entsprechende Theoriedynamik als gedankliche Entwicklung von der KrV zur KpV nachgezeichnet werden muss und dass zwischen der Theorie der praktischen Freiheit in der KrV und der KpV zwar substantielle Ähnlichkeiten bestehen – dass aber der entscheidende Gedanke erst in der KpV adäquat zum Ausdruck gelangt, indem die freie, kontrollierte willentliche Selbstbestimmung erst dort die adäquate Form und Struktur erhält. Daher stimme ich zwar Schönecker darin zu, dass das Problem der praktischen Freiheit „als eine von den Naturursachen“ auf B 831 besteht, aber ich bin im Zweifel, ob diesbezüglich irgendein Unterschied zwischen dem Dialektik-Kapitel und Kanon-Kapitel besteht: Ich sehe keinen Grund, anzunehmen, dass Kant im Dialektik-Kapitel einen anderen Standpunkt hinsichtlich des arbitrium liberum vertritt und auch keinen Grund, anzunehmen, dass das Verhältnis zwischen dem arbitrium liberum und der praktischen Freiheit an diesen zwei Stellen unterschiedlich ausfällt. Darum argumentiere ich gegen die These vom „eklatanten Widerspruch“ und behaupte vielmehr, dass Kant an beiden Stellen der KpV noch kein so ausgeprägtes Bewusstsein für das eigentlich innovative, transzendentale Moment der Theorie der praktischen Freiheit besitzt wie in der KpV, und dass ihn erst das entsprechende Bewusstsein endgültig vom klassischen arbitrium liberum abheben wird. Er besitzt in der KrV bereits eine leistungsfähige Theorie der transzendentalen Freiheit, aber wie sich genau die praktische Freiheit auf dieser „gründet“, wird er erst später zum Ausdruck bringen. Ich stelle also Schöneckers Argument insofern infrage, als ich gegenüber der These, dass wir im Dialektik-Kapitel bereits eine TPF antreffen, skeptisch bin. Nichtsdestoweniger beinhaltet die Passage B 831f. im Kanon-Kapitel eine Aussage, die uns in große Interpretationsnöte versetzt und Schwierigkeiten beinhaltet, auf die Schönecker zu Recht hinweist. Er verdichtet das Problem speziell auf eine Formulierung auf B 831, worin Kant die praktische Freiheit als „eine von den Naturursachen“ bezeichnet. Man muss zwar darauf hinweisen, dass diese Formulierung in der gesamten Kritik der reinen Vernunft nur ein einziges Mal vorkommt, und zwar in einem Kontext, in dem Kant argumentiert, dass die Denkmöglichkeit der transzendentalen Freiheit zwar eine Voraussetzung der praktischen Freiheit darstellt, dass aber ihre Erörterung erstens nicht in den Kanon gehört, und zweitens bereits erledigt ist. Das eigentliche Anliegen dieses Textabschnitts besteht darin, zu spezifizieren, mit welchen beiden Fragen wir es im Kanon noch zu tun haben, nämlich mit den Fragen: „ist ein Gott? ist ein künftiges Leben?“ (KrV, B 831). Darin wiederum kommt

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ganz beiläufig auch die obige Formulierung vor. Jedenfalls bleibt das Problem, auf das Schönecker hinweist, bestehen, und ich will es darum im Folgenden referieren und anschließend eine entschärfende Interpretation empfehlen. Ich wähle die folgenden Zitate aus Schöneckers Arbeit, um seine Darstellung des Problems zu fixieren: Die Freiheit des Willens, von der im Kontext dritten Antinomie geredet wird, ist also ohne jeden Zweifel die transzendentale Freiheit und damit das Vermögen unabhängig von Naturursachen einen Zustand ‚ganz von selbst‘ anzufangen. Um diese Freiheit geht es der Thesis und natürlich auch Kant.229 Und welchen möglichen Sinn könnte dann erst recht die nur einige Zeilen später [an anderer Stelle. Bemerkung S.J.] auftauchende und geradezu widersinnig anmutende These noch enthalten, wir erkennten „die praktische Freiheit durch Erfahrung, als eine von den Naturursachen“ (A803/B831, u.H.)? Freiheit‘ als eine von den Naturursachen‘ – was soll das bedeuten?230 Während Kant, wie Schönecker meint, die Freiheit im Kontext der Auflösung der Antinomie als Spontanursächlichkeit konzipiert, also als Vermögen, einen Zustand ganz von selbst anzufangen und zwar „unabhängig von Naturursachen“, spricht er im Kanon davon, dass wir die Freiheit als „eine von den Naturursachen“ erkennen können. Unter der Voraussetzung dass diese beiden Aussagen ein und denselben Gegenstandsbereich, also ein und dieselbe Theorie der Freiheit, nämlich die praktische Freiheit, betreffen, besteht hier in der Tat ein nicht zu leugnender Widerspruch. Wir müssen darum bald überprüfen, ob es sich hierbei tatsächlich um denselben Gegenstandsbereich handelt. Es geht jedenfalls um den folgenden Abschnitt: Ob aber die Vernunft selbst in diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum durch anderweitige Einflüsse bestimmt sei, und das, was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernterer wirkenden Ursachen nicht wiederum Natur sein möge, das geht uns im Praktischen, da wir nur die Vernunft um die Vorschrift des Verhaltens zunächst befragen, nichts an, sondern ist eine bloß speculative Frage, die wir, so lange als unsere Absicht aufs Thun oder Lassen gerichtet ist, bei Seite setzen können. Wir erkennen also die prak229 Schönecker 2005, 3. 230 Schönecker 2005, 4.

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tische Freiheit durch Erfahrung als eine von den Naturursachen, nämlich eine Causalität der Vernunft in Bestimmung des Willens, indessen daß die transscendentale Freiheit eine Unabhängigkeit dieser Vernunft selbst (in Ansehung ihrer Causalität, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen) von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt fordert und so fern dem Naturgesetze, mithin aller möglichen Erfahrung zuwider zu sein scheint und also ein Problem bleibt. Allein vor die Vernunft im praktischen Gebrauche gehört dieses Problem nicht, also haben wir es in einem Kanon der reinen Vernunft nur mit zwei Fragen zu thun, die das praktische Interesse der reinen Vernunft angehen, und in Ansehung deren ein Kanon ihres Gebrauchs möglich sein muß, nämlich: ist ein Gott? ist ein künftiges Leben? Die Frage wegen der transscendentalen Freiheit betrifft bloß das speculative Wissen, welche wir als ganz gleichgültig bei Seite setzen können, wenn es um das | Praktische zu thun ist, und worüber in der Antinomie der reinen Vernunft schon hinreichende Erörterung zu finden ist. (KrV, B 831 f.) Darin wiederum, geht es um den ersten Hauptsatz des zweiten Satzes, nämlich: Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung als eine von den Naturursachen, nämlich eine Causalität der Vernunft in Bestimmung des Willens, indessen daß die transscendentale Freiheit eine Unabhängigkeit dieser Vernunft selbst (in Ansehung ihrer Causalität, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen) von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt fordert und so fern dem Naturgesetze, mithin aller möglichen Erfahrung zuwider zu sein scheint und also ein Problem bleibt. (KrV, B 831) Kant spricht hier also von der Erkennbarkeit der praktischen Freiheit als einer Naturursache, allerdings einer „Naturursache“, die er gleich im nachfolgenden Nebensatz spezifiziert: „nämlich eine Causalität der Vernunft in Bestimmung des Willens“. Wir wissen aber sehr wohl, dass die Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens eine intelligible Kausalität ist, und würden den Satz unter Auslassung der Phrase „als eine von den Naturursachen“ auch völlig unkontrovers lesen, nämlich: „Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung (. . .), nämlich [als] eine Causalität der Vernunft in Bestimmung des Willens,. . .“. Genau so interpretiert auch Recki diese Stelle.231 Die Erfahrung, von der hier die Rede ist, ist selbstverständlich introspektiv (Kant würde sagen: psychologisch) und bezeichnet nicht die Fähigkeit, das arbitrium l­iberum 231 Recki 1998, 602.

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in den Handlungen Dritter zu erkennen, sondern sich selbst Handlungen zuzuschreiben und sich im Rahmen dieser Selbstzuschreibung als freier Akteur zu begreifen. Aber gerade weil diese Leseweise so naheliegend ist, ist Schöneckers oben zitierte Verwunderung, durchaus nachvollziehbar. Warum fügt Kant diese Bemerkung überhaupt ein? Es hilft nichts: wir müssen den ganzen Satz im Detail interpretieren, und schauen, ob wir eine Auslegung empfehlen können, die das von Schönecker genannte Problem ernst nimmt, aber auch eine Entschärfung anbietet. Der relevante zweite Satz des thematischen Textabschnitts lässt sich seinerseits sehr gut in zwei Sinnabschnitte einteilen, nämlich: 1. 2.

Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung als eine von den Naturursachen, nämlich eine Causalität der Vernunft in Bestimmung des Willens, indessen daß die transscendentale Freiheit eine Unabhängigkeit dieser Vernunft selbst (in Ansehung ihrer Causalität, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen) von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt fordert und so fern dem Naturgesetze, mithin aller möglichen Erfahrung zuwider zu sein scheint und also ein Problem bleibt. (Kursive Hervorhebung von mir.)

Ich empfehle folgende Interpretation: Der erste Sinnabschnitt beinhaltet eine substantielle Aussage im Hinblick auf die Theorie der praktischen Freiheit, der zweite eine ebenso bedeutende Aussage im Hinblick auf die Theorie der transzendentalen Freiheit, nämlich: (i) Der erste Abschnitt besagt, dass die praktische Freiheit durch Erfahrung erkannt werden kann. (ii) Der zweite Abschnitt besagt, dass die transzendentale Freiheit aller möglichen Erfahrung zuwider zu sein scheint. Demnach bezeichnen diese beiden Satzabschnitte nicht ein und denselben Gegenstandsbereich, sondern zwei unterschiedliche Freiheitsbegriffe. Der erste Abschnitt spezifiziert auch die Art und Weise, wie die praktische Freiheit durch Erfahrung erkannt werden kann, nämlich als Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens, die aber als „eine von der Naturursachen“ bezeichnet wird. Die Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens ist aber die intelligible Kausalität und sofern sie als Naturursache verstanden werden soll, muss es sich um einen Ausdruck der intelligiblen Natur, niemals aber um einen Ausdruck der sinnlich-empirischen Natur handeln. Würde es sich dabei aber

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um eine empirische Naturursache, also einen Ausdruck der sinnlichen Natur handeln, wäre das Problem tatsächlich in aller von Schönecker beschriebenen Härte gegeben. Ich will also eine Interpretation vorschlagen, die das Problem entschärft, indem sie zwischen der empirischen und intelligiblen Kausalität als Ausdruck der intelligiblen und empirischen Natur unterscheidet: In der Kritik der praktischen Vernunft (im Kontext der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft) definiert Kant „Natur“ auf folgende Art und Weise:232 Nun ist Natur im allgemeinsten Verstande die Existenz der Dinge unter Gesetzen. Die sinnliche Natur vernünftiger Wesen überhaupt ist die Existenz derselben unter empirisch bedingten Gesetzen mithin für die Vernunft Heteronomie. Die übersinnliche Natur eben derselben Wesen ist dagegen ihre Existenz nach Gesetzen, die von aller empirischen Bedingung unabhängig sind, mithin zur Autonomie der reinen Vernunft gehören. (KpV, A 74) Demnach kann der Begriff „Natur“, sowohl für die sinnliche als auch übersinnliche Natur verwendet werden233 und diese beiden unterscheiden sich im Hinblick auf die Art der Gesetze, nach denen sie bestimmt sind. Wenn „Natur“ die Existenz unter Gesetzen überhaupt darstellt, ist die sinnliche Natur die Existenz unter empirischen, die übersinnliche die Existenz unter intelligiblen Gesetzen, also speziell unter dem Sittengesetz. Vor diesem Hintergrund macht wiederum der Verweis auf den Satzteil, der mit „nämlich“ beginnt, durchaus Sinn, denn dann müsste man den von Schönecker problematisierten Satz auf folgende Art und Weise interpretieren: Wir erkennen die praktische Freiheit durch Erfahrung, indem wir uns auf eine intelligible Naturursache, nämlich die intelligible Kausalität des Sittengesetzes bei der Bestimmung des Willens berufen. Das ist auch in der Tat die Antwort, die Kant in der Kritik der praktischen Vernunft geben würde. Ob die entsprechende Position bereits an der gegebenen Stelle der Kritik der reinen Vernunft vorliegt, oder ob Kant hier nur die vage Ahnung einer Theorie besitzt, die er erst später entwickeln wird, kann

232 Ich verwende hier eine Definition aus der zweiten Kritik, weil sie sehr griffig ist, bin aber der Überzeugung, dass die darin enthaltene Aussage ohne Abstriche auf den transzendentalen Idealismus, der in der ersten Kritik vertreten wird, übertragbar ist. 233 Im Sprachduktus des Dialektikkapitels in der Kritik der reinen Vernunft würden wir hier von der emirischen und intelligiblen Natur sprechen und den bezeichneten Unterschied auf dem transzendentalen Idealismus in Abhebung vom transzendentalen Realismus gründen.

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ich nicht mit endgültiger Bestimmtheit sagen, aber ich kann darauf hinweisen, dass die entsprechende Unterscheidung zwischen der empirischen und intelligiblen Natur auch in der Kritik der reinen Vernunft ein Grundmotiv des transzendentalen Idealismus darstellt und dass die gesamte Thematik der Antinomie bzw. der Antinomien der reinen Vernunft eben darauf hinausläuft, den Standpunkt des transzendentalen Realismus zugunsten des transzendentalen Idealismus zu überwinden und der Vernunft die Aussicht auf eine höhere, nämlich intelligible Ordnung der Dinge zu eröffnen,234 deren „Grundgesetz“ Kant zwar erst in Form des Sittengesetzes als Faktum der Vernunft in der Kritik der praktischen Vernunft erkannt zu haben glaubt,235 deren Berücksichtigung aber auch für den transzendentalen Idealismus in der Kritik der reinen Vernunft von zentraler Bedeutung ist. Wenn also die Naturursache, von der Kant an der problematischen Stelle auf B 831 spricht, eine intelligible Ursache ist, steht die entsprechende Formulierung erstens durchaus im Einklang mit dem transzendentalen Idealismus, zweitens durchaus im Einklang mit der Gedankenführung im Zusammenhang mit der Auflösung der Freiheitsantinomie und vor allen Dingen im Einklang mit dem Nebensatz, der die Erfahrung, in der die praktische Freiheit erkannt werden kann, spezifiziert: „nämlich [als] eine Causalität der Vernunft in Bestimmung des Willens“. Ich gestehe, dass sich diese Interpretation viel besser vertreten ließe, wenn Kant auf den Zusatz „als eine von der Naturursachen“ verzichtet hätte, und gestehe ebenfalls, dass das Problem, auf das Schönecker hinweist, durchaus ernst zu nehmen ist: aber statt der von Schönecker empfohlenen Interpretation, die auf einen „eklatanten Widerspruch“ hinausläuft, empfehle ich eine Interpretation, die im Einklang mit dem transzendentalen Idealismus, der sowohl in der Kritik der reinen Vernunft als auch in der Kritik der praktischen Vernunft vertreten wird, steht, und die irreduzible Bedeutung der intelligiblen Natur speziell für die Theorie der praktischen Vernunft und praktischen Freiheit betont. Ich kann nur unterstellen, dass die „Causalität der Vernunft in Bestimmung des Willens“, von der Kant hier spricht, eine Präfiguration des Gegenstandsbereichs darstellt, der zu Beginn der Kritik der praktischen Vernunft die Frage betrifft, ob die reine Vernunft praktisch sein und aus eigener Spontaneität den Willen bestimmen könne, spreche mich aber darum für eine dynamische Kontinuitätsthese aus, weil sich das Problem dadurch entschärfen und diese Theorie der Freiheit ohne Widerspruch verstehen lässt.

234 Vgl. Abschnitt 6 unten. 235 Vgl. Abschnitt 5.2 unten.

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Entscheidend ist dafür aber die Verwendung eines weiten Erfahrungsbegriffs im Kontrast zu dem engen Begriff der Erfahrung, den Kant in der spekulativen Philosophie verwendet, und aus dem er die Freiheit ausschließt. Der enge Begriff der Erfahrung bezeichnet die Erfahrbarkeit raumzeitlicher Phänomene, während der weite Erfahrungsbegriff auch die introspektive, psychologische Dimension umfasst, die in der Begriffsgeschichte des arbitrium liberum allgegenwärtig ist und im Hinblick auf die Selbstzuschreibung von Handlungen und die Übernahme der Verantwortung für das eigene tun und lassen entscheidend ist. Da aber der hier thematische Abschnitt die Frage erörtert, was eigentlich für das tun und lassen entscheidend ist, und mit welchen Fragen wir uns im Kanon eigentlich auseinandersetzen müssen, denke ich, dass auch die Verwendung des weiten Erfahrungsbegriffs angemessen ist. Da die praktische Freiheit ganz entscheidend auf dem Vermögen der freien Willkür beruht, und sich dieses Vermögen signifikant von der bloßen Idee der transzendentalen Freiheit unterscheidet, besteht erstens die Möglichkeit, dass in Bezug auf das spezifische Vermögen der freien Willkür die These der Erfahrbarkeit vertreten wird. Auch dies stünde wieder im Einklang mit der Struktur des thematischen Satzes auf B 831, dessen erster Sinnabschnitt die Erfahrbarkeit der praktischen Freiheit behauptet, während der zweite behauptet, dass die transzendentale Freiheit nicht in der Erfahrung erkannt werden kann. Wenn aber zwischen dem Vermögen der praktischen Freiheit und der Idee der transzendentalen Freiheit unterschieden wird, kann man argumentieren, dass ein Vermögen empirisch erkannt werden kann, während eine Idee nicht empirisch erkannt werden kann. Unter diesem Gesichtspunkt müsste man den Ausdruck „eine von der Naturursachen, nämlich eine Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens“ als Vermögen der freien Willkür interpretieren und man würde zustimmen, dass dieses Vermögen ein empirisches Phänomen in der Welt darstellt, da manche Lebewesen darüber verfügen, andere nicht. Es ist nämlich überhaupt nicht a priori, sondern durchaus nur a posteriori erkennbar, dass auf diesem Planeten (jedenfalls nach Kants Dafürhalten) nur eine bestimmte Spezies über das Vermögen der freien Willkür verfügt, wodurch sie imstande ist, von der transzendentalen Freiheit Gebrauch zu machen. Dadurch behauptet Kant keineswegs, wie Schönecker unterstellt, dass dieses Vermögen der praktischen Freiheit im Kanonkapitel „als ‚Naturursache‘ möglich, also auch ohne die Voraussetzung transzendentaler Freiheit“236 denkbar sei. Dass nämlich die praktische Freiheit auf der Idee der transzendentalen Freiheit beruht, ist völlig unstrittig und die These, 236 Schönecker 2005, 5.

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dass sie als Vermögen erfahrbar ist, bedeutet mitnichten, dass sie nicht auf der Idee der transzendentalen Spontanursächlichkeit beruht. Es handelt sich wahrscheinlich lediglich um die Unterscheidung zwischen der Idee der Spontanursächlichkeit und dem Vermögen bestimmter Akteure, davon Gebrauch zu machen und es wird behauptet, dass die Idee nicht erfahrbar, das Vermögen aber in der Tat ein empirisch-psychologisches Phänomen, in dem Sinne, wie es Schönecker auf S. 25 selbst beschreibt, darstellt. Dass ein solcher Begriff in streng kantischem Sinne nicht für die Moral ausreichend ist, wie Schönecker auf S. 105 feststellt, ist unstrittig und dafür spricht die Neufassung der Theorie der praktischen, speziell moralischen Freiheit in der Kritik der praktischen Vernunft; aber diese Neufassung spricht ebenfalls dafür, dass in der Kritik der reinen Vernunft Gesichtspunkte vertreten werden, die nicht uneingeschränkt übernommen werden können, weswegen die Möglichkeit offen bleibt, dass Kant in der Kritik der reinen Vernunft eine Theorie der psychologischen Erkennbarkeit praktischer Freiheit vertritt, die er zugunsten einer Theorie der eigentlich kantischen Willensfreiheit aufgibt, in der die transzendentale und praktische Freiheit wesentlich enger verknüpft sind und das Begründungsverhältnis intensiver ausgearbeitet wird. Unter dieser Bedingung bleibt zwar die Aufgabe bestehen, im Detail zu erörtern, wie die praktische Freiheit auf der transzendentalen in der Kritik der reinen Vernunft beruht,237 und zu erörtern, ob überhaupt eine elaborierte Theorie hierzu entwickelt wird, oder ob dies erst in der Kritik der praktischen Vernunft geschieht, zudem bleibt eine gewisse Verwunderung über die Verwendung des Begriffs „Naturursache“ bestehen, aber man kommt ohne einen eklatanten Widerspruch aus und das halte ich für den besseren Weg. 3.3

Pragmatische und moralische Normativität der Vernunft

Die gesamte Theorie der praktischen Freiheit umfasst jedenfalls ein breites Spektrum an Möglichkeiten, das sich von der willentlichen Verfolgung von Zwecken, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einem gegebenen Antrieb der Sinnlichkeit stehen, bis hin zu der Fähigkeit, sein Leben nach der Vorstellung von Zwecken und Grundsätzen zu gestalten, die „in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert“, nämlich in dieser Hinsicht sowohl gut als auch nützlich sind, erstreckt. Die höheren Formen der Entfaltung dieser Freiheit beruhen auf der Leistungsfähigkeit der freien Willkür in Verbindung mit der Vernunft, denn die komplexeren Zwecke und Grundsätze, die als 237 Hiermit setzt sich Bojanowski detailliert auseinander. Vgl.: Bojanowski 2006, 200 ff.

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beharrliche Strukturen zur Gestaltung der praktischen Freiheit die Grundlage einer entsprechenden Planungssicherheit und Erfolgskontrolle darstellen, beruhen auf der Vernunft. Somit nimmt die Vernunft in dem Gesamtgefüge der Vermögen, die an der erfolgreichen Ausübung und Entfaltung der praktischen Freiheit beteiligt sind, eine spezielle und in gewisser Hinsicht herausragende Rolle ein, indem sie die Grundsätze festlegt, nach denen bestimmte Inhalte zum Gegenstand der freien Willkür werden sollen. Sie steht damit mitnichten in einem Konflikt mit dem empirischen Begehrungsvermögen, das empirische Willensinhalte als Antriebe der Sinnlichkeit an die Akteure heranträgt, sondern konzipiert im Kontrast zu dem, was der Fall ist, indem es als Neigung auftritt, dasjenige, was der Fall sein soll, indem es als Verwirklichung eines aus eigener Freiheit gesetzten Grundsatzes gilt. Sie stellt somit dasjenige Vermögen dar, das im Gesamtgefüge der an der praktischen Freiheit beteiligten Vermögen eine normative Funktion übernimmt, indem sie sowohl nach apriorischen als auch nach empirischen Grundsätzen bestimmt, was der Fall sein soll, wie also die Freiheit ausgeübt werden soll und was im Rahmen der Ausübung dieser Freiheit im Allgemeinen gewollt werden soll. Diese [die Vernunft] gibt daher auch Gesetze, welche Imperative, d. i. objektive Gesetze der Freiheit sind, und welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht, und sich darin von Naturgesetzen, die nur von dem handeln, was geschieht, unterscheiden, weshalb sie auch praktische Gesetze genannt werden. (KrV, B 830) Diese, auf ihrer eigenen Spontaneität beruhende Normativität der Vernunft, aus der praktische Gesetze entspringen, kann, sofern sie als integraler Bestandteil der praktischen Freiheit gedacht wird, grundsätzlich zwei Ausgangspunkte haben; nämlich entweder genau dort, wo auch die freie Willkür, arbitrium liberum, ihren Ausgangspunkt nimmt, nämlich beim gegebenen Antrieb der Sinnlichkeit, oder aber dort, wo die Autonomie der Vernunft ihren Ausgangspunkt hat, nämlich in ihrer eigenen Spontaneität. Im ersten Fall würden die Bedingungen zur Ausübung unserer sinnlichen Willkür als empirisch bezeichnet, im zweiten Fall wären sie a priori. Wenn die Bedingungen der Ausübung unserer freien Willkür aber empirisch sind, so kann die Vernunft dabei keinen anderen als regulativen Gebrauch haben, und nur die Einheit empirischer Gesetze zu bewirken dienen, wie z. B. in der Lehre der Klugheit die Vereinigung aller Zwecke, die uns von unseren Neigungen aufgegeben sind, in den einigen, die Glückseligkeit, und die Zusammenstimmung der Mittel, um dazu zu

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gelangen, das ganze Geschäft der Vernunft ausmachen, die um deswillen keine anderen als pragmatische Gesetze des freien Verhaltens, zu Erreichung der uns von den Sinnen empfohlenen Zwecke, und also keine reinen Gesetze, völlig a priori bestimmt, liefern kann. (KrV, B 828) 3.3.1 Pragmatische Gesetze, pragmatische Praxis Sofern also die Bedingungen der Ausübung unserer Freiheit empirisch sind, also im Ausgangspunkt von gegebenen Stimuli, beschränkt sich die normative Kraft der Vernunft auf die pragmatische Gesetzgebung, die zur Erreichung der uns von den Sinnen empfohlenen Zwecke dienen soll und in einem bestimmten Verhältnis zur Lehre der Klugheit steht.238 Die Lehre der Klugheit dient wiederum zur Vereinigung aller empirischen Zwecke unter den Gesamtzweck der Glückseligkeit und empfiehlt die Ergreifung geeigneter Mittel zur Hervorbringung bzw. Verwirklichung der einzelnen Zwecke, sowie der Glückseligkeit als Gesamtzweck. Der Ausdruck „Vereinigung“, den Kant in diesem Zusammenhang verwendet, entspricht seiner Auffassung von der Vernunft als Vermögen, die Totalität zu denken, also Mannigfaltiges zur Einheit zu bringen und diese Gesamtheit bzw. Einheit thematisch zu machen. Innerhalb des gegebenen Kontexts kann davon ausgegangen werden, dass Kant annimmt, dass mannigfaltige Zwecke durch das empirische Begehrungsvermögen an einzelne Akteure herangetragen werden und dass solche Zwecke auf Antrieben der Sinnlichkeit beruhen. Da die Antriebe der Sinnlichkeit aber kontingent sind, stellen sich auch die gegebenen empirischen Zwecke auf kontingente Art und Weise ein und es kann zunächst nicht ausgeschlossen werden, dass sie einander widersprechen. Es ist daher sehr wohl möglich, dass ein und demselben Akteur infolge gegebener Antriebe der Sinnlichkeit zwei empirische Zwecke gegeben werden, die einander widersprechen. Erinnern wir uns beispielsweise an den von Raz geschilderten Fall, in dem sich ein Akteur zwischen drei Filmen, nämlich A, B und C, für die jeweils gute Gründe, a, b und c sprechen, entscheiden soll und nehmen darüber hinaus an, dass dieser Akteur Lust auf alle drei Filme hat, sie aber nicht zugleich sehen kann, so sehen wir, wovon hier die Rede ist. Auch kann es vorkommen, dass jemand Lust hat, Sport zu treiben, aber auch Lust, auf der Couch liegen zu bleiben. Die Neigungen widersprechen sich manchmal und eine gleichzeitige Befriedigung aller gegebenen Neigungen ist nicht immer möglich. Sofern wir davon ausgehen, dass der Akteur über arbitrium liberum verfügt, ist dies an sich kein Drama, denn er kann sich in reflexive Distanz zum gegebenen Antrieb der 238 Vgl. hierzu: Bojanowski 2006, 197.

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Sinnlichkeit versetzen und wählen, welchem Zweck er nachgehen will und welchen er entweder aufschieben oder sogar unterlassen möchte; beispielsweise welchen Film er sofort sehen, welchen er eventuell zu einem anderen Zeitpunkt sehen will und welchen er eventuell überhaupt nicht mehr sehen will. Kant spricht in diesem Zusammenhang allerdings nicht allein von der Vereinigung aller empirischen Zwecke unter einander, sondern speziell von der Vereinigung aller empirische Zwecke unter den Gesamtzweck der Glückseligkeit. Wenn aber die Glückseligkeit als „Befriedigung aller unseren Neigungen, (sowohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade, und auch protensive, der Dauer nach)“ (KrV, B 834) definiert wird, kann dieser Gedanke nur unter der Voraussetzung gefasst werden, dass sich die einzelnen Neigungen nicht widersprechen; denn sofern sie sich widersprechen, ist die Befriedigung einer Neigung notwendigerweise mit der Negation einer anderen Neigung verbunden und es kann sich niemals der Zustand einstellen, worin sämtliche Neigungen in jeder Hinsicht befriedigt sind, was aber in der Definition der Glückseligkeit durchaus gefordert wird. Die Lehre der Klugheit übernimmt unter diesen Bedingungen die Funktion, die einzelnen Neigungen derart auf einander abzustimmen, dass sie sich erstens nicht unter einander widersprechen und zweitens nicht dem endgültigen Ziel des pragmatischen Strebens, nämlich der Glückseligkeit, widersprechen, während die pragmatische Vernunft eine analoge Funktion in Bezug auf die empirischen Grundsätze besitzt. Zudem ist es naheliegend, dass die pragmatische Vernunft auf diesem Gebiet auch dafür Sorge trägt, dass die einzelnen Grundsätze der Verfolgung des endgültigen Ziels, nämlich der Glückseligkeit, nicht abträglich sind. Vielmehr stellt die Ausrichtung auf die Glückseligkeit sogar eine wesentliche Bestimmung der pragmatischen Gesetze dar: „Das praktische Gesetz aus dem Bewegungsgrunde der Glückseligkeit nenne ich pragmatisch“ (KrV, B 834). Somit steht fest, dass die pragmatischen Gesetze „des freien Verhaltens, zur Erreichung der uns von den Sinnen empfohlenen Zwecke“ (KrV, B 828) neben der Dimension der Verfolgung einzelner, über kurz oder lang erstrebenswerter Zwecke auch die Dimension der Verfolgung der Glückseligkeit als Gesamtheit all dessen, was ein sinnliches Wesen begehren kann, umfassen. Wenn also die Glückseligkeit als Befriedigung aller unserer Neigungen in jeder Hinsicht definiert wird und die Aufgabe der pragmatischen Vernunft auf der Grundlage der Klugheitsregel darin besteht, die Vereinigung der Zwecke unter den Gesamtzweck der Glückseligkeit zu bewirken, so ist darin notwendigerweise die Aufgabe enthalten, die Widerspruchsfreiheit der Zwecke anzustreben und, wenn möglich, zu bewirken. Da aber die empirischen Zwecke dem empirischen Begehrungsvermögen entspringen, somit auf Antrieben

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der Sinnlichkeit beruhen, kann eine entsprechende Widersprüchlichkeit auf dieser Ebene nicht ausgeschlossen werden. Für die bloße Ausübung des arbitrium liberum wäre dies, wie gesagt, kein Drama, da es die Fähigkeit besitzt, die Attraktivität der Zwecke sowie möglicher Konsequenzen zu berücksichtigen und auf dieser Grundlage selbst in einem komplexen Geflecht von Motiven Entscheidungen zu treffen. Die Notwendigkeit, die Widerspruchsfreiheit empirischer Zwecke zu gewährleisten, ergibt sich erst insofern sie zu dem Gesamtzweck der Glückseligkeit zusammengebracht werden sollen; und zwar nur unter der Voraussetzung, dass die Glückseligkeit ebenso definiert wird, wie dies Kant in B 834 tut, nämlich als Befriedigung sämtlicher Neigungen in jeder Hinsicht. Würde es zur Glückseligkeit ausreichen, dass nur einige Neigungen befriedigt werden, könnte ein gewisses Maß an Widersprüchlichkeit geduldet werden. Würde es zur Glückseligkeit ausreichen, dass die Neigungen nur in einem gewissen Grad, also einem gewissen Maße befriedigt werden, könnte auch in dieser Hinsicht ein gewisses Defizit in Kauf genommen werden. Würde es zur Glückseligkeit ausreichen, dass die Neigungen zu bestimmten Zeitpunkten befriedigt werden und zu anderen nicht, so könnte auch hier ein gewisses Defizit in Kauf genommen werden. Indem Kant aber die Glückseligkeit als „Befriedigung aller unserer Neigungen“, und zwar „extensive, intensive und protensive“ definiert, also als Befriedigung sämtlicher Neigungen der Mannigfaltigkeit, dem Grade und der Dauer nach, ergeben sich gewisse Notwendigkeiten: die Befriedigung aller unserer Neigungen extensive ist nur unter der Bedingung möglich, dass zu einem gegebenen Zeitpunkt keine widersprüchlichen Neigungen auftreten. Dass die Glückseligkeit auch die Befriedigung aller unserer Neigungen protensive beinhaltet, macht es unmöglich, die Widersprüchlichkeit der Neigungen auf die Abfolge von Zeitpunkten zu verlegen und anzunehmen, dass es möglich wäre die einander widersprechenden Neigungen P und Q zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten nämlich t1 und t2 zu befriedigen. Die Glückseligkeit fordert in dieser Hinsicht nämlich die Befriedigung sämtlicher Neigungen auch im Hinblick auf deren Dauer. Indem aber sämtliche Neigungen auch intensive befriedigt werden müssen, reicht es nicht aus, die eine mehr, die andere weniger oder während eines längeren Zeitintervalls die eine mal mehr, die andere mal weniger und umgekehrt zu befriedigen. Also ergeben sich aus der Tatsache, dass Kant bei der Definition der Glückseligkeit keine Kompromisse eingeht, zugleich gewisse Forderungen an die Praxis der vernünftigen Wesen, die dieselbe hervorbringen sollen. Diese kompromisslose Definition der Glückseligkeit, die die tatsächliche Befriedigung gegebener Neigungen beinhaltet, hat allerdings in der Tat den

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Vorteil, dass sie zunächst einmal in Absehung der Frage, ob sie durch die Totalität der Praxis vernünftiger Wesen hervorgebracht werden kann oder nicht, wenigstens als solche, nämlich als Definition der Glückseligkeit überzeugend ist. Es entspricht nämlich durchaus der Intuition jedes vernünftigen Wesens, dass ein Zustand, in dem sämtliche seiner Neigungen, also jeder beliebige Inhalt seines Willens in jeder Hinsicht vollkommen befriedigt ist, und unter der Bedingung, dass die Befriedigung gegebener Neigungen einzelne Glückszustände erzeugt, als dauerhaftes Glück gelten kann; und dauerhaftes Glück ist Glückseligkeit. Die Forderungen aber, die mit diesem Begriff der Glückseligkeit unmittelbar an die Akteure herangetragen werden, entspringen nicht aus der Definition der Glückseligkeit selbst, sondern aus der Einbettung der Glückseligkeit in den umgreifenden Rahmen der Theorie der praktischen Freiheit und entstehen somit erst in Verbindung mit der Forderung, dass diese Glückseligkeit auch als Produkt der eigenen Praxis hervorgehe. Wenn nämlich die Gesamtheit aller vernünftigen Wesen durch die Totalität ihrer Praxis einen solchen Zustand der Glückseligkeit hervorbringen soll, muss sie auch aus eigener Kraft imstande sein, gewisse Störfaktoren zu beseitigen. Ein solcher Störfaktor ist die Widersprüchlichkeit der Neigungen, die sich jedem einzelnen Akteur einstellt. Ein weiterer Störfaktor ergibt sich dadurch, dass der empirische Willensinhalt eines Akteurs möglicherweise dem empirischen Willensinhalt eines anderen entgegenstehen könnte, weswegen Kant im nächsten Schritt seiner Darstellung und im Zusammenhang mit dem System der sich selbst lohnenden Moralität eigens auf diese Dimension hinweisen wird und betonen wird, dass ein solcher Zustand der sich selbst lohnenden Moralität, wodurch die Glückseligkeit, die auf der Totalität der vernünftigen, somit moralischen Praxis beruht, gemeint ist, nur unter der Bedingung möglich ist, das jedermann tue, was er soll, dass also die Praxis sämtlicher Akteure in voller Übereinstimmung mit der Autonomie der Vernunft steht. Aber darauf wird an gegebener Stelle eigens eingegangen. An gegebener Stelle wird auch auf einen dritten denkbaren Problembereich eingegangen, der die Möglichkeit erwägt, dass die Totalität der Praxis sämtlicher beteiligten Akteure in vollkommener Übereinstimmung mit der Vernunft steht, sie aber allesamt nur unzureichend über die umgreifende Natur verfügen, so dass sich aus der Eigendynamik der Natur Widerstände gegen die Verwirklichung der Glückseligkeit einstellen; indem beispielsweise die Totalität aller Akteure vollkommen moralisch ist, sich aber Naturkatastrophen einstellen, die großes Leid über die Gemeinschaft bringen. Auch in diesem Zusammenhang wird Kant bereits in der Kritik der reinen Vernunft einen Lösungsvorschlag anbieten. Alle drei Dimensionen aber, nämlich die Vermeidung der Widersprüchlichkeit von Neigungen innerhalb des Willens eines einzelnen Akteurs, die Vermeidung der

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Widersprüchlichkeit von Willensinhalten innerhalb der Gemeinschaft, sowie der Mangel an Verfügungsgewalt über die Natur, in der der Mensch als sinnliches Wesen seine Willensinhalte verwirklichen soll und muss, beruhen auf ein und demselben Motiv, nämlich auf der Erfolgskontrolle. Es wäre nämlich durchaus möglich, eine Theorie der Glückseligkeit zu konzipieren, die zwar die oben genannte Definition aufgreift, aber nicht davon ausgeht, dass die Glückseligkeit durch die Totalität der Praxis aller vernünftigen Wesen hervorgebracht werden soll, sondern sich entweder zufällig oder als Geschenk einer höheren Gewalt einstellt, beispielsweise als Geschenk Gottes. Wenn eine solche Theorie nicht beansprucht, dass sich die vernünftigen Wesen für dieses Geschenk eigens qualifizieren müssen, beispielsweise indem angenommen wird, dass Gott sie ohnehin liebt und ungeachtet ihres Verhaltens aus eigener Güte mit Glückseligkeit beschenken wird, so braucht man sich auch überhaupt keine Gedanken darüber zu machen, welche Bedingungen die Willensstruktur aller beteiligten Akteure erfüllen muss, um überhaupt die Bedingungen der Möglichkeit der Teilhabe an der Glückseligkeit zu gewährleisten. Die oben angesprochenen Forderungen ergeben sich, wie gesagt, erst im Zusammenhang mit der Vorstellung, dass die Glückseligkeit selbst hervorgebracht werden und als Produkt der eigenen Freiheit gelten soll. Allein: sofern man von dieser Vorstellung Abstand nimmt und beispielsweise an der Idee der Glückseligkeit als Geschenk einer höheren Gewalt festhält, ergibt sich ein bestimmtes Problem, dass m. E. am besten von Dostojewskij im „Traum eines lächerlichen Menschen“ dargestellt wurde: in dem Augenblick, in dem ich, so wie meine Willensstruktur jetzt beschaffen ist, einer beliebigen, selbst einer paradiesischen, Gemeinschaft beitrete, hört diese auf paradiesisch zu sein, d.h. in ihr herrscht keine Glückseligkeit mehr; und zwar darum, weil ich erstens über einander widersprechende Willensinhalte verfüge, und zweitens, weil ich nicht ausschließen kann, dass ich Willensinhalte generiere, die nicht gleichermaßen das Wohl der Gemeinschaft wie mein eigenes Wohl im Sinne haben. Aber dies mag viel besser im Kontext, den Dostojewski entwirft, diskutiert werden, denn an hiesiger Stelle ist das Argument unmissverständlich: Kant konzipiert hier nicht in erster Linie eine Theorie der Glückseligkeit, sondern eine Theorie der praktischen Freiheit und bestimmt, dass die Totalität der pragmatischen Bemühungen aller Akteure auf die Glückseligkeit ausgerichtet ist, wodurch die Glückseligkeit zu einem integralen Bestandteil der praktischen Freiheit wird und notwendigerweise als Produkt der freien Praxis aller beteiligten Akteure thematisch ist. In einem anderen Kontext können möglicherweise andere Theorien entwickelt werden, in diesem aber besteht nur die Alternative, Kompromisse bei der Definition der Glückseligkeit einzugehen, was Kant nicht tut, oder aber zu erörtern, welche Bedingungen erfüllt

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werden müssen, damit vernünftigerweise angenommen werden kann, dass die Totalität der Praxis aller beteiligten Akteure, eine entsprechend definierte Glückseligkeit hervorzubringen vermag. Somit stellt die Erörterung ebendieser Bedingungen einen zentralen Bestandteil der kantischen Theorie der praktischen Freiheit und des höchsten Guts dar und innerhalb dieser Erörterung spielt nach meinem Dafürhalten die Erfolgskontrolle im Hinblick auf die inhaltliche Gestaltung der eigenen willentlichen Selbstbestimmung und im Hinblick auf die Welt, in der die Willensinhalte verwirklicht werden sollen, eine entscheidende Rolle. Die Gewährleistung der Widerspruchsfreiheit der empirischen Zwecke, obgleich sie aus dem empirischen Begehrungsvermögen entspringen und daher auf Antrieben der Sinnlichkeit beruhen, stellt eine zentrale Forderung an die pragmatische Vernunft, speziell der Klugheitsregel entsprechend, dar, und ist für die Erfolgskontrolle in der Ausübung der praktischen Freiheit unerlässlich. Darüber hinaus fällt auch die Zusammenstimmung der Mittel, um zur Glückseligkeit zur gelangen, in den Gegenstandsbereich der pragmatischen Vernunft und obgleich Kant an dieser Stelle nicht eigens betont, dass die pragmatische Vernunft die Ergreifung geeigneter Mittel zur Hervorbringung empirischer Zwecke empfiehlt, kann mit großer Berechtigung davon ausgegangen werden, dass dies der Fall ist. Diese Zusammenstimmung der Mittel ergibt sich auf beiderlei Ebenen, nämlich sowohl in Bezug auf die Verwirklichung eines einzelnen empirischen, von den Sinnen aufgegebenen Zwecks, als auch in Bezug auf die Bewirkung der Glückseligkeit. Ein Akteur nämlich, der über arbitrium liberum verfügt, kann, sofern er vernünftig ist, abwägen, welche Mittel für die Hervorbringung des Zwecks, der ihm aktuell durch die Sinne aufgegeben ist, geeignet sind und besitzt darüber hinaus die Fähigkeit zu entscheiden, ob er diese Mittel ergreifen will oder nicht. Es ist nämlich ein Zeichen von pragmatischer Geschicklichkeit, wenn ein Akteur imstande ist, unter gegebenen Bedingungen die geeigneten Mittel zu erkennen, während ein ungeschickter Akteur in derselben Situation möglicherweise hilflos dasteht und nicht weiß, was er tun soll. Es besteht aber ein signifikanter Unterschied zwischen der bloßen Fähigkeit, die geeigneten Mittel zur Hervorbringung eines von der Sinnlichkeit aufgegebenen Zwecks zu erkennen, und der tatsächlichen Ergreifung dieser Mittel; denn hierzu muss auch das Phänomen der Willensschwäche, das für den Menschen typisch ist, überwunden werden und der Akteur muss sich dazu entschließen tätig zu werden, also zu handeln. Es ist nämlich sehr gut denkbar, dass in ein und derselben Situation ein Akteur die notwendige pragmatischer Geschicklichkeit besitzt, um die geeigneten Mittel zur Hervorbringung eines ihm von den Sinnen aufgegebenen Zwecks zu erkennen, während ein anderer diese Fähigkeit nicht besitzt, sondern hilflos bleibt.

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Es ist aber unter der Bedingung, dass zwei Akteure in derselben Situation die geeigneten Mittel zur Hervorbringung eines ihnen durch die Sinnlichkeit aufgegebenen Zwecks erkennen, denkbar, dass der Eine die Willenskraft besitzt, diese Mittel in der Tat zu ergreifen, während der Andere träge bleibt. Demnach empfiehlt die Vernunft durchaus, und zwar nachdrücklich, die Ergreifung geeigneter Mittel zur Hervorbringung empirischer Zwecke, und dies ist auch unerlässlich, sofern die pragmatische Gesetzgebung in den umgreifenden Rahmen der praktischen Freiheit integriert werden soll. Denn es geht hierbei nicht nur darum, dass ein gegebener Antrieb der Sinnlichkeit verwirklicht bzw. befriedigt wird und sich infolgedessen ein einzelner Glückszustand einstellt, sondern darum, dass der Akteur den Zweck, den er als Gegenstand seines eigenen Willens anerkennt, auch aus eigener Freiheit verwirklicht. Der Zweck soll sich also nicht durch die Gunst einer höheren Natur, das Absolute, den Zufall oder irgendeine höhere Macht einstellen, sondern ein Produkt der eigenen Freiheit sein. Die Verbindlichkeit der pragmatischen Gesetze ergibt sich also notwendigerweise daraus, dass sie in den umgreifenden Kontext der Theorie der praktischen Freiheit eingebettet werden, denn selbst unter der Bedingung, dass ein Akteur, der die geeigneten Mittel zur Hervorbringung eines ihm von den Sinnen aufgegebenen Zwecks erkennt und deren Ergreifung unterlässt, das Glück hat, dass sich ihm durch den Zufall oder die Einwirkung Dritter in der Tat die Verwirklichung des Zwecks einstellt, kann nicht von Freiheit gesprochen werden und die Verwirklichung dieses Zwecks kann ihm nicht als sein eigenes Werk zugesprochen werden. Es kann jedes vernunftfähige Wesen für sich selbst entscheiden, wie viel Erfolgskontrolle es in diesem Zusammenhang anstrebt und wie viel Mühe ihm welches Maß an Erfolgskontrolle wert ist, aber es ist unmittelbar ersichtlich, dass eine Theorie der Freiheit unter Berücksichtigung der pragmatischen Gesetzgebung der Vernunft den Akteur zur Ergreifung der Mittel, die er als geeignet für die Hervorbringung eines von ihm anerkannten Zwecks erkennt, verpflichtet.239 Nur in diesem Fall handelt er nämlich „vernünftig“. Ähnlich verhält es sich in Bezug auf die Totalität der empirischen Zwecke, nämlich die Glückseligkeit. Sie ist in der Kritik der reinen Vernunft ganz eindeutig als Befriedigung aller unseren Neigungen in jeder Hinsicht konzipiert und die Gesetze, die ihre Hervorbringung begünstigen sollen, nämlich die pragmatischen, gelten explizit als Gesetze des freien Verhaltens zur Erreichung der uns von den Sinnen empfohlenen Zwecke, und nicht womöglich der uns vom Sittengesetz oder anderen Instanzen vorgeschriebenen Zwecke. Bislang besitzt der Gedanke 239 Vgl. hierzu: Pollok, K. 2007 im Zusammenhang mit demselben Gegenstandsbereich in der Grundlegung und der KpV.

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also die Struktur, dass ein entsprechender Akteur infolge eines gegebenen Sinnesreizes in sich die Neigung verspürt einen bestimmten sinnlichen Zweck zu verwirklichen und das Vermögen besitzt, dieser Neigung nachzugehen oder es zugunsten entfernter, aber attraktiverer Zwecke zu unterlassen; zudem besitzt er das Vermögen, nach der Vorstellung von der vollständigen Befriedigung sämtlicher Neigungen in jeder Hinsicht, die er unter dem Begriff der Glückseligkeit fixiert, zu handeln. Sollte es nun möglich sein, diese totale Befriedigung sämtlicher Neigungen, somit die sinnliche Glückseligkeit, vollkommen ohne die Berücksichtigung einer moralischen Dimension zu verwirklichen, bestünde auch überhaupt kein Anlass dazu, dass das empirische Begehrungsvermögen in Verbindung mit der Vernunft das Ideal des höchsten Guts als proportionierte Einheit von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit anstrebt. Es wäre dann sehr wohl möglich, dass das höchste Gut schlicht die sinnliche Glückseligkeit umfasst. Es wird sich darum im Fortgang des Gedankens eigens zeigen müssen, dass zwar an der Idee der hemmungslosen Befriedigung sämtlicher Neigungen an sich nichts verkehrt ist, und wie ich meine, nicht einmal etwas notwendigerweise Unmoralisches enthalten ist, dass aber dieser Zustand, sofern er vernünftig gedacht werden soll und sofern er als Produkt der vernünftigen Praxis hervorgebracht werden soll, nur unter gewissen Bedingungen möglich ist. Die Berücksichtigung ebendieser Bedingungen eröffnet eine Dimension, die in der Kritik der reinen und praktischen Vernunft als moralisch konzipiert wird und den Unterschied zwischen Kants Definition der sinnlichen Glückseligkeit als Befriedigung aller unseren Neigungen extensive, intensive und protensive, wie sie der Kritik der reinen Vernunft angeführt wird, und der Definition der sinnlichen Glückseligkeit aus der Kritik der praktischen Vernunft, nämlich als „Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und willen geht“ (KpV 224), betrifft. Entscheidend ist hierbei lediglich die Einschränkung, die im Ausdruck „eines vernünftigen Wesens“ enthalten ist, denn das, was in der Kritik der praktischen Vernunft bereits in der Definition der Glückseligkeit enthalten ist, gilt uneingeschränkt auch für die sinnliche Glückseligkeit, die in der Kritik der reinen Vernunft vertreten wird. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Definitionen der Kritik der reinen Vernunft, B 834, diese Dimension voraussetzt und nicht eigens in den Wortlaut aufnimmt. Vielmehr führt der Fortgang des Gedankens zunehmend zur Berücksichtigung der Bedingungen, die es möglich machen, diese Form der sinnlichen Glückseligkeit überhaupt zu denken. Es zeigt sich dann zunehmend, dass die sinnliche Glückseligkeit nur dann sinnvoll als Produkt der auf der freien Willkür und der Vernunft beruhenden praktischen Freiheit gedacht werden kann, wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind, die wiederum nichts

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anderes gewährleisten als ein größtmögliches Maß an Erfolgskontrolle. Die sinnliche Glückseligkeit nämlich, sofern sie so vorgestellt wird, dass sie sich auf der Grundlage der völlig gesetzlosen Willkür, also der völligen Zufälligkeit und Beliebigkeit entwickelt, kann niemals als Produkt der Freiheit eines einzelnen Menschen oder aller beteiligten Menschen gedacht werden. Sofern sie nämlich als Produkt der Freiheit eines einzelnen Menschen vorgestellt werden soll, muss zunächst einmal vorausgesetzt und geschenkt werden, dass dieser Mensch zu keinem einzelnen Zeitpunkt seiner Existenz Neigungen verspürt, die einander widersprechen, oder der Glückseligkeit widersprechen. Undenkbar ist das nicht, aber es kann nur dann das Produkt seiner eigenen Freiheit aufgefasst werden, wenn er in der Tat die entsprechende Kontrolle über die Inhalte seines Willens besitzt. Wenn also die dauerhafte Befriedigung all seiner Neigungen vorgestellt werden soll, so muss auch gewährleistet sein, dass er die entsprechende Widerspruchsfreiheit zu gewährleisten vermag. Sofern aber der einzelne Akteur nicht aus eigenem Vermögen in der Lage ist, diese Anforderungen zu erfüllen, muss eine äußere Kontrollinstanz vorgestellt werden – von mir aus Gott. Falsch oder schlecht ist auch das nicht, aber sofern die Glückseligkeit des Akteurs von Gottes Gnaden abhängt, ist sie eben nicht als Ausdruck seiner eigenen Freiheit anzusehen. Wir kommen also wieder an den Anfang der Überlegung zurück und müssen an der Forderung festhalten, dass ein Akteur, der die eigene Glückseligkeit aus eigener Freiheit hervorbringen will, zumindest die Widerspruchsfreiheit der eigenen Neigungen aus eigener Kraft zu gewährleisten vermag. Aber wie sollte er dazu in der Lage sein, wenn ihm die Willensinhalte als Neigungen durch die Sinne gegeben sind? Die Antwort ist leicht: überhaupt nicht. Nur indem der Akteur in der Lage ist, die eigenen Willensinhalte aus eigener Spontaneität zu bestimmen, besitzt er das nötige Maß an Erfolgskontrolle, um die Widerspruchsfreiheit derselben gewährleisten zu können. Aber auch sofern er die eigenen Willensinhalte aus eigener Spontaneität bestimmt, stellt sich die Frage, – und diese Frage ist hier eigentlich entscheidend – ob die notwendige Erfolgskon­ trolle möglich ist, sofern diese Setzung nicht nach gewissen Grundsätzen erfolgt; denn auch wenn der einzelne Akteur die Inhalte seines Willens selbst setzt, diese Setzung aber vollkommen willkürlich und zufällig erfolgt, kann keine Widerspruchsfreiheit gewährleistet werden. Es hilft also nichts: sofern ein einzelner Akteur, selbst wenn er der Herr der Welt ist und über alle anderen Menschen sowie über die Welt bloß als Material seiner Willkür verfügt, nicht in der Lage ist, die Inhalte seines Willens nach beharrlichen Grundsätzen, die seiner eigenen Freiheit entspringen, selbst zu bestimmen, so ist er niemals in der Lage die Widerspruchsfreiheit derselben zu gewährleisten. Und wenn man überdies noch erwägt, dass sich selten ein Mensch findet, der die volle Gewalt

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über die Natur besitzt und zudem berechtigt ist alle anderen Menschen als Material seines Willens anzusehen, gelangt man sehr bald zu dem Schluss, dass die Glückseligkeit als Befriedigung aller unserer Neigungen in jeder Hinsicht nicht nur mit gewissen Bedingungen verbunden ist, die die Welt betreffen, sondern ebenso mit gewissen Bedingungen, die den Akteur selbst betreffen. Andernfalls bleibt nur der naive Wunsch, dass ein allmächtiger Gott, der aus irgend einem unerklärlichen Grund mich persönlich unendlich liebt, meine Unfähigkeit und Willensschwäche kompensieren wird und mich mit dem Glück beschenken wird, dass ich meine ungehinderte und zufällige Willkür zügellos ausleben und dabei alle anderen Menschen sowie die Natur als bloßes Material meiner Willkür verwenden, bzw. missbrauchen darf – und trotzdem Glückselig werde. Wem dieser Gedanke gefällt, der soll sich darin gefallen, aber von außen ist eines offensichtlich: nämlich der Mangel an Erfolgskontrolle. Darum ist das nicht „vernünftig“. Sofern man aber auf derselben Ebene noch die soziale Dimension hinzu nimmt und bedenkt, dass ein beachtlicher Teil der Willensinhalte jedes einzelnen Menschen mit Erwartungen und Hoffnungen in Bezug auf den Willen anderer Menschen verbunden ist, so dass man sich beispielsweise die Freundschaft, die Liebe, die Unterstützung oder auch irgendeine Form des Beifalls, der Sympathie etc. wünscht, ist es offensichtlich, dass diese Hoffnungen und Wünsche nur unter der Bedingung erfüllt werden können, dass man es ebenfalls mit freien Akteuren zu tun hat. Sofern dies aber der Fall ist, ist es ebenso offensichtlich, dass die Glückseligkeit aller Beteiligten, also die vollständige Befriedigung sämtlicher Neigungen aller beteiligten Akteure und zwar in jeder Hinsicht, nur unter der Bedingung denkbar ist, dass die auf Freiheit beruhende Praxis aller einzelnen Akteure zwar eine Dimension besitzt, die das persönliche Wohl anstrebt, aber zugleich eine Dimension beinhaltet, die das Wohl aller Beteiligten in Sinn hat. Der entsprechende Gedanke wird im Zusammenhang mit dem so genannten System der sich selbst lohnenden Moralität eigens erörtert. Man sieht also: ohne die pragmatischen Gesetze der Vernunft, die gewährleisten, dass die Neigungen aller einzelnen Akteure miteinander in Einklang stehen, nämlich sowohl auf intrasubjektiver als auch auf intersubjektiver Ebene, und zudem gewährleisten, dass die einzelnen Neigungen mit dem Endzweck der menschlichen Bemühungen als Sinnenwesen, nämlich der Glückseligkeit, stehen, kann diese (Glückseligkeit) niemals als Produkt der freien, kontrollierten Tätigkeit der beteiligten Akteure gedacht werden. Somit besitzt die Vernunft in der Interaktion mit dem empirischen Begehrungsvermögen und der freien Willkür eine normative Kraft im Rahmen der Entfaltung der praktischen Freiheit, die sich als pragmatisch erweist, sofern

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die Bedingungen der Ausübung der freien Willkür, arbitrium liberum, empirisch sind und ihre Praxis auf die Glückseligkeit ausgerichtet ist. In dieser Sphäre bewirkt sie in Verbindung mit der Klugheitsregel die Widerspruchsfreiheit empirischer Zwecke und die Widerspruchsfreiheit empirischer Grundsätze, die zur Erreichung derselben Zwecke dienen sollen, sowie die Vereinigung der empirischen Zwecke und Grundsätze zu dem Gesamtziel der Glückseligkeit. Darüber hinaus empfiehlt die Vernunft die Ergreifung geeigneter Mittel zur Hervorbringung der Zwecke, die als Ausdruck der eigenen Willkür anerkannt werden. Demnach kann im Ausgangspunkt von Kants Ausführungen im B 828, in Bezug auf die pragmatische Gesetzgebung der Vernunft Zweierlei festgehalten werden, nämlich erstens die Bedingungen, unter denen allein die pragmatische Gesetzgebung der Vernunft zur Entfaltung gelangt und zweitens die Ausrichtung der Gesamtheit der pragmatischen Bemühungen: die Vernunft erlässt pragmatische Gesetze, sofern die Bedingungen der Ausübung unserer freien Willkür empirisch sind, d.h. im Ausgangspunkt von gegebenen Situationen, speziell im Ausgangspunkt von gegebenen Antrieben der Sinnlichkeit und die Gesamtheit der auf pragmatischen Grundsätzen beruhenden Praxis ist auf die Bewirkung der Glückseligkeit ausgerichtet. Im Rückgriff auf die Formulierung auf B 834 wird insbesondere die Ausrichtung auf die Glückseligkeit in den Vordergrund gerückt: „Das praktische Gesetz aus dem Bewegungsgrunde der Glückseligkeit nenne ich pragmatisch (Klugheitsregel)“. Hierbei fällt erstens auf, dass kein expliziter Unterschied zwischen den pragmatischen Gesetzen und der Klugheitsregel gemacht wird und dass darüber hinaus keine Äußerung in Bezug auf die Bedingungen der Ausübung der Freiheit erfolgt. Sofern wir aber nicht davon ausgehen, dass sich Kant innerhalb von vier Seiten und in Bezug auf einen Punkt, der in struktureller Hinsicht so bedeutend ist, widerspricht, ist es naheligend anzunehmen, dass die Feststellung, die die Bedingungen der Ausübung der freien Willkür betrifft, nachdem sie einmal genannt wurde, in der knappen Wiederholung der Definition der pragmatischen Gesetze schlicht vorausgesetzt wird und das der subtile Unterschied zwischen der Klugheitsregel, die die Vereinigung der empirischen Zwecke unter den Gesamtzweck der Glückseligkeit verfolgt und den pragmatischen Gesetzen, die den umgreifenden Rahmen für die Entfaltung der Klugheitsregel darstellen, somit für Kontinuität sorgen und die Erfolgskontrolle erhöhen, ebenfalls vorausgesetzt wird. Im Grunde genommen ist es für die Struktur der Autonomie der Vernunft nicht unerlässlich, zwischen der pragmatischen Gesetzgebung und der Klugheitsegel zu unterscheiden, denn man könnte die Klugheitsregel in den Gesamtkomplex der pragmatischen Gesetzgebung der praktischen Vernunft integrieren. Es ist aber

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vor dem Hintergrund der Annahme der Widerspruchsfreiheit der kantischen Ausführungen notwendig, anzunehmen, dass die Ausführungen in B 828 und in B 834 zusammenpassen; und dies kann ohne Schwierigkeiten angenommen werden, wenn man sich bewusst macht, dass ein Autor, der eine Definition in einem komplexen gedanklichen Umfeld entwickelt, an späterer Stelle gewisse Ausführungen als bekannt voraussetzen darf und unter Umständen aus dem Gesamtkomplex, der ursprünglich relevant war, nur noch diejenigen Bestimmungen entnimmt, die für den Fortgang der Gedankenführung entscheidend sind. In B 834 ist bereits die Grundstruktur des Ideals des höchsten Guts thematisch und es wird zunehmend der Spannungsfeld zwischen der Totalität der Ausrichtung der moralischen Praxis und der Totalität der Ausrichtung der pragmatischen Praxis, nämlich der Wirklichkeit glücklich zu sein und der Glückseligkeit eröffnet. In diesem Kontext aber, dies wird sich später im Detail zeigen, sind nicht mehr die Bedingungen der Ausübung der Freiheit, sondern die Ausrichtung der Praxis thematisch, weswegen jenes als bekannt vorausgesetzt und dieses eigens profiliert werden darf. 3.3.1.1 Die instrumentelle und pragmatische Rationalität in der Kritik der reinen Vernunft Die Theorie der pragmatischen Rationalität, die in der Kritik der reinen Vernunft vertreten wird, also das Pendent zur empirisch praktischen bzw. instrumentellen Rationalität in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, zeichnet sich durch einige Theorienbestandteile aus, die in den aktuellen Debatten über die instrumentelle Rationalität nicht berücksichtigt werden, nämlich zu allererst (Ebene 1) die Widerspruchsfreiheit zwischen den einzelnen Neigungen unter einander und zweitens (Ebene 2) die Widerspruchsfreiheit zwischen den einzelnen, gegebenen Neigungen einerseits und der Befriedigung aller Neigungen extensive, intensive und protensive, also der Glückseligkeit andererseits. Darüber hinaus besteht ein bestimmtes Verhältnis zwischen diesen beiden Ebenen der Widerspruchsfreiheit, indem die zweite Ebene die erste impliziert: Wenn nämlich ausgeschlossen werden soll, dass die einzelnen Neigungen dem Zustand der Befriedigung aller Neigungen extensive, intensive und protensive widersprechen, ist auch ausgeschlossen, dass sie sich unter einander widersprechen. Wir haben anfangs gesehen, dass in den aktuellen Debatten über die instrumentelle Rationalität überwiegend das Verhältnis zwischen rational begründbaren Zwecken und der Ergreifung der dafür geeigneten Mittel thematisch ist. Dies ist auch an der gegebenen Stelle in der Kritik der reinen Vernunft der Fall, denn laut Kant empfiehlt die pragmatische Vernunft „die Zusammenstimmung der Mittel, um dazu [zur Glückseligkeit] zu gelangen“ (KrV, B 828). Aber darin

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erschöpft sich die pragmatische Vernunft mitnichten. Ihr primäres Anliegen besteht darin, die Widersprüchlichkeit der Zwecke auf den genannten Ebenen zu bewirken und unter der entsprechenden Bedingung auch die Ergreifung geeigneter Mittel zu empfehlen. Der Unterschied zu der klassische gewordenen Formel der instrumentellen Rationalität, nämlich: „Wer den Zweck will, will auch die dafür geeigneten Mittel“ sowie der von Raz vorgetragenen Kritik, der zufolge ein Grund, der für bestimmte Zwecke spricht, mitnichten auch für die geeigneten Mittel spricht, und der von Kant vorgetragenen Position besteht darin, dass in der von Kant in der Kritik der reinen Vernunft vertretenen Theorie der Rationalität noch vor der Erörterung der Verhältnisse von Gründen und Zwecken die Widerspruchsfreiheit der Zwecke (dann aber auch der Grundsätze und Gründe) thematisch ist. Die klassische Formel der instrumentellen Rationalität geht davon aus, dass sich Rationalität dadurch auszeichnet, dass ein Akteur, der gute Gründe für die Setzung bestimmter Zwecke besitzt, diese Zwecke auch setzt. Darüber hinaus geht sie davon aus, dass die Setzung dieser Zwecke auf analytische Art und Weise auch die Bereitschaft zur Ergreifung der geeigneten Mittel enthält. Wenn also ein guter Grund oder gute Gründe für den Zweck A sprechen, will ein rationaler Akteur A und er will auch die dafür nötigen Mittel ergreifen. Bei Kant sieht die Sache anders aus. Die pragmatische Rationalität hebt nicht bei der Frage an, ob bestimmte Gründe für bestimmte Zwecke sprechen und ob bestimmte Gründe für die Ergreifung der für die Verwirklichung dieser Zwecke geeigneten Mittel sprechen, sondern setzt eine Ebene unterhalb dieser Frage an: Es ist möglich, dass einem Akteur Neigungen als Ausdruck von „Antrieben der Sinnlichkeit“ entspringen und zwar unabhängig davon, ob dafür „Gründe“ sprechen. Die Vernunft stellt das Vermögen dar, Totalitäten zu denken, also strebt sie die widerspruchsfreie Vereinigung dieser Zwecke untereinander an. Sie fragt sich also nicht, ob irgendwelche Gründe für die Zwecke bestehen und auch nicht, ob diese Gründe „rational“ sind, sondern ob die Zwecke widerspruchsfrei vereinbar sind. Daher steht der Gedanke einer ursprünglichen Koordination aller handlungsleitenden Elemente im Zentrum der kantischen Theorie der Handlungsorganisation, wobei die Widerspruchsfreiheit aller handlungsleitenden Elemente entscheidend für die Erfolgskontrolle im Rahmen der willentlichen Selbstbestimmung ist. Daher muss auch der Mythos der Beliebigkeit empirischer Maximen, der in den heutigen Debatten oft als Ausgangspunkt für Kantkritik genommen wird und den ich bereits unter Punkt 1.2.1.6 angesprochen habe, mit aller Entschlossenheit zurückgewiesen werden. Erfolgskontrolle ist nur unter der Bedingung möglich, dass die subjektiv verbindlichen Grundsätze, also Maximen, auf kontrollierte

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Art und Weise gesetzt werden und, wie ich unten (Punkt 3.3.3) zeigen werde, im Einklang mit den objektiven Gesetzen der Freiheit stehen. Einem vernünftigen Menschen können zwar vielerlei Dinge einfallen, aber ein vernünftiger Mensch kann nicht alles, was ihm einfällt, wollen. 3.3.2 Moralische Gesetze, moralische Praxis Sofern also die Bedingungen der Ausübung unserer Freiheit empirisch sind, erschöpft sich die normative Kraft der Vernunft in pragmatischen Gesetzen. Die moralische Autonomie der Vernunft ist aber ein Ausdruck der Freiheit, die nicht auf empirischen Bedingungen beruht, sondern ihre Bestimmungen aus eigener Spontaneität setzt: Dagegen würden reine praktische Gesetze, deren Zweck durch die Vernunft völlig a priori gegeben ist, und die nicht empirisch bedingt, sondern schlechthin gebieten, Produkte der reinen Vernunft sein. Dergleichen aber sind die moralischen Gesetze, mithin gehören diese allein zum praktischen Gebrauche der reinen Vernunft, und erlauben einen Kanon. (KrV, B 828) Somit sind die moralischen Gesetze, die ebenso wie die pragmatischen der Vernunft entspringen, von den Letzteren dahingehend zu unterscheiden, dass ihre Verbindlichkeit nicht empirisch bedingt, sondern apriorisch ist und dass sie eine Form der Ausübung unserer Freiheit darstellen, die nicht auf empirischen Bedingungen beruht, sondern a priori auf der Autonomie der Vernunft gegründet ist. Daher besteht ihre Funktion nicht darin die Einheit empirischer Zwecke und Grundsätze zu bewirken und sie unter das Gesamtziel der Glückseligkeit zu stellen, sondern vielmehr einen normativen Rahmen zu entwickeln, worin allererst die pragmatische Sphäre der praktischen Freiheit zur Entfaltung gelangen kann und soll. Wenn also die Bedingungen der Ausübung der freien Willkür empirisch sind, übernimmt die pragmatische Vernunft, sofern sie auf dieser Ebene aktiv wird, die Funktion pragmatische Gesetze zu erlassen. Wenn aber die Bedingungen der Ausübung der freien Willkür apriorisch sind, sind die Gesetze, die sie erlässt, moralisch. Beide, nämlich sowohl die pragmatischen als auch die moralischen Gesetze, sind ein Ausdruck der Normativität der Vernunft, sind also „vernünftig“. Die Verbindlichkeit beziehungsweise Normativität der pragmatischen Gesetze erstreckt sich aber nur auf die entsprechende empirische Sphäre, während sich die Normativität der moralischen Gesetze auf die gesamte Sphäre der praktischen Freiheit erstreckt. Somit verfolgt die moralische Praxis und die ihr zugrunde liegende Normativität der moralischen Vernunft nicht den unmittelbaren Zweck des

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einzelnen Glückszustandes und ebenso wenig den Zweck der Glückseligkeit, sondern vielmehr die so genannte „Würdigkeit, glücklich zu sein“ (KrV, B 834), beziehungsweise Glückswürdigkeit, denn sie erzeugt den normativen Rahmen, innerhalb dessen es überhaupt möglich ist, einzelne Willensinhalte als berechtigt anzuerkennen oder abzulehnen. Sie spielt also eine entscheidende Rolle in Bezug auf die Gestaltung des Rahmens, innerhalb dessen die inhaltliche Bestimmung der freien Willkür erfolgen soll. Es ist selbstverständlich, dass die inhaltliche Bestimmung zunächst einmal auf Antrieben der Sinnlichkeit beruht, somit vom empirischen Begehrungsvermögen geleistet wird. Es ist nun auch bekannt, welche Funktion die pragmatische Gesetzgebung im Hinblick auf die Inhalte des empirischen Begehrungsvermögen besitzt, nämlich Vermeidung der Widerspruchsfreiheit und Vereinigung unter den Gesamtzweck der Glückseligkeit, sowie die Empfehlung der Ergreifung geeigneter Mittel zur Hervorbringung der gesetzte Zwecke. Es ist aber dadurch noch nicht bestimmt worden, welche Zwecke überhaupt die Qualität besitzen, als Gegenstände der freien Willkür anerkannt oder abgelehnt zu werden. Die moralische Gesetzgebung der Vernunft aber, die ein Produkt ihrer apriorischen Autonomie ist, bringt das Vermögen vernunftfähiger Subjekte zum Ausdruck, zu entscheiden, ob sie einen gegebenen Antrieb der Sinnlichkeit überhaupt als Gegenstand ihrer eigenen Willkür anerkennen wollen oder nicht. Zur Illustration: Es ist sehr wohl möglich, dass ein Mensch beim Einkaufen beobachtet, dass die Person vor ihm einen Geldschein verliert und sich ihm die Neigung einstellt, diesen Geldschein aufzuheben und einzustecken, er aber über diese Neigung reflektiert und ihr die Anerkennung verweigert, indem er sich selbst sagt: „Das will ich nicht wollen.“ Selbstverständlich finden sich auf dieser Welt noch viel mehr Menschen, die diesen Geldschein mit größter Selbstverständlichkeit einstecken und niemals in einem Gewissenskonflikt geraten würden, aber selbst wenn sich auch nur ein einziger Mensch in einer einzigen Situation als moralisches Subjekt qualifizierte, indem er zumindest in den oben beschriebenen Gewissenskonflikt geriete, würde dies ausreichen, um die Willensstruktur, die Kant behandelt, indem er die moralische Normativität der praktischen Vernunft erörtert, zu illustrieren. Selbst wenn sich niemals auf der Welt ein solcher Mensch auffinden ließe, müsste dies aber als Norm für die freie Selbstbestimmung vernünftiger Wesen zugrunde gelegt werden und genau darin besteht das eigentliche Anliegen einer Kritik der Vernunft. Ich nehme an, daß es wirklich reine moralische Gesetze gebe, die völlig a priori (ohne Rücksicht auf empirische Bewegungsgründe, d.i. Glückseligkeit,) das Tun und Lassen, d.i. Den Gebrauch der Freiheit eines

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vernünftigen Wesens überhaupt, bestimmen, und daß diese Gesetze schlechterdings (nicht bloß hypothetisch unter Voraussetzung anderer empirischen Zwecke) Gebieten, und also in aller Absicht notwendig sind. (KrV, B 835) Die moralische Autonomie der Vernunft entwirft demnach a priori einen gesetzlichen (moralischen, nicht rechtlichen) Rahmen, innerhalb dessen es dem Subjekt möglich ist, nach beharrlichen Grundsätzen zu entscheiden, ob es einen gegebenen Antrieb der Sinnlichkeit als Ausdruck seines freien Willens anerkennt oder nicht. Ohne einen solchen gesetzlichen Rahmen ist nämlich die entsprechende Anerkennung zufällig und man muss sich fragen, auf welchem Vermögen sie eigentlich beruhen soll. Wenn nämlich der Akt der Anerkennung eines gegebenen und auf Neigungen beruhenden Willensinhalts selbst ein Ausdruck der bloßen Neigung und aller mit ihr zusammenhängenden Kontingenz wäre, so wäre auch die oben bezeichnete Fähigkeit des reflektierten Willens, also das Vermögen des Subjekts, sich in ein bestimmtes Verhältnis zu einem gegebenen Antrieb der Sinnlichkeit zu versetzen und diesen als Ausdruck seines Willens anzuerkennen oder abzulehnen, im Grunde genommen unsinnig, denn sowohl die Tätigkeit, durch die der Willensinhalt generiert wird, als auch diejenige, durch die er anerkannt oder abgelehnt wird, entsprängen der bloßen Neigung. Sofern aber angenommen wird, dass vernunftfähige Subjekte zumindest denkbar sind, die auch die Fähigkeit besitzen, sich in Absehung von aktuell gegebenen Neigungen also „ohne Rücksicht auf empirische Bewegungsgründe, d.i. Glückseligkeit“ einen normativen Rahmen zu generieren, innerhalb dessen sie die Anerkennung gegebener Antriebe der Sinnlichkeit vollziehen möchten, wird es unmittelbar ersichtlich, dass die Erfolgskontrolle auf der höheren Ebene der Anerkennung von der Beharrlichkeit der Grundsätze bzw. Gesetze, nach denen sie erfolgen soll, abhängt. Ebendiesen Rahmen generiert die praktische Vernunft in Form dessen, was als moralische Autonomie bezeichnet wird. Vor diesem Hintergrund empfehle ich, davon zu sprechen, dass die moralische Gesetzgebung der Vernunft eine entscheidende Rolle in Bezug auf die inhaltliche Bestimmung des freien Willens und der freien Willkür besitzt; damit soll nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass man sich der Funktion, die das empirische Begehrungsvermögen spielt, nicht bewusst ist, sondern speziell auf die Erfolgskontrolle bei der Gestaltung seiner eigenen Freiheit insbesondere auf längere Sicht hingewiesen werden; denn ohne einen normativen Rahmen, innerhalb dessen ich auf vernünftiger Grundlage entscheiden kann, ob ich einen Willensinhalt anerkenne oder ablehne, ist dieser Akt der Anerkennung

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zufällig und entzieht sich meiner Kontrolle. Strebe ich aber ein gewisses Maß an Erfolgskontrolle in Bezug auf die Willensinhalte, die sich mir durch die Antriebe der Sinnlichkeit einstellen, an, spielt gerade im Umgang mit der Kontingenz des empirischen Begehrungsvermögens die Anerkennung derselben eine entscheidende Rolle für die Ausübung der freien Willkür, insbesondere sofern die freie Willkür als Überwindung der Antriebe der Sinnlichkeit (KrV, B 830) verstanden wird. Vor welchem Hintergrund „überwinde“ ich die Antriebe der Sinnlichkeit, wenn ich nicht auf einen normativen Rahmen zurückgreifen kann, der meiner eigenen Freiheit entspringt und in Absehung von gegebenen Zwängen der Erfahrung generiert wird? Dieser normative Rahmen macht es dem Akteur im Hinblick auf die gegebene Situation möglich zu entscheiden, dass er aufgrund seines Grundsatzes, das Eigentum anderer Personen zu achten, der Neigung, den oben genannten Geldschein einzustecken, nicht nachgehen, sie also nicht als Ausdruck seines freien Willens anerkennen will. Er kann dieser Neigung aus vielerlei Motiven die Anerkennung verweigern: ein mögliches Motiv ist das Bewusstsein eines aus eigener Freiheit gegebenen Grundsatzes; und die Beherzigung solcher Grundsätze qualifiziert ihn nach Kants Auffassung als moralisches Subjekt. An dieser Stelle besitzt die Erfolgskontrolle eine Schlüsselfunktion innerhalb der Theorie der praktischen Freiheit, denn es ist ungeachtet aller Moralgelehrsamkeit ersichtlich, dass allein vor dem Hintergrund der Gestaltung der eigenen Freiheit ein Defizit an Erfolgskontrolle entsteht, sofern die Anerkennung gegebener Willensinhalte auf kontingente Art und Weise erfolgt und sich darum der Verfügungsgewalt des Subjekts entzieht. Die Anerkennung würde aber jederzeit auf kontingente Art und Weise erfolgen, wenn sie selbst ein Ausdruck der Neigung wäre und auf dem empirischen Begehrungsvermögen beruhte. Das Subjekt generiert aber die Verfügungsgewalt über die Inhalte seiner freien Willkür, die sich durch Neigungen einstellen, erst und gerade dadurch, dass es imstande ist, reflektiert mit ihnen umzugehen und sie in Abhängigkeit davon, ob sie beharrlichen Grundsätzen, die seiner Vernunft entspringen und die gesamte Sphäre seiner Freiheit gestalten, entsprechen oder nicht, auch anerkennt oder abgelehnt. Die Reichweite seiner praktischen Freiheit ist darum erstens davon abhängig, wie leistungsfähig die Vernunft bei der Gestaltung dieses allgemeinen normativen Rahmens ist und zweitens wie sehr der einzelne Akteur imstande ist, die Anerkennung gegebener Willensinhalte tatsächlich vor dem Hintergrund dieses normativen Rahmens zu vollziehen und sich nicht auf dieser Ebene der Willkür oder Trägheit zu überlassen, sondern die Verantwortung für seine Handlungen zu übernehmen und die entsprechende Erfolgskontrolle anzustreben.

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Solche Gesetze werden als „moralisch“ bezeichnet und gelten ausnahmslos, sollen also jedem einzelnen Akt der Anerkennung oder Ablehnung eines gegebenen Antriebs der Sinnlichkeit zugrunde liegen: sie gebieten „schlechterdings“ und „nicht bloß hypothetisch unter Voraussetzung anderer empirischen Zwecke“. (KrV, B 835) Zusammenfassend: Die freie Willkür, die die Grundlage zur Entfaltung der praktischen Freiheit darstellt, stellt also das Vermögen dar, nach der Vorstellung von Zwecken und Grundsätzen zu handeln. Die Grundsätze, nach denen diese Willkür ausgeübt wird und die somit einen integralen Bestandteil der Theorie der praktischen Freiheit darstellen, entspringen ihrerseits nicht der Sphäre der Sinnlichkeit und stellen somit keine sinnlichen Antriebe dar. Vielmehr entspringen sie der Vernunft. Die praktischen Grundsätze und praktischen Gesetze, die die Vernunft als Grundlage zur Entfaltung der praktischen Freiheit erlässt, werden in pragmatische und moralische unterschieden. Sofern die Bedingungen der Ausübung der freien Willkür empirisch sind und die Praxis auf die Erlangung der Glückseligkeit ausgerichtet ist, kann die Vernunft in dieser Sphäre lediglich pragmatische Grundsätze erlassen. Sofern die Bedingungen der Ausübung der freien Willkür a priori sind und die Praxis auf das Ziel der Glückswürdigkeit ausgerichtet ist, sind die Grundsätze, die die Vernunft in dieser Sphäre erlässt, moralisch. Die moralischen Gesetze gewährleisten den normativen Rahmen, innerhalb dessen es dem Subjekt möglich ist, auf der Grundlage beharrlicher Gesetze gegebene Antriebe der Sinnlichkeit als Ausdrücke seiner freien Willkür anzuerkennen oder abzulehnen. 3.3.3 Der Grundsatz der Widerspruchsfreiheit Innerhalb des Gesamtgefüges der Vermögen, die an der vollen Entfaltung der praktischen Freiheit beteiligt sind, übernimmt die Vernunft somit eine normative Funktion, indem sie Grundsätze vorgibt, die entweder moralisch oder pragmatisch sind. Indem die moralischen Grundsätze a priori aus der Spontaneität der praktischen Vernunft hervorgehen und ihre Gültigkeit ohne Einschränkung in jeder einzelnen Situation beibehalten (Vgl. B 835), während die pragmatischen Gesetze ihre Gültigkeit nur unter gewissen empirischen Bedingungen besitzen, also nur unter gewissen Umständen gelten, besteht zwischen den pragmatischen und den moralischen Gesetzen eine gewisse Hierarchie, nämlich dergestalt, dass die moralische Normativität die Sphäre des Pragmatischen übergreift und auch darin bestehen bleibt.

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Da es aus der Perspektive der Vernunft widersprüchlich wäre, wenn sie apriorische Gesetze erließe, die zwar jederzeit und überall gelten sollen, sie aber zugleich empirische, für einzelne Situationen gültige Grundsätze erließe, die den apriorischen Gesetzen widersprechen, muss aufgrund des Prinzips der Widerspruchsfreiheit240 angenommen werden, dass sämtliche pragmatischen Gesetze, die der praktischen Vernunft entspringen, im Einklang mit den moralischen Gesetzen stehen sollen. Somit ist keineswegs gesagt, dass es dem einzelnen Akteur in der einzelnen Situation nicht möglich sei, pragmatischen Grundsätzen zu folgen, die dem umgreifenden Rahmen der moralische Normativität widersprechen; die Pointe besteht vielmehr darin, dass er dies vernünftigerweise nicht soll. Sofern er nämlich die moralischen Grundsätze tatsächlich als Ausdruck seiner eigenen Vernunft begreift, und die entsprechenden Werte auch als Individuum verinnerlicht und vertritt, wird er jede Situation, in der er genötigt ist, gegen diese Werte und Grundsätze zu verstoßen, als Einschränkung seiner Freiheit, Nötigung oder Zwang empfinden; denn wenn ein Akteur beispielsweise den Grundsatz, das Leben oder das Eigentum Anderer zu achten, schlechterdings verinnerlicht, so wird er niemals aus eigener Freiheit Situationen hervorbringen wollen, in denen es unmöglich ist, diesem Grundsatz entsprechend zu handeln. Sofern er sich dann in einer Situation vorfindet, worin es ihm unmöglich ist, diesem Grundsatz entsprechend zu handeln, wird er sich genötigt fühlen – und zwar zu Recht. Es ist darum jederzeit möglich, darüber zu diskutieren, ob es für den einzelnen Akteur attraktiv ist, sein Leben nach kategorischen Grundsätzen zu führen, oder ob es attraktiver wäre, wenn er sich auch in der Gestaltung der Grundsätze, die für sein Leben gelten sollen, ein höheres Maß an Flexibilität und die Spontaneität bewahrte um eventuell auch als Persönlichkeit reifen zu können. Aber sofern man Kant darin zustimmt, dass wir als vernünftige Wesen das Vermögen besitzen, uns kategorische Grundsätze zu geben, so wird man ihm auch darin zustimmen müssen, dass das Vermögen, das diese kategorischen Grundsätze erlässt, niemals empirische Grundsätze erlassen darf, die den kategorischen widersprechen, denn in diesem Fall würde die Befolgung der empirischen Grundsätze die Verwirklichung der kategorischen unmöglich machen, oder aber die Befolgung der kategorischen Grundsätze die Verwirklichung der empirischen 240 Dieses Prinzip gehört seinerseits, wie Willaschek fest stellt, zwar nicht zum „Interesse“ der Vernunft, aber dies ist darum der Fall, weil es keinen Gegenstand des Interesses, sondern vielmehr ein „konstitutives Prinzip“ der Vernunft darstellt. Vgl.: Willaschek, M. 2008: Rationale Postulate. Über Kants These vom Primat der reinen praktischen Vernunft. In: Klemme, H.: Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung. 255.

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unmöglich machen. Da es sich aber um Grundsätze der Freiheit handelt, also Grundsätze, die der eigenen Freiheit entspringen und nach denen speziell die freie Willkür gestaltet werden soll, darf jederzeit angenommen werden, dass ein Akteur niemals zu etwas verpflichtet werden kann, das er unmöglich erreichen kann; also kann auch niemals angenommen werden, dass ein Grundsatz der Freiheit aus der Vernunft entspringen und Gültigkeit besitzen soll, obgleich es unmöglich ist, ihn zu verwirklichen. Gerade dieser Widerspruch wäre aber strukturell bedingt, wenn die Vernunft pragmatische Grundsätze erließe, die den moralischen Grundsätzen widersprechen; denn aufgrund der Tatsache, dass die moralischen Grundsätze jederzeit, überall und für jedermann gelten müssen, ist es niemals und unter keinen Umständen möglich, den entsprechenden Boden der Erfahrung zu finden, auf dem der vernunftwidrige empirische (pragmatische) Grundsatz, verwirklicht werden sollte. Es würde sich somit um einen Grundsatz handeln, der zwar angeblich von der Vernunft erlassen wird, aber niemals verwirklicht werden soll. Wenn er aber niemals verwirklicht werden soll, ist es überhaupt kein vernünftiger Grundsatz und besitzt somit keine Verbindlichkeit. Derselbe Gedanke kann, sofern er aus der gesamten Systematik der kantischen Kritiken und im Rückgriff auf das voll entfaltete begriffliche Potenzial der kantischen Theorie erörtert wird, noch deutlicher zum Ausdruck gebracht werden. Im Hinblick auf die systematische Unterscheidung der Begriffe: „Feld“, „Boden“ und „Gebiet“, die Kant in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft einführt und erörtert (Vgl.: KdU XVI f.), kann festgestellt werden, dass pragmatischen Gesetzen, die den moralischen Gesetzen widersprechen, kein „Gebiet“ zugeordnet werden kann, also keine Sphäre, auf der sie gesetzgebend wirksam werden könnten. Dies ergibt sich daraus, dass die moralischen Gesetze auf dem gesamten „Boden“ der Erfahrung gültig sind und somit auch jederzeit ein entsprechendes „Gebiet“ besitzen. Da sich aber das Gebiet, auf dem die moralische Vernunft eine gesetzgebende Kraft besitzt, über den gesamten Boden der Erfahrung erstreckt, ist es offensichtlich, dass kein Freiraum für pragmatische Gesetze, die den moralischen widersprechen, besteht. Hierbei handelt es sich um ein systematisches Argument, denn die Verwendung der Begriffe „Feld“, „Boden“ und „Gebiet“ ist nicht beliebig, und auch nicht auf den Gegenstandsbereich der Kritik der Urteilskraft beschränkt, sondern besitzt eine systematische Qualität, die die kantische Philosophie im Allgemeinen betrifft. Zusammenfassend: Vor diesem Hintergrund wird man erneut des Prinzips der Widerspruchsfreiheit der Vernunft gewahr und erkennt, dass die Rolle, die die Vernunft innerhalb des Gesamtgefüges der Vermögen, die an der Entfaltung

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der praktischen Freiheit beteiligt sind, einnimmt, nämlich Grundsätze zu erlassen, die die Ausübung der freien Willkür gestalten sollen, so dass ein möglichst hohes Maß an Erfolgskontrolle gegeben ist, ganz wesentlich darin besteht, die Ebene des Empirischen mit der Ebene des Allgemeinen, somit die Ebene des Pragmatischen mit der moralischen zu verbinden, und zwar derart, dass kein Widerspruch zwischen ihnen entsteht und besteht. Das Argument ist ganz simpel und besagt, dass die Vernunft, sofern sie das Prinzip der Widerspruchsfreiheit beherzigt, niemals Gesetze erlassen kann, die jederzeit überall und für jedermann gelten sollen und zugleich Gesetze erlassen kann, die ihnen widersprechen, denn Letztere wären für niemanden und unter keinen Umständen verbindlich, wären also überhaupt keine Gesetze. 3.3.4 Das Hervorbringungsverhältnis zwischen der Glückswürdigkeit und Glückseligkeit Wir haben also gesehen, dass die erfolgreiche Ausübung der praktischen Freiheit auf der Zusammenwirkung der freien Willkür mit der gesetzgebenden Vernunft beruht und dass die Vernunft pragmatische und moralische Gesetze zur Gestaltung der praktischen Freiheit erlässt. Darüber hinaus haben wir gesehen, dass die Ausübung der freien Willkür unter Beachtung pragmatischer Gesetze auf die Hervorbringung der Glückseligkeit ausgerichtet ist, während die moralische Praxis auf die Erlangung der Glückswürdigkeit ausgerichtet ist. Da aber beide Zielrichtungen zu ein und derselben Freiheit gehören und zudem irreduzible Momente des höchsten Guts als einer proportionierten Einheit von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit darstellen, ergibt sich die Frage, in welchem Verhältnis eigentlich die Glückswürdigkeit zur Glückseligkeit steht und dementsprechend auch die Frage, in welchem Verhältnis die Totalität der menschlichen Praxis unter maximal möglicher Beachtung der moralischen Gesetze zur Erlangung der Glückseligkeit steht. Grundsätzlich würde man annehmen, dass die Tatsache, dass die Theorie des höchsten Guts einen integralen Bestandteil der Theorie der praktischen Freiheit darstellt und die praktische Freiheit das Vermögen darstellt, nach der Vorstellung von Zwecken und Grundsätzen zu handeln, bzw. aus eigener Freiheit gesetzte oder sinnlich gegebene, aber als Ausdruck der eigenen freien Selbstbestimmung anerkannter Zwecke durch die Ergreifung geeigneter Mittel selbst zu verwirklichen, auch die Glückseligkeit nur insofern thematisch werden dürfte, als sie ein Produkt der eigenen Freiheit darstellt. Demnach dürfte in der Theorie des höchsten Guts, das den Endzweck der Ausrichtung der praktischen Freiheit, zugleich aber auch die Strukturbeschreibung der maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit darstellt, von der Glückseligkeit

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nur insofern die Rede sein, als sie durch die Praxis aller beteiligten Akteure hervorgebracht wird. Unter Beachtung der moralischen und pragmatischen Gesetzgebung der Vernunft ist diese Praxis aber auf bestimmte Art und Weise strukturiert und zeichnet sich dadurch aus, dass die vernunftfähigen Akteure dazu angehalten sind, die Willensinhalte, die sie als Ausdruck der eigenen freien Selbstbestimmung anerkennen, durch die Ergreifung geeigneter Mittel hervorzubringen, allerdings ausschließlich durch die Aktualisierung solcher Handlungsschemata, die auch in moralischer Hinsicht als Ausdruck der freien Selbstbestimmung gelten, also nur durch die Aktualisierung moralisch anerkannter Handlungsschemata. Die Praxis die als Grundlage der Hervorbringung bzw. eventuellen Hervorbringung der Glückseligkeit thematisch ist und einen integralen Bestandteil der Theorie des höchsten Guts darstellt, ist demnach die moralische Praxis und zwar nicht nur die moralische Praxis des einzelnen Akteurs, sondern die moralische Praxis der Totalität aller beteiligten Akteure.241 Da aber die Totalität aller denkbaren moralischen Akteure, zumindest auf diesem Planeten, identisch mit der Gesamtheit aller Menschen ist, müsste man annehmen, dass die Glückseligkeit, die als Bestandteil der Theorie des höchsten Guts thematisch ist, durch die Totalität der letztendlich auf der Vernunft und ihrer moralischen Autonomie gegründeten Praxis der Totalität aller Menschen hervorgebracht wird. Das ist aber nicht der Fall und darum ergibt sich für uns die Notwendigkeit, im Detail zu erörtern, warum es sich hier eigentlich um ein „Ideal“, also das Ideal des höchsten Guts handelt und welche Konsequenz die entsprechenden Überlegungen für die zugrunde liegende Frage besitzen, nämlich die Frage, was wir unter der Voraussetzung, dass wir tun, was wir sollen, also unter der Voraussetzung der maximalen Bemühung um die moralische Vollkommenheit, hoffen dürfen. Die Antwort ist nämlich gleichermaßen ermutigend, wie ernüchtert: erhoffen dürfen wir die Glückseligkeit – aber nicht in diesem Leben. Aber bleiben wir bei dem Gedanken der Hervorbringung der Glückseligkeit durch die Totalität der Praxis aller vernunftfähigen Akteure auf der Welt: die Gruppe aller vernunftfähigen Akteure auf der Welt kann nämlich einerseits in transzendentalphilosophischer Hinsicht, andererseits speziell im Hinblick auf die menschliche Willkür interpretiert werden und vor diesem Hintergrund kann erstens eine idealtypische Willensstruktur thematisch werden, die der maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit in Verbindung mit der maximalen Erfolgskontrolle bei der Ausübung derselben und somit bei der Verwirklichung der aus eigener Freiheit gesetzten oder als Ausdruck 241 Dieser Gedanke wird, mitsamt der darin enthaltenen Implikationen, im Zusammenhang mit dem „System der sich selbst lohnenden Moralität“ im Detail erörtert.

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der eigenen Freiheit anerkannten Willensinhalte zugrunde liegt, und zweitens die spezielle Struktur der menschlichen Willkür unter den Umständen, unter denen sie sich entwickelt, also in der empirischen Welt bzw. in der Sinnenwelt. Wir würden dann annehmen, dass die menschliche Willkür unter gewissen einschränkenden Bedingungen zur Entfaltung gelangt und dass ihr deswegen nicht alle Potenziale eröffnet werden können, die idealtypischerweise zur maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit nötig wären. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung stellt sich auch unsere Annahme, dass die Theorie des höchsten Guts die Glückseligkeit als Produkt der moralischen Praxis aller Beteiligten vernunftfähigen Akteure thematisiert, auf zweifache Weise dar, nämlich einmal so, wie sie idealtypischerweise sein soll, und, im Unterschied dazu, so, wie sie unter den einschränkenden Bedingungen der Sinnenwelt für die menschliche Willkür möglich ist; und es ergibt sich auch im Hinblick auf die Frage, ob die Theorie des höchsten Guts wirklich die Glückseligkeit als Produkt der Praxis aller beteiligten Akteure profiliert, auf der idealtypischen Ebene eine positive Antwort, unter den einschränkenden Bedingungen der Sinnenwelt aber, und im Hinblick auf die menschliche Praxis, speziell aufgrund des darin enthaltenen Mangels an Erfolgskontrolle, eine negative Antwort. Vor diesem Hintergrund muss die folgende Aussage interpretiert werden, die Kant im Zusammenhang mit den Überlegungen zum System der sich selbst lohnenden Moralität macht. Kant betont dort eigens, dass ein berechtigtes Anliegen der Vernunft besteht, zu erörtern, ob ein System der mit der Selbstverpflichtung zur moralischen Praxis verbundenen Hoffnung auf Glückseligkeit unter der Bedingung, dass die vernünftigen Wesen selbst Urheber ihrer eigenen Glückseligkeit sind, besteht, und hält fest: Nun lässt sich in einer intelligiblen, d.i. der moralischen, Welt, in deren Begriff wir von allen Hindernissen der Sittlichkeit (der Neigungen) abstrahieren, ein solches System der mit der Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit auch als notwendig denken, weil die durch sittliche Gesetze teils bewegte, teils restringierte Freiheit selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit, die vernünftigen Wesen also selbst unter der Leitung solcher Prinzipien Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhaften Wohlfahrt sein würden. (KrV, B 837) Sofern wir also von allen Hindernissen, die sich in der Sinnenwelt ergeben und die maximale Entfaltung der Sittlichkeit unmöglich machen, absehen, sofern wir also eine idealtypische Form der maximal mögliche Entfaltung der praktischen Freiheit betrachten, ließe sich ein „System der mit der Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit auch als notwendig denken“. Aber

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es ist nicht nur von Bedeutung, dass sich ein solches System der sich selbst lohnenden Moralität denken ließe: in dem hier thematischen Zusammenhang ist die anschließende Aussage von noch größerer Bedeutung, nämlich die Feststellung, dass dann die Freiheit selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit und die vernünftigen Wesen selbst die Urheber ihrer eigenen individuellen und kollektiven Wohlfahrt sein würden. Da sich aber die menschliche Willkür nun einmal nicht in Absehung von allen Hindernissen der Sittlichkeit entfaltet, sondern durch die gegebenen Umstände in der Sinnenwelt restringiert ist, muss in aller Strenge anerkannt werden, dass die Hervorbringung der Glückseligkeit selbst durch die maximale Anstrengung aller Menschen auf der Welt nicht möglich ist; und zwar darum, weil sie weder im Hinblick auf die eigenen Willensinhalte, noch in der Interaktion mit der Welt, in der sie dieselben verwirklichen wollen, das notwendige Maß an Erfolgskontrolle besitzen. Um dieser Differenz gerecht zu werden, unterscheidet Kant zwischen dem höchsten ursprünglichen und dem höchsten abgeleiteten Gut und entwickelt einen theoretischen Rahmen, der in thematischer und begrifflicher Kontinuität mit der Theorie des arbitrium liberum und des höchsten Guts in der Tradition der christlichen Metaphysik stellt, aber den Anspruch erhebt, die darin thematischen Inhalte vernunftkritisch zu reflektieren. Somit betreffen die Passagen, die das höchste ursprüngliche Gut behandeln, insofern eine Grenzbestimmung der Leistungsfähigkeit der praktischen Vernunft, als sie die maximale Entfaltung der praktischen Freiheit im Hinblick auf die Willensstruktur, die ihr zugrunde liegen muss, hin untersuchen. Wenn wir nun in demselben Zusammenhang von der Agens-Frage absehen und beide Momente, nämlich sowohl das höchste ursprüngliche als auch das höchste abgeleitete Gut (also die Ausdrücke: Gott und die beste Welt) bloß als Beschreibung der nötigen zugrunde liegenden Willensstruktur interpretieren, sehen wir, dass es sich hier um eine entsprechende Analyse auf zwei Ebenen handelt, nämlich einmal die höchst allgemeine Ebene, auf der überhaupt die Bedingungen der Möglichkeit dafür erörtert werden, dass eine berechtigte Hoffnung auf Glückseligkeit als Produkt der moralischen Praxis bestehen kann, und zweitens die Konkretisierung des Gedankens in Bezug auf menschliche Akteure. Dementsprechend steht auch die Unterscheidung zwischen diesem Leben und einem anderen Leben, oder von mir aus zwischen diesem Leben und einem zukünftigen Leben, für den Unterschied zwischen dem, was in der Erfahrungs- bzw. Lebenswelt der Fall ist, und dem, was vernünftigerweise der Fall sein soll und von uns erhofft werden darf. Letzteres entspricht insbesondere der Idee einer moralischen Welt, die zwar eine regulative Funktion für

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die Gestaltung der empirischen Welt besitzt, aber als solche niemals seiend ist – auch niemals seiend sein wird. Das bedeutet, dass die moralische Welt niemals wirklich242 ist, sondern wirklich sein soll. Die aktuelle, empirische Welt, ist in gewissem Maße von der idealtypischen moralischen Welt unterschieden und dieser Unterschied macht im Hinblick auf die Theorie der praktischen Freiheit ein Defizit aus. Dieses Defizit soll im Grunde genommen nicht bestehen und so lässt es sich mit einiger Berechtigung sagen, dass die Welt, wie sie ist, im Grunde genommen nicht sein soll, bzw. dass einiges von dem, was in der Welt der Fall ist, nach moralischen Gesichtspunkten nicht der Fall sein soll. Die Veränderung, aber, der aktuellen Welt, speziell die Aufhebung dessen, was nicht der Fall sein soll, und seine Verwandlung in Zustände, die in der Tat sein sollen, da sie moralisch gefordert und vernünftigerweise berechtigt sind, stellt die moralische Aufgabe im kantischen Sinne dar. Die moralische Aufgabe besteht also in der Aufhebung der Differenz zwischen der Welt, wie sie ist, und der Welt, wie sie idealtypische Weise sein soll, also zwischen den Zuständen in der seienden, empirischen Welt und der Idee einer moralischen Welt. Der Ausdruck „dieses Leben“ entspricht der Welt, wie sie ist, somit der Sinnen- bzw. Lebenswelt, während der Ausdruck „künftige Welt“ für die Welt, wie sie sein soll, also als Produkt unserer auf der Vernunft gegründeten Praxis hervorgehen soll, „kommen soll“, steht. In diesem Sinne ist sie „künftig“ bzw. „zu-künftig“. In expliziter Berufung auf B 836, worin die Aussage enthalten ist, dass die moralische Welt eine praktische Idee darstellt, „die wirklich ihren Einfluss auf die Sinnenwelt haben kann und soll, um sie dieser Idee so viel als möglich gemäß zu machen“, ist also der Imperativ zur Gestaltung der Welt nach dem Vorbild der Idee einer moralischen Welt, der an alle vernünftigen Wesen gerichtet wird, unmissverständlich. Um aber die reine Idee einer moralischen Welt zu gewinnen, sehen wir zunächst von den Hindernissen der Sittlichkeit, die sich in der Sinnenwelt einstellen, ab; nicht weil sie für die moralische Praxis unbedeutend sind, sondern eben weil sie 242 Man muss an dieser Stelle auch bedenken, was der Ausdruck „Wirklichkeit“ innerhalb der kantischen Philosophie bedeutet: die Wirklichkeit ist eine Kategorie, also ein reiner Verstandesbegriff, der, sofern er schematisiert wird, „das Dasein in einer bestimmten Zeit“ bezeichnet. (KrV, B 184) Auch die „Realität“ stellt einen reinen Verstandesbegriff, seine Kategorie dar, die, sofern sie schematisiert wird, das bezeichnet, was in reinen Verstandesbegriffe der eigentlichen Empfindung korrespondiert, siehst also dasjenige „dessen Begriff an sich selbst ein Sein (in der Zeit) anzeigt“. (KrV, B 182) Sofern also von der Wirklichkeit oder der Realität einer moralischen Welt gesprochen werden soll, ist im Grunde genommen die Erfahrbarkeit und Aktualität derselben thematisch: dass dies ohne Abstriche niemals möglich ist entspringt bereits aus der Tatsache, dass die moralischen Welt eine regulative Idee ist und niemals ein Erfahrungsbegriff sein kann.

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für die Gewinnung der regulativen Idee, die als Maßstab für die idealtypische Form der moralischen Praxis zugrunde gelegt werden muss, irritierend sind. Das entsprechende Verfahren der Idealisierung beschreibt Kant bereits in dem Abschnitt über die regulativen Ideen: Eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, dass jedes Freiheit mit der anderen ihrer zusammen bestehen kann, ist doch wenigstens eine notwendige Idee, die man nicht bloß dem ersten Entwurf eine Staatsverfassung, sondern auch bei allen Gesetzen zugrunde legen muss, und wobei man anfänglich von den gegenwärtigen Hindernissen abstrahieren muss, die vielleicht nicht sowohl aus der menschlichen Natur unvermeidlich entspringen mögen, als vielmehr aus der Vernachlässigung der echten Ideen bei der Gesetzgebung. Denn nichts kann schädlicheres und eines Philosophen unwürdigeres gefunden werden, als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung, die doch gar nicht existieren würde, wenn ihre Anstalten zu rechter Zeit nach den Ideen getroffen würden, und an deren Statt nicht rohe Begriffe, eben darum, weil sie aus Erfahrung geschöpft worden, alle gute Absicht vereitelt hätten. (KrV, B 373) Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass bei der Implementierung der von der Vernunft geforderten und auf Ideen gegründeten Strukturen in der empirischen Welt, ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem moralischen Ideal und der lebensweltlichen Wirklichkeit angenommen werden muss, indem die strukturelle Beschaffenheit der Idee aus der Apriorizität der Vernunft und nicht aus der bloßen Beschreibung der Zustände in der empirischen Welt gewonnen und anschließend als regulatives Prinzip für die moralische Praxis, also für die Gestaltung der empirischen Welt zugrunde gelegt wird. Eventuelle Schwierigkeiten bei der Implementierung der geforderten Strukturen dürfen nicht bereits bei der Gewinnung der Idee hinderlich werden, denn dies ist nach Kants Dafürhalten „pöbelhaft“ und „eines Philosophen unwürdig“. Auch muss davon ausgegangen werden, dass bei der Gestaltung der empirischen Welt durch die moralische Praxis, also bei dem Versuch der Angleichung der Zustände in der empirischen Welt nach dem Ideal der moralischen Welt, mannigfaltige Probleme auftreten. Kant vertritt in dem obigen Zitat ganz offensichtlich der Standpunkt, dass zumindest ein Teil dieser Probleme, nämlich, wie man vielleicht annehmen darf, speziell diejenigen, die die kodifizierte Praxis der Menschen betreffen und nicht unmittelbar aus der Natur entspringen, eventuell nur darum vorliegen, weil sie auf Strukturen beruhen, die eben nicht nach Ideen gestaltet wurden, sondern auf „rohen Begriffen“ beruhen.

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Diese hinderlichen Strukturen, die die moralische Praxis irritieren und der Idee der maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit der Menschen in der empirischen Welt entgegen stehen, dürfen keinesfalls ‚alle gute Absicht vereiteln‘. Man darf sich also keinesfalls von der moralischen Pflicht freisprechen, indem man sich darauf beruft, dass die Zustände in der Welt die vollkommene moralische Praxis behindern. Der moralische Imperativ bleibt nämlich unnachgiebig und verlangt zunächst die Erörterung der Frage, ob diese Strukturen, die die vollkommene Entfaltung der moralischen Praxis behindern, wirklich aus unveränderlichen Gesetzen der intelligiblen und empirischen Natur entspringen, oder nur die Manifestationen menschlichen Fehlverhaltens darstellen, speziell eines Fehlverhaltens, das auf dem Primat des Pragmatischen gegenüber dem Moralischen beruht. In Berufung auf das obige Zitat fällt Kants Kritik an der heutzutage sehr populären Theorie des moralischen Pragmatismus vernichtend aus: es handelt sich dabei um die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung im Zusammenhang mit Gegenstandsbereichen, die anhand regulativer Ideen der praktischen Vernunft gestaltet werden müssten. In diesem Kontext ist also die an beiden Stellen, nämlich B 837 und B 373 genannte Absehung von Zuständen in der empirischen Welt, die als Hindernisse der Sittlichkeit erscheinen, zu verstehen; und zwar sowohl im Hinblick auf die philosophische Pflicht, die Idee der moralischen Welt in ihrer Reinheit zu fassen, und diese Erörterung nicht durch die ‚pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung‘ zu kontaminierten, als auch im Hinblick auf den unbedingten Imperativ zur moralischen Praxis, also die unbedingte Aufforderung zur Gestaltung der Zustände in der Welt nach der Idee der maximal möglichen Entfaltung der praktischen Freiheit für alle beteiligten Akteure. Die Notwendigkeit, in diesem Zusammenhang die Frage der Moraltheologie überhaupt aufzuwerfen, ergibt sich aus der Tatsache, dass dieser Imperativ in einem Konflikt mit der Unmöglichkeit (für uns Menschen) steht, die moralische Welt in der empirischen Welt zu verwirklichen. Diese Unmöglichkeit stellt mitnichten die Folge eines Widerstreits der Vernunft mit sich selbst dar, sondern geht vielmehr daraus hervor, dass die Totalität aller vernünftigen Wesen in der empirischen Welt weder die volle Verfügungsgewalt über die eigenen Willensinhalte, noch die volle Gewalt über die Welt besitzt. Die Totalität der Praxis aller vernünftigen Wesen beinhaltet somit, selbst bei maximaler Bemühung jedes einzelnen Akteurs, notwendigerweise ein gewisses Defizit an Erfolgskontrolle und das Ideal des höchsten Guts, also die proportionierte Einheit von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit, lässt sich angesichts dieses Mangels an Erfolgskontrolle nur unter der Bedingung denken, dass das entsprechende Defizit auf irgendeine Art und Weise kompensiert werden kann.

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Der Ausdruck „Gott“ steht in diesem Zusammenhang für die Bezeichnung einer idealtypischen Willensstruktur, die erstens in vollem Einklang mit der Vernunft steht, und zweitens die volle Verfügungsgewalt sowohl über die eigenen Willensinhalte, als auch über die Welt, in der sie verwirklicht werden sollen, besitzt. An entscheidender Stelle wird Kant darum betonen, dass das höchste ursprüngliche Gut, also Gott, als „eine selbstständige Vernunft, mit aller Zulänglichkeit einer obersten Ursache ausgerüstet“ verstanden werden muss und er wird denselben Gedanken in der Kritik der praktischen Vernunft mehrmals formulieren. Aber ich will hier nicht vorgreifen: dies wird im Zusammenhang mit der Moraltheologie in der Kritik der reinen Vernunft und insbesondere im Zusammenhang mit dem Postulat Gottes als integralem Bestandteil der Theorie des höchsten Guts in der Kritik der praktischen Vernunft im Detail erörtert. Eines wird allerdings aufgrund der oben angeführten Überlegungen im Zusammenhang mit der Verortung der Theorie der Glückseligkeit in dem umgreifenden Rahmen einer Theorie der praktischen Freiheit und speziell unter Berufung auf die ganz eindeutige Äußerung auf B 837, vorausgesetzt, nämlich die These, dass die beiden Momente des höchsten Guts, nämlich die Glückswürdigkeit und Glückseligkeit in einem bestimmten, notwendigen Verhältnis zueinander stehen, das sich dadurch auszeichnet, dass die Glückseligkeit als Produkt der moralischen und pragmatischen, somit als Produkt der Totalität der vernünftigen Praxis aller beteiligten Akteure hervorgeht. Da diese Totalität der vernünftigen Praxis aller beteiligten Akteure wiederum deren Glückswürdigkeit ausmacht, ist die Glückseligkeit insofern thematisch, als sie durch die Glückswürdigkeit hervorgebracht wird. Jede Art von Glückseligkeit, die außerhalb dieses Hervorbringungsverhältnisses thematisch werden könnte, stellt keinen Bestandteil der hier zugrundeliegenden Theorie der praktischen Freiheit dar und spielt darum keine Rolle. Man sieht also, dass diese Interpretation ganz entscheidend mit einem bestimmten Verständnis davon, was als Glückswürdigkeit gilt, zusammenhängt. Sie wird nämlich, wie oben angedeutet, mitnichten als eine bloße Disposition, oder als Eigenschaft eines bestimmten Akteurs verstanden, die einmal erreicht wurde und ab dann in aller Zukunft (eventuell von Gott) belohnt wird. Vielmehr stellt die Glückswürdigkeit nach meinem Dafürhalten den Ausdruck für die Totalität der auf der Vernunft beruhenden Praxis aller beteiligten Akteure, sowohl im Einzelnen als auch im Kollektiv, dar. Die Glückswürdigkeit ist Praxis. Niemand kann jemals in Untätigkeit verharrend Glückswürdigkeit für sich beanspruchten und schon gar nicht hat er unter diesen Umständen Anlass irgendeine Form der Glückseligkeit das Produkt seiner eigenen Praxis zu erhoffen. Auch kann man die Glückswürdigkeit unter diesen

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Bedingungen nicht ein für alle Mal erreichen und in Zukunft genießen, den sie entsteht und vergeht mit der Aktualität der moralischen Praxis. 3.4

Der Begriff der Glückseligkeit in der Kritik der reinen Vernunft

Wenn Kant innerhalb seiner Theorie der praktischen Freiheit, die im Wesentlichen auf der freien Willkür beruht, und sich als Vermögen auszeichnet, die gegebenen Antriebe der Sinnlichkeit durch die Vorstellung von Zwecken und Grundsätzen zu überwinden, die (mit der Sittlichkeit proportionierte) Glückseligkeit als endgültiges Ziel dieser Freiheit profiliert, kann der Gedanke nur dann überzeugen, wenn der zugrunde liegende Begriff der Glückseligkeit in der Tat die Totalität aller Zwecke darstellt, die zur Ausrichtung der praktischen Freiheit dienen können. Es ist im Rahmen der Erörterung der Struktur der freien Willkür deutlich geworden, dass die Vorstellung zugrunde liegt, dass jedem möglichen Akteur gewisse Antriebe der Sinnlichkeit gegeben sind, auf deren Grundlage sich ihm Neigungen einstellen, die ihn, sofern er nur über arbitrium brutum verfügen würde, unmittelbar dazu brächten, sich auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten. Da er aber über die freie Willkür, arbitrium liberum, verfügt, ist er imstande, mögliche Konsequenzen seines Tuns und Lassens zu erwägen und zu beurteilen, ob die Befolgung einer gegebenen Neigung unter Umständen im Widerspruch mit langfristigen Präferenzen stehen könnte. Vor diesem Hintergrund ist er in der Lage, kurzfristige Befriedigungen gegebener Neigungen zugunsten langfristiger Pläne preiszugeben und somit insgesamt ein Höchstmaß der Befriedigung der eigenen Neigungen anzustreben. Sofern nun alle an der praktischen Freiheit beteiligten Vermögen in vollem Umfang wirksam sind, sofern also die freie Willkür in Verbindung mit der Vernunft Zwecken nachgeht, die für den einzelnen Akteur „in Ansehung (. . .) [seines] ganzen Zustandes begehrenswert sind“, ist es naheliegend, anzunehmen, dass die gesamte Praxis auf die vollständige Befriedigung aller nur denkbaren Neigungen und zwar in jeder Hinsicht und in höchster Intensität ausgerichtet sein kann. Diesem Gedanken entsprechend definiert Kants die Glückseligkeit als „Befriedigung aller unserer Neigungen, (sowohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade, und auch protensive, der Dauer nach)“. (KrV, B 834) Man sieht also sogleich, dass hier ein Begriff der Glückseligkeit zugrunde liegt, die als Totalität aller Zwecke, die durch die Neigungen gegeben werden können, konzipiert ist. Darum ist es an der entsprechenden Stelle überhaupt nicht nötig den Gedanken zu bemühen, dass die Vernunft im Grunde genommen das Vermögen darstellt, die Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten oder die Totalität

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der Zwecke für die moralische Praxis zu suchen, um zu begründen, warum die Glückseligkeit einen integralen Bestandteil der Theorie der praktischen Freiheit darstellt; denn die Glückseligkeit, von der hier gesprochen wird, stellt nichts anderes dar, als die Vorstellung von der Befriedigung sämtlicher Neigungen in jeder Hinsicht. Eine solche Vorstellung aber muss an die praktische Freiheit, sofern sie sich auf der Grundlage der freien Willkür vollzieht, nicht erst von außen herangetragen oder eigens begründet werden, denn sie geht unmittelbar aus der Struktur derselben hervor. In eine gewisse Erklärungsnot würde Kant an dieser Stelle geraten, wenn er als letzten Horizont zur Ausrichtung der praktischen Freiheit nicht eine sinnliche, sondern eine intellektuelle Glückseligkeit profilieren wollte. Denn es wäre nicht leicht, zu zeigen, wie es möglich ist, dass eine freie Willkür, die ihrer Struktur nach als Befriedigung von Neigungen bestimmt ist, die ihr durch die Sinnlichkeit gegeben werden, dazu kommt, in letzter Konsequenz eine intellektuelle Glückseligkeit anzustreben, die als Zustand eines Akteurs konzipiert ist, der sich gerade dadurch auszeichnet, dass er frei von allen Neigungen ist. Zwar sind solche Theorien in der Geschichte der Philosophie durchaus vertreten worden und, wie sich im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit den Stoikern zeigen wird, Kant durchaus bekannt, aber bereits in der Kritik der reinen Vernunft ist es ganz offensichtlich, dass sich Kant vom Glückseligkeitsideal der Stoiker distanziert, indem er keine intellektuelle, sondern eine bestimmte Form der sinnlichen Glückseligkeit243 als Endzweck der praktischen Freiheit profiliert. Es wird sich im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit den Epikureern zeigen, dass diese sinnliche Glückseligkeit nicht indifferent gegenüber der Frage der Moralität ist. Es wird sich auch zeigen, dass sie nicht für sich selbst bereits eine moralische Qualität besitzt. Vielmehr wird es sich herausstellen, dass Kant eine spezielle Form der sinnlichen Glückseligkeit profiliert, die als Produkt der praktischen Freiheit aller vernünftigen Wesen denkbar ist, sofern sie volle Gewalt über die Inhalte ihres Willens und zudem die volle Gewalt über die Natur, in der sie ihre Zwecke verwirklichen müssen, besitzen. Die Definition, dass die Glückseligkeit die Befriedigung aller unserer Neigungen extensive, intensive und protensive darstellt, ist darum zwar höchst geeignet, um allen Zweifel daran auszuschließen, dass Kant m ­ öglicherweise 243 In der Sekundärliteratur wird in diesem Zusammenhang nicht von sinnlicher, sondern von empirischer Glückseligkeit gesprochen, aber ich finde, dass die „Befriedigung aller unserer Neigungen“ besser mit dem Ausdruck „sinnlich“ als „empirisch“ bezeichnet werden kann. Aber im Grunde genommen ist es egal, wie man es nennt: solange man es konsequent von der intellektuellen Glückseligkeit unterscheidet.

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eine seichte moralistische Vorstellung von einer, wie auch immer gearteten, intellektuell beschnittenen Glückseligkeit profiliert, aber es muss beachtet werden, dass Kant der Tatsache gewahr ist, dass die Neigungen, die die Grundlage dieses Glückseligkeitskonzepts darstellen, durchaus miteinander im Widerspruch stehen können und ebenso im Widerspruch mit dem endgültigen Ziel, nämlich der Glückseligkeit selbst stehen können. Darum ist die entsprechende Definition zwar richtungsweisend, aber nicht vollkommen erschöpfend, denn es kommen noch einige Bedingungen hinzu, die sich aus der Struktur der praktischen Freiheit unmittelbar ergeben, insbesondere sofern man bedenkt, dass von einer Glückseligkeit gesprochen wird, die aus eigener Freiheit hervorgebracht werden muss. Diese Bedingungen werden nicht von außen an die Konzeption des Glückseligkeitsbegriffs herangetragen, sondern stellen integrale Bestandteile der Theorie der praktischen Freiheit dar, als deren endgültiges Ziel die Glückseligkeit formuliert wird. Es ist bereits deutlich geworden, dass zur vollen Entfaltung der praktischen Freiheit die volle Leistungsfähigkeit aller beteiligten Vermögen angenommen werden muss, speziell der freien Willkür und der Vernunft, wobei die Letztere pragmatische und moralische Gesetze erlässt, die in Ansehung bestimmter Zwecke oder in Ansehung unseres ganzen Zustandes richtungsweisend sind. An dieser Stelle, da es um die Erörterung der Frage geht, was genau Kant unter Glückseligkeit versteht, könnte man vermuten, dass der Gedanke sehr bald auf die Bedeutung der moralischen Gesetze gelenkt wird und die zwar richtige aber im Grunde genommen seichte Erinnerung erfolgt, dass Kant als Endzweck der praktischen Freiheit nicht bloß die Glückseligkeit, sondern die proportionierte Einheit zwischen Glückswürdigkeit und Glückseligkeit profiliert, dass aber die Glückswürdigkeit als Totalität der moralischen Praxis zu verstehen sei und dass man am Ende keine Glückseligkeit hoffen dürfte, sofern man nicht moralisch handelt. Falsch ist das nicht, aber nutzlos durchaus, und zudem birgt es die Gefahr, dass es zu Missverständnissen führen könnte, nämlich dahingehend, dass man den strukturellen Zusammenhang zwischen der Glückswürdigkeit und Glückseligkeit übersieht, indem man ein äußerliches Verhältnis zwischen den beiden annimmt und die Erklärungslücke mit der Phrase schließt, dass Kant beides fordere. Die Frage besteht aber darin, warum Kant beides fordert. Warum muss alle praktische Freiheit, sofern in ihr die freie Willkür und die Vernunft in vollem Umfang wirksam sind, letztendlich eine Form der durch Sittlichkeit hervorgebrachten Glückseligkeit thematisieren? Warum nicht eine Form der durch Unsittlichkeit hervorgebrachten Glückseligkeit? Weil sich dann irgendwelche seichten Moralisten aufregen würden? Wessen Glück würde das beschädigen? Das der seichten Moralisten, „deren Name Legion heißt“, wie er in der Vorrede

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zur Grundlegung der Metaphysik der Sitten sagt, mein eigenes oder das aller vernünftigen Wesen? Nein, nein: Der innere Zusammenhang zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit, der in dieser Theorie der praktischen Freiheit erkennbar ist, besteht darin, dass die Glückseligkeit, von der hier die Rede ist, wie oben eigens erörtert, durch die eigene praktische Freiheit hervorgebracht werden muss und dass die Glückswürdigkeit nichts Anderes als die Totalität dieser Hervorbringung darstellt. Zwar definiert Kant die Glückseligkeit als Befriedigung aller meiner Neigungen extensive, intensive und protensive, aber in demselben Abschnitt, in dem gleich im nachfolgenden Satz pragmatische und moralische Gesetze definiert werden; woraus deutlich wird, dass er ein klares Bewusstsein davon besitzt, dass diese Glückseligkeit zwar angestrebt werden kann, aber unmöglich sinnvoll gedacht werden kann, wenn sich beispielsweise die Neigungen, die befriedigt werden sollen, gegenseitig widersprechen. Die Glückseligkeit ist daher zwar die Befriedigung aller unserer Neigungen in jeder Hinsicht, aber sofern sie als Produkt der praktischen Freiheit hervorgehen soll, ist es selbstverständlich, dass zumindest eine Dimension der pragmatischen Gesetzgebung der Vernunft involviert ist, die dazu dient, dass wir der Klugheitsregel entsprechend die Vereinigung aller Zwecke unter dem Endzweck der Glückseligkeit anstreben und die Widerspruchsfreiheit dieser Zwecke, somit der Neigungen, gewährleisten. Ebenso ist es selbstverständlich, dass diese Form der Glückseligkeit undenkbar ist, wenn einzelne Zwecke dem, „was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswert, d. i. gut und nützlich ist“ (KrV, B 830) widersprechen. Es kommt also darauf an, dass die Resultate der bisherigen Überlegungen aufrechterhalten werden und dass nicht an der Stelle, an der die Glückseligkeit definiert wird, der Grundsatz der Widerspruchsfreiheit und Hervorbringung, sowie die Bedeutung und Funktion der pragmatischen Vernunft in Vergessenheit gerät. Die Glückseligkeit stellt also einen Zustand der Befriedigung aller unserer Neigungen extensive, intensive und protensive dar, aber sofern sie als endgültiges Produkt der praktischen Freiheit gedacht werden soll, kann sie nur auf der Grundlage der Widerspruchsfreiheit der Neigungen und Grundsätze beruhen. Wenn auch diese Widerspruchsfreiheit durch die praktische Freiheit der beteiligten Akteure gewährleistet werden soll, ist dies nur durch die volle Leistungsfähigkeit der praktischen Vernunft als Quelle der pragmatischen und moralischen Normativität möglich. Somit ist es zwar durchaus möglich, sich eine sinnliche Glückseligkeit vorzustellen, die nicht auf pragmatischen und moralischen Gesetzen beruht, es ist aber nicht möglich, sie dann als Ausdruck der eigenen Freiheit zu begreifen, also anzunehmen, dass sie von den Akteuren bewusst und durch die Ergreifung geeigneter Mittel eigens hervorgebracht wird. Sie kann sich dann

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möglicherweise zufällig oder durch die Einwirkung Dritter einstellen, aber nicht als Ausdruck der eigenen Freiheit gelten. Da es aber unkontrovers ist, dass Kant die Theorie des höchsten Guts, von der hier zunehmend die Rede ist, als Bestandteil einer Theorie der praktischen Freiheit entwickelt, ist es ebenso unkontrovers, dass das Hervorbringungsverhältnis hierbei eine entscheidende Rolle spielt und dass in diesem Rahmen der Grundsatz von der Widerspruchsfreiheit der praktischen Gesetze und Zwecke wirksam ist. Man sieht darum, dass eine Theorie der sinnlichen Glückseligkeit als Produkt der praktischen Freiheit jederzeit die Wirksamkeit der Grundsätze, nach denen sie eigens hervorgebracht wird, beinhalten muss. Da diese Grundsätze als pragmatische und moralische gelten, ist es offensichtlich, warum Kant als Endzweck der praktischen Freiheit nur eine Form der durch Glückswürdigkeit hervorgebrachten Glückseligkeit thematisch machen kann. Es handelt sich dabei immer noch um eine Glückseligkeit, die als Befriedigung aller Neigungen definiert wird, aber sie ist nur unter der Bedingung denkbar, dass der einzelne Akteur eine gewisse Kontrolle über die Neigungen und die Mittel zu ihrer Hervorbringung besitzt. Denn sofern er nicht vernünftigerweise ausschließen kann, dass sich beispielsweise die Neigungen widersprechen, ist eine solche Glückseligkeit nicht vernünftigerweise denkbar – jedenfalls nicht als Produkt seiner eigenen Freiheit. 3.5

Das System der sich selbst lohnenden Moralität

Auf die Frage, was ich tun soll, lässt sich also in freier Auslegung der Antwort: „Tue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein“ (KrV, B 836 f.), ebenso Antworten: Tue das, was vernünftigerweise geboten ist. Fragt man nach, warum man dies tun solle, fällt die Antwort ebenso leicht: Weil du dann die größten Aussichten auf Erfolg hast. Fragt man, was man denn hoffen darf, sofern man tut, was man soll, wäre die naheliegende Antwort: Du darfst hoffen, das hervorzubringen, was du willst. Über kurz oder lang darf man also die Befriedigung der einen oder anderen Neigung erhoffen, somit die Erzeugung des einen oder anderen Glückszustandes, letztendlich aber darf man die Befriedigung aller seiner Neigungen in jeder Hinsicht, somit die Glückseligkeit erhoffen. Auf die Frage also: „wie, wenn ich mich nun so verhalte, dass ich der Glückseligkeit nicht unwürdig sei, darf ich auch hoffen, ihrer dadurch teilhaftig werden zu können?“ (KrV, B 837), lautet die Antwort: Ja, hoffen darfst du das. Dafür müssen allerdings einige Bedingungen erfüllt werden, die mit gewissen Ansprüchen an den Akteur selbst verbunden sind, zudem mit gewissen Ansprüchen an die

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Gesamtheit aller beteiligten Akteure, und darüber hinaus auf der Bedingung beruhen, dass der Akteure die volle Gewalt über die Welt besitzen, worin sie ihre Zwecke verwirklichen soll. „In diesem Leben“ ist das nicht der Fall, also besteht auch keine Hoffnung, dass der einzelne Akteur, sofern er tut, was er soll, in diesem Leben der Glückseligkeit teilhaftig wird. Die Gründe dafür sind simpel: erstens wird er jederzeit ein gewisses Maß an Willensschwäche aufweisen und darum niemals vollständig vernünftige Zwecke verfolgen, zweitens wird er aus Neigung, Trägheit, Dummheit oder bloßer Unkenntnis niemals dem Anspruch gerecht werden, jederzeit die Mittel, die vernünftigerweise geboten sind, zu ergreifen, drittens kann niemals davon ausgegangen werden, dass in der Lebenswelt, worin der einzelne Akteur seine Zwecke verwirklicht, tatsächlich alle beteiligten Akteure vollkommen vernunftgebunden, somit auch vollkommen moralisch handeln und es muss davon ausgegangen werden, dass der einzelne moralisch handelnde Akteur immer wieder übervorteilt wird und viertens, und das ist das wichtigste, besitzen alle vernunftfähigen Akteure in dieser Welt mitnichten die volle Verfügungsgewalt über die Natur, in der sie ihre Zwecke verwirklichen. So kann sich zuletzt aus der Eigendynamik der Natur jederzeit ein nahezu unüberwindbarer Widerstand gegen die Verwirklichung der aus Freiheit gesetzten Zwecke ergeben und der Totalität aller vernünftigen Wesen, selbst wenn die oben genannten drei Bedingungen erfüllt sind, einen Strich durch die Rechnung machen. Das weiß Kant ganz genau, weswegen er die ersten beiden Bedenken im Zusammenhang mit dem System des sich selbst lohnenden Moralität thematisch macht, das Grundmotiv der Willensschwäche der gesamten Theorie der praktischen Freiheit zugrunde legt und den Mangel an Verfügungsgewalt über die Welt, in der die Freiheit verwirklicht werden soll, zum Anlass für das Postulat vom Dasein Gottes nimmt. In einer Welt aber, in der die obigen Bedingungen erfüllt sind, bestünde die entsprechende Hoffnung durchaus. Sie wird als moralischen Welt bezeichnet und daher besteht die höchste Aufgabe aller vernünftigen Wesen darin, die Welt, in der sie leben, so zu gestalten, dass sie der moralischen Welt, so weit wie möglich, entspricht; und zwar darum, damit zunehmend die berechtigte Hoffnung besteht, dass jedes vernünftige Wesen, das sich durch seine Praxis als glückswürdig erweist, auch das entsprechende Maß an Glückseligkeit erwirkt. Nun lässt sich in einer intelligiblen, d.i. der moralischen Welt, in deren Begriff wir von allen Hindernissen der Sittlichkeit (der Neigungen,) abstrahieren, ein solches System der mit der Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit auch als notwendig denken, weil die

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durch sittliche Gesetze teils bewegte, teils restringierte Freiheit, selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit, die vernünftigen Wesen also selbst, unter der Leitung solcher Prinzipien, Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhafter Wohlfahrt sein würden. Aber dieses System der sich selbst lohnenden Moralität ist nur eine Idee, deren Ausführung auf der Bedingung beruht, das jedermann tue, was er soll, d.i. alle Handlungen vernünftiger Wesen so geschehen, als ob sie aus einem obersten Willen, der alle Privatwillkür in sich, oder unter sich befasst, entsprängen. (KrV, B 837 f.) Kurz: unter bestimmten Bedingungen lässt es sich durchaus denken, dass die Totalität der Praxis aller vernünftigen Akteure die Glückseligkeit derselben hervorbringt. Die Aufgabe der Kritik der reinen Vernunft besteht darin, aufzuzeigen, unter welchen Bedingungen dieses System der sich selbst lohnenden Moralität sinnvollerweise gedacht werden kann und sogar nach Kants eigener Aussage notwendigerweise gedacht werden muss. Ich empfehle, diesen Abschnitt zunächst in drei Teilabschnitte zu unterteilen, nämlich: a.

Nun lässt sich in einer intelligiblen, d.i. der moralischen Welt, in deren Begriff wir von allen Hindernissen der Sittlichkeit (der Neigungen,) abstrahieren, ein solches System der mit der Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit auch als notwendig denken,. . . b. . . . weil die durch sittliche Gesetze teils bewegte, teils restringierte Freiheit, selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit, die vernünftigen Wesen also selbst, unter der Leitung solcher Prinzipien, Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhafter Wohlfahrt sein würden. c. Aber dieses System der sich selbst lohnenden Moralität ist nur eine Idee, deren Ausführung auf der Bedingung beruht, das jedermann tue, was er soll, d.i. alle Handlungen vernünftige Wesen so geschehen, als ob sie aus einem obersten Willen, der alle Privatwillkür in sich, oder unter sich befaßt, entsprängen. Darüber hinaus empfehle ich, den Abschnitt B. ebenfalls in zwei Abschnitte zu unterteilen, nämlich: b1. . . . weil die durch sittliche Gesetze teils bewegte, teils restringierte Freiheit, Selbstursache der allgemeinen Glückseligkeit (. . .) sein würde b2. . . . weil die vernünftigen Wesen also selbst, unter der Leitung solcher Prinzipien, Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhafter Wohlfahrt sein würden.

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Das System der sich selbst lohnenden Moralität kann, der ersten Aussage im ersten Teilabschnitt zufolge, nur unter der Bedingung, dass wir zunächst einmal von allen Hindernissen der Sittlichkeit, die sich eventuell aus der Sphäre der Neigungen ergeben könnten, abstrahieren, gedacht werden. Darüber hinaus wird in demselben Teilabschnitt ausgesagt, dass sich dieses System der mit der Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit, selbstverständlich unter den genannten Bedingungen, auch als notwendig denken lässt. Man muss die Interpretation überhaupt nicht forcieren, um aus ihr auch die Aussage herauszulesen, dass sich unter den gegebenen Bedingungen in der Lebenswelt, mitsamt allen Hindernissen der Sittlichkeit, die sich durch die Neigungen ergeben, das System der sich selbst lohnenden Moralität nicht notwendigerweise denken lässt, sich die Moralität also eventuell nicht auszahlt. Kant besitzt demnach ein klares Bewusstsein dafür, dass sich unter den empirischen Bedingungen der Lebenswelt dem einzelnen Akteur durchaus Neigungen einstellen können, die erstens im Widerspruch zu den moralischen Gesetzen stehen können, so dass keine Hoffnung besteht, dass sie durch die moralische Praxis befriedigt werden können, sie also, „wenn ich tue, was ich soll“, unbefriedigt bleiben. Zudem besitzt er selbstverständlich ein klares Bewusstsein davon, dass es unter den empirischen Bedingungen dieser Welt denkbar ist, dass einzelne Akteure infolge gegebener Neigungen, beispielsweise der Trägheit, nicht tun, was sie sollen. „In dieser Welt“ muss also davon ausgegangen werden, dass sich aus der Sphäre der Neigungen einige Hindernisse der Sittlichkeit einstellen, und sofern sie bestehen bleiben, ist alle Hoffnung auf die Glückseligkeit als Produkt unserer Freiheit vergeblich. Aber wir erinnern uns an ein Zitat, das bereits in einem anderen Zusammenhang herangezogen wurde und besagt: „nichts kann schädlicheres und eines Philosophen unwürdigeres gefunden werden, als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung“ (KrV, B 373), insbesondere wenn es um Überlegungen geht, die den letzten Zweck des Gebrauchs unserer Vernunft angehen. Also empfiehlt Kant, bei der Erörterung der Frage, wie der Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit vernünftigerweise gedacht werden soll, zunächst einmal von den Hindernissen, die sich durch die Kontingenz des empirischen Begehrungsvermögens und anderer empirischer Umstände einstellen, abzusehen, und sich Rechenschaft darüber abzulegen, was überhaupt vernünftigerweise gedacht und gewollt werden könnte, wenn es möglich wäre, diese Hindernisse zu überwinden. Der zweite Abschnitt, nämlich b, enthält die Aussagen, b1. dass eine bestimmte Form der Freiheit selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit ist,

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b2. dass diese Freiheit durch sittliche Gesetze teils bewegt, teils restringiert wird b3. dass die vernünftigen Wesen selbst Urheber ihrer eigenen individuellen und kollektiven (dauerhaften) Wohlfahrt sein sollen. b4. dass sie sowohl ihre eigene Wohlfahrt als auch die Wohlfahrt aller anderen bewirken sollen, somit auch wollen sollen. Dieser Abschnitt ist im Hinblick auf das bereits erörterte Hervor­ bringungsverhältnis zwischen der moralischen Praxis und der Glückseligkeit wichtig und wurde an der entsprechenden Stelle bereits berücksichtigt. Interessant und neu sind lediglich die Aussagen b2 und b4. Demnach wird die Freiheit teils durch sittliche Gesetze bewegt, teils dadurch restringiert. Sie wird durch sittliche Gesetze bewegt, insofern ihre Bestimmungsgründe a priori sind, sofern der Akteur also bestrebt ist, einen Willensinhalt oder Grundsatz, der seiner eigenen Spontaneität entspringt und im Einklang mit der moralischen Autonomie steht, auf dem Boden der Erfahrung durch die Handlung zu verwirklichen. Restringiert wird die Freiheit unter der Bedingung, dass sich die Unabhängigkeit von Antrieben der Sinnlichkeit als Überwindung gegebener Neigungen aus Achtung vor dem Sittengesetz entfaltet. Soll aber ein System der sich selbst lohnenden Moralität gedacht werden, ist beides nötig, nämlich die Verwirklichung der moralischen Gesetze auf dem Boden der Erfahrung und die Überwindung hinderlicher Neigungen. Unter diesen Bedingungen hat ein vernünftiger Akteur durchaus das Recht zu hoffen, dass er, sofern er tut, was er soll, sich also der Glückseligkeit würdig erweist, ihrer auch teilhaftig wird – aber nur beinahe: denn ganz offensichtlich ist sich Kant darüber im Klaren, dass es ein Mensch, der stets den moralischen Gesetzen folgt, unter den empirischen Bedingungen dieser Welt nicht leicht hat. Es besteht jederzeit die berechtigte Sorge, dass er unaufhörlich betrogen und übervorteilt wird, weswegen er sich insgesamt zwar des Glückes würdig erweist, seiner aber unter Umständen nicht teilhaftig wird. Soll aber eine notwendige und proportionierte Verknüpfung zwischen der Glückswürdigkeit und Glückseligkeit gedacht werden, so kann dies nach Kants Aussage nur unter der Bedingung, dass jedermann jederzeit tue, was er soll, der Fall sein. Sofern nur manche Akteure nur manchmal dem moralischen Gesetz folgen, oder auch nur manche Akteure jederzeit dem moralischen Gesetz folgen, besteht stets die Gefahr, dass einzelne Akteure in einzelnen Situationen unmoralisch handeln und zwar auf eine Art und Weise, die der dauerhaften Wohlfahrt der Anderen abträglich ist. Das System der sich selbst lohnenden Moralität beruht also auf der Voraussetzung, dass jeder einzelne Akteur ausnahmslos moralisch handelt. Auch an dieser Stelle drängt sich „die pöbelhafte Berufung auf vorgeb-

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lich widerstreitende Erfahrung“ nahezu auf, aber sie ist überflüssig, denn ganz offensichtlich sind die psychologischen Gegebenheiten der Menschen auch Kant nicht fremd, weswegen er betont, dass unter den gegebenen Umständen in der Lebenswelt wenig Hoffnung auf die proportionierte Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit besteht, dass diese aber nur unter den genannten Bedingungen denkbar ist. In dieser, unserer Welt hat es Homer Simpson stets leichter als Ned Flanders: aber gut ist das nicht – höchstens lustig. Soweit ist die Theorie der sich selbst lohnenden Moralität unproblematisch, denn sie entspricht selbstverständlich der zugrunde liegenden Fragestellung, ob ein Akteur, der tut, was er soll, sich somit des Glückes würdig erweist, auch hoffen darf, glücklich zu werden und besagt, dass das Anliegen an sich berechtigt ist und dass der entsprechende Zusammenhang von Sittlichkeit und Glückseligkeit vernünftigerweise angenommen werden soll, dass dies aber nur unter bestimmten Bedingungen möglich ist und zwar insbesondere unter der Bedingung, dass jedermann tue, was er soll und somit gewährleistet wird, dass jeder einzelne Akteur gleichermaßen seine eigene, also die individuelle Wohlfahrt, wie auch die Wohlfahrt aller anderen befördert. Letzteres stellt allerdings eine weitere Bestimmung dieses Gedankens dar, indem es die Willensstruktur jedes einzelnen Akteurs betrifft und in Bezug auf diese intrasubjektive Dimension des Willens die Forderung erhebt, dass sie sowohl das individuelle, als auch das kollektive Wohl, beziehungsweise sowohl die individuelle als auch die kollektive Wohlfahrt im Sinne haben muss. Demnach beruht sie Idee der sich selbst lohnenden Moralität nicht nur auf der Voraussetzung, dass jedermann tue, was er soll, sondern auch auf einer weiteren Voraussetzung, die die Struktur des Willens bestimmt, der wirksam werden soll. Es wird damit ex negativo dem Erfahrungsinhalt, dass einzelne Akteure in dieser, unserer Welt durchaus dazu neigen, das eigene Wohl über das Wohl der anderen zu stellen, entsprochen, und es wird eingesehen, dass dieses Phänomen dem System der sich selbst lohnenden Moralität abträglich ist. Soll aber eine solche Idee der mit der Sittlichkeit proportional ausgeteilten Glückseligkeit denkbar sein, so nur unter der Voraussetzung, dass sich die Willensstruktur jedes einzelnen Akteurs dadurch auszeichnet, dass er sowohl sein eigenes Wohl als auch das Wohl aller anderen Akteure befördern will. Der obige Abschnitt C enthält aber über die Forderung, dass jedermann tue, was er soll, hinaus, auch die Aussage, dass „alle Handlungen vernünftige Wesen so geschehen, als ob sie aus einem obersten Willen, der alle Privatwillkür in sich oder unter sich befasst, entsprängen“ und es könnte sich die irritierende Frage ergeben, auf welchen Akteur dieser oberste Wille eigentlich referiert, wenn nicht die beiden Satzteile durch die Äquivalenzformel „d.i.“ miteinander verbunden wäre: indem dies aber der Fall ist, haben wir Anlass anzunehmen,

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dass der Satzteil, der auf die Formel „d.i.“ folgt, das, was zuvor gesagt wurde, erläutert und mitnichten einen neuen Gedanken einführt. Die Formulierung, dass alle Handlungen vernünftiger Wesen so geschehen soll, als ob sie einem obersten Willen entsprängen, muss also in einem bestimmten Zusammenhang mit der Formulierung stehen, dass jedermann tue, was er soll. Dass jedermann tue, was er soll, enthält wiederum die Bestimmung, dass alle Akteure ausnahmslos auf bestimmte Art und Weise tätig werden sollen, und darüber hinaus die Bestimmung, dass alle Akteure der Vernunft und den Grundsätzen, die sie vorgibt, verpflichtet sind. Darin ist also die Forderung enthalten, dass jeder einzelne Akteur jederzeit im Einklang mit der Vernunft handelt, dass also seine Willensinhalte im Einklang mit der Vernunft stehen. Man könnte dies kurz auf die Formel bringen, dass jedermann jederzeit vernünftig handle. In diesem Falle stünde aber jeder einzelne Willensinhalt im Einklang mit einer idealtypischen und vollkommen auf der Vernunft beruhenden Willensstruktur, die mit einiger Berechtigung als ein „oberster Wille“ bezeichnet werden könnte, „der alle Privatwillkür in sich, oder unter sich befaßt“. Er befasst sich in sich, sofern die Bedingungen der Ausübung unserer Freiheit a priori sind, sofern also der Wille aus eigener Spontaneität tätig wird, befasst sie unter sich, sofern sie diskursiv darunter subsumiert werden können. Der oberste Wille referiert somit mitnichten auf einen von der Totalität aller vernünftigen Wesen unterschiedenen Akteur, der als höchste Autorität diesen vorschreibt, wie sie handeln sollen, sondern bezeichnet eine idealtypische Willensstruktur, die, indem sie vollkommen auf der Vernunft beruht, von jedem einzelnen Akteur beherzigt werden sollte. Sie ist auf zweierlei Art allgemein, indem sie erstens die Individualwillkür mit dem kollektiven Willen abstimmt, und zweitens auf intersubjektiver Ebene jeden einzelnen Akteur dazu anregt, den einzelnen Ausdruck seiner Willkür vor dem Hintergrund zu prüfen, ob er einem auf der Vernunft beruhenden Willen entspricht und somit vernünftigerweise berechtigt ist. Die Willensstruktur jedes einzelnen Akteurs zeichnet sich dadurch aus, dass er nach Grundsätzen, die seiner eigenen Spontaneität, respektive der Autonomie der Vernunft entspringen, zu handeln und mit ihrer Hilfe gegebene Antriebe der Sinnlichkeit, sofern sie seiner eigenen Freiheit abträglich sind, zu überwinden vermag. Demnach zeichnet sich seine Willensstruktur durch ein bestimmtes Verhältnis von Allgemeinheit und Besonderheit aus, indem die freie Willkür im Spannungsfeld dessen, was im Allgemeinen gewollt wird, mit dem, was sich im Einzelnen infolge eines gegebenen Antriebs der Sinnlichkeit einstellt, entfaltet. Um dies zu illustrieren, will ich nochmal zwei Textstellen bemühen, die ich an anderer Stelle bereits herangezogen habe, nämlich B 828 und B 835, worin gesagt wird, dass die Vernunft moralische

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Gesetze erlässt, sofern die Bestimmungsgründe der Ausübung der freien Willkür a priori sind und dass diese reinen moralischen Gesetze völlig a priori das Tun und Lassen, das heißt den Gebrauch der Freiheit eines vernünftigen Wesens bestimmen sollen, und zwar ausnahmslos in jeder einzelnen Situation. Sofern sich die freie Willkür also derart vollzieht, dass sie auch die Dimension der moralischen Autonomie zur Entfaltung bringt, besitzt jeder einzelne Willensakt stets eine allgemeine Dimension, die jederzeit über den einzelnen Inhalt, der sich gerade durch den Antrieb der Sinnlichkeit, also durch das empirische Begehrungsvermögen, einstellt, verfügt. Das empirische Begehrungsvermögen aber liefert jeweils den einzelnen Inhalt, der sich seinerseits auf kontingente Art und Weise einstellt und zunächst einmal indifferent gegenüber der Frage der Moral ist. Sofern aber die einzelnen Willensinhalte, die sich durch die Kontingenz des empirischen Begehrungsvermögens einstellen, im Widerspruch zu dem allgemeinen Gesetz stehen, lässt sich das System der sich selbst lohnenden Moralität nicht vernünftigerweise denken. Nur unter der Bedingung, dass sie im Einklang mit dem moralischen Gesetz und dem das moralische Gesetz beherzigenden „obersten willen“ stehen, ist dies möglich. Ob sie aber im Einklang oder im Widerspruch mit dem obersten Willen, somit zugleich mit dem moralischen Gesetz stehen, kann entweder zufällig oder notwendig bestimmt sein. Notwendig kann es nur unter der Bedingung sein, dass der oberste Welle eine entsprechende Verfügungsgewalt über die einzelnen Inhalte besitzt, indem sie eben diesem obersten Willen entspringen. Entscheidend ist also auch an dieser Stelle die Erfolgskontrolle in der Ausübung des freien Willens bzw. der freien Willkür, die hier mit der Bedingung verbunden wird, dass alle einzelnen Willensinhalte und in ihrer Fortführung und Realisierung selbstverständlich alle Handlungen nicht nur im Einklang mit dem obersten Willen stehen, sondern sogar dem obersten Willen entspringen, wodurch gewährleistet wird, dass sie im Einklang mit ihm stehen müssen. Dies hat wiederum sowohl eine intrasubjektive als auch eine intersubjektive Implikation. Die intrasubjektive Implikation betrifft die Willensstruktur jedes einzelnen Akteurs und fordert die entsprechende Verfügungsgewalt über die Inhalte seines Willens, also über die Neigungen. Nur unter der Bedingung, dass die einzelnen Akteure die entsprechende Verfügungsgewalt über ihre Neigungen besitzen, ist die notwendige Erfolgskontrolle, auf der das System der sich selbst lohnenden Moralität beruht, denkbar. Die intersubjektive Dimension fordert, dass dies für jeden einzelnen Akteur gelte. Unter dieser Bedingung würde die Formel „oberster Wille“ letztendlich den allgemeinen, auf der Vernunft beruhenden Willen bezeichnen und von jedem einzelnen Akteur fordern, dass er seine Willensinhalte unter die Herrschaft der

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Vernunft stelle, bzw. besagen, dass sich das System der sich selbst lohnenden Moralität nur unter der Bedingung denken lässt, dass alle einzelnen Akteure auch durchaus vernünftige bzw. der Vernunft gemäße Willensinhalte besitzen. Im Rückblick auf die obigen Ausführungen im Zusammenhang mit der Funktion der Vernunft bei der Anerkennung einzelner Willensinhalte durch das handelnde Subjekt, ist es auch nachvollziehbar, wie dies geschehen soll: selbst unter der Bedingung, dass die einzelnen Willensinhalte aus dem empirischen Begehrungsvermögen hervorgehen, besitzt das Subjekt im Rahmen der Ausübung seiner freien Willkür jederzeit die Fähigkeit, den gegebenen Antrieben der Sinnlichkeit die Anerkennung zuzusprechen oder abzusprechen, sie also als Inhalte seiner Willkür anzuerkennen, oder abzulehnen. Diese Anerkennung kann einerseits auf kontingente Art und Weise erfolgen, andererseits aber kann sie auch auf der Grundlage von Grundsätzen, die der Vernunft entspringen, erfolgen. Sofern die Anerkennung auf der Grundlage von Grundsätzen, die der Vernunft entspringen, erfolgt, besitzt die Vernunft einen entsprechenden Einfluss auf die Ausübung der freien Willkür und es stellt sich ein gewisses Maß an Erfolgskontrolle ein. Sofern sich den einzelnen Akteuren irgendwelche Willensinhalte einstellen, die zwar dem empirischen Begehrungsvermögen entspringen, somit durch Antriebe der Sinnlichkeit bedingt sind, aber im Widerspruch mit der Vernunft stehen, kann nicht gewährleistet werden, dass die Handlungen, die auf diesen Willensinhalten beruhen, gleichermaßen die dauerhafte Wohlfahrt des Einzelnen, wie auch die dauerhafte Wohlfahrt aller Anderen bezwecken, und es ist unbestimmt, was als Produkt der Totalität einer solchen Praxis hervorgeht. Soll aber gewährleistet werden, dass aus der Totalität der Praxis aller beteiligten Individuen die dauerhafte Wohlfahrt Aller hervorgeht, und soll die dauerhafte Wohlfahrt der Glückseligkeit, also Befriedigung aller unserer Neigungen extensive, intensive und protensive entsprechen, so ist dies nur unter der Bedingung möglich, dass die Neigungen im Einklang mit der Vernunft, somit im Einklang mit dem „obersten Willen“ stehen. Der oberste Wille ist in diesem Fall schlicht der Wille zur Hervorbringung der Glückseligkeit durch die vernünftige, somit moralische Praxis, und zwar sowohl der individuellen als auch kollektiven, und die Forderung besteht darin, dass jeder einzelne Willensinhalt unter diesen allgemeinen Willen gestellt wird. Gefordert wird also die Verfügungsgewalt jedes einzelnen Akteurs über seine eigenen Willensinhalte, speziell diejenigen, die aus den Antrieben der Sinnlichkeit hervorgehen, also schlicht: Selbstbeherrschung. Nun ist es offensichtlich, dass die volle Verfügungsgewalt eines Akteurs über die Willensinhalte, die sich ihm durch das empirische Begehrungsvermögen in Form von Antriebe der Sinnlichkeit einstellen, jedenfalls in Bezug auf die

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Menschen und ihre Lebenswelt nicht angenommen werden kann. Dies ist mitunter ein Grund dafür, dass keine berechtigte Hoffnung besteht, dass wir in diesem Leben jemals eine moralische Welt verwirklichen werden. Das entsprechende Defizit der menschlichen Einstellung in Bezug auf die moralische Vollkommenheit, wird Kant in der Kritik der praktischen Vernunft speziell im Kontext des Postulats von der Unsterblichkeit der Seele eigens benennen und darüber hinaus auf entscheidende Art und Weise in die Argumentation integrieren. Hier kann als vorläufiges Resultat der Auseinandersetzung mit der Theorie der sich selbst lohnenden Moralität festgehalten werden, dass es nach Kants Dafürhalten erstens durchaus vernünftig ist, anzunehmen, dass die Totalität der Bemühungen aller vernunftfähigen Wesen, sofern sie im Einklang mit der Moralität stehen, mit der Hervorbringung ihrer eigenen individuellen und kollektiven Wohlfahrt verbunden ist, dass dies aber nur unter gewissen Bedingungen denkbar ist; nämlich erstens unter der Bedingung, dass ausnahmslos jeder Akteur entsprechend handelt, und zweitens auf der Bedingung, dass jeder einzelne Willensinhalt jedes einzelnen Akteurs im Einklang mit dem obersten, auf der Vernunft und ihrer (speziell moralischen) Autonomie beruhenden Willen steht. Es besteht aber gerade unter Berücksichtigung des Kontexts von B 838 der Verdacht, dass diese Überlegungen nicht erschöpfend sind, denn die „höchste Vernunft“, von der am Ende des entsprechenden Absatzes die Rede ist, wird in einem Zusammenhang thematisch, der über die Verfügungsgewalt über die eigenen Willensinhalte hinaus auch noch die Verfügungsgewalt über die Welt im Blick hat, indem sie „zugleich als Ursache der Natur zum Grunde gelegt wird“. Ich will an dieser Stelle nicht auf das Postulat Gottes vorgreifen, aber es wird sich später zeigen, dass eben dieser Gedanke, dass nämlich ein und dieselbe Vernunft, die die moralischen Gesetze erlässt, auch als Ursache der Welt angenommen werden muss, um anzunehmen, dass es möglich ist, durch moralische Praxis glückselig zu werden, den Kerngedanken innerhalb des Postulates von Gott darstellt. 3.6

Der Übergang vom System der sich selbst lohnenden Moralität zum Ideal des höchsten Guts

Das System der sich selbst lohnenden Moralität beruht also auf der Bedingung, dass jeder einzelne Akteur die volle Verfügungsgewalt über seine Willensinhalte besitzt und gewährleisten kann, dass jeder einzelne Willensinhalt im Einklang mit dem obersten Willen steht, dass also seine Privatwillkür im Einklang mit

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seiner Vernunft steht und er jederzeit imstande ist, den gegebenen Antrieben der Sinnlichkeit, sofern sie den Gesetzen der Vernunft widersprechen, die Anerkennung zu verweigern, sie also als Ausdruck seines eigenen Willens abzulehnen, diejenigen aber, die im Einklang mit den Gesetzen der Vernunft stehen, als Ausdruck seines eigenen Willens anzuerkennen. Darüber hinaus beruht das System der sich selbst lohnenden Moralität auf der intersubjektiven Bedingung, dass jedermann ausnahmslos tue, was er soll, und er soll jederzeit die dauerhafte Wohlfahrt seiner selbst, wie auch die dauerhafte Wohlfahrt aller Anderen bewirken wollen. Man sieht leicht, dass bereits diese zwei, oder, wenn man so will, drei Bedingungen des Systems des sich selbst lohnenden Moralität eine große Herausforderung für jeden einzelnen Akteur und das Kollektiv aller vernünftigen Wesen darstellen. Allein: damit ist es immer noch nicht getan, denn selbst bei Erfüllung aller dieser Bedingungen bleibt ein bestimmtes Defizit im Hinblick auf die Verfügungsgewalt des Willens über die Natur, in der die Freiheit verwirklicht werden soll, bestehen: Da aber die Verbindlichkeit aus dem moralischen Gesetze für jedes besonderen Gebrauch der Freiheit gültig bleibt, wenngleich andere diesem Gesetze sich nicht gemäß verhielten, so ist weder aus der Natur der Dinge der Welt, noch der Kausalität der Handlungen selbst und ihrem Verhältnisse zur Sittlichkeit bestimmt, wie sich ihre Folgen zur Glückseligkeit verhalten werden, und die angeführte notwendige Verknüpfung der Hoffnung, glücklich zu sein, mit dem unablässigen Bestreben, sich der Glückseligkeit würdig zu machen, kann durch die Vernunft nicht erkannt werden, wenn man bloß Natur zum Grunde liegt, sondern darf nur gehofft werden, wenn eine höchste Vernunft, die nach moralischen Gesetzen gebietet, zugleich als Ursache der Natur zugrunde gelegt wird. (KrV, B 838) Die angeführte notwendige Verknüpfung der Hoffnung auf Glückseligkeit mit dem unablässigen Bestreben, sich derselben würdig zu machen, also mit der beharrlichen moralischen Praxis, die wiederum die Gestaltung der Lebenswelt nach dem Vorbild der moralischen Welt darstellt, kann in der Natur nicht erkannt werden. Dies ist mitunter darum der Fall, weil das moralische Gesetz bzw. die moralischen Gesetze für den einzelnen Akteur jederzeit verbindlich bleiben, selbst unter der Bedingung, dass sich andere Akteure nicht im Einklang mit den moralischen Gesetzen verhalten, weswegen es in der Lebenswelt jederzeit möglich ist, dass der einzelne moralisch handelnde Mensch von Anderen übervorteilt wird. Aber dies ist überhaupt nicht e­ ntscheidend: von wesent-

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lich größerer Bedeutung ist die Feststellung, dass sich die genannte notwendige Verknüpfung zwischen der Glückswürdigkeit und Glückseligkeit nicht erkennen lässt, „wenn man bloß Natur zugrunde liegt“, sondern nur „gehofft“ werden darf, „wenn eine höchste Vernunft, die nach moralischen Gesetzen gebietet, zugleich als Ursache der Natur zum Grunde gelegt wird“. Dass die höchste Vernunft die moralischen Gesetzen gebietet, ist bereits oben erörtert worden und kann hier vorausgesetzt werden, ohne eigens diskutiert werden zu müssen. Das Problembewusstsein dafür, dass dieselbe Vernunft aber zugleich als Ursache der Natur zugrunde gelegt werden muss, um das System der sich selbst lohnenden Moralität zu denken, ist an dieser Stelle neu. Nun soll aber das System der sich selbst lohnenden Moralität als Produkt der Totalität der auf der Vernunft beruhenden Praxis aller beteiligten Akteure angenommen werden, also ein Produkt ihrer praktischen Freiheit darstellen. Die praktische Freiheit beruht aber auf der sinnlichen Willkür, die wiederum die Fähigkeit umfasst, Handlungen und Zwecke über gegebene Antriebe der Sinnlichkeit hinaus auch nach Grundsätzen und Gesetzen der Vernunft zu bestimmen. Die Glückseligkeit wiederum, die als Produkt der Totalität dieser Praxis hervorgehen soll, ist eindeutig als Befriedigung aller unserer Neigungen, nämlich extensive, intensive und protensive definiert, beruht also durchaus auf unseren Neigungen. Soll sie als Produkt unserer eigenen praktischen Freiheit hervorgehen, so ist die Verfügungsgewalt über unsere Neigungen ganz entscheidend für die Erfolgskontrolle. Mehr als dies lässt sich anhand der Theorie der praktischen Freiheit, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft entwickelt, nicht denken; denn die volle Verfügungsgewalt der vernünftigen Akteure über ihre Willensinhalte ist im Grunde genommen nur unter der Bedingung, dass die Willensinhalte aus der Spontaneität dieser Akteure auf der Grundlage der Vernunft entspringen und frei bestimmt werden, möglich. Darum wird sich Kants Theorie der praktischen Freiheit beim Übergang von der Kritik der reinen Vernunft zur Kritik der praktischen Vernunft von der freien Willkür als ihrer Grundlage verabschieden und zu einer Theorie des freien Willens entwickeln, der sich gerade dadurch auszeichnet, dass er seine eigenen Willensinhalte selbst zu bestimmen vermag. An der gegebenen Stelle der kantischen Theorienbildung, also nach dem Stand der Kritik der reinen Vernunft, B 838, haben wir es noch immer mit der Theorie der praktischen Freiheit, die auf dem arbitrium liberum beruht, zu tun, und die Grenzen der Leistungsfähigkeit und Selbstbestimmung der Subjekte, die über dieses Vermögen der praktischen Freiheit verfügen, sind durch die Struktur des zugrunde liegenden Vermögens der freien Willkür gesetzt: die Antriebe der Sinnlichkeit bilden stets den Ausgangspunkt allen Wollens und die Vernunft kann bestenfalls dafür Sorge tragen, dass diejenigen Zwecke, die im Einklang

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kapitel 3

mit den moralischen Gesetzen stehen, anerkannt, die anderen abgelehnt werden; da aber die Zwecke ihrerseits aus dem empirischen Begehrungsvermögen entspringen, also als Antriebe der Sinnlichkeit an den Akteur herangetragen werden, besitzt sie auf dieser Ebene ein verhältnismäßig geringes Maß an Erfolgskontrolle. Für die Entfaltung der moralischen Praxis selbst spielt dies im Grunde genommen keine große Rolle, denn selbst unter der Bedingung, dass die Vernunft die Willensinhalte nicht unmittelbar durch die eigener Spontaneität bestimmt, sondern sie aus dem empirischen Begehrungsvermögen entspringen, der Akteur aber die Fähigkeit besitzt, unmoralischen Zwecken die Anerkennung zu verweigern, sie also nicht als Ausdruck seines eigenen Willens anzuerkennen und darum auch nicht zu verwirklichen, ist eine kontinuierliche moralische Praxis denkbar. Nur: glückselig wird man damit nicht. Liefe die kantische Theorie der praktischen Freiheit also bloß auf den moralischen Imperativ hinaus, dann ließe es sich auch mit der Kontingenz im Hinblick auf die inhaltliche Bestimmung der Zwecke der freien Willkür Leben, aber dieselbe Kontingenz stellt ein ernsthaftes Problem für die Idee einer sich selbst lohnenden Moralität dar. Die Bedingung, dass eine höchste Vernunft, nämlich dieselbe, die auch die moralischen Gesetze gebietet, zugleich als Ursache der Natur zugrunde gelegt wird, hat vor diesem Hintergrund zweierlei Folgen für die Theorie der praktischen Freiheit, nämlich einerseits im Hinblick auf unsere eigene Natur, andererseits im Hinblick auf die uns umgreifende Natur. Im Hinblick auf unsere eigene Natur, also unsere Realität als Sinnenwesen und unsere Wirklichkeit in der Lebenswelt, muss angenommen werden, dass die Idee der sich selbst lohnenden Moralität nur unter der Bedingung, dass sowohl die Inhalte unseres Willens, die der Sinnlichkeit entspringen, als auch die moralischen Gesetze, die gebieten, was im allgemeinen als Ausdruck unseres Willens anerkannt werden soll, derselben Vernunft entspringen, und dass es infolgedessen möglich ist, durch die Befolgung der moralischen Gesetze die Zwecke, die sich aus den gegebenen Antrieben der Sinnlichkeit ergeben, mithin das dauerhafte Glück, in der Tat zu verwirklichen. Wäre dies nämlich nicht der Fall, indem beispielsweise angenommen werden müsste, dass unsere Natur, respektive unsere Sinnlichkeit, derart beschaffen ist, dass wir nur durch die Befriedigung von Zwecken, die den moralischen Gesetzen widersprechen, einzelne Glückszustände erzeugen könnten, dann könnte mit Sicherheit behauptet werden, dass die beharrlichen moralischen Praxis niemals dauerhaftes Glück, also die Glückseligkeit bewirken kann. Ein entsprechender Zusammenhang zwischen der moralischen Praxis und der Erzeugung von Glückszuständen, insbesondere von dauerhaftem Glück, lässt sich nach Kants Dafürhalten in

Kants Theorie der praktischen Freiheit in der k r v

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der Natur ohnehin nicht erkennen. Er lässt sich bestenfalls erhoffen, aber nur unter der Bedingung, dass unsere sinnliche Beschaffenheit, also unsere Natur zwar nicht den gleichen Gesetzen entspringt, wie unsere moralische Praxis, aber doch wenigstens nach Gesetzen gestaltet ist, die ein und derselben Vernunft entspringen, wie die moralischen Gesetze, so dass wenigstens angenommen werden kann, dass aufgrund des Prinzips der Widerspruchsfreiheit keinerlei Widerspruch zwischen den Gesetzen, die unsere Natur als Sinnenwesen bestimmen, und den Gesetzen, die unsere Freiheit als Vernunftwesen bestimmen, vorliegt. Denn, sofern der entsprechende Widerspruch vorliegt, ist alle Hoffnung auf die Glückseligkeit als Produkt unserer moralischen Praxis dahin. Die entsprechende Beschaffenheit unserer Natur muss also angenommen werden, obgleich sie nicht erkannt werden kann, während die auf der Vernunft beruhenden Verfügungsgewalt unserer selbst gegenüber den Zwecken, die sich infolge des empirischen Begehrungsvermögens einstellen, als Aufgabe an uns herangetragen wird und von uns gefordert werden muss, sofern wir die Glückseligkeit als Produkt unserer eigenen Praxis erhoffen wollen. Aber auch unter der Bedingung, dass unsere eigene Natur nach Gesetzen beschaffen ist, die derselben Vernunft entspringen, wie die Gesetze unserer Freiheit, lässt sich das System der sich selbst lohnenden Moralität nicht als notwendig denken, sofern aus unserer Interaktion mit der uns umgreifenden Natur eine entsprechende Kontingenz hervorgeht. Sofern wir nämlich nicht die volle Verfügungsgewalt über die Natur, in der wir unsere Freiheit verwirklichen wollen, besitzen, besteht ein entsprechendes Defizit an Erfolgskontrolle im Hinblick auf die Bewirkung unserer eigenen Zwecke und Ziele, so dass es zwar möglich ist, das jedermann tut, was er soll, er jederzeit sowohl seine eigene Wohlfahrt, als auch die Wohlfahrt aller anderen im Sinn hat, unser Natur so beschaffen ist, dass wir durch die Verwirklichung moralische Zwecke in der Tat Glückszustände und dauerhaftes Glück erzeugen können, sich aber aus der Kontingenz der uns umgreifenden Welt Zustände ergeben, die unserem Glück abträglich sind. Daher kann die notwendige Verknüpfung der Glückseligkeit mit der kontinuierlichen moralischen Praxis nur unter der Bedingung, dass auch die uns umgreifende Welt, also die Lebenswelt, nach Gesetzen gestaltet ist, die derselben Vernunft entspringen, wie die Gesetze, die unsere eigene Natur bestimmen und die Gesetze, die unsere Freiheit bestimmen, angenommen werden. Für uns selbst wiederum ist der Imperativ gegeben, das Maximum an Verfügungsgewalt über die uns umgreifende Natur herzustellen, um auf dieser Grundlage das größtmögliche Maß an Erfolgskontrolle bei der Ausübung unserer praktischen Freiheit zu erzielen.

kapitel 4

Die Theorie des höchsten Guts in der Kritik der reinen Vernunft: Vom letzten Zweck des Gebrauches unserer Vernunft Überblick In diesem Abschnitt rekonstruiere ich Kants Theorie vom Ideal des höchsten Guts insbesondere nach dem Gesichtspunkt der Handlungsorganisation und zwar speziell im Hinblick auf die Erfolgskontrolle. Ich unterscheide zwischen dem höchsten ursprünglichen und höchsten abgeleiteten Gut und betone, dass das höchste ursprüngliche Gut die idealtypische Willensstruktur (und Handlungsstruktur) bezeichnet, die der maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit (der optimalen Praxis) zugrunde liegen muss und sich dadurch auszeichnet, dass der Akteur die volle Verfügungsgewalt und Kontrolle über seine Willensinhalte besitzt und zugleich die volle Verfügungsgewalt und Kontrolle über die Welt besitzt, in der er seine Willensinhalte, also letztendlich Ziele bzw. Zwecke verwirklichen will. Das höchste abgeleitete Gut, das gemeinhin mit dem Begriff der Glückseligkeit bezeichnet wird, zeichnet sich in handlungskoordinatorischer Hinsicht als Zustand eines vernünftigen Wesens, das die volle Erfolgskontrolle in seiner konkreten Praxis besitzt, aus. Die gesamte Theorie des höchsten Guts erörtert demnach die Theorie der praktischen Freiheit im Spannungsfeld zwischen dem idealtypischen Akteur, der sich durch die vollkommene Kontrolle seines Tuns und Lassens auszeichnet, und der Realität des menschlichen Akteurs, der sich nur durch einige Kontrolle seines Tuns und Lassens auszeichnet. In der Moraltheologie wird der Anspruch formuliert, dass der menschliche Akteur dem idealen Akteur nacheifern soll – nicht um moralisch zu sein, sondern um ein höheres Maß an Erfolgskontrolle im Rahmen seiner willentlichen Selbstbestimmung zu gewinnen und somit ein höheres Maß an praktischer Freiheit zu demonstrieren.

Aus der strukturellen Beschaffenheit der Idee einer sich selbst lohnenden Moralität und den Bedingungen, die dafür erfüllt werden müssen, ergibt sich bereits die Grundstruktur des Ideals des höchsten Guts, das nach Kants Ansicht den letzten Zweck des Gebrauches unserer praktischen Vernunft darstellt: Glückseligkeit also, in dem genauen Ebenmaße mit der Sittlichkeit der vernünftigen Wesen, dadurch sie derselben würdig sind, macht allein © koninklijke brill nv, leiden, ���4 | doi ��.��63/9789004271722_��5

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das höchste Gut einer Welt aus, darin wir uns nach den Vorschriften der reinen aber praktischen Vernunft durchaus versetzen müssen . . . (KrV, B 842) Nach den Vorschriften der reinen aber praktischen Vernunft ist es demnach geboten, dass wir uns in eine intelligible Welt versetzen, worin das höchste Gut in der proportionierten Einheit von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit besteht. Diese intelligible Welt stellt eine regulative Idee dar, nach der wir unser Wirken, also die Ausübung unserer praktischen Freiheit in der Lebenswelt gestalten sollen. Uns darin zu „versetzen“ bedeutet einerseits, dass wir uns darin gedanklich versetzen müssen, um diese intelligible Welt als regulative Idee für die Ausübung unserer eigenen moralischen Praxis wirksam zu machen, andererseits aber bedeutet es, dass wir die gegebene Sinnenwelt nach dem Vorbild dieser intelligiblen Welt gestalten müssen, also die Zustände in der Lebenswelt so verändern, dass sie den angestrebten Zuständen in dieser intelligiblen Welt zunehmend entsprechen, wir somit die Lebenswelt nach dem Vorbild der intelligiblen Welt verwandeln und uns dadurch zunehmend in die intelligible Welt tätig versetzen. Gerade diese Art des Wirkens in der Lebenswelt macht aber unsere Glückswürdigkeit aus und so kann mit einer gewissen Berechtigung, aber nicht ganz ohne Enttäuschung behauptet werden, dass wir bereits in dieser Welt die proportionierte Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit erleben,244 indem wir ebenso viel Glückseligkeit erfahren, wie wir durch die Totalität unserer Praxis zu bewirken imstande sind. Viel ist das nicht, aber die Proportionen könnten Stimmen. Man weiß es nicht. Jedenfalls unterscheidet sich das Ideal des höchsten Guts speziell dadurch von unserer Lebenswelt, dass es eine intelligible Welt konzipiert, worin selbstverständlich die Glückseligkeit in ihrer vollen Entfaltung gegeben ist. Dies setzt ebenso selbstverständlich voraus, dass sie durch eine Art der Ausübung der praktischen Freiheit hervorgebracht wird, die die volle Entfaltung der moralischen Praxis darstellt. Demnach ist das Verhältnis von Glückswürdigkeit, also der Totalität der individuellen und kollektiven moralischen Praxis aller beteiligten Akteure, und der Glückseligkeit, die als Produkt dieser Praxis hervorgeht, nicht nur dadurch bestimmt, dass es proportioniert ist, sondern auch dadurch, dass Beides zur vollen Entfaltung gelangt: das höchste Gut stellt somit im Hinblick auf die zugrunde liegende 244 Ich versichere, dass ich den Rest des oben zitierten Satzes auch gelesen habe und weiß, was Kant in Bezug auf die Frage, ob die Sinnenwelt uns von der Natur der Dinge dergleichen systematische Einheit der Zwecke verheißt, oder nicht, sagt.

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kapitel 4

praktische Freiheit das Höchstmaß der Entfaltung aller Potenziale der Gesamtheit aller vernunftfähigen Akteure dar. Es handelt sich hierbei also nicht nur um die Vorstellung der Teilhabe an der Glückseligkeit, sondern vor allen Dingen um eine Vorstellung von der vollen Entfaltung der praktischen Freiheit, die unter Berücksichtigung ihrer moralischen und pragmatischen Dimensionen zur Verwirklichung aller gegebenen Zwecke in maximaler Ausprägung gelangt. Das höchste Gut stellt demnach einerseits die proportionierte Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit dar, andererseits aber stellt es die maximale Ausprägung der praktischen Freiheit dar. Die Vorstellung von der maximalen Ausprägung der praktischen Freiheit ist aber mit gewissen Ansprüchen an die Ausübung der freien Willkür durch jeden einzelnen Akteur, nämlich sowohl im Hinblick auf die individuelle als auch im Hinblick auf die kollektive Praxis, verbunden. Es ist mittlerweile ganz offensichtlich und selbstverständlich, dass sie die voll entfaltete Fähigkeit impliziert, die Anerkennung oder Ablehnung gegebener Antriebe der Sinnlichkeit auf der Grundlage moralischer und pragmatischer Gesetze auszuüben und auf diese Art und Weise ein Maximum an Verfügungsgewalt über die eigenen Willensinhalte herzustellen. Andernfalls ist die maximale Ausprägung der moralischen Qualität der praktischen Freiheit nicht denkbar. Im Rückgriff auf die Erörterungen im Zusammenhang mit dem System des sich selbst lohnenden Moralität ist es darüber hinaus offensichtlich, dass die Willensstruktur jedes einzelnen Akteurs dadurch bestimmt sein muss, dass er sowohl seine eigene Wohlfahrt, als auch die Wohlfahrt aller anderen freien Wesen gleichermaßen zu befördern bestrebt ist. Aber die entscheidende Bedingung, die zugleich den entscheidenden Unterschied zwischen der bloßen Idee der sich selbst lohnenden Moralität und der ausführlichen Theorie vom Ideal des höchsten Guts ausmacht, betrifft das Verhältnis jedes einzelnen Akteurs auf individueller, sowie der Totalität aller Akteure auf kollektiver Ebene zu der Natur, worin sie ihre Freiheit zur maximalen Entfaltung bringen sollen und wollen: die ersten beiden Bedingungen laufen auf die volle Verfügungsgewalt im Hinblick auf die eigenen Willensinhalte und somit auf das Maximum an Erfolgskontrolle bei der inhaltlichen Gestaltung unserer Freiheit durch die Bestimmung der Inhalte unseres Willens hinaus. Die Bedingung, die nun hinzukommt, betrifft die Verfügungsgewalt über die Welt, in der die praktische Freiheit entfaltet werden soll und betrifft die Erfolgskontrolle in der Interaktion der vernünftigen Wesen mit der Welt, nämlich sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiven Ebene. Die „systematische Einheit der Zwecke nämlich“, die die Struktur des Ideals des höchsten Guts ausmacht, kann nach Kants Aussage auf B 838 und B 842

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mitnichten in der Natur „erkannt“ werden, sondern bestenfalls „gehofft“ werden. Diese Hoffnung beruht aber auf der Voraussetzung eines höchsten ursprünglichen Guts, da selbstständige Vernunft, mit aller Zulänglichkeiten einer obersten Ursache ausgerüstet, nach der vollkommensten Zweckmäßigkeit die allgemeine, obgleich in der Sinnenwelt uns sehr verborgene Ordnung der Dinge gründet, erhält und vollführt. (KrV, B 842, kursive Hervorhebung von mir) Warum hier von einem höchsten ursprünglichen Gut die Rede ist, wird noch erörtert, an der gegebenen Stelle liegt aber der Interpretationsschwerpunkt auf der Forderung einer obersten Ursache, die mit aller Zulänglichkeit ausgerüstet ist. Daraus folgt: Das Ideal des höchsten Guts stellt die proportionierte Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit und zugleich die maximale Ausprägung der praktischen Freiheit dar, aber nur unter der Voraussetzung, dass die Theorie der praktischen Freiheit ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem Willen der handelnden Akteure und der Welt, in der sie handeln, annimmt, indem nämlich der Wille mit „aller Zulänglichkeit einer obersten Ursache ausgerüstet“ ist, also die volle Verfügungsgewalt nicht nur über seine eigenen Inhalte, sondern auch über die Welt, in der diese Inhalte verwirklicht werden sollen, besitzt. Im Hinblick auf die Totalität aller vernunftfähigen Akteure in der Lebenswelt bedeutet dies, dass die proportionierte Einheit von Glückswürdigkeit, also der Totalität ihrer moralischen Praxis, und Glückseligkeit als Produkt dieser Praxis nur unter der Bedingung denkbar ist, dass sie die volle Verfügungsgewalt über die Natur besitzen und das entsprechende Maß an Erfolgskontrolle bei der Ausübung ihrer praktischen Freiheit entfalten können. Nur unter Hinzunahme dieser dritten Bedingung ist die maximal denkbare Entfaltung der praktischen Freiheit, die ein System der sich selbst lohnenden Moralität als integralen Bestandteil einer umgreifenden Theorie des höchsten Guts umfasst, möglich. Andernfalls besteht jederzeit die Gefahr, dass es nicht möglich ist, die aus Freiheit gesetzten und von der Vernunft anerkannten Zwecke durch die Ergreifung geeigneter Mittel zu verwirklichen. Da aber die praktische Freiheit das Vermögen darstellt, sich nach der Vorstellung von Zwecken und Grundsätzen selbst zu bestimmen, ist es entscheidend, dass zwischen der Ergreifung geeigneter Mittel und der Verwirklichung der gesetzten Zwecke ein gesetzmäßiges Verhältnis angenommen wird. Denn sofern dies nicht der Fall ist, sofern also ein entsprechender Mangel an Erfolgskontrolle in Bezug auf die Hervorbringung der eigenen Zwecke besteht, gelten sie, sofern sie überhaupt verwirklicht werden, nicht als Ausdruck der eigenen Freiheit. Dasselbe

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kapitel 4

gilt in Bezug auf den Zweck, der „in Ansehung unseres ganzen Zustandes“ begehrenswert ist, nämlich das höchste Gut. Es muss als Produkt unserer eigenen Freiheit denkbar sein; und dies ist nur unter der Bedingung möglich, dass der zugrunde liegende Wille die volle Verfügungsgewalt über die Natur, in der er den Zweck verwirklichen will, besitzt, oder aber, dass ein solcher Wille die Welt so gestaltet oder gestaltet hat, dass auch menschliche Akteure hoffen dürfen, trotz des entsprechenden Mangels an Verfügungsgewalt über ihre eigenen Willensinhalte und die Natur, durch die Bemühung um die maximal mögliche Entfaltung der moralischen Praxis an der Bewirkung des höchsten Guts zu partizipieren. Diese Partizipation an der Bewirkung des höchsten Guts erfolgt bei menschlichen Akteuren in demselben Maße, in dem sie imstande sind, an der vollen Entfaltung der praktischen Freiheit teilzuhaben. Es muss zugestanden werden, dass diese Bedingung eine gewaltige Herausforderung für die menschliche Freiheit darstellt und man muss nicht lange argumentieren, um die Behauptung aufzustellen, dass trotz aller technischen Bemühungen und trotz allen technischen und wissenschaftlichen Fortschritts niemals davon ausgegangen werden kann, dass das Kollektiv aller Menschen auf Erden selbst unter der Bedingung, dass jeder Einzelne zur moralischem Vollkommenheit heranreifen sollte, jemals die volle Gewalt über die Natur haben wird. Nichtsdestoweniger bleibt die entsprechende Forderung bestehen, denn sie beruht auf einer notwendigen Bedingung für die Annahme der Glückseligkeit als Produkt der Totalität der auf der Vernunft gegründeten Praxis aller beteiligten Akteure. Das Ideal des höchsten Guts beschreibt aber die maximale Ausprägung der praktischen Freiheit mitsamt der zugrunde liegenden Willensstruktur, von der gefordert wird, dass sie die volle Verfügungsgewalt sowohl über ihre eigenen Inhalte als auch über die Welt, in der sie zur Entfaltung geraten soll und will, besitzt. Es beinhaltet somit, wie bereits Silber betont, ein Moment, das jenseits des menschlichen Potentials steht, aber in einem bestimmten Verhältnis zur menschlichen Freiheit selbst steht, also zur moralischen Praxis, indem es den Maßstab darstellt, anhand dessen die maximal mögliche Entfaltung der menschlichen praktischen Freiheit gemessen wird.245 Der immanente und transzendente Aspekt, auf den Silber verweist, betrifft die maximal mögliche Entfaltung der praktischen Freiheit überhaupt und die maximal mögliche Entfaltung der menschlichen Freiheit unter den gegebenen Bedingungen der empirischen Welt.

245 Vgl.: Silber, J.R. 1959: Kant’S Conception of the Highest Good as Immanent and Transcendent. In: The Philosophical Review 68. 485.

Die Theorie des höchsten Guts

4.1

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Das höchste ursprüngliche und das höchste abgeleitete Gut

Als Schlussfolgerung aus diesen Überlegungen ergibt sich die Einsicht, dass das höchste Gut zwar durchaus denkbar ist und, wie Kants Überlegungen im Zusammenhang mit dem höchsten Gut als einem Bestimmungsgrund des letzten Zwecks der reinen Vernunft zeigen, auch notwendigerweise mit dem praktischen Interesse der Vernunft verbunden ist, dass das höchste Gut aber auf einer Willensstruktur beruht, die die menschliche Verfügungsgewalt über die Natur übersteigt, weswegen sie auch ein Maß an Erfolgskontrolle bei der Ausübung der praktischen Freiheit beinhaltet, das signifikant über das menschliche Vermögen hinausgeht. Der Wille, der die Bedingungen, die zur Hervorbringung des höchsten Guts notwendig sind, erfüllt, indem er die volle Verfügungsgewalt über seine eigenen Inhalte besitzt, die Autonomie der praktischen Vernunft zur vollen Entfaltung bringt, zudem die volle Gewalt über die Natur besitzt und darum im Hinblick auf jeden Zweck, nach dem er seine praktische Freiheit bestimmt, die volle Erfolgskontrolle besitzt, kann mit einiger Berechtigung als allmächtig bezeichnet werden. Von einem solchen Willen kann darum auch behauptet werden, dass er in gewisser Hinsicht „göttlich“ sei. Eben dieser Wille wird aber von Kant als Bedingung der Möglichkeit des höchsten Guts konzipiert und gilt als das höchste ursprüngliche Gut. Indem das höchste ursprüngliche Gut die Willensstruktur mitsamt der entsprechende Erfolgskontrolle bezeichnet, die die Bedingung der Möglichkeit des höchsten Guts überhaupt ausmacht, gilt die moralischen Welt, jene also, worin jeder einzelne Akteur das Recht hat, seine Bemühungen um die moralische Vollkommenheit mit der Hoffnung auf das proportionierte Maß an Glückseligkeit zu verknüpfen, als das höchste abgeleitete Gut. Die moralische Welt beruht also auf der Bedingung, dass sie als Produkt eines Willens hervorgeht, der die volle Erfolgskontrolle bei der Ausübung seiner praktischen Freiheit besitzt und diese zur maximalen Entfaltung zu bringen vermag. Indem dieser Wille aber als einheitlich aufgefasst werden muss und ebenso angenommen werden muss, dass ihm eine einheitliche Vernunft zugrunde liegt, stellt das Ideal des höchsten ursprünglichen Guts die Idee einer solchen Intelligenz, in welcher der moralisch vollkommenste Wille, mit der höchsten Seligkeit verbunden, die Ursache aller Glückseligkeit in der Welt ist, sofern sie mit der Sittlichkeit, als der Würdigkeit glücklich zu sein, in genauem Verhältnisse steht (KrV, B 838), dar. Es ist dieser Formulierung zufolge erkennbar, dass die höchste Intelligenz, von der hier die Rede ist, und die dem moralisch vollkommensten Willens entspricht, hier als Ursache aller Glückseligkeit in der Welt angenommen wird,

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die Glückseligkeit also als Produkt der praktischen Freiheit dieses Willens aufgefasst werden muss. Da aber kein Anlass dazu besteht, anzunehmen, dass sich irgendein vernunftfähiges Wesen auf Erden in absehbarer Zeit durch die genannten Qualitäten auszeichnen wird, bleibt nur die Leseweise, die sich im Rückgriff auf die christliche Metaphysik anbietet und nach der das Ideal des höchsten Guts letztendlich nur unter der Bedingung denkbar ist, dass eine höchste Vernunft, die zugleich die volle Verfügungsgewalt über ihren eigenen Willen und über die Welt hat, also allmächtig ist, zugleich Urheber der Gesetze der Natur und auch Urheber der Gesetze der Moral ist, und dass dieselbe höchste Vernunft aufgrund des Prinzips der Widerspruchsfreiheit im Rahmen ihrer Gesetzgebung dafür Sorge trägt, dass die Gesetze der Moral und die Gesetze der Natur in einem solchen Verhältnis zu einander stehen, dass bei der vollen Entfaltung der moralischen Dimension der praktischen Freiheit zugleich die volle Entfaltung der inhaltlichen Ausrichtung derselben angenommen bzw. erhofft werden darf, nämlich die Glückseligkeit. Die Sittlichkeit an sich selbst macht ein System aus, aber nicht die Glückseligkeit, außer, sofern sie der Moralität genau angemessen ausgeteilt ist. Dieses aber ist nur möglich in der intelligiblen Welt, unter einem weisen Urheber und Regierer. (KrV, B 839) Dieser weise Urheber und Regierer, der in spekulativer Hinsicht nicht bewiesen werden kann, muss demnach notwendigerweise angenommen werden, und zwar darum, weil die praktische Vernunft, die gebietet, was geschehen soll, mit dieser Forderung auch die Hoffnung verbinden muss, dass sich der notwendige Erfolg derselben einstellt. Da sich aber weder aus der Natur der Dinge der Welt, noch aus der Kausalität der Handlungen und ihrem Verhältnis zur Sittlichkeit, bestimmen lässt, wie sich ihre Folgen zur Glückseligkeit verhalten werden (Vgl. B 838), und die angeführte notwendige Verknüpfung der Hoffnung, glücklich zu sein, mit dem unablässigen Bestreben, sich der Glückseligkeit würdig zu erweisen, durch die Vernunft nicht erkannt werden kann (ebd.), besteht unter den restriktiven Bedingungen der gegebenen Lebenswelt kein Anlass, anzunehmen, dass wir unter der Voraussetzung, dass wir tun, was die Vernunft gebietet, hoffen dürfen, hervorzubringen (oder zu erlangen), was wir wirklich wollen, nämlich die Glückseligkeit, so dass der notwendige Erfolg der moralischen Praxis ohne jede Voraussetzung wegfallen müsste. Der Grund, warum dies so ist, besteht eben darin, dass wir einen entsprechenden Mangel an Erfolgskontrolle bei der Ausübung unserer praktischen Freiheit, somit bei der Verwirklichung unserer eigenen Zwecke, selbst wenn sie von der Vernunft als Ausdruck unserer eigenen Freiheit anerkannt sind, besitzen. Auf die Frage, was

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ich hoffen darf, wenn ich tue was ich soll, oder, um die genaue Formulierung aufzugreifen: „wie, wenn ich mich nun so verhalte, dass sich der Glückseligkeit nicht unwürdig sei, darf ich auch hoffen, ihrer dadurch teilhaftig werden zu können?“ (KrV, B 837), ließe sich eine Antwort geben, von der man, wenn man sie loben will, bestenfalls sagen könnte, dass sie eindeutig ist, nämlich: „Nein.“ Die Freunde klarer Antworten mögen darin ihre Befriedigung finden, aber die Vernunft sieht sich dazu genötigt, die Hoffnung auf Glückseligkeit mit der Bemühung, sich ihrer würdig zu erweisen, auf eine notwendige Art und Weise zu verbinden, weswegen sie die moralischen Gesetze zugleich als Gebote und Verbote formuliert, die mit gewissen Verheißungen und Drohungen (KrV, B 839) verknüpft sind, ohne welche (Verknüpfung) sie keinerlei Verbindlichkeit für den einzelnen Akteur besitzen können.246 Die Verheißungen und Drohungen, die mit den moralischen Gesetzen verknüpft werden, verfolgen die Absicht, angemessene Folgen mit der Befolgung der moralischen Gesetzen in Aussicht zu stellen, so dass es im Rahmen einer intelligiblen Kausalität denkbar ist, dass die Befolgung der moralischen Gesetze die Hoffnung auf die entsprechenden Verheißungen rechtfertigt.247 All dies ist, wie gesagt, nur unter der Bedingung möglich, dass der oberste Wille, der zugleich mit der höchsten Vernunft verbunden ist, zugleich die volle Verfügungsgewalt über seine eigenen Inhalte und die Welt besitzt, und die vollständige Erfolgskontrolle bei der Ausübung seiner praktischen Freiheit besitzt. Dann kann erstens für diesen Willens selbst sichergestellt werden, dass die Totalität seiner auf der Vernunft gegründeten Praxis aufgrund der vollen Verfügungsgewalt über die Welt und der entsprechenden Erfolgskontrolle die totale Verwirklichung seiner Zwecke, somit seine Glückseligkeit bewirkt, und zweitens, dass ein solcher Wille die Welt derart gestaltet, dass jedes vernünftige Wesen, dass seine Praxis nach denselben moralischen Grundsätzen gestaltet, die Aussicht besitzt, bzw. die Hoffnung hegen darf, dass es in eben 246 An dieser Stelle liegt eine ganz bestimmte Theorie der auf der Vernunft beruhenden Normativität, also speziell der moralischen Normativität zugrunde und zwar eine Theorie, die erstens zum Ausdruck bringt, dass die moralischen Gesetze für uns Menschen als imperative, also in Form von Geboten und Verboten formuliert werden müssen, und dass zweitens die Verbindlichkeit dieser Gebote und Verbote für uns Menschen nur im Verhältnis zu entsprechenden Verheißungen und Drohungen besteht, sie also auf der Sanktionierbarkeit beruht. Somit unterscheidet sich diese Theorie der moralischen Normativität signifikant von der entsprechende Theorie in der Kritik der praktischen Vernunft, wo nicht die Sanktionierbarkeit, sondern die freie Einsicht in das Sittengesetz als Faktum der Vernunft den Bestimmungsgrund des moralischen Willens, sofern sie zum subjektiven Bestimmungsgrund desselben, zur Triebfeder, wird, darstellt. 247 Vgl. hierzu: Bojanowski 2006, 205.

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demselben Maße, in dem es seine eigene Praxis auf der Vernunft zu gründen fähig ist, in dem es also der Glückseligkeit würdig, nämlich sittlich ist, auch der Glückseligkeit teilhaftig wird. Im Hinblick auf den zugrunde liegenden Willen, das höchste ursprüngliche Gut, stellt das Ideal also die maximale Entfaltung der praktischen Freiheit dar, während es aus der Perspektive der über die freie Willkür verfügenden Menschen mit der Bemühung um die Entfaltung der praktischen Freiheit auf der Grundlage der Vernunft zugleich gewisse Verheißungen verbindet. Sofern sich die Menschen durch ihre Sittlichkeit als glückswürdig erweisen, muss die Vernunft, selbst unter der Bedingung, dass sie von aller Privatabsicht frei ist und keinerlei eigenes Interesse verfolgt, nach Kants Ansicht so urteilen, dass sie, sofern sie sich an die Stelle eines Wesens stellt, „dass alle Glückseligkeit anderen auszuteilen hätte“, von diesem Willen fordert, dass er dies in dem jeweiligen Verhältnis zur Sittlichkeit des Einzelnen auch tue. (KrV, B 841) Alles Andere wäre unvernünftig, denn warum sollte sie ein bestimmtes Verhalten gebieten, wenn sie es letztendlich nicht befürwortet? Ich sage demnach: daß ebenso wohl, als die moralischen Prinzipien nach der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch notwendig sind, ebenso notwendig sei es auch nach der Vernunft, in ihrem theoretischen Gebrauch anzunehmen, daß jedermann die Glückseligkeit in demselben Maße zu hoffen Ursache habe, als er sich derselben in seinem Verhalten würdig gemacht hat, . . . (KrV, B 837) Die entsprechende Formulierung ist in der Kritik der praktischen Vernunft noch griffiger und besagt, dass es mit dem vollkommenen Willen eines vernünftigen Wesens, das, und dies ist entscheidend, zugleich die volle Gewalt, nämlich über die Welt, hätte, unvereinbar sei, dass die Menschen der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, ihrer aber dennoch nicht teilhaftig werden. (Vgl: KpV, AA 110) Es ist notwendig, dass unser ganzer Lebenswandel sittlichen Maximen untergeordnet werde; es ist aber zugleich unmöglich, dass dies geschehe, wenn die Vernunft nicht mit dem moralischen Gesetze, welches eine bloße Idee ist, eine wirkende Ursache verknüpft, welche dem Verhalten nach demselben einen unseren höchsten Zwecken genau entsprechenden Ausgang, es sei in diesem oder einem anderen Leben bestimmt. Ohne also einen Gott und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit nur Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht den ganzen Zweck, der einem jeden

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vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe Vernunft a priori bestimmt und notwendig ist, erfüllen. (KrV, B 840 f.) Da die Vernunft aber das Vermögen darstellt, die Totalität zu denken, so läuft auch ihr Interesse im Zusammenhang mit der praktischen Freiheit auf die Bemühungen hinaus, die den „ganzen Zweck“, auf den dieselbe ausgerichtet werden kann, betreffen. Der ganze Zweck ist aber mitnichten durch die bloße Glückseligkeit erschöpft, denn nach Kants Dafürhalten billigt die Vernunft die Glückseligkeit nur unter der Bedingung, dass der Akteur, der ihrer teilhaftig werden soll, ihrer auch würdig ist, also nur unter der Bedingung, dass die Glückseligkeit mit dem sittlichen Wohlverhalten vereinigt ist. (KrV, B 841) Ebenso wenig stellt die Sittlichkeit allein das höchste Gut, bzw. den ganzen Zweck, auf den die praktische Freiheit ausgerichtet ist, dar, denn jedes vernunftfähige Wesen, das sich der Glückseligkeit würdig erweist, muss nach vernünftigen Gesichtspunkten hoffen dürfen, ihrer auch teilhaftig zu werden. (ebd.) Kant formuliert den entsprechenden Gedanken an derselben Stelle noch großzügiger, indem er feststellt, dass bereits derjenige, der „sich als der Glückseligkeit nicht unwert verhalten hatte“ bereits eine gewisse Hoffnung auf ihre Erlangung hegen darf. Der ganze Zweck der Bemühungen, auf die die praktische Freiheit ausgerichtet ist, bzw. der Zweck, in dem sich die praktische Freiheit letztendlich erschöpft und zu ihrer vollen Entfaltung gelangt, stellt weder die Glückseligkeit noch die Sittlichkeit allein, sondern die proportionierte Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit dar. Es ist allerdings entscheidend, „daß die moralische Gesinnung, als Bedingung, den Anteil an Glückseligkeit, und nicht umgekehrt die Aussicht auf Glückseligkeit die moralische Gesinnung zuerst möglich mache“, denn andernfalls wäre das Subjekt des Glückes überhaupt nicht würdig. (KrV, B 841 f.) So gelangt Kant schließlich zu der im hiesigen Abschnitt anfangs zitierten und nach meinem Dafürhalten aussagestärksten Definition des höchsten Guts: Glückseligkeit also, in dem genauen Ebenmaße mit der Sittlichkeit der vernünftigen Wesen, dadurch sie derselben würdig sind, macht allein das höchste Gut einer Welt aus, darin wir uns nach den Vorschriften der reinen aber praktischen Vernunft durchaus versetzen müssen, und welche freilich nur eine intelligible Welt ist, (. . .), deren Realität auch auf nichts anderes gegründet werden kann, als auf die Voraussetzung eines höchsten ursprünglichen Guts, da selbstständige Vernunft, mit aller Zulänglichkeit einer obersten Ursache ausgerüstet, nach der vollkommensten Zweckmäßigkeit die allgemeine, obgleich in der Sinnenwelt uns sehr verborgene Ordnung der Dinge gründet, erhält und vollführt. (KrV, B 842)

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Darin wird deutlich, dass die inhaltliche Bestimmung des Willens, der um die volle Entfaltung der praktischen Freiheit bemüht ist, auch die Ausübung derselben in Ausrichtung auf Zwecke, die „in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert“ sind, beinhaltet und dass der Zweck, der in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert, d.h. in jeder Hinsicht sowohl gut als auch nützlich ist, die proportionierte Einheit von Sittlichkeit, dem Inbegriff der Totalität aller moralischen Praxis, und Glückseligkeit, dem Inbegriff der Befriedigung aller gegebenen Neigungen, darstellt. Dies wird unter dem Ausdruck „höchstes abgeleitetes Gut“ festgehalten. Abgeleitet ist dieses höchste Gut aber darum, weil es als Produkt der maximal entfalteten praktischen Freiheit eines Willens, bzw. des Akteurs gedacht wird, der sowohl die volle Verfügungsgewalt über die eigenen Inhalte, als auch über die Welt besitzt und somit bei der Ausübung in dieser praktischen Freiheit die maximale Erfolgskontrolle besitzt. Unter anderen Bedingungen, nämlich sofern sich auf der geringste Mangel an Erfolgskontrolle einstellt, ergibt sich im Verhältnis zwischen dem höchsten ursprünglichen und dem höchsten abgeleiteten Gut eine gewisse Kontingenz, die die notwendige und gesetzmäßige Verknüpfung, die die Vernunft verlangt, aufhebt. Das höchste abgeleitete Gut ist also das, was letztendlich angestrebt wird. Es beruht aber auf einer Willensstruktur, die als das höchste ursprüngliche Gut bezeichnet wird. Die notwendige Verknüpfung zwischen dem höchsten ursprünglichen und dem höchsten abgeleiteten Gut ist nur unter der Bedingung denkbar, dass der zugrunde liegende Wille die volle Erfolgskontrolle bei der Ausübung der praktischen Freiheit besitzt und die praktische Freiheit somit zur vollen Entfaltung zu bringen vermag: „Gott also und ein künftiges Leben, sind zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, nach Prinzipien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen.“ VB 839) 4.2 Moraltheologie Kants Verhältnis zu Gott ist in der Rezeptionsgeschichte der Philosophie der Aufklärung oft genug kontrovers diskutiert worden und es hat mitunter sogar Tendenzen gegeben, sogar bis in die Gegenwart, die der Vorstellung anhängen, dass Kants Forderung, man solle sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit erheben, in Wahrheit die Abkehr der Philosophie der Aufklärung von der Theologie und vom Glauben darstelle, und dass Kant eine auf der Vernunft gegründete Philosophie vertritt, die die Unmöglichkeit

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des Beweises der Existenz Gottes vertritt und somit in der Wertung derselben Interpreten zugleich als Kritik am christlichen Glauben gelesen werden kann. Man muss sich allerdings davor hüten, die eigenen Wertmaßstäbe und die eigenen Vorstellungen davon, was man für aufgeklärt und vernünftig hält, an einen Autor wie Kant heran zu tragen, und zu meinen, man würde ihn adeln, indem man einige seiner ganz entscheidenden Gedanken missversteht, bewusst falsch interpretiert, oder, wie dies im Zusammenhang mit dem gesamten Textkorpus zum Ideal des höchsten Guts in der Kritik der reinen Vernunft über Jahrzehnte geschehen ist, weitgehend nicht zur Kenntnis nimmt. Die Frage Gottes stellt aber nicht irgendein beliebiges Interesse der Vernunft dar, sondern nach Kants eigener Aussage eine der zwei Fragen, die eigentlich zum Kanon der Vernunft überhaupt gehören, nämlich: „ist ein Gott? ist ein künftiges Leben?“ (KrV, B 831) In dieser Hinsicht ist es aber ganz entscheidend, zwischen dem Spekulativen Interesse der Vernunft mitsamt der entsprechende Methode und dem moraltheologischen Ansatz, den Kant ab B 842 explizit vertritt, zu unterscheiden. Im Hinblick aber auf die gesamte Wertung bleibt eines unmissverständlich: Kant vertritt bereits in der Kritik der reinen Vernunft, B 842 f., explizit eine Moraltheologie: Diese Moraltheologie hat nun den eigentümlichen Vorzug vor der spekulativen, daß sie unausbleiblich auf den Begriff eines einigen, allervollkommensten und vernünftigen Urwesens führt, worauf uns spekulative Theologie nicht einmal aus objektiven Gründen hinweist, geschweige uns davon überzeugen konnte. (KrV, B 842) Wir sehen also, dass es sich bei der Moraltheologie um etwas handelt, das gegenüber der spekulativen Theologie einen bestimmten „Vorzug“ besitzt, und zwar den Vorzug, dass sie uns „unausbleiblich auf den Begriff eines einigen, allervollkommensten und vernünftigen Urwesens führt“, nämlich Gott. Und dieser Vorzug besteht eben darin, dass die spekulative Theologie überhaupt nicht imstande war, auf dieses allervollkommenste und vernünftige Urwesen auch nur hinzuweisen, geschweige denn uns davon – also von seiner Existenz – zu überzeugen. Wenn aber die spekulative Theologie nicht imstande war, uns von diesem Wesen zu überzeugen, stellt sich die Frage, ob die Moraltheologie eine entsprechende Überzeugungskraft besitzt. Kant unterscheidet die Moraltheologie von der transzendentalen Theologie und von der natürlichen Theologie und betont, dass auch diese beiden Ansätze nicht geeignet sind, die Notwendigkeit der Annahme der Existenz Gottes zu begründen:

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Dagegen, wenn wir aus dem Gesichtspunkte der sittlichen Einheit, als einem notwendigen Weltgesetze, die Ursache erwägen, die diesem allein den angemessenen Effekt, mithin auch für uns verbindende Kraft geben kann, so muss es ein einiger oberster Wille sein, der alle diese Gesetze in sich befasst. (KrV, B 843) Entscheidend ist hierbei also der Gesichtspunkt der sittlichen Einheit als ein notwendiges Weltgesetz, das dafür Sorge trägt, dass mit der menschlichen Ausübung der praktischen Freiheit die Konsequenzen verbunden sind, die der Vernunft entsprechend erhofft werden dürfen. Hierbei sind zwei Überlegungen von Bedeutung, nämlich erstens die bereits oben erörterte Annahme eines einheitlichen Willens als Grundlage für die maximale Entfaltung der praktischen Freiheit in der Welt, also eines Willens, der sowohl über sich selbst, als auch über die Welt die volle Verfügungsgewalt besitzt und darum bei der Ausübung der praktischen Freiheit die maximale Erfolgskontrolle gewährleisten kann, und zweitens ein Motiv, das bereits oben, im Zusammenhang mit den Verheißungen und Drohungen, die die Vernunft notwendigerweise mit den moralischen Gesetzen verbindet, angedeutet, aber nicht ausgeführt wurde, nämlich die Beherzigung der moralischen Gesetze durch die einzelnen Akteure, also der Übergang eines praktischen Gesetzes zu einem subjektiven Grundsatz, nämlich einer Maxime. (Vgl.: B 840). In dem oben zitierten Abschnitt verknüpft Kant die verbindende Kraft der moralischen Gesetze mit der Vorstellung der angemessenen Folgen der gebotenen moralischen Praxis. Bereits auf B 839 hat er ebenso argumentiert und betont, dass der notwendige Erfolg der moralischen Gesetze, mithin die Verbindung von Verheißungen und Drohungen als Folge der moralischen Praxis notwendig für die Theorie des höchsten Guts sei, und zwar darum, weil die Glückseligkeit an sich mitnichten ein System ausmacht, da sie die Befriedigung aller unserer Neigungen in jeder Hinsicht darstellt, die Neigungen aber durch das empirische Begehrungsvermögen an uns herangetragen werden und darum zufällig sind; dass aber die Glückseligkeit unter der Bedingung, dass sie in genauer Proportion zur moralischen Praxis ausgeteilt wird, durchaus eine systematische Einheit darstellen kann, die aber durch das System der Sittlichkeit in Verbindung mit dem Gedanken der proportionierten Einheit bestimmt wird. Das proportionierte Verhältnis zwischen der Sittlichkeit und der Glückseligkeit stellt also die Bedingung der Möglichkeit dafür dar, dass die Glückseligkeit überhaupt systematisch gedacht wird und auf diese Art und Weise als ein kontrollierbares Moment in die Theorie der praktischen Freiheit integriert werden kann. Demnach sieht sich jedes vernünftige Wesen eben durch die eigene Vernunft dazu gezwungen, anzunehmen, dass die auf der Vernunft beruhenden Ausübung der praktischen Freiheit sowohl

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im Einzelnen als auch in ihrer Totalität im Einklang mit der Grundstruktur derselben Freiheit steht: da die praktische Freiheit aber das Vermögen darstellt, nach der Vorstellung von Grundsätzen und Zwecken zu handeln, entspricht es sowohl im Einzelnen als auch im Hinblick auf die Totalität aller auf der Vernunft gegründete Praxis den Ansprüchen der Vernunft, wenn der einzelne Akteur erwartet, dass mit der Ergreifung der geeigneten Mittel in der Tat die gesetzten Zwecke verwirklicht werden. Welche Mittel geeignet sind, bestimmt die Vernunft und so ist die Verknüpfung der Vorstellung von einem notwendigen Erfolg der moralischen Praxis mit der Verpflichtung, die moralischen Gesetze zu beachten, durchaus vernünftig. Ließe sich ein entsprechender Zusammenhang bereits in der empirischen Welt, also in der Lebenswelt erkennen, wäre die Theorie auch gänzlich unstrittig. Indem sich die entsprechende Verbindung in der Lebenswelt aber nicht antreffen lässt, die Vernunft aber die entsprechende Verknüpfung notwendigerweise denken muss, weil sie aus der Grundstruktur der Theorie der praktischen Freiheit entspringt, also aus der Vorstellung, dass durch die Ergreifung geeigneter Mittel auch die gesetzten Zwecke verwirklicht werden, so sieht sich die Vernunft gezwungen, zumindest einen intelligiblen Zusammenhang zwischen der moralischen Praxis und ihrem notwendigen Erfolg in einer „künftigen Welt“ (Vgl.: B 839) anzunehmen und diesen auf der Bedingung zu gründen, dass ein einheitlicher allgewaltiger, allwissender, allgegenwärtiger und ewiger Wille die Grundlage sowohl der moralischen Gesetzgebung als auch der Gesetzgebung in der Natur darstellt und für die entsprechende Harmonie sorgt. Dieser allmächtige und weise göttliche Wille vermag es zu gewährleisten, was dem Menschen aufgrund der mangelnden Verfügungsgewalt insbesondere im Hinblick auf die Natur, in der er seine Freiheit verwirklichen will, unmöglich ist, nämlich die notwendige Verknüpfung gerechtfertigter Folgen mit der Befolgung der moralischen und selbstverständlich auch der pragmatischen Gesetze, also die entsprechende Erfolgskontrolle bei der Ausübung der praktischen Freiheit als einem Vermögen, die eigenen Zwecke durch die eigenen Taten zu verwirklichen. Es ist dabei entscheidend, dass es sich um einen einheitlichen zugrunde liegenden Willen handelt, denn nach Kants Dafürhalten ist es nur unter dieser Bedingung möglich, die vollkommene Einheit der Zwecke zu gewährleisten. (KrV, B 843) Dieser Wille muss zudem „allgewaltig“, also allmächtig sein, „damit die ganze Natur und deren Beziehung auf Sittlichkeit in der Welt ihm unterworfen sei“ (ebd.), er also die volle Erfolgskontrolle bei der Ausübung der praktischen Freiheit in ihrer maximalen Entfaltung besitzt. Er muss allwissend sein, „damit er das innerste der Gesinnungen und deren moralischen Wert erkenne“, also damit er imstande ist, dafür Sorge zu tragen, dass jeder Mensch das ihm zustehende Maß an Glückseligkeit als Folge seiner

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moralischen Praxis erhält. Er muss allgegenwärtig sein, „damit er unmittelbar allem Bedürfnisse, welches das höchste Weltbeste erfordert, nahe sei; ewig, damit in keiner Zeit diese Übereinstimmung der Natur und Freiheit ermangle, usw“. (KrV, B 843) Diese Überlegungen sind allesamt darum nötig, weil, wie Kant sagt, „die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung“ (KrV, B 841) wären, die praktischen Gesetze also nicht als subjektive Grundsätze, Maximen, beherzigt würden, wenn nicht jeder vernunftfähige Akteur die Hoffnung besäße, dass er mit der Verpflichtung zur moralischen Praxis auch die Verheißung des proportionierten Maßes an Glückseligkeit verknüpfen darf. Alle oben genannten Prädikate des zugrunde liegenden göttlichen Willens aber, nämlich Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart, Ewigkeit usw., – Kant ist offenbar der Ansicht, dass diese Prädikatenreihe nicht vollständig ist, sondern erweitert werden kann – verbinden die Vorstellung eines höchsten ursprünglichen Guts mit der Aufhebung der Unzulänglichkeiten der menschlichen Willkür im Hinblick auf die Erfolgskontrolle bei der Ausübung der praktischen Freiheit: der menschliche Wille ist nicht allmächtig, weswegen er nicht aus eigener Spontaneität gewährleisten kann, dass er durch die moralische Praxis imstande ist, die Totalität aller auf der Vernunft gegründeten Zwecke in der Welt zu verwirklichen. Er ist nicht allwissend, was aber in dem Zusammenhang, in dem die Allwissenheit das Prädikat Gottes hier auftritt, für den Menschen unbedeutend ist, aber dann bedeutend wäre, wenn er sich an die Stelle einer höchsten Vernunft versetzte, die „alle Glückseligkeit anderen auszuteilen hätte“ (Vgl.: B 841). Der göttliche Wille muss allgegenwärtig sein, damit er im Hinblick auf jedes einzelne Bedürfnis für die entsprechende Verbindung des Erfolgs mit der Bemühung um die Hervorbringung desselben gewährleisten kann. Er muss ewig sein, um die Kontinuität des gesetzmäßigen Zusammenhangs zwischen der Bemühung um die sittliche Vollkommenheit und ihren Folgen in der Natur in aller Zeit gewährleisten zu können. Wäre der einzelne Mensch oder die Totalität aller Menschen zu diesem oder zu irgendeinem beliebigen Zeitpunkt imstande, aus eigener Kraft die entsprechende Erfolgskontrolle bei der Ausübung ihrer praktischen Freiheit zu erlangen, so könnte ein entsprechendes Verhältnis durchaus in dieser Welt, also in der Lebenswelt erkannt werden und es wäre weder nötig, eine „künftige Welt“ noch einen obersten Willen als höchstes ursprüngliches Gut, also als transzendentalphilosophische Bedingung der maximalen Ausprägung der praktischen Freiheit anzunehmen. Indem dies aber nicht der Fall ist, und in der Sinnenwelt auch niemals der Fall sein kann und wird, ist die Vernunft genötigt, zwischen der Welt, wie sie ist, und der Welt, wie sie vernünftigerweise sein soll, zu unterscheiden und den

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Zusammenhang, der sich ihr durch die Struktur der praktischen Freiheit notwendigerweise aufdrängt, als Gesetz einer intelligiblen Welt zu denken. Diese intelligible Welt stellt das Ideal für die Gestaltung der Lebenswelt dar, unter der Bedingung, dass die Unzulänglichkeiten bei der Ausübung der praktischen Freiheit, die sich in Bezug auf die Gestaltung des eigenen Willens jedes einzelnen Akteurs, sowie in der Interaktion mit der umgreifenden Natur ergeben, aufgehoben werden können. Das Ideal des höchsten ursprünglichen Guts, bzw. Gott, stellt somit die maximale Ausprägung des Willens, der der maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit zugrunde liegen kann, dar, nämlich einen Willen, der die maximale Erfolgskontrolle in der Gestaltung und Hervorbringung seiner eigenen Inhalte, bzw. Zwecke besitzt. Es stellt das Vorbild dar, dem der menschliche Wille entsprechen muss, um zur vollen Entfaltung der praktischen Freiheit gelangen zu können. In der Sprachtradition der christlichen Metaphysik könnte man ebenso sagen, dass es vernünftigerweise geboten sei, dass der Mensch danach strebe, dem göttlichen Willen so weit wie möglich zu entsprechen. Das höchste abgeleitete Gut, also die proportionierte Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit, stellt die notwendige Folge der maximal entfalteten praktischen Freiheit eines solchen Willens dar; und zwar darum, weil die Vernunft keinen Anlass hat, anzunehmen, dass ein Wille, der im vollkommenen Einklang mit ihr steht, unter der Bedingung, dass er bei der Ausübung seiner praktischen Freiheit die maximale Erfolgskontrolle besitzt, irgendeine andere, als die beste aller möglichen Welten, hervorbringen würde. Dagegen entsteht in der Lebenswelt eine gewisse Diskrepanz zwischen der systematischen Einheit der Zwecke, die die Vernunft gebietet, und der Realität der Erfahrung eben darum, weil die einzigen Akteure, die in dieser Lebenswelt zur Ausübung der praktischen Freiheit fähig sind, nämlich Menschen, sowohl im Hinblick auf die Gestaltung ihrer eigenen Willensinhalte als auch im Hinblick auf die Bewirkung ihrer Zwecke in der Welt einen entscheidenden Mangel an Erfolgskontrolle besitzen. Dementsprechend lässt es sich weder in intrasubjektiver Perspektive, also im Hinblick auf die Willensstruktur eines beliebigen menschlichen Akteurs, noch im Hinblick auf die Ergreifung der zur Hervorbringung der von der Vernunft anerkannten Zwecke notwendigen Mittel die lückenlose Herrschaft der Vernunft in der Sinnenwelt erkennen. Gefordert wird sie dennoch. Sofern wir also abschließend die kantische Haltung zu Gott erkunden wollen, bietet sich der folgende Abschnitt an: Und so hat am Ende doch immer nur reine Vernunft, aber nur in ihrem praktischen Gebrauche, das Verdienst, ein Erkenntnis, das die bloße

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Spekulation nur wähnen, aber nicht geltend machen kann, an unser höchstes Interesse zu knüpfen, und dadurch zwar nicht zu einem demonstrierten Dogma, aber doch zu einer schlechterdings notwendige Voraussetzung bei ihren wesentlichen Zwecken zu machen. (KrV, B 846) Es bleibt also dabei, dass ein dogmatischer Gottesbeweis in spekulativer, also erkenntnistheoretischer Hinsicht, nicht möglich ist, es ist aber im Grunde genommen unstrittig, dass die Existenz Gottes nach Kants Dafürhalten an unser höchstes Interesse geknüpft ist, und dass sie eine notwendige Voraussetzung bei den wesentlichen Zwecken der Vernunft darstellt – also nicht ein beliebiges Interesse und nicht bei irgendwelchen Zwecken, schon gar nicht bei trivialen Zwecken, sondern bei den „wesentlichen“ Zwecken der Vernunft, nämlich solchen, die die Gestaltung und Ausübung der praktischen Freiheit betreffen, und: Wir werden, soweit praktischen Vernunft uns zu führen das Recht hat, Handlungen nicht darum für verbindlich halten, weil sie Gebote Gottes sind, sondern sie darum als göttliche Gebote ansehen, weil wir dazu innerlich verbindlich sind. (KrV, B 847) Gott wird also nicht als Glaubensinhalt vorausgesetzt, sondern im Durchgang durch die Erörterung der Theorie der praktischen Freiheit, und zwar speziell im Hinblick auf die Möglichkeit ihrer maximalen Entfaltung, in die Theorie integriert, indem er die Willensstruktur bezeichnet, unter deren alleiniger Bedingung diese maximale Entfaltung möglich ist. Es wird damit nicht ausgesagt, dass ein Gott existiert, schon gar nicht als raumzeitliches Phänomen: es wird damit ausgesagt, dass das Ideal des höchsten abgeleiteten Guts nur unter der Erfüllung sämtlicher Bedingungen, die unter dem Begriff des göttlichen Willens vereinigt werden, möglich ist. Diesem Willen zunehmend zu entsprechen, stellt darum nach vernünftigen Gesichtspunkten eine moralische Pflicht für jeden einzelnen vernunftfähigen Akteur und die Totalität aller vernunftfähigen Akteure dar, sofern sie um die maximale Entfaltung ihrer eigenen praktischen Freiheit bemüht sind.

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Übergang zur praktischen Freiheit in der Kritik der praktischen Vernunft. Von der freien Willkür zum freien Willen Überblick In diesem Abschnitt befasse ich mich mit der Veränderung der gedanklichen Richtung beim Übergang von der Darstellung der praktischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft zur Kritik der praktischen Vernunft. Ich zeige, dass Kant in der Kritik der praktischen Vernunft den Gedanken nicht mehr im Ausgangspunkt von einem Minimalbegriff der erfahrbaren praktischen Freiheit entwickelt, sondern im Ausgangspunkt von der Autonomie der Vernunft und dem Faktum des Sittengesetzes. Ich betone insbesondere, dass Kant in der Kritik der praktischen Vernunft den Standpunkt vertritt, dass das Sittengesetz das so genannte Grundgesetz der intelligiblen Welt darstellt und dass er dadurch eine substantielle Erkenntnis über die gesetzmäßige Beschaffenheit der intelligiblen Welt gewonnen habe. Er betont auch, dass er nach dem Stand der Dinge in der Kritik der reinen Vernunft nicht den Anspruch erheben konnte, irgendetwas Positives über die intelligible Welt zu sagen, geschweige denn ihr Grundgesetz aufzeigen zu können. Die Modifikation seiner Theorie, also die „Entdeckung“ des Sittengesetzes als Grundgesetz der intelligiblen Welt, macht es ihm möglich, die Theorie der praktischen Freiheit, die in der Kritik der reinen Vernunft erst programmatisch entwickelt wurde, nun mit einer größeren gedanklichen Strenge und argumentativen Verbindlichkeit zu entwickeln, indem die handlungstheoretischen Implikationen, die in der Moraltheologie thematisch waren, nun in der Postulatenlehre in Form von Schlüssen formuliert werden können, die auf dem neu entdeckten Grundgesetz der intelligiblen Welt beruhen.

Mit diesen Erörterungen ist allerdings auch die Grenze der Leistungsfähigkeit der Theorie der praktischen Freiheit, die in der Kritik der reinen Vernunft vertreten wird, erreicht. Denn da sich diese Theorie als Unabhängigkeit der Willkür von Antrieben der Sinnlichkeit vollzieht und im Grunde genommen durch die Fähigkeit auszeichnet, gegebene Antriebe der Sinnlichkeit durch die Vorstellung von Zwecken und Grundsätzen zu überwinden, so erschöpft sich ihr Potenzial auch in der Überwindung solcher Antriebe. Die Erörterungen im Zusammenhang mit dem Ideal des höchsten Guts, speziell im Hinblick auf die Willensstruktur des höchsten ursprünglichen Guts, zeigen allerdings, dass sich die Willensstruktur, die der maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit © koninklijke brill nv, leiden, ���4 | doi ��.��63/9789004271722_��6

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zugrunde liegen muss, durch die volle Verfügungsgewalt über die Inhalte der willentlichen Selbstbestimmung auszeichnet. Diese Verfügungsgewalt kann sich aber nur unter einer bestimmten Bedingung in die entsprechende Erfolgskontrolle bei der Ausübung der praktischen Freiheit verwandeln, nämlich nur sofern die Inhalte des Willens gänzlich aus eigener Spontaneität bestimmt werden können und sich diese willentliche Selbstbestimmung auf den moralischen Gesetzen der Vernunft gründet. Somit ergibt sich für die Weiterentwicklung der Theorie der praktischen Freiheit notwendigerweise die Frage, ob es überhaupt möglich ist, dass die reine Vernunft praktisch sei, dass sie also gänzlich aus eigener Spontaneität den Willen bestimme, und auf diese Art und Weise gewährleistet werden kann, dass der Ausübung der praktischen Freiheit eine Willensstruktur zugrunde liegt, die sich als wahrhaftige Unabhängigkeit von Antrieben der Sinnlichkeit erweist, indem sie ihre Inhalte aus der Spontaneität der Vernunft generiert. Eben dieser Aufgabe nimmt sich Kant gleich zu Beginn der Kritik der praktischen Vernunft an. Bereits in der Einleitung hält er fest, dass die Kritik der praktischen Vernunft das Anliegen verfolgt, „die empirisch bedingte Vernunft von der Anmaßung abzuhalten, ausschließungsweise den Bestimmungsgrund des Willens allein abgeben zu wollen“. (KpV, A 31). Dass die Überwindung der Antriebe der Sinnlichkeit unter Berücksichtigung der Vernunft überhaupt möglich ist, gilt also als unstrittig, aber es stellt sich die Frage, „ob reine Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich alleine zulange, oder ob sie nur als empirisch bedingte ein Bestimmungsgrund desselben sein könne“. (KpV, A 30) Gerade in Abgrenzung von den „Verirrungen der Philosophen in Ansehung des obersten Prinzips der Moral“, die einen Gegenstand des Willens suchen, „um ihn zur Materie und dem Grunde eines Gesetzes zu machen“, selbstverständlich zur Grundlage eines moralischen Gesetzes, profiliert Kant die Methode seiner Kritik der praktischen Vernunft, indem er feststellt, dass sie „zuerst nach einem Gesetze hätten forschen sollen, das a priori und unmittelbar den Willen und diesem gemäß allererst den Gegenstand bestimmte“. (KpV, A 112 f.) Unter einem Gegenstand der praktischen Vernunft versteht Kant „die Vorstellung eines Objekts als einer möglichen Wirkung durch Freiheit“ (KpV, A 100), wobei die eigentlichen Objekte der praktischen Vernunft das Gute und Böse (KpV, A 101) und letztendlich das höchste Gut darstellen: „Die Bewirkung des höchsten Guts in der Welt ist das notwendige Objekt eines durchs moralische Gesetz bestimmbaren Willens“ (KpV, A 219) und ähnlich in dem Abschnitt von der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft: „denn in der Tat versetzt uns das moralische Gesetz der Idee nach in eine Natur, in welcher reine Vernunft, wenn sie mit dem ihr angemessenen physischen Vermögen begleitet wäre, das höchste Gut hervorbringen würde“. (KpV, A 75)

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Die strukturelle Veränderung der Theorie der Freiheit ist also offensichtlich, denn Kant verfolgt der Kritik der praktischen Vernunft das Anliegen, die praktische Freiheit als Willensfreiheit zu profilieren, die die Möglichkeit beinhaltet, sich gänzlich aus der Spontaneität der Vernunft selbst zu bestimmen. Dies unterscheidet sich signifikant von der praktischen Freiheit, die im Ausgangspunkt von einer sinnlich affizierten Willkür, einem arbitrium sensitivum liberum entwickelt wurde. Für die Theorie des höchsten Guts ergeben sich durch diese Neukonzeption der Theorie der praktischen Freiheit weitreichende Folgen, denn nun entspricht die Theorie der Freiheit der Willensstruktur, die zur Bewirkung des höchsten Guts zugrunde gelegt werden muss und die sich durch die volle Erfolgskontrolle bei der Ausübung der praktischen Freiheit auszeichnet, indem sie die nötige Verfügungsgewalt über die inhaltliche Gestaltung der willentlichen Selbstbestimmung besitzt. 5.1

Die Entstehung der Kritik der praktischen Vernunft

Karl Vorländer zufolge248 hatte Kant im Herbst 1786 wahrscheinlich die Absicht, die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft so zu gestalten, dass die Inhalte, die uns aus der Kritik der praktischen Vernunft bekannt sind, darin eingearbeitet werden. Dies entnimmt er einer Ankündigung die am 21. November 1786 in der Allgemeinen Literaturzeitung (Nr. 276) veröffentlicht wurde, und worin Kant die Absicht zum Ausdruck bringt, der zweiten Auflage der Kritik der reinen spekulativen Vernunft „noch eine Kritik der reinen praktischen Vernunft“ hinzuzufügen. Einen weiteren Beleg für diese Absicht findet Vorländer in einem Brief vom 8. November 1786, den Kant von seinem Kollegen Born aus Leipzig erhält und der offenbar eine Antwort auf einen Brief darstellt, den Kant am 24. September 1786 verfasst hat. In dieser Antwort bringt Born seine Freude über den zu erwartenden „wichtigen Zusatz einer Kritik der reinen praktischen Vernunft“ zum Ausdruck, wodurch Kant nach Borns Dafürhalten sein „treffliches Werk noch mehr verschönern“ würde. Von dieser dokumentierten Absicht zur Erweiterung der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft durch die Kritik der reinen praktischen Vernunft nimmt Kant aber offensichtlich sehr bald Abstand, denn die zweiter Auflage der Kritik der reinen Vernunft erscheint bereits im Frühjahr 1787 und zwar ohne die angekündigte Erweiterung. Zudem stellt Vorländer in Berufung auf einen Brief, den Kant am 25. Juni 1787 an Schütz schreibt, fest, dass sie Kritik der 248 Vorländer, K. 1929: Einleitung zur neunten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Auswahl unter dem Titel „Zur Entstehung der Schrift“ in der zehnten Auflage von 1990 abgedruckt. Zitate nach Referenztext von 1990.

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praktischen Vernunft zu diesem Zeitpunkt bereits fertig ist, denn Kant kündigt darin an, dass er sie „künftige Woche nach Halle zum Druck (. . .) geben“ will. Von seiner im September 1786 angekündigten Absicht nimmt Kant also spätestens im April 1787, als er die neue Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft verfasst, Abstand und stellt dann innerhalb von höchstens drei Monaten zwar keine Kritik der reinen praktischen Vernunft, wohl aber eine Kritik der praktischen Vernunft fertig. Die Gründe für den Entschluss, anstelle einer Kritik der reinen praktischen eine Kritik der praktischen Vernunft überhaupt zu verfassen, nennt Kant in der Einleitung zur Kritik der praktischen Vernunft: Folglich werden wir nicht eine Kritik der reinen praktischen, sondern nur der praktischen Vernunft überhaupt zu bearbeiten haben. Denn reine Vernunft, wenn allererst dargetan worden, daß es eine solche gebe, bedarf keiner Kritik. Sie ist es, welche selbst die Richtschnur zur Kritik alles ihres Gebrauchs enthält. (KpV, A 30) Kant stellt also bereits in der Einleitung fest, dass das Anliegen der Kritik der praktischen Vernunft zunächst einmal darin besteht, aufzuzeigen, dass die reine Vernunft überhaupt praktisch sein könne, das heißt, dass sie den Willen ausschließlich aus eigener Spontaneität zu bestimmen vermag. Dieses Anliegen löst er aber in der Analytik, speziell in der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft ein: „Diese Analytik tut dar, daß reine Vernunft praktisch sein, d.i. für sich, unabhängig von allem Empirischen den Willen bestimmen könne“ (KpV, A 72), wobei seine Deduktion ganz entscheidend auf der in der Kritik der praktischen Vernunft neu konzipierten Theorie vom Sittengesetz als Faktum der Vernunft beruht. 5.2

Das Sittengesetz als Faktum der Vernunft

Als Ergebnis des gescheiterten Versuchs der Deduktion des Sittengesetzes in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten249 geht Kant in der Kritik der praktischen Vernunft Kant davon aus, dass es nicht möglich ist, das Sittengesetz zu deduzieren, dass dies aber auch nicht nötig sei, denn das Sittengesetz stelle ein Faktum der Vernunft dar.250 Sehr wohl ist es aber möglich, dass auf der 249 Vgl.: Düsing, K. 2002: Subjektivität und Freiheit. Untersuchungen zum Idealismus von Kant bis Hegel. 229 und 213–223. 250 Vgl.: Düsing 2002, 229 ff.

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Grundlage des moralischen Gesetzes die Freiheit deduziert wird. Das Faktum des Sittengesetzes hat aber über den Vorzug hinaus, dass es ein Prinzip zur Deduktion der Freiheit darstellt, noch den Vorteil, dass es erstens auf eine reine Verstandeswelt verweist und zweitens sogar eine „positive Bestimmung“, nämlich ein „Gesetz“ (Vgl.: KpV, A 73 f.) der reinen Verstandeswelt offenbart. Zwar beruht auch diese Theorie der praktischen Freiheit auf der Voraussetzung der transzendentalen Freiheit, aber mit der Theorie vom Faktum des Sittengesetzes gelingt es Kant, eine positive Erkenntnis über die Beschaffenheit der intelligiblen Welt zu gewinnen. Er stellt fest, dass es in der Kritik der spekulativen Vernunft nicht möglich war, positive Erkenntnisse über die intelligible Welt zu generieren. (KpV, A 73) Dies ist auch selbstverständlich, weil synthetische Urteile der spekulativen Vernunft nur in Bezug auf Erscheinungen in Raum und Zeit möglich sind und weil der Schluss von der Notwendigkeit einer Idee auf die Existenz des Gegenstandes, der darin bestimmt wird, jederzeit einen Fall des so genannten dialektischen Scheins darstellen würde, dessen Vermeidung die Hauptaufgabe der Kritik der spekulativen Vernunft darstellt: Der größte und vielleicht einzige Nutzen der Philosophie der reinen Vernunft ist also wohl nur negativ; da sie nämlich nicht, als Organon, zur Erweiterung, sondern, als Disziplin, zur Grenzbestimmung dient, und, anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten. (KrV, B 823) Die Verwendung der Vernunft als Organon verursacht aber gerade diesen dialektischen Schein und so zielt die Feststellung, dass die reine Vernunft als Disziplin und nicht als Organon verwendet werden dürfe, auf die Vermeidung einer bestimmten Art von Irrtümern, nämlich solcher, die einen Ausdruck des dialektischen Scheins darstellen. (Vgl.: KpV, B 85 ff.) Die transzendentale Dialektik stellt darum gerade eine „Kritik dieses dialektischen Scheines“ dar. (KrV, B 88) Konsequenterweise stellt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft fest: „Über die Erfahrungsgegenstände hinaus, also von Dingen als Noumenen wurde der spekulativen Vernunft alles Positive einer Erkenntnis mit völligen Rechte abgesprochen.“ (KpV, A 73) Dagegen stellt das Faktum des Sittengesetzes, indem es ein Faktum der Vernunft selbst ist, eine unmittelbare Einsicht in die Grundstruktur der intelligiblen Kausalität dar, so dass man in Ansehung der Gesamtheit der Theorie der transzendentalen und praktischen Freiheit sowohl die Einsicht hat, dass zusätzlich zur Kausalität nach Naturgesetzen auch Kausalität aus Freiheit denkbar sei, dass somit eine intelligible Welt möglich sei, zudem aber (nunmehr) auch eine konkrete Aussage über das Grundgesetz der Kausalität aus Freiheit, also der intelligiblen Kausalität, machen kann,

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die auf dem Faktum des Sittengesetzes beruht. Letzteres ist neu und, wie sich noch zeigen wird, von entscheidender Bedeutung für die Theorie des höchsten Guts, die Antinomie der praktischen Vernunft und die Postulatenlehre. Der gesamte Textabschnitt mit der Überschrift „Von der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft“ lässt sich sehr gut in zwei Abschnitte unterteilen, wobei der erste die Exposition des obersten Grundsatzes der praktischen Vernunft, der zweite aber die Deduktion desselben behandelt. (KpV, A 80) Genau genommen beinhaltet der zweite Abschnitt jedoch keine Deduktion des Sittengesetzes, da diese nach Kants Dafürhalten nicht möglich ist, sondern gibt Auskunft darüber, warum dies nicht möglich ist, warum das Sittengesetz als „Faktum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind, und welches apodiktisch gewiß ist“, gegeben ist, selbst unter der Bedingung, „daß man auch in der Erfahrung kein Beispiel, da es genau befolgt wäre, auftreiben könnte“. (KpV, A 81) Die Unmöglichkeit der Deduktion des Sittengesetzes beruht aber gerade darauf, dass keine notwendige Beziehung auf die Erfahrung erfolgen kann. Die Deduktion als Rechtfertigung der Gesetzmäßigkeit der Vollzugsweise bestimmter Grundvermögen ist aber nur in Berufung auf die Erfahrung in Raum und Zeit möglich (KpV, A 81), so dass das Sittengesetz nicht auf dieselbe Art und Weise gerechtfertigt, deduziert, werden kann, wie die Gesetze des theoretischen Verstandes. Der Abschnitt über die Deduktion des Gesetzes erschöpft sich aber nicht in dieser negativen Feststellung der Unmöglichkeit der Herleitung des moralischen Gesetzes, sondern beinhaltet darüber hinaus die positive Aussage, dass sich auf der Grundlage des Faktums des Sittengesetzes die Freiheit deduzieren lasse. Demnach ist zwar die Deduktion des moralischen Prinzips „vergeblich“, was aber kein Problem darstellt, weil das moralische Gesetz „selbst keiner rechtfertigenden Gründe bedarf“, wohl aber dient dieses Faktum als Prinzip der Deduktion der Freiheit und beweist nicht bloß die Möglichkeit, sondern sogar die „Wirklichkeit“ derselben. (KpV, A 82 f.) Dadurch ist insgesamt ein merklicher Fortschritt im Hinblick auf die Ergebnisse in der Kritik der reinen Vernunft erzielt worden, denn über die dortigen Resultate hinaus wird nun der Anspruch erhoben, dass erstens ein Grundgesetz der intelligiblen Welt erkannt und aufgezeigt wurde und zweitens, dass auf der Grundlage des Sittengesetzes nicht mehr nur die Denkmöglichkeit der Freiheit aufgezeigt, sondern die Freiheit in ihrer Wirklichkeit bewiesen werden kann. Die Theorie vom Faktum des Sittengesetzes stellt sicherlich die entscheidende Idee dar, die der gesamten Konzeption Kritik der praktischen Vernunft zugrunde liegt, und zwar sowohl ihrer Grundkonzeption, als auch dem Anliegen, dass sie insgesamt verfolgt. Aus den Überlegungen, die den historischen Kontext betreffen, ist deutlich geworden, dass die Kritik der praktischen

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Vernunft aus der ursprünglichen Idee hervorgegangen ist, die entsprechenden Passagen in der Kritik der reinen Vernunft zu überarbeiten. Meine obigen Erörterungen haben gezeigt, worin das eigentliche Problem der entsprechenden Passagen besteht, nämlich darin, dass in ihnen ein notwendiger Gegenstand der praktischen Freiheit als Ideal des höchsten Guts konzipiert wird, dass zudem eingesehen wird, dass dieses höchste Gut in dieser Welt nicht realisierbar ist, dass aber seine Realisierung auf gewissen Voraussetzungen beruht, die „nicht diese“, sondern „eine andere Welt“ betreffen; nun macht aber die Unterscheidung zwischen „dieser Welt“ und „einer anderen Welt“ im Kontext der Kritik der reinen Vernunft, also speziell vor dem Hintergrund der Theorie des transzendentalen Idealismus, nur auf eine bestimmte Art und Weise Sinn, nämlich als Unterschied zwischen der phänomenalen und der intelligiblen Welt. Zudem entspricht die phänomenale Welt den Zuständen, wie sie sind, während die intelligible Welt der Kritik der reinen Vernunft entsprechend die „moralische Welt“ darstellt, die die Zustände beschreibt, wie sie sein sollen. In praktischer Hinsicht beruht also auf der Unterscheidung von phänomenaler und intelligibler Welt auch das Verhältnis der Seienden zur Sein-Sollenden Welt. Nun stellt aber Kant in der Kritik der praktischen Vernunft rückblickend fest, dass es nach dem Stand der Dinge in der Kritik der reinen Vernunft überhaupt nicht möglich war, irgendeine „positive Bestimmung“ über die intelligible Welt zu treffen, geschweige denn ein „Gesetz“ derselben zu erkennen. (KpV, A 73 f.) Das Problem ergibt sich nun dadurch, dass die Theorie des höchsten Guts, die einen integralen Bestandteil des Kanons darstellt, die Bedingungen erörtert, die zur maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit nötig sind und dass sie im Rahmen dieser Erörterungen unweigerlich auf die intelligible Welt und ihre Kausalität zu sprechen kommt – über die sie aber nichts Verbindliches aussagen kann und in Bezug auf welche sie, da sie keinerlei Gesetze der intelligiblen Welt kennt, auch überhaupt nicht sagen kann, nach welcher positiven Bestimmung (also: wie eigentlich) sich die intelligible Kausalität überhaupt vollzieht, in Bezug auf die sie also letztendlich auch keinerlei zuverlässige Schlüsse ziehen kann. Sie erörtert die Bedingungen, die in der intelligiblen Welt vorliegen müssen, und die das Urbild einer sein-sollenden Welt ausmachen, das uns zugrunde liegen soll, um die Sinnenwelt „dieser Idee so viel als möglich gemäß zu machen“ (KrV, B 836), aber im Grunde genommen ist keinerlei zuverlässige Aussage über diese Welt möglich, denn es ist nicht möglich ein Gesetz zu erkennen, dass zuverlässige Schlüsse in Bezug auf die intelligible Kausalität und die Grundstruktur der intelligiblen Welt zulässt. In der Moraltheologie wird dies offensichtlich, denn sie erschöpft sich in der Kritik der reinen Vernunft in Plausibilisierungen und zeichnet sich vor allen Dingen dadurch aus, dass sie im Verhältnis zu dem Rest des Textkorpus vage und unbestimmt, und m. E. darum auch unverständlich wird, weil der Gedanke, der

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darin erörtert wird, nicht dieselbe Klarheit besitzt, wie in der Kritik der praktischen Vernunft. Ich sehe, dass ich an dieser Stelle sofort unter Zwang gerate, ein überzeugendes Argument hierfür zu nennen und darum will ich das auch tun: der entscheidende Unterschied zwischen dem Gegenstandsbereich, der in der Kritik der reinen Vernunft der späteren Postulatenlehre entspricht, und der detaillierten Ausführung der Antinomie der praktischen Vernunft und der sich daran anschließenden Postulatenlehre, zeichnet sich dadurch aus, dass die ausgearbeitete Version dieses Gegenstandsbereich in der Kritik der praktischen Vernunft auf konkreten Schlüssen beruht. Sowohl das erste Postulat als auch das zweite Postulat beruhen auf Schlüssen aus der Prämisse, dass das höchste Gut ein notwendiger Gegenstand der moralischen Selbstbestimmung sei und vor dem Hintergrund des Sittengesetzes als Grundgesetz der intelligiblen Welt. Ich werde später im Detail zeigen, wie die Voraussetzung des Sittengesetzes als Grundgesetz der intelligiblen Welt im Rahmen des Beweises von der Unsterblichkeit der Seele fruchtbar gemacht wird. Wir sehen jedenfalls: die Form der Postulate als Schlüsse der Art: das höchste Gut ist ein notwendiger Gegenstand der moralischen Selbstbestimmung, dafür ist moralische Vollkommenheit gefordert, moralische Vollkommenheit ist in der Sinnenwelt nicht möglich, also ist durch das Sittengesetz als Grundgesetz der intelligiblen Welt ein unendlicher Prozess der Annäherung jeder einzelnen Person an dieses Ideal gefordert, wofür die Person unendlich lange existieren muss, – eine solche Form war also in der Kritik der reinen Vernunft nicht möglich, denn wer sollte dort wissen, welche Gesetze in der intelligiblen Welt herrschen? Selbstverständlich wurde bereits im dortigen Kontext von der moralischen Gesetzgebung der Vernunft gesprochen und das ich das weiß, habe ich in den obigen Erörterungen bereits gezeigt, aber was man darin ebenso gut sehen kann, ist die Tatsache, dass, wenn man auf sinnlose Assoziationen verzichtet, in der Kritik der reinen Vernunft in Bezug auf die moralische Autonomie der Vernunft lediglich ausgesagt wird, dass sie erstens „moralische Gesetze“, nämlich im Plural, erlässt, und zweitens, dass diese moralischen Gesetze kategorisch, also ausnahmslos Gebieten, was geschehen soll. (KrV, B 828) Viel ist das nicht. Da wird nicht eine einzige Pflicht, nicht ein Gebot oder Verbot genannt. Es wird nicht einmal der Kategorische Imperativ genannt. Vor allen Dingen reicht dies, was dort inhaltlich über die moralische Autonomie ausgesagt wird, nicht aus, um daraus ein Gesetz zu erkennen, nach dem man Schlüsse in Bezug auf die intelligible Welt ziehen könnte. Der Zustand aber, der sich dadurch auszeichnet, dass am Ende der Kritik der reinen Vernunft erkannt wird, dass die intelligible Welt, die den Archetypus der sein-sollenden Welt darstellt und als regulative Idee der Gestaltung dieser Sinnenwelt dienen soll, wir aber zugleich einsehen sollen, dass keinerlei positive Bestimmung

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und schon gar nicht ein Gesetz der intelligiblen Welt erkennbar sei (Vgl.: KpV, A 73f.) ist wahrlich unbefriedigend und treibt Kant zur Überarbeitung dieses Textabschnitts. Und so versteht man vor diesem Hintergrund, was in dem ersten Satz des Kanonkapitels eigentlich ausgesagt wird: Es ist demütigend für die menschliche Vernunft, dass sie in ihrem reinen Gebrauche nichts ausrichtet, und sogar noch einer Disziplin bedarf, um ihre Ausschweifungen zu bändigen, und die Blendwerke, die ihr daher kommen, zu verhüten. (KrV, B 823) Und ähnlich im ersten Satz des ersten Abschnitts des Kanonkapitels, also dem ersten Satz des nachfolgenden Kapitels: Die Vernunft wird durch einen Hang ihrer Natur getrieben, über den Erfahrungsgebrauch hinauszugehen, sich in einem reinen Gebrauche und vermittelst bloßer Ideen zu den äußersten Grenzen aller Erkenntnis hinaus zu wagen, und nur allererst in der Vollendung ihres Kreises, in einem für sich bestehenden systematischen Ganzen, Ruhe zu finden. (KrV, B 825) Diese Ruhe wird sie niemals finden, solange sie nicht imstande ist, zuverlässige Aussagen in Bezug auf die Beschaffenheit der intelligiblen Welt zu machen, und zwar solche Aussagen, die auf der Grundlage von Gesetzen getroffen werden. Darum bleibt der Zustand, der in der Kritik der reinen Vernunft vorliegt, letztendlich unbefriedigend, während die Erkenntnis des „Grundgesetzes der intelligiblen Welt“, also des Sittengesetzes als eines Faktums der Vernunft, hier einen vielversprechenden Fortschritt darstellt. Und letztendlich kann in Bezug auf den ersten Satz der Vorrede zur Erstausgabe der Erkenntnisfortschritt verdeutlicht werden: Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann; denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft. (KrV, A VII) Gerade in diesem Zusammenhang verspricht das Faktum des Sittengesetzes einen Erkenntnisfortschritt. Wir werden also insbesondere im Zusammenhang mit der Postulatenlehre sehen, dass dieselbe Gegenstandsbereich, der in der Kritik der reinen Vernunft

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kapitel 5

bloß andeutungsweise erörtert werden konnte, hier in Form von Schlüssen dargestellt wird, die auf gewissen Gesetzen beruhen, die teilweise altbekannt sind, teilweise, speziell das Sittengesetz als Faktum der Vernunft, neu sind. In Bezug auf das Sittengesetz muss darum noch eine Sache festgehalten werden: Es ist für die gesamte Erörterung der Theorie der praktischen Freiheit und insbesondere für ihr Verhältnis zur Theorie der transzendentalen Freiheit entscheidend, zu verstehen, dass die Kausalität nach empirischen Gesetzen und die Kausalität nach intelligblen Gesetzen zweierlei Dinge sind: Nun wissen wir sehr wohl, was wir unter dem Begriff der empirischen Kausalität, bzw. der Kausalität nach empirischen Gesetzen, also Naturgesetzen, zu verstehen haben. Aber was verstehen wir eigentlich unter dem Begriff der intelligiblen Kausalität? Wie oft ist dieser Begriff im Kontext der Auflösung der Antinomie verwendet worden und wie oft ist dabei auf die Theorie des transzendentalen Idealismus verwiesen worden? Aber wie oft mag wohl bei all diesen Verweisen die naive Vorstellung zugrunde gelegen haben, dass in der intelligiblen Welt auch Kausalität herrsche, wobei man stillschweigend dieselbe Vorstellung von Kausalität zugrunde gelegt hat? Ich weiß es nicht, hoffe zwar, dass es niemals der Fall gewesen ist, aber es steht fest, dass nun mit den Resultaten der Kritik der praktischen Vernunft, speziell vor dem Hintergrund des Faktums der Vernunft eine inhaltliche Bestimmung über die intelligible Welt und zwar eine inhaltliche Bestimmung in Bezug auf ihre Kausalität getroffen wird: Demnach stellt das Sittengesetz den Ausdruck der intelligiblen Kausalität dar. Die intelligible Kausalität ist also nicht nur irgendeine beliebige Verbindung von Ursachen und Wirkungen, sondern eine Kausalität des, speziell moralischen, Sollens. Dies wurde zwar bereits im Zusammenhang mit dem intelligiblen Charakter in der Kritik der reinen Vernunft angedeutet, wird aber in dieser Klarheit und mit dem entsprechenden Geltungsanspruch erst in der Kritik der praktischen Vernunft formuliert. Intelligible Kausalität ist also nicht dasselbe wie die empirische Kausalität, nur als vorgestellt in einer „intelligiblen Welt“, sondern ist nur insofern ein und dasselbe wie die empirische Kausalität, als es auch hierbei um Kausalität geht; zugleich stellt aber die intelligible Kausalität eine ganz spezifische Art von Kausalität, nämlich die Kausalität des moralischen Sollens, dar. Das ist ganz wichtig, denn insbesondere für die Schlussfigur, auf der das Postulat von der Unsterblichkeit der Seele beruht, wird es von Bedeutung sein zu verstehen, wie das Grundgesetz der intelligiblen Kausalität in die Argumentation eingebaut wird.

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Die Antinomie der spekulativen und praktischen Vernunft Auf den ersten Blick erinnert Kants Preisgabe des Versuchs, das Sittengesetz aus Freiheit zu deduzieren und die Etablierung der neuen Theorie vom Faktum des Sittengesetzes an den in der Kritik der reinen Vernunft vertrete­ nen Standpunkt, dass die praktische Freiheit durch Erfahrung bewiesen wer­ den könne (Vgl.: KrV, B 830 f.) und es entsteht mitunter der Verdacht, dass die Rückkehr zum bloßen Erfahrungsbeweises251 eine Folge des gescheiterten Versuchs der Deduktion des Sittengesetzes in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten darstellt. Allerdings ist dies in der Tat nur auf den ersten Blick der Fall, denn es wird sich im Folgenden erstens zeigen, dass die Theorie vom Faktum des Sittengesetzes wesentlich ausgereifter als der Erfahrungsbeweis der psy­ chologischen praktischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft ist, und zweitens, dass in der Kritik der praktischen Vernunft eine weiter entwickelte Theorie der Freiheit zugrunde liegt: während in der KrV ein arbitrium sensiti­ vum thematisch ist, das zwar liberum ist, aber dessen Ausgangspunkt Stimuli darstellen, wird die Theorie der Willensfreiheit in der KpV im Ausgangspunkt von der Autonomie der Vernunft entwickelt und zeichnet sich durch die ent­ sprechende Spontaneität aus. Die Willensfreiheit ist im eigentlichen Sinne praktische Freiheit, und sie wird von Kant sukzessive entwickelt und erst in der KpV kohärent zum Ausdruck gebracht. In ihrer höchsten Vollendung zeichnet sie sich durch zweierlei Charakteristika aus, die gegenüber dem klassischen arbitrium liberum distinktiv sind, die aber auch im Vergleich zur Theorie der praktischen Freiheit, die in der KrV vertreten wird, einen substan­ tiellen Fortschritt darstellen, nämlich durch kompromisslose Spontaneität und kompromisslose Kontrolle; daher stellt die voll entwickelte praktische Freiheit einen Ausdruck der voll entwickelten, kontrollierten willentlichen Selbstbestimmung von Akteuren aus, die sowohl über die Prozesse, durch die sie die Inhalte ihres Willens generieren, als auch die Prozesse, durch die sie diese Willensinhalte in der Welt verwirklichen, die volle Erfolgskontrolle besit­ zen. Diese ideale Grundstruktur der ideal entwickelten praktischen Freiheit und Handlungsorganisation wird als höchstes ursprüngliches Gut bezeichnet, 251 So kann man, wenn man will, die Aussage auf A 82, dass das Bewusstsein des moralischen Gesetzes die Wirklichkeit der Freiheit beweise, interpretieren.

© koninklijke brill nv, leiden, ���4 | doi ��.��63/9789004271722_007

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ihre ideale Vollzugsweise als höchstes vollendetes Gut, nämlich die proportio­ nierte Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit, also Einheit von Autonomie (Spontaneität) und Erfolgskontrolle. Normativität, Spontaneität und Erfolgs­ kontrolle stellen hier die Schlüsselelemente der Handlungsorganisation dar. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die Argumentation, die in der Kritik der praktischen Vernunft entwickelt wird, wesentlich enger mit der Theorie der transzendentalen Freiheit verknüpft ist, so dass die Auseinandersetzung mit der Frage, wie das Faktum der Vernunft zu verstehen sei, in Verbindung mit der Einsicht, dass es eine ganz wesentliche Erkenntnis in Bezug auf die intelligible Welt darstellt, und der Frage, wie das Sittengesetz den Willen bestimmen kann, unmittelbar auf das Verhältnis zwischen der intelligiblen Kausalität und ihrer Vermittlung mit der phänomenalen Welt führt. Daher ist die Argumentation, die sowohl in der Exposition (KpV, A 72–80), als auch in der Deduktion (KpV, A 80–87) der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft entwickelt wird, ganz wesentlich mit der Theorie der transzendentalen Freiheit verbunden, da bei der Deduktion der praktischen Grundsätze die Vorstellung von der intelli­ giblen Ordnung der Dinge und der intelligiblen Kausalität eine ganz entschei­ dende Rolle spielt. Demnach ist sich der Mensch seines Wesens an sich selbst bewusst, wodurch er in einer intelligiblen Ordnung der Dinge steht, und zwar „gewissen dynamischen Gesetzen gemäß, die die Kausalität desselben in der Sinnenwelt bestimmen können“ (KpV, A 72). Die Frage aber, wie es möglich ist, dass das Grundgesetz der bezeichneten intelligiblen Ordnung der Dinge, näm­ lich das Sittengesetz, den Willen und infolgedessen auch die Handlungen eines Subjekts in der empirischen Welt bestimmen kann, betrifft das Verhältnis zwi­ schen der intelligiblen Kausalität aus Freiheit und der empirischen Kausalität nach Naturgesetzen und stellt somit ein zentrales Anliegen im Rahmen der Erörterungen der Theorie der transzendentalen Freiheit dar. Dieses zentrale Moment greift Kant in der eigentlichen Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft auf: Die Bestimmung der Kausalität der Wesen in der Sinnenwelt als einer solchen konnte niemals unbedingt sein, und dennoch muß es zu aller Reihe der Bedingungen notwendig etwas Unbedingtes, mithin auch eine sich gänzlich von selbst bestimmende Kausalität geben. Daher war die Idee der Freiheit, als eines Vermögens absoluter Spontaneität, nicht ein Bedürfnis, sondern, was deren Möglichkeit betrifft, ein analytischer Grundsatz der reinen spekulativen Vernunft. (KpV, A 83 f.) Diese Verbindung zwischen der Theorie der transzendentalen Freiheit und der praktischen Freiheit wird in der Kritik der praktischen Vernunft, nämlich

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insbesondere im Rahmen der Dialektik derselben ausführlich erörtert, denn sie ist von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der Antinomie der praktischen Vernunft. Die Tatsache, dass Kant im Vorfeld der Erörterung der Antinomie der praktischen Vernunft auf die Grundstruktur der Antinomie, bzw. der Antinomien (der Ausdruck wird von Kant sowohl im Singular als auch im Plural verwendet) in der spekulativen Vernunft zurückblickt, überrascht auf den ersten Blick nicht. Auf denselben ersten Blick wirkt nämlich bereits die Tatsache, dass die praktische Vernunft ebenfalls in eine Antinomie gerät, ein wenig „technisch“, so dass man den Eindruck hat, dass die Erinnerung an die Antinomie der spekulativen Vernunft und die Abgrenzung der Antinomie der praktischen Vernunft von der Struktur der theoretischen gewissermaßen als Rechtfertigung verstanden werden kann. Dies ist allerdings in der Tat nur auf den ersten Blick der Fall, denn bei genauer Betrachtung sieht man eben, dass die Theorie der praktischen Freiheit, die in der Kritik der praktischen Vernunft entwickelt wird, in einem wesentlich engeren Verhältnis zur Theorie der tran­ szendentalen Freiheit und speziell zu der Frage, wie es möglich ist, dass sich die intelligible Kausalität in die phänomenalen Welt vermittelt, steht, und dass die entsprechende Argumentation auf entscheidende Art und Weise über die bloße Berufung auf einen Erfahrungsbeweis hinausgeht. Vor diesem Hintergrund empfehle ich, den Abschnitt, der genau zwei Seiten der Erstauflage der Kritik der praktischen Vernunft umfasst, nämlich A 192f., zunächst einmal nicht im Hinblick auf den strukturellen Vergleich zwischen der Antinomie der spekulativen Vernunft und der Antinomie der praktischen Vernunft zu untersuchen, sondern auf die Aussagekraft, die er in Bezug auf die Grundstruktur der Antinomie der spekulativen Vernunft besitzt, hin zu befragen. In der Tat zeigt es sich, dass dieser Textabschnitt eine der dichtesten und aussagekräftiges Textpassagen der Kritik der praktischen Vernunft darstellt, indem er in einmaliger Klarheit Auskunft darüber gibt, worin eigentlich das Anliegen der Antinomie der spekulativen Vernunft, die in der Kritik der reinen Vernunft erörtert wird, besteht, wodurch sich das Grundproblem ergibt, wie es behoben werden kann, und vor allen Dingen: worin der Nutzen der gesamten Auseinandersetzung mit der Antinomie bzw. mit den Antinomien der spe­ kulativen Vernunft besteht. Bereits aus der Tatsache, dass er an dieser Stelle die Antinomie der spekulativen Vernunft als „die wohltätigste Verirrung“, in die die Vernunft geraten konnte, bezeichnet, deutet unmissverständlich dar­ auf hin, dass die Antinomie eine herausragende Bedeutung für die Kritik der reinen Vernunft besitzt. Als Resultat dieses „Skandals“ der Vernunft, wie er an anderer Stelle252 bezeichnet wird, ergibt sich nämlich die Überwindung eines 252 Brief an Christian Garve vom 21. September 1798.

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Problems, das selbstverständlich auch in der Auseinandersetzung mit dem Text aus der Kritik der reinen Vernunft erkennbar ist, das aber in der Kürze des Rückblicks wesentlich besser zum Ausdruck gelangt. Das Problem, von dem die Rede ist, besteht darin, dass die Vernunft durch Umstände, die im Folgenden noch erörtert werden, dazu neigt, die Sphäre der Erscheinungen für die Totalität aller Realität zu halten. Der Standpunkt, auf den dadurch verwiesen wird, wird in der Geschichte der Philosophie spätestens seit der antiken Atomistik und mindestens bis in den gegenwärtigen Physikalismus immer wieder aufgegriffen und vertreten, und besagt schlicht, dass nur das, was in Raum und Zeit erscheint, Realität besitzt. Ganz falsch ist dies auch für die kantische Transzendentalphilosophie nicht, denn wenn man das Kapitel vom Schematismus in der Kritik der reinen Vernunft in Betracht zieht, erkennt man, dass die Kategorie der Realität, sofern sie schematisiert wird, dasjenige bezeichnet, „was einer Empfindung überhaupt korrespondiert“ (KrV, B182). Die menschliche Empfindung erfolgt aber immer in Raum und Zeit, also bezeich­ net die Realität das, was einer Empfindung in Raum und Zeit entspricht. Zudem bezeichnet die Wirklichkeit „das Dasein in einer bestimmten Zeit“ (KrV, B 184). Allein: dies betrifft die Art und Weise, wie der Verstand synthetisch mit dem gegebenen Material der Anschauung umgeht, beinhaltet aber keine Aussage in Bezug auf die Frage, ob über diese Tätigkeit des Verstandes hinaus irgend eine Form der Realität denkbar ist, die eventuell nur der Vernunft zugänglich ist. Wie genau die Freiheitsantinomie auf dieses Problem eingeht und wie ihre Auflösung darüber hinaus führt, wird ebenfalls im Detail gezeigt, aber voraus­ blickend soll auf das folgende Zitat aus der Auflösung der Antinomie verwie­ sen werden: „Und hier zeigt die zwar gemeine, aber betrügliche Voraussetzung der absoluten Realität der Erscheinungen, sogleich ihren nachteiligen Einfluss, die Vernunft zu verwirren.“ (KrV, B 564) Unabhängig davon, was an dieser Stelle im Detail erörtert wird und wie die Aussage im gesamten Kontext der Kritik der reinen Vernunft und im gesamten Kontext der kantischen Systematik zu ver­ orten ist, ist Folgendes unmissverständlich: die Voraussetzung der absoluten Realität der Erscheinungen, das heißt, die Annahme, dass die Erscheinungen die gesamte Realität ausmachen und darüber hinaus nichts Realität beanspru­ chen kann, wird hier als „zwar gemein“, aber ebenso als „betrüglich“ bezeich­ net und es wird betont, dass diese Annahme einen „nachteiligen Einfluss“ besitzt, der die Vernunft „verwirrt“. Gut ist das nicht. Zieht man gleich den ersten Satz des nachfolgenden Kapitels der Kritik der reinen Vernunft hinzu, nämlich B 566, so sieht man, worauf die Gedankenführung hinausläuft: „Ich nenne dasjenige an einem Gegenstand der Sinne, was selbst nicht Erscheinung ist, intelligibel.“ Demnach gibt es an einem Gegenstand der Sinne auch etwas,

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das nicht erscheint.253 Folglich besteht der Nutzen der Auseinandersetzung mit der Antinomie der reinen Vernunft darin, dass wir zunehmend auf eine, wie er in der Kritik der praktischen Vernunft sagt, „höhere Ordnung der Dinge“ geführt werden, die einem Atomisten oder Physikalisten aufgrund seiner Selbstbeschränkung jederzeit verborgen bleiben muss, die aber für die kanti­ sche Transzendentalphilosophie ganz entscheidend ist. Henry Allison254 hat bereits 1990 richtig bemerkt, dass sich der Konflikt zwischen der Thesis und Antithesis nur unter der Bedingung einstellt, dass die sinnliche Welt die ganze Realität ausmacht und dass sich die Auflösung der Antinomie dadurch ergibt, dass diese ursprünglich dogmatische Position zugunsten einer „dialektischen Entgegensetzung“ überwunden wird, innerhalb welcher, selbstverständlich vor dem Hintergrund der philosophischen Theorie des transzendentalen Idealismus, sowohl Thesis als auch die Antithesis die Allgemeingültigkeit, die sich beanspruchen, nicht geltend machen können. Demnach kann tatsäch­ lich festgehalten werden, dass die systematische Funktion der Antinomie in der Überwindung der dogmatischen Einseitigkeit, die sich vor dem Hintergrund des transzendentalen Realismus einstellt, besteht. Auch muss, wie Bojanowski zurecht betont, zwischen den Argumenten, die Kant in der Exposition des Vernunftstreits entwickelt, und seiner eigenen Lehrmeinung konsequent unterschieden werden,255 denn die Exposition erfolgt jeweils vor dem Hintergrund des transzendentalen Realismus und darin speziell in der Tradition des Dogmatismus oder Empirismus, während Kant einen transzen­ dentalen Idealismus vertritt. Dies waren allerdings nur einleitende Überlegungen, die den Zweck verfol­ gen, die Bedeutung der Passage A 192f. in der Kritik der praktischen Vernunft anzudeuten. Die detaillierte Text-Analyse wird diesen Gedanken schrittweise explizieren.

253 Wem es schwer fällt, sich so etwas vorzustellen, der denke beispielsweise an Eigentum. An einem Portemonnaie, das man auf der Straße findet, erscheint kein Eigentum und dennoch kann die Tatsache, dass es nicht mir, sondern wahrscheinlich der Person, deren Ausweis darin steckt, gehört, ausschlaggebend dafür sein, dass ich es ihr zukommen lasse und nicht für mich behalte. 254 Allison, H.E. 1990: Kant’s Theory of Freedom. (13f.) 255 Vgl.: Bojanowski 2006, 94.

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Was ist eine Antinomie?

Zu Beginn seiner Ausführungen in der KpV, A 192 stellt Kant fest, dass die Vernunft jederzeit ihre Dialektik hat, nämlich sowohl im spekulativen als auch im praktischen Gebrauch, und zwar darum, weil sie die „absolute Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten verlangt“ und weil diese gesuchte Totalität der Bedingungen niemals in der bloßen Sphäre der Erscheinungen, sondern lediglich in der Sphäre der Dinge an sich selbst angetroffen werden kann. Dies stellt bloß eine einleitende Anmerkung dar. Das Argument aber, das die Problematik, die die Vernunft in die Antinomie und letztendlich auch über sie hinaus führt, betrifft, wird im zweiten Satz genannt. Ich zitiere im Folgenden, damit man nicht blättern muss, den entsprechenden Satz und erörtere anschließend den Gedanken, von dem hier die Rede ist: Da aber alle Begriffe der Dinge auf Anschauungen bezogen werden müs­ sen, welche bei uns Menschen niemals anders als sinnlich sein können, mithin die Gegenstände nicht als Dinge an sich selbst, sondern bloß als Erscheinungen erkennen lassen, in deren Reihen des Bedingten und der Bedingungen das Unbedingte niemals angetroffen werden kann: so entspringt ein unvermeidlicher Schein aus der Anwendung dieser Vernunftidee der Totalität der Bedingungen (mithin des Unbedingten) auf Erscheinungen, als wären sie Sachen an sich selbst, (denn dafür wer­ den sie in Ermangelung einer warnenden Kritik jederzeit gehalten), der aber niemals als trüglich bemerkt werden würde, wenn er sich nicht durch einen Widerstreit der Vernunft mit sich selbst in der Anwendung ihres Grundsatzes, das Unbedingte zu allem Bedingten vorauszusetzen, auf Erscheinungen selbst verriete. (KpV, A 192 f.) Entscheidend ist hierbei die Aussage, dass die Begriffe der Dinge auf Anschauung bezogen werden müssen und infolgedessen die Dinge nicht als Dinge an sich selbst, sondern bloß als Erscheinungen erkennen lassen. Dies allein stellt noch kein Problem für die Vernunft dar, vielmehr handelt es sich dabei sogar um eine der Kernaussagen der transzendentalen Analytik. Das Problem ergibt sich erst in der Konfrontation mit dem Hauptanliegen der Vernunft, nämlich der Suche nach der Totalität der Bedingungen zu einem gege­ benen Bedingten. Aus der Anwendung dieser „Vernunftidee“ entspringt näm­ lich „ein unvermeidlicher Schein“, der darin besteht, dass die Erscheinungen „in Ermangelung einer warnenden Kritik“ den Eindruck erwecken, als seien sie „Sachen an sich selbst“, wodurch zugleich der Eindruck entsteht, dass die Totalität der Bedingungen in der Sphäre der Erscheinungen gesucht werden

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könne und umgekehrt: dass die Sphäre der Erscheinungen die Totalität aller Realität darstelle. In der Sprache der Kritik der reinen Vernunft, handelt es sich hierbei genau um „die zwar gemeine, aber betrügliche Voraussetzung der abso­ luten Realität der Erscheinungen“ (KrV, B 564). Kant weist darauf hin, dass die­ ser Schein notwendigerweise daraus entspringt, dass die Vernunft ihre Begriffe auf Erscheinungen anwendet und somit auch die Idee von der Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten in dieser Sphäre aufsucht. In die­ sem Zusammenhang führt er in der Kritik der reinen Vernunft aus: Zuerst ist hierbei anzumerken, dass die Idee der absoluten Totalität nichts anderes, als die Exposition der Erscheinung, betreffe, mithin nicht den reinen Verstandesbegriff von einem Ganzen der Dinge über­ haupt. Es werden hier also Erscheinungen als gegeben betrachtet, und die Vernunft fordert die absolute Vollständigkeit der Bedingungen ihrer Möglichkeit, . . . (KrV, B 443) Darüber hinaus weist er an der oben genannten Stelle in der Kritik der praktischen Vernunft darauf hin, dass dieser Schein „niemals als trüglich bemerkt werden würde“, wenn die Vernunft nicht in den besagten Widerstreit mit sich selbst geriete. Indem dies aber geschieht, wird sie gezwungen, diesem Schein nachzugehen und so stellt sich der ursprüngliche „Skandal“, wie er in dem berühmten Brief an Garve formuliert, letztendlich als „die wohltätigste Verirrung“256 heraus: Hierdurch wird aber die Vernunft genötigt, diesem Scheine nachzu­ spüren, woraus er entspringen und wie er gehoben werden könne, wel­ ches nicht anders als durch eine vollständige Kritik des Ganzen reinen Vernunftvermögens geschehen kann, sodaß die Antinomie der reinen Vernunft, die in ihrer Dialektik offenbar wird, in der Tat die wohltätig­ ste Verirrung ist, in die die menschliche Vernunft je hat geraten können, indem sie uns zuletzt antreibt, den Schlüssel zu suchen, aus diesem Labyrinthe herauszukommen, der, wenn er gefunden worden, noch das entdeckt, was man nicht suchte und doch bedarf, nämlich eine Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir schon jetzt sind, und in der unser Dasein der höchsten Vernunftsbestimmung gemäß fortzusetzen wir durch bestimmte Vorschriften nunmehr ange­ wiesen werden können. (KpV, A 193) 256 Vgl. Hierzu: Schmauke, S. 2002: „Wohltätigste Verirrung“. Kants kosmologische Antinomien. Würzburg.

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kapitel 6

Es ergibt sich also insgesamt die folgende gedankliche Struktur: 1.

Die reine Vernunft denkt und sucht die absolute Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten. 2. Diese absolute Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten kann nicht in der Sphäre der Erscheinungen angetroffen werden. 3. Die Begriffe der Dinge werden aber auf Anschauungen bezogen und lassen dieselben bloß als Erscheinungen erkennen, nicht als Dinge an sich selbst. 4. Daraus entspringt der „zwar gemeine, aber betrügliche“ Schein, dass die Erscheinungen Dinge an sich selbst seien und somit die ganze Realität ausmachten. (Transzendentaler Realismus) 5. Dieser Schein würde niemals als trüglich bemerkt, wenn die Vernunft in der Anwendung ihres Grundsatzes (das Unbedingte zu allem Bedingten vorauszusetzen) auf Erscheinungen, nicht in einen Widerstreit mit sich selbst geriete. 6. Durch diesen Widerspruch wird sie aber dazu genötigt, dem Schein nachzugehen, zu erkennen, woraus er entspringt und wie er beseitigt werden kann, so dass die Antinomie der reinen Vernunft „in der Tat die wohltätigste Verirrung ist, in die die menschliche Vernunft je hat geraten können“. 7. Dies ist darum der Fall, weil sie durch ihre Auflösung die Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge erhält, in der wir schon jetzt sind, und in der wir unser Dasein nach bestimmten Vorschriften (selbst­ verständlich insbesondere den moralischen) gestalten müssen. Als Resultat der Antinomie und ihrer Auflösung geht also die Einsicht in eine höhere Ordnung der Dinge hervor, nämlich die intelligible, und wir sehen im Rückgriff auf die Erörterungen, die das Faktum des Sittengesetzes betrafen, worin das eigentliche Verdienst der Kritik der praktischen Vernunft besteht. Das Sittengesetz weist nämlich auf eine „reine Verstandeswelt“ hin und ver­ mag es, diese sogar positiv zu bestimmen und uns ein Gesetz derselben erken­ nen zu lassen. (KpV, A 74) Das ist wesentlich mehr, als in der Kritik der reinen Vernunft geleistet werden konnte, denn die darin entwickelte Theorie der tran­ szendentalen Freiheit erörtert nur die Denkbarkeit der Kausalität aus Freiheit und vermag es noch nicht, eine inhaltliche Auskunft über die Beschaffenheit der intelligiblen Welt zu geben. Die dortige Theorie der praktischen Freiheit wiederum bleibt ohne die notwendige Verbindung mit der transzendentalen Freiheit, was man insbesondere auf B 831 sieht, wo Kant bemerkt, dass wir die praktische Freiheit durch Erfahrung erkennen und dass uns die Frage, ob das,

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„was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernterer wirkender Ursachen nicht wiederum Natur sein möge“ nichts angeht. Stellt man aber ganz gezielt die Frage danach, wie sich die intelligible Freiheit in die phänomenale Welt vermittelt, so kommt man nicht umhin, zu erörtern, in welchem Verhältnis die praktische Freiheit zur transzendentalen steht. Man darf wohl unterstellen, dass der ursprüngliche Versuch, die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft durch eine Kritik der reinen praktischen Vernunft zu erweitern, wahrscheinlich darauf hinauslaufen sollte, der intelligib­ len Welt, deren Denkbarkeit gezeigt wurde, auch eine inhaltliche Bestimmung zu geben. Dies ist allerdings im Kontext der Theorie der praktischen Freiheit, die in der Kritik der reinen Vernunft vertreten wird, überhaupt nicht möglich, weil sie im Grunde genommen nur eine negative Freiheit darstellt, nämlich die Befreiung von Antrieben der Sinnlichkeit, mitnichten aber die positive Dimension der Autonomie in der nötigen Stärke zum Ausdruck zu bringen vermag. Dagegen wird im Ausgangspunkt vom Faktum des Sittengesetzes die Theorie der praktischen Freiheit in der Kritik der praktischen Vernunft so ent­ wickelt, dass die Autonomie der Vernunft den Ausgangspunkt und das Prinzip der Willensfreiheit darstellt, so dass die intelligible Kausalität, die durch das Sittengesetz zum Ausdruck gelangt, mit der transzendentalen Freiheit ver­ mittelt wird. Die Frage nach der Vermittlung der intelligiblen Freiheit in die phänomenale Welt wird von Kant erst in der Kritik der praktischen Vernunft mit der notwendigen Sorgfalt aufgegriffen und beantwortet. Demnach stellt der Wille das Vermögen dar, „den Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubringen oder doch sich selbst zur Bewirkung derselben [. . .] zu bestimmen“. ( KpV, A 29 f.) Die intelligible Kausalität aber wirkt sich bestimmend auf den Willen selbst aus, d.h. die Autonomie der Vernunft kann durchaus den Willen bestimmen, der wiederum den Naturgesetzen und der Naturkausalität entsprechend zu den Vorstellungen, die unter Einfluss der intelligiblen Kausalität generiert wurden, die entsprechenden Gegenstände in der empirischen Welt hervorbringt. Die intelligible Kausalität wirkt sich also nicht unmittelbar auf die Gegenstände in der phänomenalen Welt aus, son­ dern wirkt auf den Willen, und es genügt zu zeigen, dass es überhaupt mög­ lich ist, dass der Wille durch die Vernunft selbst zureichend zu Handlungen bestimmt werden kann, dass der Akteur also aufgrund eines Vernuftgebotes auf eine bestimmte Art und Weise handelt. Dass er diese Handlungen in der Welt nach Naturgesetzen ausführen muss, ist selbstverständlich. Die intelli­ gible Kausalität und die Kausalität nach Naturgesetzen, oder besser, die intel­ ligible Kausalität und die empirische Kausalität, stehen mitnichten in einem Konflikt miteinander, sondern betreffen die Bestimmung des Willens und die

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Verwirklichung gegebener Vorstellungen in der phänomenalen Welt. Würde Kant die Forderung aufstellen, dass die intelligible Kausalität unmittelbar im Rahmen der Verwirklichung gegebener Vorstellungen wirksam sei, so befände sich die intelligible Kausalität in der Tat in einem eventuellen Konflikt mit der Naturkausalität. Da dies aber nicht der Fall ist, sondern die intelligible Kausalität nur den Willen bestimmt, ist der entsprechende Konflikt nicht gege­ ben. Die intelligible Kausalität stellt nämlich, wie in der Auseinandersetzung mit der Antinomie der Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft noch deutlich wird, eine „außer-zeitliche“ Kausalität dar, indem sie durch die Autonomie der Vernunft und auf der Grundlage des Faktums des Sittengesetzes bestimmt, was jederzeit, überall und von jedem beliebigen Akteur als moralische Pflicht beherzigt werden soll. Was geschehen soll, wird also nicht in Abhängigkeit davon, was der einzelne Akteur in einer beliebigen Situation gerade in der phänomenale Welt erlebt, bestimmt, sondern apodiktisch nach Grundsätzen, die der Autonomie der Vernunft entspringen. Darum ist dies „außer-zeitlich“ und darum ist es unabhängig von der empirischen Kausalität. Die intelligible Kausalität stünde dann in einem Konflikt mit der empirischen Kausalität, wenn sie bei der Bestimmung dessen, was geschehen soll, abhängig davon wäre, in welcher Situation sich der einzelne Akteur gerade befindet und aus welchen Umständen diese Situation hervorgegangen ist. Das tut sie aber nicht, denn sie bestimmt schlicht das, was vernünftigerweise geboten ist und ausnahmslos für jedermann jederzeit gelten soll. Die Bestimmung dessen, was ausnahms­ los für jedermann jederzeit gelten soll, kann aber selbstverständlich nur in Absehung von eventuell gegebenen Umständen in der Abfolge der gegebe­ nen zeitlichen Einflüsse erfolgen und auf der bloßen Autonomie der Vernunft beruhen. Aber dazu wird an gegebener Stelle mehr gesagt. Hier ist es zunächst einmal entscheidend, von der Kürze des Rückblicks, der auf A 192f. in der Kritik der praktischen Vernunft vorliegt, zu profitieren und zu erkennen, dass der eigentliche Nutzen der Auseinandersetzung mit der Antinomie darin besteht, dass die Vernunft „eine Aussicht in eine höhere, unver­ änderliche Ordnung der Dinge“ erhält, in der wir uns aufgrund des Faktums des Sittengesetzes jederzeit befinden und in der wir selbstverständlich unser Dasein erhalten sollen. Die neue Erkenntnis aber, die sich im Durchgang durch die Kritik der praktischen Vernunft einstellt, besteht eben darin, dass wir „durch bestimmte Vorschriften nunmehr angewiesen werden können“, wie wir unsere Existenz in dieser intelligiblen Welt nach Vernunftbestimmungen fortsetzen sollen. In Ermangelung der Theorie vom Faktum des Sittengesetzes war es in der Auflösung der Antinomie der Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft nicht möglich, positiv zu bestimmen, ob irgendwelche Gesetze in der intelligiblen Welt gelten und wenn ja, welche es sind: „Über die Erfahrungsgegenstände

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hinaus, also von Dingen als Noumenen wurde der spekulativen Vernunft alles Positive einer Erkenntnis mit völligem Rechte abgesprochen.“ (KpV, A 73) Das Sittengesetz aber, dessen formalem Bestimmung wir in § 7 der Kritik der praktischen Vernunft in Form des kategorischen Imperativs begegnen, gibt in der Tat eine zwar allgemeine, aber durchaus eindeutige Auskunft darüber, wie das Grundgesetz der intelligiblen Welt, in der wir unser Dasein diesem Gesetz entsprechend fortsetzen sollen, beschaffen ist. Darum ist es durchaus pas­ send, dass Kant im Rückblick auf die Auseinandersetzung der Vernunft mit ihrer eigenen Antinomie von einer „Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge“ (KpV, A 193), selbstverständlich der Dinge an sich, spricht, denn die unveränderliche Ordnung, nämlich sowohl deren Unveränderlichkeit als auch deren Ordnung, beruhen auf dem uns als Faktum gegebenen, aber durchaus bekannten Sittengesetz. Wir haben also eine Erkenntnis und zwar eine ganz bestimmte Erkenntnis über die Gesetzmäßigkeit der noumenalen Welt gewonnen. 6.2

Die Freiheits-Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft Überblick

In diesem Abschnitt befasse ich mich mit Kants Theorie der transzendentalen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft. Ich weise darauf hin, dass das eigentliche Anliegen des gesamten Abschnitts über die Antinomie darin besteht, den so genannten transzenden­ talen Realismus zu Gunsten des transzendentalen Idealismus zu überwinden. Im Hinblick auf die Freiheitsantinomie weise ich darauf hin, dass die jeweils indirekten Beweise der Thesis und Antithesis mitnichten Widerlegungen der jeweils entgegenge­ setzten These darstellen, dass also der indirekte Beweis der Thesis mitnichten die Antithesis widerlegt und der indirekte Beweis der Antithesis mitnichten die Thesis wid­ erlegt. Dies ist darum der Fall, weil die Beweisführung, speziell die Wortbesetzungen und Rechtfertigungsmechanismen der Thesis lediglich für den Vertreter des, wie Kant sagt, Dogmatismus bzw. Rationalismus überzeugend sind und von dem Empirismus, der der Antithesis und ihrem Beweis zu Grunde liegt, nicht anerkannt werden. Ebenso verhält es sich mit dem Beweis der Antithesis. Beide Beweise sind nur für die jeweiligen Rahmentheorien und deren Vertreter überzeugend, während sie für die jeweils andere Position nicht überzeugend sind und von ihr auch nicht anerkannt werden müssen. Im Zusammenhang mit der Auflösung der Freiheitsantinomie empfehle ich die Preisgabe der psychologisch unhaltbaren Theorie vom empirischen Charakter zu Gunsten eines bestimmten Verhältnisses von intelligibler und empirischer Kausalität.

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Der gesamten Theorie der praktischen Freiheit geht in der Kritik der reinen Vernunft die Theorie der transzendentalen Freiheit voraus, worin Kant die Frage erörtert, ob die Vernunft bei ihrem Anliegen, die Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten zu finden, zusätzlich zur Kausalität nach Naturgesetzen auch Kausalität aus Freiheit annehmen muss. Die Vernunft sucht demnach „die unbedingte Einheit der objektiven Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände überhaupt“ (KrV, B 433) und zwar darum, weil sie mit dem Gegebensein eines bestimmten Objekts „auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte“ als gegeben annimmt. (KrV, B 436) Milz formuliert diesen Gedanken folgendermaßen: Nach Kant lag den kosmologischen Antinomien in der ersten Kritik fol­ gender dialektischer Syllogismus zugrunde: Obersatz:

Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die Totalität der Bedingungen desselben, mithin das Unbedingte gegeben. Untersatz: Nun sind uns Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben. Schlußsatz: Also ist auch die Totalität der Bedingungen dazu, mithin das Unbedingte gegeben.257 Da zwischen der Bedingung und dem Bedingten stets ein zeitliches Verhältnis der Ursache und Folge bestehen muss, wird die Totalität der Bedingungen eines gegebenen Objekts als Totalität der Reihe wirkender Ursachen gedacht, die insgesamt die Existenz dieses Gegenstandes bedingen. Diese Reihe kann wiederum im Ausgangspunkt vom gegebenen Objekt entweder im Hinblick auf die Vergangenheit, also die Umstände, aus denen das Objekt hervorge­ gangen ist, oder im Hinblick auf die Zukunft, also die Folgen, die durch die Existenz des Gegenstandes bewirkt werden, thematisch werden. Die Synthesis, die „von dem Bedingten n zu m (l,k,i etc.)“, also von der gegenwärtigen Existenz des Objekts auf die Bedingungen, die seine Vergangenheit ausmachen, zugeht, wird von Kant als „regressive“ bezeichnet und geht „in antecedentia“. Diejenige aber, die von dem gegebenen Objekt auf seine Folgen in der Zukunft ausgerichtet ist, wird als „progressive Synthesis“, und zwar „in con­ sequentia“ bezeichnet. (KrV, B 437 f.) Indem sich die kosmologischen Ideen mit der Frage nach der Totalität der Bedingungen eines gegebenen Bedingten befassen, also mit der Frage, wie das gegebene Bedingte durch die Summe aller Umstände seines Werdens hervorgegangen ist, stellt die Totalität der regres­ siven Synthesis in antecedentia ihren Gegenstand dar. Die Verknüpfung der 257 Milz 2002, 218.

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einzelnen Momente dieser Zeitreihe wird entsprechend der Kategorie der Kausalität gedacht, so dass die Antinomie der reinen Vernunft die absolute Vollständigkeit der Zusammensetzung, der Teilung, der Entstehung und der Abhängigkeit des Daseins einer Erscheinung antithetisch behandelt. Die dritte Antinomie, die Freiheits-Antinomie, behandelt genau genommen die „abso­ lute Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung“ (KrV, B 443). Als gegeben wird demnach die Erscheinung verstanden, und der Gegenstand der Erörterung betrifft in erster Linie das Unbedingte, das aber in der Synthesis nur als Totalität der Reihe der Bedingungen dieser Erscheinung gedacht werden kann, die (Totalität der Reihe) aber ihrerseits in der Sphäre der Erscheinungen niemals angetroffen werden kann, da sich die empirische Synthesis der Erscheinungen nur als „sukzessive Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung“ vollziehen kann. (KrV, B 444) Daher „nimmt die Vernunft hier den Weg, von der Idee der Totalität auszugehen, ob sie gleich eigent­ lich das Unbedingte, es sei der ganzen Reihe, oder eines Teils derselben, zur Endabsicht hat“ (KrV, B 445). Im Hinblick auf die Freiheits-Antinomie spitzt sich die Thematik auf die Frage zu, ob die Kausalität nach Naturgesetzen ausreicht, um das gesuchte Unbedingte als Totalität der Reihe von Bedingungen zu begreifen, oder ob über die Sphäre der Naturgesetze hinaus Kausalität aus Freiheit angenommen werden muss. So wird die These formuliert: Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung derselben anzuneh­ men notwendig. (KrV, B 472) Ihr wird die Antithesis entgegen gesetzt: Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur. (KrV, B 473) Die Thesis und Antithesis werden mit dem Anspruch formuliert, dass es sich hierbei um Sätze handelt, die in einem kontradiktorischen Verhältnis zuein­ ander stehen. Die Thesis wird nämlich als ein partikulär negativer Satz (o) for­ muliert, der besagt, dass nicht alles nach Naturgesetzen geschieht, während die Antithesis als ein allgemein positiver Satz (a) formuliert wird, der besagt, dass alles in der Welt ausnahmslos nach Naturgesetzen geschieht. Alternativ könnte die Thesis als ein partikulär positiver Satz (i) formuliert werden, der besagt, dass Einiges aus Freiheit geschieht, während die Antithesis in einem

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allgemeinen negativen Satz (e) formuliert werden könnte, der besagt, dass nichts in der Welt aus Freiheit geschieht. In beiden Fällen bestünde ein kon­ tradiktorisches Verhältnis, nämlich entweder o-a oder i-e. Wie Allison (1990 und 2006)258 betont, kann diese kontradiktorische Entgegensetzung nur unter der Bedingung des „transzendentalen Realismus“ geltend gemacht werden, der davon ausgeht, dass die Erscheinungen Dinge an sich selbst sind. Demzufolge muss, wie Allison meint, der transzendentale Realist davon ausgehen, dass die gesuchte Totalität der Bedingungen, zumin­ dest in einem göttlichen Verstand in ihrer Gesamtheit gegeben sein muss, weswegen sich die Herausforderung der regressiven Synthesis für ihn in die Frage nach der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Reihe der Bedingungen verwandelt.259 Also muss im Beweis der Thesis und Antithesis deutlich werden, unter wel­ chen Bedingungen diese beiden Sätze überhaupt in einem kontradiktorischen Verhältnis zueinander stehen. Die Auflösung besteht aber darin, dass unter den Bedingungen des transzendentalen Idealismus kein kontradiktorisches, son­ dern vielmehr ein dialektisches (Vgl.: KrV, B 533), bzw. subkonträres Verhältnis zwischen der Thesis und Antithesis besteht. Diese Möglichkeit eröffnet sich dadurch, dass, wie Allison bemerkt,260 der transzendentale Idealismus zwi­ schen den Bedingungen des Denkens und den Bedingungen des Erscheinens unterscheidet. Es ist aber zunächst auffällig, dass beide Beweise apagogisch, also indirekt, erfolgen, indem in beiden Fällen jeweils das Gegenteil der These (sowohl der Thesis als auch der Antithesis) angenommen wird und gezeigt wird, dass die Vernunft unter diesen Umständen in einen Widerspruch gerät. Durch die Widersprüchlichkeit der Gegenthese soll also jeweils die Richtigkeit der These bewiesen werden. Nun kann man sich aber durchaus fragen, ob man nicht ebenso die Argumentation, die als indirekter Beweis der jeweiligen These angeführt wird, als direkte Widerlegung der anderen Position der Antinomie verwenden könnte, indem man den „Beweis“ der Thesis als Widerlegung der Antithesis und den „Beweis“ der Antithesis als Widerlegung der Thesis ver­ wendet. Nach rein technischen Gesichtspunkten wäre dies nämlich gar nicht undenkbar; aber es lassen sich in der Tat gute Gründe dafür benennen, warum dies nicht geht, und zwar betreffen sie die philosophischen Rahmentheorien, die darin anerkannten Argumentationsstrategien und Schlussmechanismen 258 Allison, H. E. 2006: Kant on freedom of the will. In: The Cambridge Companion to Kant and Modern Philosophy. Guyer, P. (Hg.). 259 Allison 2006, 395. 260 Allison 2006, 395.

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und die zugrundeliegenden Begriffe der Freiheit. So wird die These vor dem Hintergrund des Dogmatismus und Rationalismus formuliert und ihr liegt ein bestimmter Freiheitsbegriff zugrunde, nämlich die Spontaneität des ersten Bewegers, bzw. die ohne weitere Gründe, aus reiner Spontaneität ansetzende Bewegung, während der Antithese vor dem Hintergrund des Empirismus ein Freiheitsbegriff zugrunde liegt, der auf der Befreiung von Naturgesetzen, also auf der Vorstellung von Gesetzlosigkeit beruht.261 Der Thesis liegt also ein positiver, der Antithesis ein negativer Freiheitsbegriff zugrunde. Auch wird in der Thesis ein kompatibilistischer, in der Antithesis ein inkompatibilistischer Standpunkt vertreten. Darum reicht die Argumentation, die innerhalb des Beweises der Antithesis angeführt wird, nicht aus, um die These zu widerle­ gen, da sie einen ganz anderen Freiheitsbegriff verwendet und zudem vor dem Hintergrund einer ganz anderen philosophischen Rahmentheorie erfolgt, mit der sie zugleich auch eine ganze Reihe von Voraussetzungen und Wertungen einkauft, die in der philosophischen Rahmentheorie der Thesis weder vertre­ ten noch anerkannt werden. Ebenso verhält es sich mit dem Beweis der Thesis im Hinblick auf die Aussage der Antithesis. Die Antithesis wird also vor dem Hintergrund des Empirismus, Materialismus, Atomismus und, wie man heute sagen würde, Naturalismus oder Physikalismus, aufgestellt und leugnet die Möglichkeit einer Freiheit, die sich als Gesetzlosigkeit vollzieht und somit die durchgehende Einheit der Naturgesetze aufhebt. Der Beweis der Thesis geht allerdings überhaupt nicht auf diesen Freiheitsbegriff ein, sondern erfolgt vor dem Hintergrund einer philosophischen Rahmentheorie, die die Frage nach der Spontaneität der ersten Bewegung stellt. Also besitzt die Freiheitsantinomie die folgende Struktur: Es wird eine Thesis A formuliert, der eine Antithesis B entgegen gesetzt wird. Es ist wichtig, dass vor dem Hintergrund des transzendentalen Realismus, der der gesam­ ten Antinomie zugrunde liegt, tatsächlich ein kontradiktorisches Verhältnis zwischen der Thesis und Antithesis besteht. Dies ist in der Tat der Fall, weil beide vor dem Hintergrund des transzendentalen Realismus ganz bestimmte Aussagen über einen ganz bestimmten Sachverhalt treffen, nämlich über die Frage der Freiheit in der Erscheinungswelt. Dann werden sowohl die Thesis als auch die Antithesis indirekt bewiesen. Zu diesem Zweck wird im Beweis der Thesis A zunächst das Gegenteil derselben angenommen, also non-A. Dann wird non-A widerlegt und dadurch A apagogisch bewiesen. Die gesamte Gedankenführung, also sowohl die Formulierung der Thesis, als auch der 261 Vgl. hierzu: Streichert, T. 2003: Von der Freiheit und ihrer Verkehrung. Eine Studie zu Kant und den Bedingungen der Möglichkeit einer kritischen Theorie der Gesellschaft. KSEH 144. 34.

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Beweis, erfolgen vor dem Hintergrund des Dogmatismus/Rationalismus. Ebenso wird mit der Antithese B verfahren: es wird non-B angenommen und anschließend widerlegt, wodurch B apagogisch bewiesen wird. Hier erfolgt die gesamte Gedankenführung in der Tradition des von Kant so genannten Empirismus. Es drängt sich also – mir jedenfalls – die Frage auf, ob non-A iden­ tisch mit B und non-B identisch mit A ist. Da zwischen der These und Antithese ein kontradiktorisches Verhältnis besteht, wäre dies vor dem Hintergrund des transzendentalen Realismus an sich denkbar, und darum ist dies in der Kantforschung auch oft angenommen und vertreten worden; aber die These und die Antithese werden nicht allein vor dem Hintergrund des transzen­ dentalen Realismus formuliert, sondern vor dem Hintergrund ganz spezieller philosophische Rahmentheorien, nämlich die These vor dem Hintergrund des Dogmatismus in der Tradition des Stoizismus und Rationalismus, die Antithese vor dem Hintergrund des Empirismus, nämlich letztendlich in der Tradition des Epikureismus. Sofern man indifferent gegenüber den zugrunde liegenden philosophischen Rahmentheorien ist, klingen non-A und B iden­ tisch, da sie aber ihren Sinn und ihre Verbindlichkeit im Kontext der ent­ sprechenden Rahmentheorien generieren, ist dies nicht der Fall, denn in A und non-A wird ein positiver Freiheitsbegriff, der auf der Spontaneität des ersten Bewegers beruht, vertreten, während in B und non-B ein negativer Freiheitsbegriff der bloßen „Befreiung vom Zwange [durch die Naturgesetze], aber auch vom Leitfaden aller Regeln“ (KrV, B 476), mithin Gesetzlosigkeit, vertreten wird. Diese Überlegung beruht auf der Annahme, dass der gesamte Beweis der These, sowie der Antithese, jeweils vor dem Hintergrund einer kohärenten philosophischen Rahmentheorie erfolgt: dass also zunächst ein­ mal der gesamte Beweis, also sowohl die Setzung der Prämisse als auch ihre Widerlegung vor dem Hintergrund einer einheitlichen Theorie geführt wer­ den und dass nicht zwischen der Prämisse und der Gedankenführung, durch die sie widerlegt wird, die philosophischen Rahmentheorien verändert wer­ den – denn dann wäre die jeweilige Widerlegung, mithin der indirekte Beweis, nicht überzeugend. Wenn also die Beweisführung der These in der Tradition des Dogmatismus/Rationalismus erfolgt, unterstelle ich hier, dass auch die Prämisse, die widerlegt werden soll, in dieses Tradition steht, also denselben Freiheitsbegriff enthält, wie die Widerlegung. Non-A muss also behaupten, dass die Spontaneität der ersten Bewegung nicht gedacht werden muss, um die Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten zu finden und die Widerlegung muss aufzeigen, dass dies durchaus der Fall ist. Andererseits muss non-B ebenso wie die entsprechende Widerlegung Freiheit als Gesetzlosigkeit verstehen. Dass dies in der Widerlegung der Fall ist, steht außer Frage und

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ich unterstelle, dass es auch in der Prämisse der Fall sein muss, weil sonst die Widerlegung nicht überzeugend wäre. Indem also die Thesis und Antithesis vor dem Hintergrund unterschied­ licher philosophische Rahmentheorien formuliert werden, werden mit den­ selben Rahmentheorien auch gewisse Besonderheiten sowohl im Hinblick auf die inhaltliche Besetzung der verwendeten Begriffe, als auch im Hinblick auf die Voraussetzungen und Schlussmechanismen, mit eingekauft. Der Rahmentheorie, vor deren Hintergrund die Thesis vertreten wird, liegt ein Begriff der Freiheit als Spontanursächlichkeit, nämlich insbesondere als Spontanursächlichkeit des ersten Bewegers zugrunde, während die Antithesis den Begriff der Freiheit als negative Freiheit, nämlich Unabhängigkeit von Naturgesetzen verwendet. In der Tradition des Rationalismus wird der Beweis der Thesis auf der Grundlage der beiden rationalistischen Prinzipien der Vernunftschlüsse, nämlich dem Satz vom Widerspruch und dem Satz vom zureichenden Grund geführt. Dagegen erfolgt die Beweisführung der Antithesis in der Tradition des Empirismus vor dem Hintergrund der Stetigkeit der Reihe kausaler Naturursachen und Wirkungen. Zugleich muss man sich die Tatsache bewusst machen, dass diese beiden philosophischen Rahmentheorien gewisse Grundbegriffe und Wertungen der jeweils anderen Theorie weder als Voraussetzung, noch als irgendein gültiges Moment der Beweisführung aner­ kennen: beispielsweise erkennt der Empirismus den Gedanken des ersten Bewegers überhaupt nicht an, weswegen er auch keinerlei Beweisführung, die auf entscheidende Art und Weise mit diesem Begriff zusammenhängt, in ihrer Gültigkeit anerkennt. Sowohl in Bezug auf die Idee der transzenden­ talen Freiheit überhaupt, als auch in Bezug auf den ersten Beweger vertritt die Antithesis den Standpunkt, dass es sich hierbei um ‚leere Gedankendinge‘ (KrV, B 446) handelt und dass es eine „kühne Anmaßung“ darstellt, „einen Gegenstand anzunehmen, der in keiner möglichen Wahrnehmung gegeben werden kann“. (KrV, B 479) Wenn wir aber davon ausgehen, dass der erste Beweger tatsächlich keinen Gegenstand der Erfahrung darstellt, bedeutet dies, dass die Vorstellung eines solchen eine kühne Anmaßung darstellt. Nun beruht aber der indirekte Beweis der Thesis auf entscheidende Art und Weise auf dem Gedanken der Spontaneität der ersten Bewegung und wir müssten, wenn wir der oft vertretenen Ansicht, dass der indirekte Beweis der Thesis zugleich die Antithesis widerlege, folgen, annehmen, dass ein Beweis, der auf der Idee eines ersten Bewegers beruht, die wiederum von der philosophi­ schen Rahmentheorie, in der die Antithesis formuliert wird, überhaupt nicht anerkannt wird, die Antithesis widerlege – was ganz offensichtlich Unsinn ist, denn kein Empirist wird eine Widerlegung der Antithesis anerkennen, sofern

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sie auf der Voraussetzung des ersten Bewegers beruht. Darum kann man in aller Konsequenz behaupten, dass der Beweis der Thesis mitnichten die Antithesis widerlegt, und umgekehrt, dass der Beweis der Antithesis mitnich­ ten die Thesis widerlegt; im ersten Fall handelt es sich um einen indirekten Beweis der Thesis, nicht um eine Widerlegung der Antithesis, und im zweiten Fall handelt es sich um einen indirekten Beweis der Antithesis, nicht um eine direkte Widerlegung der Thesis. Andernfalls wären die Beweise nämlich kei­ nesfalls so gründlich, wie es Kant behauptet, denn der Vertreter der Thesis, der in der Tradition des Rationalismus steht, würde die Grundvoraussetzungen und Schlussmechanismen der Beweisführung der Antithesis nicht anerken­ nen, während der Vertreter der Antithesis, der in der Tradition des Empirismus steht, die Voraussetzungen und Schlussmechanismen in der Beweisführung der Thesis nicht anerkennt. Demzufolge würde der Vertreter der Thesis die Gedankenführung in der Antithesis nicht als Widerlegung seines Standpunkts anerkennen, während der Vertreter der Antithesis die Gedankenführung im Beweis der Thesis nicht als Widerlegung seines Standpunkts anerkennen würde. Andererseits hat die strenge und konsequente Unterscheidung der in der Thesis und Antithesis zugrundeliegenden philosophischen Rahmentheorien über diese negative Bestimmung hinaus, also über die Einsicht, dass die Beweisführung der Thesis mitnichten die Antithesis, und die Beweisführung der Antithesis mitnichten die Thesis widerlegt, hinaus, noch den positiven Nutzen, verständlich zu machen, dass die jeweiligen Beweise im Grunde genommen nur für die philosophische Rahmentheorie, von der auch die Thesen vertreten werden, anerkannt werden müssen; demnach muss der Beweis der Thesis lediglich vor dem Hintergrund des Dogmatismus bezie­ hungsweise Rationalismus als, wie Kant später sagt, „gründlich“ anerkannt wer­ den, während der Beweis der Antithesis nur von dem Vertreter des Empirismus ausdrücklich anerkannt werden muss. Dies reicht vollkommen aus, um einen stabilen Dissens zwischen dem Rationalismus und dem Empirismus zu kon­ struieren. Hierfür ist es überhaupt nicht nötig, dass der Rationalismus die Position des Empirismus widerlegt, oder umgekehrt, denn jeder vertritt seine Position in Berufung auf die eigene Beweisführung und mit der Zuversicht, dass diese für ihn selbst befriedigend und gründlich ist. Der stabile Dissens, der der Figur der Antinomie zugrunde liegt, wird also nicht aus einer neutra­ len dritten Position heraus formuliert, sondern beruht auf der Unvereinbarkeit des Fürwahrhaltens, das sich in der Tradition des Rationalismus und Empirismus im Hinblick auf einen ganz bestimmten Sachverhalt einstellt. Diese Unvereinbarkeit beruht zwar auf der von beiden Positionen anerkann­ ten Grundvoraussetzung des transzendentalen Realismus. Das bedeutet aber

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mitnichten, dass der transzendentale Realismus einen höheren Standpunkt, nämlich eine dritte neutrale Beurteilungsinstanz darstellt. Kants gesamte Gedankenführung läuft darauf hinaus, dass der transzendentale Idealismus einen höheren Standpunkt gegenüber dem transzendentalen Realismus besitzt, indem er den transzendentalen Schein und das Vorurteil, dass die Sphäre der Erscheinungen die ganze Realität ausmacht, überwindet, aber man muss ebenfalls im Hinterkopf behalten, dass es dem transzendentalen Realismus nur unter der Bedingung, dass die gesamte Realität die empirische und intelligible Welt umfasst, gelingt, den Dissens zwischen der Thesis und Antithesis zu überwinden; eine Bedingung, die weder von dem Vertreter der Thesis, noch von dem Vertreter der Antithesis anerkannt wird. So lässt sich also die komplexe Figur der Antinomie durchaus verständlich rekonstruieren, wenn man die philosophischen Rahmentheorien, die an ihrer Konstruktion beteiligt sind, berücksichtigt. Die größten Schwierigkeiten hatte man stets damit, zu verstehen, dass der Dissens zwischen der Position der Thesis und der Position der Antithesis zwar stabil sein soll, dass die Antinomie aber zugleich aufgelöst werden kann. Nun sieht man aber, dass der Dissens zwischen der Thesis und Antithesis durchaus stabil ist, aber nur unter der Bedingung des transzendentalen Realismus, und dass er deswegen stabil ist, weil die Beweisführung jeweils nur für die philoso­ phische Rahmentheorie, die auch die Thesis bzw. Antithesis formuliert, befrie­ digend sein muss, und weil der Beweis weder den Anspruch erheben muss noch aufrechterhalten kann, dass er zugleich die Gegenposition widerlege. Unter einer ganz anderen Voraussetzung, nämlich dem transzendentalen Idealismus, besteht aber kein stabiler Dissens zwischen dem Dogmatismus und Empirismus mehr. Der Kerngedanke der gesamten Antinomie besteht eben darin, zu ver­ stehen, dass Kant diese Figur darum erörtert, weil sie nach seinem Dafürhalten den Grund dafür darstellt, dass die Vernunft überhaupt die Möglichkeit erwägt, dass über die empirische Realität hinaus auch eine intelligible Natur gedacht werden kann bzw. das Vorurteil infrage stellt, dass die empirische Welt die gesamte Realität ausmacht. Darum ist es auch überhaupt nicht nötig, dass der Beweis der Thesis und Antithesis vor dem Hintergrund des transzendenta­ len Idealismus als gründlich und überzeugend anerkannt wird. Wäre dies der Fall, dann hätte man wieder die Verständnisschwierigkeiten, die man in der Rezeptionsgeschichte der Antinomie so oft beobachtet hat, aber der Schlüssel zum Verständnis der Art und Weise, wie die Antinomie konstruiert und aufge­ löst wird, besteht darin, zu begreifen, welche Position vor welcher philosophi­ schen Rahmentheorie mit welchen Ansprüchen formuliert wird, auf welche Art und Weise und in Berufung auf welche Argumentationsmechanismen sie bewiesen wird, und warum dieser Beweis für die jeweilige philosophische

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Rahmentheorie als befriedigend zu gelten hat – und für wen und unter wel­ chen Bedingungen dieser Beweis überhaupt nicht überzeugend sein muss. Für einen stabilen Dissens zwischen dem in der Tradition des Dogmatismus stehenden Vertreter der Thesis und dem in der Tradition des Empirismus ste­ henden Vertreter der Antithesis ist es nämlich nicht nötig, dass die Beweise bei­ spielsweise für mich überzeugend sind. Es ist aber durchaus entscheidend, dass sie selbst damit zufrieden sind, denn ansonsten wären sie nicht imstande ihre These mit der nötigen Bestimmtheit zu vertreten. Wir halten also fest, dass der apagogische Beweis der Thesis mitnichten die Behauptung der Antithesis widerlegt, sondern indirekt die Thesis beweist und umgekehrt. Andernfalls wäre Kants Behauptung, dass es sich bei diesen bei­ den beweisen nicht um Blendwerk handelt, sondern dass beide gründlich vor­ genommen worden seien (KrV, B 535), nicht mehr haltbar, denn man könnte einfach ihre Plätze vertauschen, und dann wären weder die These noch die Antithese bewiesen, sondern sogar widerlegt. Unter diesen Umständen müs­ ste man sich aber ernsthaft fragen, was für ein „unauflöslicher Widerspruch“ und „Skandal“ das sein soll, wenn einer unhaltbaren These eine ebenso unhalt­ bare Antithese entgegengesetzt würde. Insgesamt besteht aber eine Kernaussage der vierfachen Antinomie der spekulativen Vernunft darin, dass vor dem Hintergrund des transzendenta­ len Realismus ein unvermeidlicher Widerstreit zwischen dem Dogmatismus und Empirismus entsteht und dass sowohl der Dogmatismus als auch der Empirismus imstande sind, ihre Thesen zwar indirekt, aber immerhin in sich schlüssig zu beweisen. Beide Beweise beruhen auf bestimmten zugrunde liegenden philosophischen Rahmentheorien und implizieren bestimmte Haltungen zur Frage des Kompatibilismus und Inkompatibilismus. Dem Empirismus gelingt es nicht, den Dogmatismus zu widerlegen; ebenso wenig gelingt es dem Dogmatismus, den Empirismus zu widerlegen: vielmehr gelingt es der spekulativen Vernunft, in der Auseinandersetzung und Überwindung dieses notwendigen Widerstreits die gemeinsame Voraussetzung, nämlich den transzendentalen Realismus, insgesamt zu überwinden, also: Der Widerstreit der daraus gezogenen Sätze entdeckt aber, daß in der Voraussetzung eine Falschheit liege, und bringt uns dadurch zu einer Entdeckung der wahren Beschaffenheit der Dinge, als Gegenstände der Sinne. (KrV, B 535) Am Ende wird also wieder ein Kompatibilismus vertreten, aber nicht vor dem Hintergrund des transzendentalen Realismus, sondern vor dem Hintergrund des transzendentalen Idealismus, mithin wird nicht der Standpunkt vertreten,

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dass in der Sphäre des Raumzeitmannigfaltigen der Kompatibilismus wahr sei, sondern dass Kausalität nach empirischen Gesetzen und Kausalität nach intelligiblen Gesetzen, mithin Kausalität nach Naturgesetzen und Kausalität nach Gesetzen der Freiheit als miteinander vereinbar gedacht werden können. Der Beweis der Thesis vor dem Hintergrund des Dogmatismus/ Rationalismus Der gesamte Textkorpus zum Beweis der Thesis besteht aus zwei Absätzen, deren erster in drei Abschnitte eingeteilt werden kann, wovon der erste Abschnitt wiederum in zwei Abschnitte eingeteilt werden kann. Demnach umfasst der erste Abschnitt den Text bis zum Ende des Satzes, der am Anfang der Seite B 474 endet. Der zweite umfasst den nachfolgenden Satz, der auf den Satz vom zureichenden Grund verweist, und der dritte den Schluss, der im nachfolgenden Satz formuliert wird. Der erste Abschnitt kann wiederum in zwei Abschnitte eingeteilt werden, deren erster den ersten Satz des Beweises umfasst, während sich der zweite bis zum Ende des ersten Abschnitts erstreckt. Der Beweis erfolgt apagogisch, also indirekt, und so wird zu Beginn der Beweisführung das Gegenteil der Thesis angenommen: „Man nehme an, es gebe keine andere Kausalität, als nach Gesetzen der Natur“. (KrV, B 472) Unter dieser Voraussetzung muss angenommen werden, dass alles, was geschieht, einen Zustand in der Natur voraussetzt, auf denen es nach einer Regel, die selbst durch die Gesetze der Natur bestimmt ist, unausweichlich folgt. 6.2.1

Nun muss aber der vorige Zustand selbst etwas sein, was geschehen ist (in der Zeit geworden, da es vorher nicht war), weil, wenn es jederzeit gewesen wäre, seine Folge auch nicht aller erst entstanden, sondern immer gewesen sein würde. (ebd.) Wenn also das gegebene Bedingte die Wirkung von Zuständen in der Natur sein soll, so muss davon ausgegangen werden, dass die Umstände, die es bewir­ ken, punktuell auftreten; denn sofern angenommen wird, dass die Zustände, die eine Erscheinung bedingen, dauerhaft wirksam sind, so muss auch ange­ nommen werden, dass mit ihnen auch die Wirkung, mithin die bedingte Erscheinung dauerhaft gegeben ist. In diesem Fall wäre es erstens schwierig von einer zeitlichen Abfolge von Zuständen in der Natur überhaupt zu spre­ chen, zweitens aber, und das ist hier wichtiger: man könnte nicht annehmen, dass die bedingte Erscheinung zu einem bestimmten Zeitpunkt entsteht, denn sie müsste immer gegeben sein. Da aber nach dem Grundsatz der Kausalität gerade regressiv erklärt werden soll, welche Bedingungen gegeben sein müs­ sen, damit ein bestimmter Zustand in Existenz tritt, also eine bestimmte

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Erscheinung auftritt, wird sowohl in Bezug auf das Auftreten der Erscheinung als auch in Bezug auf die Zustände, die Sie bewirken, ein punktuelles Muster angenommen, demzufolge ein bestimmter Zustand zu einem bestimmten Zeitpunkt den nachfolgenden Zustand zum nachfolgenden Zeitpunkt bedingt. Der zeitlich vorangehende Zustand wird dann dem Schema der Kausalität ent­ sprechend als Ursache, der nachfolgende demselben Schema entsprechend als Folge verstanden. Wie diese Punktualität in der Zeit eigentlich erzeugt wird, wie also die reine Synthesis der Apprehension in der Zeit genau genommen erfolgt, ist eine Frage, die im Zusammenhang mit dem Schema der Quantität erörtert wird (KrV, B 182). An der gegebenen Stelle kann das entsprechende Muster vorausgesetzt werden und es wird angenommen, dass in jeweils aufein­ ander folgende Zeitpunkten einzelne Erscheinungen auftreten, die in einem Verhältnis der Kausalität zu einander stehen, so dass der jeweils vorangehende Zustand den jeweils nachfolgenden kausal bedingt. Dies wiederholt Kant übri­ gens auch im Zusammenhang mit der Auflösung der kosmologischen Ideen, nämlich auf KrV, B 560: Da nun die Kausalität der Erscheinungen auf Zeitbedingungen beruht, und der vorigen Zustand, wenn er jederzeit gewesen wäre, auch keine Wirkung, die aller erst in der Zeit entspringt, hervorgebracht hätte: so ist die Kausalität der Ursache dessen, was geschieht, oder entsteht, auch entstanden, und bedarf nach dem Verstand des Grundsatzes selbst wie­ der eine Ursache. In diesem Sinne werden alle einzelnen Zustände als zeitliche Zustände bzw. Erscheinungen als Bestandteile einer Struktur begriffen, wonach jede einzelne Erscheinung zugleich die Folge ihrer Ursache und die Ursache ihrer Folge ist. Demnach ist also auch die Ursache des Zustandes, der mit dem Ausdruck „das gegebene Bedingte“ bezeichnet wird, „selbst etwas Geschehenes“ und setzt somit einen noch älteren, ihm zeitlich vorausgehenden und ihn kausal bedingenden Zustand voraus, so dass sich insgesamt ein unendlicher Regress ergibt „und also überhaupt keine Vollständigkeit der Reihe auf der Seite der voneinander abstammenden Ursachen“ besteht. (KrV, B 474) Wir sehen an dieser Stelle vollständig von dem Problem des transzendentalen Scheins ab, denn nur unter dieser Bedingung ist es überhaupt möglich, die These zu beweisen. Programmatisch kann aber bereits hier angedeutet werden, dass sich der Schlüssel zur Auflösung der Antinomie durch den Auflösung eben­ dieses transzendentalen Scheins ergeben wird, indem begriffen wird, dass die Bedingungen der zeitlichen Synthesis in der Tat nur auf Erscheinungen zutref­ fen und der Regress der Kausalbedingungen, von dem hier die Rede ist, nur

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der entsprechenden Synthesis aufgegeben ist, mitnichten aber derart gegeben ist, wie es der transzendentale Realismus unterstellt. Ungeachtet dessen sehen wir jedenfalls, dass die Argumentation im Rahmen des Beweises der Thesis auf der punktuellen Wirksamkeit bestimmter Ursachen und der punktuellen Entstehung ihrer Folge beruht und dass sie vor diesem Hintergrund in ante­ cedentia auf jeweils zugrunde liegende Bedingungen zugeht und in einen unendlichen Regress gerät. Dies wäre an sich kein Problem, wenn es nicht im Widerspruch zu dem Anliegen der Vernunft stünde, die Totalität der Bedingungen zu einem gegebe­ nen Bedingten zu finden. Darum ist es für die Argumentation, auf der der Beweis der Thesis beruht, entscheidend, festzuhalten, dass nach Kants Dafürhalten die Unendlichkeit der zeitlichen Reihe wirkender Ursachen gleichbedeutend mit der Unvollständigkeit der Reihe derselben ist, weswegen er an der gegebe­ nen Stelle (siehe obiges Zitat) auch den Ausdruck „also“ verwendet: Es besteht ein unendlicher Regress auf der Seite der wirkender Ursachen, also ist die Reihe unvollständig. Die zugrunde liegende Vorstellung der Unvollständigkeit beruht selbstverständlich auf der Offenheit der Reihe und ihrem Streben gegen minus unendlich. Kant ist offenbar der Überzeugung, dass eine Reihe, die von einem gegebenen Zeitzustand ausgeht und von dort aus regressiv gegen minus unendlich strebt nicht als vollständig angesehen werden kann. Als vollständig würde er wahrscheinlich nur eine Reihe anerkennen, die gegen minus x geht. Das eigentliche Argument, auf dem der indirekte Beweis der Gültigkeit der These beruht, ergibt sich nun, indem im zweiten Abschnitt eine Prämisse ein­ geführt wird, die in der Konfrontation mit dem oben erörterten unendlichen Regress zu einem Widerspruch führt, nämlich der Satz vom zureichenden Grund: „Nun besteht aber eben darin das Gesetz der Natur: das ohne hinrei­ chend a priori bestimmte Ursache nichts geschehe.“ (KrV, B 474) Man sieht: der unendliche Regress an sich macht noch nicht das Argument aus, auf dem der Beweis der Thesis beruht. Erst in der Konfrontation mit dem Satz vom zureichenden Grund, der ein notwendiges Prinzip aller Vernunft­ schlüsse darstellt, ergibt sich der Widerspruch, und zwar nur unter der Bedin­ gung, dass das Streben der Reihe gegen minus unendlich als Unvollständigkeit derselben angesehen wird. In seiner Darstellung und Diskussion des Bewei­ ses der Thesis nimmt Allison Stellung zur Rechtfertigung dieser Prämisse. Er erkennt durchaus, dass es sich hierbei mitnichten um eine Schlussfolgerung aus dem zuvor gesagten, sondern in der Tat um die Einführung einer neuen Prä­ misse handelt, die auf dem Satz vom zureichenden Grund beruht. Er fragt sich allerdings, warum ein Vertreter der Antithesis, also jemand, der ausschließlich mechanische Kausalität anerkennt, diese Prämisse akzeptieren sollte, und ver­ weist dabei auf den von beiden, nämlich sowohl von dem Vertreter der These

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als auch dem Vertreter der Antithese, anerkannten Grundsatz, dass mit dem Gegebensein des Bedingten zugleich die Gesamtheit aller Bedingungen, mit­ hin das Unbedingte gegeben ist.262 Aus den nun gegebenen Prämissen zieht Kant im dritten Abschnitt des ersten Absatzes den Schluss: Also widerspricht der Satz, als wenn alle Kausalität nur nach Naturgeset­ zen möglich sei, sich selbst in seiner unbeschränkten Allgemeinheit, und diese kann also nicht als die einzige angenommen werden. (ebd.) Die Beweisführung erfolgt also auf der Grundlage der beiden Prinzipien, die bereits der Leibniz’schen Philosophie zufolge allen Vernunftschlüssen zugrunde liegen müssen, nämlich dem Satz vom zureichenden Grund und dem Satz vom Widerspruch. Der erste besagt, dass alles, was in der Welt geschieht, einen Zustand voraussetzt, auf den es nach einer beständigen Regel folgt. Der zweite besagt, in aristotelischer Sprache formuliert, dass es unmöglich ist, dass dasselbe demselben in derselben Beziehung zugleich zukomme und nicht zukomme.263 Daraus folgert Kant in dem zweiten Absatz des Beweises der Thesis, dass durchaus eine Form von Kausalität angenommen werden muss, die auf einer ersten Ursache beruht, also einer Ursache, die ihrerseits nicht mehr durch einen vorausgehenden zeitlichen Zustand nach notwendigen Gesetzen bestimmt sei, d.i. eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen, mithin transzendentale Freiheit, ohne wel­ che selbst im Laufe der Natur die Reihenfolge der Erscheinungen auf der Seite der Ursachen niemals vollständig ist. (KrV, B 474) In Bezug auf diese erste Ursache stellt sich nun die Frage, ob es sich dabei um die Idee eines ersten Bewegers handelt, oder um die Idee der spontanen Ursächlichkeit der menschlichen Handlungen, also im weitesten Sinne um Handlungsfreiheit. Die Anmerkung zur Thesis gibt dazu Auskunft, indem sie in ihrem ersten Abschnitt (KrV, B 476f.) auf die Idee des ersten Bewegers Bezug nimmt, während sie zu Beginn der Seite B 478 die Möglichkeit der Handlungsfreiheit unter diesen Bedingungen folgert und durch das berühmte Beispiel des spontanen Aufstehendes von einem Stuhl illustriert. Man sieht 262 Allison 1990. (18 f.) 263 Vgl. hierzu: Allison 1990. (17 f.)

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also leicht, dass man den Gedanken überhaupt nicht forcieren muss, um zu erkennen, dass die Beweisführung zur Thesis in der Tradition von Aristoteles und Leibniz steht. Folgerichtig liegt der Thesis ein Begriff von Freiheit zugrunde, der in die­ ser Tradition als „absolute Spontaneität“ verstanden wird und in erster Linie den ersten Beweger, den unbewegten Beweger, bzw. die Urmonade betrifft. Dementsprechend weist die Argumentation auch eine große Ähnlichkeit mit dem Beweis der Thesis der ersten Antinomie auf, worin ebenfalls auf der Grundlage des unendlichen Regresses zugunsten eines ersten Weltanfangs argumentiert wird.264 Die Idee des ersten Weltanfangs und des ersten Bewegers entsprechen demnach ein und derselben philosophischen Rahmentheorie, nämlich letztendlich dem Rationalismus, (Kant verwendet den Ausdruck: „Dogmatism“) (Vgl.: KrV, B 494), der durch die Leibniz’sche Tradition an die Diskursgemeinschaft, an der Kant partizipiert, herangetragen wird. Es wird sich sehr bald zeigen, dass die philosophische Rahmentheorie, in deren Kontext die Antithesis und ihr Beweis entwickelt werden, dem Empirismus (ebenfalls B 494), Atomismus und Physikalismus entspricht und dass der Freiheitsbegriff, der der Antithesis zugrunde liegt, mitnichten die absolute Spontaneität, son­ dern schlicht Gesetzlosigkeit bezeichnet.265 Demnach handelt es sich in der Thesis und Antithesis um zwei unterschiedliche Freiheitsbegriffe, nämlich einerseits absolute Spontaneität und andererseits Gesetzlosigkeit, die jeweils unterschiedlichen philosophischen Rahmentheorien entspringen, näm­ lich im weitesten Sinne dem Rationalismus bzw. „Dogmatismus“ und dem Empirismus.266 In der Anmerkung zum Beweis der Thesis hält Kant jedenfalls fest, dass der Beweis, der auf dem Widerspruch der Unvollständigkeit der Reihe der kausa­ len Ursachen mit dem Satz vom zureichenden Grund beruht, zunächst ein­ mal die Notwendigkeit des ersten Anfangs nur in Bezug auf den Ursprung der Welt betrifft, zieht aber daraus unmittelbar den Schluss (Seitenübergang KrV, B 477 f.), dass es infolgedessen auch erlaubt ist, „mitten im Laufe der Welt ver­ schiedene Reihen, der Kausalität nach, von selbst anfangen zu lassen und den Substanzen derselben ein Vermögen beizulegen, aus Freiheit zu handeln“. Die Substanzen der Welt, von denen hier die Rede ist, sind also freie Akteure, in unserer Welt vorzugsweise Menschen, und ihre Handlungsfreiheit wird durch

264 Gerade diese Verbindung des ersten Anfangs und ersten Bewegers wird in der Anmerkung zu Beweis der Antithesis einen zentralen Gegenstand der Kritik darstellen. 265 Vg.. hierzu: Allison 1990. (21f.) 266 Vgl. hierzu: Allison 1990. (13)

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die Möglichkeit der absoluten Spontaneität begründet. In Bezug auf den aller Freiheit zugrunde liegenden ersten Beweger findet es Kant einsichtig, daß (die epikuraische Schule ausgenommen) alle Philosophen des Altertums sich gedrungen sahen, zur Erklärung der Weltbewegungen einen ersten Beweger anzunehmen, d.i. eine frei handelnden Ursache, welche diese Reihe von Zuständen zuerst und von selbst anfing. Abschließend kann also festgehalten werden, dass der These ein ganz bestimmter Freiheitsbegriff zugrunde liegt, nämlich die Idee des sponta­ nen Selbstanfangs, absolute Spontaneität, und dass dieser Freiheitsbegriff in der Tradition aller Philosophien steht, die einen ersten Beweger annehmen. Innerhalb dieser philosophischen Rahmentheorie, also letztendlich innerhalb des Rationalismus, beruht auch der Beweis der These auf den zwei von Leibniz anerkannten Grundprinzipien aller Vernunftschlüsse, nämlich dem Satz vom zureichenden Grund und dem Satz vom Widerspruch und es wird in aller Kürze ausgesagt, dass es innerhalb einer solchen philosophischen Rahmentheorie unmöglich ist, die Vollständigkeit der Reihe aller Bedingungen, die durch den Satz vom zureichenden Grund gefordert wird, zu denken, sofern nicht die Idee einer absoluten Spontaneität der Ursachen als erster Beweger angenommen wird. Der Beweis der Antithesis vor dem Hintergrund des Empirismus/ Naturalismus Ganz anders verhält es sich mit der Antithesis und ihrem Beweis. Zwar erfolgt auch dieser Beweis apagogisch, also indirekt, aber die philosophische Rahmentheorie, die sowohl der Antithesis als auch ihrem Beweis zugrunde liegt, unterscheidet sich signifikant von der aristotelischen und rationalisti­ sche Tradition, in deren Kontext die Thesis entfaltet und begründet wurde. Bereits die Formulierung der Antithesis gibt Auskunft über die zugrunde lie­ gende philosophische Rahmentheorie: „Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur“. (KrV, B 473) Es wird hier also ein starker Naturalismus vertreten, der in der Tradition des antiken Atomismus steht und letztendlich in Form des insularen Empirismus an Kant herangetragen wird. Folgerichtig wird auch die starke Betonung der Einheit der Erfahrung eine entscheidende Rolle in der Beweisführung zur Antithesis spielen. Zudem impliziert der Ausdruck „sondern“, dass zwischen der lücken­ losen Gültigkeit der Naturgesetze und der Freiheit ein inkompatiblistischer Standpunkt vertreten wird. Demzufolge kann die Freiheit – im Kontrast zu den Naturgesetzen – auch nur als Gesetzlosigkeit verstanden werden. 6.2.2

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Auch die Antithesis wird apagogisch bewiesen, indem vorausgesetzt wird, dass Freiheit als Vermögen einen Zustand mitsamt einer Reihe von Folgen schlechthin anzufangen, möglich sei, und indem diese Voraussetzung inner­ halb der gegebenen philosophischen Rahmentheorie als widersprüchlich aufgezeigt wird. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Annahme, dass es sich dabei um eine „besondere Art von Kausalität“ handelt, die aber mit dem Augenblick ihrer Wirksamkeit selbst schlechthin anfängt. Demnach würde durch die Wirksamkeit der Kausalität aus Freiheit nicht lediglich eine neue Kette kausal bedingter Wirkungen entstehen, sondern zugleich die ihnen zugrunde liegende Kausalität plötzlich in Existenz treten. Dies konfrontiert Kant mit der zweiten Prämisse: Es setzt aber ein jeder Anfang zu handeln einen Zustand der noch nicht handelnden Ursache voraus, und ein dynamisch erster Anfang der Handlung einen Zustand, der mit dem Vorhergehenden eben derselben Ursache gar keinen Zusammenhang der Kausalität hat, d. i. auf keine Weise daraus erfolgt. (KrV, B 473) Diese Prämisse ist nur unter der Voraussetzung der bereits genannten philoso­ phischen Rahmentheorie hinnehmbar und müsste in der kantischen Theorie des transzendentalen Idealismus schlechthin als falsch und inakzeptabel dis­ qualifiziert werden, denn in Bezug auf denselben Sachverhalt stellt Kant in der Auflösung der Antinomie explizit fest: „Die Kausalität der Vernunft im inteli­ giblen Charakter entsteht nicht, oder hebt nicht etwa zu einer gewissen Zeit an, um eine Wirkung hervorzubringen“. (KrV, B 579) Aber die Antithese wird eben nicht vor dem Hintergrund des transzendentalen Idealismus, sondern vor dem Hintergrund des simplen Empirismus und transzendentalen Realismus entwickelt und darin ist auch die oben genannte zweite Prämisse durchaus hinnehmbar. In diesem Kontext wird nun aus diesen beiden Prämissen der Schluss gezogen, dass die transzendentale Freiheit dem Kausalgesetz ent­ gegensteht, weil der Selbstanfang einer kausalen Reihe, sofern er zugleich den Anfang der Kausalität darstellt, keinen kausalen Zusammenhang zu dem ihm vorangehenden zeitlichen Zustand aufweist und weil – und das ist das Entscheidende – unter diesen Umständen „keine Einheit der Erfahrung möglich ist“. (KrV, B 476) Die Bemerkung, „dass eine solche Verbindung der sukzessiven Zustände wirkender Ursachen (. . .) in keiner Erfahrung angetrof­ fen wird, mithin ein leeres Gedankending“ darstellt (ebd.) verdeutlicht den empiristischen Standpunkt, der hier zugrunde liegt. Eindeutig ist in diesem Zusammenhang die folgende Referenz:

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Man bemerkt unter den Behauptungen der Antithesis, eine vollkom­ mene Gleichförmigkeit der Denkungsart und völlige Einheit der Maxime, nämlich ein Prinzipium des reinen Empirismus, nicht allein in Erklärung der Erscheinungen in der Welt, sondern auch in Auflösung der transzen­ dentalen Ideen, vom Weltall selbst. (KrV, B 493 f.) Allerdings besteht auch der Beweis der Antithese aus zwei Absätzen. Der erste davon wurde gerade erörtert. Der zweite beinhaltet aber einige Aussagen, die deutlich machen, dass die zugrunde liegende philosophische Rahmentheorie nicht nur auf dem Empirismus, sondern darüber hinaus auch auf einer bestimmten Form des starken Naturalismus beruht, der in der Tradition der antiken Atomisten steht. Zugleich ergeben sich aus den Erörterungen die­ ses Abschnitts gewisse Schlussfolgerungen für den Freiheitsbegriff, der der Antithesis zugrunde liegt, und von dem einleitend gesagt wurde, dass er bloß auf der Vorstellung der Gesetzlosigkeit beruht. So beginnt der zweite Abschnitt mit einer Schlussfolgerung, die durch den Ausdruck „also“ gekennzeichnet wird und besagt: „Wir haben also nichts als Natur, in welcher wir den Zusammenhang und Ordnung der Weltbegebenheiten suchen müssen“. (KrV, B 476) Hierbei handelt es sich ganz offensichtlich um eine Grundsatzerklärung des philosophischen Naturalismus, der auf natürli­ che Art und Weise mit dem Empirismus verbunden ist. Gleich im nächsten Satz wird aber die Konsequenz, die sich aus einer solchen Selbstbeschränkung der menschlichen Denkungsart für den Freiheitsbegriff ergibt, benannt: „Die Freiheit (Unabhängigkeit) von den Gesetzen der Natur, ist zwar eine Befreiung vom Zwange, aber auch vom Leitfaden aller Regel.“ (ebd.) Die Freiheit wird hier also nicht positiv als Vermögen der Spontanursächlichkeit nach intelligiblen Gesetzen bestimmt, sondern negativ als Unabhängigkeit von den Gesetzen der Natur, somit als Befreiung von Naturgesetzen und der Naturkausalität, als Befreiung von dem vermeintlichen Zwang, den die Naturgesetze auf unsere Existenz ausüben, und somit auch als Befreiung, oder besser gesagt: vermeintliche Befreiung, vom „Leitfaden aller Regel“, also als, Regellosigkeit bzw. Gesetzlosigkeit. Das ist wiederum weder der Begriff von Freiheit, der in der Thesis der dritten Antinomie vertreten wird, noch ist dies der Begriff der Freiheit, der von Kant im Ausgangspunkt vom arbitrium liberum entwickelt wird, und schon gar nicht ist dies der Begriff der praktischen Freiheit, der als Willensfreiheit im Ausgangspunkt vom Faktum des Sittengesetzes als Grundgesetz der intelligiblen Welt in der Kritik der praktischen Vernunft ent­ wickelt wird. Hier handelt es sich lediglich um einen auf dem Empirismus beruhenden negativen Begriff der Freiheit, der so definiert wird, dass er not­ wendigerweise im Widerspruch mit der Kontinuität der Gesetze der Natur ste­

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hen muss. Sofern nämlich angenommen wird, dass die Totalität der Existenz unter dem Begriff Natur zusammengefasst werden kann, dass innerhalb dieser Totalität zugleich eine Kontinuität von Kausalverknüpfung besteht, kann Freiheit, falls sie als Gesetzlosigkeit verstanden werden soll, niemals im Einklang mit ebendiesem Weltbild bestehen. Folgerichtig hält Kant fest: „Natur also und transzendentale Freiheit unterscheiden sich wie Gesetzmäßigkeit und Gesetzlosigkeit, . . .“. (KrV, B 476) und da die Gesetzmäßigkeit der Natur, wie er meint, erstens durch die Erfahrung verbürgt ist, zweitens zum Zwecke der Einheit der Erfahrung notwendigerweise angenommen werden muss, so spricht einiges dafür, dass die geforderte Gesetzlosigkeit unter dem Begriff der Freiheit nicht gerechtfertigt werden kann. Ganz eindeutig ist Kant im letzten Satz der Anmerkung: Denn es lässt sich neben einem solchen gesetzlosen Vermögen der Freiheit, kaum mehr Natur denken; die die Gesetze der letzteren durch die Einflüsse der ersteren unaufhörlich abgeändert, und das Spiel der Erscheinungen, welches nach der bloßen Natur regelmäßig und gleich­ förmig sein würde, dadurch verwirkt und unzusammenhängend gemacht wird. (KrV, B 480) Zu Beginn der Anmerkung führt Kant darüber hinaus eine mögliche Argumentation, der sich mögliche „Verteidiger der Allvermögenheit der Natur (transzendentale Physiokratie)“ bedienen könnten, an, und die auf der Verbindung des mathematisch Ersten (der Zeit nach) mit dem dynamisch Ersten (der Kausalität nach) beruht. Demnach kann behauptet werden, dass unter Verzicht auf die Idee eines ersten Bewegers auch auf die Idee des dyna­ mischen Anfangs verzichtet werden kann, sofern angenommen wird, dass die Substanzen jederzeit gewesen sind und dass mit ihnen auch der Wechsel ihrer Zustände jederzeit gewesen ist. (KrV, B 478) Sofern man sich fragt, auf welche Art und Weise ein solcher „Verteidiger der Allvermögenheit der Natur (transzendentale Physiokratie)“ überhaupt den Begriff der Substanz verwen­ den darf, wird man unweigerlich auf die Atomistik in der Tradition von Lukrez und Epikur verwiesen. Gerade im Rückblick auf Kants Feststellung, dass bis auf Epikur alle antiken Philosophen die Theorie eines ersten Bewegers vertre­ ten haben, ist es naheligend, anzunehmen, dass die Vertreter der Antithesis in der Tradition Epikurs stehen. Die Substanzen, von denen hier die Rede ist, sind also offenbar die Atome und die Natur wird als Totalität aller Atome ver­ standen, die in einem unaufhörlichen Prozess der Interaktion miteinander stehen und somit unaufhörlich zur Veränderung der Zustände in der Welt beitragen.

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Die Auflösung der Antinomie vor dem Hintergrund des transzendentalen Idealismus Es ist allgemein bekannt, dass die Auflösung der Antinomie der reinen Vernunft auf dem transzendentalen Idealismus beruht. Dazu ist es im Grunde genom­ men nicht nötig, auf die Rezeptions- und Interpretationsgeschichte der Kritik der reinen Vernunft zu verweisen, beispielsweise auf Allison, denn Kant selbst benennt den sechsten Abschnitt der Antinomie der reinen Vernunft mit dem Titel: Der transzendentale Idealism als der Schlüssel zu Auflösung der kosmologischen Dialektik. (KrV, B 518) Infolgedessen muss man nicht lange darüber diskutiert, vor welchem theoretischen Hintergrund die Antinomie aufgelöst werden soll, aber es muss sich in der Tat zeigen, auf welche Art und Weise es dem transzendentalen Idealismus gelingt, den Widerstreit der Vernunft, der sich dadurch ergibt, dass vor dem Hintergrund eines transzendentalen Realismus eine dogmatische (rationalistische) und eine empiristische Position in einen unauflösbaren Widerstreit geraten, tatsächlich aufzulösen. In die­ sem Zusammenhang hält bereits Röttges,267 später auch Allison die bedeut­ same Einsicht fest,268 dass die ersten beiden, nämlich die mathematischen Antinomien auf andere Art und Weise aufgelöst werden, als die beiden dyna­ mischen Antinomien. Die mathematischen werden nämlich aufgelöst, indem gezeigt wird, dass unter den Bedingungen des transzendentalen Idealismus beide Positionen, nämlich sowohl die Thesis als auch die Antithesis, ihre jewei­ lige Gültigkeit verlieren, während im Zusammenhang mit den beiden dyna­ mischen Antinomien deutlich wird, dass zwischen der These und Antithese nicht wirklich ein kontradiktorisches Verhältnis besteht. Röttges hält fest, dass es fatal für die dritte Antinomie wäre, wenn sie auf dieselbe Art und Weise auf­ gelöst würde, wie die ersten beiden, also dadurch, dass die Falschheit sowohl der These aus auch der Antithese erwiesen würde, denn dann würde mit der „Aufhebung des kritisch bereinigten Resultats der Antithesis, nämlich der durchgängigen Bestimmtheit aller Erscheinungen nach dem Kausalgesetz“ die Wissenschaft in ihrem Prinzip erschüttert, während andererseits die Leugnung der in der Thesis behaupteten Freiheit die prinzipielle Voraussetzung der Moral zerstören würde. Eine solche Auflösung der dritten Antinomie würde also nach Röttges „die theoretische und praktische Philosophie Kants im Prinzip negieren“.269 Ich schließe mich dieser Ansicht uneingeschränkt ein, weise aber darüber hinaus auf die entsprechende Konsequenz für die von mir oben angesprochene Unterscheidung zwischen der Negation der Thesis 6.2.3

267 Röttges, H. 1974: Kants Auflösung der Freiheitsantinomie. In: KS 65. 268 Allison 1990, 22. 269 Röttges 1974, 40.

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im Rahmen ihres indirekten Beweises und der Antithesis, bzw. der Negation der Antithesis im indirekten Beweis und der Thesis. Wäre nämlich non-A, mit dem der indirekte Beweis der Thesis beginnt, identisch mit der Antithesis, die ich oben B genannt habe, würde der indirekte Beweis der Thesis B widerlegen und der indirekte Beweis der Antithesis ebenso A widerlegen, weswegen wir am Ende durchaus einen Stand der Dinge hätten, der unter den Bedingungen des transzendentalen Realismus (denn beide Beweise werden noch in die­ sem Rahmen geführt) je nach Belieben die Wahrheit oder Falschheit beider Positionen beweist. Das ist aber nicht so: Es wird hier, zwar indirekt, aber nach Kants Dafürhalten „gründlich“ sowohl die These als auch die Antithese bewie­ sen und es wird keinesfalls die These oder Antithese widerlegt. Eine entspre­ chende Widerlegung hätte nämlich in der Tat die Folgen, die Röttges nennt. Vor dem Hintergrund des transzendentalen Idealismus muss jeden­ falls mitnichten angenommen werden, dass zwischen der Kausalität nach Naturgesetzen und Kausalität aus Freiheit ein disjunktives Verhältnis besteht: Es ist also nur die Frage: ob demungeachtet in Ansehung eben dersel­ ben Wirkung, die nach der Natur bestimmt ist, auch Freiheit stattfinden könne, oder diese durch jene unverletzliche Regel völlig ausgeschlossen sei. (KrV, B 564) Die Antwort kann hier bereits antizipiert werden. Unter der Bedingung des transzendentalen Realismus, nämlich unter der Bedingung, dass die Erscheinungen als Dinge an sich aufgefasst werden und die gesamte Realität ausmachen, ist Freiheit nur als Gesetzlosigkeit denkbar und dann ist sie auch nicht mit der Kontinuität der Wirklichkeit der Naturgesetze vereinbar. Vor dem Hintergrund des transzendentalen Realismus, sofern er mit den Empirismus und Naturalismus der Antithese kombiniert wird, muss also konsequenter­ weise auch ein Inkompatibilismus vertreten werden und dann „ist Freiheit nicht zu retten“: Und hier zeigt die zwar gemeine, aber betrügliche Voraussetzung der absoluten Realität der Erscheinungen, sogleich ihren nachteiligen Einfluss, die Vernunft zu verwirren. Denn, sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten. (KrV, B 564) Darum besteht der Schlüssel zur Auflösung der gesamten Antinomie darin, dass die Voraussetzungen, unter denen die These und Antithese formuliert werden, eigens hinterfragt werden, und aufgezeigt wird, dass sie ihre Gültigkeit eben nur unter diesen Bedingungen beanspruchen können. Kant legt großen Wert

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darauf, dass es sich bei diesem Widerstreit um ein tatsächliches Problem handelt und dass die jeweiligen Beweise der Thesis und Antithesis „nicht Blendwerk, sondern gründlich waren“, aber nur unter einer bestimm­ ten Voraussetzung, nämlich „daß Erscheinungen oder eine Sinnenwelt, die sie insgesamt in sich begreift, Dinge an sich selbst wären“. Unter dieser Voraussetzung besteht zwar zwischen der These und Antithese in der Tat ein kontradiktorisches Verhältnis und der Widerstreit kann durchaus nachvoll­ zogen werden, aber der gesamte Gedanke läuft darauf hinaus, zu erkennen, „daß in der Voraussetzung eine Falschheit liege“ (KrV, B 535), nämlich in der Voraussetzung, dass der transzendentale Realismus wahr sei. Sofern die Falschheit der Voraussetzungen aber aufgedeckt wird, zeigt es sich, dass die beiden mathematischen Antinomien auf der Entgegensetzung von Thesen und Antithesen beruhen, die vor dem Hintergrund des tran­ szendentalen Idealismus überhaupt nicht haltbar sind. Im Zusammenhang mit den dynamischen Antinomien zeigt es sich dagegen, dass sie miteinan­ der kompatibel sind, und zwar unter der Bedingung, dass es möglich ist, dass zwischen der Ursache und Wirkung eine gewisse Ungleichheit vorliegt, dass es also möglich ist, dass ein und derselbe Sachverhalt im Hinblick auf seine intelligible Ursache (bei der Bestimmung des Willens) als frei, im Hinblick auf seine Wirkung in der phänomenalen Welt (also im Hinblick auf die Handlung) aber als determiniert angesehen wird. Dies wiederum stellt nur darum keinen logischen Widerspruch dar, weil es sich bei der Kategorie der Kausalität um eine Kategorie der Relation handelt und sie als solche nicht erkenntniserwei­ ternd ist. In der Rezeptionsgeschichte der Kritik der reinen Vernunft sind aller­ dings zahlreiche Interpretationen vorgeschlagen worden, die entweder den Standpunkt vertreten, dass Kant letztendlich zur Position der Thesis ten­ diert, oder dass in Wahrheit nur die Antithesis bewiesen wird.270 Auch ist der Standpunkt vertreten worden, dass der Beweis der Antithesis überhaupt nicht gelingt, mitunter weil er eine petitio principii begeht,271 und die Antithesis eigentlich ganz anders beweisen werden müsste. In ihrer Einseitigkeit sind all diese Ansätze selbstverständlich falsch, denn obgleich Kant letztendlich durchaus die Denkbarkeit der Kausalität aus Freiheit zusätzlich zur Kausalität nach Gesetzen der Natur vertritt, geschieht dies vor dem Hintergrund des transzendentalen Idealismus und nicht vor dem Hintergrund der dogmatischen Position, die er der Thesis zugrunde 270 Strawson, P. 1966: The Bounds of Sense: An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason. 271 Vgl. hierzu: Esteves, C.R.J. 2004: Musste Kant Thesis und Antithesis der dritten Antinomie in der „Kritik der reinen Vernunft“ vereinbaren? In: KS 95.

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legt. Demnach ist auch die Art und Weise, wie er das Verhältnis zwischen der Kausalität nach Naturgesetzen und der Kausalität aus Freiheit ver­ steht, anders als in der Thesis. Während die Thesis den entsprechenden Kompatibilismus für die Erscheinungen, die sie für Dinge an sich hält, behauptet, vertritt Kant eine ganz andere Art von Kompatibilismus, der auf der Ungleichartigkeit von Ursachen und Wirkungen beruht, derart, dass die Ursache intelligibel (in der Bestimmung des Willens), ihre Wirkung aber phä­ nomenal bzw. zeitlich (in der Ausführung der Handlung) ist. Auf der Ebene der bloßen Erscheinungen vertritt Kant ganz konsequent den Inkompatibilismus. (Vgl. obiges Zitat: KrV, B 564) Auch wird man der Einseitigkeit, mit der Strawson die Ansicht vertritt, dass lediglich die Antithese wirklich bewiesen wird, nicht zustimmen kön­ nen, denn aus Kants Ausführungen im Zusammenhang mit der Auflösung der Freiheitsantinomie wird es zwar in der Tat deutlich, dass er einige Mühe aufwendet, um den Empirismus gegenüber dem Dogmatismus, von dem er annimmt, dass er „den Vorzug der Popularität“ (KrV, B 495) auf seiner Seite habe – ein Vorzug, den er im Jahre 2014 gewiss nicht mehr geltend machen kann –, aufzuwerten, denn: Der gemeine Verstand findet in den Ideen des unbedingten Anfangs aller Synthesis nicht die mindeste Schwierigkeit, (. . .) und hat in den Begriffen des absolut Ersten (. . .) eine Gemächlichkeit und zugleich einen festen Punkt, um die Leitschnur seiner Schritte daran zu knüpfen, da er hingegen an dem rastlosen Aufsteigen vom Bedingten zur Bedingung, jederzeit mit einem Fuße in der Luft, gar kein Wohlgefallen finden kann. (KrV, B 495) Demnach scheint Kant der Überzeugung zu sein, dass in der Diskursgemein­ schaft, in der er die Kritik der reinen Vernunft verfasst und verortet, eine stär­ kere Tendenz zum Dogmatismus bzw. Rationalismus besteht und dass der Empirismus mitsamt allen Vorzügen, die er verspricht, gegen die populäre Meinung aufgewertet werden muss. Zwar will Kant also die Diskriminierung des Empirismus beseitigen, aber es ist nun mal Tatsache, dass er auch die Ein­ seitigkeit der Antithese ganz eindeutig zurückweist,272 weswegen wir allen Grund haben anzunehmen, dass er nicht nur den Beweis der Antithese für überzeugend hält. Ganz abgesehen davon, dass er, wie oben bereits erwähnt, der Überzeugung ist, dass beide Beweise „nicht Blendwerk, sondern gründlich waren“ (KrV, B 535), kann in Berufung auf die folgende Stelle mit Zuversicht 272 Vgl.: Allison 1990, 23.

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behauptet werden, dass jedenfalls dem kantischen Selbstverständnis zufolge die Antithesis zwar gegen die damals herrschende populäre Meinung aufge­ wertet werden muss, man sich aber davor hüten muss, ihre eigene Position in aller Konsequenz dogmatisch zu vertreten: So aber, wenn der Empirismus in Ansehung der Ideen (wie es mehren­ teils geschieht) selbst dogmatisch wird und dasjenige dreist verneint, was über der Sphäre seiner anschauenden Erkenntnisse ist, so fällt er selbst in den Fehler der Unbescheidenheit, der hier um desto tadelbarer ist, weil dadurch dem praktischen Interesse der Vernunft ein unersetzlicher Nachteil verursacht wird. (KrV, B 499) Es bietet sich also letztendlich an, all diese Einseitigkeiten beiseite zu lassen und der Spur der Auflösung der Antinomie auf der Grundlage des transzen­ dentalen Idealismus zu folgen, wonach das Verhältnis zwischen der These und Antithese mitnichten kontradiktorisch sein muss, sondern durchaus subkonträr sein kann, sofern konsequent zwischen der intelligiblen und der phänomenalen Sphäre unterschieden wird: ein Weg, den bereits Allison gewinnbringend beschreitet. 6.2.3.1 Das Problem mit dem „empirischen Charakter“ Entscheidend ist in diesem Zusammenhang allerdings Kants Unterscheidung zwischen dem empirischen und intelligiblen Charakter,273 so dass die Auflö­ sung auf der Möglichkeit der Kausalität aus Freiheit in Bezug auf die Bestim­ mung des intelligiblen Charakters unter Beibehaltung des, oder jedenfalls eines gewissen, Determinismus274 in Bezug auf den empirischen Charakter beruht. Die intelligible Kausalität, als Bestimmungsgrund des intelligiblen Charak­ ters, beruht auf der Idee der transzendentalen Freiheit, die das Vermögen zum Ausdruck bringt, „einen Zustand von selbst anzufangen“ und deren Kausalität darum „nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte“. (KrV, B 561) Die intelligible Kausali­ tät wird nämlich als unzeitlich verstanden und zwar darum, weil sie die Fähig­ keit des Subjekts bezeichnet, sich unabhängig von den gegebenen Zuständen in irgendeiner beliebigen Situation Grundsätze bzw. Gesetze zu geben, wonach 273 Vgl. hierzu: Allison 1990, 29 ff. 274 Es muss allerdings gezeigt werden, auf welche Art und Weise hier noch von „Determinismus“ gesprochen werden kann. Hierzu werden insbesondere StekelerWeithofers Überlegungen hilfreich sein. Vgl.: Stekeler-Weithofer, P. 1990: Willkür und Wille bei Kant. In: KS 81.

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bestimmt wird, was jeder vernunftfähige Akteur jederzeit und in jeder belie­ bigen Situation, also unter allen nur denkbaren Umständen, zu tun hat. Sie ist also darum unzeitlich, weil sie vollkommen gleichgültig gegenüber der Frage ist, welcher Zustand zum Zeitpunkt t vorliegt und welche Umstände auf einen beliebigen Akteur x zu einem beliebigen Zeitpunkt t einwirken: sie bestimmt schlechthin, was unter allen nur denkbaren Umständen geschehen soll. Inso­ fern steht sie nicht „unter einer anderen Ursache (. . .), welche sie der Zeit nach bestimmte“ und man kann in Bezug auf sie nicht sagen, „daß vor demjenigen Zustand, da sie die Willkür bestimmt, ein anderer vorhergehe, darin dieser Zustand selbst bestimmt wird.“ (KrV, B 581) Demnach bleibt die Kausalität aus Freiheit, nämlich die Kausalität des moralischen Sollens in Bestimmung des intelligiblen Charakters jederzeit bestehen, indem sie beharrliche Gesetze vorschreibt: dies ist gerade im Kontrast zu der Beweisführung der Antithese von Bedeutung, denn dort beruht der indirekte Beweis ganz entscheidend auf der Überlegung, dass die Kausalität aus Freiheit plötzlich wirksam wird, und dass sie darum eine Form von Gesetzlosigkeit darstelle. Nach Kants Aussage auf B 581 ist dies aber nicht der Fall: sie hebt nicht irgendwann an, sondern ist beharrlich. Ganz explizit ist Kant in diesem Zusammenhang auf B 579: „Die Kausalität der Vernunft im intelligiblen Charakter entsteht nicht, oder hebt nicht etwa zu einer gewissen Zeit an, um eine Wirkung hervorzubrin­ gen.“ Dagegen ist die Frage, ob ein beliebiger Akteur den moralischen Willen aktualisiert, oder sich in seinem Tun und Lassen von Antrieben der Sinnlich­ keit führen lässt, eine andere Sache, denn sie betrifft nicht die Kausalität des moralischen Sollens, sondern die Frage der moralischen Motivation, oder, wie es Kant später bezeichnet: die Frage der Triebfeder. Hierdurch ergeben sich natürlich einige Konsequenzen für unser Verständnis vom Determinismus. Wenn wir also annehmen, dass ein beliebiger Akteur zum Zeitpunkt t handeln soll und dass die Art und Weise, wie er handeln soll, durch das moralische Gesetz bestimmt ist, so ist dieses Sollen ganz unabhän­ gig von dem, was in t-1 vorgefallen ist. Dies ist nur darum möglich, weil es sich beim moralischen Sollen, von dem hier als intelligible Kausalität die Rede ist, um die Kausalität nach moralischen Grundsätzen und nicht nach empirischen Stimuli handelt. So kann zwischen dem Stimulus, der sich aus t-1 einstellt, und dem Grundsatz, der zeitlos gilt, unterschieden werden und es besteht die Möglichkeit, dass ein Subjekt ein bestimmtes Handlungsschema aktualisiert, weil es einen bestimmten Grundsatz beherzigt, und nicht, weil es der Neigung aus t-1 folgt. Das Verhältnis zwischen t-1 und t besitzt also im Hinblick auf die Frage des moralischen Sollens keinerlei kausalen Zusammenhang, denn dieses betrifft den Grundsatz, nach dem gehandelt werden soll: t-1 stellt mitnichten die Ursache und t mitnichten die Folge dar, denn weder in t-1 noch in t ist

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der Grundsatz, von dem hier die Rede ist, enthalten und er entspringt auch nicht aus dem naturgesetzlichen Verhältnis dieser beiden Momente, son­ dern aus der Autonomie der Vernunft. Wir sehen also, dass im Hinblick auf die moralische Selbstbestimmung, also diejenige Vorstellung von Kausalität, nach der bestimmt wird, was (speziell in moralischer Hinsicht) getan wer­ den soll, eine gewisse Grenze der Leistungsfähigkeit der Kausalität nach Naturgesetzen besteht und dass mit dem Beginn der moralischen Autonomie die Verbindlichkeit und auch die Leistungsfähigkeit der Kausalität nach Naturgesetzen endet. Die Kausalität nach Naturgesetzen mag zwar imstande sein, einen Antrieb der Sinnlichkeit an den Akteur heran zu tragen und somit seinem empirischen Begehrungsvermögen zu „impellieren“, also auch eine motivierende Kraft zu entwickeln, aber niemals kann im Rückgriff auf die Kausalität nach Naturgesetzen bestimmt werden, nach welchen Grundsätzen bzw. Gesetzen gehandelt werden soll. Letzteres ist nur aufgrund der Autonomie der Vernunft möglich, denn diese stellt das einzige Vermögen dar, nicht allein zu bestimmen, was der Fall ist, sondern ein Gesetz zu bestimmen, nach dem gehandelt werden soll, selbst wenn man „in der Erfahrung kein Beispiel, da es genau befolgt würde, auftreiben könnte“ (KpV, 81), das aber unausbleiblich eine Handlung nach sich ziehen würde, „wenn die Vernunft den Willen gänzlich bestimmte“ (KpV, A 36).275 Entscheidend ist hierbei lediglich die Bestimmung des Willens zur Handlung, nicht ihre Ausführung in der Lebenswelt. Das Subjekt, das auf diese Art und Weise bestimmt wird, ist aber das, was Kant als den intelligiblen Charakter bezeichnet und nicht der empirische Charakter. Der empirische Charakter stellt die zur Gewohnheit verfestigte konstante Handlungsweise eines empirischen Wesens in der Zeit, oder, wie Bojanowski sagt, „die kausale Disposition des Subjekts, wie es sich uns in seinen Handlungen in der Erfahrung zeigt“,276 dar und ist somit selbst ein Produkt der zeitlichen Erfahrungen desselben Subjekts. Er geht nach Kants Überzeugung „aus den Erscheinungen als Wirkung und aus der Regel derselben, welche Erfahrung an die Hand gibt“, hervor (KrV, B 578). Da er aber aus derselben Regel, nach der die Erscheinungen hervorgehen, hervorgeht, diese Regeln aber empirisch sind, ist auch der empirische Charakter nach Kants Dafürhalten – jedenfalls in gewisser Hinsicht – ein Produkt empirischer Gesetze. Er stellt allerdings zugleich „das sinnliche Schema“ (KrV, B 581) des intelligiblen Charakters dar, ist also durch den intelligiblen Charakter, nämlich die „Denkungsart“ bestimmt. (KrV, B 579) 275 Das ist übrigens eine der Schlüsselformeln, auf die sich sowohl Polloks Ausführungen in Pollok 2007 als auch meine Überlegungen zur Erfolgskontrolle beziehen. 276 Bojanowski, J. 2006: Kants Theorie der Freiheit. Rekonstruktion und Rehabilitierung. KSEH 151. 171.

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Man muss hierbei also bedenken, dass der intelligible Charakter durchaus die Möglichkeit besitzt, auf den empirischen einzuwirken, so dass der Letztere zwar die zur Gewohnheit verfestigte Handlungsweise eines Akteurs darstellen mag, die Handlungsweise, die sich zur Gewohnheit verfestigt hat, allerdings durch den intelligiblen Charakter bedingt ist. Demnach mag sich ein empi­ rischer Charakter so verfestigen, dass es ihm zur Gewohnheit wird, stets aus Achtung vor einem bestimmten moralischen Gesetz277 zu handeln, während sich ein anderer empirischer Charakter so manifestiert, dass er ohne Rücksicht auf das Sittengesetz oder dieses bestimmte moralische Gesetz handelt. Ist die konstante Handlungsweise des Einen und des Anderen bekannt, wird man in einer gegebenen Situation möglicherweise antizipieren können, ob sie dem Sittengesetz folgen oder nicht, aber es ist noch immer möglich, die Vorstellung beizubehalten, dass der empirische Charakter das sinnliche Schema des intelli­ giblen Charakters darstellt, der ihm zugrunde liegt, indem er eben die „Regel“, nach der die konstante Handlungsweise bestimmt ist, ursprünglich bestimmt hat. Nur unter diesen Bedingungen kann behauptet werden: „Die Vernunft ist also die beharrliche Bedingung aller willkürlichen Handlungen, unter denen der Mensch erscheint.“ (KrV, B 581) Auch Stekeler-Weithofer vertritt die Ansicht, dass der empirische Charakter „nur als eine ideale Modellkonstruktion zum Zwecke der Darstellung unseres anthropologischen Erfahrungswissens, also nur als facon de parler und nicht als eine Art ‚Realität‘ (. . .) zu verstehen“ sei.278 Dieser Standpunkt lässt sich durch den obigen Gedanken sehr gut illustrieren, denn darin wird unter­ stellt, dass eine bestimmte Regel spezifiziert werden kann, die von einem Akteur verinnerlicht wird und von dem anderen nicht, und dass anschlie­ ßend im Hinblick auf diese Regel prognostiziert werden kann, wie sich die konstante Handlungsweise der beiden Akteure entwickeln wird. Aber woher stammt diese Regel? Das obige Zitat (B 587) kann zwar durchaus so interpre­ tiert werden, als ob diese Regel aus den Erscheinungen, ihrer gesetzmäßigen Abfolge und der entsprechenden Gesetzmäßigkeit der Erfahrung entspringen könnte. Wenn man darüber hinaus annimmt, dass diese Gesetzmäßigkeit auf der Naturkausalität beruht, gelangt man zum Schluss, dass der empirische Charakter durchgängig durch die Kausalität nach Naturgesetzen bestimmt 277 Ich muss dies so einschränken, denn wenn jemand jederzeit aus Achtung vor dem Sittengesetz überhaupt handeln könnte, wäre er ein heiliges Wesen, und das ist für Menschen unmöglich. Dagegen ist es durchaus denkbar, dass ein Mensch beispielsweise ein sehr stark ausgeprägtes affirmatives Verhältnis zum moralischen Gebot der Nothilfe besitzt, während er in anderer Hinsicht moralische Schwächen besitzt. 278 Stekeler-Weithofer 1990, 317.

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sei. Aber da, wie wir oben gesehen haben, im Hinblick auf die Frage, wie gehandelt werden soll, der Zeitpunkt t-1 überhaupt nichts mit dem Zeitpunkt t zu tun hat, kann auch keinerlei Kausalität zwischen t-1 und t angenommen werden, aus der eine Regel der Erfahrung des moralischen Sollens hergelei­ tet werden könnte. Die einzige Konstante, die in diesem Fall angenommen werden könnte, stellt die Lustgewinnung als Befriedigung des empirischen Begehrungsvermögens dar, das seinerseits vollkommen kontingent ist und darum unmöglich eine zuverlässige und beharrliche Regel an die Hand geben kann, nach der bestimmt werden könnte, wie ein bestimmter Akteur in tx handeln wird. Die Bestimmung einer konstanten Handlungsweise ist nur dann möglich, wenn angenommen wird, dass der Akteur gewisse Regeln so verinner­ licht hat, dass man mit Zuversicht prognostizieren kann, wie er in t handeln wird, sofern man die Bedingungen in t-1 vollständig kennt. Letzteres ist ohne­ hin niemals der Fall und die Bedingung des irrationalen Konditionalsatzes, mit dem Kant den entsprechenden Sachverhalt in der Kritik der reinen Vernunft formuliert (Vgl.: Krv, B 578), kann, wie Stekeler-Weithofer betont, niemals erfüllt werden, da wir dafür nicht nur die ganze Vorgeschichte des Akteurs, sondern darüber hinaus „die gesamte Kulturgeschichte der Menschheit ken­ nen“ müssten.279 Aber ganz unabhängig davon, dass der menschliche, dis­ kursive Verstand dies niemals könnte, bin ich der Überzeugung, dass Kant nicht einmal den Anspruch erheben würde, dass ein intuitiver Verstand dazu in der Lage wäre, weil das Verhältnis zwischen dem intelligiblen Charakter und dem empirischen Charakter, wonach bestimmt ist, dass der empiri­ sche das „sinnliche Schema“ des intelligiblen darstellt, einen entscheiden­ den Interpretationshinweis für die Frage der Regel, nach der die konstante Handlungsweise erfolgt, bietet: Die Regel betrifft die Art und Weise, wie der intelligible Charakter hier schematisiert, also naturalisiert wird. Also ist der empirische Charakter nur insofern als das sinnliche Schema des intelligiblen Charakters zu verstehen, als er die regelmäßige also nach Maximen und mora­ lischen Gesetzen bestimmte Handlungsweise des Akteurs, sofern sich diese zur Gewohnheit verfestigt hat, repräsentiert. Diese kann dann wiederum nach empirischen Gesichtspunkten erforscht, also „beobachtet“280 werden, nämlich beispielsweise in der Anthropologie. (Vgl.: KrV, B 578) So betont Streichert: Wenn die Vernunft als das Vermögen des intelligiblen Charakters bestimmend ist, der empirische Charakter „die unmittelbare Wirkung des intelligiblen Charakters der reinen Vernunft (. . .)“ (KrV, 538, B 581) 279 Vgl.: Stekeler-Weithofer 1990, 316. 280 Vgl. auch hierzu Stekeler-Weithofers Überlegungen auf Seite 316 f.

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als eine Erscheinung der Sinnenwelt ist, und diese Erscheinung unter den Gesetzen der Naturkausalität steht, koinzidieren im empirischen Charakter Bestimmbarkeit und Bestimmtheit. Bestimmbar ist der empi­ rische Charakter als Erscheinung des intelligiblen Charakters, bestimmt dagegen ist er nicht nur als dessen erscheinende Wirkung, sondern auch als „Sache“, als Naturwesen.281 Dementsprechend kann in der „Beobachtung“ der Handlungsweise eines Akteurs zum Zeitpunkt t-1 nach einer beständigen Regel, die seinem intelligib­ len Charakter, also seiner Denkungsart, entspringt und die von diesem Akteur so verinnerlicht wurde, dass sie in eine konstante Handlungsweise überge­ gangen ist, prognostiziert werden, wie er zum Zeitpunkt t handeln wird. Es ist aber vollkommen verkehrt, zu glauben, dass deswegen ein (natur-)kausales Verhältnis zwischen t-1 und t entscheidend ist, denn die Regel, nach der die Prognose getroffen wird, und auf der ihre Zuverlässigkeit beruht, betrifft diese Zeitpunkte überhaupt nicht, sondern betrifft den Grundsatz, nach dem gehan­ delt wird und beruht auf dem intelligiblen Charakter und der Art und Weise, zu welchem sinnlichen Schema, also zu welchem empirischen Charakter er sich bestimmt hat. Um also nochmal auf den irrationalen Konditionalsatz, mit dem Kant die entsprechende Aussage formuliert, zurück zu kommen: . . . wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkür bis auf den Grund erfor­ schen könnten, so würde es keine einzige menschliche Handlung geben, die wir nicht mit Gewissheit vorhersagen und aus ihren vorhergehenden Bedingungen als notwendig erkennen könnten. (KrV, B 578) Ganz unabhängig davon, dass wir diese Totalität der Bedingungen ihrerseits niemals werden beobachten und somit auch niemals werden kennen kön­ nen, und zwar nicht aufgrund irgendeines beliebigen Unvermögens oder der mangelnden Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem entsprechenden Gegenstandsbereich, sondern einfach darum, weil die Vollständigkeit der Bedingungen niemals in der Erfahrung gegeben werden kann; ganz unab­ hängig davon, ist die Vorhersage, also die Prognose der Handlungsweise eines bestimmten Akteurs zu einem beliebigen Zeitpunkt t-1 nur vor dem Hintergrund des empirischen Charakters als einer, wie Stekeler-Weithofer sagt, „idealen Modellkonstruktion“ möglich, die nichts anderes darstellt, als die Voraussetzung einer konstanten Handlungsweise. Diese konstante Handlungsweise muss als Ausübung der Freiheit nach Grundsätzen und nicht 281 Streichert 2003, 46.

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nach empirischen Zwecken verstanden werden und die Grundsätze, um die es sich dabei letztendlich handelt, sind die moralischen Gesetze, die der Autonomie der Vernunft entspringen. Es ist nach vernünftigen Gesichtspunkten unmöglich, diese konstante Handlungsweise, also die Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit des Handelns durch das Verhältnis der Umstände in t-1 und t zu bestimmen, denn sofern die Gesetzmäßigkeit durch dieses kausale Verhältnis bestimmt wäre, müs­ ste jeder beliebige Akteur in derselben Situation auf dieselbe Art und Weise handeln. Die Theorie des empirischen Charakters betont aber gerade die Unterschiede in der Handlungsweise unterschiedlicher Akteure, indem ange­ nommen wird, dass in der Begegnung mit bestimmten Umständen in t-1 ein beliebiger Charakter so und ein anderer beliebiger Charakter anders han­ deln wird. Die Unterschiede unter Beibehaltung der Gesetzmäßigkeit und Prognostizierbarkeit ihres Handelns beruhen aber auf den Regeln, die sich als sinnliche Schemata manifestiert haben. Das ist ganz entscheidend. Unter die­ ser Voraussetzung, also unter der Voraussetzung, dass ein beliebiger Akteur ein bestimmtes sinnliche Schema seines intelligiblen Charakters generiert, indem er die Gewohnheit annimmt, jederzeit aus Pflicht oder zumindest pflichtge­ mäß zu handeln, kann vorhergesagt werden, dass er zu einem bestimmten Zeitpunkt tx im Einklang mit dem moralischen Gesetz handeln wird. Die Kausalität, die hier thematisch ist, betrifft aber die Art und Weise, wie der intelligible Charakter sein sinnliches Schema generiert, sich also zu einem empirischen Charakter manifestiert. Gerade in dieser Beziehung spielen aber Polloks282 Überlegungen eigentlich eine entscheidende Rolle, denn die Frage, ob ein Akteur der Vernunft „die volle Gewalt über sein Begehrungsvermögen“ und seine Selbstbestimmung gewährt oder nicht, ist entscheidend für die Art und Weise, welches sinnliche Schema sein intelligibler Charakter generieren wird. Der empirische Charakter ist also durchaus vorhersehbar aber nur unter der Bedingung, dass die Totalität der Umstände einer bestimmten Handlung bekannt ist und dass darüber hinaus die konstante Handlungsweise bekannt ist, also die Regel, nach der gehandelt wird. Die Regel aber, dies ist mein abschlie­ ßendes Argument, beruht entgegen allen entsprechenden Interpretationen des empirischen Charakters, nicht auf der Kausalität nach Naturgesetzen, sondern stellt das sinnliche Schema des intelligiblen Charakters dar; wäre der empirische Charakter aber durch Naturkausalität determiniert, könnte 282 Pollok, K. 2007: „Wenn Vernunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte“ – Über die gemeinsame Wurzel der kantischen Imperative. In: KS 97.

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man niemals ohne Widerspruch von ihm als einem „sinnlichen Schema“ des intelligiblen Charakters bzw. der Denkungsart sprechen. Darum muss bei der Betonung seiner Vernetzung mit der Erfahrungswelt jederzeit der nötige Spielraum gelassen werden, damit auch die für Kants Philosophie entschei­ dende gedankliche Figur des „sinnlichen Schemas“ noch sinnvoll interpretiert werden kann, denn eine zu starke Betonung der Abhängigkeit des empirischen Charakters von der empirischen Kausalität beraubt uns der nötigen Spielräume für die Interpretation seiner als eines „sinnlichen Schemas“ des intelligiblen Charakters. Der Standpunkt, dass der empirische Charakter durchgehend nach empirischen Gesetzen, also nach der Kausalität durch Naturgesetze „determiniert“ sei und man ihn darum „wie eine Mond- und Sonnenfinsternis“ prognostizieren könne, stellt einfach nur ein bedauerliches Missverständnis dar, besonders darum, weil kein Mensch mit dem nötigen Sachverstand die beiden konstitutiven Momente dieser Theorie, nämlich die Vernetzung des empirischen Charakters mit der Lebenswelt und den Gedanken, dass er ein sinnliches Schema des intelligiblen Charakters darstellt, miteinander ver­ einbaren kann, wenn er zugleich den Naturdeterminismus in Bezug auf den empirischen Charakter vertritt. Sofern also der empirische Charakter als determiniert aufgefasst wird, so ist er dies nur unter Berücksichtigung der zur Gewohnheit verfestigten Kausalität nach Gesetzen der Freiheit. Dann ist zwar die Freiheit zur Gewohnheit gewor­ den und man weiß nicht, wie viel Freiheit übrig ist, aber es ist ganz entschei­ dend, diese Form des Determinismus vom Determinismus der Antithese zu unterscheiden und deutlich zu machen, dass nach dem empiristischen Dogmatismus, der die Antithese vertritt, überhaupt keine Freiheit möglich ist, dass aber der Determinismus des empirischen Charakters ganz entscheidend auf dem Schematismus der Gesetze der Freiheit beruht und dass er niemals als vollständig determiniert durch die Kausalität nach Naturgesetzen verstan­ den werden kann. Vollständig determiniert ist er nur durch die Gesamtheit der Kausalität nach Naturgesetzen und Kausalität aus Freiheit, indem die eigent­ liche Gesetzmäßigkeit, nach der eine Handlung prognostiziert werden kann, aus der zur Gewohnheit verfestigten Umgangsweise mit den Gesetzen der Freiheit entspringt. Nur eine solche Interpretation der Gesetzmäßigkeit der konstanten Handlungsweise eines empirischen Charakters, nämlich indem die Regel den Ausdruck eines sinnlichen Schemas des intelligiblen Charakters dar­ stellt, macht es möglich, die Prognostizierbarkeit mit der Freiheit zu ver­ knüpfen, ohne in den gedanklichen Konflikt zu geraten, den Röttges treffend beschreibt:

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Die durchgehende kontinuierliche Bestimmtheit des empirischen Charakters bei gleichzeitiger Freiheit des von empirischem Charakter dis­ kreten intelligiblen Charakters zerstört entweder den Handlungsbegriff und damit den der transzendentalen Freiheit und damit wiederum die Verantwortlichkeit, (. . .) – oder enthüllt sich als Paradoxie der unmit­ telbaren Einheit von Kontinuität und Diskretion von Freiheit und Naturnotwendigkeit . . .283 Das entsprechende Problem ergibt sich aber, wie gesagt, nur dann, wenn man die von Röttges zitierte Aussage Kants, dass jede Handlung im empiri­ schen Charakter des Menschen vorherbestimmt sei, noch ehe sie geschieht (KrV, A 553), so versteht, als ob diese Vorhersehbarkeit ausschließlich auf der Naturkausalität beruhte sie beruht aber darauf, dass unter Voraussetzung der Bekanntheit der konstanten Handlungsweise eines Akteurs antizipiert wer­ den kann, nach welcher Regel er sich im Ausgangspunkt von einer gegebe­ nen Situation verhalten wird. Es ist jedoch nichts darüber ausgesagt, ob die Regel selbst nach Naturgesetzen bestimmt sei. Es ist eher anzunehmen, dass sie nicht nach Naturgesetzen bestimmt sein kann, und zwar aus demselben Grund, den ich bereits oben genannt habe, nämlich: wenn in der Situation t-1 durch die Kausalität der Naturgesetzen bestimmt wäre, wie ein beliebiger Akteur A zum Zeitpunkt t handeln wird, so müsste das entsprechende gesetz­ mäßige Verhältnis in der Tat für jeden beliebigen Akteur in derselben Situation gelten und es wäre unmöglich zu erklären, warum ein empirischer Charakter so und ein anderer anders handelt. Es kann ja keinesfalls angenommen wer­ den, dass die Kausalität nach Naturgesetzen in Bezug auf unterschiedliche Charaktere unterschiedlich ausfällt. Dies ist darum unmöglich, weil sie ledig­ lich das Verhältnis zwischen der Ursache in t-1 und Wirkung in t betrifft und keinerlei Beziehung zum empirischen Charakter selbst besitzt. Abschließend: Zu einem beliebigen Zeitpunkt t-1 kann die Handlungsweise des empirischen Charakters in t vorhergesagt werden, sofern die Regel, nach der er handelt, also seine konstante Handlungsweise, bekannt ist. Der Ausdruck „empirischer Charakter“ wird verwendet, um das Vorhandensein einer solchen konstanten Handlungsweise zu bezeichnen. Die Regel, die die Konstante in der Handlungsweise des so genannten empirischen Charakters ausmacht, und dies betone ich in Berufung auf die gedankliche Figur vom empirischen Charakter als sinnliches Schema des intelligiblen Charakters mit aller Entschlossenheit, ist keinesfalls die Kausalität nach Naturgesetzen, sondern die zur Gewohnheit verfestigte Umgangsweise mit den (selbstver­ 283 Röttges 1974, 48.

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ständlich intelligiblen) Gesetzen der Freiheit, also die zur Gewohnheit ver­ festigte Aktualisierung gewisser Handlungsschemata. Da aber in der Vielzahl möglicher Akteure auch eine Vielzahl möglicher Handlungsschemata in der Gewohnheit verfestigt werden kann, ergibt sich auch eine Erklärung dafür, wie es kommt, dass zwei Akteure im Ausgangspunkt von der gleichen Situation in t-1 zwei unterschiedliche Handlungsweisen in t an den Tag legen können, und zugleich im Hinblick auf den jeweiligen empirischen Charakter in beiden Fällen antizipiert werden kann, welches Handlungsschema sie jeweils aktua­ lisieren werden. Zurück zur Antinomie: Das Verhältnis zwischen dem intelligiblen und empi­ rischen Charakter, das sich darin äußert, dass der empirische Charakter das sinnliche Schema des intelligiblen darstellt, macht es möglich, das ursprünglich kontradiktorische Verhältnis zwischen der These und Antithese in ein subkon­ träres Verhältnis umzuwandeln. Die erste Bedingung für diese Umwandlung besteht darin, dass die Referenzidentität zwischen den Subjekten der beiden Sätze gewährleistet wird. Die zweite Bedingung, durch die die Auflösung der Antinomie überhaupt erst möglich wird, beruht nach Kants Aussage auf dem transzendentalen Idealismus und betrifft darum gerade die Art und Weise, wie der intelligible Charakter sein sinnliches Schema generiert. Wenn also angenommen wird, dass die These die Vereinbarkeit, also Kompatibilität der Kausalität aus Freiheit mit der Kausalität nach Gesetzen der Natur vertritt, die Antithese aber den konsequenten Determinismus und Inkompatibilismus vertritt, die These aber den intelligiblen Charakter, die Antithese bloß dessen sinnliches Schema, nämlich den empirischen Charakter betrifft, kann ein subkonträres Verhältnis zwischen der These und Antithese angenommen werden: Demnach würde die These behaupten, dass in Ansehung des intelligiblen Charakters nicht alles nach Naturgesetzen geschieht, sondern einiges aus Freiheit bestimmt wird, während die Antithese behaupten würde, dass in Bezug auf den bloß empirischen Charakter in der Tat alles durch die Kausalität der Gesetze der Natur bestimmt und erklärt wer­ den kann. Da sowohl der empirische als auch der intelligible Charakter zu ein und demselben Subjekt gehören, ist die Referenzidentität der grammatischen Subjekte beider Sätze gewährleistet. 6.2.3.2 Ein Aktualisierungsvorschlag Ohne die Unterscheidung zwischen dem empirischen und intelligiblen Charakter lässt sich also das ursprünglich kontradiktorische Verhältnis zwischen der These und Antithese nicht in ein subkonträres Verhältnis verwandeln, weswegen man bedauerlicherweise nicht umhin kommt, die problematische Auffassung Kants, dass der Mensch im Laufe seines Lebens

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eine konstante Weise zu handeln annehme, die man als seinen empirischen Charakter bezeichnen könne, und der dann möglicherweise sogar für den Rest des Lebens unverändert bleibt, weswegen man auch die Handlungen des Menschen in Ansehung dieses empirische Charakters „wie eine Mond- und Sonnenfinsternis vorhersagen“ könne, für die Auflösung der Antinomie zu berücksichtigen. Aber selbst wenn wir die relevanten Beiträge zur Entwicklungspsychologie, beispielsweise von Kohlberg und Piaget berücksichtigen, und infolgedessen die zugegebenermaßen naive Vorstellung, dass der empirische Charakter zu einem bestimmten Zeitpunkt entsteht und sich nicht mehr verändert, auf­ geben, bleibt die Hinsichtenunterscheidung, die Kant vornimmt, durchaus vertretbar: es ist weiterhin denkbar, dass ein Akteur zu einem beliebigen Zeitpunkt t sowohl Motiven, die durch die Eindrücke der Sinnlichkeit an ihn herangetragen werden und der Kausalität der Natur entsprechend auf ihn einwirken, als auch Grundsätzen, die seiner Vernunft entspringen, ausgesetzt ist, und in der Lage ist, selbst zu entscheiden, ob er der Vernunft folgt, oder nicht.284 Dass er der Vernunft folgen soll, steht für Kant außer Frage. Das Sollen aber kann nur intelligibel sein: „Das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt.“ (KrV, B 575) So hält er in der Auflösung der Freiheitsantinomie abschließend fest: Die Freiheit ist in dieser Bedeutung eine reine transzendentale Idee, die erstlich nichts von der Erfahrung Entlehntes enthält, zweitens deren Gegenstand auch in keiner Erfahrung bestimmt gegeben werden kann, weil es ein allgemeines Gesetz, selbst der Möglichkeit aller Erfahrung, ist, dass alles, was geschieht, eine Ursache, mithin auch die Kausalität der Ursache, die selbst geschehen, oder entstanden, wiederum eine Ursache haben müsse; wodurch denn das ganze Feld der Erfahrung, so weit es sich erstrecken mag, in einen Inbegriff bloßer Natur verwandelt wird. Da aber auf solche Weise keine absolute Totalität der Bedingungen im Kausalverhältnisse herauszubekommen ist, so schafft sich die Vernunft die Idee von einer Spontaneität, die von selbst anheben könne zu han­ deln, ohne dass eine andere Ursache voran geschickt werden dürfe, sie wiederum nach dem Gesetze der Kausalverknüpfung zur Handlung zu bestimmen. (KrV, B 561)

284 Vgl. Abschnitt 1.2 und Abschnitt 1.8 oben.

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Auf dieser transzendentalen Idee der Freiheit, also auf der Idee einer Spontaneität, die imstande ist, von selbst zu handeln, (Vgl. auch KrV, B 562) beruht der Begriff der praktischen Freiheit, von dem im ersten Abschnitt die­ ser Arbeit die Rede war. Man sieht also, dass sich im Zusammenhang mit der Auflösung der Freiheitsantinomie zweierlei Aufgaben aufdrängen, nämlich erstens die Aufgabe, zu verstehen, vor welchem begrifflichen und theoretischen Hintergrund Kants eigene Auflösung erfolgt, und zweitens die Aufgabe, die offensichtliche Unzulänglichkeit seiner spezifischen Theorie vom empiri­ schen Charakter zu überwinden und zu überprüfen, ob die Vereinbarkeit der Kausalität aus Freiheit mit der Kausalität der Naturgesetzen auch unter der Bedingung, dass die Theorie vom empirischen Charakter als einer konstanten Handlungsweise des Menschen preisgegeben wird, haltbar ist. Hierfür bietet die Kritik der praktischen Vernunft eine Lösung, denn darin wird zunächst einmal die Möglichkeit erwogen, dass die reine Vernunft praktisch sei, dass sie also aus ihrer eigenen Spontaneität den Willen bestimmen könne. Es ist dabei entscheidend zwischen dem Willen und der Tat zu unterscheiden. Kant stellt nicht die Frage, ob die reine Vernunft unmittelbar die Tat bestimmen könne, sondern ob sie sich bestimmend auf den Willen auswirken könne, der, wie oben bereits erörtert, das Vermögen darstellt, den Vorstellungen entspre­ chende Gegenstände hervorzubringen (Vgl.: KpV, A 29f.). Demnach könnte die Unterscheidung zwischen dem intelligiblen und empirischen Charakter nun im Hinblick auf die Willensstruktur reformuliert werden, so dass im Rahmen einer Theorie der Willensfreiheit die Frage gestellt wird, ob die reine Vernunft aus eigener Spontaneität und in Absehung der empirischen Kausalität, also empirischer wirkender Ursachen, die sich zu einem beliebigen Zeitpunkt t einem beliebigen Akteur einstellen, den Willen desselben bestimmen kann. Ein solcher, vernunftfähiger Akteur wäre also in einer gegebenen Situation zugleich empirischen Motiven und vernünftigen, also moralischen Gesetzen ausgesetzt und hätte die Wahl, ob er dem empirischen Begehrungsvermögen oder der Vernunft die volle Gewalt über die Handlung gewährt. Sofern es über­ haupt möglich ist, dass ein Akteur aus Achtung vor dem Sittengesetz eine bestimmte Handlung durchführt, kann angenommen werden, dass die prakti­ sche Vernunft tatsächlich imstande ist, den Willen zu bestimmen. Dass dieser Wille dann in einer Handlung zum Ausdruck gelangen muss, die wiederum nach Gesetzen der Natur erfolgt, ist erstens selbstverständlich und zweitens spielt es mir glücklicherweise in die Hand, denn aus dieser Äußerlichkeit der Handlung entsteht diejenige Kontingenz, die für die gesamte Erörterung der Problematik der Erfolgskontrolle in der Ausübung der praktischen Freiheit entscheidend ist und letztendlich im zweiten Postulat kulminiert. Dass die

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Vernunft den Willen bestimmen kann, steht für Kant außer Frage; dass in die­ ser Welt das höchste Gut nicht möglich ist, ist aber einerseits eine Folge der menschlichen Willensschwäche, also der Tatsache, dass wir nicht immer der Vernunft, sondern gelegentlich auch dem empirischen Begehrungsvermögen die Gewalt über unsere Selbstbestimmung gewähren, andererseits aber aus der Tatsache, dass sich durch die Äußerung unseres Willens in Handlungen zugleich eine Äußerlichkeit der Handlungen gegenüber diesem Willen ergibt, da die Handlungen ausnahmslos nach Naturgesetzen bestimmt sind und die vollkommene Adäquatheit derselben zum Willen, dessen Ausdruck sie dar­ stellen sollen, nur unter der Bedingung, dass das Subjekt zugleich die volle Gewalt über die Natur besitzt, möglich ist. 6.2.4 Fazit der Auflösung der Freiheitsantinomie Abschließend wird man vielleicht sagen dürfen, dass die Auflösung der Antinomie, die in der Kritik der reinen Vernunft auf der Grundlage der Unterscheidung des intelligiblen und empirischen Charakters erfolgte, vor dem Hintergrund der Theorie der Willensfreiheit in der Kritik der praktischen Vernunft um einige Gesichtspunkte bereichert wird, die eventuell die Schwächen der Theorie vom empirischen Charakter aufheben. Die gesamte Auseinandersetzungen mit der Freiheitsantinomie kann aber durch­ aus als eine systematische Kritik an dem Begriffsrahmen: Determinismus, Indeterminismus, Kompatibilismus und Inkompatibilismus, interpretiert werden, indem sie deutlich macht, dass dieser Begriffsrahmen nur unter der „zwar gemeinen, aber betrüglichen“ Voraussetzung der absoluten Realität der Erscheinungen, also unter der Voraussetzung des transzendentalen Realismus, den nachteiligen Einfluss entfalten kann, die Vernunft zu verwirren (Vgl.: KrV, B 564), dass dieses Vokabular also jeweils Einseitigkeiten gegeneinan­ der profiliert und somit eine Denkhaltung forciert, die sich notwendiger­ weise in Widersprüchen verfangen muss. Das ursprünglich kontradiktorische Verhältnis, das sich unter der Bedingung des transzendentalen Realismus ergibt, stellt sich im Lichte des transzendentalen Idealismus als subkonträr dar: Die Antithese, die vor dem Hintergrund des transzendentalen Realismus als allgemein positiver Satz: „Alles geschieht nach Gesetzen der Natur“, for­ muliert werden konnte, wird im transzendentalen Idealismus eingeschränkt und behauptet nur noch: „Alles in der phänomenalen Welt geschieht nach Gesetzen der Natur“. Dagegen behauptet die These in der Tradition des tran­ szendentalen Realismus: „Einiges in der phänomenalen Welt geschieht aus Freiheit“, während sie im transzendentalen Idealismus behauptet: „Einiges in der Welt (nämlich sowohl noumenalen als auch phänomenalen) geschieht aus Freiheit“, und meint selbstverständlich, dass die Kausalität aus Freiheit in

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der intelligiblen Natur wirksam ist. Letztendlich kann man beide Thesen vor dem Hintergrund des transzendentalen Idealismus in partikuläre Sätze umfor­ mulieren und sagen: „Einiges geschieht nach Gesetzen der Freiheit, also aus Gründen und Grundsätzen, während Einiges nach Gesetzen der Natur deter­ miniert ist“, und man hat ein subkonträres Verhältnis zwischen den beiden Aussagen. 6.3

Die Antinomie und das höchste Gut der Kritik der praktischen Vernunft Überblick

In diesem Abschnitt befasse ich mich mit der Antinomie und der Theorie des höchsten Guts in der Kritik der praktischen Vernunft. Ich unterscheide zwischen dem höchsten obersten und höchsten vollendeten Gut und reflektiere beide im Hinblick auf die Kontrolle der Praxis. Ich weise darauf hin, dass die Antinomie auch in der Kritik der praktischen Vernunft gewissermaßen die Überwindung des transzendentalen Realismus zu Gunsten des transzendentalen Idealismus (diesmal in praktischer Hinsicht) beabsi­ chtigt, indem sie die Unvereinbarkeit von Thesis und Antithesis in der empirischen Welt demonstriert, nämlich aufgrund des entsprechenden Mangels an Erfolgskontrolle, und die Auflösung in einer so genannten jenseitigen, bzw. sein-sollenden Welt vertritt, die sich dadurch auszeichnet, dass dieser Mangel an Erfolgskontrolle aufgehoben wird. Im Unterschied zur Darstellung des höchsten Guts in der Kritik der reinen Vernunft, beruht die Gedankenführung in der Kritik der praktischen Vernunft auf der neuen Erkenntnis, dass das Sittengesetz das Grundgesetz der intelligiblen Welt darstellt.

Die gesamte Problematik der Antinomie der spekulativen Vernunft ent­ springt, wie oben erörtert, aus der Suche nach der Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten unter der Voraussetzung des transzendentalen Realismus, der den Ausdruck eines natürlichen, aber irreführenden Scheins darstellt. Indem die Vernunft überhaupt, also ungeachtet der Unterscheidung zwischen der spekulativen und praktischen Vernunft, das Vermögen dar­ stellt, die Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten bzw. das Unbedingte zum Bedingten aufzusuchen, sucht sie auch als praktische Vernunft zu dem jeweils praktisch Bedingten das Unbedingte. Die Suche nach dem praktisch Unbedingten kann jedoch mitnichten den Bestimmungsgrund des Willens betreffen, denn aus den Erörterungen in der Analytik der praktischen Vernunft ist das Resultat hervorgegangen, dass ausschließlich das Sittengesetz als Faktum der Vernunft den Bestimmungsgrund des moralischen

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Willens darstellt. Die Totalität, nach der die praktische Vernunft sucht, betrifft vielmehr die Totalität des Gegenstandes der moralischen Selbstbestimmung und zwar „unter dem Namen des höchsten Guts“. (KpV, A 194) Darum weist die Antinomie der praktischen Vernunft bereits hier einen ent­ scheidenden Unterschied zur Antinomie der spekulativen Vernunft auf, denn offensichtlich spielt hier die Idee der regressiven Synthesis keine Rolle. Hier wird nicht der Versuch unternommen, die Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen raumzeitlichen Phänomen sukzessive durchzugehen und zu einer eventuell vollständigen Reihe der Bedingungen zu verbinden. Vielmehr wird die Totalität des Gegenstandes der praktischen Selbstbestimmung thematisch. Dass das höchste Gut in der Kritik der praktischen Vernunft einen not­ wendigen Gegenstand der praktischen Vernunft, mithin der moralischen Selbstbestimmung und Praxis darstellt, ist in der Rezeption nicht unumstrit­ ten. Für eine solche Interpretation sprechen sich in der (angelsächsischen) Tradition von John Silber an prominenter Stelle auch Wood, Yovel, Zeldin und Mariña aus, während beispielsweise Beck, Murphy und Auxter den Standpunkt vertreten, dass der Begriff des höchsten Guts weitgehend überflüssig für die Moralphilosophie ist und überwiegend theologischen Zwecken dient.285 In direkter Berufung auf KpV, A 194, wird hier aber der erste Interpretationsstrang vertreten. Die besagte Unterscheidung zwischen dem Bestimmungsgrund und Gegenstand ist sowohl für die Theorie des höchsten Guts als auch für die Kritik der praktischen Vernunft im Allgemeinen von größter Bedeutung und zwar so sehr, dass Kant zu Beginn der Dialektik und im Vorfeld der eigentlichen Erörterung des höchsten Guts diesen Unterschied nochmal eigens hervor­ hebt: „Das moralische Gesetz ist der alleinige Bestimmungsgrund des reinen Willens“ während das höchste Gut den ganzen „Gegenstand einer reinen prak­ tischen Vernunft“ darstellt und streng vom Bestimmungsgrund des morali­ schen Willens unterschieden werden muss. (KpV, A 196) Es ist bedauerlich, dass Kant an dieser Stelle darauf verzichtet eine Handlungstheorie zu entwickeln, die diesen Unterschied deutlich zum Ausdruck zu bringen vermöchte, so dass die Auseinandersetzung mit dem höchsten Gut jederzeit von der Schwierigkeit, die er durch die klare Benennung dieses Unterschieds vermeiden will, durchdrungen ist, und die darauf beruht, dass gerade in Ermangelung einer ausdifferenzierten Handlungstheorie der Gegenstand der willentlichen Selbstbestimmung zugleich (irreführend) als Bestimmungsgrund des Willens aufgefasst wird. Wenn man bedenkt, was in den heutigen Debatten alles als „Grund“ anerkannt wird, ist die entspre­ 285 Vgl.: Mariña, J. 2000: Making Sense of Kant’s Highest Good. In: KS 91. 342.

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chende Verwirrung leicht nachzuvollziehen. Doch obgleich das höchste Gut, das auch in der Kritik der praktischen Vernunft als proportionierte Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit konzipiert ist, die Totalität des Gegenstandes,286 also eine inhaltliche Bestimmung des moralischen Willens und der morali­ schen Selbstbestimmung darstellt – Kant also mitnichten den moralischen Formalismus vertritt, der ihm vielfach vorgeworfen wurde287 – muss zwischen dem Gegenstand und dem Bestimmungsgrund, also dem entscheidenden Handlungsmotiv unterschieden werden. In der Tradition von Düsing288 betont auch Albrecht, ähnlich wie Zobrist, Schmitz, Albrecht, Herceg und Andere,289 mehrfach, dass das höchste Gut in der Kritik der praktischen Vernunft nicht mehr, wie in der Kritik der reinen Vernunft, als „Triebfeder“ verstanden wer­ den darf, denn die moralischen Gesetze sind in der zweiten Kritik bereits aufgrund der Lehre vom Faktum der Vernunft wesentlich mehr als „leere Hirngespinste“ (Vgl.: KrV, B 839) und bloße „Gegenstände der Bewunderung und des Beifalls“ (Vgl.: KrV, B 841).290 Ihre Normativität entspringt aus der freien Selbstbestimmung der Vernunft, nämlich formal nach dem kategori­ schen Imperativ und ohne Rücksicht auf materiale Aspekte. Sofern hier noch von dem höchsten Gut als Bestimmungsgrund die Rede ist, so nur darum, weil der darin enthaltene Primat der Sittlichkeit das Handeln aus Pflicht impliziert,

286 Vgl.: Düsing, K. 2010: Kritik der Theologie und Gottespostulat bei Kant. In: N. Fischer/ M. Forschner (Hg.): Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants. 64. 287 Vgl.: Düsing, K. 2010: Glück und Lebenssinn in Kants Moraltheologie. In: J. Disse/ B. Goebel (Hg.): Gott und die Frage nach dem Glück. Anthropologische und ethische Perspektiven. 211. 288 Düsing, K. 1971: Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie. KS 62. 289 Vgl.: Zobrist, M. 2008: Kants Lehre vom höchsten Gut und die Frage moralischer Motivation. In: KS 99. (285–311) ; Herceg, J. S. 2000: Die Bedeutung der Religion in Kants Moralphilosophie. Eine entwicklungsgeschichtliche Untersuchung. 4ff.; Schmitz, H. 1989: Was wollte Kant?. 84 ff., 87ff., 100ff.; Albrecht, M. 1978: Kants Antinomie der praktischen Vernunft. 290 Ob und inwiefern das höchste Gut in der KrV tatsächlich die Funktion besitzt, die ihm von den genannten Autoren zugesprochen wird, ist eine Frage für sich. Susanne Weiper beispielsweise äußert sich kritisch hierzu. Vgl.: Weiper, S. 2000: Triebfeder und höchstes Gut: Untersuchungen zum Problem der sittlichen Motivation bei Kant, Schopenhauer und Scheler. 101 f.. Entscheidend ist sicherlich die Frage, ob Kants Antwort auf die Frage, was zu tun sei, nämlich dies wodurch man des Glückes würdig wird, ähnlich interpretiert werden kann, wie das höchste oberste Gut, mithin der Primat der Sittlichkeit im höch­ sten Gut in der KpV. Aber man kommt nicht umhin anzuerkennen, dass Formulierungen, wie ‚bloße Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung‘, zugunsten der Düsing’schen Interpretation sprechen.

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also das moralische Gesetz, das den objektiven Bestimmungsgrund des Willens darstellt, zugleich auch Triebfeder der menschlichen Willkür darstellt.291 Grundzüge der Handlungstheorie in der Kritik der praktischen Vernunft in Abgrenzung von Hegel Kant vertritt den Standpunkt, dass die freie, moralische Selbstbestimmung, die auf der Grundlage der praktischen Vernunft erfolgt, ein Moment bein­ haltet, das als Bestimmungsgrund bezeichnet wird, darüber hinaus die Tat selbst und nicht zuletzt den Gegenstand umfasst. Diese Begriffe in das gän­ gige Vokabular der beispielsweise hegelschen292 oder seit Davidson geläu­ figen Handlungstheorie zu übersetzen, also beispielsweise von Vorsatz und Absicht zu sprechen, oder auf Gründe zu konzentrieren, ist nach meinem Dafürhalten nicht dringlich. Auch ist die Frage, ob innerhalb der Totalität all dessen, was als Veränderung in der Welt durch die Bewegung des Leibes eines Subjekts geschieht, eben diese Totalität als Tat und nur dasjenige, was vor­ sätzlich erfolgte, was also gewusst und gewollt wurde, als Handlung bestimmt wird, oder umgekehrt, die Totalität als Handlung, aber nur das vorsätzlich Bewirkte als Tat bestimmt wird, beliebig. Man muss lediglich wissen, dass Kant, anders als Hegel und die meisten Hendlungstheoretiker, den Ausdruck „Tat“ verwendet, um die bewusste willentliche Selbstbestimmung des Subjekts zu bezeichnen.293 Und da sich das autonome Moment und die Spontaneität dieser Selbst-Bestimmung als Fähigkeit nach Gesetzen der Freiheit tätig zu werden, auszeichnet, (vgl. Punkt 1.2, insbesondere 1.2.3 oben) ist die Tat, Kants Ausführungen in der MS zufolge, „eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht, folglich auch, sofern das Subjekt in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird.“ (MS, AB 22). Ähnlich äußert er sich in der Tugendlehre: „. . . die innere Zurechnung aber einer Tat, als eines unter dem Gesetz stehenden Falles (in meritum ad demeritum) gehört zur Urteilskraft . . .“ (MS, A 98f.). In diesem Sinne hält auch Stekeler-Weithofer in 6.3.1

291 Vgl.: Zobrist 2008, 294 ff.. 292 Weil das die erste elaborierte Handlungstheorie in der nachkantischen Philosophie ist. 293 Dies tut er allerdings nicht ganz konsequent, den es findet sich beispielsweise in der Kritik der reinen Vernunft, nämlich im Zusammenhang mit dem Verhältnis des empirischen und intelligiblen Charakters zueinander die folgende Formulierung: „Bisweilen aber finden wir, oder glauben wenigstens zu finden, daß die Ideen der Vernunft wirklich Kausalität in Ansehung der Handlungen des Menschen, als Erscheinungen, bewiesen haben, und daß sie darum geschehen sind, nicht weil sie durch empirische Ursachen, nein, sondern weil sie durch Gründe der Vernunft bestimmt waren.“ (KrV, B 578) Man sieht also, dass Kant hier im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Menschen, die durch Vernunftgründe bestimmt ist, von Handlungen spricht.

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Berufung auf Kants Ausführungen in der Metaphysik der Sitten, Einleitung, AB 33,294 fest: Wenn wir nun wissen, daß wir Gründe (die durchaus nicht immer nur rechtlich-moralisch zu sein brauchen, sondern auch technisch-pragma­ tischer Natur sein können) für eine Entscheidung zwischen möglichen Handlungen explizit erwägen sollten, um auf ihrer Basis zu handeln, spricht Kant von einer (freien und daher im Rahmen des vorhersehbaren zu verantwortenden) Tat.295 Dagegen erkennt beispielsweise Hegel nur denjenigen Bereich der Tat, der als Ausdruck des (in erster Linie) moralischen Willens vom Akteur eigens gewusst und gewollt wird, als Handlung an, (Enz. § 503);296 und in Bezug auf die Frage der Verantwortung hält er in § 504 fest, dass der Akteur nur an demjenigen Bereich der Tat, der vorsätzlich erfolgt und darum als Ausdruck der eigenen moralischen Selbstbestimmung anerkannt wird, die moralische Schuld trägt. Vom Vorsatz unterscheidet er die Absicht, da diese nicht bloß die Anerkennung einer bestimmten Tätigkeit als Ausdruck der eigenen wil­ lentlichen Selbstbestimmung darstellt, sondern die Totalität all dessen, was bewirkt werden soll, umfasst. Da nämlich jede beliebige Handlung in zahl­ reiche Einzelhandlungen zerteilt werden könnte, indem beispielsweise die Brandstiftung aufgeteilt wird in eine Handlung, in der sich der Akteur ein Feuerzeug kauft, eine andere, in der er beispielsweise einen Brandbeschleuniger kauft, eine dritte, in der er ein beliebiges Gebäude betritt, eine vierte, in der er den Brandbeschleuniger verteilt, eine fünfte, in der er das Feuerzeug anzünden, eine sechste, in der er das Feuerzeug fallen lässt, so dass all diese Handlungen im Einzelnen nichts moralisch Verwerfliches enthalten, – da also die Brandstiftung in diese Teilhandlungen zergliedert werden könnte, muss sowohl dem Akteur als auch Jedem, der diese Handlung beurteilt, die Fähigkeit zugesprochen werden, die Totalität des entsprechenden Zusammenhangs als Absicht zusammenzufassen. (Enz. § 506 f.) Der Vorsatz betrifft also insbeson­ dere die Anerkennung einer bestimmten Veränderung der Zustände in der Welt als Ausdruck der eigenen willentlichen Selbstbestimmung, die Absicht aber den Zusammenhang und die Einheit dessen, was bewirkt wird. Die Absicht ist auch nicht identisch mit dem Zweck, denn der Gedanke, den sie 294 „Tat heißt eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht, folglich auch, sofern das Subjekt in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird.“ 295 Stekeler-Weithofer 1990. 311. 296 Hegel G.W.F. 1830: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse.

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bezeichnet, betrifft nicht die Frage des Zwecks, sondern den Zusammenhang der gesamten Tätigkeit und den Zusammenhang dessen, was dadurch bewirkt werden soll. Es scheint vor diesem Hintergrund auf den ersten Blick, allerdings auch nur auf den ersten Blick, naheliegend, die Rede von Vorsatz und Absicht auf den Bestimmungsgrund und den Gegenstand der willentlichen Selbstbe­ stimmung zu übertragen und zu überlegen, ob Kants Verständnis vom Bestim­ mungsgrund des Willens der hegelschen Theorie von Vorsatz und Kants Theorie vom Gegenstand der moralischen Selbstbestimmung möglicherweise der hegelschen Theorie der Absicht entspricht. In Bezug auf das Verhältnis, das die entsprechenden Momente zur tatsächlichen raumzeitlichen Tätigkeit, also zur Bewegung des Körpers in Raum und Zeit einnehmen, lassen sich die entsprechenden Parallelen durchaus beobachten. Der entscheidende Unter­ schied zwischen dem Vorsatz und dem Bestimmungsgrund besteht aber darin, dass der Vorsatz die Fähigkeit des Subjekts bezeichnet, einen gegebenen Wil­ lensinhalt als Ausdruck der eigenen freien Selbstbestimmung anzuerkennen und in die Tat umzusetzen. Man könnte mit einiger Berechtigung behaup­ ten, dass die Ergreifung der Tat den eigentlichen Akt der Anerkennung eines gegebenen Gegenstandes als Inhalt der willentlichen Selbstbestimmung und somit die eigentliche Manifestation des vorsätzlichen Handelns darstellt. Da der Vorsatz nämlich zum Ausdruck bringt, dass ein bestimmter Gegenstand als Inhalt der eigenen willentlichen Selbstbestimmung anerkannt wird, dass er als solcher gewusst und gewollt wird und infolgedessen auch in der Hand­ lung geäußert werden soll, lässt sich im Rückblick ebenso sagen, dass die eigentliche Handlung den Vorsatz manifestiert, indem sie die tatsächliche Äußerlichkeit des gegebenen Willensinhalts darstellt. Der Vorsatz enthält der hegelschen Theorie entsprechend insbesondere das Moment der Anerken­ nung des Gegenstandes als Ausdruck des eigenen Willens eines Akteurs, also aus der Perspektive der ersten Person die so genannte „Meinigkeit“ desselben, nämlich die Anerkennung, dass dies in der Tat mein eigener Wille sei. Für die Theorie der moralischen Selbstbestimmung, die an der gegebener Stelle von Hegel konzipiert wird und in deren Rahmen die Theorie der Handlung ein untergeordnetes Moment darstellt, ist diese Abgrenzung der vorsätzli­ chen Handlung innerhalb des gesamten Rahmens möglicher Veränderungen, die der Leib eines Akteurs in der Welt bewirkt, nämlich der Tat, von größter Bedeutung. Zugleich könnte derselbe Akt der Anerkennung auf die Frage hin untersucht werden, welche Funktion er innerhalb des Prozesses der freien Selbstbestimmung, durch die ein beliebiges Motiv zum Bestimmungsgrund des Willens wird, besitzt. Es könnte angenommen werden, dass die Anerken­ nung eines Motivs als Ausdruck seines eigenen Willens dazu beiträgt, dass

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dies in der Handlung verwirklicht wird. Demnach könnte man sagen, dass ein Motiv zum Bestimmungsgrund des Willens wird, sofern es in den Vor­ satz des Akteurs übergeht, also – im kantischen Vokabular – zur Triebfeder der menschlichen Willkür wird. Aber wie dem auch sei: sobald die Handlung erfolgt, stellt sie ein Zeugnis dafür dar, dass das entsprechende Motiv in den Vorsatz übergegangen ist und somit den Bestimmungsgrund des Willens dar­ stellt bzw. dargestellt hat. Diese Bedeutung der Handlung als Ausdruck der eigentlichen Anerkennung eines bestimmten Willensinhalts bzw. als Aus­ druck der eigenen freien Selbstbestimmung hebt Stekeler-Weithofer297 bereits im Zusammenhang mit dem Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft in der Phänomenologie des Geistes hervor, das er als Allegorie für das Verhältnis von Verstand und Leib interpretiert und dabei betont, dass der Leib, der die Hand­ lung ausführt, die eigentliche Anerkennung des gegebenen Gegenstandes als Inhalt der eigenen willentlichen Selbstbestimmung vollzieht, und dass das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft, das sich ursprünglich zugunsten des Verstandes zu entwickeln versprach, deswegen in die Dominanz des Leibes übergeht.298 Nun, dieser Akt der Anerkennung eines beliebigen Gegenstandes, als Ausdruck der eigenen willentlichen Selbstbestimmung durch die konkrete Umsetzung in der Handlung, dokumentiert jedenfalls die motivierende Kraft des entsprechenden Willensinhalts also die Tatsache, dass er eine bewegende Ursache des Willens, mithin einen Bestimmungsgrund des Willens dargestellt hat. Hegels Theorie der Handlung zeichnet sich demnach durch das Bewusst­ sein dafür aus, dass das Subjekt als reflektierender Wille durchaus imstande ist, ein entsprechendes reflektiertes Verhältnis zu seinen eigenen Willensinhalten einzunehmen und diese entweder als Ausdruck der eigenen freien Selbstbe­ stimmung anzuerkennen, oder ihnen die entsprechende Anerkennung zu ver­ weigern. Die Anerkennung eines bestimmten Willensinhalts als Ausdruck der eigenen freien Selbstbestimmung entspricht aber dem Vorsatz. Dadurch wird der entsprechende Willensinhalt eben als dasjenige, „was gewusst und gewollt wurde“ anerkannt. Dagegen betrifft Kants Theorie vom Bestimmungsgrund des Willens mit­ nichten die Frage, ob ein Subjekt einen gegebenen Willensinhalt als Ausdruck der eigenen freien Selbstbestimmung anerkennt, sondern vielmehr die Frage, durch welche Triebfeder die Willkür in Bewegung gesetzt wird und dazu 297 Stekeler-Weithofer 2004. 298 Zur Dialektik von Selbstbestimmung und Selbstverpflichtung vgl.: Josifovic, S. 2013: The Dialectic of Normative Attitudes in Hegel’s Lordship and Bondage. In: Recognition – German Idealism as an Ongoing Challenge. C. Krijnen. Leiden / Boston: Brill 2013 (Critical Studies in German Idealism)

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bestimmt wird, eine Handlung zu ergreifen. Im weitesten Sinne könnte man die Triebfeder als Grund für die Ergreifung der Tat ansehen. Der entscheidende Unterschied zwischen der Triebfeder als Bestimmungsgrund des Willens und der Theorie vom Vorsatz als Ausdruck desjenigen, was im Rahmen der freien Selbstbestimmung gewusst und gewollt wird, besteht darin, dass die Triebfeder dem Subjekt nicht notwendigerweise mit Bewusstsein verfügbar sein muss. Es ist sehr wohl möglich, dass der Wille durch Antriebe bestimmt wird, beispiels­ weise durch Antriebe der Sinnlichkeit, also Stimuli, die ihm in dem Augenblick ihrer Wirksamkeit überhaupt nicht bewusst sind. Nichtsdestoweniger kann der Wille infolge dieser Wirksamkeit durchaus in Bewegung gesetzt wer­ den und es ist sogar möglich, dass das Subjekt die entsprechende Handlung ergreift und den Willensinhalt realisiert. Man erkennt aber sogleich, dass die entsprechende Willensstruktur einen beachtlichen Mangel im Hinblick auf die Theorie der Freiheit als kontrollierte willentliche Selbstbestimmung besitzt, denn sofern dem tätigen Subjekt die wirkende Ursache, also der Bestimmungsgrund seines Willens nicht bewusst und damit auch nicht ver­ fügbar ist, ist es durch denselben zur Tat getrieben, hat sich aber nicht ent­ sprechend selbst bestimmt. Im Hinblick auf die hier thematische Theorie der moralischen Selbstbestimmung sind die Schwierigkeiten noch größer, denn das Faktum des Sittengesetzes zeichnet sich bei uns Menschen aufgrund des uns gegebenen Phänomens der Willensschwäche eben nicht dadurch aus, dass es uns mit bewusstloser Notwendigkeit zur Tat antreibt. Das Sittengesetz, das den „objektiven Bestimmungsgrund“ des Willens darstellt, stellt also nicht notwendigerweise eine Triebfeder, also einen subjektiven Bestimmungsgrund der menschlichen Willkür dar. (KpV, A 126 f.) Wäre dies der Fall, würden wir Kants Vorstellung von heiligen Wesen entsprechen. Wir sind aber durchaus imstande, aus Achtung vor dem Sittengesetz zu handeln, also von uns als ver­ nünftige Wesen als Ausdruck unserer freien Selbstbestimmung anerkannte Willensinhalte durch die Aktualisierung moralischer Handlungsschemata zu verwirklichen, und zwar um der moralischen Praxis willen. Der Begriff vom Bestimmungsgrund des Willens, der im Kontext der Theorie des höchsten Guts in der Kritik der praktischen Vernunft thematisch ist, zeichnet sich näm­ lich durch zweierlei Charakteristika aus: erstens wissen wir genau, dass es nur einen einzigen Bestimmungsgrund des Willens gibt, der im Rahmen dieser Theorie anerkannt wird, nämlich das moralische Gesetz, und zweitens sind wir aufgrund des Phänomens der Willensschwäche dessen gewahr, dass das Bewusstsein des Sittengesetzes und unsere Bereitschaft, aus bloßer Achtung vor demselben auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln, ein entscheiden­ des und irreduzibles Moment der moralischen Selbstbestimmung kantischer Prägung darstellen. Demnach wird die Frage nach der moralischen Motivation

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von Kant auf eine spezielle Art und Weise beantwortet, nämlich durch Freiheit. Die Anerkennung eines gegebenen Willensinhalts als Ausdruck unserer freien Selbstbestimmung, ebenso wie die Wahl der Mittel zu seiner Hervorbringung, also die Entscheidung für die Ergreifung bestimmter Handlungsmuster, kann aus eigener Freiheit nach moralischen Gesetzen erfolgen. Genau genom­ men stellt dies den Kern der kantischen Freiheitstheorie dar und jede andere Form der freien Willkür stellt nur einen abkünftigen Modus dieser Freiheit dar. Das Subjekt ist also durchaus imstande, zu entscheiden, ob es das moralische Gesetz zur Triebfeder der eigenen Willkür machen will. Kant vertritt in diesem Zusammenhang mitnichten einen moralischen Intellektualismus, also die Idee, dass die Einsicht in die Gültigkeit des Sittengesetzes notwendigerweise die moralische Praxis bedingt. Er geht vielmehr davon aus, dass die eigentliche moralische Motivation, also die Entscheidung zur Aktualisierung bestimm­ ter Handlungsschemata aus Achtung vor dem Sittengesetz, für menschliche Akteure zwar möglich ist, mitunter auch mit einer gewissen Überwindung, Anstrengung, oder sogar mit gewissen Opfern verbunden ist, dass aber dieser Akt der Anerkennung des eigenen moralischen Wesens einen Ausdruck der Freiheit darstellt und den Menschen als moralische Persönlichkeit auszeich­ net. Die Frage der moralischen Motivation darf also nicht so weit gehen, dass der Begriff des Motivs als den Willen determinierend und die Freiheit ein­ schränken verstanden wird. Der Übergang des moralischen Gesetzes in die Triebfeder der menschlichen Willkür stellt jederzeit einen Ausdruck der freien Anerkennung des moralischen Wesens durch den einzelnen menschlichen Akteur dar und gilt darum auch als Ausdruck seiner eigenen Tugendhaftigkeit. Da das moralische Gesetz aber nicht unbewusst als Triebfeder wirksam wer­ den kann, muss die entsprechende Anerkennung bewusst erfolgen und somit in den Vorsatz übergehen. Moralische Praxis ist demnach nur vorsätzlich möglich. Insofern besitzt die spezielle Art des Bestimmungsgrundes des morali­ schen Willens durchaus eine gewisse Parallele zur Theorie des Vorsatzes, indem die menschliche Willkür in ihrer Beliebigkeit zwar auch durch Bestimmungsgründe bewegt werden kann, die dem Bewusstsein nicht verfüg­ bar sind, der moralische Wille dagegen nur aus Achtung vor dem Sittengesetz, also nur aus Pflicht bewegt wird. Die Bewegung des Willens aus Pflicht impli­ ziert aber das Bewusstsein der Pflicht und kann also nur vorsätzlich erfolgen.299 Für die Beurteilung der Moralität einer Handlung ist dies von großer Bedeutung, denn demnach wäre es zwar möglich, dass ein beliebiger Akteur unbewusst pflichtgemäß handelt, niemals aber kann er unbewusst aus Pflicht 299 Vgl.: Pollok 2007, 60.

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handeln, seine Handlung/Tat besäße in diesem Fall zwar „Legalität“, nicht aber „Moralität“. (Vgl.: KpV, A 127) Wir können also festhalten, dass Kants Theorie der moralischen Selbstbestimmung das Bewusstsein der Pflicht als notwen­ dige Bedingung der Theorie vom Bestimmungsgrund des moralischen Willens voraussetzt, so dass in letzter Konsequenz eine bestimmte Art und Weise des Handelns in die Theorie des höchsten Guts integriert wird, nämlich die Handlung aus Pflicht, also aus bewusster Achtung vor dem Sittengesetz. Eine solche Handlungsweise zeichnet sich durch die Einheit des subjektiven und objektiven Bestimmungsgrundes aus. Wenn wir also, wie oben, zwischen dem Bestimmungsgrund, der Tat und dem Gegenstand der willentlichen Selbstbestimmung unterscheiden, kön­ nen wir in Berufung auf KpV, A 196 festhalten, dass sich die Theorie vom Bestimmungsgrund des moralischen Willens, der dem höchsten Gut zugrunde liegt, auf die Achtung vor dem Sittengesetz konzentriert. Dieser moralische Wille, unterscheidet sich nämlich insofern von dem breiten Spektrum der menschlichen Willkür, als er die idealtypische Willensstruktur bezeichnet, die der praktischen Freiheit zugrunde liegt und durch das moralische Gesetz bestimmt wird, wogegen die menschliche Willkür nicht notwendigerweise durch das moralische Gesetz bestimmt wird, sondern nur insofern das morali­ sche Gesetz tatsächlich zur Triebfeder wird. Um die Theorie des Bestimmungsgrundes des moralischen Willens vom Gegenstand der moralischen Selbstbestimmung zu unterscheiden, ist es hilf­ reich, auf Kants Erörterungen in der Analytik der reinen praktischen Vernunft zurückzugreifen und daran zu erinnern, dass Kant in den §§ 4–7 betont, dass alle Grundsätze, die der Materie nach bestimmt sind (§ 4, also: KpV, 48 f.), bestenfalls Maximen, aber niemals praktische Gesetze sein können, woge­ gen sich die Willensstruktur, die eigentlich als moralisch bezeichnet wird, gerade dadurch auszeichnet, dass der Wille ungeachtet aller materiellen Bestimmungen, durch die „bloße gesetzgebende Form“ bestimmt werden kann. (§ 5: KpV, 51 f.) Ich erwähne dies nicht um der Formalismus-Debatte in die Hand zu spielen, sondern um deutlich zu machen, dass zwischen dem Bestimmungsgrund und dem Gegenstand des moralischen Willens ein struk­ tureller Unterschied besteht, der von Kant insbesondere im dritten Lehrsatz. § 4, eigens ausgeführt wird: Nun bleibt von einem Gesetze, wenn man alle Materie, d. i. jeden Gegenstand des Willens (als Bestimmungsgrund) davon absondert, nichts übrig als die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung. Also kann ein vernünftiges Wesen sich seine subjektiv-praktischen Prinzipien d.i. Maximen entweder gar nicht zugleich als allgemeine Gesetze denken,

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oder es muss annehmen, dass die bloße Form derselben, nach der jene sich zur allgemeinen Gesetzgebung schicken, sie für sich allein zu prakti­ schen Gesetze mache. (KpV, A 48 f.) Demnach eignen sich eigentlich nur diejenigen Maximen, die in Absehung jeglicher gegenständlichen Bestimmung des Willens gegeben sind, als mora­ lische Gesetze. Die materielle Bestimmung des Willens, also die Ausrichtung auf einen bestimmten Gegenstand, stellt daher keinesfalls einen integra­ len Bestandteil der Theorie vom Bestimmungsgrund des Willens dar, son­ dern vielmehr ein daraus auszuschließendes Problem. Jede Bewegung des Willens, die auf einen bestimmten Gegenstand gerichtet ist, ist der Materie nach bestimmt und der Akteur handelt in solchen Fällen bestenfalls pflicht­ gemäß, „legal“. Dagegen handelt er nur in solchen Fällen, in denen er unge­ achtet des Gegenstandes der willentlichen Selbstbestimmung ein bestimmtes Handlungsschema nur aus Achtung vor dem Sittengesetz ergreift, aus Pflicht, also „moralisch“. „Das Wesentliche allen sittlichen Werts der Handlungen kommt darauf an, daß das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimme.“ (KpV, A 126). Illustrieren lässt sich dies leicht am Beispiel der Nothilfe: Wenn ein guter Schwimmer unter guten Witterungsbedingungen beobachtet, dass eine Person (vielleicht aufgrund eines Schwächeanfalls, Krampfes etc.) zu ertrinken droht, und zur Hilfe eilt, kann er dies aus verschiedenen Gründen tun, aber seine Tat (Kant nennt dies nicht Handlung, sondern Tat) stellt nur dann einen Ausdruck der eigentlichen moralischen Freiheit dar, wenn er hilft, weil er den Grundsatz der Nothilfe achtet und weil ebendieser Grundsatz die Triebfeder seiner Handlung war. Exkurs: an dieser Stelle ist es vielleicht nicht unpassend, zu dem schein­ bar unauslöschlichen Mythos Stellung zu beziehen, dass die kanti­ sche Philosophie eine Art der Pflichterfüllung fordere, mit der keinerlei Wohlgefallen verbunden sein darf. Er stützt sich erstens auf die teilweise im feuilletonistischen Stil verfasste Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, eine Schrift, die ein berühmter deutscher Kantianer als „philosophisches Kinderbuch“ bezeichnet und die ich hier bewusst nirgendwo berücksich­ tige, zweitens aber auf eine punktuelle Interpretation der Pflichtethik in Berufung auf: „Pflicht! du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, . . .“ (KpV, A 154). Man muss sich allerdings vor der Einseitigkeit hüten, die durch eine radikalisierte Interpretation des Pflichtbegriffs ent­ steht und den Verdacht erweckt, dass jede Form der Pflichterfüllung, sofern der Akteur infolge derselben auch ein Wohlgefallen empfindet, durch eben

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dieses Wohlgefallen verunreinigt und sich aus demselben Grunde gleich moralisch disqualifiziert. Dass das überhaupt nicht im Sinne der kantischen Philosophie ist, erkennt man im Durchgang durch die entsprechenden Erörterungen in der Kritik der Urteilskraft, nämlich speziell in §§ 4f. und der entsprechenden Passagen in der Einleitung. Die Hervorbringung des Guten ist demnach durchaus mit einem gewissen Wohlgefallen verbunden. Es hat sich aber eben dieser Mythos eingeschlichen, der wohl am besten mit Hegels Figur des „psychologischen Kammerdieners“ bezeichnet werden kann, wodurch Hegel eine Haltung bezeichnet, welche alle großen Taten und Individuen damit klein zu machen und herabzuwürdigen versucht, daß sie Neigungen und Leidenschaften, die aus der substanziellen Wirksamkeit gleichfalls ihre Befriedigung fanden, sowie Ruhm und Ehre und andere Folgen, (. . .), zur Hauptabsicht und wirkenden Triebfeder der Handlungen umschafft; (RPH, § 124) und welche somit jederzeit, wenn ein Akteur, selbst wenn er in Wirklichkeit etwas Großes aus bloßer Achtung der Pflicht und aus bloßem Dienst an der Menschheit bewirkt, die Qualität dieser Handlung, insbesondere die moralische Qualität derselben, dadurch herabzuwürdigen versucht, dass sie betont, er habe ja selbst ein Wohlgefallen an der entsprechenden Handlung oder am Resultat empfunden oder sogar persönlich einen Vorteil dadurch erzielt und – das ist die spezielle Haltung des psychologischen Kammerdieners – unterstellt, er habe in Wirklichkeit überhaupt nicht aus Achtung vor dem Gesetz, sondern bloß aus eigener Geltungssucht handeln wollen. Dazu sagt Hegel: Solche Reflexion hält sich an das subjektive der großen Individuen, als in welchem sie selbst steht, und übersieht in dieser selbst gemachten Eitelkeit das Substanzielle derselben; – es ist die Ansicht „der psychologischen Kammerdiener, für welche es keine Helden gibt, nicht weil diese keine Helden, sondern weil jene nur die Kammerdiener sind“. (RPH, § 124. Das darin enthaltene Zitat stammt aus der Phänomenologie des Geistes.) Es ist meines Erachtens völlig in Kants Sinne, die Haltung des psycholo­ gischen Kammerdieners zu vermeiden und erstens einzusehen, dass es durchaus möglich ist, aus bloßer Pflicht zu handeln, zweitens selbst zu ver­ suchen, dies zu tun, drittens aber, anzuerkennen, dass selbst wenn man per­ sönlich den entsprechenden charakterlichen Mangel aufweist und unfähig ist aus bloßer Pflicht zu handeln, sondern nur imstande ist, den eigenen

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Nutzen zu verfolgen, andere Akteure durchaus in der Lage sind, aus Pflicht zu handeln, und dass man nicht die eigene charakterliche Schwäche für eine universelle Konstante hält. Darin ist aber das eigentliche Moment, auf das ich hier hinweisen will, enthalten, nämlich die Vorstellung des psycho­ logischen Kammerdieners, dass nichts aus bloßer Pflicht geschehen könne, in Verbindung mit der Vorstellung, dass sobald einem Akteur ein gewis­ ser Nutzen aus der Praxis entsteht, dieser Nutzen der Bestimmungsgrund oder „die wirkende Triebfeder der Handlung“ gewesen sein müsse. Kant unterscheidet konsequent zwischen den Beweggründen und den Folgen einer Handlung und hält es durchaus für möglich, dass jemand aus blo­ ßer Achtung vor dem Sittengesetz handelt und nach vollbrachter Tat ein Wohlgefallen an seinem Werk empfindet; die gesamte Theorie des höch­ sten Guts behandelt sogar die Frage, unter welchen Umständen ein Akteur berechtigt ist, die Befolgung der Pflicht mit der Hoffnung auf nichts gerin­ geres als die Erlangung der Glückseligkeit zu verbinden. Entscheidend ist jedoch die Beibehaltung des Unterschieds zwischen dem Beweggrund und dem Resultat. Um dies zu illustrieren, greife ich nochmal mein obiges Beispiel mit der Rettung des Ertrinkenden auf: Es ist durchaus möglich, dass der Retter deswegen zur Hilfe eilt, weil er sich durch die Rettung einen persönlichen Nutzen erhofft, beispielsweise wenn der Retter ein Kammerdiener ist, der die Hoffnung besitzt, dass er für die Rettung eines wohlhabenden Menschen eine materielle Belohnung erhält. Es ist aber ebenso gut möglich, dass ein Mensch ungeachtet seines Standes, seines Vermögens und seiner theoreti­ schen Bildung, aus bloßer Achtung vor dem Gesetz der Nothilfe ins Wasser springt, also darum, weil er einen Menschen in Not sieht und es zu seinen Grundsätzen zählt, einem Menschen in Not jederzeit, wenn es möglich ist, zu helfen. Wenn er die Hilfe geleistet hat, würden sowohl Hegel als auch Kant davon ausgehen, dass er an der vollbrachten Tat auch Wohlgefallen empfindet und betonen, dass dieses Wohlgefallen eigentlich ein Ausdruck des ausgereiften und gesunden moralischen Charakters darstellt und mit­ nichten die moralische Qualität der Handlung herabwürdigt. Vielmehr hätte man bedenken, wenn ein Mensch, der Gutes bewirkt, nicht imstande wäre, Wohlgefallen daran zu empfinden. Selbst wenn der Retter von dem Geretteten im Nachhinein eine fürstliche Belohnung für seine Tat erhält, ändert dies nichts an der moralischen Qualität seiner Hilfe in der Not. Der Mythos, von dem ich aber hier spreche, beruht auf der Haltung eines psychologischen Kammerdieners, der nicht imstande ist, zwischen dem Beweggrund und der Folge einer Tat zu unterscheiden und der jedes Mal, wenn

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eine Tat gewisse Folgen nach sich zieht, die für den Akteur vorteilhaft sind, die Ansicht vertritt, die Vorstellung dieser Folgen sei in Wahrheit die Triebfeder seiner Tat gewesen. Das ist aber nicht so. Vom Bestimmungsgrund des Willens ist jedenfalls der Gegenstand dessel­ ben zu unterscheiden, der im Grunde genommen jeden beliebigen Zweck der willentlichen Selbstbestimmung bezeichnen kann, ungeachtet dessen, ob er sich durch Antriebe der Sinnlichkeit oder durch andere Ursachen einstellt. Nun ist es aber für Kant ausgemacht, dass der Mensch als sinnliches Wesen notwendigerweise die Glückseligkeit anstrebt, während er als sittliches Wesen die Erreichung der Glückseligkeit nur durch die Aktualisierung bestimmter Handlungsschemata, die als Ausdruck der moralischen Selbstbestimmung gelten, anerkennt, so dass die Totalität des Gegenstandes seiner moralischen Selbstbestimmung in letzter Konsequenz die durch die eigene moralische Praxis bedingte eigene Glückseligkeit, also das höchste Gut darstellt. Der Gegenstand jedes beliebigen Aktes der Willkür ist also jeweils dasjenige, was in der Welt bewirkt werden soll und infolge dessen sich mitunter einzelne Glückszustände einstellen können, wogegen die Totalität des Gegenstandes der moralischen Selbstbestimmung auf das höchste Gut gerichtet ist. Es wird sich also zeigen, dass das höchste Gut die Totalität des Gegenstandes der moralischen Selbstbestimmung darstellt, dass es aber die darin enthaltene Glückseligkeit nur als Produkt der moralischen Praxis anerkennt und so wird innerhalb der Theorie des höchsten Guts in der Kritik der praktischen Vernunft die Priorität der Sittlichkeit vor dem Streben nach Glückseligkeit vertreten. Im Hinblick auf die Strukturanalyse des Willens, beziehungsweise der Handlung, bleibt aber festzuhalten, dass der Bestimmungsgrund und Gegenstand der willentlichen Selbstbestimmung voneinander unterschieden werden müssen, so dass der Bestimmungsgrund die Frage betrifft, wodurch der Wille in Bewegung gesetzt wird, während der Gegenstand die Frage betrifft, was insgesamt hervorgebracht werden soll. Speziell unter Beachtung dessen, dass die Theorie vom Bestimmungsgrund des Willens die Frage behandelt, nach wel­ chen Grundsätzen beziehungsweise Gesetzen, also durch die Aktualisierung welcher Handlungsschemata die willentliche Selbstbestimmung überhaupt erfolgen darf, wird es deutlich, dass die Theorie vom Bestimmungsgrund des Willens etwas ganz Anderes betrifft als die Frage des Gegenstandes, also dessen, was hervorgebracht werden soll: sie betrifft vielmehr die Frage auf welche Art und Weise und nach welchen Grundsätzen etwas überhaupt hervorgebracht wer­ den soll und auf welche Art und Weise nicht. Unter der Bedingung also, dass ein bestimmter Gegenstand unserer Willkür tatsächlich als Ausdruck unserer eige­ nen willentliche Selbstbestimmung anerkannt wird, bietet es sich an, zu erwä­ gen, welche Handlungen ergriffen werden können, um den entsprechenden

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Gegenstand hervorzubringen, also den entsprechenden Inhalt zu verwirkli­ chen. Aus dem gesamten Spektrum möglicher Handlungen werden allerdings nur diejenigen, die bestimmten zugrundeliegenden Handlungsschemata entsprechen, als moralisch anerkannt. Die Handlungsschemata, die hierbei zugrunde liegen, beruhen aber auf moralischen Gesetzen. Auf der Grundlage der moralischen Gesetze werden demnach Handlungsschemata generiert, die allein das Spektrum der willentlichen Selbstbestimmung moralischer Akteure ausmachen, und die Entfaltung der eigenen willentliche Selbstbestimmung durch die Aktualisierung gerade dieser Handlungsschemata macht nach Kants Verständnis eigentlich erst Freiheit möglich. Unsere freie Selbstbestimmung ist also nicht bloß durch die Wahl der Zwecke erschöpft, sondern auf ganz entscheidende Art und Weise von der Wahl der Mittel abhängig und unsere Freiheit in Abhebung von aller sinnlichen Abhängigkeit besteht gerade darin, dass wir imstande sind, zwischen der Qualität von Handlungsschemata zu unterscheiden, die zur Verwirklichung gegebener Zwecke geeignet oder nicht geeignet sind und dass wir innerhalb dieses Spektrums imstande sind, den­ jenigen, die auf der moralischen Autonomie beruhen, indem sie strukturell durch das moralische Gesetz bestimmt sind, Vorrang zu gewähren. Demnach muss man die bereits von Hermann Cohen300 formulierte Sorge, dass die Lehre vom höchsten Gut als Totalität des Gegenstandes der moralischen Praxis die Formalität des Sittengesetzes gefährde, nicht teilen, denn die Formalität des Sittengesetzes betrifft den Bestimmungsgrund des Willens und die Frage, ob der objektive Bestimmungsgrund auch als subjektiver Bestimmungsgrund anerkannt bzw. ob das moralische Gesetz die Triebfeder der Handlung dar­ stellt. Der Inhalt der Handlung bleibt dagegen hierdurch unbestimmt. Dies lässt sich erneut anhand des Beispiels von der Nothilfe für einen Ertrinkenden illustrieren: Die Frage, ob diese Handlung nur in legaler oder auch in mora­ lischer Hinsicht anerkannt wird, ob sie also nur pflichtgemäß oder aus Pflicht erfolgt ist, betrifft die Frage der Triebfeder; wogegen die inhaltliche Bestimmung der Tat, also ihr Gegenstand, die Rettung eines Ertrinkenden dar­ stellt. Dieselbe moralische Triebfeder ließe sich aber auch im Hinblick auf eine andere gegenständliche Bestimmung aktualisieren, beispielsweise im Falle der Ersten Hilfe für ein Unfallopfer. Im Hinblick auf die Triebfeder wären die beiden Handlungen, nämlich die Rettung eines Ertrinkenden und die Erste Hilfe für ein Unfallopfer, identisch, denn in beiden Fällen könnte der Grundsatz der Nothilfe die alleinige Triebfeder des Tuns darstellen. Dagegen wären die

300 Cohen, H. 1910: Kants Begründung der Ethik nebst ihren Anwendungen auf Recht, Religion und Geschichte. 346 ff.

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beiden Handlungen im Hinblick auf ihre gegenständliche Bestimmung durch­ aus verschieden. Um die Thematik also wieder auf dasjenige zuzuspitzen, das für die Theorie des höchsten Guts von Bedeutung ist: die Theorie vom Bestimmungsgrund des Willens betrifft die Frage, durch die Aktualisierung welcher Handlungsschemata irgendwelche Zwecke verfolgt werden sollen, während die Theorie des Gegenstandes die Frage der Zwecke betrifft. Demnach wird die Theorie des höchsten Guts Auskunft darüber geben müssen, „worin das höchste Gut zu setzen, und zum Verhalten, durch welches es zu erwerben sei“. (KpV, A 194) Entscheidend ist also nicht nur die inhaltliche Bestimmung, die sich in der Glückseligkeit erschöpft, sondern zugleich die Praxis ihrer Hervorbringung. Im Mittelpunkt der Theorie der moralischen Selbstbestimmung steht also der Begriff des Willens, der das Vermögen darstellt, den Vorstellungen entsprechende Gegenstände hervorzubringen (KpV, A 29). Dass der Wille durch Antriebe der Sinnlichkeit modifiziert, also in Bewegung gesetzt wer­ den kann, steht für Kant außer Frage. Ebenso unstrittig ist die Frage, ob die empirisch bedingte, also pragmatische Vernunft, den Willen zu bestimmen vermag. Das Hauptanliegen der Kritik der praktischen Vernunft besteht darin, zu zeigen, dass über die Antriebe der Sinnlichkeit und die empirisch bedingte Vernunft hinaus, auch die reine praktische Vernunft imstande ist, den Willen zu bestimmen. Unter der Voraussetzung, dass dies möglich ist, können dreier­ lei Bestimmungsgründe des Willens unterschieden werden, nämlich Antriebe der Sinnlichkeit, die empirisch-praktische bzw. pragmatische Vernunft und die reine praktische Vernunft, wovon nur die dritte als Bestimmungsgrund der moralischen Freiheit im strengsten Sinne anerkannt wird und als integraler Bestandteil der Theorie des höchsten Guts gilt. Bereits im Kontext der Theorie des arbitrium liberum hat Kant eine entspre­ chende Unterscheidung denkbarer wirkender Ursachen vorgenommen, und zwar sowohl in der Kritik der reinen Vernunft, als auch in den Vorlesungen über die Metaphysik, wo er betont: Demnach ist das arbitrium humanum nicht brutum, sondern liberum. Dieses ist das arbitrium liberum, so fern es psychologisch oder prak­ tisch definirt wird. Allein dasjenige arbitrium, was durch gar keine stimulos necessitirt oder impellirt wird, sondern durch Motiven, durch Bewegungsgründe des Verstandes determinirt wird, ist das liberum arbitrium intellectuale oder transscendentale. (PM 182) Demnach zeichnet sich das spezielle Vermögen, das er als arbitrium liberum intellectuale bezeichnet, dadurch aus, dass es nicht durch Stimuli, sondern

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durch Motive bestimmt wird, also durch Bewegungsgründe des Verstandes und nicht durch Antriebe der Sinnlichkeit. Das arbitrium liberum kann näm­ lich, wie er an derselben Stelle zuvor betont hat, sowohl durch Antriebe der Sinnlichkeit als auch durch Motive des Verstandes bestimmt werden und es bleibt dabei, dass es sich in beiden Fällen um ein arbitrium liberum handelt, das vom arbitrium brutum unterschieden werden muss. Die hier thematische Unterscheidung betrifft aber die Binnenstruktur des arbitrium liberum selbst. Man könnte darum mit der gebotenen Vorsicht überlegen, ob die Theorie der Willensfreiheit, die in der Kritik der praktischen Vernunft entwickelt wird – unter der Voraussetzung, dass sie eine Fortführung oder Neugestaltung der Theorie der freien Willkür darstellt – im Grunde genommen eine Entfaltung und Vervollkommnung der Theorie des arbitrium liberum intellectuale dar­ stellt. Naheliegend ist jedenfalls, dass man, sofern man das Vokabular der Kritik der praktischen Vernunft in der Sprache der Vorlesungen über die Metaphysik und der darin vertretenen Vermögenslehre zum Ausdruck bringen möchte, für die Willensfreiheit wahrscheinlich am ehesten den Ausdruck arbitrium libe­ rum intellectuale verwenden müsste. Der Wille kann also (ebenso, wie die freie Willkür in den zuvor vertrete­ nen Theorien) durch zahlreiche Motive in Bewegung gesetzt, also bestimmt werden, aber innerhalb dieses Gesamtgefüges denkbarer Motive besitzt die Autonomie der Vernunft eine privilegierte Stellung, da sie diejenigen Gesetze erlässt, die die Grundstruktur der praktischen Freiheit überhaupt ausma­ chen und nach denen jeder einzelne empirische Willensinhalt als Ausdruck der moralischen Selbstbestimmung entweder anerkannt oder abgelehnt wird. Das handelnde Subjekt besitzt demnach das Vermögen, innerhalb des Gesamtgefüges gegebener Motive zu entscheiden, ob es der Vernunft die volle Gewalt über den Prozess der willentlichen Selbstbestimmung gewähren will oder nicht.301 6.3.2 Das höchste Gut als „Bestimmungsgrund“ des moralischen Willens Es ist ein wenig irritierend, dass Kant im Anschluss an die Feststellung, dass das moralische Gesetz den alleinigen Bestimmungsgrund des reinen Willens ausmache, am Ende desselben Kapitels explizit betont, dass das höchste Gut „zugleich der Bestimmungsgrund des reinen Willens sei“. (KpV, A 110 f.) Diese Irritation lässt sich allerdings sehr leicht auflösen, indem man dar­ auf verweist, dass Kant an dieser Stelle die Irreduzibilität des moralischen

301 Vgl.: Pollok, K. 2007: „Wenn Vernunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte“ – Über die gemeinsame Wurzel der kantischen Imperative. In: Kant-Studien 97, Heft 2. 74.

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Gesetzes als konstitutives Moment des höchsten Guts betont.302 Kant spricht davon, dass die Existenz des höchsten Guts zugleich Bestimmungsgrund des reinen Willens sei, nur darum, weil innerhalb des höchsten Guts selbst nicht bloß die Glückseligkeit, sondern auch die Sittlichkeit als oberste Bedingung der Hervorbringung der Glückseligkeit enthalten ist und weil somit die Ausrichtung des Willens auf das höchste Gut jederzeit die Selbstverpflichtung zur moralischen Praxis impliziert. Die moralische Praxis zeichnet sich aber dadurch aus, dass sie aus Pflicht, also aus bloßer Achtung vor dem Sittengesetz erfolgt, so dass letztendlich die Ausrichtung auf das höchste Gut zugleich die Selbstverpflichtung zur Bestimmung des Willens aus Achtung vor dem Sittengesetz voraussetzt. Nur in dieser Hinsicht kann vom höchsten Gut als Bestimmungsgrund des reinen Willens gesprochen werden, und andersrum: es muss vom höchsten Gut auch als Bestimmungsgrund des Willens gespro­ chen werden, denn das höchste Gut impliziert moralische Vollkommenheit und diese wiederum bezeichnet eine Praxis aus reiner Achtung vor dem Sittengesetz, also aus Pflicht. 6.3.3 Das höchste oberste und das höchste vollendete Gut Also muss im Rahmen einer Strukturanalyse des moralischen Willens kon­ sequent zwischen dem Bestimmungsgrund und dem Gegenstand derselben unterschieden werden und es wird festgehalten, dass die Vernunft bei ihrer Suche nach der Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten in praktischer Hinsicht zunächst „die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts“ aufsucht. (KpV, A 194, Hervorhebung im Original.) Die Zweideutigkeit, aus der sich die Irritation in Bezug auf den Bestimmungsgrund des Willens ergibt, betrifft aber den Begriff des „Höchsten“ im höchsten Gut, denn dieses Höchste kann ent­ weder als das Oberste (supremum) oder auch als das Vollendete (comsumma­ tum) aufgefasst werden. (KpV, A 198) Das höchste Gut entspricht dem Begriff des Höchsten in beiden Hinsichten, denn das, was im Ideal des höchsten Guts in der Kritik der reinen Vernunft zunächst als das höchste ursprüngliche Gut konzipiert wurde, also der in moralischer Hinsicht höchst vollkommene Wille, tritt im höchsten Gut der Kritik der praktischen Vernunft (selbstverständlich mit einigen Modifikationen) zunächst als das höchste oberste Gut auf und stellt 302 Vgl.: Düsing, K. 2010: Kritik der Theologie und Gottespostulat bei Kant. In: N. Fischer/ M. Forschner (Hg.): Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants. 64. Auch: Ders. 2010: Glück und Lebenssinn in Kants Moraltheologie. In: J. Disse/ B. Goebel (Hg.): Gott und die Frage nach dem Glück. Anthropologische und ethische Perepektiven. 210 f.

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die Bedingung der Möglichkeit, unter der das höchste vollendete Gut ange­ strebt und erreicht werden kann, dar. Das höchste oberste Gut ist nämlich die Tugend, also die vollkommene Entsprechung unserer Gesinnung zum morali­ schen Gesetz und diese Vollkommenheit der Moralität stellt in der Theorie des höchsten Guts in der Kritik der praktischen Vernunft „die oberste Bedingung all dessen, was uns nur wünschenswert scheinen mag, mithin auch aller unse­ rer Bewerbung um Glückseligkeit“. (KpV, A 198) In dieser Hinsicht stellt das höchste Gut also zugleich den Bestimmungsgrund des moralischen Willens dar, oder besser: es enthält die Forderung, dass der moralische Wille aus rei­ ner Achtung vor dem Sittengesetz bestimmt sei, als oberste Bedingung seiner strukturellen Beschaffenheit. Obgleich aber die vollkommene Entsprechung des Willens zum mora­ lischen Gesetz die oberste Bedingung des höchsten Guts darstellt, ist Kant gerade in Abgrenzung vom Ideal der Stoa der Ansicht, dass das höchste oberste mitnichten das höchste vollendete Gut darstellt, denn zur Vollendung dessel­ ben muss über die moralische Vollkommenheit hinaus noch die Glückseligkeit hinzu kommen. (KpV, A 198 f.) Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, (. . .) gar nicht zusammen bestehen. (KpV, A 199) Es wurde bereits in der zweiten Anmerkung zum zweiten Lehrsatz, A 45, fest­ gehalten, dass das Verlangen nach Glück ein notwendiger und unvermeidli­ cher Bestimmungsgrund des menschlichen Begehrungsvermögens sei. Hier, in der Theorie des höchsten Guts, wird dieser Notwendigkeit erneut entsprochen und es wird festgehalten, dass zwischen der Bemühung, sich durch vollkom­ men tugendhaftes Verhalten der Glückseligkeit würdig zu erweisen, und der Hoffnung auf Glückseligkeit ein auf der Vernunft gegründetes notwendiges Verhältnis der Hoffnung besteht, da es mit dem „vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte“ nicht vereinbar sei, glücksbedürftigen Wesen, die sich des Glückes als würdig erwiesen haben, dasselbe zu verweigern. Der oben zitierte Satz ist von zentraler Bedeutung für die Theorie des höchsten Guts, denn er enthält erstens einige entscheidende Aussagen über die zugrundeliegende Willensstruktur und zweitens enthält er das entscheidende Argument dafür, dass der moralische Wille nicht nur auf die Glückswürdigkeit, also die moralische Vollkommenheit, sondern auch auf die darauf beruhende Glückseligkeit ausgerichtet ist. Wenn wir also

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den Satz daraufhin befragen, was mit dem vollkommenen Wollen eines ver­ nünftigen Wesens, „welches zugleich alle Gewalt hätte“, gar nicht zusammen bestehen könne, erhalten wir die folgende Auskunft: (i) Der Glückseligkeit bedürftig zu sein, (ii) derselben auch würdig zu sein, (iii) ihrer aber dennoch nicht teilhaftig zu werden. Demnach wäre kein Problem darin enthalten, dass Wesen, die des Glückes überhaupt nicht bedürftig sind, keine Aussicht auf Glückseligkeit als Produkt vollkommener Moralität hätten. Noch weniger stellt es ein Problem dar, wenn Wesen, die des Glückes oder der Glückseligkeit zwar bedürftig, derselben aber überhaupt nicht würdig sind, keinerlei auf der Vernunft gegründete Hoffnung auf die Erlangung der Glückseligkeit besäßen. Dass aber Wesen, die der Glückseligkeit durchaus bedürftig sind, sich ihrer auch in der Tat als würdig erweisen – in welcher Welt auch immer – und derselben dennoch nicht teil­ haftig werden, kann von einem vernünftigen Wesen unter der Bedingung, dass es alles, was es bewirken will auch bewirken kann, zumindest aber unter der Bedingung, dass es wollen kann, was es wollen will, nicht vernünftigerweise gewollt werden. Nun ist aber, in Berufung auf die zweite Anmerkung zum zweiten Lehrsatz bereits ausgemacht, dass der Mensch ein glücksbedürftiges Wesen ist. Es fragt sich lediglich, ob er der Glückseligkeit auch würdig sei, bzw. unter welchen Bedingungen er die entsprechende Glückswürdigkeit erlangt. Dass er dies nicht ist, steht in der empirischen Welt, der „Sinnenwelt“, außer Frage und das Defizit ergibt sich aus der Abweichung seines Verhaltens gegenüber dem Ideal der moralischen Vollkommenheit. Auf der bloß deskriptiven Ebene, im Hinblick auf die empirische Welt, kann man also leicht festhalten, dass der Mensch der Glückseligkeit weder würdig noch teilhaftig ist. Die eigentliche Frage, der in der Theorie des höchsten Guts aber nachgegangen wird, besteht darin, zu erörtern, ob im Falle der vollkommenen Glückswürdigkeit überhaupt Hoffnung auf Glückseligkeit besteht. Formuliert man die oben genannten drei Punkte um, erhält man den Schluss, dass ein Wesen, das der Glückseligkeit bedürftig und derselben auch würdig ist, durchaus Anlass hat, vernünftigerweise auf die Erlangung der Glückseligkeit zu hoffen. Oder besser: dies muss vernünftigerweise gewollt werden, und zwar von einem Willen der auf der höchsten Vernunft gegründet ist und noch eine weitere Bedingungen erfüllt, die für mein spezielles Interesse von größter Bedeutung ist, nämlich indem er zugleich alle Gewalt hat, also die volle Erfolgskontrolle bei der Ausübung sei­ ner praktischen Freiheit besitzt. Die eigentliche Frage, die Kant hier erörtert,

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besteht also darin, ob ein solcher Wille, also ein Wille, der zugleich alle Gewalt hätte, und der vollständig auf der Vernunft gegründet sei, überhaupt wollen könne, dass Lebewesen, die der Glückseligkeit bedürftig und ihrer auch wür­ dig sind, derselben nicht teilhaftig werden. Die Antwort ist deutlich: Nein, ein solcher Wille, also ein Wille der erstens vollkommen vernünftig ist, zweitens volle Gewalt bei der Ausübung seiner Freiheit besitzt und bewirken kann, was er will, kann nicht vernünftigerweise wollen, das glücksbedürftigen Wesen im Falle ihrer Glückswürdigkeit das Glück verweigert wird – und zwar weder in Bezug auf sich selbst, noch auf andere des Glückes bedürftige Wesen. Wir sehen also, wie das höchste Gut auf notwendige Art und Weise in die Willensstruktur integriert wird, die der vollen Entfaltung der praktischen Freiheit in der Kritik der praktischen Vernunft zugrunde gelegt wird. Es wird gezeigt, dass ein entsprechender, moralischer Wille notwendigerweise die Einheit von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit wollen muss. In bloßer Berufung auf das obige Zitat ist es aber noch nicht möglich, vollständig einzuse­ hen, warum das nötig ist. Zwar ist das genannte Argument für sich bereits über­ zeugend, aber die vollkommene Einsicht in die entsprechende Notwendigkeit erhält man erst unter Beachtung der Definition von Glückseligkeit, die Kant in der Kritik der praktischen Vernunft vertritt, nämlich: „Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht“. (KpV, A 224) Ähnlich wie in der Kritik der reinen Vernunft, wo die Glückseligkeit als Befriedigung aller unserer Neigungen extensive, intensive und protensive definiert wurde, stellt sie nun einen Zustand dar, in dem einem vernünftigen Akteur alles nach Wunsch und Willen geht.303 Das obige Zitat aus A 199 erörtert aber die Frage, worin das vollkommene Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, besteht, und man wird leicht antworten können: Ein vollkommen ver­ nünftiges Wesen, das zugleich alle Gewalt hätte, würde sich und seinen Willen selbstverständlich jederzeit nach vollkommen vernünftigen Gesichtspunkten bestimmen, also vollkommen vernünftig handeln. Wenn es aber jederzeit vollkommen vernünftig handelt und die volle Gewalt hat, also die maximale Erfolgskontrolle bei der Ausübung der praktischen Freiheit besitzt, dürfen wir davon ausgehen, dass ihm jederzeit alles nach Wunsch und Willen geht. Die vollkommene Willensstruktur impliziert also ein notwendiges Verhältnis von vollkommener Vernünftigkeit (mithin moralischer Selbstverpflich­ tung) und vollkommener Glückseligkeit zumindest für die idealtypische 303 Vgl. hierzu: Düsing, K. 2010: Glück und Lebenssinn in Kants Moraltheologie. In: J. Disse/ B. Goebel (Hg.): Gott und die Frage nach dem Glück. Anthropologische und ethische Perepektiven.

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Willensstruktur, die der maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit zugrunde liegen muss.304 Die Frage ist nur, ob ein solcher, vollkommener Wille in Bezug auf andere bedürftige Wesen (Menschen) das entsprechende Verhältnis von Sittlichkeit und Glückseligkeit wollen muss, und Kants Antwort ist positiv: Ja, das muss ein solcher, nämlich allmächtiger und weiser, Wille wollen. Wir halten also fest, dass zum höchsten vollendeten Gut sowohl die Sittlichkeit als auch die Glückseligkeit gehören, dass aber die Sittlichkeit als Bedingung das höchste oberste Gut darstellt. (KpV, A 199) Dagegen stellt die Glückseligkeit ein Gut dar, „was dem, der sie besitzt, zwar angenehm, aber nicht für sich allein schlechterdings und in aller Rücksicht gut ist, sondern jederzeit das moralische gesetzmäßige Verhalten als Bedingung voraussetzt“ (KpV, A 199. Ähnlich auf: KpV, A 214)305 Strukturell hat sich im Vergleich zur Theorie des höchsten Guts in der Kritik der reinen Vernunft auf den ersten Blick nicht viel verändert, denn das höch­ ste Gut bleibt die proportionierte Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit und die Sittlichkeit bleibt die oberste Bedingung, unter der überhaupt die Glückseligkeit erhofft werden darf. Im Einklang mit der veränderten Theorie der Freiheit, also nicht mehr auf der Grundlage der freien Willkür (arbi­ trium liberum), die sich in der Fähigkeit, sich über gegebene Antriebe der Sinnlichkeit hinwegzusetzen, erschöpft, sondern auf der Grundlage des freien Willens, der aus der Autonomie der reinen praktischen Vernunft bestimmt werden kann, wird nun der Theorie des höchsten Guts zunächst einmal die Bestimmung der Willensstruktur voran geschickt, auf deren Grundlage das entsprechende Verhältnis von Sittlichkeit und Glückseligkeit überhaupt ver­ nünftigerweise gedacht und gewollt werden kann. Indem dieser Wille aber in transzendentalphilosophischer Hinsicht der freien Selbstbestimmung des moralischen Subjekts überhaupt zugrunde liegt und das Vermögen darstellt, den Vorstellungen dieses Subjekts entsprechende Gegenstände hervorzu­ bringen (Vgl.: KpV, A 29), wird die Theorie des höchsten Guts hier wesentlich 304 Im Unterschied zu Mariña 2000 bin ich der Ansicht, dass es sich hierbei, also im Hinblick auf den transzendentalen (sie sagt: transzendenten) Willen, nicht notwendigerweise um das Verhältnis von Sittlichkeit und Seligkeit, sondern tatsächlich um Sittlichkeit und (sinnlicher) Glückseligkeit handelt. Darauf gehe ich im Anschluss an meine Überlegungen zum Gottespostulat detailliert ein. 305 „. . ., daß also das oberste Gut (. . .) Sittlichkeit, die Glückseligkeit dagegen zwar das zweite Element desselben ausmache, doch so, daß diese nur die moralisch bedingte, aber doch notwendige Folge der Ersteren sei. In dieser Unterordnung allein ist das höchste Gut das ganze Objekt der reinen praktischen Vernunft, . . .“ (KpV, A 214)

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besser in die Theorie der freien Selbstbestimmung des Subjekts integriert, als in der Kritik der reinen Vernunft. Demzufolge beinhaltet die Theorie der praktischen Freiheit und des höchsten Guts in der Kritik der praktischen Vernunft grundsätzlich zweierlei Vorzüge gegenüber der entsprechenden Thematik in der Kritik der reinen Vernunft, indem erstens eine wesentlich engere Verbindung zwischen der Theorie der transzendentalen und prak­ tischen Freiheit hergestellt wird und zweitens das höchste Gut als Theorie von der Totalität des Gegenstandes des moralischen Willens wesentlich bes­ ser in die Rahmentheorie der auf der Autonomie der Vernunft gegründeten moralischen Selbstbestimmung des Subjekts integriert wird. Nachdem in den Eingangspassagen der Kritik der praktischen Vernunft die Frage gestellt und beantwortet wurde, ob und wie die reine Vernunft praktisch sein kann und wie sie den Willen aus eigener Spontaneität zu bestimmen vermag, wird nun der Prozess dieser freien Selbstbestimmung im Hinblick auf die Totalität ihres Gegenstandes untersucht. Diese Tätigkeit der freien Selbstbestimmung des vernünftigen Subjekts ist selbstverständlich jederzeit formal durch das Sittengesetz bestimmt, inhaltlich aber auf das höchste Guts ausgerichtet,306 worin wiederum die vollkommene Moralität die oberste Bedingung, die durch die Totalität der moralischen Praxis hervorgebrachte Glückseligkeit aber die Vollendung darstellt; und so ergibt sich unmittelbar die Frage, wie die beiden Momente der Totalität des Gegenstandes der auf der Vernunft beruhenden freien Selbstbestimmung, also die Sittlichkeit und Glückseligkeit zueinander stehen: ob ihr Verhältnis analytisch oder synthetisch ist, ob also die sittliche Praxis bereits Glückseligkeit in sich enthält, oder die Glückseligkeit erst durch die konkrete Praxis der Selbstbestimmung in der Welt hervorgebracht wird, also synthetisch zur Glückswürdigkeit hinzu kommen muss. 6.3.4

Das synthetische Verhältnis von Sittlichkeit und Glückseligkeit

Zwei in einem Begriffe notwendig verbundene Bestimmungen müssen als Grund und Folge verknüpft sein, und zwar entweder so, dass diese Einheit als analytisch (logische Verknüpfung) oder als synthetisch (reale Verknüpfung), jene nach dem Gesetze der Identität, diese der Kausalität betrachtet wird. (KpV, A 199 f.)

306 2010: Glück und Lebenssinn in Kants Moraltheologie. In: J. Disse/ B. Goebel (Hg.): Gott und die Frage nach dem Glück. Anthropologische und ethische Perepektiven. 211.

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Diese Passage enthält einige Informationen, die dem Kenner der kantischen Philosophie bereits Auskunft darüber geben, was er in der Fortführung des Gedankens zu erwarten hat: wir wissen, dass in der hier eröffnete Fragestellung das Grundproblem der Antinomie der praktischen Vernunft darstellt wird, die die Frage erörtert, ob die Begierde nach Glückseligkeit die Bewegursache der Maximen der Tugend, oder die Maxime der Tugend die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein muss. (KpV, A 204) Da wir aber im Rückblick auf die Antinomie der spekulativen Vernunft, also die Erörterung der Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft bereits gesehen haben, dass alle vier Formen des Widerstreits die regressive Synthesis auf der Grundlage der Kausalität erörtert, dürfen wir, sofern nicht explizit ein neues Argument eingeführt wird, erwarten, dass auch die Antinomie der praktischen Vernunft auf der Kausalität beruhen wird, was auch der Fall ist. Im Übrigen gibt bereits die Feststellung, dass zwei in einem Begriffe notwendig verbundene Bestimmungen als Grund oder Folge verknüpft sein müssen, Auskunft darüber, welche Kategorie zugrunde liegen muss, denn eine Verknüpfung von Grund oder Folge in der Zeit erfolgt nicht nach der Kategorie der Identität, sondern nach der Kategorie der Kausalität. Wenn dies aber so ist, und sich unsere Überlegungen auf das Kausalverhältniss zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit zuspitzen, und nun zunächst die Frage betreffen, ob das Verhältnis analytisch oder synthetisch ist, das analy­ tische Verhältnis aber nur eine logische Verknüpfung darstellt, die auf dem Gesetz der Identität beruht, das synthetische aber eine reale Verknüpfung der Kausalität nach darstellt, können wir antizipieren, wohin sich der Gedanke entwickelt: Kant nimmt selbstverständlich ein synthetisches Verhältnis an. Wir müssen nur sehen, warum das so ist, denn unsere berechtigte Erwartung bein­ haltet noch kein zwingendes Argument. Wenn die Verknüpfung von Sittlichkeit und Glückseligkeit analytisch wäre, würde man annehmen, dass „die Bestrebung, tugendhaft zu sein, und die vernünftige Bewerbung um Glückseligkeit nicht zwei verschiedene, son­ dern ganz identische Handlungen wären“. (KpV, A 200) Wir sehen: da es sich hier um die Strukturanalyse der freien Selbstbestimmung des vernünftigen, also moralischen Subjekts handelt, wird hier das Verhältnis zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit thematisch, aber unter der Bedingung und mit der Einschränkung, dass nur die „vernünftige Bewerbung um Glückseligkeit“ berücksichtigt wird. Da nämlich innerhalb der Theorie des höchsten Guts die Entsprechung zu moralischen Gesetzen jederzeit die oberste Bedingung bleibt, ist keinerlei „Bewerbung um Glückseligkeit“ mehr thematisch, sofern sie ohne Rücksicht auf das moralische Gesetz erfolgt. Aus ebendiesem Grund, nämlich weil innerhalb der Theorie des höchsten Guts das moralische Gesetz jederzeit die oberste Bedingung, also das höchste oberste Gut darstellt, ist

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jede Bestrebung zur Erreichung der Glückseligkeit, die nicht auf einer Praxis beruht, die wiederum allein durch das Sittengesetz bestimmt ist, bereits disqualifiziert. Wir werden darum im Folgenden sehen, auf welche Art und Weise sich Kant aus ebendiesem Grund von Epikur abgrenzt. Er grenzt sich von Epikur selbstverständlich auch dadurch ab, dass Epikur ein analytisches Verhältnis zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit, Kant aber ein synthe­ tisches annimmt, aber darauf komme ich sowieso gleich zu sprechen. Synthetisch ist die Verbindung dagegen unter der Bedingung, dass eines der beiden Momente in der realen Praxis das andere hervorbringt. Da aber die Sittlichkeit jederzeit die oberste Bedingung der freien Selbstbestimmung des moralischen Subjekts darstellt, und es uns nur um die Totalität des Gegen­ standes dieser moralischen Selbstbestimmung geht, besteht eine Tendenz, die Frage einseitig zuzuspitzen und unter der synthetischen Verknüpfung eine Verbindung zu verstehen, die darauf beruht, „daß Tugend die Glückseligkeit als etwas von dem Bewusstsein der ersteren Unterschiedenes, wie die Ursache eine Wirkung, hervorbringe“. (KpV, A 200) Kant vertritt durchaus ein synthetisches Verhältnis zwischen den Maximen der Sittlichkeit und der Bewerbung um Glückseligkeit, grenzt seine Position aber von zwei herausragenden Theorien der Philosophiegeschichte, die mit der jeweiligen Präferenz der Sittlichkeit oder Glückseligkeit ein analytisches Verhältnis zwischen diesen beiden Momenten angenommen haben, nämlich die Epikureer und Stoiker, ab. Der Epikureer sagte: sich seiner auf Glückseligkeit führenden Maxime bewußt sein, das ist Tugend; der Stoiker: sich seiner Tugend bewußt sein, ist Glückseligkeit. Dem ersteren war Klugheit soviel als Sittlichkeit; dem zweiten, der eine höhere Benennung für die Tugend wählte, war Sittlichkeit allein wahre Weisheit. (KpV. A 200) In beiden Fällen ist aber das analytische Verhältnis zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit durch die Identität der zugrunde liegenden Maxime gewährleistet. Der Begriff der Tugend lag nach dem Epikuräer schon in der Maxime, seine eigene Glückseligkeit zu befördern; das Gefühl der Glückseligkeit war dagegen nach dem Stoiker schon im Bewußtsein seiner Tugend ent­ halten. (KpV, A 202) Kant ist dagegen der Ansicht, dass das heroische Ideal der Stoiker den Menschen überfordert, während das Ideal der Epikureer seiner Natur als vernunftfähiges

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kapitel 6

Wesen nicht gerecht wird, ihn also unterfordert.307 Vor allen Dingen ist er aber der Überzeugung, dass die Annahme eines analytischen Verhältnisses zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit „dem dialektischen Geiste“ der antike entsprungen sei, die die Vertreter beider Schulen dazu verleitet habe, „wesentliche und nie zu vereinigende Unterschiede in Prinzipien dadurch auf­ zuheben, daß man sie in Wortstreit zu verwandeln sucht und so dem Scheine nach Einheit des Begriffs bloß unter verschiedenen Benennungen erkünstelt“ (KpV, A 201). Bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit handelt es sich aber nach Kants Dafürhalten um ein tatsächli­ ches Verhältnis der realen Hervorbringung, also Praxis, vor dem Hintergrund der Frage: „wie ist das höchste Gut praktisch möglich?“ (KpV, A 203), und mitnichten um einen bloßen Wortstreit. Da das höchste Gut die Totalität des Gegenstandes der freien Selbstbestimmung des moralischen Subjekts, mithin die Totalität des Gegenstandes seines Sollens darstellt, kann es sich mitnich­ ten in der bloßen Maxime der Moral erschöpfen, sondern muss in der Tat das synthetische Moment der Hervorbringung in der konkreten Praxis beinhal­ ten: „Es ist a priori (moralisch) notwendig, das höchste Gut durch Freiheit des Willens hervorzubringen“. (KpV, A 203) Das Verhältnis zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit innerhalb des höchsten Guts ist also darum synthetisch, weil, im Gegensatz zu dem durch den „dialektischen Geist der Antike“ bloß „erkünstelten“ Schein der Einheit des Begriffs, in der Tat eine Ungleichartigkeit der Begriffe besteht, weil also Sittlichkeit und Glückseligkeit durchaus nicht einerlei sind, sondern die Sittlichkeit die Totalität der Praxis aus Achtung vor dem Sittengesetz, also aus Pflicht darstellt, während die Glückseligkeit den Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt darstellt, dem im ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht. (Vgl.: KpV, A 224) Es ist aber mitnichten gesagt, das einem vernünftigen Wesen, das konsequent aus Pflicht handelt, in der empirischen Welt jederzeit alles nach Wunsch und Willen geht.308 Damit dies der Fall ist, muss überhaupt vorausgesetzt werden, 307 Vgl.: Düsing, K. 2010: Kritik der Theologie und Gottespostulat bei Kant. In: N. Fischer/ M. Forschner (Hg.): Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants. 65. 308 Das heroische Sittlichkeitsideal der Stoiker erhascht den entsprechenden Effekt gerade dadurch, dass es, entgegen aller Intuition, den Weisen auch unter widrigen empiri­ schen Umständen, sogar unter Qualen als Glücklich zu verkaufen versucht, um damit zumindest die Denkmöglichkeit einer solchen Überlegenheit des sittlichen Geistes über die empirische Welt anzudeuten, durch die der Weise die maximal mögliche negative Unabhängigkeit von der Nötigung durch die Sinnlichkeit beweist. Allerdings ist dies nur ein Gedankenkonstrukt, das sich niemals hat antreffen lassen (Jesus ist ein Fall für sich) und das sich auch niemals antreffen lassen wird, aber, was viel wichtiger ist: es mangelt ihm an der positiven Bestimmung der Freiheit. Hier ist sogar die sittliche Bestimmung im

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dass das Wesen handelt, dass also eine konkrete Praxis vorliegt und dass sich die Glückseligkeit durch diese Praxis einstellt. Die Praxis stellt hier also das vermittelnde, synthetische Moment der freien Selbstbestimmung des mora­ lischen Subjekts dar. Ähnlich, wie das synthetische Verhältnis in spekulati­ ver Hinsicht durch die konkrete Praxis der Erfahrung, also der Synthesis des gegebenen Mannigfaltigen in der Anschauung, generiert wurde, wird es in praktischer Hinsicht durch die konkrete moralische Praxis generiert. Das ist auch der Grund, warum „die Deduktion dieses Begriffs [wird] transzendental sein müssen“. (KpV, A 203) Eine transzendentale Deduktion ist nur unter der Bedingung möglich, dass die reine Vernunft in der Tat praktisch sein kann, den Willen also zu einer gewissen Art von Praxis in der empirischen Welt zu bestim­ men vermag und dass der Wille im Rahmen dieser Praxis das konstituiert, was konstituiert werden soll. Kurz: das synthetische Element ist bei Kant jederzeit die Praxis: in spekulativer Hinsicht die Praxis der Synthesis von gegebenem Mannigfaltigen der Anschauung nach Kategorien, in praktischer Hinsicht die Praxis der Hervorbringung der Glückseligkeit durch die Aktualisierung morali­ scher Handlungsschemata, also nach moralischen Gesetzen. Die gesamte Thematik der Dialektik der praktischen Vernunft entspringt eben aus der Frage der Realisierbarkeit des höchsten Guts in der Praxis; und da diese Praxis in der empirischen Welt stattfindet, entspringt sie aus der Frage, ob und unter welchen Bedingungen es in der empirischen Welt realisierbar ist. Hieraus ergibt sich eben die Problematik, die Kant als entscheidend für die Dialektik im Allgemeinen beschrieben hat, indem er betont, dass diese aus der Anwendung der Vernunftbegriffe (speziell: Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten) auf die empirische Welt entspringt, dass aber „in der Reihe des Bedingten das Unbedingte niemals angetroffen werden kann“ und also ein „unvermeidlicher Schein aus der Anwendung dieser Vernunftidee der Totalität der Bedingungen (mithin des Unbedingten) auf Erscheinungen“ entspringt. (Vgl.: KpV, A 192 f.) In praktischer Hinsicht betrifft dies die Realisierbarkeit des höchsten Guts in der empirischen Welt, denn das höchste Grunde genommen nur Ausdruck negativer Freiheit und beginnt darum, wie Hegel in der Phänomenologie sagt, bald Langeweile zu machen. (Siehe unten: Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, 118.) Die Negativität aber, die darin besteht, „wie auf dem Throne, so in den Fesseln, in aller Abhängigkeit seines einzelnen Daseins frei zu sein, und die Leblosigkeit sich zu erhalten, welche sich beständig aus der Bewegung des Daseins, aus dem Wirken wie aus dem Leiden, in die einfache Wesenheit des Gedankens zurückzieht“ (GW 9, 118), wird von ihm aufs strengste abgeurteilt. „Leblosigkeit“ und „Langeweile“ zeichnen also den Stoizismus, entgegen allen Effekts, den er durch das heroische Ideal des sittlichen Weisen zu erhaschen versucht, in Wahrheit aus.

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Gut stellt hier die besagte Vernunftidee der Totalität dar, ihre Anwendung auf Erscheinungen aber die Praxis der Hervorbringung. Wäre also die Frage, ob und unter welchen Bedingungen das höchste Gut in der empirischen Welt hervor­ gebracht werden kann, nicht thematisch, gäbe es auch keinen Anlass für eine Dialektik der praktischen Vernunft. Würde man also lediglich den transzenden­ talen Willen in seiner Reinheit erörtern, also das höchste ursprüngliche Gut, das in einer intelligiblen Welt die volle Erfolgskontrolle bei der Ausübung der praktischen Freiheit besitzt und dem darum „alles nach Wunsch und Willen geht“, gäbe es keine Dialektik der praktischen Vernunft. Zwar bestünde dann eventuell überhaupt kein synthetisches Verhältnis zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit, da die Glückseligkeit überhaupt nicht empirisch bestimmt werden könnte, und man müsste eher über eine eventuelle Einheit von Sittlichkeit und Seligkeit309 sprechen, aber das ist eine Sache für sich. Indem die praktische Vernunft aber nicht nur die transzendentalphilosophischen Bedingungen des moralischen Willens, sondern auch die Konsequenzen für die menschliche Willkür in der empirischen Welt erörtert, und der Mensch als Sinnenwesen ein des empirischen Glückes bedürftiges Wesen ist, ist speziell die Frage der (auf der moralischen Praxis beruhenden) Realisierbarkeit der sinnlichen, nicht bloß intellektuellen, Glückseligkeit in der empirischen Welt, thematisch. Dass das höchste Gut in der empirischen Welt nicht realisierbar ist, steht außer Frage310 – aber ein Anliegen bleibt es trotzdem. Mariña bringt diesen Sachverhalt sehr griffig auf den Punkt: Since practical reason concerns itself with objects that are to be made real through its exercise, the absolute totality of conditions for a given conditioned thing must in this case be understood teleologically: it is the ultimate goal of all moral human striving, i.e., the highest good. As such an unconditioned goal, it is that for the sake of which all other practi­ cal actions are undertaken. The Dialectic of pure practical reason arises when this goal, which as an unconditioned condition cannot pertain to the world of appearances, is thought of as the final goal of appearances realizable in the empirical world.311 Die Anwendung der Vernunftidee der Totalität des Gegenstandes der mora­ lischen Selbstbestimmung auf die empirische Welt, aus der der unvermeidli­ che Schein, der den transzendentalen Realismus auch in spekulativer Hinsicht ausgezeichnet hat, nämlich der Schein, dass die Erscheinungen Dinge an 309 Vgl.: Mariña, J. 2000: Making Sense of Kant’s Highest Good. In: KS 91. 340. 310 Vgl.: Mariña, J. 2000: Making Sense of Kant’s Highest Good. In: KS 91. 333. 311 Mariña 2000, 333.

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sich selbst seien, mithin, dass die empirische Welt die Totalität der Realität darstelle, entspringt, ist hier also praktisch und nicht bloß spekulativ. Wäre aber der transzendentale Realismus wahr, würde also die empirische Welt die Totalität aller Realität darstellen, so wäre nicht nur die Freiheit nicht zu ret­ ten, sondern auch das höchste Gut „schlechterdings“ nicht realisierbar, mithin müsste in Bezug auf den Satz, den ich unten als Antithesis der Antinomie der praktischen Vernunft interpretiere, gesagt werden, dass er nicht nur bedingter­ weise, sondern unbedingt falsch wäre.312 Also erörtert die Dialektik der praktischen Vernunft die Frage, welche Bedingungen für die Realisierung des höchsten Guts notwendig und welche hinreichend sind, und unter welchen Bedingungen diese Realisierbarkeit unter den restriktiven Umständen der empirischen Welt gedacht werden kann. Ebenso, wie die Dialektik der reinen Vernunft das Resultat hervorbrachte, dass der transzendentale Realismus die Falschheit der Voraussetzungen ausmache, aus denen überhaupt die Antinomie der spekulativen Vernunft entspringt, und dass dieser transzendentale Realismus zugunsten des transzendentalen Idealismus, der die Aussicht auf eine höhere Ordnung der Dinge in einer intel­ ligiblen Welt eröffnet, überwunden werden muss, führt auch die Dialektik der praktischen Vernunft zu dem Gedanken, dass die empirische Welt nicht die Totalität aller Realität darstellt, sondern dass eine auf der Vernunft gegrün­ dete Hoffnung auf eine zukünftige, intelligible Welt, besteht. Doch ebenso, wie die spekulative Vernunft den transzendentalen Realismus nicht ohne Not infrage stellt, also nicht ohne Not annimmt, dass zusätzlich zu der Totalität der erscheinenden Welt auch noch eine intelligible Natur nötig ist, um die Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten zu denken, sondern erst durch den „Skandal“ der Antinomie dazu gelangt, nimmt auch die prakti­ sche Vernunft die Realität einer zukünftigen Welt nur darum an, weil die von der Vernunft gebotene Verwirklichung des höchsten Guts in der empirischen Welt, mithin das synthetische Verhältnis zwischen der Sittlichkeit und der sinnlich-empirischen Glückseligkeit nicht anders möglich ist. Die Antinomie der praktischen Vernunft und die Aussicht auf ein „künftiges Leben“ Bevor wir zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Antinomie der prak­ tischen Vernunft übergeht, wollen wir uns kurz an die Voraussetzungen der Antinomie der Vernunft im Allgemeinen erinnern: erstens entspringt die Antinomie jederzeit aus der Suche nach der Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten und betrifft in praktischer Hinsicht die Totalität 6.3.5

312 „Die Maxime der Tugend muss die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein.“ (KpV, A 204)

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des Gegenstandes der moralischen Selbstbestimmung. Zudem erinnern wir uns daran, dass die gesamte Antinomie der spekulativen Vernunft auf dem Widerstreit zweier philosophischer Rahmentheorien beruht, nämlich dem Widerstreit zwischen dem Dogmatismus und dem Empirismus. Wir haben zudem gesehen, dass der Position der Antithesis auch im dritten Widerstreit der Naturalismus, Atomismus und Physikalismus zugrunde liegt, wobei Kant auf die entsprechenden Theorien, die in der Philosophiegeschichte, speziell in der Antike vertreten wurden, Bezug nimmt, und zwar insbesondere auf Lukrez und Epikur. Es ist darum weder ein Zufall, noch sollte es uns überraschen, dass auch einer Position in der Antinomie der Kritik der praktischen Vernunft eine philosophische Rahmentheorie zugrunde gelegt wird, die der Antithesis der spekulativen Vernunft in allen vier Formen des Widerstreits zugrunde gele­ gen hat, nämlich die Position der antiken Atomisten bzw., wenn wir die ent­ sprechende begriffliche Aktualisierung vornehmen wollen, Naturalisten und Physikalisten in der Tradition von Epikur und Lukrez. Der entgegengesetzten Position liegt aber der Archetypus des Dogmatismus zugrunde, nämlich der Stoizismus. Wir erinnern uns darüber hinaus, dass Kant in der Kritik der reinen Vernunft der Ansicht war, dass der Dogmatismus „den Vorzug der Popularität“ (KrV, B 495) auf seiner Seite habe und dass die Auseinandersetzung mit der Antinomie unter Anderem das Ziel verfolgt, die weniger populäre Position des Empirismus dagegen aufzuwerten, ohne sie jedoch ihrerseits dogmatisch wer­ den zu lassen. Wir beobachten, dass sich die Kräfteverhältnisse in den aktuel­ len Debatten durchaus verschoben haben, und dass man heutzutage wohl eher das Anliegen verfolgen müsste, den Dogmatismus, der sich nunmehr mit dem Ausdruck „Physikalismus“ bezeichnet, in die Schranken zu weisen, aber Kant ging es zu seiner Zeit darum, eine gewisse „Gemächlichkeit“ des Rationalismus zu überwinden und die Philosophie um den konkreten Weltbezug zu bereichern. Dieser konkrete Weltbezug wird im Zusammenhang mit dem Gegenstand, den wir hier als höchstes Gut erörtern, durch die Praxis gewähr­ leistet. Die Kritik an der Gemächlichkeit des stoizistischen Dogmatismus zieht sich übrigens als Motiv durch die Kritische Philosophie in der Deutschen Klassik durch. So bezeichnet ihn Hegel in der Phänomenologie des Geistes als leblos und langweilig, denn: . . . die allgemeinen Worte von dem Wahren und Guten, der Weisheit und der Tugend, bei welchen er stehenbleiben muß, sind daher wohl im all­ gemeinen erhebend, aber weil sie in der Tat zu keiner Ausbreitung des Inhalts kommen können, fangen sie bald an, Langeweile zu machen.313 313 Hegel, G.W.F. 1806/07: Phänomenologie des Geistes. GW 9, 118.

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Vor diesem Hintergrund finden wir uns also insofern überrascht vor, als ent­ gegen allen Vorurteilen, mit denen der kantischen Philosophie jederzeit begegnet wird, und die ihm mitunter sogar die Tendenz zu einer weltfrem­ den Askese nachsagen, Kant im Rahmen der Theorie des höchsten Guts in der Kritik der praktischen Vernunft offenbar das Anliegen verfolgt, die Position des epikureischen Hedonismus gegen die Popularität der stoischen Asketik bis zur Äquivalenz aufzuwerten. Wir haben bereits in der Kritik der reinen Vernunft gesehen, dass die Glückseligkeit erstens tatsächlich sinnlich bzw., „empirisch“ konzipiert ist, indem sie die Befriedigung aller unserer Neigungen darstellt, und dass sie zweitens ein konstitutives Moment der praktischen Freiheit dar­ stellt. Wir sehen nun, dass die Glückseligkeit als Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem alles nach Wunsch und Willen geht (KpV, A 224), ein konstitutives Moment der freien moralischen Selbstbestimmung darstellt. Und wir haben nun Anlass, darüber hinaus anzunehmen, dass Kant gegenüber einem Zeitgeist, der in rationalistischer, also dogmatischer, Tradition wohl eher das asketische ideal des Stoizismus als Horizont der moralischen Praxis vermittelt, die Irreduzibilität der Bemühung um Glückseligkeit innerhalb der moralischen Praxis vertritt. Wenn wir uns an die zweite Anmerkung zum zweiten Lehrsatz erinnern, sollte uns dies eigentlich nicht überraschen, aber wir sind dennoch erfreut über den angenehmen Kontrast zu der populären Rezeptionsweise der Passage: Pflicht! du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüte erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüte Eingang findet und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenngleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem allen Neigungen verstummen, wenn sie gleich insgeheim ihm entgegenwirken: . . . (KpV, A 154) Die Grundstruktur der Antinomie der Vernunft steht also in einem angeneh­ men Kontrast zu der in der Kant-Rezeption zu starken Profilierung der asketi­ schen Pflichtbefolgung, da Kant, wie Düsing betont, „in der Lehre vom Glück der menschlichen psychophysischen Natur“ Epikur zustimmt.314 Dies stellt keinen Widerspruch oder Mangel der kantischen Philosophie dar, sondern lediglich eine Tendenz der Kantforschung, die erstens mit der Frage 314 Vgl.: Düsing, K. 2010: Kritik der Theologie und Gottespostulat bei Kant. In: N. Fischer/ M. Forschner (Hg.): Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants. 65.

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zusammenhängt, wen diese Philosophie überhaupt anspricht und zweitens, was die entsprechenden Charaktere aus dem Pflichtbegriff machen. Für Kant stellt die Handlung aus Pflicht, also aus Achtung vor dem Sittengesetz, zwar die oberste Bedingung der moralischen Praxis dar, die moralische Praxis ihrer­ seits stellt aber einen Ausdruck der freien Selbstbestimmung des vernünftigen Subjekts dar und es besteht darum durchaus die berechtigte Hoffnung, dass ein freies Wesen, das seine Praxis auf der Vernunft gründet, auch zur Befriedigung seiner Bedürfnisse gelangt, da ihm zumindest Einiges nach Wunsch und Willen geht, wenn es der Vernunft die Gewalt über seine Handlungen gewährt. Demzufolge besteht ein gewisser Unterschied zwischen der Wertigkeit, die die Theorie der speziell sinnlichen Glückseligkeit für Kant besitzt, und der Art und Weise, wie sie in der Kant-Rezeption interpretiert wird, und es entsteht der Eindruck, dass in der Kant-Rezeption eine stärkere Tendenz zur Profilierung der Pflicht und der Strenge ihrer Zuschreibung besteht, als von Kant mögli­ cherweise intendiert. Um mit Rorty zu sprechen: Was aber, wenn man wie Kant die selbstlosen, bescheidenen, phanta­ sielosen, anständigen, ehrlichen, pflichtbewußten Menschen als para­ digmatisch ansieht? Solche Menschen waren die Adressaten von Kants Schriften, Menschen, die – anders als Platons Philosophen – keine beson­ dere Geistesschärfe oder intellektuelle Neugier besitzen und – anders als ein christlicher Heiliger – nicht darauf brennen, sich aus Liebe zum gekreuzigten Jesus aufzuopfern.315 Ein strenges und in gewisser Nuancen vielleicht auch ein wenig überspitztes Urteil von Rorty gegen die Kant-Rezeption, aber in einem Punkt hat er vollkom­ men Recht: Jede Philosophie spricht eine bestimmte Art von Menschen an und die kantische Philosophie hat entgegen seiner Bemühungen, den Empirismus gegen die Popularität und Gemächlichkeit, oder, wie Hegel sagt: „Leblosigkeit“ und „Langeweile“, des Dogmatismus und dem in praktischer Hinsicht mit dem Dogmatismus einhergehenden Ideal der asketischen Selbstunterdrückung, aufzuwerten, nun mal in erster Linie die selbstlosen, bescheidenen, phantasie­ losen, anständigen, ehrlichen, pflichtbewussten Menschen angesprochen, also solche, die, wenn sie dazu aufgefordert werden, nur eine Formel aus der kanti­ schen Philosophie zu zitieren, wohl eher „Pflicht! du erhabener Name“ ausru­ fen, als die Bedeutung der Glückseligkeit für die inhaltliche Bestimmung des moralischen Willens zu betonen. Ob solche Menschen wirklich die Adressaten 315 Rorty, R. 1989: Contingency, irony, and solidarity. Deutsche Übersetzung von Christa Krüger 1992. 70.

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der kritischen Philosophie waren, wie Rorty unterstellt, oder ob sich vielmehr gerade solche Menschen von einem bestimmten Motiv der Pflichtethik ange­ sprochen fühlen und selbst zu Advokaten der kritischen Philosophie ernen­ nen, steht auf einem anderen Blatt. Aber sei’s drum: Es ist der Kantforschung, beispielsweise Allison316 im Hinblick auf die Antinomie der reinen Vernunft und Brandt,317 der die Antinomie der praktischen Freiheit im Hinblick auf die Verhältnisse zwischen der praktischen Vernunft und der Wirklichkeit der praktischen Freiheit in der Welt, interpretiert, und sowohl die Referenz auf die antiken Schulen als auch die Frage der Analytizität und Synthetizität des Verhältnisses von Sittlichkeit und Glückseligkeit berücksichtigt, nicht entgangen, dass die Antinomie auf dem Widerstreit zwischen dem Dogmatismus und Empirismus beruht. Kant unternimmt, entgegen der Tendenz des Zeitgeistes, den Versuch den Empirismus gegen den Dogmatismus bis zur Äquivalenz aufzuwerten. Daraus ergibt sich für die Antinomie der praktischen Vernunft die Konsequenz, dass er offensichtlich gegenüber der „Gemächlichkeit“ und Popularität des Ideals der Askese in der Tradition des Stoizismus, die Notwendigkeit der, zwar auf dem Sittengesetz begründeten, Praxis der Hervorbringung der Glückseligkeit in den Vordergrund stellt. An sich ist das Ideal des Stoizismus dem Ideal des Epikureismus nämlich in nichts vorzuziehen. Beide werden zunächst auf­ grund der Annahme, dass zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit ein analytisches Verhältnis besteht, zurückgewiesen. Bereits die Tatsache, dass das höchste Gut den notwendigen Gegenstand der Totalität der moralischen Selbstbestimmung darstellt, und dass darin die proportionierte Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit gefordert wird, wertet die epikureische Tradition gegenüber dem asketischen ideal auf. In Hinblick auf das höchste Gut werden die beiden antiken Schulen aller­ dings nicht nur wegen der Annahme eines analytischen Verhältnisses zwi­ schen der Sittlichkeit und Glückseligkeit zurückgewiesen, sondern aufgrund einer Besonderheit, die in dem oben genannten Kontext beinahe spektaku­ lär ist: Sie behandeln nur das höchste oberste, nicht aber das höchste voll­ endete Gut und darum werden sie zwar eventuell der Sittlichkeit, niemals aber der Glückseligkeit gerecht. Kant vertritt nämlich eine Theorie der sinn­ lichen (von mir aus auch ‚empirischen‘, wie es in der Sekundärliteratur heißt) Glückseligkeit, die weit über das, was im Epikureismus gefordert und vertre­ ten wird, hinaus geht und er kritisiert an Epikur gerade diese Reduktion des 316 Allison 1990. 317 Brandt, R. 1988: Der Zirkel im dritten Abschnitt von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: H. Oberer, G. Seel (Hg.): Kant: Analysen – Probleme – Kritik.

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Glückseligkeitsbegriffs auf die bloße Mäßigung. Ich habe oben bereits im Zusammenhang mit der Theorie der Glückseligkeit in der Kritik der reinen Vernunft betont darauf hingewiesen, dass sie als Befriedigung aller Neigungen in jeder Hinsicht gilt, nämlich auch „intensive“. Das stellt einen signifikanten Unterschied zu der durch Klugheit geforderten Enthaltsamkeit und Mäßigung im Epikureismus und geht vor allen Dingen weit über die Unerschütterlichkeit und Schmerzlosigkeit,318 die dem höchsten Gut entspricht, hinaus. Im Anschluss an die Deduktion des Postulats Gottes (KpV, A 227 f.) führt Kant die entsprechenden Überlegungen aus: Im ersten Schritt begrüßt er bei beiden griechischen Schulen die Ansetzung der Sittlichkeit als höchstes ober­ stes Prinzip der Freiheit. Er beanstandet aber zugleich, dass sie im Hinblick auf die strukturelle Beschaffenheit des höchsten Guts das zweite, nach seiner Ansicht konstitutive Moment desselben, nämlich die Glückseligkeit nicht in der gebotenen Konsequenz erkennen und anerkennen. Demnach erschöpft sich das höchste Gut, das in Berufung auf die genannten griechischen Schulen vertreten werden kann, in dem Moment, das Kant als das höchste oberste Gut beschreibt, und es entbehrt dessen, was zu seiner Vollendung nötig ist, also dessen, was zu dem höchsten obersten Gut das höchste vollendete Gut hinzu bringt und seine Vollendung ausmacht, nämlich letztendlich eines adäquaten Begriffs der Glückseligkeit. Es ist selbstverständlich überraschend, und gerade im Hinblick auf die oben zitierte Stelle, worin betont wird, dass die Pflicht, „nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt“, enthält (KpV, A 154), und in Verbindung mit der überwiegend auf der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und ihrer Interpretation beruhenden Vorstellung von der außerordentlich strengen Selbstzuschreibung von Pflichten in der kantischen Philosophie, nahezu spektakulär, wenn man auf KpV, A 228 die Entdeckung macht, dass Kant gegenüber dem epikureischen Hedonismus eine leistungs­ fähigere Theorie der Glückseligkeit als integralen Bestandteil der Theorie des höchsten Guts profilieren will. Nun ist dies aber der Fall, und wir sehen, dass er an der besagten Stelle anerkennt, dass Epikur das Prinzip der Sitten zum obersten Prinzip der praktischen Freiheit erhebt, aber sogleich beanstandet, dass er das falsche Prinzip der Sitten annimmt, nämlich die Bemühung um Glückseligkeit; dies wird aber von Kant an der gegebenen Stelle geschenkt, und es wird sogar lobend erwähnt, dass Epikur und seine Anhänger bei der Ansetzung dieses zwar falschen Prinzips der Sittlichkeit wenigstens konse­ 318 Vgl.: Fonfara, D. 2009: Epikurs hedonistische Ethik als Erste Philosophie. In: E. und K. Düsing / H.-D. Klein (Hgg.): Geist und Sittlichkeit. Ethik-Modelle von Platon bis Levinas. 81.

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quent genug verfahren sind, um auch den Begriff der Glückseligkeit und mit ihm auch den Begriff des höchsten Guts „der Niedrigkeit ihres Grundsatzes proportionierlich, abwürdigten und keine größere Glückseligkeit erwarte­ ten, als die sich durch menschliche Klugheit (wozu auch Enthaltsamkeit und Mäßigung der Neigungen gehört) erwerben läßt, die, wie man weiß, kümmerlich genug und nach Umständen sehr verschiedentlich ausfallen muss“ (KpV, A 228). Das verwendete Vokabular, speziell die Ausdrücke „abwür­ digen“, „Niedrigkeit“ und „kümmerlich“, deuten darauf hin, dass Kant mit der Leistungsfähigkeit der Theorie oder des Begriffs der Glückseligkeit in der epiku­ reischen Tradition nicht zufrieden ist, mithin einen Begriff der Glückseligkeit als Bestandteil der Theorie des höchsten Guts profiliert, der nicht ‚abgewür­ digt‘, nicht ‚niedrig‘ und auch nicht so ‚kümmerlich‘ wie der des Hedonismus ist. Genau das habe ich aber einleitend als spektakulär bezeichnet, nämlich die Entdeckung, dass nach Kants expliziter Aussage an der genannten Stelle der epikureische Hedonismus einen „kümmerlichen“ Begriff der Glückseligkeit vertritt. Leider ist aber Kants Kritik am Hedonismus in der Kant-Literatur, wenn überhaupt, dann nur einseitig zur Kenntnis genommen worden, näm­ lich als Kritik an der Falschheit des Prinzips, nicht aber als Kritik an der man­ gelnden Leistungsfähigkeit des zugrunde liegenden Begriffs der Glückseligkeit. Die Kritik an den antiken Schulen umfasst also mehrere Punkte, nämlich: 1.

Die Annahme eines analytischen Verhältnisses zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit 2. Das fehlende Bewusstsein für die Bedeutung Gottes (KpV, A 227) 3. Im Falle der Epikureer auch die Annahme eines ganz falschen Prinzips der Sitten 4. Im Falle der Epikureer, auch einen zu sehr abgewürdigten und an die (beschränkte) Leistungsfähigkeit der menschlichen Klugheit angepas­ sten, ‚kümmerlichen‘ Begriff der Glückseligkeit 5. Im Falle der Stoiker, das fehlende Bewusstsein und die mangelnde Anerkennung für die Glückseligkeit als einen besonderen Gegenstand des menschlichen Begehrungsvermögens überhaupt (KpV, A 228 f.) Im Zusammenhang mit der Antinomie der praktischen Vernunft ist dabei nur das Verhältnis zwischen der Sittlichkeit und der Glückseligkeit, nämlich die Frage, welches von welchem bedingt wird, entscheidend, während im Hinblick auf die Theorie des höchsten Guts insbesondere die Leistungsfähigkeit und Bedeutung der Theorie der Glückseligkeit entscheidend ist.

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Jedenfalls weist der Antinomie der praktischen Vernunft gewisse Auffälligkeiten auf: erstens kann man hier, wie Milz319 betont, nur mit eini­ ger Not von einer wirklichen Antinomie sprechen und zweitens tendiert Kant in der Auflösung selbstverständlich zur Sittlichkeit als Bedingung der Glückseligkeit. Nun ist dies eigentlich nicht überraschend, denn auch in der Auflösung der Antinomie der spekulativen Vernunft entsteht der Eindruck, dass Kant in der Auflösung eher zur Position des Dogmatismus tendiert, aber unsere obigen Überlegungen haben gezeigt, dass dies nicht uneingeschränkt der Fall ist. Der Auflösung liegt nämlich eine ganz andere philosophische Rahmentheorie zugrunde als der Thesis, also der transzendentale Idealismus anstelle des Dogmatismus. Wir dürfen also annehmen, dass auch der Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft eine transzendentalphilosophische Position zugrunde liegt und dass sie zwar möglicherweise eine größere struk­ turelle Ähnlichkeit mit der stoischen Tradition aufweist als mit der epikure­ ischen, aber nichts desto weniger muss die philosophische Rahmentheorie, auf der die Auflösung der Antinomie beruht, die Vorzüge beider Theorien in sich aufheben; und das wird sie auch tun, indem sie an der Irreduzibilität der Glückseligkeit als konstitutives Moments des höchsten Guts festhält, aber in Bezug auf das Verhältnis von Sittlichkeit und Glückseligkeit auch auf die Tradition der christlichen Metaphysik, speziell auf das Motiv der „Hoffnung“, zurückgreift. Es wird also vorausgesetzt, dass zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit ein synthetisches Verhältnis besteht. Vor diesem Hintergrund ergibt sich nach meinem Verständnis320 der folgende Widerstreit (KpV, A 204): 319 Milz, B. 2002: Der gesuchte Widerstreit. Die Antinomie in Kants Kritik der praktischen Vernunft. KSEH 139. 8. 320 Zu der reichhaltigen Rezeptions- und Interpretationsgeschichte dieser Stelle und der Vielzahl von Interpretationsansätzen und Meinungen in Bezug auf die Frage, ob in der Antinomie der praktischen Vernunft überhaupt von einer Antinomie gesprochen werden kann, ob darin überhaupt eine These einer Antithese entgegen gesetzt wird und warum Kant wohl darauf verzichtet, dies explizit zu benennen, sowie in Bezug auf die Frage, wie genau die These und die Antithese, falls davon sinnvoll gesprochen werden kann, formu­ liert werden muss, vergleiche Milz 2002. Ich bin der festen Überzeugung, dass die beiden Sätze, auf die ich mich berufe, ganz in Kants Sinne sind und belege dies damit, dass er in der kritischen Aufhebung der Antinomie eben diese beiden Sätze in der entsprechenden Funktion benennt: „Der erste von den zwei Sätzen, daß das Bestreben nach Glückseligkeit einen Grund tugendhafter Gesinnung hervorbringe, ist schlechterdings falsch; der zweite aber, daß Tugendgesinnung notwendig Glückseligkeit hervorbringe, ist nicht schlechter­ dings, sondern nur sofern sie als die Form der Kausalität in der Sinnenwelt betrachtet wird, (. . .), also nur bedingterweise falsch.“ (KpV, A 206) Insofern ist auch angesichts der

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1. These: Die Begierde nach Glückseligkeit ist die Bewegursache zu Maximen der Tugend. 2. Antithese: Die Maxime der Tugend muss die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein. Die These ist selbstverständlich überhaupt nicht vereinbar mit der Voraussetzung der Moralität als oberste Bedingung des höchsten Guts, ent­ spricht also nicht dem Begriff des höchsten Obersten, das jederzeit die Tugend darstellt. Darum ist die Behauptung der These „schlechterdings unmöglich“. (KpV, A 204) In der Tradition der kantischen Ethik sind wir davon überhaupt nicht überrascht. Wir finden den Standpunkt auch durchaus überzeugend, aber es ergibt sich ein ernsthaftes Problem für die Struktur der Antinomie: Kant hat in der Kritik der reinen Vernunft großen Wert darauf gelegt, zu beto­ nen, dass sowohl die These als auch die Antithese und sowohl der Beweis der These als auch der Beweis der Antithese „nicht Blendwerke, sondern gründ­ lich waren“ (KrV, B 535) und er hat auch gezeigt, dass sich die Antinomie erst durch die Gleichwertigkeit und vor allen Dingen durch die Vertretbarkeit bei­ der Positionen und ihrer Beweise ergibt. Also drängt sich uns selbstverständ­ lich die Frage auf, ob wir dieselbe qualitative Gleichwertigkeit der These und Antithese in der Kritik der praktischen Vernunft finden können. Eine weitere Besonderheit ist nach meinem Dafürhalten von noch größe­ rer Bedeutung und sie betrifft die philosophischen Rahmentheorien, die der Thesis und Antithesis zugrunde liegen. Wir haben festgestellt, dass die Thesis aller vier Widerstreite in der Antinomie der spekulativen Vernunft jeweils in der Tradition des Dogmatismus steht, während die Antithesis in der Tradition des Empirismus bzw. Atomismus steht. Demnach müsste auch die Thesis der praktischen Vernunft in der Tradition des Stoizismus und die Antithesis in das Tradition des Epikureismus stehen. Das ist aber oben nicht der Fall. Denn ungeachtet der Tatsache, dass innerhalb der Antinomie der praktischen Vernunft überhaupt nicht von einem analytischen Verhältnis, sondern von einem synthetischen Verhältnis der Hervorbringung zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit die Rede ist, sich also die Antinomie auf entscheidende Vielzahl von Missverständnissen und Spitzfindigkeiten, die in der Rezeptionsgeschichte vorkommen, die Frage, worin eigentlich die Antithetik besteht, im Grunde genom­ men ziemlich eindeutig. Im Übrigen weist Milz auch darauf hin, dass „Antinomie“ und „Antithetik“ nicht unbedacht für ein und dasselbe gehalten werden dürfen, da, wie er betont, der Begriff „Antinomie“ ursprünglich ein juristischer Begriff ist, die Methode der Antithetik aber aus dem Umkreis der protestantischen Kontroverstheologie entspringt, (Milz 2002, 7), aber das ist nur nebenbei von Interesse.

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Art und Weise von der klassischen stoischen und klassischen epikureischen Theorie unterscheidet,321 fragt man sich, vor welchem philosophischen Hintergrund die beiden Positionen überhaupt entwickelt werden. Man darf unterstellen, dass die Epikureer, unter der Bedingung, dass sie bereit wären, ein synthetisches Verhältnis zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit anzunehmen, jederzeit die Bemühung um Glückseligkeit als Ursache und die Sittlichkeit als Folge der entsprechenden Bemühungen behaupten würden. Dagegen würden die Stoiker, unter der Bedingung, dass sie bereit sind, ein synthetisches Verhältnis zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit anzu­ nehmen, jederzeit auf der Vorrangigkeit der Moralität bestehen und eventuell die Glückseligkeit als Folge der Moralität anerkennen. Vor diesem Hintergrund wäre es wohl eher angemessen, die These in die Tradition des Epikureismus und die Antithese in die Tradition des Stoizismus zu stellen.322 Dann wäre auch die Kontinuität mit der Grundstruktur der Antinomie der spekulativen Vernunft gewährleistet. Aber das ist im Grunde genommen eine Kleinigkeit, denn, sofern kein bestimmter Grund gefunden wird, warum Kant in der Kritik der praktischen Vernunft die Anordnung von These und Antithese verändert, so dass in der Tat argumentativ nachvollziehbar wird, warum die These der praktischen Vernunft in der Tradition der philosophischen Rahmentheorie stehen muss, die in der spekulativen Vernunft jeweils die Position der Antithese vertreten hat, und umgekehrt, – solange also kein entsprechendes Argument gefunden wird, dürfen wir annehmen, dass man es ebenso gut auch anders machen könnte, dass also die Anordnung von These und Antithese in der Kritik der praktischen Vernunft ohne einen besonderen transzendentalphilosophischen Grund verändert wird und die Reihenfolge darum eigentlich beliebig ist. Im Übrigen herrscht, wie Milz betont, in der Rezeption der Antinomie der prak­ tischen Vernunft keineswegs Einigkeit in Bezug auf die Frage, ob hier über­ haupt eine These und eine Antithese einander entgegengesetzt werden und, falls dies der Fall ist, was genau die These und was genau die Antithese besagt. So hat beispielsweise Lewis White Beck einen eigenen Versuch unternommen, 321 Vgl.: Milz 2002, 145. Ebenso den darin erwähnten enthaltenen Bezug auf: Albrecht, M. 1978: Kants Antinomie der praktischen Vernunft. 322 Ich würde empfehlen, die Ähnlichkeit mit der stoischen und epikureischen Tradition eben nur unter der Einschränkung zu berücksichtigen, dass zwischen dem analytischen und synthetischen Verhältnis deutlich unterschieden wird, weswegen die Ähnlichkeit auch wesentlich schwächer ausfällt als beispielsweise bei Kaulbach F. 1978: Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants. Dagegen begrüße ich seine Zuspitzung des Sachverhalts auf die Praxis sehr.

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die These und Antithese so zu formulieren, dass sie nach seinem Dafürhalten sinnvoll sind und eine sinnvolle Entgegensetzung ausmachen,323 aber sol­ che Versuche sind letztendlich nur aus rezeptionsgeschichtlichen Gründen von Interesse. Inhaltlich trägt seine Umformulierung nichts zur Sache bei. Überhaupt entspringt sein Anliegen zur Umformulierung der Thesis und Antithesis der Ansicht, dass die beiden Formulierungen, die Kant vorschlägt, überhaupt keinen kontradiktorischen Gegensatz aufweisen und damit über­ haupt nicht der zugrundeliegenden strukturellen Bestimmung der Antinomie entsprechen, weswegen er eine Formulierung versucht, die das vermeintli­ che Defizit auflöst. Jedenfalls ergibt sich, unter der Bedingung, dass die oben von mir genannten Sätze überhaupt die Antinomie der praktischen Vernunft ausmachen,324 ein entsprechendes Problem mit der Anordnung der vermeint­ lichen Thesis und Antithesis und ihrer Verortung in dem für die Antinomie typischen theoretischen Gesamtkontext. Mir selbst fällt übrigens nur ein, allerdings sehr schwacher und exote­ rischer, Grund ein, der für die gegebene Anordnung in der Kritik der praktischen Vernunft spricht und der darauf beruht, dass die Position der hiesigen Thesis von vornherein als minderwertig disqualifiziert wird. So bietet es sich nach schriftstellerischen Gesichtspunkten an, sie kurz zu nennen und abzu­ handeln, um dann zu dem eigentlichen Anliegen überzugehen, also zu dem Punkt, der über die Antithetik hinaus weist, nämlich dem Punkt, den die Antithese formuliert. Aber ob das wirklich so ist, weiß ich nicht. Sofern das aber der Fall ist, finden wir dadurch einen gewissen Eindruck bestärkt, der sich in Auseinandersetzung mit diesem Text ohnehin einstellt, nämlich der Eindruck, dass Kant keinen großen Wert darauf legt, die Antinomie der prakti­ schen Vernunft in derselben Gründlichkeit und mit derselben Konsequenz zu konstruieren, die in der Kritik der reinen Vernunft; offensichtlich darum, weil sein Interesse hier weniger spekulativ als praktisch ist und weil ihm darum weniger an der Figur der Antinomie als an ihre praktischen Konsequenzen gelegen ist. In diesem Sinne könnten die von Milz formulierten Bedenken, ob der vermeintliche Widerstreit hier eigentlich nur „gesucht“ wird, sicher­ lich geteilt werden, aber da wir durch die Analyse der Texte, die von Kant vor der Kritik der praktischen Vernunft verfasst wurden, dazu berechtigt sind, anzunehmen, dass wir es hier mit einem Autor zu tun haben, der gerade an wichtigen Stellen nicht zur Sorglosigkeit und Fahrlässigkeit neigt, wir aber an der gegebenen Textstelle sehen, dass er ein substantielles Thema, nämlich die Antinomie, mit einer für ihn ungewöhnlichen Lässigkeit behandelt, sind wir 323 Beck. L. W. 1960: A Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason. 247. 324 Vgl. hierzu: Milz 2002, 8.

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in der Tat dazu berechtigt, anzunehmen, dass die genaue Konstruktion der Antinomie unter Beachtung aller formalen Gesichtspunkte, die der entspre­ chenden gedankliche Figur in der Kritik der reinen Vernunft zugrunde liegen, nicht sein Hauptanliegen darstellt. Wir werden auch gleich sehen, worin das Hauptanliegen aller Wahrscheinlichkeit nach besteht. Die Behauptung der Thesis ist jedenfalls „schlechterdings unmöglich“ und wir fragen uns, was mit der Behauptung der Antithesis ist. Grundsätzlich ist es nämlich denkbar, dass auch die Behauptung der Antithesis unmöglich ist, und somit zumindest eine Gleichwertigkeit zwischen der These und Antithese besteht. Und in der Tat formuliert Kant: Das zweite ist aber auch unmöglich, weil alle praktische Verknüpfung der Ursachen und der Wirkungen in der Welt, als Erfolg der Bestimmung, sich nicht nach moralischen Gesinnungen des Willens, sondern der Kenntnis der Naturgesetze und dem physischen Vermögen, sie zu seinen Absichten zu gebrauchen, richtet, folglich keine notwendige und zum höchsten Gut zureichende Verknüpfung der Glückseligkeit mit der Tugend in der Welt durch die pünktlichste Beobachtung der moralischen Gesetze erwartet werden kann. (KpV, A 204) Wir sehen also, dass die Gleichwertigkeit der These und Antithese durchaus gegeben ist, obgleich hier ein offensichtlicher Unterschied zur Struktur der Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft vorliegt, indem weder die These noch die Antithese gründlich bewiesen wird. Man ist im Grunde genommen berechtigt, sich zu fragen, was für ein Widerstreit das eigentlich sein soll, wenn weder die These noch die Antithese haltbar ist. Also: Wer behauptet überhaupt die These oder die Antithese?325 Aber die Kürze, in der Kant die entspre­ chende Thematik abhandelt, deutet an, dass er auf etwas ganz anderes hinaus will, nämlich auf das, was er bereits im Vorfeld der Antinomie der praktischen Vernunft als das eigentliche Resultat der Antinomie der spekulativen Vernunft 325 Natürlich drängt es sich auf, hier auf die Stoiker und Epikureer zu verweisen, aber diese beiden Schulen teilen die Grundvoraussetzung der Antinomie, nämlich das synthetische Verhältnis von Sittlichkeit und Glückseligkeit, überhaupt nicht; also kommen sie nur unter der von mir oben genannten Modifikation als Kandidaten infrage, während sie aus eigener Spontaneität weder die These noch die Antithese vertreten würden. Die These ist unbedingt falsch, also kann sie von keinem vernünftigen Menschen vertreten werden. Die Antithese ist bedingterweise falsch, also kann sie unter diesen Bedingungen eben­ falls von keinem vernünftigen Menschen vertreten werden. Wer führt also diesen stabilen Dissens – die Antinomie?

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profiliert hat, nämlich die Aussicht in eine höhere Ordnung der Dinge und zwar eine auf dem Sittengesetz beruhende intelligible Ordnung. Der Widerstreit zwischen der These und Antithese enthält letztendlich eine Hauptaussage, nämlich: selbst unter der Voraussetzung der maximalen Entfaltung der moralischen Praxis kann in dieser Welt nicht mit Notwendigkeit ausgesagt werden, dass die Glückseligkeit hervorgebracht wird.326 Unter der Voraussetzung des transzendentalen Realismus, also unter der Voraussetzung, dass diese Welt, die empirische Welt, die Sinnenwelt, die ganze Realität aus­ macht, besteht also keine Hoffnung, dass die Bemühung um Glückswürdigkeit mit der Glückseligkeit belohnt wird. In Abwandlung der entsprechenden Passagen der Kritik der reinen Vernunft halten wir also fest: Und hier zeigt die zwar gemeine, aber betrügliche Voraussetzung der absoluten Realität der Erscheinungen, sogleich ihren nachteiligen Einfluss, die Vernunft zu verwir­ ren. Denn sofern „diese Welt“ die ganze Realität ausmacht, ist die Hoffnung auf Glückseligkeit (und ein jenseitiges, ewiges Leben) nicht zu retten. Wir haben bereits im Rahmen der Erörterungen der entsprechenden Theorie in der Kritik der reinen Vernunft gesehen, dass Kant der festen Überzeugung ist, dass in dieser Welt bzw. in diesem Leben keine berechtigte Hoffnung auf die Erlangung der Glückseligkeit besteht und dass sämtliche Hoffnung auf der Voraussetzung beruht, dass dieses Leben nicht das ganze Leben, dass diese Welt, nicht die ganze Welt sei. Wenn wir uns aber daran erinnern, dass (ich habe oben bereits darauf hingewiesen) Kant zu Beginn der Kritik der praktischen Vernunft die Ansicht vertritt, dass durch das Faktum des Sittengesetzes die Einsicht in ein Grundgesetz der intelligiblen Ordnung, in der wir uns als Personen jederzeit ohnehin vorfinden, darstellt, nämlich in eine intelligible Ordnung, die von der spekulativen Vernunft bloß geahnt, aber nicht erkannt werden konnte und von der schon gar nicht irgendwelche Gesetze erkannt wer­ den konnten, verstehen wir zunehmend, wie sich der Gedanke nun verändert. Die gesamte Antinomie, die in der Kritik der reinen Vernunft erörtert wurde, hat nämlich nach Kants Aussage in der Kritik der praktischen Vernunft den Vorteil, dass sie „die wohltätigste Verirrung“ (KpV, A 193) darstellt, in die die Vernunft jemals geraten konnte, eben weil sie die Vernunft über die Grenzen des transzendentalen Realismus hinaus führt und ihr einen Ausblick auf die intelligible Welt eröffnet, deren Grundgesetz wir nun als das Sittengesetz ein­ gesehen haben, und wodurch wir „eine Aussicht in eine höhere, unveränderli­ che Ordnung der Dinge“ (KpV, A 193) erhalten haben: das Verhältnis zwischen 326 Warum das so ist, will ich nicht hier, sondern erst im Kontext des zweiten Postulats erör­ tern, weil das Argument, das hier in aller Kürze genannt wird, auch dort von Bedeutung sein wird.

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kapitel 6

dieser Welt und einer anderen Welt, der sinnlichen Welt und der übersinnli­ chen Welt, der diesseitigen und der jenseitigen Welt, wird nun in der Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft die Aussicht auf eine spezielle Art des über die Grenzen des transzendentalen Realismus hinausgehenden Weltbildes eröffnen, nämlich die auf dem Grundgesetz der praktischen Vernunft beruhende Aussicht auf ein künftiges Leben. Die spekulative Ahnung einer intelligiblen Welt verwandelt sich also in das praktische Postulat eines künftigen Lebens. Darin besteht der gedankliche Fortschritt gegenüber dem Standpunkt, der in der Kritik der reinen Vernunft vertreten wurde: das Verhältnis zwischen der Seienden und sein-sollenden Welt ist nun nicht beliebig, son­ dern durch ein Gesetz der Vernunft bestimmt. Zudem besteht zwischen der Seienden und der sein-sollenden Welt der Imperativ der Hervorbringung, der aber ein bestimmtes zeitliches Verhältnis impliziert, da das, was hervor­ gebracht werden soll, zukünftig sein muss. Somit tritt ein zeitliches Verhältnis zwischen der seienden Welt und der sein-sollenden Welt auf, indem die sei­ ende Welt der sein-sollenden zeitlich vorausgeht. Wir sehen also, wie nun eine Theorie entwickelt wird, die ein nach Gesichtspunkten der Vernunft gerecht­ fertigtes gesetzmäßiges Verhältnis zwischen der sinnlichen Welt und der mora­ lischen Welt profiliert, dass zudem die zeitliche Implikation eines moralischen Lebens „nach“ diesem Leben beinhaltet. Die Antinomie der Vernunft hat somit in allen fünf Punkten ihres Widerstreits ein und denselben Nutzen, nämlich die Eröffnung der Aussicht auf eine höhere Ordnung der Dinge. Sie eröffnet also ein Weltbild, das über die Grenzen des transzendentalen Realismus hinausgeht, und das offenbar dem Weltbild des transzendentalen Idealismus entspricht. In bloß spekula­ tiver Hinsicht haben wir in diesem Zusammenhang zwischen der Welt der Erscheinungen und der Welt der Dinge an sich, der empirischen bzw. phä­ nomenalen und der noumenalen Welt unterschieden. Im Kanon der Kritik der reinen Vernunft haben wir denselben Unterschied zwischen der seien­ den (empirischen) und der sein-sollenden (moralischen) Welt erkannt und bereits gesehen, dass das Ideal des höchsten Guts und die darin enthaltene Autonomie der Vernunft eine bestimmte Welt als sein sollend fordert. In der Kritik der praktischen Vernunft sind wir nun offensichtlich zu dem Standpunkt gelangt, dass wir nicht mehr bloß auf eine unbestimmte Art und Weise zwi­ schen der seienden und sein-sollenden Welt unterscheiden müssen, sondern ein bestimmtes Verhältnis dieser beiden Welten, annehmen müssen: a) Der ganze Gegenstand des moralischen Willens (das höchste Gut) lässt sich unter der Bedingung, dass das Leben in dieser Welt die ganze Realität ausmacht, nicht retten. b) Da die Auflösung der Antinomie aber immer die Perspektive

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auf ein Dasein in einer höheren, unveränderlichen Ordnung der Dinge eröff­ net, stellt sie in praktischer Hinsicht insofern die „wohltätigste Verirrung“, in die die Vernunft jemals geraten konnte, dar, als sie unsere Hoffnung, nicht nur auf irgendein anderes, sondern ganz konkret auf ein künftiges Leben nährt. Die beiden Postulate werden zeigen, welche Schlüsse daraus gezogen werden müssen. Wir könnten also abschließend in Analogie zur Auflösung der Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft auch hier sagen, dass die Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft darauf beruht, dass die Unhaltbarkeit der These und Antithese unter den gegebenen Voraussetzungen, unter denen sie formuliert werden, erwiesen wird, nämlich unter der Bedingung, dass das Leben in dieser Welt die ganze Realität ausmacht. Der Widerstreit wird dadurch aufgelöst, dass das synthetische Verhältnis von Sittlichkeit und Glückseligkeit nur unter der Bedingung, dass ein künftiges Leben erwartet werden darf, angenommen werden kann. Es wird also auf dem synthetischen Verhältnis bestanden und das synthetische Verhältnis muss ein Verhältnis der Hervorbringung sein, aber das Resultat wird sich in „diesem Leben“ nicht ein­ stellen, sondern betrifft nur unsere intelligible Natur, also letztendlich nur die Vorstellung unserer selbst als intelligibler Wesen, die ungeachtet aller Nöte der Zeit imstande sind, den eigenen intelligiblen Charakter aus der Spontanität ihrer eigenen Vernunft zu bestimmen. Die Theorie des höchsten Guts betrifft also letztendlich die Bestimmung unseres intelligiblen Charakters, also die apriorische Bestimmung der idealtypischen Willensstruktur, die der vollen Entfaltung der praktischen Freiheit zugrunde gelegt werden muss und der wir entsprechen müssen, sofern wir zur vollen Entfaltung der praktischen Freiheit gelangen wollen. Ebenso wie alle Dinge an sich, ist auch dies bloß ein gedank­ licher Gehalt, also ein Noumenon, das aber nach bestimmten auf der Vernunft beruhenden Grundprinzipien mit Notwendigkeit als regulatives Prinzip an unsere freie Selbstbestimmung herangetragen wird. 6.3.6 Zusammenfassung der formalen Auffälligkeiten der Antinomie der praktischen Vernunft Die Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft weist gewisse Auffälligkeiten auf, durch die sie sich signifikant von der entsprechenden gedanklichen Figur in der Kritik der reinen Vernunft unterscheidet: 1.

In der Kritik der reinen Vernunft liegt der gesamten Antinomie die Idee der regressiven Synthesis zugrunde. Das ist in der Kritik der praktischen Vernunft nicht der Fall.

350 2.

3.

4.

5.

6.

kapitel 6

In der Kritik der reinen Vernunft formuliert Kant jeweils eine bestimmte Thesis und setzt ihr jeweils eine bestimmte Antithesis entgegen. Das ist in der Kritik der praktischen Vernunft nicht der Fall. Hier werden lediglich zwei Sätze formuliert, die auf unterschiedliche Art und Weise das Verhältnis zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit betreffen und sie werden nicht explizit als These und Antithese bezeichnet. In der Kritik der reinen Vernunft wird jeweils eine These formuliert, ihr eine Antithese entgegengesetzt, dann die These bewiesen und anschlie­ ßend die Antithese ebenfalls bewiesen. In der Kritik der praktischen Vernunft erweist sich der erste Satz als schlechterdings falsch und der zweite als bedingterweise falsch. In beiden Fällen bleibt also der „gründ­ liche Beweis“, der für die Antinomie der reinen Vernunft höchst bedeut­ sam war, aus. Die Antinomie der reinen Vernunft zeichnet sich dadurch aus, dass zwi­ schen der jeweiligen Thesis und Antithesis ein kontradiktorisches Verhältnis besteht. Ob ein entsprechendes Verhältnis zwischen den bei­ den Sätzen, die die Antinomie der praktischen Vernunft ausmachen, besteht, ist umstritten. In der Kritik der reinen Vernunft steht in allen Punkten des Widerstreits jeweils die These in der Tradition des Dogmatismus bzw. Stoizismus und die Antithese in der Tradition des Empirismus bzw. Epikureismus. In der Kritik der praktischen Vernunft steht der erste der beiden Sätze in der Tradition des Epikureismus und der zweite in der Tradition des Stoizismus. Problematisch ist allerdings die Tatsache, dass sowohl der erste als auch der zweite Satz, also These und Antithese, schlechterdings oder beding­ terweise falsch sind. Die Beweise bleiben also aus; und es ergibt sich das Problem, dass die Antinomie der praktischen Vernunft einen „unauflösli­ chen Widerspruch“ zwischen zwei unhaltbaren Sätzen darstellt. Ob das aber so ein „Skandal“ ist, wie die Antinomie der spekulativen Vernunft, steht infrage.327

327 Das Problem besteht aber darin, dass die Antinomie auch in der KpV die Funktion erfül­ len soll, die sie in der KrV besitzt, indem sie die Aussicht auf eine andere Welt, hier eine künftige Welt eröffnet. Sofern aber die praktische Vernunft in keine wirkliche Antinomie gerät, wird sie auch überhaupt nicht genötigt, den „transzendentalen Realismus“ infrage zu stellen. Dass dies für die spekulative Vernunft ausgemacht ist, muss mitnichten auch in praktischer Hinsicht als Argument gelten. Wenn also die Antinomie der praktischen Vernunft nicht „gründlich“ ist, besteht vielleicht überhaupt kein Anlass, eine künftige Welt anzunehmen.

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Jedenfalls besteht kein Zweifel daran, dass unter den Bedingungen des tran­ szendentalen Realismus, der in praktischer Hinsicht bedeutet, dass dieses uns­ rige Leben in der Sinnenwelt die gesamte Realität, also unser gesamtes Leben darstellt, keine Hoffnung auf die Hervorbringung des höchsten Guts, also auf die proportionierte Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit besteht. Wäre unsere Hoffnung auf Glückseligkeit beliebig, müsste man sich damit abfin­ den und in den gegebenen Umständen einrichten. Da unsere Hoffnung auf Glückseligkeit aber nach Kants Dafürhalten auf vernünftigen Gesichtspunkten beruht, also vernünftigerweise berechtigt ist, sind wir durch dieselbe Vernunft dazu gehalten, ein Leben anzunehmen, das nach den Grundsätzen der Vernunft bestimmt ist. Das Verhältnis zwischen unserem jetzigen Leben und dem sein-sollenden, moralischen, ist auf eine gesetzmäßige Art und Weise bestimmt, nämlich durch das Sittengesetz, also ein Gesetz, das ein gewisses Sollen an uns heranträgt, nämlich die Verpflichtung, die Welt so zu gestalten, dass das höchste Gut darin hervorgebracht werden kann. Zwischen der sinn­ lichen Welt und der moralischen Welt besteht also auch ein Verhältnis des Sollens und der Hervorbringung, und dieses Verhältnis impliziert auch eine bestimmte zeitliche Anordnung, denn dasjenige, was hervorgebracht wer­ den soll, muss zukünftig sein. Also wird das Leben in der moralischen Welt konkret als ein zukünftiges Leben verstanden, das, wie wir später sehen wer­ den, die Postulate der Unsterblichkeit der Seele und des Daseins Gottes mit sich bringt. Vor diesem Hintergrund macht auch Kants Unterscheidung der Art und Weise, wie die beiden Sätze, die die Antinomie der praktischen Vernunft aus­ machen, jeweils als falsch verstanden werden müssen, nämlich einmal als „schlechterdings falsch“ und einmal nicht schlechterdings, sondern nur „beding­ terweise falsch“ (KpV, A 206) Sinn: Dass das Bestreben nach Glückseligkeit eine tugendhafte Gesinnung hervorbringe, gilt für Kant als schlechterdings falsch und muss nicht weiter erörtert werden. Dagegen ist der Satz, dass „Tugend­ gesinnung notwendig Glückseligkeit hervorbringe“, nur unter bestimmten Bedingungen falsch, nämlich: „sofern sie als die Form der Kausalität in der Sinnenwelt betrachtet wird, und mithin, wenn ich das Dasein in derselben für die einzige Art der Existenz eines vernünftigen Wesens annehme.“ (KpV, A 206) Zusammenfassend könnte man also sagen: Das Hauptanliegen der Antinomie der praktischen Vernunft besteht nicht darin, einen formalen Widerstreit zu konstruieren, sondern eine vernünftigerweise berechtigte Aussicht auf ein zukünftiges Leben zu eröffnen. Der Begriff der intelligiblen Welt wird also hier auf eine spezielle Art und Weise interpretiert, und zwar auf eine Art und Weise, die in praktischer Hinsicht von größtem Interesse für die Vernunft ist. Bereits in Kanonkapitel der Kritik der reinen Vernunft war Kant der Ansicht, dass zu

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diesem Kanon insbesondere zwei Fragen gehören, nämlich: „ist ein Gott? ist ein künftiges Leben?“ (KrV, B 831). Die Auseinandersetzung mit der Antinomie der praktischen Vernunft geht derselben Frage nach, hat allerdings den metho­ dischen Vorteil, dass sie bei ihrer Gedankenführung auf ein „Grundgesetz“ der intelligiblen Welt zurückgreifen kann.

kapitel 7

Die Postulatenlehre Überblick In diesem Abschnitt rekonstruiere ich Kants Postulatenlehre in der Kritik der praktischen Vernunft und vertrete den Standpunkt, dass die beiden Postulate jeweils bestimmte Mängel menschlicher Akteure im Hinblick auf die Erfolgskontrolle in ihrer Praxis aufzei­ gen und mit der idealtypischen Performance praktischer Freiheit kontrastieren. Das Postulat der Unsterblichkeit der Seele profiliert den Mangel an Erfolgskontrolle men­ schlicher Akteure im Hinblick auf die Bestimmung ihrer Willensinhalte, also den Mangel an intrasubjektiver Willenskontrolle, während das Postulat vom Dasein Gottes den Mangel an Erfolgskontrolle menschlicher Akteure im Rahmen der Verwirklichung ihrer Willensinhalte in der empirischen Welt profiliert und mit dem idealtypischen Willen kontrastiert, der der maximal möglichen Entfaltung der praktischen Freiheit zugrunde liegen muss. Beide Postulate werden in Form von Schlussfiguren formuliert, bei denen die Vorstellung, dass das Sittengesetz das Grundgesetz der intelligiblen Welt sei, ents­ cheidend für die Nachvollziehbarkeit der Schlüsse ist. Die gesamte Postulatenlehre inter­ pretiere ich im Hinblick auf die Handlungsorganisation nach dem Gesichtspunkt der maximal möglichen Erfolgskontrolle im Rahmen der praktischen Freiheit.

Ebenso wie in der Kritik der reinen Vernunft stellt also auch in der Kritik der praktischen Vernunft das höchste Gut einen notwendigen Gegenstand der moralischen Selbstbestimmung dar und zwar die Totalität des Gegenstandes aller moralischen Bemühungen. Nun hat die Antinomie der praktischen Vernunft gezeigt, dass zwar zwischen der Sittlichkeit und der Glückseligkeit ein synthetisches Verhältnis angenommen werden muss und zwar ein syn­ thetisches Verhältnis der Hervorbringung, dass es aber ungeachtet aller Bemühungen um die moralische Vollkommenheit nicht möglich ist, das höchste Gut in diesem Leben hervorzubringen. Somit eröffnet die Antinomie bereits den Ausblick auf ein zukünftiges Leben, in dem die Möglichkeit zur Hervorbringung der Glückseligkeit als Produkt der vollkommenen morali­ schen Praxis aller vernünftigen Wesen besteht, aber sie reicht noch lange nicht aus, um ein solches künftiges Leben zu beweisen. Sofern Kant überhaupt das Anliegen verfolgt, über die bloße Ahnung und Erwägung der Möglichkeit eines künftigen Lebens hinaus die Notwendigkeit, ein solches anzunehmen, mit argumentativer Verbindlichkeit vorzutragen, muss die Argumentation auf eine Voraussetzung zurückgreifen, die in der Kritik der reinen Vernunft noch © koninklijke brill nv, leiden, ���4 | doi ��.��63/9789004271722_008

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nicht gegeben war, die aber in der Kritik der praktischen Vernunft vorliegt, näm­ lich das Faktum des Sittengesetzes. Wir wollen also nochmal darauf hinweisen, dass die Stellen in der Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft, A 5 ff., und in der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft, speziell A 73–75, worin Kant betont, dass wir durch das Faktum des Sittengesetzes etwas an die Hand bekommen haben, „das auf eine reine Verstandeswelt Anzeige gibt, ja diese sogar positiv bestimmt und uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz, erkennen läßt“ (KpV, A 74), dar­ auf hindeuten, dass Kant der Ansicht ist, durch das Faktum des Sittengesetzes tatsächlich ein Gesetz der intelligiblen Welt gewonnen zu haben, und dass es nun auf der Grundlage dieses Gesetzes möglich ist, auch gewisse Schlüsse zu ziehen bzw. gewisse Postulate zu formulieren. Wenn wir nämlich keiner­ lei Einblick in die gesetzmäßige Struktur der intelligiblen Welt besäßen, so könnten wir auch keinerlei gültige Schlüsse ziehen und keinerlei Postulate formulieren. In dieser Hinsicht war nämlich die Theorie des höchsten Guts in der Kritik der reinen Vernunft defizitär: sie war bereits imstande deutlich zu machen, dass die Hoffnung auf Glückseligkeit nur unter der Bedingung, dass ein Gott und dass ein künftiges Leben sei, aufrechterhalten werden kann, aber ihr fehlte ein Prinzip, nach dem sie die Notwendigkeit, aus Vernunftgründen die Existenz Gottes und eines künftigen Lebens anzunehmen, postulieren konnte. Dieses Prinzip ist aber nun das Sittengesetz als Grundgesetz der intel­ ligiblen Welt. In der Kritik der reinen Vernunft galt das Sittengesetz noch nicht explizit als Grundgesetz der intelligiblen Welt. Sofern wir Kants diesbezügli­ che Äußerungen in der Kritik der praktischen Vernunft (Vgl.: KpV, A 73 f.) ernst nehmen, müssen wir daran festhalten, dass nach dem Stand der Dinge in der Kritik der reinen Vernunft zwar die Perspektive auf eine intelligible Welt eröff­ net wurde, dass aber sämtliche Erkenntnisse über die Beschaffenheit dersel­ ben als unmöglich galten. Nun stehen die Dinge anders und wir können aus zwei ganz bestimmten Grundsätzen zwei ganz bestimmte Schlüsse herleiten, die die Postulatenlehre begründen. A. B.

Der erste Grundsatz besagt, dass das höchste Gut ein notwendiges Objekt eines durchs moralische Gesetz bestimmbaren Willens darstellt. Der zweite Grundsatz besagt, dass das moralische Gesetz das Grundge­ setz der intelligiblen Welt darstellt.

Als Referenz für die starke Betonung des Sittengesetzes als eines „Grundgesetzes“ der intelligiblen Welt in dem hier thematischen Kontext, will ich auf den ersten Satz aus dem zweiten Postulat verweisen:

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Das moralische Gesetz führte in der vorhergehenden Zergliederung zur praktischen Aufgabe, welche ohne allen Beitritt sinnlicher Triebfedern bloß durch reine Vernunft vorgeschrieben wird, nämlich der notwendi­ gen Vollständigkeit des ersten und vornehmsten Teils des höchsten Guts, der Sittlichkeit, und, da diese nur in einer Ewigkeit völlig aufgelöst wer­ den kann, zum Postulat der Unsterblichkeit. Eben dieses Gesetz muss auch zur Möglichkeit des zweiten Elements des höchsten Guts, nämlich der jener Sittlichkeit angemessenen Glückseligkeit, ebenso uneigennützig wie vorher aus bloßer unparteiischer Vernunft (. . .) die Existenz Gottes (. . .) postulieren. (KpV, A 223. Typographische Hervorhebungen des Originals beseitigt, eigene Hervorhebungen eingefügt.) Die kursiv (von mir) hervorgehobene Stelle macht deutlich, dass beiden Postulaten die Vorstellung eines bestimmten Gesetzes zugrunde liegt, nämlich des Sittengesetzes als Grundgesetz der intelligiblen Kausalität. 7.1

Das Postulat der Unsterblichkeit der Seele

Das Postulat der Unsterblichkeit der Seele (KpV, A 119 ff.) wird als Schluss aus der Voraussetzung, dass das höchste Gut ein notwendiges Objekt des morali­ schen Willens darstellt, formuliert. Die erste Prämisse besagt also: 1. Das höchste Gut stellt das notwendige Objekt eines durch das moralische Gesetz bestimmbaren Willens dar. Nun haben wir aber gesehen, dass der Begriff des Höchsten sowohl das höch­ ste Oberste als auch das höchste Vollkommene umfasst und dass das höchste Oberste jederzeit das moralische Gesetz ist. Demnach beruht das höchste Gut jederzeit auf der völligen Angemessenheit der Gesinnung zum moralischen Gesetz und zwar als oberste Bedingung des höchsten vollendeten Guts. Die zweite Prämisse lautet also: 2. Die völlige Angemessenheit der Gesinnung zum moralischen Gesetz stellt die oberste Bedingung des höchsten Guts dar. Wir haben also, sofern wir uns durch die völlige Angemessenheit der Gesinnung zum moralischen Gesetz, also durch vollkommene Moralität auszeichnen, ein gewisses Recht, die Glückseligkeit zu erhoffen. Allein: wer kann das schon? Wäre die vollkommene Angemessenheit unserer Gesinnung zum moralischen Gesetz in diesem Leben möglich, bestünde überhaupt kein Anlass, die Unsterblichkeit der Seele zu postulieren; aber da diese Forderung nichts Geringeres als „Heiligkeit“ darstellt, nämlich „eine Vollkommenheit,

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deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt in keinem Zeitpunkte seines Daseins fähig ist“ (KpV, A 220), besteht keinerlei Hoffnung, dass das höchste Gut realisiert werden kann. An dieser Stelle sieht man nun, welche Bedeutung die Theorie vom Faktum des Sittengesetzes als Grundgesetz der intelligib­ len Welt spielt, denn ohne diese Theorie könnte man die Argumentation an dieser Stelle abbrechen. Man würde feststellen, dass die Heiligkeit die ober­ ste Bedingung der Bewirkung des höchsten Guts darstellt, Heiligkeit für die Menschen aber unmöglich ist, also könnte man daraus den Schluss ziehen, dass das höchste Gut für Menschen unmöglich ist. Wenn es aber unmöglich ist, kann seine Hervorbringung niemals Pflicht sein, also wäre die Theorie des höchsten Guts widersprüchlich. Das wäre zwar enttäuschend, aber was will man machen? Exkurs: Die Formulierung, die Kant in diesem zweiten Satz der entsprechen­ den Schlussfigur wählt, enthält bereits einen Hinweis auf den Fortgang des Gedankens, und zwar in der Bezeichnung der Restriktion, unter der ein ver­ nünftiger, in diesem Fall speziell ein menschlicher, Akteur niemals zur mora­ lischen Vollkommenheit gelangen kann, nämlich unter den Bedingungen der „Sinnenwelt“. Die Formulierung, dass ein vernünftiges Wesen „in kei­ nem Zeitpunkte seines Daseins“ zur moralischen Vollkommenheit fähig ist, muss unter dieser Restriktion interpretiert werden und gilt darum keines­ wegs uneingeschränkt. Wenn nämlich ein vernünftiges Wesen tatsächlich in keinem Zeitpunkte seines Daseins zur moralischen Vollkommenheit fähig wäre, wäre auch das höchste Gut in keinem Zeitpunkte, also niemals möglich. Kant sagt aber lediglich, dass ein vernünftiges Wesen unter den Bedingungen der Sinnenwelt in keinem Zeitpunkte seines Daseins zur mora­ lischen Vollkommenheit fähig ist, wodurch zumindest die Denkmöglich­ keit bestehen bleibt, dass unter anderen Bedingungen, unter Aufhebung der Bedingungen der Sinnenwelt oder zumindest unter Aufhebung der Restriktionen, die in ihr bestehen, die moralische Vollkommenheit durch­ aus möglich ist. Die relevante gedankliche Wendung wird von Kant auf folgende Art und Weise zum Ausdruck gebracht: „Da sie [die Heiligkeit] indessen gleich­ wohl als praktisch notwendig gefordert wird, so kann sie nur in einem ins Unendliche gehenden Progressus zu jener völligen Angemessenheit angetrof­ fen werden, . . . “. (KpV, A 220) Aus der bloßen Unangemessenheit unserer Natur zum Ideal der moralischen Vollkommenheit lässt sich mitnichten mit Notwendigkeit denken, dass wir uns

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unendlich an dieses Ideal annähern müssen. Der Imperativ dieser unendlichen Annäherung ergibt sich nämlich erst durch das Faktum des Sittengesetzes. Ohne das Sittengesetz, also ohne das Faktum der Vernunft, wäre auch keiner­ lei Normativität, keinerlei Sollen gegeben. Das Faktum der Vernunft, nämlich das moralische Gesetz, verpflichtet uns aber dazu, jederzeit die maximal mög­ liche Mühe aufzuwenden, um die maximal mögliche Entsprechung zum Ideal der moralischen Vollkommenheit herzustellen. An dieser Stelle wird also die Prämisse geltend gemacht, dass das moralische Gesetz das Grundgesetz der intelligiblen Welt darstellt, das uns jederzeit verpflichtet, die maximal mög­ liche Entsprechung zur moralischem Vollkommenheit herzustellen. Somit haben wir die folgende gedankliche Struktur: 1.

Das höchste Gut stellt das notwendige Objekt eines durchs moralische Gesetz bestimmbaren Willens dar. 2. Die völlige Angemessenheit der Gesinnung zum moralischen Gesetz (Heiligkeit) stellt die oberste Bedingung des höchsten Guts dar. 3. Die Heiligkeit kann von keinem vernünftigen Wesen unter den restrikti­ ven Bedingungen der Sinnenwelt erreicht werden. 4. Das moralische Gesetz, das das Grundgesetz der intelligiblen Welt dar­ stellt, fordert die maximale Annäherung an das Ideal der moralischen Vollkommenheit. Nun wird insbesondere vor dem Hintergrund von 3 und 4 die Konsequenz gezogen, dass ein unendlicher Progress der Annäherung an das moralische Ideal postuliert werden muss. Diese Forderung wird an jeden einzelnen Akteur als Person gerichtet, und verlangt nicht von der Totalität der Gattung, dass sie im Laufe ihrer Geschichte immer mehr diesem Ideal entsprechen solle, sondern verlangt von jeder ein­ zelnen Person, dass sie sich in einem unendlichen Progress der Annäherung immer mehr an das moralische Ideal angleicht, wofür die Unendlichkeit der persönlichen Existenz vorausgesetzt werden muss: Dieser unendliche Progressus ist aber nur unter Voraussetzung einer ins unendliche fortdauernden Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens (welche man die Unsterblichkeit der Seele nennt) möglich. Also ist das höchste Gut praktisch nur unter der Voraussetzung der Unsterblichkeit der Seele möglich; mithin diese, als unzertrennlich mit dem moralischen Gesetz verbunden, ein Postulat der reinen prakti­ schen Vernunft (. . .). (KpV, A 220)

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Die Überzeugungskraft dieser gesamten Schlussfigur hängt davon ab, ob an der obigen Stelle die Argumentation abgebrochen und der Widerspruch zwi­ schen der sinnlichen Realität und dem Ideal der moralischen Vollkommenheit als unüberwindbar hingenommen wird, oder die gedankliche Wende zum Prozess der unendlichen Annäherung an dieses Ideal nachvollzogen wird. Die ersten drei Sätze sind nämlich vor dem Hintergrund der vorliegenden Theorie des höchsten Guts als eines notwendigen Gegenstandes der moralischen Selbstbestimmung zumindest verständlich. Wir sehen ein, dass dafür die moralische Vollkommenheit gefordert wird und sehen auch ein, dass diese in der Sinnenwelt nicht erreicht werden kann.328 Die Frage ist nun, ob wir diese Unmöglichkeit als endgültig anerkennen und uns damit abfinden, oder eine auf der Vernunft und einer durch die Vernunft erkennbaren Gesetzmäßigkeit beruhende Notwendigkeit besteht, über diesen Gedanken hinauszugehen. Nach Kants Dafürhalten ist die entsprechende Notwendigkeit selbstverständlich gegeben und sie beruht auf der spezifischen Form der intelligiblen Kausalität, nämlich dem moralischen Sollen, dem moralischen Imperativ. Dieser Gedanke ist wichtig, darum will ich ihn, ehe ich weiter auf die Schlussfigur, durch die das Postulat der Unsterblichkeit der Seele begründet wird, eingehe, erläutern: Wir würden jederzeit zustimmen, dass ein Übergang von den Sätzen 3 und 4 zur gedanklichen Figur der unendlichen Annäherung an das moralische Ideal überzeugend wäre, wenn in 4 eine Bestimmung eingeführt würde, die eine auf der empirischen Naturkausalität beruhende Notwendigkeit in den themati­ schen Sachverhalt einbringt. Wenn dort also ein Satz stünde, wie: „Nun ist es aber ein Gesetz der empirischen Natur, dass sich jedes Lebewesen sukzessive bis zur moralischem Vollkommenheit entwickelt“, dann würden wir sofort anerkennen, dass aus 3 und 4 der Schluss gezogen werden kann, dass dieser Prozess der Vervollkommnung auch notwendigerweise angenommen werden muss. Es ist darum entscheidend, zu verstehen, dass das Sittengesetz nach Kants Dafürhalten (in der Kritik der praktischen Vernunft)329 nichts geringeres als das „Grundgesetz einer übersinnlichen Natur und einer reinen Verstandeswelt“ (KpV, A 74 f.) darstellt. Es besitzt demnach in praktischer Hinsicht, also im 328 Zwar ist in der Sinnenwelt moralische Praxis möglich, nicht aber die vollkommene Entsprechung eines Charakters mit dem moralischen Ideal. Die einzelne Handlung mag also moralisch sein, auch kann eine Person zahlreiche moralische Handlungen ausführen und viel Gutes in ihrem Leben bewirken, aber als Person wird sie in ihrer Totalität niemals dem Ideal der Heiligkeit entsprechen. Das Sittengesetz fordert aber nicht nur vereinzelte gute Handlungen, sondern die Heiligkeit der ganzen Person und darum haben wir es mit dem hier thematischen Problem zu tun. 329 In der Kritik der reinen Vernunft war dies, wie wir oben gesehen haben, noch nicht der Fall.

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Hinblick auf die strukturelle Beschreibung der Beschaffenheit der intelligib­ len Welt dieselbe Verbindlichkeit wie die Kausalität nach Naturgesetzen in Bezug auf die empirische Welt. Die moralische Notwendigkeit wird also von der Vernunft mit derselben Strenge an uns herangetragen, wie die empirischen Gesetze der Naturerkenntnis, lediglich in anderer Hinsicht; Letztere betreffen die Weltorientierung, das Sittengesetz aber unsere Selbstbestimmung und die damit einhergehende Werteorientierung in der Praxis. Mit dieser Strenge und Notwendigkeit trägt die Vernunft also den moralischen Imperativ an uns heran und verlangt von uns, dass wir das Ideal der moralischen Vollkommenheit erreichen sollen. Sie verlangt nicht, dass wir hin und wieder in der einen oder anderen Hinsicht die eine oder andere Ähnlichkeit mit der moralischen Vollkommenheit aufweisen, und auch nicht, dass wir auf einer imaginären Skala von 1 bis 10 im Laufe unseres Lebens den Fortschritt von 1 bis 3 erzie­ len. Nein, mit dem Faktum des Sittengesetzes trägt die Vernunft unnachgiebig die Forderung an uns heran, dass wir der moralischen Vollkommenheit nach dem Standard 10 entsprechen. Diese Forderung ist intelligibel, also „unzeit­ lich“. Wir haben aber in der Auflösung der Freiheitsantinomie gesehen, wie die Autonomie der Vernunft „unzeitlich“ den intelligiblen Charakter bestimmt, nämlich indem sie vorschreibt, was jederzeit, überall und von jedem einzelnen Akteur unter allen nur erdenklichen Umständen gewollt werden soll und was dagegen niemals gewollt werden darf. Mit dieser Strenge und Notwendigkeit trägt sie auch das Ideal der moralischen Vollkommenheit als Urbild des Charakters, dem wir entsprechen sollen, an uns heran; und wir sollen dies unbedingt. (Vgl.: KpV, A 221 f.) So wird der moralische Imperativ auch in die Argumentation, die die Unsterblichkeit der Seele postuliert, eingebracht. Wir weisen also nach Aussage in 3 als Sinnenwesen notwendigerweise ein gewisses Defizit in Bezug auf die moralische Vollkommenheit auf, sind aber als intelligible Wesen unbedingt dazu aufgefordert, dem Ideal der moralischen Vollkommenheit uneingeschränkt zu entsprechen. Daraus ergibt sich die Forderung, dass wir unseren seienden Zustand in der sinnlichen Welt dem sein-sollenden Zustand in der intelligiblen Welt angleichen und zwar nicht bis zu einem beliebigen Bildungsstand, sondern bis zur vollkommenen Entsprechung. Sofern aber die gedankliche Wende zum unendlichen Progress der Annäherung an das moralische Ideal mitgemacht wird, muss nur noch eine Bedingung erfüllt sein, um den kantischen Schluss von der Unsterblichkeit der Seele nachzuvollziehen, nämlich die Bedingung, dass der moralische Imperativ tatsächlich an jeden einzelnen Akteur als Person gerichtet ist. Dann würden alle Überlegungen, die die Notwendigkeit und Konsequenz, mit der das Faktum des Sittengesetzes den entsprechenden Imperativ der Entsprechung

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zum moralischen Ideal an uns heranträgt, tatsächlich jede einzelne Person betreffen, und wenn diese Entsprechung nur in einem unendlichen Progress der Annäherung denkbar ist, so müsste auch jede einzelne Person diesen unendlichen Progress der Annäherung mitmachen. Dies impliziert aber eine unendliche Praxis der persönlichen Selbstvervollkommnung, die selbstver­ ständlich die unendliche persönliche Existenz voraussetzt. Damit ist die Unsterblichkeit der Seele mitnichten im spekulativen Sinne bewiesen. Auch heißt dies nicht, dass es unsere moralische Pflicht sei, sie anzunehmen. Vielmehr bedeutet es, dass wir sie bei der Ausübung unserer moralischen Pflicht voraussetzen müssen, weil ohne sie die Pflicht, speziell die Pflicht zur Hervorbringung des höchsten Guts, widersprüchlich würde. 7.2

Das Postulat vom Dasein Gottes

Ebenso wie das erste Postulat, wird auch das zweite Postulat als Schluss for­ muliert. Doch ehe ich auf die Schlussfigur selbst eingehe, muss ich etwas nachholen, das ich im Zusammenhang mit der Antithesis der Antinomie der praktischen Vernunft vorläufig übergangen habe, nämlich Kants Darstellung des eigentlichen Grundes dafür, dass die Antithesis unter den gegebenen Bedingungen, unter welchen sie formuliert wurde, nicht haltbar ist. Ich führe hier noch einmal die entsprechende Textpassage an: Das zweite ist aber auch unmöglich, weil alle praktische Verknüpfung der Ursachen und der Wirkungen in der Welt, als Erfolg der Willensbestimmung, sich nicht nach moralischen Gesinnungen des Willens, sondern der Kenntnis der Naturgesetze und dem physischen Vermögen, sie zu seinen Absichten zu gebrauchen, richtet, folglich keine notwendige und zum höchsten Gut zureichende Verknüpfung der Glückseligkeit mit der Tugend in der Welt durch die pünktlichste Beobachtung der moralischen Gesetze erwartet werden kann. Da nun die Beförderung des höchsten Guts, welches diese Verknüpfung in sei­ nem Begriffe enthält, ein a priori notwendiges Objekt unseres Willens ist und mit dem moralischen Gesetze unzertrennlich zusammenhängt, so muss die Unmöglichkeit des Ersteren auch die Falschheit des Zweiten beweisen. (KpV, A 204 f.) Die Argumentation beruht also auf entscheidende Art und Weise auf der Heterogenität der Gesetze, die die Tugend bewirken, und der Gesetze, die die

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Glückseligkeit bewirken.330 Würde nämlich die Glückseligkeit durch dieselben Gesetze bewirkt, wie die Würdigkeit glücklich zu sein – also durch intelligible Gesetze der Freiheit –, so könnte in der Tat durch die pünktlichste Beobachtung oder besser noch, durch die pünktlichste Befolgung der moralischen Gesetze, sichergestellt werden, dass sich notwendigerweise die Glückseligkeit ein­ stellt, denn unter dieser Bedingung könnte der Akteur durch die pünktlichste Befolgung intelligibler Gesetze gewährleisten, dass ihm ‚alles nach Wunsch und Willen geht‘, was nach Kants Definition eben Glückseligkeit bedeutet. Da aber einem Akteur nur unter der Bedingung, dass er sowohl im Hinblick auf intelligible als auch empirische Gesetze (Naturgesetze) die volle Gewalt, also die vollkommene Erfolgskontrolle besitzt, tatsächlich ‚alles nach Wunsch und Willen geht‘, reicht die erste Bedingung, also die „pünktlichste Befolgung der moralischen Gesetze“ nicht aus. Ich habe dies in der Einleitung auch im Kontrast zu Polloks Profilierung der Rationalitätsklausel in der Grundlegung betont: „Wenn die Vernunft alle Gewalt über das Begehrungsvermögen besäße“, wären wir zwar einen Schritt weiter als jetzt, aber noch immer nicht bei der Glückseligkeit und dem höchsten Gut, denn es würde uns noch immer nicht ‚alles nach Wunsch und Willen‘ gehen, weil wir keine Gewalt über die Naturgesetze haben. Nur einem Wesen, dass zugleich alle Gewalt, also die volle Erfolgskontrolle im Umgang mit den Naturgesetzen besitzt, kann ‚alles nach Wunsch und Willen gehen‘. Darum ist die Heterogenität der Gesetze, nach denen die Glückswürdigkeit und Glückseligkeit bewirkt werden, so wichtig. Ich komme darauf unten, im Rahmen meiner Respondenz auf Willascheks entsprechenden Einwand, zurück. Aber wir sehen, ganz ungeachtet der Frage, ob unter Missachtung der Heterogenität der hier wirksamen Gesetze überhaupt noch ein syntheti­ sches Verhältnis zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit angenommen werden könnte, dass Kant die Bewirkung von Glückseligkeit nach intelligib­ len Gesetzen für unmöglich hält. Warum das so ist, erkennen wir am besten, wenn wir die zweite Anmerkung zum zweiten Lehrsatz berücksichtigen, worin Kant die empirische Qualität der Glückseligkeit und die sich daraus ergebende Kontingenz darstellt:

330 Vgl.: Düsing, K. 2010: Glück und Lebenssinn in Kants Moraltheologie. In: J. Disse/ B. Goebel (Hg.): Gott und die Frage nach dem Glück. Anthropologische und ethische Perepektiven. 219. Im Übrigen wird dies Willascheks zweiten Einwand gegen die Prämissen der Postulatenlehre betreffen, mit dem ich mich im nächsten Abschnitt auseinandersetze.

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Worin nämlich jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe, kommt auf jedes sein besonderes Gefühl der Lust und Unlust an, und selbst in einemund­ demselben Subjekt auf die Verschiedenheit des Bedürfnisses nach den Abänderungen dieses Gefühls, und ein subjektiv notwendiges Gesetz (als Naturgesetz) ist also objektiv ein gar sehr zufälliges praktisches Prinzip, das in verschiedenen Subjekten sehr verschieden sein kann und muss, mithin niemals ein Gesetz abgeben kann; weil es bei der Begierde nach Glückseligkeit nicht auf die Form der Gesetzmäßigkeit, sondern lediglich auf die Materie ankommt, nämlich ob und wie viel Vergnügen ich in der Befolgung des Gesetzes zu erwarten habe. (KpV, A 46) Man sieht also, dass Kant auch in der Kritik der praktischen Vernunft ganz klar einen sinnlichen, oder, wie Düsing, Albrecht, Mariña u. A. sagen: „empirischen“331 aber eben nicht intellektuellen Begriff der Glückseligkeit vertritt, und dass dieser empirische Glückseligkeitsbegriff zunächst einmal ganz frei von allen moralphilosophischen Konnotationen ist und insofern ins­ besondere gegenüber dem normativen Anspruch, der sich aus der stoischen Tradition ergibt, selbstständig ist. So betont auch Milz: Kant besteht hier gegenüber Stoa und Epikur auf einem empirischen Begriff des sinnlich bedingten Glücks, der die Glückserfahrung nicht durch die Unterscheidung von „echter“ und „wahrer“ Glückseligkeit und bloß scheinbarem, sinnlichen Glück schon vorweg moralisch nor­ miert und zensiert. Insbesondere gegenüber der Stoa beharrt er auf der Erfahrung der Differenz: . . .332 Die Glückseligkeit ist nämlich in der Tat von einer ganzen Reihe empirisch psychologischer Gesichtspunkte abhängig, die sogar die Frage betreffen, ob überhaupt und wie viel Vergnügen der Einzelne in der Befolgung bestimm­ ter Gesetze zu generieren fähig ist. Diese Gesichtspunkte müssen zusätzlich zu der Definition, die eigentlich im Kontext des zweiten Postulats formuliert wird und die die Glückseligkeit als Zustand eines vernünftigen Wesens in der 331 Vgl.: Albrecht, M. 1978: Kants Antinomie der praktischen Vernunft. 51 f.; Düsing, K. 2010: Kritik der Theologie und Gottespostulat bei Kant. In: N. Fischer/ M. Forschner (Hg.): Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants. 68. Ebenso in: Ders. 2010: Glück und Lebenssinn in Kants Moraltheologie. In: J. Disse/ B. Goebel (Hg.): Gott und die Frage nach dem Glück. Anthropologische und ethische Perspektiven. 218 ff.; Mariña, J. 2000: Making Sense of Kant’s Highest Good. In: KS 91. 331, 335. 332 Milz 2002, 111.

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Welt, dem alles nach Wunsch und Willen geht, definiert (KpV, A 224), berück­ sichtigt werden, und sobald dies geschieht, wird uns bewusst, dass die tatsäch­ liche Hervorbringung der Glückseligkeit, also ihre reale Hervorbringung in der Praxis von einer ganzen Reihe von Faktoren abhängig ist, die mitnichten aus der Apriorizität der autonomen Vernunft eingesehen oder abgeleitet wer­ den können. Die Vernunft vermag es zwar, den Willen a priori zu bestimmen, nicht aber den Willen so sehr zu determinieren, dass a priori bestimmt wer­ den könnte, welcher Akteur worin sein Glück zu suchen und finden habe und wie er im Detail zur Glückseligkeit gelangen könne. Demnach sind das reine sittliche Wollen und die sittliche Gesinnung, wie Düsing betont, als solche zwar handlungsmotivierend, aber sie besitzen „keine definitive Macht über die Folgen in der sinnlichen Welt und spezieller: in der empirischen sozialen Welt“,333 und dies zumal die empirische Glückseligkeit, wie Mariña betont, durch die Rezeptivität des inneren und äußeren Sinnes bedingt und dement­ sprechend kontingent ist.334 Das eigentliche Argument, wodurch die Antithese widerlegt wird, bein­ haltet aber darüber hinaus noch eine Aussage, die bereits in der Kritik der reinen Vernunft ganz entscheidend in die Moraltheologie integriert wurde, nämlich die Aussage, dass ein entsprechender Zusammenhang zwischen der Sittlichkeit und der Glückseligkeit in der empirischen Welt mitnichten beobachtet werden kann. In der Kritik der reinen Vernunft hält Kant fest: . . . so ist weder aus der Natur der Dinge der Welt, noch der Kausalität der Handlungen selbst und ihrem Verhältnisse zur Sittlichkeit bestimmt, wie sich ihre Folgen zur Glückseligkeit verhalten werden, und die ange­ führte notwendige Verknüpfung der Hoffnung, glücklich zu sein, mit dem unablässigen Bestreben, sich der Glückseligkeit würdig zu machen, kann durch die Vernunft nicht erkannt werden, wenn man bloß Natur zum Grunde liegt, . . . (KrV, B 838) Die für die Theorie des höchsten Guts entscheidende Voraussetzung des synthetischen Verhältnisses zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit, also der Gedanke, dass die Sittlichkeit die Glückseligkeit befördere, ist nach allein deskriptiven Gesichtspunkten jedenfalls in dieser Sinnenwelt über­ haupt nicht beobachtbar. Und das hat nach Kants Dafürhalten einen ganz bestimmten Grund, nämlich die Tatsache, dass die intelligible Kausalität 333 Vgl.: Düsing, K. 2010: Kritik der Theologie und Gottespostulat bei Kant. In: N. Fischer/ M. Forschner (Hg.): Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants. 68. 334 Mariña, J. 2000: Making Sense of Kant’s Highest Good. In: KS 91. 335.

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Gesetze vorschreibt, die die Würdigkeit glücklich zu sein betreffen, also die Tugendhaftigkeit vernünftiger Wesen ausmachen, aber nicht unmit­ telbar die Folgen dieser Tugendhaftigkeit in der Sinnenwelt betreffen. Handlungstheoretisch reflektiert beschreibt der Ausdruck „Glückswürdigkeit“ das intrasubjektive Verhältnis des Akteurs zu seinen Willensinhalten (Zielen/ Zwecken) und betrifft die Frage, ob diese Willensinhalte als Verwirklichung reiner praktischer Prinzipien unter empirischen Bedingungen angesehen werden können. Über das Verhältnis des Akteurs zur empirischen Welt ist dadurch nichts ausgesagt oder gar gesetzmäßig bestimmt, also auch nicht „beobachtbar“. Und es ist schon gar nicht empirisch beobachtbar, dass tugend­ haften Menschen in der Welt „alles nach Wunsch und Willen“ geht. Es ist sogar durchaus möglich, dass einem tugendhaften Wesen in der Sinnenwelt ein Schicksal widerfährt, das es in tiefstes Unglück stürzt. Wäre dies nicht denk­ bar, wäre wahrscheinlich niemals eine Tragödie geschrieben worden. Man hat sogar das Gefühl, dass die vollkommene Tugendhaftigkeit unter empirischen Bedingungen dem Glück mitunter abträglich sein könnte. Jedenfalls ergibt sich auf diese Art und Weise ein ganz bestimmtes Problem, das, ähnlich wie bereits in der Kritik der reinen Vernunft, wieder eine bestimmte Herausforderung an die Theorie der maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit, also an die Theorie der optimalen Handlungsorganisation heranträgt, und das sich aus der Interaktion des moralischen Subjekts mit der Welt ergibt. Die Interaktion zwischen seiner eigenen intelligiblen Natur und seiner empirischen Natur betrifft das intrasubjektive Verhältnis zu den eigenen Neigungen und fällt in den Anspruch der Angemessenheit der Gesinnung zum moralischen Gesetz, also in den Gegenstandsbereich des ersten Postulats. Dagegen betrifft die Frage nach den Grenzen und Perspektiven der Verwirklichung der eigenen Willensinhalte in der empirischen Welt den Gegenstandsbereich des zweiten Postulats.335 Wäre das entsprechende Problem nicht gegeben, wäre auch das zweite Postulat überhaupt nicht nötig, aber aufgrund der Heterogenität der intelligiblen und empirischen Gesetze und der Tatsache, dass die Befolgung der intelligiblen Gesetze mitnichten die Kontrollierbarkeit der Folgen nach

335 In Polloks Arbeit beschreibt die von ihm so genannte „Rationalitätsklausel“ den Gegenstandsbereich des ersten Postulats. Ich habe einleitend darauf hingewie­ sen, dass zusätzlich zu dieser Formal („. . . wenn die Vernunft alle Gewalt über das Begehrungsvermögen besäße“) noch die Formel „. . . wenn das Subjekt alle Gewalt über die Welt, in der es handelt, besäße“ hinzu kommen muss, um die kantische Theorie der Handlungsorganisation, spe­ziell seine Theorie der optimalen Praxis, zu verstehen. An dieser Stelle sieht man hoffentlich, warum ich dies betont habe. Vgl. Abschnitt 1.1 oben.

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den Gesichtspunkten der empirischen Gesetze impliziert,336 ergibt sich für die Erfolgskontrolle im Rahmen der maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit der Anspruch, die Auswirkungen der eigenen Handlungen in der Welt ebenfalls zu kontrollieren und vor allen Dingen zu gewährleisten, dass trotz der Heterogenität der entsprechenden Gesetze die Einheit des Endzwecks gewährleistet werden kann, nämlich die Bewirkung des höchsten Guts in einer, wie auch immer gearteten, Welt. Das zweite Postulat betrifft also den Kern des synthetischen Verhältnisses von Sittlichkeit und Glückseligkeit bzw. wieder genau die Frage: „wie ist das höchste Gut praktisch möglich?“ (KpV, A 203). Wir halten also rückblickend in Bezug auf die Antinomie der praktischen Vernunft fest, dass die Antithese, nämlich die Annahme, die Maxime der Tugend könne die wirkende Ursache der Glückseligkeit in der empirischen Welt sein, darum unhaltbar ist, weil der Maxime der Tugend das Grundgesetz der intelligiblen Welt, also das Sittengesetz, der Glückseligkeit in der empiri­ schen Welt dagegen die empirischen Gesetze zugrunde liegen, und weil nach dem gegebenen Stand der Dinge noch nicht gezeigt werden kann, dass und ob diese Gesetze auf eine kohärente Art und Weise eine Einheit darstellen. Zu unserer „Natur“ gehören beide (Vgl.: KpV, A 74), aber da unsere sinnliche Natur die Existenz unter empirischen Gesetzen darstellt, ist jeder menschliche Akteur in Bezug auf diese Gesetze heteronom, und diese Heteronomie stellt in Bezug auf die Frage der maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit, speziell im Hinblick auf Erfolgskontrolle, eine echte Herausforderung dar. Nun habe ich aber mehrfach darauf hingewiesen, dass Kants Definition der Glückseligkeit in handlungstheoretischer Hinsicht lediglich eine Aussage über Erfolgskontrolle beinhaltet und wir sehen zunehmend, wie das Begriffspaar „Glückswürdigkeit“ und „Glückseligkeit“ handlungstheoretisch zu einander steht. „Glückswürdigkeit“ ist ein Ausdruck der völligen Erfolgskontrolle auf intrasubjektiver Ebene, „Glückseligkeit“ ist die vollkommene Erfolgskontrolle. Dass die Glückseligkeit auf der Glückswürdigkeit beruht, die Glückswürdigkeit also das „höchste oberste Gut“ darstellt, bedeutet, dass die vollkommene Erfolgskontrolle die vollkommene intrasubjektive Kontrolle, also die vollkom­ mene Herrschaft des Subjekts über sich selbst und seinen Willen, voraussetzt. Vor diesem Hintergrund kommen wir also zur Interpretation des zweiten Postulats: Ebenso wie das erste Postulat, setzt auch das zweite voraus, dass erstens das höchste Gut die Totalität des Gegenstandes der freien, morali­ schen Selbstbestimmung darstellt, und zweitens, dass das Sittengesetz ein

336 Vgl.: Mariña, J. 2000: Making Sense of Kant’s Highest Good. In: KS 91. 334.

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Grundgesetz der intelligiblen Kausalität darstellt. Vor diesem Hintergrund argumentiert Kant folgendermaßen:337 1. Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht. 2. Die Glückseligkeit beruht „also“ auf der Übereinstimmung der Natur zu dem ganzen Zwecke eines vernünftigen Wesens. 3. Somit beruht sie auch auf der Übereinstimmung der Natur zu dem wesentlichen Bestimmungsgrunde seines Willens. 4. Nun gebietet das moralische Gesetz als ein Gesetz der Freiheit durch Bestimmungsgründe, die von der Natur und der Übereinstimmung der­ selben zu unserem Begehrungsvermögen (als Triebfedern) ganz unab­ hängig sein sollen. 5. Das handelnde vernünftige Wesen in der Welt ist aber nicht zugleich Ursache der Welt und der Natur selbst. 6. Also ist in den moralischen Gesetzen nicht der mindeste Grund zu einem notwendigen Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und der ihr propor­ tionierten Glückseligkeit eines zur Welt als Teil gehörigen und daher von ihr unabhängigen Wesens, welches eben darum durch seinen Willen nicht Ursache dieser Natur sein und sie, was seine Glückseligkeit betrifft, mit seinen praktischen Grundsätzen aus eigenen Kräften nicht durch­ gängig einstimmig machen kann. Der sechste Punkt enthält offensichtlich die entscheidende Überlegung, indem er den entsprechenden Mangel an Erfolgskontrolle, an dem wir als Menschen bei der Ausübung der praktischen Freiheit in der Interaktion mit der uns umgebenden Welt leiden, benennt, und deutlich macht, dass wir aufgrund dieses Mangels nicht imstande sind, aus eigenen Kräften sicherzustellen, dass wir durch die Befolgung von Gesetzen, die der Autonomie unserer Vernunft entspringen, zugleich imstande sind, das, was vernünftigerweise gewollt wird, in der empirischen Welt tatsächlich zu verwirklichen. Darum empfehle ich die Zuspitzung der entsprechenden Überlegungen auf die Schlüsselfunktion der Erfolgskontrolle bei der Ausübung der praktischen Freiheit und bin der Überzeugung, dass dies erstens die Überlegung ist, die der Notwendigkeit des Postulats vom Dasein Gottes zugrunde liegt, und zweitens – dies finde 337 Ich wandle den ursprünglichen Text hier insofern ab, als ich die typographischen Hervorhebungen weglasse und die Passage in einzelne Punkte aufteile. Zur Prüfung vgl.: KpV, A 224.

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ich übrigens noch wichtiger – dass diese Forderung ganz entscheidend für die Beschreibung der Willensstruktur ist, die in transzendentalphilosophi­ scher Hinsicht der maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit, also der Handlungsorganisation auf der Grundlage der Autonomie der Vernunft und des mit ihr einher gehenden Bewusstseins vom Faktum des Sittengesetzes, zugrunde liegt. Die ersten fünf Punkte der obigen Darstellung verfolgen also den Zweck, den sechsten Punkt, der die erste Prämisse für die Schlussfigur, durch die das Dasein Gottes postuliert wird, darstellt, vorzubereiten. Diese Prämisse wird nun mit dem Grundgesetz der intelligiblen Kausalität, also dem moralischen Imperativ konfrontiert: 7.

8.

Gleichwohl wird in der praktischen Aufgabe der reinen Vernunft, d. i. der notwendigen Bearbeitung zum höchsten Gute, ein solcher Zusammen­ hang als notwendig postuliert: wir sollen das höchste Gut (welches also doch möglich sein muss) zu befördern suchen. (KpV, A 225) Also wird auch das Dasein einer von der Natur unterschiedenen Ursache der gesamten Natur, welche den Grund dieses Zusammenhanges, näm­ lich der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit enthalte, postuliert. (ebd., Hervorhebung von mir.)

Es wird also das Dasein einer Ursache der Natur postuliert, die zugleich von der Natur verschieden ist, die aber den geforderten Zusammenhang zwischen den intelligiblen und empirischen Gesetzen gewährleistet und infolgedessen auch die Übereinstimmung von Sittlichkeit und Glückseligkeit gewährleistet. Entscheidend ist zunächst die Feststellung, dass diese Ursache nicht die Natur selbst sein könne, sondern dass sie von der Natur verschieden sein müsse. Da der Ausdruck „Natur“ hierbei offensichtlich die empirische Natur bezeichnet, wird also eine Ursache der empirischen Natur bzw. der Welt gesucht, die ihrer­ seits nicht in dem Begriff der Welt und der empirischen Natur enthalten ist. Diese Ursache muss aber zugleich auch die Ursache der intelligiblen Gesetze sein und gewährleisten, dass ein entsprechender Zusammenhang zwischen der intelligiblen Gesetzmäßigkeit, also der Kausalität auf der Grundlage des Sittengesetzes, und der empirischen Kausalität, wonach Glückseligkeit bewirkt werden kann, herrscht und dass jeder einzelne Akteur, der aus Achtung vor dem Sittengesetz handelt, die Bewirkung der Glückseligkeit erhoffen darf, obwohl er selbst überhaupt nicht imstande ist, den notwendigen Zusammenhang zwischen der intelligiblen und empirischen Gesetzmäßigkeit, somit auch zwischen der Sittlichkeit und der Glückseligkeit, herzustellen. Diese von der Natur unterschiedene Ursache der gesamten Natur kompensiert also das

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entsprechende Defizit an Erfolgskontrolle, das in der Praxis jedes einzelnen vernunftfähigen Sinnenwesens in der Welt allgegenwärtig ist, indem es (das Postulat) für die Kontinuität oder zumindest für die Kompatibilität von Gesetzen und Zielen der intelligiblen und empirischen Welt Sorge trägt. Nun führt Kant eine weitere Bestimmung ein und zieht daraus einen wei­ teren Schluss: Diese oberste Ursache aber soll den Grund der Übereinstimmung der Natur nicht bloß mit einem Gesetze des Willens der vernünftigen Wesen, sondern mit der Vorstellung dieses Gesetzes, sofern diese es sich zum obersten Bestimmungsgrunde des Willens setzen, also nicht bloß mit den Sitten der Form nach, sondern auch ihre Sittlichkeit als dem Bewegungsgrunde derselben, d. i. mit ihrer moralischen Gesinnung enthalten. Also ist das höchste Gut in der Welt nur möglich, sofern eine oberste Ursache der Natur angenommen wird, die eine der moralischen Gesinnung gemäße Kausalität hat. (KpV, A 225) Dadurch erfolgt eine weitere Bestimmung der Art und Weise, wie wir die gefor­ derte oberste Ursache verstehen müssen, nämlich muss diese auch über eine der moralischen Gesinnung gemäße Kausalität (also intelligible Kausalität) verfügen, so dass sie ein entsprechendes Verhältnis zwischen der moralischen Gesinnung jedes einzelnen Akteurs und der Glückseligkeit, die er in der Welt bewirkt bzw. erhält, gewährleisten kann. Diese Bedingung integriert teilweise das Prädikat der Allwissenheit, das bereits in der Kritik der reinen Vernunft dem höchsten ursprünglichen Gut, also der höchsten Intelligenz, die mit unserer Bemühung um moralische Vollkommenheit die Hoffnung auf den entsprechenden Ausgang verbindet, und worin gefordert wurde, dass dieser göttliche Wille allwissend sein müsse, „damit er das innerste der Gesinnungen und deren moralischen Wert erkenne“ (KrV, B 843), und somit gewähr­ leisten könne, dass jedermann in dem genauen Maße, in dem er sich der Glückseligkeit als würdig erweist, derselben auch teilhaftig wird. Wäre dieser Wille aber indifferent gegenüber der entsprechenden Gesinnung der Akteure, ließe sich die Theorie vom höchsten Gut als einer proportionierten Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit nicht aufrechterhalten. Derselbe Gedanke wird also auch hier im Rahmen der Theorie vom Postulat Gottes aktualisiert und in die Argumentation integriert, betont aber über die Allwissenheit hinaus die höchste moralische Autorität und Selbstverpflichtung in der Wirksamkeit des ursprünglichen Willens; er ist nicht nur allwissend, sondern zugleich aus eigener Freiheit zur moralischen Wirksamkeit verpflichtet. Diese beiden Prädikate müssen nicht jedem beliebigen Willen notwendigerweise zugespro­

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chen werden, denn moralische Vollkommenheit muss nicht notwendigerweise analytisch in der Allwissenheit enthalten sein. Hier steht Kant aber durchaus in Leibniz‘ Tradition, indem er betont, dass der göttliche Wille zwar allwissend und allmächtig ist, aber zugleich die höchste moralische Autorität darstellt, durch die er sich selbst verpflichtet, nach den moralischen Gesetzen, die sei­ ner eigenen Vernunft entspringen, auch sein eigenes Wirken zu bestimmen. Die Intelligenz und der Wille stellen hier eine harmonische Einheit dar, aber der Wille ist nicht in der Intelligenz enthalten, sondern stellt – dies unter­ stelle ich in Analogie zu der allgemeinen Definition des Willens in der Kritik der praktischen Vernunft – das Vermögen dar, den Vorstellungen entspre­ chende Gegenstände hervorzubringen. (Vgl.: KpV, A 29) Die „der moralischen Gesinnung entsprechende Kausalität“ bezeichnet m.E. den entsprechenden Willen und erfüllt die gleiche Funktion, für die in der Kritik der reinen Vernunft die Allwissenheit ausreichend war. Das bedeutet aber mitnichten, dass sich die beiden Konzepte unterscheiden, sondern, dass Kant in beiden Fällen still­ schweigend voraussetzt, dass das jeweils Andere hinzu gedacht wird; denn ohne den Willen „bewirkt“ die Allwissenheit nichts und ohne Allwissenheit ist die Gewährleistung der gebotenen Proportion nicht möglich. Nach dem gegebenen Stand der Dinge muss also eine oberste Ursache der gesamten Natur angenommen werden, die sowohl imstande ist, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln, denn andernfalls könnte sie überhaupt nicht dafür Sorge tragen, dass die Natur nach Gesetzen eingerichtet ist, worin die maximale Entfaltung der menschlichen Freiheit inklusive ihres Endzwecks möglich ist, als auch imstande ist, etwaige Zustände in der Welt nach der Vorstellung dieser Gesetze zu bewirken. Die Fähigkeit, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln, macht aber die Intelligenz, die Kausalität nach dieser Vorstellung der Gesetze, den Willen dieses Wesens aus. (KpV, A 225) Bei dem höchsten ursprünglichen Gut, also der hier thematischen obersten Ursache der Natur, handelt es sich demnach um ein Wesen, das über Intelligenz und Willen verfügt. Also ist die oberste Ursache der Natur, sofern sie zum höchsten Gute vorausgesetzt werden muss, ein Wesen, das durch Verstand und Willen die Ursache (folglich der Urheber) der Natur ist, d. i. Gott. Folglich ist das Postulat der Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Guts (der besten Welt) zugleich das Postulat der Wirklichkeit eines höchsten ursprüngli­ chen Guts, nämlich der Existenz Gottes. (KpV, A 225 f.) Im Anschluss daran (KpV, A 226) präsentiert Kant eine kompakte Version der Schlussfigur, durch die die Existenz Gottes postuliert wird:

370 1. 2. 3. 4.

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Es ist Pflicht für uns, das höchste Gut zu befördern. Dies setzt voraus, dass das höchste Gut möglich ist. Möglich ist es (für uns) aber nur unter der Bedingung der Existenz Gottes. Also ist die Pflicht in Satz 1 mit der Voraussetzung der Existenz Gottes unzertrennlich verbunden, „d.i. es ist moralisch notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen“.338

Aus dieser Gedankenführung sieht man auch, was eigentlich ein Postulat im kantischen Sinne ist, nämlich ein theoretischer Satz, der für sich genommen nicht erweisbar ist, der aber unzertrennlich mit einem praktischen Satz ver­ bunden ist, der wiederum unbedingt a priori gilt. (KpV, A 220)339 Der prak­ tische Satz, von dem hier die Rede ist, ist die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts und der theoretische die Behauptung der Existenz Gottes. Der praktische gilt unbedingt a priori und der theoretische ist nicht eigens beweis­ bar, stellt aber eine notwendige Bedingung des Ersten dar, weswegen er mitge­ dacht werden muss, weil ohne ihn der erste, praktische Satz, sinnlos wird. Das Postulat Gottes hängt also auf entscheidende Art und Weise mit dem höchsten Gut zusammen und kann außerhalb dieses Zusammenhangs nicht sinnvoll interpretiert werden. Will man es kritisieren, dann muss man entweder die Voraussetzung, also den oben genannten praktischen Satz infrage stellen, oder behaupten, dass das höchste Gut auch ohne die Voraussetzung der idealtypi­ schen Willensstruktur, die der maximalen Entfaltung der Freiheit zugrunde liegen muss, möglich ist; mithin behaupten, dass die maximale Entfaltung der praktischen Freiheit (als welche ich das höchste Gut letztendlich verstehe), ohne die dafür nötige Willensstruktur und Erfolgskontrolle möglich ist. Es ist an dieser Stelle auffällig, dass Kant von der „Möglichkeit“ des höchsten Guts unter der Bedingung der „Wirklichkeit“ des göttlichen Willens spricht.340 Möglich ist aber in Kants Terminologie das Denkbare, wirklich das Erfahrbare. Demnach setzt die bloße Denkmöglichkeit der besten Welt streng genommen die Erfahrbarkeit des göttlichen Willens voraus. Diese gedankliche Figur stellt eine Herausforderung für die Interpretation dar, denn wenn man sich davor hütet, hier voreilig einen Widerspruch zu unterstellen, muss man sehen, wie diese beiden Gedanken transzendentalphilosophisch in die Deduktion des höchsten Guts als Totalität der gegenständlichen Bestimmung des morali­ schen Willens integriert werden. 338 Es ist nicht Pflicht, das Dasein Gottes anzunehmen, sondern notwendig dies zu tun, damit die Pflicht zur Hervorbringung des höchsten Guts bestehen bleibt. 339 Vgl. hierzu: Willaschek 2008, 254. 340 Vgl. hierzu: Ferreira, G. 1983.

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Die Theorie des höchsten Guts umfasst, ähnlich wie in der Kritik der reinen Vernunft, zweierlei Ebenen der freien willentlichen Selbstbestimmung mensch­ licher Akteure, nämlich erstens die auf der Vernunft beruhende Notwendigkeit, eine proportionierte Einheit zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit anzunehmen,341 und zweitens die Erörterung und Bestimmung der idealtypi­ schen Willensstruktur, die der maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit zugrunde liegen muss, um gewährleisten zu können, dass einem Akteur alles nach Wunsch und Willen geht, er also aus eigener Freiheit und durch eigene Bemühungen imstande ist, die eigene Glückseligkeit hervorzubringen. Ein sol­ cher Akteur müsste dann überhaupt nicht hoffen, dass er der Glückseligkeit teilhaftig wird, denn er besäße die auf der Vernunft beruhende Notwendigkeit und die auf der Erfolgskontrolle beruhende Gewissheit, dass ihm durch die eigene Praxis alles nach Wunsch und Willen geht. Dieselbe Notwendigkeit besteht also auch für menschliche Akteure, wenngleich sie die Gewissheit, dass sie der Glückseligkeit teilhaftig werden, nicht auf der Erfolgskontrolle in der Ausübung ihrer praktischen Freiheit, weder auf individueller auch auf kollek­ tiver Ebene, gründen können, weswegen lediglich eine gewisse, allerdings auf der Vernunft beruhende, Hoffnung auf die Erlangung der Glückseligkeit unter bestimmten Bedingungen besteht: nämlich insbesondere unter der Bedingung, dass die Notwendigkeit, mit der die Vernunft die Aussicht auf Glückseligkeit mit der moralischen Pflicht verbindet, auch eine Entsprechung im Hinblick auf die Ausübung unserer Freiheit in der Welt, mithin auf die Möglichkeit der Realisierung unserer Willensinhalte besitzt – dass also der idealtypischen Vernunft, die mit größter Strenge die moralische Pflicht an uns heran trägt, auch ein idealtypischer Wille entspricht, der imstande ist, zu gewährleisten, dass wir bei maximaler Entsprechung zur moralischem Vollkommenheit auch die maximale Erfolgskontrolle in der Praxis (Glückseligkeit) erzielen. Die ent­ sprechende Hoffnung besteht also nur unter der Bedingung der tatsächlichen Wirklichkeit eines solchen Willens, denn die bloße Denkmöglichkeit eines sol­ chen erhält die Kontingenz, die sich aus dem Mangel an Erfolgskontrolle im Rahmen der menschlichen freien Selbstbestimmung ergibt, aufrecht. Wenn es also nur darum ginge, die Denkmöglichkeit eines göttlichen Willens, der die Welt so eingerichtet hat, dass wir bei moralischer Vollkommenheit auch eine berechtigte Hoffnung auf Glückseligkeit besitzen, zu erwägen, so bestünde im Hinblick auf die Frage, wie sehr unsere Hoffnung auf Glückseligkeit berechtigt 341 Diese Proportion ist eigentlich leicht nachvollziehbar, denn es handelt sich letztendlich um das Verhältnis intrasubjektiver Kontrolle zur vollkommenen Handlungskontrolle. Die Erstere garantiert die Letztere zwar nicht, aber ein Mangel an ersterer tritt immer in glei­ cher Stärke als Mangel der Letzteren auf.

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ist, dieselbe Kontingenz, wie ohne die Erwägung dieser Denkmöglichkeit der Existenz Gottes, denn in beiden Fällen würde man antworten: möglich ist das, aber ob es so ist, kann man nicht wissen, denn unter diesen Bedingungen liegt eben kein notwendiges Verhältnis zwischen den verbundenen gedanklichen Elementen vor. Die konkrete Hoffnung besteht nur dann, wenn wir tatsäch­ lich annehmen, dass der höchsten Vernunft auch der höchste Wille entspricht und dass dieser höchste Wille ebenso wirklich ist, wie die Vernunft und die Welt selbst. Denn wäre bloß die Vernunft wirklich, der ihr korrespondie­ rende Wille aber nur möglich, so bestünde keine auf der Vernunft beruhende Hoffnung auf die Erlangung der Glückseligkeit, denn der gewöhnliche Mangel an Erfolgskontrolle würde weiterhin bestehen. Nun ist aber, wie gesagt, das Denkbare möglich und das Erfahrbare wirklich, mithin müsste der idealtypische Wille, von dem hier die Rede ist, auch in der Erfahrung angetroffen werden können. Man wird aber sofort einwenden, dass dies, jedenfalls in seiner vollen Ausprägung, nicht möglich ist. Wir müssten darum in der Tat überlegen, ob nicht bereits die Erfahrbarkeit des menschli­ chen freien Willens in Verbindung mit dem Bewusstsein des Sittengesetzes aus­ reicht, um hier von der Wirklichkeit des transzendentalen Willens zu sprechen und eventuell anzunehmen, dass er durch unser eigenes Unvermögen ledig­ lich depotenziert wird. Vielleicht wäre dies ein Weg, um das entsprechende Dilemma zu umgehen, aber weit kommt man damit nicht, weil Kant sowohl in der Kritik der reinen Vernunft als auch in der Kritik der praktischen Vernunft explizit betont, dass sich das gesuchte proportionierte Verhältnis zwischen der Sittlichkeit und Glückseligkeit in der empirischen Welt „nicht beobachten lässt“. Aber woran sollte der höchst vollkommene Wille erkennbar sein, wenn nicht daran, dass er ebendiese beste Welt hervorbringt? Er muss immerhin nur zu diesem Zwecke überhaupt postuliert werden und müsste darum auch nur in der Bewirkung dieses Zwecks erkannt werden können. Man könnte hier wiederum berücksichtigen, dass der entsprechende Gedanke bereits in der Kritik der reinen Vernunft im Zusammenhang mit dem System der sich selbst lohnenden Moralität thematisch wird und dass Kant dort betont, dass dieser Gedanke auf der Voraussetzung beruht, dass jeder einzelne Akteur tatsächlich moralisch vollkommen sei und dass Wohl jedes Anderen ebenso sehr wie sein eigenes Wohl im Sinne habe, was selbstverständlich nicht der Fall ist. Man würde also auch hier betonen, dass die idealtypische Willensstruktur durch das menschliche Unvermögen eventuell depotenziert wird und wir am Ende eben nur so viel Glück erfahren, wie wir zulassen. Aber beide Überlegungen sind unbefriedigend und beruhen wiederum auf Annahmen, die einigen Einfallsreichtum voraussetzen, weswegen wir wohl

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am Ende dabei bleiben, dass die postulierte Wirklichkeit des idealtypischen Willens, der der idealtypischen Vernunft entspricht und mit ihr die Struktur des idealtypischen Subjekts, das der maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit zugrunde liegt, ausmacht, eben nicht erfahren werden kann, sondern postuliert werden muss. Wir weisen nochmals darauf hin, dass dies eigentlich nicht überrascht, denn Kant sagt ja gerade, dass die Wirklichkeit des göttli­ chen Willens postuliert werden muss, und nicht, dass sie in der empirischen Welt erfahren werden kann. Das Problem ergibt sich aber dadurch, dass die Wirklichkeit als Kategorie einen Sachverhalt beschreibt, der erfahrbar ist, während die Möglichkeit einen Sachverhalt beschreibt, der denkbar ist und wir uns deswegen fragen, ob nicht eigentlich nur die Denkmöglichkeit des obersten Willens postuliert werden müsste. Dies wiederum würde, wie oben erörtert, nicht ausreichen, um die Kontingenz, die sich aus dem Mangel an Erfolgskontrolle bei der menschlichen Ausübung der praktischen Freiheit ergibt, zu kompensieren und darum bleibt das besagte Problem weiterhin bestehen und kann zumindest von mir an dieser Stelle nicht befriedigend auf­ gelöst werden. 7.3

Handlungstheoretische Reflexion der Postulatenlehre. Rückblick auf die Analytizitätsklausel

Die zentralen Termini, die für eine handlungstheoretische Rekonstruktion der Postulatenlehre von Bedeutung sind, sind: Das höchste Gut, Glückswürdigkeit, Glückseligkeit, moralische Vollkommenheit und Kontrolle der Zustände in der empirischen Welt. Das höchste Gut umfasst, wie wir oben gesehen haben, ein höchstes ursprüngliches und ein höchstes vollendetes Gut. Das höchste ursprüngli­ che Gut ist die Sittlichkeit und sie zeichnet sich in handlungstheoretischer Hinsicht dadurch aus, dass der Akteur die volle Kontrolle über die inhaltli­ che Bestimmung seines Willens nach moralischen Gesetzen, empirischen Grundsätzen und persönlichen Maximen besitzt. Er kann gewährleisten, dass seine Maximen im Einklang mit dem moralischen Gesetz stehen. Sofern er gewährleisten kann, dass diese Übereinstimmung jederzeit besteht, entspricht er auch der moralischen Vollkommenheit. Das höchste vollendete Gut umfasst darüber hinaus die Glückseligkeit, die als ‚Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht‘, definiert wird. Die wichtigste Aussage, die diese Definition in handlungstheoretischer Hinsicht beinhaltet,

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betrifft die vollkommene Erfolgskontrolle des Akteurs im Rahmen seiner willentlichen Selbstbestimmung durch die konkrete Praxis in der empirischen Welt. Letztere muss auf der ersteren Beruhen, denn ein Wesen, das nicht imstande ist, seine Willensinhalte zu kontrollieren, kann niemals gewährleisten, dass ihm alles nach Wunsch und Willen geht, denn es können sich ihm jederzeit Neigungen einstellen, die entweder einander, oder langfristigen Zielen, oder aber moralischen Gesetzen, pragmatischen Grundsätzen oder persönlichen Maximen widersprechen. Darum betont Kant, dass die Glückseligkeit auf der Sittlichkeit beruht, dass also die vollkommene Erfolgskontrolle der gesam­ ten Praxis der willentlichen Selbstbestimmung die intrasubjektive Kontrolle der willentlichen Selbstbestimmung voraussetzt. Diese wird als das höchste ursprüngliche, jene als das höchste vollendete Gut bezeichnet. Im ersten Postulat ist nun der Mangel menschlicher Akteure im Hinblick auf die intrasubjektive Kontrolle ihrer willentlichen Selbstbestimmung the­ matisch. Es wird festgehalten, dass Menschen weder auf individueller noch auf kollektiver Ebene imstande sind, das Ideal der moralischen Vollkommenheit zu erfüllen. Nun reicht es zur moralischen Vollkommenheit aber nach Kants Verständnis im Grunde genommen aus, dass ein Akteur imstande ist, seine Willensinhalte nach intelligiblen Gesetzen oder zumindest in Einklang mit den intelligiblen Gesetzen zu bestimmen. Dass menschliche Akteure der moralischen Vollkommenheit nicht fähig sind, bedeutet, dass sie nicht einmal auf der intrasubjektiven Ebene der willentlichen Selbstbestimmung, auf der die auf Autonomie beruhenden intelligiblen Gesetze der Freiheit herrschen, die entsprechende Selbstbeherrschung auszuüben imstande sind. Sie sind also nicht in der Lage zu gewährleisten, dass ihre Willensinhalte nach Gesetzen, Grundsätzen und rationalen Gründen generiert werden. Im zweiten Postulat kommt die Kontingenz empirischer Gesetze hinzu. Aufgrund der Heterogenität der intelligiblen und empirischen Gesetze stellt Kant fest, dass menschliche Akteure, von denen wir im ersten Postulat gesehen haben, dass sie nicht einmal auf der Ebene der intelligiblen Gesetze die nötige Kontrolle zu entwickeln fähig sind, schon gar nicht in der Lage sind, ihre kon­ krete Praxis in der empirischen Welt, also nach Gesetzen der Natur vollkom­ men zu kontrollieren. Dadurch ergibt sich jederzeit die Gefahr der Diskrepanz zwischen dem Willensinhalt und seiner Äußerung in der Handlung, mit­ hin eine gewisse Kontingenz der „Äußerlichkeit“, wie Hegel betont.342 Diese Kontingenz ist, wie Kant im zweiten Postulat feststellt, für menschliche Akteure nicht aufhebbar und bleibt jederzeit bestehen und wir könnten, wenn 342 Ich erinnere an meine entsprechenden Ausführungen in 1.1.

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wir es ein wenig pointiert formulieren wollen, sagen: Was wir tun, ist nicht mit dem, was wir wollen, identisch. Zumindest können wir diese Identität nicht aus eigenem Vermögen gewährleisten. Wenn aber weder unsere konkreten Willensinhalte adäquate Manife­ stationen dessen darstellen, was wir durch Autonomie und apriorische Selbstbestimmung wollen wollen, wir also nicht gewährleisten, dass das, was sich uns als empirischer Willensinhalt einstellt, tatsächlich einen Ausdruck oder gar eine Manifestation dessen darstellt, was wir im Allgemeinen343 wol­ len noch gewährleisten können, dass die Willensäußerung in der Handlung adäquat ist, sehen wir, wie viel Kontingenz innerhalb unserer willentli­ chen Selbstbestimmung enthalten ist. Demnach geht uns keineswegs alles nach Wunsch und Willen – und das ist ein Problem, weil diese Kontingenz Fremdbestimmung in die willentliche Selbstbestimmung einbringt. Unsere willentliche Selbstbestimmung vollzieht sich dort, wo die Kontingenz domi­ niert, nicht aus Spontaneität und ist darum auch nicht wirklich unsere willent­ liche Selbst-Bestimmung. Mit Raz‘ Worten könnte man auch hier sagen: Our life as we lead it is just our life, except that some elements in it seem like intruders, interpolators. Some thoughts we have, emotions we feel, some of our beliefs, desires, and actions are experienced as not really ours. It is as if we lost control, as if we were taken over, possessed, by a force which is not us. Such cases are the exception, but they are real enough. The difficulty in explaining their nature is not in explaining the exception, but in explaining the normal case: in what sense are our nor­ mal feelings and emotions, desires and beliefs, etc., ‘ours’ or ‘under our control’?344 Kant ist in der Tat bemüht, die Normalität, die Raz hier anspricht, theoretisch zu erschließen und die Handlungsorganisation (hier als Theorie der willentlichen Selbstbestimmung), die er im Rahmen des höchsten Guts konzipiert, entwirft eben den Kontrast zwischen der Realität menschlicher Praxis und der maximal möglichen Entfaltung praktischer Freiheit, also optimaler Praxis; Kant macht auf die bestehende Diskrepanz aufmerksam und zeigt, welche Bedingungen erfüllt werden müssen, um sie zu überwinden. Sein Fazit: Die Überwindung dieser Diskrepanz, die sich für uns als Mangel an Erfolgskontrolle im Rahmen der willentlichen Selbstbestimmung einstellt, stellt für uns eine Aufgabe dar, 343 Diese Allgemeinheit definieren wir nach moralischen und mit ihnen im Einklang stehen­ den pragmatischen Gesetzen. 344 Raz 2002, 21.

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die zwar jederzeit bestehen bleibt und auch jederzeit dringlich ist, aber nie­ mals völlig abgearbeitet werden kann. Es bleibt immer bei der Diskrepanz und darum haben wir auf dieser Welt in etwa so viel „Glückseligkeit“, wie wir durch unsere „Glückswürdigkeit“ verdienen, nämlich: Es geht uns so viel nach Wunsch und willen, wie wir zu kontrollieren vermögen. Das ist mehr als nichts, aber weniger als das Paradies. Von hier aus will ich einen kleinen Rückblick auf die anfangs diskutierte Analytizität der Zweck-Mittel-Relation werfen: Die Analytizität, von der Kant spricht und die von Pollok, Korsgaard und Anderen diskutiert wird, besteht auf der Ebene der idealen Performance praktischer Freiheit. Dort nämlich, wo die gerade angesprochene Diskrepanz sowohl auf intrasubjektiver Ebene als auch in der Willensäußerung durch Kontrolle überwunden ist, kann Kant in der Tat behaupten, dass der Akteur, der den Zweck will, auch die Mittel will. Auf der Ebene der menschlichen Praxis, in der die entsprechende Kontingenz und Diskrepanz unüberwindbar sind, muss man sich davor hüten, die Analytizitätsklausel allzu leichtfertig fürwahr zu halten. 7.4

Respondenz auf drei von Willaschek vorgetragene „gravierende Einwände“ gegen die Grundannahmen der Postulatenlehre

In seinem Aufsatz über das Primat des Praktischen und Rationale Postulate345 nennt Willaschek drei, wie er sagt, „gravierende Einwände“ gegen die Grundannahmen der Postulatenlehre. Diese drei Einwände will ich im Folgenden diskutieren. Respondenz auf Willascheks Einwand gegen die Grundannahme des ersten Postulats In Bezug auf das Postulat der Unsterblichkeit der Seele beanstandet Willaschek Folgendes: 7.4.1

(i) Dass es endlichen Wesen nicht möglich ist, dem Sittengesetz voll­ ständig zu entsprechen, ergibt sich nur dann, wenn man wie Kant in der Kritik der praktischen Vernunft unterstellt, dass dies „Heiligkeit“ erfor­ dert. Im Gegensatz zur bloßen „Tugend“ („d. i. gesetzmäßige Gesinnung aus Achtung fürs Gesetz, folglich Bewußtsein eines continuirlichen Hanges zur Übertretung, wenigstens Unlauterkeit“, AA V 128) besteht 345 Willaschek, M. 2008: Rationale Postulate. Über Kants These vom Primat der reinen prak­ tischen Vernunft. In: Klemme, H.: Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung.

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Heiligkeit in der notwendigen und unwandelbaren Übereinstimmung des Willens mit dem Sittengesetz, so dass für einen heiligen Willen selbst die Möglichkeit einer Abweichung nicht mehr besteht (vgl. AA V 32). Kant gesteht zu, dass endliche Wesen Heiligkeit nicht erreichen können (vgl. AA V 33; AA V 122), und schließt nun nach dem Prinzip, dass Sollen Können impliziert, vom Gebot der Heiligkeit auf die Unsterblichkeit der Seele: „Da sie [die Heiligkeit] indessen gleichwohl als praktisch nothwen­ dig gefordert wird, so kann sie nur in einem ins Unendliche gehenden Progressus zu jener völligen Angemessenheit angetroffen werden.“ (AA V 122) Doch warum sollte man nicht nach demselben Prinzip schließen, dass Heiligkeit, weil sie für endliche Wesen nicht erreichbar ist, von diesen auch nicht gefordert werden kann? Tatsächlich verlangt der kategorische Imperativ lediglich, dass wir stets nach Maximen handeln, von denen wir wollen können, dass sie allgemeine Gesetze seien. Er verlangt allem Anschein nach nicht, dass wir dies unangefochten von entgegenstehen­ den Neigungen tun. Mehr noch, wären wir nicht aufgrund von Neigungen versucht, vom Sittengesetz abzuweichen, würde der Sollenscharakter des Sittengesetzes wegfallen (AA V 32; vgl. auch AA IV 414), so dass ohnehin nicht mehr die Rede davon sein könnte, dass Heiligkeit von uns „gefor­ dert“ ist. Es spricht daher vieles dafür, Tugend („gesetzmäßige Gesinnung aus Achtung fürs Gesetz“) und nicht Heiligkeit als das anzusehen, was von endlichen Wesen wie uns Menschen moralisch verlangt ist.346 In der Tat spielt die vollkommene Entsprechung zum moralischen Gesetz, also die moralische Vollkommenheit, die Kant als Heiligkeit bezeichnet, die entscheidende Rolle im ersten Postulat, aber es stellt sich die Frage, ob Kant Willascheks Empfehlung folgen und „ein geringeres Maß“ an moralischer Entsprechung in das höchste Gut integrieren könnte. Die erste Antwort hierauf fällt aber eigentlich leicht aus, denn der gedankliche Übergang zum unendlichen Progress erfolgt gerade durch die Feststellung, dass das mora­ lische Gesetz nichts Geringeres als die volle Entsprechung zur moralischen Vollkommenheit, also Heiligkeit „als praktisch notwendig fordert“ (KpV, A 220). Demnach sagen wir: Nach Kants Auffassung wird in der Tat Heiligkeit gefordert und nicht bloß „Tugend“. Nehmen wir aber an, dass bloße Tugend, wie sie Willaschek versteht, ausrei­ chen würde, so müsste der gedankliche Übergang zum unendlichen Progress nicht angenommen werden und man müsste auch die Unsterblichkeit der 346 Willaschek 2008, 262 f.

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Seele nicht postulieren. Willaschek hat also ganz Recht, wenn er die Heiligkeit in den Fokus rückt und die Frage stellt, ob sie wirklich notwendig ist. Ich will nun ein Argument zugunsten dieser Forderung aus dem Blickwinkel der Handlungsorganisation nennen: Kant fordert Heiligkeit, also die „völlige Angemessenheit der Gesinnungen zum moralischen Gesetz“ (KpV, A 219) nicht als Bedingung für irgendeine Praxis, sondern als Bedingung für die Verwirklichung des höchsten Guts. Wenn wir in diesem Zusammenhang Kants Überlegungen zum System der sich selbst lohnenden Moralität in der KrV berücksichtigen, und dabei insbesondere die Bedingung, dass jedermann tue, was er soll, und zwar nicht nur manchmal, sondern jederzeit, in Erwägung zie­ hen, sehen wir unmittelbar, dass die soziale Anhängigkeit unserer jeweils indi­ viduellen „Glückseligkeit“ mit unnachgiebiger Strenge von jedem Einzelnen verlangt, dass er vollkommen im Einklang mit dem moralischen Gesetz steht. Die geringste Abweichung eines Einzelnen bringt bereits eine gewisse Kontingenz in den Gedanken hinein und es lässt sich nicht mehr ausschließen, dass die moralische Selbstverpflichtung Anderer nicht dazu führt, dass sie von diesem Einen übervorteilt werden. Aber wir finden einen noch besseren Hinweis im Postulats-Kapitel selbst, nämlich den Hinweis, dass die „völlige Angemessenheit der Gesinnung zum moralischen Gesetz“ eine notwendige Bedingung des höchsten Guts darstellt. Diese Forderung betrifft das von mir mehrfach angesprochene Verhältnis des Akteurs zu seinen Willensinhalten: Vorausgesetzt, dass er von dem Vermögen der Autonomie Gebrauch macht und Gesetze generiert, die Ausnahmslos gel­ ten sollen – und zwar sowohl für ihn selbst als auch für jedes andere vernunft­ fähige Wesen – dann ist es sein Wille, dass auch seine einzelnen, konkreten Handlungen und Willensinhalte im Einklang mit diesen Gesetzen stehen. Dass dies der Fall ist, kann er nur unter der Bedingung sicherstellen, dass er die Kontrolle über seine Gesinnung besitzt. Sobald hier der geringste Mangel an intrasubjektiver Kontrolle auftritt, tritt eine Kontingenz auf, deren Effekte unabsehbar sind. Nur ohne solche Kontingenz können wir aber fordern, was im höchsten Gut eigentlich gefordert wird, nämlich, dass die Sittlichkeit notwendigerweise mit Glückseligkeit verbunden ist. Diese Notwendigkeit kann also nur unter der Bedingung, dass jedermann die entsprechende Kontrolle besitzt, gewährleistet werden. Auf der Ebene der intrasubjektiven inhaltlichen Bestimmung des Willens kann sie aber nur von den jeweils einzelnen Akteuren gewährleistet werden, denn hier kann kein Gott eingreifen. Wir erinnern uns: „der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, nicht zusam­ men bestehen“. (KpV, A 199) Entscheidend ist auch hier, wie Pollok in dem von

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ihm diskutierten Zusammenhang betont, der Relativsatz: „welches zugleich alle Gewalt hätte“. Ein Wesen, also ein Akteur, der vollkommen kontrollieren kann, was er will und dass das, was er will, adäquat realisiert wird, gewährleistet ein notwendiges Verhältnis zwischen der Glückswürdigkeit und Glückseligkeit, und um ein solches geht es Kant an der gegebenen Stelle. Dafür ist aber für ein solches Wesen selbst auch die intrasubjektive Bedingung oder Forderung gege­ ben, dass es die Inhalte seines Willens vollkommen kontrollieren kann. Und diese Kontrolle kann es Kant zufolge nur dadurch gewährleisten, dass es sich entsprechende Gesetze gibt und sich zu ihrer Einhaltung selbst verpflichtet. Es scheint mir wichtig zu sein, hier daran zu erinnern, wie ich das Hervorbringungsverhältnis zwischen unserer moralischen Praxis und Glück­ seligkeit interpretiert habe. Ich habe betont, dass ich dies als eine Theorie der Handlungsorganisation interpretiere und davon ausgehe, dass Kant hier ein Verhältnis zwischen der intrasubjektiven Willenskontrolle durch die Vernunft und der vollkommenen Erfolgskontrolle erörtert und dass jenes Bedingung für dieses ist. Man kann demnach sagen, dass einem Akteur umso weniger „nach Wunsch und Willen“ geht, je weniger er gewährleisten kann, dass er aus eigener Spontaneität und auf kontrollierte Art und Weise die Inhalte seines Willens bestimmt. Darum geht es aber bei der Gesinnung, von der Kant im ersten Postulat spricht. Nur wenn die Gesinnung dem moralischen Gesetz voll­ kommen entspricht, der Akteur also gewährleisten kann, dass er jederzeit im Einklang mit dem moralischen Gesetz handelt, kann er auch gewährleisten, dass ihm – wenn eine zusätzliche Bedingung hinzu kommt, die im zweiten Postulat thematisch ist – alles nach Wunsch und Willen geht. Die Tugend, die Willaschek stattdessen empfiehlt, vermag es bestenfalls zu gewährleisten, dass dem Akteur Einiges nach Wunsch und Willen geht, aber ‚einiges Glück‘ haben wir bereits auf Erden: dies ist aber kein Gegenstand des höchsten Guts. Willaschek müsste konsequenterweise behaupten, dass einige Kontrolle des Akteurs über seinen Willen ausreicht, um zu gewährleisten, dass ihm alles nach Wunsch und willen geht, wenn er behauptet, „Tugend“ reiche als Bedingung des höchsten Guts aus. Das ist aber nur unter der Bedingung möglich, dass er „Glückseligkeit“ assoziativ interpretiert und nicht die Definition verwendet, die Kant vornimmt, nämlich: Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz – also sowohl seiner empirischen als auch seiner intelligiblen Natur nach – alles nach Wunsch und Willen geht. Win weiteres Argument gegen Willascheks Kritik kann aus der Formel „im Ganzen seiner Existenz“ gewonnen werden, denn einem Akteur kann „im Ganzen seiner Existenz“, nämlich sowohl seiner intelligiblen als auch seiner empirischen Natur gemäß, alles nach Wunsch und Willen gehen, wenn er gewährleisten kann, dass seine empirische Praxis zugleich den intelligiblen

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Gesetzen entspricht. Ansonsten mag ihm zwar in pragmatischer Hinsicht Einiges nach Wunsch und Willen gehen, aber solange keine „völlige Angemessenheit der Gesinnung zum moralischen Gesetze“ gewährleistet wer­ den kann, geht ihm eben nicht „im Ganzen seiner Existenz“ alles nach Wunsch und Willen. Dass übrigens die pragmatischen Gesetze im Einklang mit den moralischen stehen müssen und warum das so ist, habe ich oben erörtert. Es hilft also nichts: Kant fordert zurecht, dass als Bestandteil des höchsten Guts nichts Geringeres als die „völlige Angemessenheit unserer Gesinnung zum moralischen Gesetze“ besteht. Willascheks moderate Interpretation zugun­ sten der „Tugend“ mag zwar für die lebensweltliche Praxis ausreichen, aber sie kann nicht den Bedingungen des höchsten Guts entsprechen. Respondenz auf Willascheks Einwand gegen die Grundannahme des zweiten Postulats Im Zusammenhang mit dem zweiten Postulat trägt Willaschek folgende Bedenken vor: 7.4.2

Warum kann die Proportionierung von Tugend und Glück nicht auf natürlichem Wege, ohne göttliches Eingreifen, stattfinden? Dass es einen notwendigen Zusammenhang zwischen Glückseligkeit und Glücks­ würdigkeit de facto nicht gibt, ist eine empirische Tatsache. [Fußnote von mir gestrichen.] Da es aber nicht um die Frage geht, ob das höch­ ste Gut bereits realisiert, sondern ob es überhaupt realisierbar ist, muss Kant die stärkere These in Anspruch nehmen, dass es einen solchen Zusammenhang prinzipiell nicht geben kann.347 (. . .) Und sobald wir die Möglichkeit alternativer Erklärungen für die Realisierbarkeit des höchsten Gutes in Betracht ziehen, stellt sich die Frage, weshalb wir überhaupt eine solche Erklärung brauchen: Warum sollten wir nicht die Realisierbarkeit des höchsten Gutes selbst postulie­ ren und offen lassen, wie diese Möglichkeit zu erklären ist?348 Zum ersten Abschnitt: Kant spricht hier nicht von irgendeinem Zusammenhang zwischen der Glückswürdigkeit und Glückseligkeit, sondern davon, ob ein Akteur, der gewährleisten kann, dass seine Gesinnung vollkommen im Einklang

347 Willaschek 2008, 263. 348 Willaschek 2008, 264.

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mit dem moralischen Gesetz steht, notwendigerweise349 erwarten darf, dass ihm alles nach Wunsch und Willen geht. Wenn er also die volle Kontrolle über die Inhalte seiner willentlichen Selbstbestimmung besitzt, ob ihm dann not­ wendigerweise „alles“ nach Wunsch und Willen geht. Die Antwort ist einfach: Nur unter der Bedingung, dass er auch über die umgreifende Welt die Kontrolle besitzt. Ein Akteur also, der „alle Gewalt hat“, wie Kant oben sagt, kann das höchste Gut bewirken. Wir Menschen haben auf beiden Ebenen unserer wil­ lentlichen Selbstbestimmung nicht alle Gewalt, also geht uns auch nicht alles nach Wunsch und Willen. Zum zweiten Punkt: Können wir nicht eine alternative Erklärung, ohne Gott, versuchen? Können wir. Aber es geht hier nicht um die Frage, ob unsere Erklärung den Begriff „Gott“ beinhaltet, sondern um die Frage, wer gewähr­ leistet, dass zwischen der vollkommenen Kontrolle der Inhalte unserer wil­ lentlichen Selbstbestimmung und einem Zustand, in dem uns alles nach Wunsch und Willen geht, ein notwendiges Verhältnis besteht? Offenbar nur jemand, der die nötige Kontrolle im Umgang mit der Natur besitzt. In diesem Zusammenhang ist Gott hier thematisch und dieser Zusammenhang bleibt bestehen, auch wenn man ohne Gott argumentieren will. Eines steht aber fest: Wenn man den Gedanken, dass irgendjemand durch die Kontrolle des Sachverhalts gewährleistet, dass das geforderte notwendige Verhältnis zwi­ schen der Sittlichkeit und Glückseligkeit besteht, aufgibt, gibt man zugleich den Gedanken der Notwendigkeit auf. Respondenz auf Willascheks dritten Einwand gegen die Grundannahmen der Postulatenlehre Willaschek beanstandet auch Folgendes: 7.4.3

Selbst wenn man Kant zugestehen würde, dass Gott und Unsterblichkeit tatsächlich notwendige Bedingungen für die Realisierbarkeit des höch­ sten Gutes sind, bliebe die Frage, warum wir als rationale (und durch das Sittengesetz verpflichtete) Wesen das höchste Gut für realisierbar halten müssen.350 Hier stellt sich natürlich die Frage, wie man den Stellenwert und die systema­ tische Bedeutung des höchsten Guts interpretiert. Ich interpretiere das höch­ ste Gut im Hinblick auf die Handlungsorganisation und bin der Ansicht, dass 349 Vgl.: KpV, A 199, wo Kant betont, dass das Verhältnis zwischen den beiden Begriffen, die das höchste Gut ausmachen „notwendig“ ist. 350 Willaschek 2008, 264.

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das höchste vollendete Gut die maximal mögliche Entfaltung der praktischen Freiheit darstellt. Kant erörtert in diesem Zusammenhang, welche Bedingung erfüllt werden müssen, damit diese maximal mögliche Entfaltung der prakti­ schen Freiheit gelingen kann. Das ist das eigentliche (handlungstheoretische) Anliegen, wenn es um die „Realisierbarkeit“ des höchsten Guts geht. Dies reicht aber aus, um die Bedingungen, die in den beiden Postulaten genannt werden, tatsächlich einzufordern und man wird sagen: sofern diese Bedingungen nicht erfüllt sind, ist die praktische Freiheit nicht maximal ausgeprägt, sondern mangelhaft. Es geht nicht um Moralität, es geht nicht um Glück: es geht um Freiheit – und Freiheit versteht Kant als praktische willentliche Selbstbestimmung in der empirischen Welt. Darüber hinaus bietet es sich an, hier zwischen der grundsätzlichen Realisierbarkeit in einer möglichen Welt und der tatsächlichen Realisierbarkeit in der aktuellen, empirischen Welt zu unterscheiden. Kants Pointe besteht darin, dass das höchste Gut grundsätzlich durchaus Realisierbar ist, dass diese Realisierbarkeit aber gewisse Anforderungen an die Totalität aller mit einander interagierenden, also an der Realisierung beteiligten Akteure, stellt, die in der empirischen Welt von Menschen nicht erfüllt werden können. Uns mangelt es zwar an der entsprechenden Kontrolle, aber dieser Mangel ist empirisch und keine logisch notwendige Konstante in allen möglichen Welten und in Bezug auf alle denkbaren Akteure. Dass aber Menschen in dieser empirischen Welt über einen Mangel an Erfolgskontrolle im Hinblick auf ihre Willensgestaltung und Praxis in der Welt besitzen, ist zwar bedauerlich für uns Menschen, aber in logischer Hinsicht kein Beweis der Unmöglichkeit, das höchste Gut zu rea­ lisieren. Das höchste Gut ist, als ein grundsätzlich denkbares, grundsätzlich auch durchaus realisierbares Ideal oder Urbild zu verstehen, das unserer kon­ kreten Praxis in der empirischen Welt als idealtypische Praxis zugrunde liegt. So betont Bickmann: Im Sinne Kants verhält es sich vielmehr umgekehrt so, daß wir ein sol­ ches einigendes Prinzip – im Ideal erstrebter Übereinstimmung der höchsten sinnlichen mit den höchsten sittlichen Zwecken – unserem eigenen Streben zugrundelegen, um in seinem Urbilde die Idee einer auf Freiheit gründenden moralischen Weltordnung zu antizipieren.351 Dagegen mutet es sonderbar an, die Realisierung von etwas NichtRealisierbarem zu fordern. Wäre das höchste Gut grundsätzlich nicht realisier­ bar, wäre diese Merkwürdigkeit auch gegeben, aber es ist durchaus realisierbar 351 Bickmann 1995, 327.

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und Kant beleuchtet die Bedingungen, die erfüllt werden müssen, damit es realisiert werden kann. Wer diese Bedingungen erfüllt und wer nicht, stellt dagegen nur eine empirische Frage dar. Diese Beleuchtung der Bedingungen der Realisierung des höchsten Guts in einer beliebigen möglichen Welt ist hier also thematisch und darum wird von einem grundsätzlich realisierbaren höch­ sten Gut gesprochen.

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Schluss Der menschliche Wille zeichnet sich durch zweierlei Mängel gegenüber dem idealtypischen freien Willen aus, und zwar durch zweierlei Mängel, die nicht nur die Frage der Moralität betreffen, sondern in erster Linie die Qualität der praktischen Freiheit. Menschliche Akteure sind weder hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung ihres eigenen Willens noch hinsichtlich der Verwirklichung ihrer Willensinhalte in der empirischen Welt imstande volle Kontrolle auszuüben. Daher ergibt sich auf beiden Ebenen ihrer willentlichen Selbstbestimmung eine irreduzible Kontingenz, die wiederum entscheidend dafür ist, dass ihnen nicht alles nach Wunsch und Willen gelingt. Diese Kontingenz ist typisch für die Realität der menschlichen willentlichen Selbstbestimmung, aber sie stellt nicht das Maß aller Dinge dar, wenn es um die Erörterung der Frage geht, was vernünftigerweise denkbar ist und idealtypischerweise der Fall sein sollte. Nach Kants Ansicht gehört Letzteres zum höchsten Interesse und letzten Zweck des Gebrauchs der menschlichen Vernunft. Ganz entscheidend zeichnet sich der menschliche Wille, also die freie Willkür, durch das Phänomen der Willensschwäche aus, wodurch die eventuelle Diskrepanz zwischen der menschlichen willentlichen Selbstbestimmung und seiner Einsicht in die Gültigkeit vernünftiger praktischer Grundsätze und Gesetze bezeichnet wird. Es ist demnach durchaus möglich, dass ein und derselbe Akteur gewisse moralische und pragmatische Grundsätze als gültig und eventuell sogar für sich verbindlich ansieht, und sie in seiner konkreten willentlichen Selbstbestimmung dennoch missachtet – entweder aus bloßer Unachtsamkeit, Ablenkung, Trägheit oder, was einen besonderen Gegenstandsbereich darstellt, aus Nötigung und Zwang. Demnach bedeutet die Tatsache, dass die reine Vernunft a priori praktisch sein kann, dass sie also den Willen a priori zu bestimmten Handlungen oder zur Aktualisierung bestimmter Handlungsschemata bewegen kann, nicht, dass dies auch jederzeit, nämlich in jedem einzelnen Akt der willentlichen Selbstbestimmung eines beliebigen menschlichen Akteurs der Fall ist. Die beiden Mängel, von denen oben die Rede war, betreffen einerseits die inhaltliche Gestaltung der menschlichen Willkür, andererseits die tatsächliche Ergreifung der für die Verwirklichung gegebener Willensinhalte geeigneten Mittel, also Handlungen. Ganz unabhängig von der Frage, ob die inhaltliche Selbstbestimmung der menschlichen Willkür dem Ideal der moralischen Vollkommenheit entspricht, oder nicht, und ganz unabhängig davon, ob die Handlungen, die zur Verwirklichung bestimmter

© koninklijke brill nv, leiden, ���4 | doi ��.��63/9789004271722_009

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Zwecke geeignet sind, moralischen Handlungsschemata entsprechen, oder nicht, betrifft der hier thematische Mangel einerseits die Tatsache, dass die inhaltliche Bestimmung der freien Willkür nicht vollkommen frei erfolgt, da sie nicht gänzlich auf Spontaneität beruht und daher nicht gänzlich selbstbestimmt ist, sondern eine gewisse Kontingenz in sich beinhaltet, die sich aus der Eigendynamik der empirischen Welt und den Eindrücken, die sie durch Rezeptivität an den Akteur heranträgt, ergibt. Sie beruht also nicht vollständig auf der Spontaneität des entsprechenden Akteurs, sondern in gewissem Maße auf der Rezeptivität der Sinnlichkeit. Andererseits betrifft dieser Mangel, wie mehrmals erwähnt, die Kontingenz im Hinblick auf die Verwirklichung gegebener Willensinhalte, also im Hinblick auf den Entschluss zur Ergreifung der Tat und zur Wahl eines Handlungsschemas, das den Grundsätzen der moralischen und pragmatischen Vernunft entspricht. In beiderlei Hinsicht zeichnet sich die menschliche Willkür durch einen erkennbaren Mangel an Erfolgskontrolle aus. Hiervon unterscheidet sich der eigentlich freie Wille, den Kants Trans­ zendentalphilosophie beschreibt, signifikant, nämlich indem er als Ausdruck für die Bezeichnung einer idealtypischen Willensstruktur gilt, die sich dadurch auszeichnet, dass der Akteur sowohl im Hinblick auf die Bestimmung seiner Willensinhalte als auch bei der Ergreifung der zu ihrer Verwirklichung notwendigen Mittel, also bei der Aktualisierung geeigneter Handlungsschemata, gänzlich spontan ist und die volle Kontrolle über den entsprechenden Sachverhalt besitzt. Es ist in der Kantforschung schon immer betont worden, dass der freie Wille auf der Autonomie der praktischen Vernunft beruht und infolgedessen jederzeit moralisch ist, weswegen der Ausdruck „freier Wille“, in Abgrenzung von der „freien Willkür“, den moralischen Willen bezeichnet. Falsch ist das nicht, aber es ist, wie wir in den bisherigen Erörterungen im Zusammenhang mit der inhaltlichen Bestimmung des moralischen Willens gesehen haben, nicht vollständig. Dass der freie Wille ein moralischer Wille ist, bezeichnet die Besonderheit, dass er frei von der Kontingenz ist, mit der die inhaltliche willentliche Selbstbestimmung menschlicher Akteure in der empirischen Welt behaftet ist, und die Unabhängigkeit von dieser Kontingenz durch eigene Spontaneität zu gewährleisten, also kontrollieren vermag. Er zeichnet sich aber darüber hinaus auch dadurch aus, dass er bei der Hervorbringung der aus eigener Freiheit gesetzten Zwecke erstens jederzeit die Mittel ergreift, die ihm die Vernunft empfiehlt, dass ihn also die Einsicht in die Vernünftigkeit bestimmter Grundsätze dringend zur Tat bewegt, und dass er zweitens auch jederzeit imstande ist, zu bewirken, was er bewirken will. Letzteres macht ihn, über die moralische Wesenheit hinaus, erst zum idealen Willen, der der maximal möglichen Entfaltung der praktischen Freiheit zugrunde liegt und von

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dem jede andere Willensstruktur (und Handlungsstruktur) nur einen abkünftigen Modus darstellt. Nur dieser Wille hat im eigentlichen Sinne „alle Gewalt“, nämlich sowohl über sich als auch über die Welt. Wir haben mehrfach betont, dass die Theorie der praktischen Freiheit als Bestandteil einer Vermögenslehre konzipiert ist, die wiederum typisch für Kants transzendentalen Idealismus ist. Um zu verstehen, warum die Analyse der idealtypischen Willensstruktur, die der maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit zugrunde legen muss, einen integralen Bestandteil des transzendentalen Idealismus darstellt, genügt es, einen Blick auf die zugrundeliegende Methode und aus ihr hervorgehende Struktur der kantischen Philosophie als Vermögenslehre zu werfen. Dass Kant auch im Hinblick auf die praktische Philosophie, also speziell in der Kritik der praktischen Vernunft eine Philosophie konzipiert, die ganz wesentlich auf der Bestimmung der Form der Autonomie der praktischen Vernunft ausgerichtet ist, ist allgemein bekannt und verweist auf den Kategorischen Imperativ. Spannend ist nun die Frage, warum eigentlich zusätzlich zu der Form hier auch eine inhaltliche Bestimmung des moralischen Willens vorgenommen wird, ob diese inhaltliche Bestimmung wirklich a priori erfolgen kann, wie Kant behauptet, und ob diese inhaltliche Bestimmung, also die Bestimmung eines notwendigen Gegenstandes der Totalität der moralischen Praxis, ihrerseits im Hinblick auf die bloße Form, also a priori und apodiktisch möglich ist. Die Pointe der hier vorgelegten Interpretation besteht darin, dass die Theorie des höchsten Guts, in Form des höchsten ursprünglichen Guts in der Kritik der reinen Vernunft und in Form des göttlichen Willens in der Kritik der praktischen Vernunft, die strukturelle Beschaffenheit des Willens erörtert, der zur maximalen Entfaltung der auf der Vernunft beruhenden praktischen Freiheit nötig ist. Hier wird also, ähnlich wie im Hinblick auf die transzendentale Apperzeption, eine idealtypische Form von Subjektivität erörtert, die angenommen werden muss, damit die Verbindlichkeit der einzelnen Grundsätze und Gesetze gewährleistet werden kann. Ebenso, wie die Identität der Kategorien ohne die Annahme eines mit sich identischen Subjekts als formales Prinzip der Logik nicht denkbar wäre, ist auch die Identität und Beharrlichkeit der moralischen Gesetze ohne die entsprechende zugrundeliegende Subjektivität nicht widerspruchsfrei denkbar. Der Theorie der praktischen Freiheit liegt also eine Vermögenslehre zugrunde, die die strukturelle Beschaffenheit des höchst vollkommenen Willens erörtert, von dem angenommen wird, dass er der maximalen Entfaltung der praktischen Freiheit zugrunde liegt. Sofern irgendwelche Abstriche in Bezug auf die Leistungsfähigkeit dieses Willens in Kauf genommen werden, müssen auch Abstriche im Hinblick auf die Ausprägung der praktischen Freiheit hingenommen werden. Das ist der Zusammenhang, den

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ich empfehle, in den Vordergrund zu rücken, nämlich: idealtypischer Wille – maximale praktische Freiheit, und nicht: idealtypischer Wille – maximale Moralität. Dieses ist nämlich in jenem enthalten und zwar auf eine Art und Weise, die ich im Zusammenhang mit der moralischen und pragmatischen Gesetzgebung der Vernunft als inhaltliche Gestaltung und Kontrolle der eigenen Selbstbestimmung erörtert habe. Ich habe also eine Rekonstruktion der kantischen Theorie der praktischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft empfohlen, die stufenweise die mögliche Ausprägung der freien menschlichen Willkür analysiert und einen Fortschritt im Hinblick auf das darin enthaltene Maß an Spontaneität, also an eigentlicher Selbstbestimmung, mithin an Erfolgskontrolle bei der inhaltlichen Gestaltung und äußeren Verwirklichung der Zwecke, darstellt. Am Anfang dieser Erörterungen steht, in der Kritik der reinen Vernunft, ein Minimalbegriff der Freiheit, die sinnlich affizierte, aber freie Willkür, die sich in ihrer Minimalausprägung kaum vom arbitrium brutum unterscheidet und in der Tat nur wenig mehr als die berühmte „Freiheit eines Bratenwenders“ darstellt. An der Spitze steht aber das, was von Kant in den Vorlesungen über die Metaphysik als liberum arbitrium intellektuale angedacht wurde. Dies kann strukturell als Vermögen nach der Vorstellung von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrenswert ist, zu handeln, beschrieben werden und stellt die idealtypische Willensstruktur im Hinblick auf die maximale Entfaltung der Freiheit dar; nämlich einen Willen, der weiß, was er wollen will, und der das, was er wollen will, auch tatsächlich will und in der Welt verwirklicht. Darum unterscheidet sich mein Ansatz auch beispielsweise von der Interpretationslinie von Silber bis Mariña dahingehend, dass ich letztendlich nicht zwischen einer immanenten und einer transzendentalen Dimension des höchsten Guts, auch nicht wie von Hartmann352 zwischen einem „transzendentalen Optimismus“ und „eudämologischen Pessimismus“, unterscheide, sondern eine speziell transzendentalphilosophische Perspektive einnehme, die ganz entscheidend auf der Strukturanalyse des zugrundeliegenden Vermögens und der Struktur der Praxis der kontrollierten, willentlichen Selbstbestimmung beruht. Auf die anfangs diskutierten Fragen, ob zwischen dem Wollen von Zwecken und Wollen von Mitteln ein analytischer oder synthetischer Zusammenhang besteht, ob die Kohärenzthese über die Probleme der Analytizitätsthese hinaushilft, ob das instrumentelle Prinzip überhaupt eine Normativität aus eigener Dynamik entfalten kann oder einer objektiven 352 Hartmann, E. v. 1885: Philosophische Fragen der Gegenwart. Ders. 1891: Kant als Vater des modernen Pessimismus.

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Normativität, deren Quelle die Welt darstellt, untersteht, wurde eine Antwort gegeben, die zweierlei Besonderheiten aufweist: Erstens wird eine wesentlich umfassendere Textgrundlage als die übliche Referenz auf die, von mir ohnehin kritisch angesehene GMS, herangezogen und es zeigt sich, dass Kant den Zusammenhang zwischen dem Wollen von Zwecken und Wollen von Mitteln in einen ganz spezifischen freiheits- und handlungstheoretischen Rahmen einbettet. Zweitens zeigt es sich, dass die Unterscheidung zwischen der Erörterung von (a) Strukturen der transzendentalen Subjektivität, also idealtypischen Strukturen, die der maximal möglichen Entfaltung der praktischen Freiheit zugrunde liegen müssen und (b) der empirischen Beschreibung der menschlichen Praxis in der empirischen Welt, ganz wesentlich für das Verständnis der einzelnen Thesen ist. Daher lässt sich auf die Frage der Analytizität auch ganz eindeutig eine kantische Antwort geben, die von den zitierten Autoren nicht gegeben wird: Aus der transzendentalphilosophischen Perspektive, die die Strukturbeschreibung der idealtypischen Vollzugsweise der praktischen Freiheit in einer Welt, in der die Akteure die volle Kontrolle über die inhaltliche Gestaltung ihres Willens und die Verwirklichung ihrer Willensinhalte in der Welt besitzen, besteht die Analytizität, von der Kant in der GMS spricht, durchaus. Aber in der empirischen Welt, in der die Verhältnisse von empirischen Zwecken und empirischen Mitteln in hohem Maße kontingent sind, ist dies nicht der Fall. Jenes soll der Fall sein, dieses ist die Realität; und im Spannungsfeld dessen, was empirische Realität ist und was die Vernunft als sein sollend zu konzipieren Vermag, entfaltet Kant die Theorie der praktischen Freiheit mitsamt der in ihr enthaltenen moralischen und pragmatischen Normativität. Ähnlich verhält es sich mit dem praktischen Syllogismus als Schluss­ mechanismus vom Wollen bestimmter Zwecke auf das Wollen der zu ihrer Hervorbringung geeigneten Mittel, den Korsgaard 1997 wirkungsmächtig in die Debatten einbringt, und der auch von Bittner353 als typisch für Kants Theorie angesehen wird: Aus transzendentalphilosophischer Perspektive, also hinsichtlich der Beschreibung einer idealtypischen Vollzugsweise der praktischen Freiheit durch einen Akteur, der die „volle Gewalt“ über beide Ebenen (intern und extern) seiner willentlichen Selbstbestimmung besitzt, gilt der praktische Syllogismus durchaus, denn dieser Akteur ist imstande, die Kontingenz, die typisch für die menschliche willentliche Selbstbestimmung in der empirischen Welt ist, zu eliminieren. Daher kann er auch den Fall, dass die geeigneten Mittel übergeordneten Grundsätzen widersprechen, ausschließen. Überdies kann er den Fall, dass die Zwecke oder Maximen 353 Bittner 2005, 70.

schluss

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übergeordneten Gesetzen widersprechen, ausschließen. Dabei handelt es sich um eine ganz andere Ebene als beispielsweise bei Broome, der „practical reasoning“ unter den Bedingungen der empirischen Welt und hinsichtlich empirischer, menschlicher Akteure erörtert und konsequenterweise die entsprechende Verbindlichkeit abschwächen muss. Dagegen bleibt auch hier die von Pollok in den Vordergrund gestellte Kohärenz der Zweck-Mittel-Relation bestehen, denn diese behält ihre normative Signifikanz sowohl unter idealtypischen als auch empirischen Bedingungen bei. Es bleibt die Frage übrig, warum überhaupt innerhalb der modernen Handlungstheorie eine transzendentalphilosophische Perspektive nötig ist und warum Kants entsprechende Überlegungen relevant sind. Dies ist erstens darum der Fall, weil die Vernunft ein berechtigtes Interesse besitzt, zusätzlich zur Beschreibung der empirischen Realität der menschlichen Existenz auch die Frage zu erörtern, wie weit die Entfaltung der praktischen Freiheit gelangen könnte, wenn es, zumindest im Gedanken, möglich wäre, die Mängel, die typisch für die menschliche Praxis sind, aufzuheben, und damit handlungsorganisatorische Strukturen zu erörtern, die unmittelbar aus dem Begriff der Freiheit entspringen und nicht durch die Kontingenz der empirischen Welt kontaminiert sind. An diesem Maßstab kann die Realität der menschlichen Praxis gemessen werden. Überdies kann mit Berufung auf Kant grundsätzlich infrage gestellt werden, ob sich die thematischen handlungstheoretischen Probleme, die sich im Kontext der instrumentellen Rationalität ergeben und hier diskutiert wurden, überhaupt sinnvoll durchdenken und zum Abschluss bringen lassen, wenn der transzendentalphilosophische Rahmen aufgegeben und nur ein deskriptiver Ansatz verfolgt wird. Es wurde nicht nur darauf hingewiesen, dass die Antworten dann unbefriedigend werden; vielmehr kann behauptet werden, dass die Fragen selbst nicht sinnvoll formuliert werden können. Unter den empirischen Bedingungen dieser Welt und der Realität der menschlichen Praxis ist schon die Frage, ob zwischen dem Wollen von Zwecken und Wollen von Mitteln ein „analytisches Verhältnis“, ein „praktischer Syllogismus“ oder eine „normative Implikation“ besteht, im Grunde genommen schal; denn die Antwort ist nach dem Standpunkt des gesunden Menschenverstandes eindeutig: Nein – und zwar darum, weil zu viel Kontingenz im Spiel ist. Ich muss nicht das Latinum wollen, wenn ich das erste Staatsexamen will. Interessant und fruchtbar werden diese Sachverhalte und Fragstellungen erst hinsichtlich der Frage, was vernünftigerweise gewollt werden könnte, wenn das wollende und handelnde Subjekt imstande wäre, sich über die entsprechende Kontingenz zu erheben. Aber damit sind wir nicht am Ende, denn Kant argumentiert nicht nur, dass die entsprechenden Fragen einem beliebigen philosophischen Interesse

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kapitel 8

entspringen, sondern dass ihre Erörterung und Beantwortung unerlässlich für die Fähigkeit ist, nachzuvollziehen, warum überhaupt moralische und pragmatische Gesetze von irreduzibler und konstitutiver Bedeutung für die freie willentliche Selbstbestimmung sind und warum die Pflichtzuschreibung in der gegebenen Strenge erfolgen muss. Wer wirklich begreifen will, warum er moralische Gesetze als konstitutives Element seiner Freiheit, und nicht nur als beliebige Konventionen seiner Zeit ansehen soll, muss die Fragen, die Kant in der Dialektik erörtert, stellen und beantworten, oder aber er muss Abstriche machen. Diese Abstriche macht man dann aber entweder bei der Frage der Glückseligkeit, also der Handlungskontrolle, oder bei der Frage der Moralität, also der freien Bestimmung seiner eigenen Willensinhalte. Kant geht es um Freiheit und er lässt in dieser Hinsicht keine Kompromisse zu.

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Namensregister Albrecht, M.  317, 352, 370, 399 Allison, H.E.  111, 265, 274, 283, 284, 285, 290, 293, 294, 339, 391 Auxter, T.  308, 391 Baum, M.  116, 171, 175, 176, 391 Beck, L.W.  308, 344, 345, 391, 393 Bittner, R.  30, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 66, 89, 147, 388, 391 Bojanowski, J.  115, 116, 132, 135, 145, 150, 158, 168, 169, 171, 175, 176, 186, 188, 241, 265, 296, 391 Brandt, R.  112, 339, 392 Bratman, M.  45, 93, 97, 392 Broome, J.  54, 74, 77, 93, 94, 95, 96, 97, 99, 100, 101, 147, 389, 392 Cohen, H.  321, 392 Disse, J.  309, 324, 327, 329, 346, 361, 362, 392 Düsing, K.  17, 112, 113, 114, 115, 172, 254, 309, 324, 327, 332, 337, 340, 361, 362, 363, 392 Engelhard, K.  111, 392 Esteves, C.R.J.  292, 392 Ferreira, G.  370, 392 Fischer, N.  309, 324, 332, 337, 362, 363, 392 Fonfara, D.  340, 392 Frankfurt, H.  27, 45, 48, 53, 55, 57, 58, 59, 60, 67, 392, 394 Geismann, G.  116, 160, 161, 167, 168, 169, 170, 171, 173, 175, 392 Hartmann, E. v.  387, 392 Hegel, G.W.F.  1, 4, 12, 13, 14, 16, 20, 25, 28, 35, 54, 66, 72, 78, 79, 102, 105, 106, 113, 118, 156, 172, 254, 310, 311, 312, 313, 318, 319, 333, 336, 338, 374, 392, 393, 394 Josifovic, S.  106, 313, 393

Kaulbach, F.  352, 393 Keller, G.  125, 493 Korsgaard, C.  6, 7, 8, 17, 19, 20, 21, 22, 23, 28, 32, 35, 36, 41, 42, 48, 49, 53, 54, 55, 62, 63, 64, 66, 74, 75, 76, 78, 85, 93, 95, 96, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 120, 132, 144, 147, 376, 388, 393 Kriemendahl, L.  111, 393 Kroner, R.  113, 393 Ludwig, B.  6, 7, 8, 77, 78, 393 Marina, J.  124, 308, 328, 334, 362, 363, 365, 387, 393 Milz, B.  272, 342, 343, 344, 345, 362, 393 Murphy, J.G.  308, 393 Paton, H.J.  7, 8, 11, 393 Patzig, G.  7, 393 Pollok, K.  5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 15, 16, 19, 22, 74, 75, 77, 78, 81, 83, 84, 85, 86, 87, 93, 100, 101, 102, 147, 152, 194, 296, 300, 315, 323, 361, 364, 376, 378, 389, 393 Raz, J.  1, 19, 22, 25, 28, 29, 31, 32, 34, 35, 48, 49, 53, 54, 55, 60, 62, 63, 64, 67, 71, 72, 74, 77, 79, 84, 85, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 101, 102, 103, 105, 125, 147, 169, 188, 200, 375, 393 Röttges, H.  290, 291, 301, 302, 393 Rorty, R.  338, 339, 394 Schiller, F.  51, 54, 55, 61, 394 Schmauke, S.  111, 267, 394 Schmitz, H.  309, 394 Schönecker, D.  129, 168, 171, 172, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 182, 183, 184, 185, 186, 394 Seel, G.  7, 112, 339, 392, 394 Silber, J.R.  238, 308, 387, 393, 394 Speer, A.  138, 394 Staege, R.  6, 7, 8, 78, 79, 394 Stekeler-Weithofer, P.  294, 297, 298, 299, 310, 311, 313, 394 Strawson, P.  292, 293, 394 Streichert, T.  275, 298, 299, 394

397

namensregister Vorländer, K.  112, 253, 394

Yovel, Y.  308, 394

Weiper, S.  309, 394 Willaschek, M.  15, 111, 171, 361, 370, 376, 377, 378, 379, 380, 381, 393, 395

Zeldin, M.B.  308, 394 Zobrist, M.  309, 310, 394 Zwingenberg, H.W.  113, 394

Stichwortverzeichnis Äußerlichkeit  13, 14, 72, 305, 306, 312, 374 Antinomie der praktischen Vernunft  256, 258, 263, 308, 309, 330, 335, 339, 341, 342, 343, 344, 345, 346, 348, 349, 350, 351, 351, 352, 353, 360, 362, 365, 391 Antinomie der spekulativen Vernunft (Antinomie in der KrV)  110, 263, 271, 280, 307, 308, 330, 335, 336, 342, 343, 344, 346, 349, 350 Antinomien  111, 184, 263, 267, 272, 290, 292, 394 Antithesis, Antithese  35, 108, 265, 271, 273, 274, 275, 276, 277, 278, 279, 280, 283, 284, 285, 286, 287, 288, 289, 290, 291, 292, 293, 294, 295, 301, 303, 306, 307, 335, 336, 342, 343, 344, 345, 346, 347, 349, 350, 360, 363, 365, 392 Antriebe der Sinnlichkeit, sinnliche Antriebe 2, 20, 56, 58, 60, 62, 108, 116, 117, 127, 128, 129, 131, 132, 135, 136, 138, 139, 147, 155, 158, 164, 169, 170, 171, 173, 174, 175, 180, 187, 188, 193, 198, 200, 202, 203, 204, 205, 216, 224, 228, 230, 231, 232, 236, 251, 252, 269, 295, 314, 320, 322, 323, 328 apagogisch, indirekt (Beweis der Thesis oder Antithesis)  271, 274, 275, 276, 277, 278, 280, 281, 283, 286, 287, 291, 295 a priori  13, 21, 22, 34, 37, 40, 73, 82, 87, 120, 121, 155, 185, 187, 188, 201, 202, 203, 205, 224, 226, 227, 243, 252, 256, 283, 332, 360, 363, 370, 384, 386 arbitrium brutum  20, 24, 55, 56, 59, 60, 116, 135, 136, 137, 143, 216, 323, 387 arbitrium liberum, liberum arbitrium  1, 11, 10, 16, 17, 20, 27, 51, 52, 55, 56, 59, 60, 79, 84, 106, 108, 115, 116, 116, 117, 118, 119, 127, 128, 131, 133, 135, 136, 137, 138, 139, 142, 143, 144, 147, 147, 150, 153, 156, 157, 158, 159, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 168, 173, 176, 177, 178, 179, 181, 185, 187, 188, 190, 193, 198, 211, 216, 231, 261, 292, 322, 323, 328, 387 arbitrium sensitivum  132, 135, 136, 137, 155, 163, 177, 253, 261 Autonomie  4, 5, 8, 12, 16, 17, 18, 19, 21, 22, 23, 24, 33, 34, 35, 36, 38, 64, 74, 87, 102, 104,

105, 115, 118, 120, 132, 133, 155, 156, 157, 177, 178, 178, 183, 187, 191, 198, 201, 202, 203, 209, 224, 226, 227, 229, 239, 251, 258, 258, 261, 262, 269, 270, 296, 300, 321, 323, 328, 329, 348, 359, 366, 367, 374, 375, 378, 385, 386 Begehrungsvermögen  5, 9, 16, 18, 19, 49, 53, 57, 58, 60, 78, 101, 106, 115, 122, 126, 130, 131, 136, 141, 142, 143, 156, 162, 172, 187, 188, 189, 193, 195, 197, 202, 203, 204, 223, 227, 228, 232, 233, 246, 296, 298, 300, 305, 306, 323, 325, 341, 361, 364, 366, 393, 393 beste Welt  119, 211, 369, 370, 372 Bestimmung des Willens, Willensbestimmung  13, 14, 37, 54, 119, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 244, 252, 269, 292, 293, 296, 317, 324, 360, 378, 393 Dasein Gottes (Siehe auch: Gottespostulat) 221, 353, 360, 366, 367, 370 Deduktion  12, 112, 114, 130, 134, 135, 183, 252, 254, 255, 256, 261, 262, 333, 340, 354, 370 Determinismus  23, 111, 168, 294, 301, 303, 306 Dialektik  105, 110, 168, 175, 177, 178, 179, 183, 255, 263, 266, 267, 290, 308, 313, 333, 334, 335, 390, 394 Dogmatisch  35, 63, 102, 111, 250, 265, 290, 292, 294, 336, 337 Dogmatismus  265, 271, 275, 276, 278, 279, 280, 281, 285, 293, 301, 336, 338, 339, 342, 343, 350 empirische Welt  4, 5, 12, 14, 15, 16, 31, 32, 34, 50, 63, 66, 72, 73, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 85, 86, 87, 89, 102, 118, 121, 122, 123, 124, 157, 210, 212, 213, 213, 214, 238, 247, 262, 269, 379, 307, 326, 332, 333, 334, 335, 347, 353, 359, 363, 364, 365, 366, 368, 372, 373, 374, 382, 384, 385, 388, 389 empirische Zwecke  133, 137, 146, 147, 153, 154, 188, 189, 193, 194, 198, 203, 205, 300, 388 empiristisch  34, 35, 287, 290, 301

stichwortverzeichnis Empirismus  35, 265, 271, 275, 276, 277, 278, 279, 280, 285, 286, 287, 288, 291, 293, 294, 336, 338, 339, 343, 350 Entscheidung  2, 17, 18, 20, 22, 23, 24, 27, 28, 30, 31, 32, 34, 36, 37, 48, 49, 54, 60, 89, 90, 91, 92, 93, 97, 98, 99, 129, 130, 131, 138, 143, 144, 146, 190, 311, 315 Epikureisch  62, 337, 339, 340, 341, 342, 344 Epikureismus  125, 126, 152, 276, 339, 340, 343, 344, 350 Epikureer  217, 331, 341, 344, 346 Erfahrungsbeweis (der praktischen Freiheit) 116, 160, 161, 162, 164, 165, 166, 171, 172, 175, 261, 263 Erfolgskontrolle  10, 11, 17, 22, 32, 63, 75, 80, 81, 82, 83, 86, 87, 99, 107, 109, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 126, 147, 148, 154, 156, 157, 187, 192, 193, 194, 194, 196, 197, 198, 200, 203, 204, 208, 209, 210, 211, 214, 227, 228, 231, 232, 233, 234, 236, 237, 239, 240, 241, 244, 246, 247, 248, 249, 252, 253, 261, 262, 296, 305, 307, 326, 327, 334, 353, 361, 365, 366, 368, 370, 371, 372, 373, 374, 375, 379, 382, 385, 387 der Erste Beweger  275, 276, 277, 278, 284, 285, 286, 289 Facilitative (reasons, principle)  28, 29, 31, 32, 34, 79, 87, 88, 89, 90, 94, 97 Faktum der Vernunft  33, 34, 112, 113, 132, 161, 177, 184, 241, 254, 255, 260, 262, 307, 309, 357, 259, 260, 391 Freie Willkür  60, 73, 99, 128, 129, 131, 132, 133, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 150, 151, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 160, 161, 165, 170, 176, 185, 186, 187, 195, 197, 198, 201, 202, 203, 204, 205, 208, 216, 217, 218, 227, 228, 231, 232, 236, 251, 315, 323, 328, 385 Freiheitsantinomie  35, 106, 108, 110, 111, 158, 161, 167, 175, 184, 264, 271, 275, 290, 293, 304, 305, 306, 359, 393 Fremdbestimmung  26, 27, 28, 31, 53, 61, 158, 375 Gesetzgebung  12, 16, 18, 21, 33, 34, 73, 74, 87, 122, 128, 133, 145, 176, 188, 194, 198, 202, 203, 209, 213, 219, 240, 247, 258, 316, 317, 387

399 Gesetzlosigkeit  275, 276, 285, 286, 288, 289, 291, 295 Gewalt  9, 10, 11, 13, 15, 16, 32, 35, 52, 72, 75, 78, 80, 86, 87, 101, 105, 118, 121, 123, 156, 157, 162, 192, 196, 204, 214, 215, 217, 221, 227, 228, 229, 230, 231, 233, 234, 236, 237, 238, 239, 240, 241, 242, 244, 246, 247, 252, 253, 300, 305, 306, 323, 325, 326, 327, 338, 361, 364, 378, 379, 381, 386, 388, 393 Glück  31, 39, 138, 191, 194, 197, 218, 232, 233, 309, 324, 325, 327, 329, 337, 361, 362, 363, 364, 372, 379, 380, 382, 392, 394 Glückseligkeit, glückselig  9, 10, 32, 52, 61, 62, 81, 82, 83, 84, 119, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 187, 188, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 199, 201, 202, 203, 205, 208, 209, 210, 211, 214, 215, 216, 217, 218, 219, 220, 221, 222, 223, 224, 225, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 237, 238, 239, 240, 241, 242, 243, 244, 246, 247, 248, 249, 262, 309, 319, 320, 322, 324, 325, 326, 327, 328, 329, 330, 331, 332, 333, 334, 335, 337, 338, 339, 340, 341, 342, 343, 344, 346, 347, 349, 350, 351, 353, 354, 355, 360, 361, 362, 363, 365, 366, 367, 368, 371, 372, 373, 374, 376, 378, 379, 380, 381, 390 Glückswürdigkeit, glückswürdig  10, 32, 52, 61, 62, 81, 82, 83, 84, 119, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 187, 188, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 199, 201, 202, 203, 205, 208, 209, 210, 211, 214, 215, 216, 217, 218, 219, 220, 221, 222, 223, 224, 225, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 237, 238, 239, 240, 241, 242, 243, 244, 246, 247, 248, 249, 262, 309, 319, 320, 322, 324, 325, 326, 327, 328, 329, 330, 331, 332, 333, 334, 335, 337, 338, 339, 340, 341, 342, 343, 344, 346, 347, 349, 350, 351, 353, 354, 355, 360, 361, 362, 363, 365, 366, 367, 368, 371, 372, 373, 374, 376, 378, 379, 380, 381, 390 Gott  179, 181, 192, 196, 197, 211, 215, 229, 242, 244, 245, 249, 250, 309, 324, 327, 329, 352, 354, 361, 362, 369, 378, 381, 392 Gottespostulat (Dasein, Existenz Gottes, zweites Postulat)  5, 14, 15, 17, 72, 212, 221, 264, 267, 268, 270, 271, 309, 324, 328, 332, 337, 349, 351, 353, 360, 362, 363, 364, 366, 367, 370, 374, 376, 377, 379, 392

400 Gründe  9, 10, 11, 13, 15, 16, 18, 21, 24, 26, 27, 28, 29, 30, 32, 33, 34, 36, 37, 38, 39, 41, 42, 43, 45, 48, 49, 50, 51, 52, 54, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 74, 77, 81, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 110, 115, 116, 119, 122, 127, 155, 166, 167, 177, 188, 198, 200, 203, 212, 216, 217, 218, 221, 229, 230, 231, 232, 250, 251, 252, 254, 256, 257, 269, 271, 274, 275, 278, 290, 310, 311, 317, 320, 323, 333, 343, 344, 346, 363, 374, 389 Grund  5, 8, 11, 19, 23, 26, 27, 29, 30, 32, 41, 42, 45, 49, 50, 53, 54, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 77, 85, 88, 89, 90, 91, 92, 94, 95, 96, 98, 100, 101, 120, 128, 136, 157, 170, 171, 176, 179, 197, 200, 229, 240, 277, 279, 281, 283, 284, 285, 286, 293, 299, 302, 308, 314, 329, 330, 331, 333, 342, 344, 345, 363, 366, 367, 368 Grundgesetz der intelligiblen Welt (Sittengesetz)  17, 106, 107, 108, 112, 113, 114, 160, 161, 177, 184, 251, 255, 256, 258, 259, 260, 262, 271, 288, 307, 347, 348, 352, 353, 354, 355, 356, 357, 358, 365, 366, 367 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 6, 7, 11, 73, 75, 83, 104, 106, 108, 110, 112, 113, 114, 152, 159, 194, 199, 219, 254, 261, 317, 339, 340, 361, 391, 392, 394 Grundsätze  3, 4, 10, 20, 21, 23, 24, 26, 31, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 48, 50, 65, 74, 79, 80, 91, 93, 98, 99, 100, 102, 114, 115, 116, 117, 119, 120, 125, 127, 128, 131, 137, 138, 139, 141, 146, 147, 148, 150, 151, 152, 154, 155, 158, 171, 174, 176, 183, 186, 187, 189, 196, 198, 200, 201, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 216, 219, 220, 226, 228, 231, 237, 241, 247, 248, 251, 252, 254, 256, 262, 266, 268, 270, 282, 288, 294, 295, 296, 299, 300, 304, 307, 316, 319, 320, 341, 351, 354, 366, 373, 374, 384, 385, 386, 388 Handeln  4, 6, 8, 10, 11, 15, 17, 20, 21, 22, 24, 27, 36, 38, 39, 41, 42, 43, 49, 51, 53, 57, 60, 64, 68, 69, 72, 75, 80, 93, 95, 98, 99, 103, 104, 105, 106, 108, 117, 119, 120, 127, 128, 131, 133, 135, 136, 137, 140, 142, 143, 145, 147, 148, 149, 155, 162, 169, 170, 171, 176, 178, 182, 183, 187, 193, 195, 205, 206, 207, 208, 211, 221, 224, 226, 228, 230, 237, 247, 285, 286, 287, 295, 297, 298, 299, 300, 302, 304, 305, 309,

stichwortverzeichnis 311, 314, 315, 316, 318, 319, 323, 327, 339, 345, 366, 369, 377, 387, 389, 391 Handlung, Handlungen  3, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 21, 23, 24, 25, 26, 27, 31, 34, 36, 37, 43, 48, 50, 53, 55, 57, 59, 67, 75, 80, 81, 87, 88, 90, 91, 93, 94, 95, 98, 99, 100, 102, 104, 106, 116, 117, 121, 127, 128, 129, 130, 133, 134, 136, 137, 138, 139, 141, 143, 144, 146, 147, 151, 156, 164, 169, 170, 171, 173, 174, 176, 178, 180, 181, 185, 204, 222, 224, 225, 226, 227, 228, 230, 231, 240, 250, 262, 269, 284, 287, 292, 293, 296, 297, 299, 300, 301, 302, 304, 305, 306, 310, 311, 312, 313, 314, 315, 316, 317, 318, 319, 320, 321, 322, 330, 338, 344, 358, 363, 365, 374, 375, 378, 384, 393 Handlungsorganisation, Handlungskoordination  4, 9, 10, 15, 32, 38, 39, 41, 66, 82, 83, 101, 119, 178, 200, 234, 261, 262, 353, 364, 367, 375, 378, 379, 381 Hegels, hegelsch etc.   12, 13, 14, 35, 78, 105, 118, 156, 310, 312, 313, 318, 394 (das) höchste abgeleitete Gut  211, 234, 239, 244, 249, 250, 369 (das) höchste Gut  4, 9, 10, 11, 32, 52, 61, 66, 80, 81, 82, 83, 87, 101, 113, 117, 118, 119, 121, 123, 124, 125, 126, 132, 135, 150, 152, 153, 154, 169, 178, 193, 195, 199, 208, 209, 210, 211, 214, 215, 220, 229, 234, 235, 236, 239, 246, 238, 239, 240, 241, 243, 245, 246, 247, 249, 251, 252, 253, 256, 257, 258, 306, 307, 308, 309, 314, 316, 320, 321, 322, 323, 324, 325, 326, 327, 328, 329, 330, 332, 333, 334, 335, 337, 339, 340, 341, 342, 343, 346, 348, 349, 351, 353, 354, 355, 356, 357, 358, 360, 361, 363, 365, 367, 368, 369, 370, 371, 373, 375, 377, 378, 379, 380, 381, 382, 383, 386, 387, 393, 394, 395 (das) höchste ursprüngliche Gut  117, 118, 119, 211, 215, 234, 237, 239, 242, 243, 244, 248, 249, 251, 324, 334, 369, 373, 386 (das) höchste vollendete Gut  11, 126, 307, 324, 325, 328, 339, 340, 355, 373, 374, 382 hypothetisch  5, 6, 7, 8, 9, 11, 13, 33, 34, 36, 38, 41, 46, 73, 75, 77, 78, 79, 83, 84, 86, 100, 104, 138, 148, 154, 203, 205, 393, 394 Ideal des höchsten Guts  87, 118, 122, 150, 153, 154, 195, 209, 214, 229, 234, 235, 236, 237, 238, 240, 245, 251, 257, 324, 348

stichwortverzeichnis Idealismus, idealistisch  22, 27, 34, 35, 36, 51, 53, 59, 106, 111, 112, 115, 118, 141, 172, 183, 184, 213, 254, 257, 260, 265, 271, 274, 279, 280, 287, 290, 291, 292, 294, 303, 306, 307, 313, 335, 342, 348, 386, 391, 392, 393 Idealtypisch  11, 75, 78, 81, 101, 102, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 126, 128, 157, 209, 210, 212, 213, 215, 226, 234, 316, 327, 349, 353, 370, 371, 372, 373, 382, 384, 385, 386, 387, 388, 389 Imperativ, Imperative  5, 6, 7, 8, 9, 11, 13, 23, 36, 38, 41, 46, 73, 75, 77, 78, 83, 84, 86, 100, 104, 113, 187, 212, 214, 232, 233, 241, 258, 271, 300, 309, 323, 348, 357, 358, 359, 367, 377, 386, 393, 394 Impuls  2, 4, 24, 33, 54, 55, 59, 108, 115, 138, 144, 162, 163, 164, 171, 176, 177, 178 Indeterminismus  111, 168, 306 Inkompatibilismus, inkompatibilistisch 111, 140, 168, 275, 280, 286, 291, 293, 303, 306 instrumentell (Rationalität, Gründe, Prinzip) 6, 7, 17, 21, 22, 28, 29, 32, 38, 41, 74, 75, 76, 77, 84, 85, 87, 88, 89, 90, 93, 94, 95, 96, 97, 100, 102, 147, 199, 200, 387, 389 intelligibel  47, 87, 103, 105, 108, 110, 264, 293, 304, 359 intelligible Kausalität  19, 22, 24, 34, 37, 46, 74, 103, 107, 108, 172, 181, 182, 183, 241, 255, 257, 260, 262, 263, 269, 270, 294, 295, 355, 358, 363, 366, 367, 368 intelligible Welt  106, 107, 112, 113, 114, 160, 161, 177, 235, 235, 240, 243, 249, 249, 251, 251, 255, 255, 256, 257, 257, 258, 258, 259, 260, 260, 262, 268, 269, 270, 271, 279, 288, 307, 334, 335, 335, 347, 348, 351, 352, 353, 354, 354, 356, 357, 359, 365 Kanon  112, 168, 169, 171, 175, 177, 179, 180, 181, 185, 201, 245, 348, 352, 394 kategorisch (imperativ, Gesetze)  5, 8, 9, 13, 33, 34, 36, 41, 46, 82, 104, 113, 138, 148, 206, 258, 271, 309, 377, 386 Kausalität  1, 16, 17, 19, 22, 24, 34, 37, 46, 51, 74, 80, 85, 86, 103, 106, 107, 108, 110, 111, 113, 139, 140, 141, 158, 159, 166, 169, 172, 181, 182, 183, 185, 230, 240, 241, 255, 257, 260, 262, 263, 268, 269, 270, 271, 272, 273, 281, 282, 283, 284, 285, 287, 288, 289, 291, 292, 293, 294, 295, 296, 297, 298, 299, 300, 301,

401 302, 303, 304, 305, 306, 310, 329, 330, 342, 351, 355, 358, 359, 363, 366, 367, 368, 369 Kompatibilismus, kompatibilistisch  111, 140, 168, 275, 280, 281, 291, 293, 303, 306, 368 Kontingenz, kontingent  13, 14, 15, 28, 30, 31, 32, 42, 52, 53, 72, 80, 81, 92, 101, 102, 121, 148, 157, 188, 203, 204, 223, 227, 228, 232, 233, 244, 298, 305, 361, 363, 371, 372, 373, 374, 375, 376, 378, 384, 385, 388, 389 Kontrolle  3, 4, 5, 11, 14, 15, 17, 22, 23, 24, 27, 31, 37, 52, 53, 54, 59, 63, 64, 80, 92, 93, 104, 176, 196, 204, 220, 234, 261, 307, 365, 371, 373, 374, 376, 378, 379, 381, 382, 384, 385, 387, 388 kontrollierte willentliche Selbstbestimmung 1, 4, 11, 21, 22, 26, 36, 37, 38, 52, 83, 90, 90, 99, 109, 150, 179, 261, 314, 387 Kritik der praktischen Vernunft  9, 13, 15, 16, 22, 34, 37, 73, 84, 106, 107, 109, 110, 112, 113, 114, 117, 118, 121, 123, 124, 125, 132, 133, 134, 139, 147, 152, 154, 157, 159, 160, 161, 177, 183, 184, 186, 195, 215, 229, 231, 241, 242, 251, 252, 253, 254, 255, 256, 257, 258, 260, 261, 262, 263, 265, 267, 268, 269, 270, 271, 288, 305, 306, 307, 308, 309, 310, 314, 320, 322, 323, 324, 325, 327, 329, 336, 337, 342, 343, 344, 345, 347, 348, 349, 350, 353, 354, 358, 362, 369, 372, 376, 386, 387, 391, 393 Kritik der reinen Vernunft  15, 20, 30, 36, 52, 56, 83, 106, 110, 111, 112, 114, 115, 116, 117, 119, 123, 124, 125, 127, 128, 132, 133, 134, 135, 138, 139, 142, 150, 152, 155, 157, 158, 160, 161, 164, 165, 167, 171, 175, 176, 179, 183, 184, 186, 191, 194, 195, 199, 200, 215, 216, 217, 222, 231, 234, 245, 251, 253, 254, 256, 257, 258, 259, 260, 261, 263, 264, 267, 268, 269, 270, 271, 272, 290, 292, 293, 298, 306, 307, 309, 310, 322, 324, 327, 328, 329, 330, 336, 337, 340, 343, 345, 346, 347, 348, 349, 350, 351, 353, 354, 358, 363, 364, 368, 369, 371, 372, 386, 387, 391, 392, 393, 394 Kritik der Urteilskraft  46, 207, 318, 391 Maxime, Maximen  37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 46, 125, 200, 242, 246, 248, 288, 298, 316, 317, 330, 331, 332, 335, 343, 365, 373, 374, 377, 388

402 Mittel  6, 7, 8, 9, 17, 28, 39, 63, 71, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 84, 85, 86, 87, 94, 95, 96, 97, 98, 100, 102, 118, 121, 122, 123, 151, 154, 155, 156, 157, 187, 188, 193, 194, 198, 199, 200, 202, 208, 209, 219, 220, 221, 237, 247, 249, 315, 321, 376, 384, 385, 388, 389 moralisches Gesetz, moralische Gesetze 16, 24, 31, 36, 38, 39, 40, 41, 74, 80, 82, 128, 155, 156, 201, 202, 205, 206, 207, 208, 218, 219, 223, 224, 227, 229, 230, 231, 232, 233, 241, 242, 246, 247, 252, 255, 256, 258, 261, 297, 298, 300, 305, 309, 315, 317, 321, 325, 330, 333, 346, 355, 357, 360, 361, 364, 366, 369, 373, 374, 377, 378, 379, 380, 381, 386, 390 moralische Welt  121, 210, 211, 212, 213, 214, 221, 222, 229, 230, 239, 257, 348, 351, 382 Moralität  12, 24, 27, 52, 82, 118, 123, 191, 197, 209, 210, 211, 217, 220, 221, 222, 223, 224, 225, 227, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 234, 236, 237, 240, 315, 316, 325, 326, 329, 343, 344, 355, 372, 378, 382, 384, 387, 390 Moraltheologie  15, 72, 214, 215, 234, 244, 245, 251, 257, 309, 324, 327, 329, 361, 362, 363, 392 Neigung, Neigungen  2, 3, 8, 16, 20, 54, 55, 56, 62, 116, 123, 124, 125, 127, 133, 134, 135, 136, 137, 144, 145, 146, 154, 155, 156, 157, 187, 188, 189, 190, 191, 194, 195, 196, 197, 199, 200, 202, 203, 204, 210, 216, 217, 218, 219, 220, 221, 222, 223, 224, 227, 228, 231, 244, 246, 295, 318, 327, 337, 340, 341, 364, 374, 377 normative Ebenen  37, 38, 39 Normativität  5, 6, 8, 9, 11, 13, 17, 18, 19, 22, 34, 38, 48, 63, 64, 71, 72, 74, 75, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 97, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 127, 133, 138, 148, 149, 186, 187, 201, 202, 205, 206, 219, 241, 262, 309, 357, 387, 388 Physikalismus, physikalistisch  264, 265, 275, 285, 336 Postulat, Postulate  5, 15, 114, 118, 206, 215, 221, 229, 258, 260, 305, 348, 349, 351, 353, 354, 355, 357, 358, 360, 364, 365, 368, 369, 370, 374, 376, 377, 379, 380, 392, 393, 395

stichwortverzeichnis Postulatenlehre  15, 118, 251, 256, 258, 259, 353, 354, 355, 357, 359, 361, 363, 365, 367, 369, 371, 373, 375, 376, 377, 379, 381, 383 Postulat vom Dasein Gottes (siehe: Gottespostulat) Postulat von der Unsterblichkeit der Seele (erstes Postulat)  5, 15, 118, 229, 258, 260, 305, 347, 351, 353, 354, 355, 357, 358, 359, 360, 362, 364, 365, 374, 376, 377, 379, 380, 381 praktisch  13, 63, 83, 104, 113, 128, 154, 163, 164, 168, 170, 177, 184, 252, 254, 305, 307, 322, 329, 332, 333, 335, 345, 356, 357, 365, 377, 384 praktische Freiheit  1, 2, 4, 9, 10, 11, 12, 13, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 26, 27, 31, 32, 33, 35, 38, 41, 48, 50, 52, 62, 64, 66, 72, 75, 76, 80, 81, 82, 83, 84, 86, 102, 109, 112, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 145, 147, 149, 150, 151, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 189, 191, 192, 193, 194, 195, 197, 199, 201, 203, 204, 205, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 216, 217, 218, 219, 220, 221, 223, 225, 227, 229, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 237, 238, 239, 240, 241, 242, 243, 244, 246, 247, 248, 249, 250, 251, 252, 253, 255, 257, 259, 260, 261, 262, 263, 268, 269, 272, 288, 305, 316, 323, 326, 327, 328, 329, 334, 337, 339, 340, 349, 353, 364, 365, 366, 367, 370, 371, 373, 382, 384, 385, 386, 387, 388, 389 praktische Grundsätze  37, 38, 40, 43, 93, 100, 138, 139, 155, 205, 262, 366 praktische Gesetze  8, 37, 38, 40, 73, 83, 86, 128, 139, 154, 155, 187, 201, 205, 220, 246, 248, 316, 317 praktische Vernunft  13, 22, 78, 113, 176, 203, 240, 263, 305, 307, 322, 334, 335, 350, 395 rational, Rationalität, Rationalitätsklausel 5, 6, 7, 8, 11, 12, 15, 17, 18, 19, 21, 22, 23, 24, 26, 27, 28, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 38, 39, 40, 41, 45, 49, 50, 55, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 70,

stichwortverzeichnis 71, 72, 74, 76, 77, 79, 80, 85, 86, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 107, 108, 132, 147, 199, 200, 206, 271, 275, 276, 277, 278, 281, 285, 286, 290, 293, 298, 299, 336, 337, 361, 364, 374, 376, 381, 389, 392, 395 Selbstbestimmung  1, 2, 3, 4, 5, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 31, 34, 35, 36, 37, 38, 48, 49, 50, 52, 53, 54, 55, 56, 60, 61, 63, 64, 72, 73, 81, 82, 83, 87, 90, 99, 105, 106, 107, 109, 113, 115, 116, 117, 118, 120, 121, 123, 126, 138, 146, 150, 156, 157, 158, 159, 160, 165, 169, 176, 177, 178, 179, 193, 200, 202, 208, 209, 231, 234, 252, 253, 258, 261, 296, 300, 306, 308, 309, 310, 311, 312, 313, 314, 315, 316, 317, 320, 321, 322, 323, 328, 329, 330, 331, 332, 333, 334, 336, 337, 338, 339, 349, 353, 358, 359, 365, 371, 374, 375, 381, 382, 384, 385, 387, 388, 390 Selbsttätigkeit  20, 21, 26, 49, 50, 53, 114, 115, 168 Selbstverpflichtung  17, 42, 45, 49, 86, 87, 104, 105, 106, 108, 119, 120, 121, 122, 123, 210, 313, 324, 327, 368, 378 Selbstverwirklichung  12, 146 Sinnlichkeit  2, 3, 4, 8, 19, 20, 24, 50, 56, 58, 60, 61, 62, 108, 115, 116, 117, 127, 128, 129, 131, 132, 135, 136, 138, 139, 143, 144, 145, 147, 148, 149, 150, 158, 163, 164, 165, 170, 174, 175, 176, 186, 187, 188, 190, 193, 194, 198, 200, 202, 203, 204, 205, 216, 217, 224, 226, 227, 228, 230, 231, 232, 236, 251, 252, 269, 295, 296, 304, 314, 320, 322, 323, 328, 332, 385 Sittlichkeit  4, 9, 35, 61, 82, 114, 115, 119, 121, 122, 124, 125, 126, 129, 152, 154, 167, 210, 211, 212, 214, 216, 218, 219, 221, 222, 223, 225, 230, 234, 235, 236, 237, 239, 240, 242, 243, 244, 246, 247, 248, 249, 262, 309, 320, 324, 328, 329, 330, 331, 332, 334, 335, 339, 340, 341, 342, 343, 344, 346, 349, 350, 351, 353, 355, 361, 363, 365, 366, 367, 368, 371, 372, 373, 374, 378, 381, 392 Sollen, sollen  173, 187, 190, 193, 194, 198, 205, 206, 208, 209, 212, 215, 219, 223, 224, 226, 227, 235, 236, 237, 252, 257, 258, 260, 270, 271, 295, 298, 304, 306, 322, 332, 351, 357, 358, 359, 366, 367, 377, 378

403 spontan  20, 26, 71, 72, 385 Spontaneität, Spontanität  3, 4, 10, 11, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 34, 35, 37, 41, 48, 49, 52, 53, 54, 62, 64, 71, 72, 80, 83, 87, 91, 98, 99, 102, 103, 104, 105, 106, 109, 113, 114, 115, 117, 118, 119, 120, 121, 126, 133, 138, 148, 155, 157, 158, 175, 176, 178, 184, 187, 196, 201, 205, 206, 224, 226, 231, 232, 248, 252, 253, 254, 261, 262, 275, 276, 277, 284, 285, 286, 304, 305, 310, 329, 346, 349, 375, 379, 385, 387 Spontanursächlichkeit  106, 158, 170, 175, 176, 178, 180, 186, 277, 288 Stimulus, Stimuli  2, 3, 4, 18, 19, 24, 26, 27, 39, 49, 50, 52, 53, 54, 55, 56, 59, 60, 61, 62, 116, 117, 129, 133, 144, 156, 162, 163, 164, 165, 176, 177, 178, 188, 261, 295, 314, 322 Stoa, Stoiker, Stoizismus, stoizistisch  125, 126, 151, 152, 217, 276, 325, 331, 332, 333, 336, 337, 339, 341, 343, 344, 346, 350, 362 Subjekt  13, 14, 18, 25, 27, 28, 34, 39, 40, 47, 52, 54, 56, 59, 73, 78, 87, 98, 101, 113, 114, 121, 157, 164, 166, 202, 203, 204, 205, 228, 243, 295, 296, 303, 306, 310, 311, 313, 314, 315, 323, 362, 364, 389 Tat, Taten  12, 13, 14, 25, 34, 47, 50, 55, 73, 81, 101, 102, 122, 134, 147, 154, 158, 160, 161, 180, 183, 186, 190, 194, 196, 212, 216, 232, 233, 247, 252, 261, 263, 267, 268, 270, 271, 274, 275, 282, 283, 290, 291, 292, 293, 302, 303, 305, 310, 311, 312, 314, 315, 316, 317, 318, 319, 320, 321, 326, 332, 333, 336, 344, 346, 361, 362, 372, 375, 376, 377, 385, 387 Thesis, These (Antinomie)  180, 265, 271, 273, 274, 275, 276, 277, 278, 279, 280, 281, 282, 283, 284, 285, 286, 288, 290, 291, 292, 293, 294, 303, 306, 307, 342, 343, 344, 345, 346, 347, 349, 350, 392 transzendentale Freiheit  1, 19, 106, 110, 129, 130, 139, 140, 141, 158, 159, 160, 161, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 175, 177, 179, 180, 182, 185, 255, 260, 262, 263, 268, 269, 271, 272, 277, 284, 287, 289, 294, 302 transzendentaler Idealismus  111, 112, 141, 183, 184, 257, 260, 265, 271, 274, 279, 280, 287, 290, 291, 292, 294, 303, 306, 307, 335, 342, 348, 386

404 Unsterblichkeit (Siehe: Postulat von der Unsterblichkeit der Seele) Ursache, Ursachen  6, 8, 36, 37, 54, 67, 69, 70, 72, 73, 75, 86, 106, 107, 108, 131, 162, 163, 164, 168, 173, 174, 175, 177, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 210, 211, 215, 222, 223, 229, 230, 231, 232, 237, 239, 242, 243, 246, 260, 269, 272, 277, 282, 283, 284, 285, 286, 287, 292, 293, 294, 295, 302, 304, 305, 310, 313, 314, 320, 322, 330, 331, 335, 343, 344, 346, 360, 365, 366, 367, 368, 369

stichwortverzeichnis Wirkung, Wirkungen  6, 58, 72, 73, 75, 106, 107, 108, 252, 260, 277, 281, 282, 287, 291, 292, 293, 295, 296, 298, 299, 302, 331, 346, 360 Zweck-Mittel-Relation  6, 7, 8, 17, 28, 63, 71, 74, 75, 77, 79, 80, 84, 85, 86, 94, 95, 100, 102, 157, 376, 389